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FACULTE DE DROIT UNIVERSITE DE FRIBOURG RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT UNIVERSITÄT FREIBURG RECHTSAUSLEGUNG UND PRAGMATIK Kolloquium „Sprache & Recht “ Zentrum für Rechtsetzungslehre, Universität Zürich, 15.5.2018 PD Dr. Benedikt Pirker MA Jennifer Smolka

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RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT UNIVERSITÄT FREIBURG

RECHTSAUSLEGUNG UND PRAGMATIK

 Kolloquium „Sprache & Recht “

 Zentrum für Rechtsetzungslehre, Universität Zürich, 15.5.2018

 PD Dr. Benedikt Pirker

 MA Jennifer Smolka

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Beispiele

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Beispiele

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ENTWICKLUNG DER PRAGMATIK (1/2)

•  Sprechakttheorie (Austin, Searle) und die Entstehung der Pragmatik

•  Beispiele:

o  „Können Sie mir das Salz reichen?“

o  „Es ist kalt hier.“

•  Die Begriffe des Dekodierens und Inferierens

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ENTWICKLUNG DER PRAGMATIK (2/2)

•  Konventionen bzw. nichtkognitive Forschungsansätze (Textlinguistik

u.a.) = externalistisch

•  Intentionen bzw. kognitive Forschungsansätze: Grice (Sprecher- vs.

Satzbedeutung; Kooperationsprinzip und Maximen der Quantität,

Qualität, Relation und Modalität) = internalistisch

o  „Können Sie mir das Salz reichen?“

o  „Es ist kalt hier.“

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Auslegungsbeispiele

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RELEVANZTHEORIE (1/3)

•  Sperber und Wilson: zentrale Bedeutung des Relations- bzw.

Relevanzprinzips

•  Ostensiv-inferentielles Kommunikationsmodell

o  Ostensiv: Sprecher weist explizit auf kommunikative Intention hin

o  Inferentiell: keine „reisenden Gedanken“, sondern Zuschreibung

von Gedanken in kognitiver Umgebung

•  Auslegungsprozess generiert neue Annahmen, beseitigt alte, stärkt

oder schwächt bestehende

•  Ziel Relevanzmaximierung, kein Bedarf für Kooperationsprinzip

o  „Können Sie mir das Salz reichen?“

o  „Es ist kalt hier.“

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RELEVANZTHEORIE (2/3)

•  Präsumption der optimalen Relevanz

•  Kontextuelle Wirkungen (Relevanz: zumindest eine positive

kontextuelle Wirkung)

•  Kognitiver Verarbeitungsaufwand

•  Kosten-Nutzen-Rechnung: (a) Folge dem Weg des geringsten

Verarbeitungsaufwands bei der Errechnung kognitiver Wirkungen und

(b) halte an, sobald die Relevanzerwartung erfüllt ist (oder

aufgegeben wurde).

o  „Können Sie mir das Salz reichen?“

o  „Es ist kalt hier.“

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RELEVANZTHEORIE (3/3)

•  Hintergrund Kognitionswissenschaften

o  Baron-Cohen (Menschen als „mind readers“), Dennett („intentional

stance“): kein gemeinsames Wissen erforderlich, gemeinsame

Manifestiertheit genügt; Fehler jedoch möglich

o  Inferieren im Kontext = Bilden von Schlussfolgerung; Kontext

determiniert durch linguistische Bedeutung, aber auch

enzyklopädisches Gedächtnis und situativen Kontext

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Auslegungsbeispiele (1/4)

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BEISPIEL 1: EXPLIKATUR (1/5)

•  Fallbeispiel 1: Explikatur im Chevreau-Fall

•  Allgemein: Pragmatische Anreicherung und Explikatur

o  „Er hielt ihn in der Hand.“

  „Dr. Watson hielt ihn in der Hand.“

  „Er hielt den Regenschirm in der Hand. “

o  „Es ist vier Uhr.“

  „Es ist 16 Uhr in Zürich am 15.05.2018.“

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BEISPIEL 1: EXPLIKATUR (2/5)

•  Sachverhalt:

o  H. Chevreau wurde während Inhaftierung 1918 in (damals) Persien

und Baghdad misshandelt

o  Schiedsvereinbarung schafft Zuständigkeit des Schiedsrichters nur

für Beschwerden bezüglich Inhaftierung „en Perse en 1918“

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BEISPIEL 1: EXPLIKATUR (3/5)

•  Entscheidung:

o  Schiedsrichter beschliesst, für Beschwerden über gesamte

Inhaftierungszeit zuständig zu sein

o  Parteien hätten nicht Absicht angezeigt, Zuständigkeit

einschränken zu wollen; konstante Erörterung der Umstände der

gesamten Inhaftierungszeit von H. Chevreau; keine Gründe für

Einschränkung ersichtlich; Parteien hätten sich daher geirrt beim

Gebrauch bestimmter Begriffe, die „pris à la lettre“ die

Zuständigkeit des Schiedsgerichts eingeschränkt hätten.

