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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg18 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 18 (2011) http://dx.doi.org/10.12946/rg18/036-065 Rg 18 2011 36 – 65 Karl Härter Die Formierung transnationaler Strafrechtsregime Auslieferung, Asyl und grenzübergreifende Kriminalität im Übergang von gemeinem Recht zum nationalstaatlichen Strafrecht Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg18

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 18 (2011)

http://dx.doi.org/10.12946/rg18/036-065

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Karl Härter

Die Formierung transnationaler StrafrechtsregimeAuslieferung, Asyl und grenzübergreifende Kriminalität im Übergang von gemeinem Recht zum nationalstaatlichen Strafrecht

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Abstract

The paper observes the emergence of an inter-national order of criminal prosecution in Europe from the late 18th century, which was characterised by two ambiguous developments: nation-based criminal law systems on the one hand and an in-creasing demand for international, transborder co-operation in matters of criminal law and criminal justice on the other. For with increasing migration, economic transactions and political dissidents, new crimes and threats of order and security, which could not only be handled within the na-tional criminal systems, evolved. Thus the main fields in which a new international order in crim-inal matters was developed over the course of the 19th century were extradition, asylum and mutual assistance, as shaped by international treaties, do-mestic national laws and by international legal discourses. Based on different national legal orders and traditions, nearly every country established slightly different legal regulations and instruments, though in the long run it was inevitably the es-tablishment of rules and instruments of trans-border co-operation and mutual assistance in crim-inal matters which would at last lead to an interna-tional – and fragile – order of criminal prosecution. In this regard the project that will be presented in the conference makes a wide-ranging topic for comparative legal history in the field of criminal as well as international law.

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Die Formierung transnationalerStrafrechtsregimeAuslieferung, Asyl und grenzübergreifende Kriminalitätim Übergang von gemeinem Recht zum nationalstaatlichenStrafrecht

1. Einleitende Bemerkungen

In der postmodernen globalen Welt erweist sich gerade dieWeiterentwicklung der normativen Ordnung im Bereich des trans-nationalen Strafrechts als problembehaftet. Das internationaleStrafrecht im engeren Sinn supranationaler Kodifikationen undInstitutionen ist noch immer auf wenige Tatbestände und interna-tionale Gerichte beschränkt. Eine umfassendere, alle Elemente dergrenzübergreifenden Interaktion von Strafrechtsregimen normie-rende internationale Strafrechtskodifikation scheint kaum realisier-bar; bereits partielle Harmonisierungsbemühungen in der Europä-ischen Union stoßen an enge Grenzen und wurden – wie der euro-päische Haftbefehl oder das Übereinkommen über die Rechtshilfein Strafsachen – nach 2002 nur unter dem Druck terroristischerSicherheitsbedrohungen realisiert.1 Die normativen Grundlagenwie die staatliche Praxis des internationalen Strafrechts lassenzahlreiche Ambivalenzen, Regime-Kollisionen und Konflikte er-kennen, vertragliche Vereinbarungen gehen dem Gesetzesrecht vor,polizeilich-politische Erfordernisse dominieren vor rechtsstaatli-cher Einhegung und Individualrechten und insgesamt erweisen sichtransnationale Strafrechtsregime als rechtlich eher gering normiert.

Die neuere anglo-amerikanische Forschung zum internationalcriminal law fokussiert daher letztlich auf das supraterritorialeStrafrecht, das eine wie auch immer geartete »Staatengemein-schaft« im Hinblick auf völkerrechtliche Verbrechen – besondersKriegsverbrechen, Verbrechen gegen Menschlichkeit, Genozid –,vereinbart hat und das internationale Strafgerichte anwenden:»those offences over which international courts or tribunals havebeen given jurisdiction under general international law«.2 Nachkontinentaleuropäischem Verständnis also »Völkerstrafrecht«.3

Dessen Geschichte reduziert sich letztlich auf die NürnbergerProzesse und die Installierung der Internationalen Gerichtshöfe

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1 Ulrich Sieber, Rechtliche Ord-nung in einer globalen Welt.

Die Entwicklung zu einem frag-mentierten System von nationalen,internationalen und privaten Nor-men, in: Rechtstheorie 41 (2010)151–198; Hans-Jörg Albrecht,Europäisierung des Strafrechts, in:European and International Re-gulation after the Nation State.Different Scopes and MultipleLevels, hg. von A. Héritier,M. Stolleis und F. W. Scharpf,Baden-Baden 2004, 139–162; zu-

sammenfassend zum europäischenHaftbefehl: Nadeschda Wil-kitzki, Entstehung des Gesetzesüber Internationale Rechtshilfe inStrafsachen (IRG), Berlin 2010,219–228.

2 Robert Cryer u. a., An Intro-duction to International CriminalLaw and Procedure, Cambridge2010, 2.

3 Gerd Werle, Völkerstrafrecht,Tübingen 2003.

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seit den 1990er Jahren oder bewegt sich vage auf dem trügerischenGrund des vormodernen »Kriegsrechts«.4

Die zeitgeschichtlichen und aktuellen Entwicklungen bildenfreilich nur einzelne Bereiche in dem komplexen Geflecht grenz-übergreifender, trans- und internationaler strafrechtlicher Inter-aktionen ab, als deren zentrale Felder und Elemente – insbesonderein historischer Perspektive – Auslieferung, Rechtshilfe, Asyl, Kri-minalpolitik und Polizeikooperation benannt werden können unddie in der kontinentalen und deutschsprachigen Forschung meistunter dem Begriff des internationalen Strafrechts gefasst werden.Dessen spezifische und problembehaftete Struktur ist nicht nur einProdukt von Entrechtlichung und Regime-Kollisionen in einerdefizitären und fragmentierten globalen Rechtsordnung,5 sondernlässt sich ebenfalls auf historische Ursachen und Entwicklungenzurückführen. So kommt Sabine Gleß für die Auslieferungsproble-matik zu dem Schluss: »Das Recht zu strafen bzw. nicht zu strafenerweist sich […] auch im Auslieferungsrecht als Kristallisations-punkt nationaler Identität, in dem von unterschiedlichen Rechts-traditionen getragene Überzeugungen aufeinanderprallen. Deshalbist der Weg in ein integriertes europäisches Auslieferungsrecht nichtohne Schwierigkeiten möglich«.6

Das moderne internationale Strafrecht weist strukturell ähn-liche Problemlagen und Regime-Kollisionen wie das transterrito-riale bzw. transnationale Strafrecht des 18. und 19. Jahrhundertsauf,7 und ihm liegen ambivalente normative Ordnungsvorstellun-gen zugrunde, die sich historisch in einem lang dauernden Prozessseit dem 18. Jahrhundert ausformten: Unter der Bedingung des all-mählichen Verschwindens des vormodernen gemeinen Rechts, derFormierung abgegrenzter nationaler (Straf-)Rechtsordnungen undder gleichzeitigen Intensivierung der grenzübergreifenden straf-rechtlichen Interaktionen entstanden allmählich Grundstrukturenund Elemente einer normativen Ordnung transnationaler Straf-rechtsregime. Nahezu parallel hierzu formierte sich im 19. Jahr-hundert das (inter-)disziplinäre Feld einer international orientiertenStrafrechtswissenschaft, die im juristischen Diskurs Expertenwis-sen austauschte und mit Blick auf eine Harmonisierung und Ver-rechtlichung an der systematischen Durchdringung des internatio-nalen Strafrechts arbeitete.8

Die Geschichte grenzüberschreitender, trans- bzw. internatio-naler Strafrechtsregime liegt damit an der Schnittstelle von Straf-

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4 Vgl. nur Robert Cryer, Prosecut-ing international crimes. Selectiv-ity and the international criminallaw regime, Cambridge u. a. 2008,9–31; Kai-Michael König, Dievölkerrechtliche Legitimation derStrafgewalt internationaler Straf-justiz, Baden-Baden 2003.

5 Andreas Fischer-Lescano,Gunther Teubner, Regime-Kol-lisionen. Zur Fragmentierung desglobalen Rechts, Frankfurt am

Main 2006, 111–126 zum inter-nationalen Strafrecht.

6 Sabine Gless, Auslieferungsrechtder Schengen-Vertragsstaaten:Neuere Entwicklungen. Ein Pro-jektbericht, Freiburg i. Br. 2002,9 [http://www.iuscrim.mpg.de/shared/data/pdf/fa-schengen.pdf(zuletzt 20.12.2010)]. Vgl. auchSieber, Ordnung in einer globalenWelt (Fn. 1) 181, der treffend dieWahrung staatlicher Souveränität

und nationale Vorbehalte – pos-tuliert insbesondere im Bereichder internationalen Rechtshilfe –als wesentliche Hindernisse derRechtsharmonisierung im Straf-recht benennt.

7 Hierzu grundsätzlich MichaelStolleis, Vormodernes und post-modernes Recht, in: Héritier /Stolleis / Scharpf, Regulation(Fn. 1) 17–30.

8 Einen neueren, allerdings weit-gehend auf die Person von Lisztsabstellenden Überblick gibt Ste-fen Braum, Historische Modelletransnationalen Strafrechts, in:Die Internationalisierung vonStrafrechtswissenschaft und Kri-minalpolitik (1870–1930).Deutschland im Vergleich. […],hg. von S. Kesper-Biermann undP. Overath, Baden-Baden 2006,111–125.

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rechts-, Völkerrechts-, Kriminalitäts- und Polizeigeschichte, hataber dennoch eher geringe Beachtung gefunden. Die historischeBedingtheit transnationaler Strafrechtsregime wird in älteren Dar-stellungen zum internationalen Strafrecht oder zur Auslieferungmeist nur unter dogmatischen Aspekten und im Hinblick auf derenRelevanz für aktuelle Rechtsfragen thematisiert.9 Neuere For-schungen gehen überwiegend von engeren disziplinären Ansätzenaus und haben meist einzelne Elemente und Teilaspekte unter-sucht, wobei der zeitliche Fokus in der Regel auf der zweiten Hälftedes langen 19. Jahrhunderts liegt. Behandelt wurden die Ausliefe-rungsausnahme bei politischen Delikten, Auslieferung im Kon-text des Gebotes zur Strafverfolgung und der Rechtshilfe,10 dieEntstehung des politischen Asyls,11 die Internationalisierung vonStrafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik,12 transnationale Or-ganisationen, die sich mit strafrechtlichen Themen beschäftigtenwie insbesondere die Internationale Kriminalistische Vereini-gung,13 die Etablierung von Polizeikooperationen und die Kon-struktion des internationalen Verbrechens als ein modernes Bedro-hungsszenario.14 Trotz dieser für einzelne Bereiche und spezifischeFragen ertragreichen Forschungen weist der Forschungsstand ins-gesamt im Hinblick auf die Entwicklung der normativen Ordnungtransnationaler Strafrechtsregime Desiderate und Engführungenauf: So werden die vormodernen Rechtsverhältnisse und die Über-gangsphase vom gemeinen zum nationalstaatlichen Strafrecht inder »Sattelzeit« 1750 bis 1848 kaum konstitutiv einbezogen.15

Im Hinblick auf die räumliche Dimension steht letztlich der euro-päische Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts im Vorder-grund; die Entstehung einer normativen Ordnung transnationalerStrafrechtsregime erscheint damit lediglich als Produkt der Inter-aktion zweier oder mehrerer Nationalstaaten, wobei impliziteModernisierungsmodelle dominieren, die stark auf Strafrechts-reformen oder »fortschrittliche« Elemente fokussieren. Die Wech-selwirkungen zwischen einzelnen Bereichen, Elementen und Prin-zipien von Auslieferung, Asyl, Rechtshilfe, Kriminalpolitik oderPolizeikooperation werden kaum umfassend in ihren historischenKontexten analysiert, sondern meist nur systematisch-dogmatischbenannt. Dies gilt ebenso für die Interdependenzen zwischengrenzübergreifender strafrechtlicher Praxis und der Entstehungtransnationaler Normativität wie für Austausch und Transferzwischen den verschiedenen normativen Ebenen/Diskursen mit

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9 Ivan A. Shearer, Extradition ininternational law, Manchesteru. a. 1971; Dietrich Oehler,Internationales Strafrecht, Kölnu. a. 1973.

10 Torsten Stein, Die Ausliefe-rungsausnahme bei politischenDelikten. Normative Grenzen,Anwendung in der Praxis undVersuch einer Neuformulierung,Berlin u. a. 1983; ChristianMaierhöfer, »Aut dedere – autiudicare«: Herkunft, Rechtsgrund-lagen und Inhalt des völkerrecht-lichen Gebotes zur Strafverfolgungoder Auslieferung, Berlin 2006;Merle von Moock, Ausliefe-rungsrechtliche Probleme an derWende vom 19. zum 20. Jahr-hundert. Ausgehend von der Per-son des F. von Martitz und dessenHauptwerk über internationaleRechtshilfe in Strafsachen, Baden-Baden 2001.

11 Herbert Reiter, Politisches Asylim 19. Jahrhundert. Die deutschenpolitischen Flüchtlinge des Vor-märz und der Revolution von1848/49 in Europa und den USA,Berlin 1992; Karl Härter, VomKirchenasyl zum politischen Asyl:Asylrecht und Asylpolitik imfrühneuzeitlichen Alten Reich, in:Das antike Asyl. Kultische Grund-lagen, rechtliche Ausgestaltungund politische Funktion, hg. vonM. Dreher, Köln u. a. 2003,301–336.

12 Dazu besonders die Beiträge in:Kesper-Biermann / Overath,Internationalisierung (Fn. 8).

13 Martina Henze, Crime on theAgenda. Transnational Organiza-tions 1870–1955, in: HistoriskTidsskrift 109 (2009) 369–416;Elisabeth Bellmann, Die Inter-nationale Kriminalistische Verei-nigung (1889–1933), Frankfurtam Main u. a. 1994.

14 Jens Jäger, Verfolgung durchVerwaltung. Internationales Ver-brechen und internationale Poli-zeikooperation 1880–1933,

Konstanz 2006; Paul Knepper,The invention of internationalcrime. A global issue in the mak-ing, 1881–1914, New York 2009.

15 So stellt im Hinblick auf die Aus-lieferungsverträge des 18. undfrühen 19. Jahrhunderts bereitsShearer, Extradition (Fn. 9) 7,fest: »this period has been strange-ly neglected by most writers«.

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ihren unterschiedlichen Akteuren und den Rückwirkungen aufKriminalitätsvorstellungen und Sicherheitsdiskurse.

Eine weiterführende (rechts-)historische Erforschung der Ent-stehung und Ausdifferenzierung transnationaler Strafrechtsregimebedarf folglich eines stärker integrativen Ansatzes und einer in dieVormoderne und das gemeine Recht erweiterten historischen Per-spektive.16 Letztere erscheint gerade im Hinblick auf die post-moderne Problematik rechtlicher Ordnung – gekennzeichnet durchfragmentiertes Recht und Regime-Kollisionen – sinnvoll und not-wendig. Können doch anhand der vormodernen Strukturen grund-legende Problemkonstellationen und Entwicklungsbedingungenbeobachtet und vor allem die vorherrschende nationalstaatlichePerspektive überwunden werden.17 Insofern bilden das »interna-tionale Strafrecht« bzw. die transterritorialen und transnationalenStrafrechtsregime ein exemplarisches Feld, um die vielfach gefor-derte (aber selten eingelöste) »Globalgeschichte der internationalenOrdnung« operationalisierbar voran zu bringen, denn die Per-spektive liegt auf Verbindungen bzw. grenzübergreifenden Elemen-ten und Interaktionen und nicht auf Räumen.18

Unter Einbeziehung der jeweiligen historischen Kontexte undKonfigurationen soll daher im Folgenden versucht werden, ersteGrundlinien der Formierung transterritorialer bzw. transnationalerStrafrechtsregime im Übergang von gemeinem Recht zum national-staatlichen Strafrecht während der so genannten »Sattelzeit« in denWechselbeziehungen ihrer unterschiedlichen Elemente und Akteurenachzuzeichnen. In einer die Frühe Neuzeit einbeziehenden Per-spektive lassen sich als zentrale Elemente und Untersuchungsfelderzunächst systematisch unterscheiden:

– der Gerichtsstand als Problem grenzübergreifend wie interndifferierender Rechts- und Akteursräume wie insbesondere: Ort/Land des Verbrechens (Tatort), Ort /Land der Festnahme, Ort/Land der Prozessdurchführung, Herkunfsort/-land des/der Täter;Ort/Land und Zuständigkeit des Gerichts;

– das Institut einer grenzübergreifenden (transnationalen odergar internationalen) Verfolgungs- und Bestrafungspflicht und da-mit der stellvertretenden Strafrechtspflege;

– das Requisitionswesen im Rahmen des inquisitorischen Straf-prozesses als grenzübergreifende Kommunikation und Interaktionzweier bzw. mehrerer Strafrechtssysteme, Obrigkeiten oder Staa-ten, das sich im 19. Jahrhundert zum Informationsaustausch und

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16 Karl Härter, Asyl, Auslieferungund politisches Verbrechen inEuropa während der »Sattelzeit«:Modernität und Kontinuität imStrafrechtssystem, in: Dimensio-nen der Moderne. Festschriftfür Christof Dipper, hg. vonU. Schneider und L. RaphaelFrankfurt am Main u. a. 2008,481–502.

17 Vgl. auch Stolleis, Vormodernesund postmodernes Recht (Fn. 7).

18 Madeleine Herren, Internatio-nale Organisationen seit 1865.Eine Globalgeschichte der inter-nationalen Ordnung, Darmstadt2009.

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zur Kooperation zwischen Polizeiinstitutionen sowie zur (gericht-lichen) Rechtshilfe entwickelte;19

– die Nacheile, unter der unmittelbare Verfolgung von flüch-tigen Verdächtigen/Verbrechern über Herrschafts- und Rechts-grenzen hinweg durch exekutive Organe und auch das Festnahme-recht im »Ausland« subsumiert wurden und bei der territorial-strafrechtliche Immunität bzw. Grenzverletzungen eine wichtigeRolle spielten;

– die Auslieferung als ein durch bi- oder multilaterale Verträge,gemeines oder supranationales Recht oder spezifische nationaleGesetze normiertes mehrseitiges (Rechts-)Geschäft zwischen zweioder mehreren Strafrechtssystemen, bei denen es sich in der Vor-moderne um die Inhaber von Gerichtsrechten, Gerichtsherren,Obrigkeiten, Territorialstaaten oder Staaten handeln konnte, wäh-rend nach 1806 in der Regel (National-)Staaten die Vertragspart-ner bildeten; seit dem 20. Jahrhundert treten auch supraterritorialeOrganisationen normsetzend auf;20

– das Asyl als Schutz vor Strafverfolgung mittels Immunität,Verwehrung strafrechtlicher Verfolgung und Nichtauslieferung.Als einseitiger Akt des jeweiligen Inhabers des Asylrechts begrün-dete es keinen Rechtsanspruch eines Verfolgten, konnte aber dieInteraktion zweier Strafrechtssysteme (z. B. im Rahmen Ausliefe-rungsersuchen) zur Folge haben;21

– spezifische mit Grenzen und räumlichen Bewegungen ver-bundene und entsprechend normierte grenzübergreifende Deliktewie Piraterie, Schmuggel, Zollhinterziehung, illegale Aus- undEinwanderung oder Grenzübertritte sowie grenzübergreifende kri-minelle Aktivitäten von »Räuber- und Diebsbanden«, politischenDissidenten/Verbrechern und dem im 19. Jahrhundert so bezeich-neten internationalen »Gaunertum«;22

— und schließlich mit der Transgression von Grenzen oder derExklusion aus Räumen verbundene Sanktionen und Strafen wieStadt- und Landesverweis, Abschiebung, Ausweisung und Depor-tation, die zumindest andere Strafrechtssysteme tangieren, aberauch im Rahmen von (normierten) Interaktionen vollzogen werdenkonnten und Eingang in das Modell der internationalen Rechts-hilfe fanden.23

Die allmähliche Ausdifferenzierung und Verrechtlichung dieserElemente im Hinblick auf die Formierung transnationaler Straf-rechtsregime erfolgte über unterschiedliche in Wechselbeziehung

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19 Umfassendere neuere Arbeitenhierzu existieren nicht; vgl. aberals Fallstudie: Karl Härter, Po-licey und Strafjustiz in Kurmainz.Gesetzgebung, Normdurchset-zung und Sozialkontrolle im früh-neuzeitlichen Territorialstaat,Frankfurt a. M. 2005, 408–416.

20 Vgl. als allgemeinen Überblick zurGeschichte der Auslieferung:Shearer, Extradition (Fn. 9).

21 Vgl. hierzu die oben in Fn. 11genannten Studien.

22 Peter Lamborn Wilson, Piraten,Anarchisten, Utopisten. Mit ihnenist kein Staat zu machen, Berlin2009; Knepper, Invention(Fn. 14); Karl Härter, Gauner-tum, in: Handwörterbuch zurdeutschen Rechtsgeschichte,

2. Auflage, Berlin 2008, Sp. 1947–1953.

23 Ausweisung und Deportation.Formen der Zwangsmigrationin der Geschichte, hg. vonA. Gestrich, G. Hirschfeldund H. Sonnabend, Stuttgart1995; Ilse Reiter, Ausgewiesen,abgeschoben. Eine Geschichte desAusweisungsrechts in Österreichvom ausgehenden 18. bis ins20. Jahrhundert, Frankfurt am

Main u. a. 2000; Ausweisung –Abschiebung – Vertreibung inEuropa: 16. – 20. Jahrhundert,hg. von S. Hahn, A. Komlosyund I. Reiter, Innsbruck u. a.2006. Zur Rechtshilfe vgl. nurFerdinand von Martitz, Inter-nationale Rechtshilfe in Straf-sachen. Beiträge zur Theorie despositiven Völkerrechts der Gegen-wart, Tl. 1–2, Leipzig, 1888/1897,hier besonders Tl. 2, 627 ff.

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miteinander stehende und keineswegs konflikt- oder widerspruchs-frei politische (oder völkerrechtliche) Praktiken, (Rechts-)Normenund transnationale Diskurse. Auslieferung, Asylgewährung oderauch grenzüberschreitende Sanktionen konnten sich zunächst alspraktische Interaktion von Obrigkeiten oder Staaten insbeson-dere auf der diplomatischen Ebene oder durch Kooperation vonVerwaltungs-, Justiz- und Polizeibehörden in der Verbrechensver-folgung vollziehen, ohne dass rechtliche Normierungen vorliegenmussten. Gleichwohl bildeten sich allmählich Verfahren und »Prin-zipien« heraus, die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend in nor-mative Produkte Eingang fanden: Bi- und multilaterale Verträgeregelten insbesondere Asyl und Auslieferung, zu denen seit derFranzösischen Revolution auch Verfassungen, Strafrechtskodifi-kationen und spezielle Gesetze Normierungen enthielten. Dieses»nationale« Verfassungs- und Gesetzesrecht wirkte auch mittelsTransfer und Rezeption auf andere Rechtsordnungen bzw. dasinternationale Strafrecht ein, das im 20. Jahrhundert durch inter-nationale Konventionen stärker an normativer Gestalt gewann.Parallel hierzu entfaltete sich ein intensiver juristischer Diskurs, derbereits in der Phase des vormodernen gemeinen Rechts wesentlichePrinzipien und Probleme der Interaktion unterschiedlicher Straf-rechtssysteme behandelte und sich im 19. Jahrhundert zu einemtransnationalen Expertendiskurs entwickelte. Letzterer verdichtetesich institutionell zu internationalen Kongressen und Organisa-tionen wie insbesondere die Internationale Kriminalistische Ver-einigung, die nicht nur eine Anpassung und Harmonisierung derjeweils nationalen Strafrechtssysteme zum Ziel hatten, sondernauch die Internationalisierung der Kriminalpolitik und eine globalenormative Ordnung der internationalen Strafrechtsregime anstreb-ten.24 Parallel hierzu vollzog sich auf der politisch-praktischenEbene eine stärkere Institutionalisierung der grenzübergreifendenInteraktionen, vor allem im Rahmen der internationalen Polizei-kooperation, die auf die Verfolgung des »internationalen Gauner-tums« und von politischen Verbrechern wie insbesondere die Anar-chisten zielte.25

Als Akteure der transnationalen Strafrechtsregime begegnenfolglich Obrigkeiten/Staaten, Politik/Diplomatie, Verwaltungenund Polizeien, Wissenschaft und Experten sowie Kongresse, Ver-einigungen und sonstige korporative Organisationen. Deren Akti-vitäten und Interaktionen sind sowohl durch (nationale) Interessen-

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24 Benedict S. Alper, Jerry F. Bo-ren, Crime: International agenda.Concern and action in the preven-tion of crime and treatment ofoffenders, 1846–1972, Lexington,Mass. u. a. 1972; Bellmann, Ver-einigung (Fn. 13); Sylvia Kesper-Biermann, Die InternationaleKriminalistische Vereinigung.Zum Verhältnis von Wissen-schaftsbeziehungen und Politikim Strafrecht 1889–1932, in:

Kesper-Biermann / Overath,Internationalisierung (Fn. 8) 85–107; Henze, Crime (Fn. 13).

25 Jäger, Verfolgung durch Verwal-tung (Fn. 14); Clive Emsley,Political Police and the EuropeanNation State in the NineteenthCentury, in: The Policing of Poli-tics in the Twentieth Century:Historical Perspectives, hg. vonM. Mazower, Providence 1997,1–25; B. L. Ingraham, Political

crime in Europe. A comparativestudy of France, Germany, andEngland, Berkeley 1979; RichardBach Jensen, The InternationalAnti-Anarchist Conference of1898 and the Origins of Interpol,in: Journal of ContemporaryHistory 16/2 (1981) 323–347.

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gegensätze und Konflikte als auch durch Prozesse des Aushandelnsim Hinblick auf die räumliche und personale/soziale Reichweitevon Strafrecht, Strafverfolgung, Strafe und Kriminalität gekenn-zeichnet. Darüber hinaus sollten aber auch die Auszuliefernden,Asylanten, Flüchtlinge, (Straf-)Verfolgten, Kriminellen oder Delin-quenten Beachtung finden und nach deren Handlungsoptionen undPraktiken gefragt werden, die zumindest indirekt die Formierungtransnationaler Strafrechtsregime beeinflussen konnten.

In diesem Rahmen können die skizzierten historischen Ent-wicklungen und Elemente transnationaler Strafrechtsregime wedervollständig noch ausführlich auf einer breiteren empirischen Basisbehandelt werden. Dennoch soll zumindest versucht werden, an-hand des Wechselspiels von Asyl und Auslieferung wesentlicheGrundlinien aufzuzeigen, die sich auf die »Sattelzeit«, den mittel-europäischen Raum und die normative/diskursive Ebene beschrän-ken müssen; die kaum untersuchte »Rechtspraxis« kann aufgrundder bislang noch fehlenden Forschungen lediglich exemplarischeinbezogen werden. Im Ergebnis sollen so ein potentiell fertilesForschungsfeld umrissen und zu diesem erste Ansätze, vorläufigeErgebnisse und Thesen skizziert werden. Besondere Aufmerksam-keit gilt dabei den Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten zwischenvormodernem gemeinen Strafrecht und der Formierung trans-nationaler Strafrechtsregime unter der Bedingung der Etablierungnationaler Rechtsordnungen seit 1789/1806. In dieser Perspektivesollen die Nationalisierung des Strafrechts und die Durchsetzungdes staatlichen Gewalt- und Justizmonopols weniger unter denAspekten von Staatsbildung, Modernisierung und Reform, son-dern als paradoxe Voraussetzung für die Intensivierung grenz-übergreifender transnationaler Interaktion im Bereich des Straf-rechts analysiert werden. Die Fragestellung erweitert sich dabeiauch auf das Problem der Rückwirkung transnationaler Normenund Praktiken auf die jeweiligen nationalen Strafgesetzgebungen.Schließlich sollen die der Formierung transnationaler Strafrechts-regime zugrunde liegenden ambivalenten Rechtfertigungsnarrative– von der nationalstaatlich definierten »Staatsbürgerschaft« biszum internationalen Verbrechertum reichend – insbesondere imHinblick auf die sich wandelnde Konstruktion und Wahrnehmungvon Rechtsräumen und Kriminalität hinterfragt werden.