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BEISPIEL 1: EXPLIKATUR (4/5)

•  Rechtliche Analyse

o  Angemessene Berücksichtigung des Wortlauts? Unterstellen eines

Fehlers der Parteien beim Verfassen der Schiedsvereinbarung?

•  Linguistische Analyse

o  Kann sprachlich betrachtet Schiedsrichter überhaupt „Perse“ so

verstehen, dass Baghdad (und damit Inhaftierung dort) miterfasst

wäre?

o  Vorteil: kein Unterstellen eines Fehlers überflüssig; rechtlich

weniger problematische Argumentation

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BEISPIEL 1: EXPLIKATUR (5/5)

•  Linguistische Analyse:

o  Semantische Perspektive: „Perse“ umfasst nicht „Baghdad“.

o  Pragmatische Anreicherung?

o  Explikatur von „Perse“: Parteien könnten sich auf allgemeine

geographische Region bezogen haben (östlicher und mittlerer

Naher Osten, Baghdad mental miteingeschlossen)

o  Ungenaue Ausdrucksweise bedingt durch begrenztes Wissen,

Denken in Stereotypen und Kategorien; Parteien besprachen auch

konstant gesamte Inhaftierungszeit von H. Chevreau

o  Schiedsrichter kann davon ausgehen, dass somit breiteres

Verständnis von „Persien“ bei beiden Parteien manifest ist

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Auslegungsbeispiele (2/4)

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BEISPIEL 2: IMPLIKATUR (1/4)

•  Fallbeispiel 2: Implikatur in der Völkerrechtsprüfung

•  Allgemein: Pragmatische Anreicherung und Implikatur

o  „Es ist vier Uhr.“

  „Es ist 16 Uhr in Zürich am 15.05.2018.“

  „Um 16 Uhr in Zürich am 15.05.2018 halten wir einen Vortrag.“

•  Implikatierte Prämisse (kontextuelle Annahme)

o  „Hat Sherlock dir bereits das Geld zurückgegeben?“

  „Er hat vergessen, zur Bank zu gehen.“

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BEISPIEL 2: IMPLIKATUR (2/4)

•  Sachverhalt:

o  Frage in der Völkerrechtsprüfung: „Wie bestimmt man, welcher

Staat diplomatischen Schutz für eine juristische Person

ausüben kann?“

o  „Klassische“ Antwort: Mehrere Theorien existieren, der

Internationale Gerichtshof hat in einem bekannten Fall (Barcelona

Traction) eine davon (Inkorporationstheorie) als geltend

angenommen; diese Entscheidung wird allerdings in der Lehre

kritisiert.

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BEISPIEL 2: IMPLIKATUR (3/4)

•  Resultat:

o  Ca. 99 Studierende beantworten die Frage nach bestem Wissen in

etwa auf diese Art.

o  Ein Student/eine Studentin antwortet, es gebe mehrere Theorien,

„in der Schweiz“ hingegen gelte die Kontrolltheorie (inhaltlich

zutreffend).

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BEISPIEL 2: IMPLIKATUR (4/4)

•  Linguistische Analyse:

o  Student/in versteht Frage offenbar, indem „in der Schweiz“ ergänzt

wird.

o  Keine Explikatur (expliziter Inhalt enthält keinen

Anknüpfungspunkt).

o  Kontextuelle Annahme inferiert, dass im Rahmen einer juristischen

Prüfung an einer Schweizer Universität die Schweizer Rechtslage

berücksichtigt werden muss.

o  Kein Ausschlussgrund (z.B. Auslegungsregel oder Rechtsnorm) für

diese Inferenz ersichtlich.

o  Volle Punktzahl.