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2. Transterritoriale Strafrechtsregime unter denBedingungen des gemeinen Rechts

Unter den Bedingungen des gemeinen Rechts und vormoder-ner Staatlichkeit hatten sich bereits im 18. Jahrhundert wesent-liche Strukturen und Prinzipien »grenzübergreifender« Interak-tionen von Strafrechtssystemen herausgebildet und normativ ver-festigt. Da die meisten vormodernen Staaten und Territorien keinehomogenen, abgeschlossenen und durch Staatsgrenzen definiertenRechtsräume darstellten, prägten die gemeinrechtlich fundiertenElemente Gerichtsherrschaft/Gerichtsobrigkeit, Gerichtsstand bzw.Gerichtsstandslehre, Requisitionswesen, Nacheile, Asyl/Geleit undim 18. Jahrhundert auch zunehmend die Auslieferung Praxis undrechtliche Normen »grenzübergreifender« strafrechtlicher Interak-tionen; im Fall des Asyls konnte dies auch den »Binnenraum« einesStaates oder Territoriums betreffen. Diese Pluralität war zwar miterheblichen Problemen und Jurisdiktionskonflikten behaftet, wur-de aber durch das europäische gemeine (Straf-)Recht überwölbt,das universal anwendbar war und im Hinblick auf supraterritorialeStrafrechtsregime politische Praktiken verrechtlicht und einige we-sentliche »Prinzipien« normiert hatte.

Dabei bildete zunächst die Gerichtsstandslehre einen wichtigenAusgangspunkt, die auch die Frage behandelte, ob der Ort desVerbrechens, der Ort der Festnahme, der Ort der Inhaftierung oderder Herkunftsort/Wohnsitz eines Täters / einer Täterin die jeweiligeZuständigkeit eines Gerichts und die strafrechtliche Beurteilungbestimme. Fielen die Orte auseinander, waren Täter »fremd« oderflüchtig oder handelte es sich um grenz- bzw. mehrere Rechtsräumeübergreifende Kriminalität (z. B. bei umherziehenden »Räuber- undDiebsbanden«), ergaben sich Fragen nach Auslieferung, Asyl oderGeleit. In der Strafrechtspraxis und im gemeinrechtlichen Diskursbegann sich diesbezüglich seit dem 17. Jahrhundert das Festnahme-und Territorialitätsprinzip durchzusetzen, in das die Rechtsauf-fassung des common law einfloss: »crimes are local, punishableexclusively in the country were they are committed.«26 In der ge-meinrechtlichen kontinentalen Praxis erfuhr die Territorialität desStrafens allerdings eine wesentliche grenzübergreifende Erweite-rung: Danach konnte das Gericht des Ergreifungsorts und/oder des(eher nachgeordneten) Tatorts (forum deprehensionis/delicti com-missi) alle Verbrechen eines gefassten Täters – auch die früher im

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26 Albert Friedrich Berner, Wir-kungskreis des Strafgesetzes nachZeit, Raum und Personen. Beson-ders von der Bestrafung der imAuslande begangenen Verbrechen,vom Asylrecht und von der Aus-lieferung der Verbrecher, von derRückwirkung der Strafgesetze undvom Rechtsirrthum, Berlin 1853,94.

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»Ausland« begangenen und unabhängig von der Zugehörigkeiteines Täters zu einer anderen Obrigkeit – nach den Normen desbetreffenden Gerichtsorts beurteilen, die freilich auf dem übergrei-fenden gemeinen Strafrecht aufruhten.27 Dies mag im Kontext derinquisitorischen Offizial- und Instruktionsmaxime als »kompen-satorischen Strafverfolgung« und generelle Strafverfolgungspflichtund damit als eine Vorwegnahme der seit dem 19. Jahrhundertdiskutierten Prinzipien der »Weltstrafrechtspflege« oder stellver-tretenden Strafrechtspflege erscheinen.28 Freilich trifft dies nurbedingt zu, denn Eliten wie Adel und Geistlichkeit verfügten überExemtionsrechte und einen eigenen Gerichtsstand und das gemeineRecht kannte weder supraterritoriale Gerichte noch eine generelleBestrafungs- oder Auslieferungspflicht. Vielmehr konstruierte estransterritoriale Strafjustiz als globale Aufgabe unterschiedlicherStrafrechtssysteme im Sinne eines aut dedere – aut punire.29 Ausdieser erst im 20. Jahrhundert zu aut dedere – aut iudiciare erwei-terten Formel lässt sich für die Frühe Neuzeit keine gemeinrecht-liche Verpflichtung ablesen, sondern sie markiert eher eine flexibleHandhabung des grenzübergreifenden Strafrechtsverkehrs und dieLegitimation des Territorialitätsprinzip bzw. territorialer/obrig-keitlicher Strafkompetenz auch im Hinblick auf »Ausländer« und»Auslandsstraftaten«. In diesem Sinn hatte auch Grotius, der alsein wesentlicher Urheber der Formel aut dedere – aut punire gilt,das punire als ein Bestrafungsrecht konzeptualisiert und das Straf-verfolgungs- oder Auslieferungsgebot lediglich auf Staatsverbre-chen und grenzübergreifende bzw. alle Staaten/Herrschaftsordnun-gen bedrohende Kriminalität begrenzt: »crimina […] quae statumpublicum tangunt, aut quae eximiam habent facinoris atrocitatem«(explizit genannt werden noch Rebellen und Piraten).30

Im Hinblick auf die »gemeinen« (lokal begrenzten) Verbrechenbesaß die Auslieferung in der Praxis einen geringen Stellenwert,zumal sie die Obrigkeiten nur bei Zusicherung der Übernahme allerentstandenen (und oft hohen) Kosten gewährten. Lediglich im Fallvon politischen Verbrechen/Dissidenten und sonstigen Delikten,die sich gegen den Staat richteten (wie z. B. Desertion), bestand einstärkeres Verfolgungs- und Bestrafungsinteresse, das sich auch inAuslieferungsersuchen äußerte.31 Ansonsten bestimmten die »po-liceyliche« Ausweisung und exkludierende Strafen wie Stadt- undLandesverweis den Umgang mit Delinquenten, die nicht im Rechts-raum (auf Kosten) der jeweiligen Obrigkeit bestraft werden sollten.

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27 Vgl. die zusammenfassende Dar-stellung bei Christian FriedrichGeorg Meister, Einleitung zurpeinlichen Rechtsgelehrsamkeit,Nachdr. der 2., verm. Aufl., Göt-tingen 1776, 617–716.

28 So z. B. Georg Solna, Das Welt-rechtsprinzip im internationalenStrafrecht, Kirchhain N.-L. 1927.

29 Vgl. Maierhöfer, »Aut dedere –aut iudicare« (Fn. 10) 63–97 zurfrühneuzeitlichen juristischen Dis-kussion.

30 Hugo Grotius, De jure belli acpacis libri tres […], Amsterdam1632, lib. II, cap. 21 § 5, 331; vgl.Maierhöfer, »Aut dedere – aut

iudicare« (Fn. 10) 74 f.; ElkeTiessler-Marenda, Einwande-rung und Asyl bei Hugo Grotius,Berlin 2002, 224–236; DieterHüning, Die Begründung desStrafrechts in der Naturrechtslehredes 17. Jahrhunderts, in: Verbre-chen und Strafen. Soziale, recht-liche, philosophische und literari-sche Aspekte von Kriminalität imMittelalter und der frühen Neu-zeit, hg. von S. Kesper-Biermann

und D. Klippel, Wiesbaden 2007,77–114.

31 Einige Beispiele bei Georg Fried-rich von Martens, Erzählungenmerkwürdiger Fälle des neuereneuropäischen Völker-Rechts in ei-ner practischen Sammlung vonStaatsschriften aller Art in deut-scher und französ. Sprache […],Göttingen 1800, 21 ff., 217 ff.,sowie Bd. 2, Göttingen 1802,291 ff.

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In diesem Sinn kam dedere in der Praxis häufig einer bloßen Ab-schiebung in ein anderes Territorium gleich.32

Eigene »nützliche« Untertanen lieferten Territorien und Staa-ten nur ungern aus, und auch die Stellung von Zeugen an »fremd-herrische« oder »ausländische« Gerichte wurde unterbunden odererschwert. In dieser Hinsicht dominierten utilitaristisch-politischeInteressen den transterritorialen Strafrechtsverkehr, zumal eine»kompensatorische Strafverfolgung« fremder Delinquenten im ei-genen Gerichts- und Rechtsraum der Stärkung und Demonstrationvon Jurisdiktionsrechten bzw. des erstrebten Justizmonopols dien-te. Insofern verbarg sich hinter punire weniger eine Pflicht zurstellvertretenden Bestrafung als vielmehr eine Option für Obrig-keiten/Staaten, ihre Strafkompetenzen – und damit ihre Herr-schaftsrechte – auf Personen und Straftaten auszudehnen, die nichtunmittelbar ihrem Rechtsbereich angehörten bzw. in diesem be-gangen worden waren. In der Praxis handelte es sich freilich häufigum Verdächtige/Täter, die als herrenlose Vaganten oder Ange-hörige von Räuber- und Diebsbanden keine Zugehörigkeit auf-wiesen und denen grenzübergreifende Verbrechen zur Last gelegtwurden.33

Die Dominanz des forum deprehensionis und des punire be-dingten dennoch in Verbindung mit der Festigung (oder Durch-setzung) des Justizmonopols eine Intensivierung der transterrito-rialen strafrechtlichen Interaktion im Bereich des Informations-austauschs und der Kommunikation über Verbrechen und Ver-brecher im Rahmen des so genannten Requisitionswesens und derNacheile. Besonders zwischen den Obrigkeiten des Heiligen Römi-schen Reiches deutscher Nation und in einigen Fällen auch mit»Nachbarstaaten« wie Frankreich und der Eidgenossenschaft ent-wickelte sich das so genannte Requisitionswesen zu einem wichti-gen Feld transterritorialer strafrechtlicher Interaktion, die primärauf Strafverfolgung und Ermittlung zielte. Führten Gerichte/Obrig-keiten inquisitorische Strafverfahren gegen »fremde« Täter und»Ausländer« durch, holten sie häufig mittels eines Requisitions-schreibens Informationen über die Person, mögliche Straftatenoder »Vorstrafen« bei dem Gerichtsstand des Herkunfts- oderTatorts bzw. den zuständigen Obrigkeiten ein. Ergaben sich Ver-dachtsmomente über im »Ausland« bzw. im Rechtsraum eineranderen Obrigkeit begangene Verbrechen, verstärkte sich dertransterritoriale Informationsaustausch im Rahmen des Strafver-

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32 Vgl. Gerd Schwerhoff, Vertrei-bung als Strafe. Der Stadt- undLandesverweis im Ancien Régime,in: Hahn / Komlosy / Reiter,Ausweisung (Fn. 23) 48–72;Helga Schnabel-Schüle, DieStrafe des Landesverweises in derFrühen Neuzeit, in: ebd., 73–82;Martin Scheutz, Ausgesperrtund gejagt, geduldet und ver-steckt. Bettlervisitationen im Nie-

derösterreich des 18. Jahrhun-derts, St. Pölten 2003.

33 Vgl. Uwe Danker, Räuberbandenim Alten Reich um 1700. Ein Bei-trag zur Geschichte von Herr-schaft und Kriminalität in derFrühen Neuzeit, Frankfurt a. M.1988; Gerhard Fritz, Eine Rottevon allerhandt rauberischem Ge-sindt. Öffentliche Sicherheit inSüdwestdeutschland vom Endedes Dreißigjährigen Krieges bis

zum Ende des Alten Reiches, Ost-fildern 2004; Härter, Policey undStrafjustiz (Fn. 19) 1003 ff.

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fahrens (z. B. Zeugenaussagen, Versendung von Verhörprotokol-len), in dessen Verlauf die Gerichte bzw. Obrigkeiten auch über einestellvertretende Bestrafung, Überstellung oder Auslieferung ver-handeln konnten.34

Die strafrechtliche Interaktion beschränkte sich dabei nichtnur auf den Austausch von Gerichtsakten, sondern weitere ermitt-lungsrelevante Informationen wurden kommuniziert, darunter im18. Jahrhundert auch so genannte Gauner- und Diebslisten. Diesedienten nicht nur der Fahndung nach weiteren Verdächtigen/Tä-tern, sondern fungierten als criminalpoliceylicher Wissensspeicher,da sie im Strafverfahren gewonnene Informationen über Täter/Verdächtige, Netzwerke, Hehler, begangene Verbrechen, Aufent-haltsorte, Routen usw. enthielten, die für die Strafverfolgung ge-nutzt werden konnten.35 Das transterritoriale Requisitionsverfah-ren basierte überwiegend auf der gemeinrechtlichen Praxis und warkaum durch Abkommen oder sonstige Normen verrechtlicht.36

Anders dagegen die unmittelbare, akute Strafverfolgung flüch-tiger Täter im Wege der so genannten Nacheile.37 Da das Über-treten von Staats-, Territorial- wie Rechtsgrenzen durch obrigkeit-liche Organe – darunter konnten Untertanenstreifen, Amtsträgeroder paramilitärische Policeyorgane wie Husaren oder Jäger fallen– als eine violatio territorii galt, entstand ein hoher transterrito-rialer Interaktions- und Verrechtlichungsbedarf. Im Alten Reichboten die Reichsexekutionsordnung, Ordnungsgesetze der Reichs-kreise und bilaterale Abkommen zwischen den Obrigkeiten ledig-lich begrenzte rechtliche Lösungen für die Verfolgung von Deliktenbzw. Verbrechern im Bereich der grenzübergreifenden Kriminalitätund öffentlichen Sicherheit, insbesondere bei Landfriedensbruch,Majestätsverbrechen, Duellen und Raub bzw. »Diebs- und Räu-berbanden«.38 In der Regel bedurften grenzübergreifende Maß-nahmen der Strafverfolgung ebenfalls einer normativen »Fein-abstimmung« mittels formaler Requisitorialschreiben, die zwecksverbindlicher Verabredung von Streifen, bei Verfolgung und Fest-nahme von Straftätern oder auch zur Verifizierung von Straftatenund dem sonstigen Austausch von Kriminalakten und Informatio-nen gemeinrechtliche Praxis waren. Die Festnahme von Verdäch-tigen/Tätern auf fremdem Territorium und die sich anschließendeFrage des kompetenten Forums und der Auslieferung blieb freilichkonfliktbelastet und umstritten, was zu Spezialstudien und unter-schiedlichen Bewertungen in der juristischen Literatur39 Anlass

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34 Die Strafrechtsgeschichte wie diehistorische Kriminalitätsforschunghaben den grenzübergreifendenStrafrechtsverkehr kaum unter-sucht; vgl. aber die Hinweise in denFallstudien: Helga Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafenim Territorialstaat. Bedingungenund Auswirkungen des Systemsstrafrechtlicher Sanktionen imfrühneuzeitlichen Württemberg,Tübingen 1990, 90–123; L’ammi-nistrazione della giustizia penalenella Repubblica di Venezia (secoliXVI–XVIII), hg. von GiovanniChiodi und Claudio Povolo,Vol. I–II, Verona 2004, I, 20–41;Ralf Brachtendorf, Ein Post-kutschenüberfall im Jahre 1781 inder Eifel. Möglichkeiten und Pro-bleme bei der Verfolgung vonStraftätern in Kurtrier, in: »Un-recht und Recht. Kriminalität undGesellschaft im Wandel von 1500–2000«. Gemeinsame Landesaus-stellung der rheinland-pfälzischenund saarländischen Archive. Wis-senschaftlicher Begleitband, hg.von H.-G. Borck, Koblenz 2002,512–526; Härter, Policey undStrafjustiz (Fn. 19) 408–416; Er-mitteln, Fahnden und Strafen.Kriminalitätshistorische Studienvom 16. bis zum 19. Jahrhundert,hg. von Andrea Griesebner undGeorg Tschannett, Wien 2010.

35 Andreas Blauert, Eva Wiebel,Gauner- und Diebslisten: Regist-rieren, Identifizieren und Fahndenim 18. Jahrhundert. Mit einemRepertorium gedruckter südwest-deutscher, schweizerischer undösterreichischer Listen sowie ei-nem Faksimile der Schäffer’schenoder Sulzer Liste von 1784,Frankfurt am Main 2001.

36 Vgl. dazu aus der gemeinrechtli-chen Literatur: Christian Jacobvon Zwierlein, De litteris requi-sitorialibus ex usu Romanorumantiquiori et recentiori. Dissertatioprima de litteris requisitorialibusex usu Romanorum antiquiori etrecentiori, Göttingen, Univ., Diss.,1758; Johann Christoph Koch,Anfangsgründe des peinlichenRechts, Jena 1790, 602–605.

37 Rechtshistorisch ist die Nacheilekaum erforscht; vgl. lediglichWilhelm Koch, Die Nacheile imdeutschen öffentlichen Recht undim Völkerrecht, Greifswald 1917.

Aktuell hat die Nacheile in derDiskussion um transterritorialeStrafverfolgung wieder Beachtunggefunden; vgl. nur Bernd He-cker, Europäisches Strafrecht,Berlin, Heidelberg 2010, 176 f.,196 und passim.

38 Johann Jacob Moser, TeutschesNachbarliches Staatsrecht (NeuesTeutsches Staatsrecht Bd. 19),Frankfurt, Leipzig 1773, 549–557; weiterhin Karl Härter,

Sicherheit und Frieden im früh-neuzeitlichen Alten Reich: ZurFunktion der Reichsverfassung alsSicherheits- und Friedensordnung1648–1806, in: Zeitschrift fürhistorische Forschung 30 (2003)413–431; zu den zahlreichenOrdnungsgesetzen vgl. nur Reper-torium der Policeyordnungen derFrühen Neuzeit, hg. von KarlHärter und Michael Stolleis,Bde 1–10, Frankfurt am Main

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gab: »Jedoch finden sich, einige gesetzliche Bestimmungen abge-rechnet, auch im gemeinen Rechte keine allgemeinen Anordnun-gen über Verbrechen im Auslande, das dabey zu beobachtendeVerfahren und die anzuwendenden Gesetze; daher häufige Colli-sionen und Streitigkeiten zwischen Staaten entstehen«, kommen-tierte Abegg in einer 1819 publizierten Abhandlung.40

Requisitionswesen und Nacheile konfligierten mit einem ande-ren wesentlichen Institut transterritorialer strafrechtlicher Inter-aktion, das auch die »innere« Reichweite des Strafrechts bzw.das Justiz- und Gewaltmonopol tangierte: dem Asyl. Im früh-neuzeitlichen Europa existierten zahlreiche mit Immunität behaf-tete Asylorte bzw. Formen des Schutzes vor strafrechtlicher Ver-folgung durch Verhinderung von Nacheile und Festnahme und/oder Nichtauslieferung: Kirchenasyl, »innere« weltliche Asyle so-wie zwischenstaatliches Asyl für »politische« oder Glaubensflücht-linge und diplomatisches Asyl; letztere spielten in der Praxis aller-dings nur eine geringe Rolle. Grundlage der Asylgewährung bildetedie Immunität, die auf Sakralität, aber auch auf Privilegierung undGerichtsrechten und damit kanonischem wie weltlichem Rechtberuhen konnte und letztlich einen mehr oder weniger abgegrenz-ten separaten Rechtsraum markierte. In dieser Hinsicht stellte auchdas vormoderne Asyl ein Element »grenzübergreifender« straf-rechtlicher Interaktion zwischen unterschiedlichen Inhabern vonGerichts- und Herrschaftsrechten dar und gab Anlass zu Konflik-ten und Verrechtlichungsprozessen. Drangen Verfolger in die Im-munität eines Asylorts ein und nahmen einen Verfolgten fest,konnte dies als Asylbruch, Immunititätsverletzung oder violatioterritorii bewertet werden. Umgekehrt warfen verfolgende Obrig-keiten den asylgewährenden Institutionen/Orten den Schutz straf-würdiger Verbrecher bzw. »Asylmissbrauch« vor. Zahlreiche Asyl-fälle bzw. Asylkonflikte führten zu Verhandlungen, wobei nebenden strafverfolgenden und asylgewährenden Obrigkeiten auch dieVerfolgten von der Möglichkeit Gebrauch machten, aus demSchutz des Asyls heraus über freies Geleit, Verzicht auf Inquisi-tions- bzw. Untersuchungshaft oder Strafmilderung zu verhan-deln.41

Diese grenzübergreifenden Aushandlungsprozesse und Kon-flikte stimulierten die weitere Verrechtlichung des Asyls: Mehrereeuropäische Höchstgerichte verhandelten in den Frühen Neuzeiteinige Fälle und stellten erste Prinzipien des »Asylrechts« auf,

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1996–2010, im Sachindex unter»Nacheile«.

39 Vgl. Christian Wildvogel /Andreas Simson Biechling,De persecutione delinquentium.Von der Nacheile, Jena, Univ.,Diss., 1709; Michael ChristophMüller, De iure facinorosos se-quela praefectoria persequendi,vulgo Von der Amts-Folge oderNach-Eyle, Altdorf, Univ., Diss.,1714 (auch Altdorf 1722 und

1746). Überblick zu den Stand-punkten bei: Johann Christianvon Quistorp, AusführlicherEntwurf zu einem peinlichen Ge-setzbuch, Rostock und Leipzig1782, Tl. III, 66–78; Koch, An-fangsgründe (Fn. 36) 602–604.

40 Julius Friedrich HeinrichAbegg, Über die Bestrafung derim Auslande begangenen Verbre-chen. Ein Versuch, Landshut1819, 80.

41 Neben den in Fn. 11 genanntenArbeiten vgl. noch: Kai Bam-mann, Im Bannkreis des Heiligen.Freistätten und kirchliches Asyl alsGeschichte des Strafrechts, Müns-ter u. a. 2002.

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darunter die Reduzierung, aber normative Festschreibung derasylfähigen Delikte und das Lenitätsprinzip (Verzicht auf Todes-strafe).42 Eine stärkere Verrechtlichungswirkung ging von denVerhandlungen zahlreicher Länder und Reichsterritorien mit derkatholischen Kirche aus, die sich im 18. Jahrhundert in päpstlichenBullen, Verträgen und Gesetzen normativ verfestigten.43 EinenKern dieser transterritorialen Ordnung des Asyls bildete die Re-duzierung der asylfähigen Delikte: Geringere Vergehen und poli-tische, gegen den Staat gerichtete Verbrechen wie Rebellion, De-sertion, Majestätsbeleidigung und auch die Hinterziehung vonSteuern und Abgaben wurden vom Asylschutz ausgenommen. ImGegenzug akzeptierten die weltlichen Obrigkeiten das Lenitäts-prinzip und verzichteten auf die Todesstrafe und schwere Körper-strafen bzw. hoben deren Androhung in ihrer Strafgesetzgebung fürdie betreffenden Delikte auf. Die transterritoriale Verrechtlichungdes Asyls beinhaltete folglich ein grenzübergreifendes Aushandelnund eine normative Vereinbarung von Kriminalität, Strafen undStrafzwecken. Rudimentär geregelt wurde meist auch das Aus-lieferungsverfahren im Hinblick auf die Prüfung der Asylfähigkeitder Delikte, die Rechtmäßigkeit der Verfolgungsgründe bzw. diesubstantielle Begründung der Anklage, die Gewährung von freiemGeleit, den Verzicht auf Untersuchungshaft und/oder das Lenitäts-prinzip. Die Vereinbarungen sahen freilich eher selten die Beteili-gung von Gerichten vor und überließen das Verfahren unmittelbarden jeweiligen Obrigkeiten und damit der politisch-exekutivenEbene. Diese Entwicklung war von einem intensiven juristischenDiskurs begleitet, der sich im 18. Jahrhundert überwiegend demArgument des »Asylmissbrauchs« anschloss, aber dennoch zurSystematisierung und Verrechtlichung der normativen Grundlagendes Asyls beitrug. Insgesamt entstand so im 18. Jahrhundert einenormative Ordnung eines rudimentären grenzübergreifenden undteilweise transterritorialen Asylregimes.44

Die souveränen Nationalstaaten schafften zwar im 19. Jahr-hundert alle »inneren« Asyle ab, zentrale Prinzipien wie struktu-relle Konfliktlagen des vormodernen Asylregimes flossen jedochlangfristig in das zwischenstaatliche, politische Asyl und das Aus-lieferungsrecht ein, die sich im 19. Jahrhundert allmählich aus-formten: das Aushandeln der asylwürdigen Delikte und das Leni-tätsprinzip mit ihren Rückwirkungen auf das jeweilige nationaleStrafrecht, aber auch die Verlagerung der Verfahren auf die admi-

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42 Karl Härter, FrühneuzeitlicheAsylkonflikte vor dem Reichshof-rat und anderen europäischenHöchstgerichten, in: Höchstge-richte in Europa. Bausteine früh-neuzeitlicher Rechtsordnungen,hg. von L. Auer, W. Ogris undE. Ortlieb, Köln u. a. 2007, 139–162.

43 Carlotta Latini, Il privilegiodell’immunità. Diritto d’asilo egiurisdizione nell’ordine giuridicodell’età moderna, Mailand 2002;Peter Landau, Traditionen desKirchenasyls, in: Asyl am heiligenOrt. Sanctuary und Kirchenasyl:Vom Rechtsanspruch zur ethi-schen Verpflichtung, hg. von

K. Barwig und D. R. Bauer, Ost-fildern 1994, 47–61.

44 Zum juristischen Diskurs nochimmer heranzuziehen die älterenDarstellungen von R. Dann, Überden Ursprung des Asylrechts unddessen Schicksale und Überreste inEuropa, in: Zeitschrift für deut-sches Recht und deutsche Rechts-wissenschaft 4 (1840) 326–368;August M. von Bulmerincq,Das Asylrecht in seiner geschicht-

lichen Entwicklung, beurtheiltvom Standpunkte des Rechts unddessen völkerrechtliche Bedeutungfür die Auslieferung flüchtigerVerbrecher. Eine Abhandlung ausdem Gebiete der universellenRechtsgeschichte und des positi-ven Völkerrechts, Wiesbaden1853. Vgl. auch die exemplarischeArbeit zu Grotius von Tiessler-Marenda, Einwanderung(Fn. 30).

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nistrativ-politische Ebene, die Regime-Kollision zwischen Asyl undAuslieferung, die dominierende Bedeutung des staatlichen Justiz-und Gewaltmonopols und das Fehlen eines internationalen, einensubjektiven Rechtsanspruch begründenden Asylrechts.45

Parallel zum Asyl gewann auch die Auslieferung als zweiteszentrales Element transterritorialer strafrechtlicher Interaktion im18. Jahrhundert in Europa und im territorial zersplitterten AltenReich an Bedeutung und weist einen ähnlichen Prozess der Ver-rechtlichung auf. Einige Reichsstände hatten bereits im 17. Jahr-hundert die gegenseitige Stellung von Delinquenten und Zeugenvereinbart, wobei man sich noch weitgehend im Rahmen dergemeinrechtlichen Praxis der Gerichtsstände bewegte.46 »Staaten-grenzen« übergreifende, auf Einzelfälle begrenzte Abkommenschloss beispielsweise England 1661/62 mit der Republik derNiederlande und Dänemark über die Auslieferung politischerFlüchtlinge, die Asyl erhalten hatten.47 Zwischen einigen Schwei-zer Orten und benachbarten Reichsständen sowie mit Frankreichkam es im 18. Jahrhundert zu Verhandlungen über die Ausliefe-rung von Deserteuren und Verbrechern, denen Asyl gewährt wor-den war; ein vertragliches Abkommen mit Vorderösterreich lehntedie eidgenössische Tagsatzung zwar ab, mit Frankreich schlossenjedoch einige katholische Kantone Verträge.48

Ausgehend von der Asyl- und Deserteursproblematik verein-barte Frankreich auch mit Württemberg sowie dem Schwäbischenund dem Fränkischen Reichskreis und einigen anderen Reichs-territorien bereits im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts Verträge –meist Kartelle genannt – über die wechselseitige Auslieferung vonDeserteuren und anderen Verbrechern. Dabei wurde der Kreisder Delikte, bei denen Täter/Verfolgte ausgeliefert werden sollten,allmählich ausgeweitet: Neben politischen Delikten und Verbre-chen gegen den Staat wie Desertion, Münzdelikten, Zensurver-gehen, Majestätsverbrechen und Verrat sahen einzelne Abkommenauch die Auslieferung von Dieben und Räubern vor, insbeson-dere falls diese grenzübergreifend vagierenden Diebs- und Räuber-banden angehörten. Ähnliche bilaterale Auslieferungsabkommenschlossen Frankreich und Spanien (1765), Frankreich mit derEidgenossenschaft (1777/1798), Österreich und Graubünden(1752/1763), Hamburg und Holstein (1736) sowie einige Reichs-territorien mit Frankreich und untereinander. Bis zum Jahr 1830lassen sich aus der Sammlung von Martens rund 90 Verträge

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45 Vgl. Maierhöfer, Aut dedere –aut iudicare (Fn. 10) 110 und ausder älteren Literatur: RichardLange, Grundfragen des Auslie-ferungs- und Asylrechts, Karlsruhe1953; zum Lenitätsprinzip immodernen Auslieferungsrecht bei-spielsweise Christoph Gusy,Auslieferung bei drohender Todes-strafe?, in: Goltdammer’s Archivfür Strafrecht 130 (1983) 73–83.