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Auslegungsbeispiele (3/4)

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BEISPIEL 3: IMPLIKATUR (1/4)

•  Fallbeispiel 3: Implikatur im Kapitalmarktverordnungsfall

•  Allgemein: Pragmatische Anreicherung und Implikatur

o  „Es ist vier Uhr.“

  „Es ist 16 Uhr in Zürich am 15.05.2018.“

  „Um 16 Uhr in Zürich am 15.05.2018 halten wir einen Vortrag.“

  „Wir haben keine Zeit mehr, noch etwas zu trinken vor dem

Vortrag.“

•  Implikatierte Konklusion (kontextuelle Schlussfolgerung)

o  „Hat Sherlock dir bereits das Geld zurückgegeben?“

„Er hat vergessen, zur Bank zu gehen.“

= „Nein, er hat das Geld nicht zurückgezahlt.“

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BEISPIEL 3: IMPLIKATUR (2/4)

•  Sachverhalt:

o  Neue EU-Kapitalmarktverordnung harmonisiert binnenmarktweit

das Verbot des Insider Trading; Inkrafttreten am 03.07.2016 (um

0:00 Uhr).

o  Entsprechendes deutsches Gesetz unionsrechtskonform ausser

Kraft gesetzt; das einschlägige Änderungsgesetz tritt jedoch

bereits mit 2.7.2016 (um 0:00 Uhr) in Kraft und setzt altes Recht

mit sofortiger Wirkung ausser Kraft.

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BEISPIEL 3: IMPLIKATUR (3/4)

•  Resultat:

o  Insider Trading ist in der Bundesrepublik Deutschland den

gesamten 2.7.2016 über nicht verboten.

o  Klar nicht der Wille des Gesetzgebers (aus Diskussionen im

Gesetzgebungsprozess ersichtlich); lediglich Fehler.

o  Kann „rettende“ Auslegung gefunden werden?

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BEISPIEL 3: IMPLIKATUR (4/4)

•  Linguistische Analyse:

o  Laie würde intendierte Bedeutung suchen („Ausserkrafttreten mit

Ende des 2.7.2016; Ziel keine Strafbarkeitslücke“)

o  Hier jedoch Verbot erweiternder Auslegung bei Straftatbeständen;

Rechtsprinzip verbietet derartige Inferenzen.

Interpretationsmaximen vergleichbar mit pragmatischen Maximen

(Grice), schränken Interpretationsspielraum durch Konventionen

ein.

o  Rettende Auslegung linguistisch denkbar, aber juristisch

ausgeschlossen.

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ÜBERSICHT

1.  Entwicklung der Pragmatik

2.  Relevanztheorie

3.  Grundbegriffe und Auslegungsbeispiele (4/4)

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (1/10)

•  Fallbeispiel 4: Prozedurale vs. konzeptuelle Bedeutung

•  Allgemein: Prozedurale Bedeutung als Anweisung für den

inferentiellen Verstehensprozess

•  Beispiel: „Es regnet, aber das Gras ist nicht nass.“

o  Inhaltswort „Gras“

o  Funktionswort „aber“

  „aber“ aktiviert Inferenz mit Ergebnis Widerlegung und

Eliminierung einer Annahme („Regen + Gras ≠ nass“)

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (2/10)

•  Funktionswort „und“

•  Minimale enkodierte Bedeutung = logische Bedeutung „∧“

  Durch „und“ geschaffene Verbindung ist nur wahr, wenn beide

verbundenen Sätze wahr sind

•  Pragmatische Anreicherung

o  Zeitliche Abfolge (Maria heiratete Paul und [danach] wurde sie

schwanger)

o  Kausalität (Maria heiratete Paul und [deswegen] erhielt sie die

Schweizer Staatsbürgerschaft).

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (3/10)

•  Funktionswort „und“

•  Semantisch aber nicht leer

o  „Max schlief ein. Er war müde.“

o  ≠ „Max schlief ein und war müde.“

•  Umstritten ob „und“ Konzept oder Prozedur enthält

o  Sprachvergleich: Serbokroatisch „pa“ („und dann“); ≠ „∧“

o  Vorliegend prozedural interpretiert: „Suche nach kognitiver

Wirkung, indem beide verbundenen Elemente als Prämissen

herangezogen werden.“

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (4/10)

•  Beispiel 4.1 „und“

•  Ordentliches Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union:

Kooperation zwischen Kommission, Rat und Parlament

•  Artikel 294 Abs. 2 AEUV: Die Kommission unterbreitet dem

Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag.

o  Dem Parlament und [darüber hinaus] dem Rat?

o  Dem Parlament und [danach] dem Rat?

•  Bedeutung nicht enkodiert

•  Lösung: pragmatische Anreicherung; hier erneut Auswirkung eines

Rechtsprinzips (Gleichbehandlung der Institutionen)

•  Beiden Institutionen ist Vorschlag gleichzeitig zu unterbreiten

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (5/10)

•  Beispiel 4.2 „und“

•  Article 5 (3) ECHR: „Everyone arrested or detained […] shall be

brought promptly before a judge or other officer authorised by law to

exercise judicial power and shall be entitled to trial within a

reasonable time or to release pending trial.“

o  Zwei separate Rechte

o  „und zusätzlich“? „und in der Folge/danach“?

•  Kontext (enzyklopädisches Wissen des Gerichtshofs) führt zur

Aufgabe pragmatisch inferierbarer Hypothesen

•  Gerichtshof: „[T]hese two limbs confer distinct rights and are not on

their face logically or temporally linked.“

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (6/10)

•  Beispiel 4.2 „und“

•  Vgl. andere Sprachversionen von Article 5 (3) ECHR

o  Französische Version: „et“

o  Deutsche Version (nicht authentisch): „;“

„ Jede Person, die […] von Festnahme oder Freiheitsentzug

betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer

anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben

ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein

Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung

während des Verfahrens.“

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (7/10)

•  Funktionswort „oder“

•  Inklusives oder exklusives Verständnis

o  Minimale enkodierte Bedeutung = logische Bedeutung „∨“

  Einheit, die durch „oder“ geschaffen wird, ist wahr, wenn einer der

beiden durch „oder“ getrennten Sätze wahr ist oder beide wahr

sind)

o  Exklusive Bedeutung: pragmatisch inferiert

o  „Sie können Käse oder Dessert haben.“

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (8/10)

•  Funktionswort „oder“

•  Debatte ob „oder“ Konzept oder Prozedur enthält

o  Sprachvergleich: Albanisch „ose“ (gleichwertige Alternativen) vs.

„apo“ (verlangt Wahl zwischen Alternativen); ≠ „∨“

o  Vorliegend prozedural interpretiert: „Suche nach kognitiver

Wirkung, indem ein Element oder beide getrennten Elemente als

Prämissen genommen werden.“

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (9/10)

•  Beispiel 4.3 „oder“

•  Artikel 3 EMRK: Niemand darf der Folter oder [1] unmenschlicher

oder [2] erniedrigender Behandlung oder [3] Strafe unterworfen

werden.

•  Oder [1]: Keine „Grauzone“ in Rechtsprechung zwischen Folter und

unmenschlicher/erniedrigender Behandlung → pragmatisch

inferiertes exklusives Verständnis

•  Oder [3]: Behandlung und Strafe nicht getrennt behandelt →

inklusives Verständnis

•  Oder [2]: als unmenschlich oder erniedrigend oder beides

interpretiert → inklusives Verständnis

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BEISPIEL 4: PROZEDURALE VS. KONZEPTUELLE BEDEUTUNG (10/10)

•  Beispiel 4.3 „oder“

•  Artikel 3 EMRK: Niemand darf der Folter oder [1] unmenschlicher

oder [2] erniedrigender Behandlung oder [3] Strafe unterworfen

werden.

•  Oder [2]: Vgl. hingegen People v. Anderson: „cruel or unusual

punishment“ → pragmatisch inferiertes exklusives Verständnis

•  Entweder grausame Bestrafung oder Bestrafung, die

ungewöhnlich geworden ist

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LITERATURHINWEISE

Literaturhinweise: •  Carston, Robyn: Legal Texts and Canons of Construction: A View from Current Pragmatic Theory,

in: Freeman, Michael/Smith, Fiona (Hrsg.), Law and Language, Oxford 2013, 8-33.

•  Giltrow, Janet/Stein, Dieter (Hrsg.): The Pragmatic Turn in Law. Inference and Interpretation in

Legal Discourse, Boston/Berlin 2017.

•  Pirker, Benedikt/Smolka, Jennifer: Making Interpretation More Explicit: International Law and

Pragmatics, Nordic Journal of International Law 2017, 228 ff.

•  Shaer, Benjamin: Toward a Cognitive Science of Legal Interpretation, in: Freeman, Michael/Smith,

Fiona (Hrsg.), Law and Language, Oxford 2013, 259-291.

•  Smolka, Jennifer/Pirker, Benedikt: International Law and Pragmatics – An Account of Interpretation

in International Law, International Journal of Language & Law 2016, 1 ff.

•  Smolka, Jennifer/Pirker, Benedikt: International Law, Pragmatics and the Distinction between

Conceptual and Procedural Meaning, International Journal of Language & Law 2018 (forthcoming).