46 Moser, Nachbarliches Staatsrecht(Fn. 38) 556 f.

47 Jan Willem Marie Bosch, Asylen uitlevering historisch geschetst,’s-Bosch 1885, 129 f.

48 Johannes Theler, Asyl in derSchweiz: eine rechtshistorischeund kirchenrechtliche Studie,Freiburg 1995, 161–163.

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ermitteln, die sich mit Auslieferungsfragen (teils auch nur in ein-zelnen Artikeln) beschäftigen.49

Der auf zwölf Jahre begrenzte Bündnisvertrag zwischen Bern,Zürich und Venedig aus dem Jahr 1706 enthielt bereits einenArtikel, der die wechselseitige Auslieferung bei politischen undschweren Verbrechen regelte, diese allerdings auf verurteilte Straf-täter beschränkte: »Kein Parthey soll noch mag auch des anderenTheils Rebellen, und Wiederspenstige auf- und annemmen, nochauch die jenigen, wieder welche um Malefitzischer Sachen Willenprocediret worden ist, als nammlich Mörder, Sodomiter, offentlichverschreite Dieben, Verräther, Bränner, Jungfrauen-Schänder, Räu-ber, und falsche Müntzer, sonders solle jeder Theil schuldig seyn,solche Persohnen dem andern durch sie verurtheilt, und verbanni-siret, und dessen Unterthanen sie sind, auf Erfordern gegen Abtragbillichen Kosten zu überantworten.«50 Als weiteres charakteris-tisches Beispiel für einen frühen Auslieferungsvertrag kann dieConvention über die »wechselseitige Auslieferung der Verbrecher«gelten, die der Landgraf von Hessen-Kassel und der Kurfürst vonBraunschweig-Lüneburg 1735 abschlossen und in der sie verein-barten, dass »alle und jede Unterthanen, so in eines oder andernHohen Theils unstreitigem Territorio delinquieren«, auf entspre-chende Requisitionsersuchen ausgeliefert werden sollten. 1782wurde der Vertrag erneuert und im Hinblick auf das Prinzip derReziprozität (»auf die Reciprocität gegründet ist«), die Kosten-übernahme und das Verfahren präzisiert, Deserteure aber explizitausgenommen.51

Die meisten Auslieferungsabkommen des 18. Jahrhundertsbeschränkten dagegen die Auslieferung auf Deserteure und »Räu-ber«, wobei in der Praxis eigene Untertanen, die aus fremdenKriegsdiensten desertiert waren, nicht ausgeliefert wurden.52 Diezweisprachig im Druck publizierten Kartelle, die Frankreich 1731und 1741 mit dem Fränkischen und dem Schwäbischen Reichskreis(die als »föderale« Gebilde mehrere Reichsstände umfassten) ver-einbarte, normierten die gegenseitige Auslieferung von Deserteurensowie von »Strassen-Räubere, Rauber, Mordbrenner, Meuchel-mörder, und dergleichen Rad- und Henckers-mäßige Bößwichtere,die eines von diesen abscheulichen Lastern in ihren Landen« aus-geübt und sich in das andere Land geflüchtet hätten. Sie sollten»auf vorhergehende förmliche Reclamation handfest gemacht undausgeliefert werden«. Weiterhin wurden Kostenerstattung, formale

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49 Der Überblick folgt der älterenLiteratur: Heinrich Lammasch,Auslieferungspflicht und Asyl-recht. Eine Studie über Theorieund Praxis des internationalenStrafrechtes, Leipzig 1887, 23–25;Shearer, Extradition (Fn. 9) 7–11 mit Georg Friedrich vonMartens, Recueil des principauxtraités d’alliance, de paix, de trêve,de neutralité, de commerce, delimites, d’échange etc. Conclus parles puissances de l’Europe tantentre elles qu’avec les puissances etEtats dans d’autres parties dumonde depuis 1761 jusqu’à pré-

sent, Bd. 1 ff., Göttingen 1791 ff.Die detaillierte inhaltliche Analyseder Auslieferungsabkommen stelltebenso wie die konkrete Ausliefe-rungspraxis noch ein Forschungs-desiderat dar und kann hier nichtgeleistet werden.

50 Johann Jacob Schmauss, Cor-pus iuris gentium academicum.Enth. die vornehmsten Grund-Gesetze, Friedens- und Commer-cien-Tractate, Bündnüsse und an-

dere Pacta der Königreiche,Republiquen und Staaten von Eu-ropa, Tl. 1–2, Leipzig 1730, Tl. II,1184–1193, hier Art. XXI, 1191.

51 Gemeinsamer Druck der Verträgevom 24.11.1735 und 5.2.1782,Kassel 1782.

52 Vgl. Michael Sikora, Disziplinund Desertion. Strukturproblememilitärischer Organisation im18. Jahrhundert, Berlin 1996,119–127.

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Requisitions- bzw. Auslieferungsersuchen und Informationsaus-tausch vereinbart, eine grenzübergreifende Nacheile, Festnahmeund »Hinwegschaffung« aber ausdrücklich ausgeschlossen. Exe-kutive Organe der verfolgenden Obrigkeiten durften zwar dieGrenze überqueren, mussten aber die zuständigen Amtsträger der»Zufluchtsorte« um die Festnahme ersuchen, damit die Festge-nommenen »sodann an denen in dieser Convention bestimmtenStellen ausgeliefert werden können«. Die Verträge schlossen miteiner Befristung auf vier Jahre und einer Publikationsverpflich-tung.53 Diesem Muster folgten auch spätere Verträge zwischenFrankreich und einzelnen Reichsständen und der Reichsständeuntereinander (letztere bis 1806 auf Deserteure und illegale Aus-wanderer begrenzt).54

Die Verträge des 18. Jahrhunderts enthalten folglich wesent-liche Prinzipien der transterritorialen Auslieferung und ersetzenteilweise die gemeinrechtlichen Praktiken durch Normen einesgrenzübergreifenden Strafrechtsregimes: Reziprozität, Benennungder auslieferungswürdigen Verbrechen (aber ohne genaue Defini-tion), Kostenerstattung, Verbot von Nacheile und Festnahme,formale Auslieferungsersuchen sowie ein formales Auslieferungs-verfahren auf der politisch-administrativen Ebene. Für die Obrig-keiten des Alten Reiches ist weiterhin kennzeichnend, dass solcheKartelle/Verträge im eigenen Herrschaftsgebiet als allgemeinesGesetz publiziert wurden und insofern transterritoriale NormenEingang in das territoriale Strafrecht fanden.55

Auch der gemeinrechtliche juristische Diskurs reagierte aufdie Entwicklungen im Bereich von Auslieferung und Asyl undlöste sich allmählich von den älteren Mustern der Gerichtsstands-lehre und Nacheile.56 Nahezu alle Autoren lehnten die innerenweltlichen und das Kirchenasyl als Hindernis staatlicher Straf-rechtspflege ab, und einige befürworteten darüber hinausgehenddie unbedingte Notwendigkeit und nahezu die Pflicht einer Aus-lieferung oder zumindest stellvertretenden Strafverfolgung. Dabeibedienten sie sich – wie insbesondere Vattel – des Rechtfertigungs-narrativs einer grenzübergreifenden, alle Obrigkeiten/Staaten unddie allgemeine Sicherheit bedrohenden Kriminalität: »Les empoi-sonneurs, les assassins, les incendiaires de profession peuvent êtreexterminés partout où on les saisit; car ils attaquent & outragenttoutes les Nations, en foulant aux pieds les fondemens de leur sû-reté commune.« Daraus folgerte er »les Assassins, les Incendiaires,

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53 Hier zitiert: Cartel entre sa Ma-jesté trés chrétienne le Roy deFrance &c. & Le louable Cercle deFranconie touchant le renvoy re-ciproque des Deserteurs & Mal-faiteurs arrêté à Nuremberg le4. Octobre 1741 / Cartel zwischenIhro Königlichen Majestät inFranckreich und dem Löblich-Fränkischen Creyß wegen Auslie-ferung derer Deserteurs und Ubel-thäter, etc., Nürnberg 1741.

Nahezu gleichlautend: Cartel En-tre Sa Majesté Trés ChretienneLe Roy De France &c. &c. Et LeLouable Cercle De Suabe, Tou-chant Le Renvoy Reciproque DesDeserteurs et Malfaiteurs : arrêté àStouttgardt le 27me Septembr.1741 = Cartel Zwischen Jhro Kö-nigl. Majest. In Franckreich &c.Und Dem Löbl. SchwäbischenCreyß Wegen Ausliefferung dererDeserteurs und Ubelthäter, [Stutt-

gart] 1741; Cartel Entre Sa Ma-jesté Tres Chres. le Roy de France& c. & c. et le Louable Cercle deSouabe, touchant le renvoy reci-proque des deserteurs et malfai-teurs […] / Cartel zwischen IhroKönigl. Maj. in Frankreich & c.und dem Löbl. SchwäbischenCreyß wegen Ausliefferung dererDeserteurs und Uebelthäter […],Straßburg 1732.

54 Vgl. z. B. die Konventionen zwi-schen Frankreich und Württem-berg der Jahre 1759 und 1765,letztere gedruckt bei: Martens,Recueil (Fn. 49), Bd. 1, zweiteAufl. Göttingen 1817, 310–313.

55 Vgl. hierzu nur den Nachweis derGesetze, mit denen solche Kartellepubliziert wurden, in: Härter /Stolleis, Repertorium der Poli-ceyordnungen (Fn. 38), Bde 1–10,im Sachindex unter »Ausliefe-rung«, »Deserteure« und »Kar-telle«.

56 Vgl. hierzu als frühes Beispiel dieDissertation Andreas Mylius,Christian Siegfried Fritsch,De remissione facinorosorum, eo-rumque transportatione per terri-torium alienum, Leipzig 1690(weitere Auflagen 1720 und1743); weiterhin Meister, Ein-leitung (Fn. 27) 675–679; CarlAugust Tittmann, Die Straf-rechtspflege in völkerrechtlicherRücksicht: mit besonderer Bezie-hung auf die teutschen Bundes-staaten, Dresden 1817; Abegg,Bestrafung (Fn. 40). Zusammen-fassend: Oehler, Strafrecht(Fn. 9) 103–109; Moock, Pro-bleme (Fn. 10) 41–45.

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les Voleurs font saisis partout, à la réquisition du Souverain, dansles terres de qui le crime a été commis, & livrés à sa justice«.57

Vattel befürwortet auch die Auslieferung bei politischen Verbre-chen (Majestätsbeleidigung und gegen den Staat) und stützte sicherkennbar auf die bestehende Vertragspraxis. Insofern verdichtetsich bei ihm die Weiterentwicklung der gemeinrechtlichen Praxisund Lehre: Zwischenstaatliche vertragliche Vereinbarungen undein staatliches Auslieferungsverfahren mit einem formalen Aus-lieferungsersuchen avancierten zu zentralen rechtlichen Elementendes grenzübergreifenden Strafrechtsverkehrs.58

Die Auslieferung, und noch mehr die von wenigen Autorenbefürwortete Bestrafungsverpflichtung, konnte allerdings mit demauf staatliche Souveränität gegründeten Justiz- und Gewaltmono-pol kollidieren, aus dem sich bezüglich der grenzübergreifendentransterritorialen Interaktion Auslieferungsfreiheit und letztlichauch staatliche Asylgewährung im Sinne der Nichtauslieferungergaben, die lediglich durch transterritoriale normative Verein-barungen bzw. staatliche Auslieferungsverträge eingeschränkt wer-den konnten. Zwar tendierte der juristische Diskurs während der»Sattelzeit« immer stärker zu einer auf Souveränität gegründetenHandlungsfreiheit staatlicher Strafrechtssysteme und damit zum»Territorialitätsprinzip«, mehrere Autoren hielten jedoch auchim 19. Jahrhundert an einer Verpflichtung zur transnationalenVerbrechensbekämpfung fest. Als Begründung fungierte meist dieIdee einer naturrechtlich verpflichtenden »Weltstrafrechtspflege«,die auf das Rechtfertigungsnarrativ des internationalen Verbre-chens rekurrierte, das die allgemeine Sicherheit und alle Staatenbedrohe.59

Die hier nur skizzierte Intensivierung und Verrechtlichung derAuslieferung während des 18. Jahrhunderts steht folglich – wie dasAsyl – in Wechselwirkung zur Wahrnehmung und Konstruktionvon Kriminalität und zum Prozess der Durchsetzung des staat-lichen Justiz- und Gewaltmonopols. Die Normen strafrechtlichertransterritorialer Interaktion fokussierten primär auf die Bedro-hung der öffentlichen Sicherheit und des Staates durch Dissidenten,Deserteure, Räuber- und Diebsbanden und herrenlose Vaganten.In dieser Hinsicht bilden sie Entwicklungen im »Asylrecht«, derStrafgesetzgebung und des allgemeinen Sicherheitsdiskurses ab undetablieren darüber hinaus ein erstes Muster grenzübergreifenderKriminalität: vernetzte, herren- bzw. »staatenlose« und grenzüber-

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57 Emer de Vattel, Le droit desgens, ou principes de la loi natu-relle, appliqués à la conduite &aux affaires des nations & dessouverains, London 1758, Tl. 1Cap. XIX § 233 und Tl. 2, Cap.VI § 76. Während im französi-schen Text »extradition« nicht

auftaucht, verwendet die deutscheÜbersetzung von 1760 bereits»ausliefern«: »Meuchelmörder,Mordbrenner und Diebe werdenauf Ansuchen des Souveräns, indessen Landen sie ihre Verbrechenbegangen, in Verhaft genommen,und seinen Gerichten ausgelie-fert«: Des Herrn von Vattels Völ-kerrecht; oder: gründliche Anwei-sung wie die Grundsäze des na-türlichen Rechts auf das Betragen

und auf die Angelegenheiten derNationen und Souveräne ange-wendet werden müssen […] Ausdem Französischen übersezt vonJohann Philip Schulin, 3 Bde,Frankfurt, Leipzig 1760.

58 Vgl. Maierhöfer, »Aut dedere –aut iudicare« (Fn. 10) 82 f.

59 So beispielsweise Bulmerincq,Asylrecht (Fn. 44); Lammasch,Auslieferungspflicht und Asylrecht(Fn. 49) 27–30 und passim.

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greifend agierende Banden/Gauner sowie politische Verbrecher;beides gekennzeichnet durch okkulte Verbindungen und »Milieus«und als wesentliche Gefährdung der öffentlichen bzw. innerenSicherheit eingestuft. Damit hatte sich bereits in der Frühen Neuzeitein zentrales Rechtfertigungsnarrativ transterritorialer, globalerStrafrechtsregime etabliert: Verbrechen gegen die Herrschaftsord-nung und den Staat sowie internationale Kriminalität. Eine prä-zisere normative Definition dieser Verbrechen unterblieb jedoch:Weder die Auslieferungsverträge noch die territoriale Gesetzge-bung nahmen eine solche vor. Damit blieben gerade die Delikte imBereich der grenzübergreifenden Strafrechtregime rechtlich unbe-stimmt und der politisch-administrativen Konkretisierung im Rah-men transterritorialer Aushandlungsprozesse überlassen.

Daneben darf die Festigung und Durchsetzung des Justiz- undGewaltmonopols als Begründungszusammenhang und Rechtfer-tigungsnarrativ nicht unterschätzt werden. Die normative Begren-zung des Asyls und die Auslieferungsabkommen konstruierteneinen abgegrenzten homogenen Strafrechtsraum, für den das ge-meine Recht nicht mehr als ausreichend (oder sogar als hinderlich)angesehen wurde. Die allmählich entstehende Normativität imBereich des transterritorialen Strafrechtsverkehrs blieb dennochfragmentarisch und die Verrechtlichung begrenzt: Auslieferungund Asyl blieben eine zweiseitige Staats- und Policeysache, dienicht in einem gerichtsförmigen Verfahren, sondern politisch-ad-ministrativ geregelt wurden. Ein wesentliches Moment bildete dieVerfolgung grenzübergreifender Kriminalität in Gestalt von Diebs-und Räuberbanden und politischen Verbrechern im Kontext derentsprechenden Sicherheitsdiskurse und Sicherheitspolitiken, diezu einer Intensivierung der grenzübergreifenden strafrechtlichenInteraktionen – neben der Auslieferung auch der generelle Infor-mationsaustausch und die »polizeiliche« Zusammenarbeit – bei-trugen. Die innere Sicherheit und der Staat rückten damit in denMittelpunkt, was sich später im juristischen Diskurs im so ge-nannten »Personalitätsprinzip« (aktives und passives bzw. »Real-oder Schutzprinzip«) verfestigen sollte, das eine Strafverfolgungvon im Ausland durch eigene oder andere Staatsangehörige gegeneinen Staat begangene Straftaten – und zwar vor allem politischeund Staatsverbrechen – begründete.60 Dennoch ergaben sich Span-nungen zum Prinzip oder Rechtfertigungsnarrativ der »Welt-rechtsstrafpflege« und zu dem auf unbedingter staatlicher Souverä-

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60 Dogmatischer Überblick bei:Oehler, Strafrecht (Fn. 9) 359 ff.;Moock, Probleme (Fn. 10) 54–61.

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nität und dem Justizmonopol aufruhenden Territorialitätsprinzip.Diese Ausgangskonstellation bzw. die bereits in der Vormoderneausgeformten Kollisionen im Bereich des transterritorialen Straf-rechtsverkehrs blieben auch über die Französische Revolution, dasEnde des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und dieNapoleonische Herrschaft erhalten, die gleichwohl einen erhebli-chen Wandel des Strafrechts und der transnationalen Strafrechts-regime bewirkten.

3. Die Formierung transnationaler Strafrechtsregimein der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Mit der Französischen Revolution setzte in zahlreichen euro-päischen Ländern eine Neuformierung des Strafrechts ein, dieAufklärung und Reformen des so genannten aufgeklärten Abso-lutismus mit vorbereitet hatten. Mit dem Ende des Alten Reichesund durch die Napoleonische Herrschaft wurde dieser Wandelbeschleunigt und konnte sich ein auf staatliche Souveränität undNation gegründetes, gesetzlich kodifiziertes Strafrecht mit einemweitgehend realisierten staatlichen Gewalt- und Justizmonopoldauerhaft verfestigten.61 Dies bedeutete eine Territorialisierung,Nationalisierung, innere Homogenisierung und äußere Abschlie-ßung der jeweiligen national-staatlichen Strafrechtssysteme, denenals souveräne (National-)Staaten territoriale Unverletzlichkeit ge-gen alle äußeren/fremdstaatlichen strafrechtlichen Zugriffe zukam.Weder eigene Staatsangehörige noch Ausländer sollten daher fürVerbrechen im Ausland bestraft und eigene Staatsangehörige auchnicht ins Ausland ausgeliefert werden. In dieser Hinsicht vollendetesich folglich die in der Frühen Neuzeit angelegte Tendenz derTerritorialisierung des Strafens, reduzierte dabei aber den Strafan-spruch. Andererseits ging dieser Wandel mit einem Transfer vonStrafrecht einher (vor allem der Übernahme oder Rezeption desCode pénal und des Code d’instruction criminelle)62 und verstärkteauf lange Dauer die grenzübergreifenden strafrechtlichen Inter-aktionen und die Ausformung transnationaler Strafrechtsregime.

Neben den normativen und institutionellen Veränderungensollen hier die tiefer reichenden politischen, sozialen und wirtschaft-lichen Bedingungen dieses Wandels zumindest kursorisch benanntwerden mit: Intensivierung von grenzübergreifender Mobilität,

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61 Une autre justice 1789–1799.Contributions à l’histoire de lajustice sous la Révolution fran-çaise, hg. von Robert Badinter,Paris 1989; Wolfgang Naucke,Zur Entwicklung des Strafrechtsin der französischen Revolution,in: Die Bedeutung der Wörter.Studien zur europäischen Rechts-geschichte. Festschrift für StenGagnér zum 70. Geburtstag, hg.

von M. Stolleis, München 1991,295–312.

62 Christian Brandt, Die Entste-hung des Code pénal von 1810und sein Einfluss auf die Strafge-setzgebung der deutschen Parti-kularstaaten des 19. Jahrhundertsam Beispiel Bayerns und Preußens,Frankfurt a. M. u. a. 2002.

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Migration, Wirtschaftsverkehr und Wirtschaftsbeziehungen; Ver-besserung der Kommunikations- und Verkehrseinrichtungen; Ent-stehung von umfangreichen, politisch motivierten Flüchtlings-bewegungen und Ausformung des politischen Exils; Etablierungpolitisch unterschiedlicher und in Konkurrenz miteinander stehen-der Herrschaftssysteme bzw. Nationalstaaten. Im Kontext vonterritorialer/»nationaler« Abgrenzung und einer Intensivierunggrenzüberschreitender Interaktionen vollzog sich die Ausformungtransnationaler Strafrechtsregime aber auch in Kontinuität zu denvormodernen transterritorialen Regimen. Wie in anderen Bereichen(z. B. bezüglich des Strafverfahrens, des Strafvollzugs oder derStrafzwecke) finden sich auch im internationalen Strafrecht des19. Jahrhunderts vormoderne Elemente.63 Dessen Ausformungkann daher nicht ausschließlich unter Paradigmen wie Moderni-sierung, Reform, Humanisierung oder Rechtsstaatlichkeit beschrie-ben werden und ist auch kein bloßes Produkt einer Intensivierunggrenzübergreifender Wissenschaftsbeziehungen, dem Bedürfnisnach Erfahrungsaustausch und der gemeinsamen Suche nach Lö-sungen.64 Der juristische Diskurs stand vielmehr vor der Aufgabe,strafrechtliche Räume, Grenzen und grenzübergreifende Interak-tion neu zu bestimmen und griff dabei auch auf vormoderne Musterzurück. Kennzeichnend hierfür sind die in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts entstandenen Arbeiten von Carl August Tittmann(1817), Julius Friedrich Heinrich Abegg (1819), Albert FriedrichBerner (1853), Robert von Mohl (1853) oder August M. vonBulmerincq (1853). Sie nahmen ihren Ausgangspunkt von denEntwicklungen der »neueren und neuesten Zeiten« seit der Fran-zösischen Revolution, knüpften aber gleichwohl an die vormodernegemeinrechtliche Asyl- und Auslieferungsproblematik an, um dieReichweite des Strafrechts und die normative Ordnung des trans-nationalen Strafrechtsverkehrs systematisch zu beschreiben.65

Letzteres konnte freilich nur bedingt gelingen, denn bis zur Mittedes 19. Jahrhunderts formte sich erst allmählich im Wechselspielzwischen Asyl und Auslieferung und auf der nationalstaatlich-gesetzlichen wie vertraglich-internationalen Ebene eine neue Nor-mativität des transnationalen Strafrechtsverkehrs.

Eine wesentliche Voraussetzung bildete dabei die (endgültige)gesetzliche Abschaffung des vormodernen gemeinrechtlichen, aufImmunität beruhenden inneren Asyls, die viele Staaten zwischen1789 und 1815 im Kontext der Formierung nationaler staatlicher

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63 Zu diesem Ansatz: Karl Härter,Kontinuität und Reform der Straf-justiz zwischen Reichsverfassungund Rheinbund, in: Reich oderNation? Mitteleuropa 1780–1815, hg. von H. Duchhardtund A. Kunz Mainz 1998, 219–278; Karl Härter, Die Entwick-lung des Strafrechts in Mittel-europa 1770–1848: DefensiveModernisierung, Kontinuitätenund Wandel der Rahmenbedin-

gungen, in: Verbrechen im Blick.Perspektiven der neuzeitlichenKriminalitätsgeschichte, hg. vonR. Habermas und G. Schwer-hoff, Frankfurt a. M., New York2009, 71–107.

64 Sylvia Kesper-Biermann, PetraOverath, Internationalisierungs-prozesse in der Geschichte vonStrafrechtswissenschaft und Kri-minalpolitik (1870–1930).Deutschland im internationalen

Kontext, in: Kesper-Biermann /Overath, Internationalisierung(Fn. 8) 3–16; Diethelm Klippel,Martina Henze, Sylvia Kesper-Biermann, Ideen und Recht. DieUmsetzung strafrechtlicher Ord-nungsvorstellungen im Deutsch-land des 19. Jahrhunderts, in:Ideen als gesellschaftliche Gestal-tungskraft im Europa der Neuzeit.Beiträge für eine erneuerte Geis-tesgeschichte, hg. von L. Raphaelund H.-E. Tenorth, München2006, 372–394.

65 Tittmann, Strafrechtspflege(Fn. 56); Abegg, Bestrafung(Fn. 40); Berner, Wirkungskreis(Fn. 26); Bulmerincq, Asylrecht(Fn. 44); Robert von Mohl,Revision der voelkerrechtlichenLehre vom Asyle, Tübingen 1853.Eine nähere Analyse dieser erstenVersuche, eine normative Ord-nung transnationaler Strafrechts-regime zu formieren, bildet nochein Forschungsdesiderat und kannhier nicht geleistet werden.

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Strafrechtssysteme und der Etablierung eines staatlichen Gewalt-und Justizmonopols realisierten.66 Gleichzeitig hatte die (nicht inKraft getretene) französische Verfassung von 1793 allerdings erst-mals ein politisches Asylrecht postuliert, das sich letztlich auf dasstaatliche Gewaltmonopol und eine nationale Strafrechtsordnungstützte und damit auch (indirekt) die Nichtauslieferung der Ange-hörigen der eigenen Nation umfasste.67 Dem entsprach, dass dieNationalversammlung im September 1792 die Freilassung allerAusländer verfügte, die in Frankreich für Auslandsstraftaten ver-urteilt worden waren.68 Eigene Staatsangehörige, die als Regime-gegner massenhaft das Land verlassen und im Ausland erstecharakteristische Formen des politischen Exils gebildet hatten,verfolgte das revolutionäre und napoleonische Frankreich jedochauch über Grenzen hinweg. Aus der Perspektive des Heimatstaatesgalten die grenzübergreifenden Aktivitäten der Émigrés als politi-sche Verbrechen, die sich gegen die Nation und den Staat richte-ten.69 In dieser Hinsicht erweiterten sich folglich der Strafanspruchund die Reichweite des Strafrechts auf die Staatsanghörigen, un-abhängig von ihrem konkreten Aufenthaltsort, soweit sich derenVerbrechen gegen den eigenen Staat richteten. Umgekehrt wurdeder Strafanspruch eines anderen Staates gegenüber dem eigenenStaatsangehörigen negiert, und wie Frankreich verankerten zahl-reiche Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nicht-auslieferung eigener Staatsangehöriger in ihren Rechtsordnungenund in Auslieferungsverträgen.

Die europäischen Staaten und die meisten Mitglieder des Deut-schen Bundes setzten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dievormoderne Praxis fort, für einzelne »schwere« Delikte Ausliefe-rungsabkommen und eine transnationale Zusammenarbeit in bila-teralen Verträgen zu vereinbaren.70 Diese knüpften teilweise an dieälteren Verträge des 18. Jahrhunderts an, nahmen aber politischeVerbrecher nicht unter die auslieferungswürdigen Delikte auf oderpostulierten explizite Auslieferungsausnahmen für politische De-likte (worunter auch Staatsverbrechen fallen konnten)71 und dieeigenen Staatsangehörigen. Die deutschen Einzelstaaten übernah-men nach 1806 ebenfalls den Grundsatz der Nichtauslieferung der»Nationalen« für alle im Ausland gegen Ausländer begangenenVerbrechen; Württemberg verfügte bereits unmittelbar nach demEnde des Alten Reiches im Oktober 1806 ein Auslieferungsver-bot.72 Die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger stand inso-

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66 Überblick bei Dann, Ursprung(Fn. 44).

67 Constitution de la RépubliqueFrançaise, Précédée de la décla-ration des droits de l’homme, avecle rapport du Comité de Consti-tution et le Procès-Verbal d’accep-tation par le Peuple Français, Paris1793, Art. 120, 46; vgl. zur weite-ren Entwicklung des französischenAsylrechts: Gérard Noiriel,Réfugiés et sans-papiers. La ré-publique face au droit d’asileXIX.–XX. siècle, Paris 1999.

68 Oehler, Strafrecht (Fn. 9) 113.69 Wolfram Siemann, Exil, Asyl

und Wirtschaftswanderung inWesteuropa 1789–1860, in:Von der Arbeiterbewegung zummodernen Nationalstaat. Fest-schrift für Gerhard A. Ritter zum65. Geburtstag, hg. von J. Kocka,H.-J. Puhle und K. Tenfelde,München u. a. 1994, 315–328.

70 Vgl. die Vertragssammlungenvon Martens, Recueil (Fn. 49);August Otto Krug, Das Inter-nationalrecht der Deutschen.Uebersichtliche Zusammenstel-lung der zwischen verschiedenendeutschen Staaten getroffenenVereinbarungen über die Leistunggegenseitiger Rechtshülfe, mit An-merkungen und Erläuterungen,Leipzig 1851; John G. Hawley,The law and practice of interna-tional extradition between the

United States and those foreigncountries with which it has treatiesof extradition, Chicago 1893;Otto Granichstädten, Der in-ternationale Strafrechtsverkehr.Sammlung von Fällen, Erlässenund Entscheidungen über dasAuslieferungsverfahren, Wien1892. Eine detaillierte Analyse dergroßen Masse der Auslieferungs-verträge des 19. Jahrhundertssteht noch aus; der folgende

Überblick muss sich daher auchauf die ältere Literatur stützen,insbesondere Shearer, Extradi-tion (Fn. 9); Oehler, Strafrecht(Fn. 9); Maierhöfer, »Aut dede-re – aut iudicare« (Fn. 10).

71 Stein, Auslieferungsausnahme(Fn. 10) 7–10.

72 Fritz Eppinger, Übersicht überdie Entwicklung des Ausliefe-rungswesens in Württemberg,Stuttgart 1908.

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fern in einer gewissen Kontinuität zu vormodernen Praxis, erhieltaber nach 1789 durch die Zugehörigkeit zur Nation ein weitausstärkeres Gewicht: Galt doch die »Nichtauslieferung der eigenenUnterthanen als nationale Ehrensache«, und zwar gerade auch imHinblick auf politische Verbrechen, die diese gegen die Rechtsgüteranderer Staaten begangen hatten.73

Weitere zentrale Grundsätze der Auslieferungsverträge bilde-ten das Tatortprinzip – das Verbrechen musste in einem der beidenStaaten begangen worden sein – und die Reziprozität bzw. identi-sche Norm: Das jeweilige Verbrechen musste in beiden Staatengesetzlich als strafbar festgelegt und in etwa mit der gleichen Straf-androhung versehen sein. Die Auslieferung an einen Drittstaat warfolglich nicht vorgesehen, und die Verträge enthielten in der Regelkeine Bestrafungspflicht nach Auslieferung. Der umfassende ge-meinrechtliche Strafanspruch über Ausländer, die Auslandstraf-taten begangen hatten, wurde folglich vertraglich eingeschränkt,die bereits in der gemeinrechtlichen Praxis vorgeformten Rezipro-zitäts- und Lenitätsprinzipien jedoch letztlich beibehalten.

Auch Auslieferungs- und Asylverfahren folgten teilweise vor-modernen Mustern: Sie blieben weitgehend den Regierungen undihren Behörden überlassen, teils mit Beteiligung von Gerichten,aber auch mit starken Einflüssen der entstehenden politischenPolizeien, die insbesondere im Deutschen Bund den grenzüber-greifenden Austausch von Informationen und die Verfolgungvon politischen Verbrechern bzw. Dissidenten intensivierten.74

Im »Windschatten« von Auslieferung und Asyl lebte folglich dieprinzipiell grenzübergreifend konzipierte Sammlung und Distribu-tion polizeilichen Wissens fort, das auch im Fall der politischenVerbrecher bzw. Opposition ähnlich wie bei den Gauner- undDiebslisten kompiliert und im transnationalen Strafrechtsverkehrherangezogen wurde.75 Die skizzierten Prinzipien machten freilichein weitgehend formalisiertes schriftliches Verfahren notwendig:Ein Auslieferungsersuchen musste gestellt und im Hinblick auf dievertraglich vereinbarten Auslieferungsdelikte, das Tatortprinzip,die identische Norm, die Staatsangehörigkeit oder den politischenGehalt des Verbrechens überprüft werden. Die Verrechtlichung desVerfahrens – das weitgehend dem vormodernen Requisitionsver-fahren ähnelte – blieb freilich gering; gesetzliches Verfahrensrechtoder gar Verfahrensgarantien für die Betroffenen existierten kaum.Lediglich die Länder des anglo-amerikanischen Rechtsbereichs

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73 Franz von Holtzendorff, DieAuslieferung der Verbrecher unddas Asylrecht (Sammlung gemein-verständlicher wissenschaftlicherVorträge Ser. 16, H. 366/367),Berlin 1881, 19.

74 Vgl. Wolfram Siemann,»Deutschlands Ruhe, Sicherheitund Ordnung«. Die Anfänge derpolitischen Polizei 1806–1866,Tübingen 1985; Eberhard We-ber, Die Mainzer Zentralunter-

suchungskommission, Karlsruhe1970.

75 Vgl. nur Leopold FriedrichIlse, Geschichte der politischenUntersuchungen welche durch dieneben der Bundesversammlungerrichteten Commissionen, derCentral-Untersuchungs-Commis-sion zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt inden Jahren 1819 bis 1827 und1833 bis 1842 geführt sind,

Frankfurt am Main 1860, 38,118, 200 f., 272 f., 420, 535 f.,543 und Anhang II (Verzeichnisder politischen Flüchtlinge undVerdächtigen im Ausland); [Fried-rich Moritz von Wagemann],Darlegung der Haupt-Resultateaus den wegen der revolutionärenComplotte der neueren Zeit inDeutschland geführten Untersu-chungen auf den Zeitabschnitt mitEnde Juli 1838, Frankfurt a. M.[1839], 65 ff.

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verlangten, dass im ersuchenden Land Anklage erhoben und derVerdacht ausreichend bewiesen worden war. Im kontinentaleuro-päischen Rechtsbereich und vor allem in Mitteleuropa genügte oftein Haftbefehl oder eine einfache Fahndung. Die Entscheidungenüber Auslieferung oder Asyl trafen meist die Regierungen und ihreBehörden, wobei nicht nur rechtliche oder humanitäre, sondernauch politische oder fiskalische Gründe (die Kostenübernahmeblieb eine conditio sine qua non der Auslieferungsgenehmigung)zum Tragen kommen konnten; eine rechtliche Nachprüfung warnicht vorgesehen.

Eine Verrechtlichung von Auslieferung und Asyl durch natio-nales Gesetzesrecht bzw. in den Strafprozessordnungen erfolgte inder ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum: England proklamier-te 1815 lediglich, allen politisch Verfolgten Asyl gewähren zuwollen und lieferte seit 1823 keinen politischen Flüchtling aus.Die Schweizer Kantone, die an die vormoderne Praxis anknüpfendzahlreiche politische Flüchtlinge aufnahmen, konnten sich erst1848 auf einen gemeinsam Beschluss der Tagsatzung einigen, undauch die Niederlande verabschiedeten erst 1849 ein Gesetz, das denNichtauslieferungsvorbehalt bei politischen Delikten gesetzlichverankerte.76 Frankreich lieferte nach 1830 kaum mehr aus underließ aufgrund des hohen Zustroms von Flüchtlingen 1832 einerstes Asylgesetz (mit Regelungen zu Aufnahme- und Aufenthalts-bedingungen und zum Verfahren), das auf der Auslieferungs-ausnahme und damit der Privilegierung des politischen Deliktsberuhte. Gleichzeitig normierte auch Belgien 1832 in seiner erstenVerfassung das Asylrecht als Nichtauslieferung politischer Ver-brecher und erließ 1833 das erste umfassende nationale Ausliefe-rungs- und Asylgesetz.77

Die allmähliche Verrechtlichung von Auslieferung und Asylvollzog sich folglich im Wechselspiel mit den Auslieferungsab-kommen und der darin enthaltenen Auslieferungsausnahme beipolitischen Verbrechen. Die Motive der vertragschließenden wieasylgewährenden Staaten waren freilich nicht nur humanitär-ideologischer Natur, sondern Auslieferungsabkommen, Ausliefe-rungsausnahmen und Asylgewährung dienten der Festigung undweiteren Abgrenzung der nationalen Strafrechtsregime wie derDemonstration staatlicher Souveränität und bildeten eine Optionim Hinblick auf die Destabilisierung eines »Konkurrenzstaates«.Letzteres setzte freilich das politische Exil als grenzübergreifende

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76 Dallal Stevens, UK Asylum Lawand Policy. Historical and Con-temporary Perspectives, London2004, 17–32; Theler, Asyl(Fn. 48) 188–207; Luzius Len-herr, Ultimatum an die Schweiz.Der politische Druck Metternichsauf die Eidgenossenschaft infolgeihrer Asylpolitik in der Regenera-tion (1833–1836), Bern u. a.1991.

77 Überblick Reiter, Asyl (Fn. 11)28–34 und 56–69.

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Organisationsform des politischen Asyls voraus: Exilpresse, poli-tische Propaganda, Emissäre, Entfachung von Aufständen, Bil-dung von »Befreiungsarmeen« oder die Durchführung von Atten-taten seien hier als grenzübergreifende Aktionsformen genannt, dieAsylländer teilweise duldeten, die allerdings auch zwischenstaat-liche Konflikte provozieren und die innere Ordnung eines Asyllan-des gefährden konnten. Asyl und Exil wurden folglich als grenz-übergreifende Kriminalität von Staatsangehörigen im Auslandwahrgenommen und führten zu einer deutlichen Intensivierungtransnationaler strafrechtlicher und polizeilicher Interaktionenund beeinflussten so auch langfristig die Entwicklung des Aus-lieferungsrechts.

Die Staaten des Deutschen Bundes hatten sich bereits 1832/1836 auf die Auslieferungspflicht (auf Verlangen) für politischeVerbrecher innerhalb des Bundesgebietes und 1854 auf ein Aus-lieferungsverfahren für alle sonstigen Verbrechen geeinigt; zumin-dest bis 1871 wurde auch die gemeinrechtliche Nacheile auf dasGebiet benachbarter Bundesstaaten beibehalten. Unter dem Ein-druck der Revolution von 1832 vereinbarten Preußen und Öster-reich 1833 auch mit Russland die Auslieferung politischer Ver-brecher.78 Preußen gelang es darüber hinaus, 1852 mit denVereinigten Staaten einen Auslieferungsvertrag zu schließen, derdie Auslieferungsausnahme für politische Verbrecher entgegen derbisherigen Praxis der USA nicht explizit enthielt, aber die Aus-lieferung aller verurteilten Flüchtlinge vorsah.79 Den Hintergrunddes Vertrages bildete die große Welle der politischen Flüchtlingenach 1848/49, die viele Aktivisten über die Schweiz und Englandnach Nordamerika geführt hatte. Nach 1853 schlossen die Ver-einigten Staaten ähnliche Auslieferungsverträge mit anderen deut-schen Staaten; alle waren freilich zeitlich auf wenige Jahre begrenztund insgesamt hielten die Staaten des anglo-amerikanischenRechtsbereichs am politischen Asyl bzw. der Nichtauslieferungfest.80 Dagegen knüpften die Staaten des Deutschen Bundes andie vormoderne Praxis an, politische Verbrecher vom Asyl auszu-nehmen und bevorzugt auszuliefern.

Das Verfolgungsinteresse richtete sich insbesondere auf dieeigenen Staatsangehörigen (und weniger gegen Ausländer), denenim In- oder Ausland politische Verbrechen und/oder Straftatengegen den Staat zur Last gelegt wurden. Die Verfolgung undUnterdrückung der politischen Opposition motivierte die deut-

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78 Melitta Grimm, Das Ausliefe-rungswesen im Recht des Deut-schen Bundes, in: Zeitschrift fürdie gesamte Strafrechtswissen-schaft 48 (1928) 448–466.

79 Der Vertrag vom 16.6.1852 ge-druckt in Hawley, law (Fn. 70)213–215; vgl. dazu ebd., 216 ff.;Shearer, Extradition (Fn. 9) 15 f.

80 Umfassend zu den deutschen po-litischen Flüchtlingen und der

Asylpolitik Reiter, Asyl (Fn. 11)258 ff.

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schen Staaten, an dem umfassenden, weit über das »Territoria-litätsprinzip« hinausgehenden gemeinrechtlichen Strafanspruchfestzuhalten. Vom Österreichischen Strafgesetzbuch des Jahres1803 an – das einen (letztlich gemeinrechtlichen) Strafanspruchsogar für alle Auslandsstraftaten von Ausländern postulierte81 –folgten die Strafgesetze und Kodifikationen bis etwa zur Mitte des19. Jahrhunderts dem Prinzip, dass Staatsangehörige auch für imAusland begangene und Ausländer für Straftaten (im In- oder Aus-land) bestraft werden konnten, die sich gegen die eigene Rechts-ordnung bzw. den eigenen Staat richteten.82

Die Fortführung und Modifikation gemeinrechtlicher Prakti-ken im Hinblick auf politische Verbrechen, grenzübergreifendeKriminalität und die Bestimmung des (national-)staatlichen Straf-anspruchs evozierten allerdings auf der transnationalen EbeneRegime-Kollisionen wie weitere Verrechtlichungsprozesse. Die nor-mative Unbestimmtheit des politischen Verbrechens im interna-tionalen Kontext83 wie die wachsende Bedeutung politischer undgrenzübergreifender Kriminalität, die auch als Bedrohung dernationalstaatlichen Sicherheit eingeschätzt wurde, stimulierten ins-gesamt die weitere Zunahme von Auslieferungsabkommen in derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deren Modifikation.Allmählich setzte sich in Europa die Auffassung durch, nur Perso-nen als politische Flüchtlinge einzustufen, die direkter Verfolgungausgesetzt waren und keine zusätzlichen »gewöhnlichen« Verbre-chen (insbesondere Tötungsdelikte) begangen hatten. Die Nicht-auslieferung politischer Verbrecher und damit das politische Asylerfuhren insbesondere durch die »Attentatsklausel«, die Belgienam 22. März 1856 nach dem Attentat auf Napoleon III. einführte,und die »Anarchistenklausel« von 1892, die das Institut de droitinternational konzipierte, wichtige Einschränkungen. Die meistenAuslieferungsverträge übernahmen diese Klauseln: Politische At-tentäter sowie »Mörder«, Anarchisten, radikale Mitglieder derArbeiterbewegung und »Terroristen« sollten kein Asyl erhaltenund ausgeliefert werden, da von ihnen eine Gefahr für die innereSicherheit ausging, die zunehmend als transnationales Schutzgutwahrgenommen oder konzipiert wurde.84

Die Entwicklungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf dienationalen Rechtssysteme, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts weitere Asyl-/Auslieferungsgesetze erließen (Belgien1874, Niederlande 1875, Großbritannien 1870/73 und 1895,

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81 Gesetzbuch über Verbrechen undschwere Polizey-Uibertretungen,Bd. 1, Grätz 1804, Art. 30–34.

82 Vgl. für den bislang noch weniguntersuchten Zusammenhangzwischen nationaler Strafgesetzge-bung und transnationalem Straf-recht die knappen Ausführungenbei Oehler, Strafrecht (Fn. 9)121–123.

83 Vgl. dazu nur Ingraham, Politicalcrime (Fn. 25); Stein, Ausliefe-rungsausnahme (Fn. 10).

84 Wolfgang Mettgenberg, DieAttentatsklausel im deutschenAuslieferungsrecht, Tübingen1906.

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Schweiz 1892), in die sie häufig Einschränkungen wie die Atten-tats- oder die Anarchistenklausel übernahmen. Kennzeichnend warallerdings auch, dass zahlreiche Gesetze (wie z. B. das Schweizer)85

gegenüber den internationalen Verträgen nur subsidiären Charak-ter besaßen oder wie im Deutschen Reich ganz fehlten: Die trans-nationalen Vertragsnormen besaßen damit teilweise Vorrang vordem nationalen Gesetzesrecht; auch in dieser Hinsicht zeigen sichKontinuitäten zu den vormodernen transterritorialen Strafrechts-regimen.

Die allmähliche Ausdehnung des Strafanspruchs auf Straftatenim Ausland, die In- oder auch Ausländer begangen hatten und diejuristisch unter dem Personalitätsprinzip oder dem Real- oderSchutzprinzip gefasst wurden, setzte sich freilich in Frankreich,Italien, England und auch im Deutschen Reich nur bedingt gegendas Prinzip der Territorialität und die nationalstaatliche Autono-mie des Strafrechts durch und blieb im Wesentlichen auf politischeund Staatsverbrechen begrenzt. Staatsangehörige konnten nunauch für Delikte im Ausland ausgeliefert und/oder bestraft werden,die sich entweder dort gegen den eigenen Staat oder Staatsange-hörige gerichtet hatten oder gravierend gegen die »internationaleSicherheit« verstießen.

Eine Bestrafungspflicht nach einer Auslieferung oder gar einekompensatorische Strafverfolgungspflicht, die in Auslieferungsver-trägen Italiens, der Schweiz, Belgiens und Norwegens als Möglich-keit aufgenommen worden war, konnte sich ebenfalls nur bedingtdurchsetzen. Die Staaten des common law lehnten Bestrafungs-pflicht und Pflicht zur kompensatorischen Strafverfolgung imtransnationalen Strafrechtsverkehr ab, und das Territorialitäts-prinzip blieb für die Auslieferungsabkommen wie für die Praxisprägend. In Kontinentaleuropa sahen nur einige Staaten wie dasDeutsche Reich mit dem Strafgesetzbuch von 1871 vor, Ausländerfür Auslandstraftaten zu strafen, falls sich diese auch gegen deneigenen Staat gerichtet hatten. Die meisten Staaten folgten demBeispiel Frankreichs, das lediglich Auslandstraftaten eigenerStaatsangehöriger verfolgte, die sich gegen die eigene Rechtsord-nung gerichtet hatten.86 In dieser Hinsicht kollidierte folglichdie Ausdehnung des internationalen Strafrechtsregimes mit demnationalen – territorialen wie personalen – Strafrechtsanspruch:Eigene Staatsangehörige, die im Ausland politische Straftaten be-gangen hatten und dort festgenommen worden waren, sollten nicht

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85 Philippe Bardet, Das formelleAuslieferungsrecht der Schweiz.Nach Massgabe des Bundesgeset-zes betr. die Auslieferung gegen-über dem Auslande von 1892 undder geltenden Staatsverträge,Zürich 1934.

86 Vgl. Maierhöfer, »Aut dedere –aut iudicare« (Fn. 10) 101–106.

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stellvertretend bestraft, sondern ausgeliefert werden: »a majorityof nations in the world community have come to look uponextradition as the major effective instrument of international co-operation in the suppression of crime«, resümiert Shearer, aller-dings ohne näher die zentrale Rolle des Rechtfertigungsnarrativsdes »politischen/grenzübergreifenden« Verbrechens und die darausresultierenden Regime-Kollisionen zu thematisieren.87

In der um Asyl und Auslieferung kreisenden zeitgenössischenjuristischen Diskussion, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts zu einem internationalen Expertendiskurs erweiterte,führten die skizzierten Entwicklungen und die damit einhergehen-den konkurrierenden Strafansprüche und Regime-Kollisionen zuausgedehnten Systematisierungsversuchen und einer Verdichtungzu zentralen Prinzipien des internationalen Strafrechts: Territoria-litätsprinzip, passives und aktives Personalitätsprinzip, Schutz-oder Realprinzip, Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflegeund Prinzip der Weltrechtsordnung wurden definiert, verglichen,gewogen und konkretisiert. Die Versuche, diese Prinzipien zuharmonisieren und daraus eine möglichst widerspruchsfreie nor-mative Ordnung eines internationalen Strafrechtsregimes zu des-tillieren, scheiterten jedoch letztlich an den kaum auflösbarenkonkurrierenden Strafansprüchen und den Regime-Kollisionenzwischen nationalen und internationalen Strafrechtsregimen, Aus-lieferung und Asyl und den auf politische/grenzübergreifende Kri-minalität abstellenden, rechtlich unbestimmten Rechtfertigungs-narrativen.88

4. Schlussbemerkungen

Die normative Ordnung transnationaler Strafrechtsregimeblieb im 19. Jahrhundert fragmentarisch und durch Regime-Kolli-sionen gekennzeichnet. Dies war auch ein Ergebnis des durchBrüche wie Kontinuitäten geprägten Übergangs vom gemeinenRecht zum nationalstaatlichen Strafrecht, der sich in der inter-dependenten Wechselwirkung von Asyl und Auslieferung vollzog.Bereits im 18. Jahrhundert erwiesen sich Asyl und Auslieferung alswichtige Momente der Territorialisierung und Abgrenzung vonStrafrechtssystemen, die allerdings nicht nur auf ein staatlichesJustiz- und Gewaltmonopol abstellten, sondern darüber hinaus-

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87 Shearer, Extradition (Fn. 9) 21.88 Vgl. als gelungene Analyse des

exemplarischen Entwurfs vonFerdinand Martitz zur internatio-nalen Rechtshilfe: Moock, Prob-leme (Fn. 10). Als Beispiele für diezeitgenössischen Anstrengungen,das Problem politische Kriminali-tät und Auslieferung zu erfassen:Louis Renault, Des crimes poli-tiques en matière d’extradition,Paris 1880; Charles Soldan,

L’Extradition des criminels politi-ques, Paris 1882; Julius Wolf,Die Bedeutung und der Begriff despolitischen Delikts im Völker-recht, Marburg (Lahn), Univ.Diss., 1907; sowie zusammenfas-send Stein, Auslieferungsausnah-me (Fn. 10) 49–85.

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weisende Strafansprüche auf der Basis des gemeinen Rechts auf-recht erhielten. Ein wesentliches Motiv oder Rechtfertigungsnarra-tiv bildete hierbei die grenzübergreifende, die innere Sicherheit be-drohende Kriminalität mobiler Banden und die politischen bzw.Verbrechen gegen den Staat. Sie evozierten und begründeten dieallmähliche Abschaffung der inneren Asyle wie die Intensivierungund partielle Verrechtlichung transterritorialer strafrechtlicher In-teraktionen, die sich in Form des polizeilichen Informationsaus-tauschs (im Rahmen des Requisitionswesens) und des Aushandelnsvon Auslieferungsverträgen vollzogen. Das (gemeine) Recht tratdabei hinter die administrativ-politischen Interessen zurück, undder Übergang zu nationalstaatlichen Strafrechtsordnungen ver-stärkte noch die Tendenz geringer rechtsförmiger bzw. gerichtlicherKontrolle zugunsten grenzübergreifender polizeilicher Aktivitätenund transterritorialer, meist bilateraler vertraglicher Vereinbarun-gen, die sogar Vorrang vor den betreffenden Normen des natio-nalen Gesetzesrechts besitzen konnten: Das soft law des Ausliefe-rungsvertrags ging den nationalen Asyl- und Auslieferungsgesetzenvor oder präjudizierte diese. Die entstehenden transnationalenStrafrechtsregime des 19. Jahrhunderts können folglich kaum ein-seitig unter dem Paradigma der Verrechtlichung oder Modernisie-rung beschrieben werden.

Auch die Etablierung des zwischenstaatlichen politischen Asylsvollzog sich seit der Französischen Revolution weniger auf derBasis von Verfassungs- oder gar Menschenrechten, sondern viel-mehr im Kontext der Abgrenzung nationalstaatlicher Rechtssys-teme, die im Innern alle Asylformen beseitigten und im trans-territorialen Strafrechtsverkehr auf der Auslieferungsausnahmebei politischen Delikten beharrten. Wie die Nichtauslieferung dereigenen Staatsbürger/Nationalen diente auch diese Auslieferungs-ausnahme der Demonstration und Abgrenzung souveräner natio-nalstaatlicher Strafrechtssysteme und eröffnete zudem machtpoli-tische Optionen: In dieser Beziehung knüpfte das zwischenstaat-liche politische Asyl als ein wesentliches Element transnationalerStrafrechtssysteme folglich ebenfalls an das umfassendere vormo-derne »Verbrecherasyl« an.

Die damit einhergehenden konkurrierenden Strafansprüche,Sicherheitsinteressen und Regime-Kollisionen verstärkten sich al-lerdings im 19. Jahrhundert unter der Herausforderung zuneh-mender und grenzübergreifend agierender politischer Opposition.

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Die Staaten des Deutschen Bundes versuchten daher, die Asyl-gewährung durch entsprechende internationale Auslieferungsver-träge (ohne Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten) zubegrenzen und statuierten untereinander eine Auslieferungsver-pflichtung bei politischen Verbrechen; sie näherten sich folglichin dieser Hinsicht wieder der vormodernen Praxis an. Auf derinternationalen Ebene konnten sich zwar weder Auslieferungs-,noch Strafverfolgungs- oder kompensatorische Strafverfolgungs-pflicht gegen die nationalen Strafrechtsregime durchsetzen. DerVorrang des Staatschutzes und die als Bedrohung der eigenenSicherheit wahrgenommene grenzübergreifende politische Krimi-nalität führten aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertszur Einschränkung des politischen Asyls bzw. zur Ausweitungder Auslieferung und zur Ausdehnung entsprechender transterri-torialer Aktivitäten, die sich beispielsweise in der Intensivierungvon Polizeikooperationen und Informationsaustausch oder in derDurchführung internationaler Expertenkongresse manifestierten.

Dabei gewannen die Rechtfertigungsnarrative der grenzüber-greifenden politischen Kriminalität in Form von »Anarchisten«oder gar »Terroristen« ebenso an Bedeutung wie das »internatio-nale Gaunertum« im Kontext der grenzübergreifenden Intensivie-rung von Mobilität, Migration und Wirtschaftsverkehr. Auf derinternationalen Ebene blieben politische wie internationale Krimi-nalität zwar rechtlich unbestimmt, dennoch beeinflussten sie dieEntwicklung von Auslieferung und Asyl wie insgesamt die norma-tive Ordnung der transterritorialen Strafrechtsregime. In dieserHinsicht stehen sie in einer strukturellen Kontinuität zu den vor-modernen Rechtfertigungsnarrativen der ebenfalls als grenzüber-greifende Bedrohung der Herrschaftsordnung wahrgenommenen(oder konstruierten) politischen Verbrecher und herrenlosen,grenzübergreifend agierenden Gauner- und Diebsbanden.

Die Konstruktion und Wahrnehmung grenzübergreifenderund den Staat gefährdender, rechtlich aber unbestimmter Krimi-nalität erweist sich folglich als ein wesentliches und kontinuier-liches Element in der Entwicklung transterritorialer Strafrechts-regime seit dem 18. Jahrhundert. Es kollidierte allerdings mit denjeweils nationalen Strafrechtssystemen, die ihre Strafansprücheund Staatsschutzinteressen weder einem internationalen Strafrechtmit näher definierten internationalen Rechtsgütern (bzw. Deliktenund Schutzinteressen) noch einem internationalen Kriminalgericht

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überlassen wollten. Beides entwickelte der internationale juristi-sche Expertendiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertszwar in Ansätzen und im Hinblick auf die Etablierung einerglobalen rechtlichen Ordnung transterritorialer Strafrechtsregime.Diese blieben jedoch fragmentarisch und gering verrechtlicht unddie grenzübergreifenden strafrechtlichen Interaktionen bewegtensich in den Bahnen des ausgehandelten Vertragrechts und admi-nistrativ-polizeilicher Praktiken.

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