Recki - Bild Und Reflexion

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Copyright Das Copyright für alle Webdokumente, insbesondere für Bil- der, liegt bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Folge- verwertung von Webdokumenten ist nur mit Zustimmung der Bayerischen Staatsbibliothek bzw. des Autors möglich. Exter- ne Links auf die Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Eine unautorisierte Übernahme ganzer Seiten oder ganzer Beiträge oder Beitragsteile ist dagegen nicht zulässig. Für nicht-kom- merzielle Ausbildungszwecke können einzelne Materialien ko- piert werden, solange eindeutig die Urheberschaft der Autoren bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek kenntlich gemacht wird. Eine Verwertung von urheberrechtlich geschützten Beiträgen und Abbildungen der auf den Servern der Bayerischen Staats- bibliothek befindlichen Daten, insbesondere durch Vervielfälti- gung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustim- mung der Bayerischen Staatsbibliothek unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urheberrechtsgesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist eine Einspeicherung oder Verarbeitung in Da- tensystemen ohne Zustimmung der Bayerischen Staatsbiblio- thek unzulässig. The Bayerische Staatsbibliothek (BSB) owns the copyright for all web documents, in particular for all images. Any further use of the web documents is subject to the approval of the Baye- rische Staatsbibliothek and/or the author. External links to the offer of the BSB are expressly welcome. However, it is illegal to copy whole pages or complete articles or parts of articles without prior authorisation. Some individual materials may be copied for non-commercial educational purposes, provided that the authorship of the author(s) or of the Bayerische Staatsbibli- othek is indicated unambiguously. Unless provided otherwise by the copyright law, it is illegal and may be prosecuted as a punishable offence to use copyrighted articles and representations of the data stored on the servers of the Bayerische Staatsbibliothek, in particular by copying or disseminating them, without the prior written approval of the Bayerische Staatsbibliothek. It is in particular illegal to store or process any data in data systems without the approval of the Bayerische Staatsbibliothek.

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Copyright

Das Copyright für alle Webdokumente, insbesondere für Bil-der, liegt bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Folge-verwertung von Webdokumenten ist nur mit Zustimmung der Bayerischen Staatsbibliothek bzw. des Autors möglich. Exter-ne Links auf die Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Eine unautorisierte Übernahme ganzer Seiten oder ganzer Beiträge oder Beitragsteile ist dagegen nicht zulässig. Für nicht-kom-merzielle Ausbildungszwecke können einzelne Materialien ko-piert werden, solange eindeutig die Urheberschaft der Autoren bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek kenntlich gemacht wird.

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Bild und Reflexion Paradigmen und Perspektiven

gegenwärtiger Ästhetik

Herausgegeben von

Birgit Recki und Lambert Wiesing

Wilhelm Fink Verlag

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln

Copyright-Nachweis Rehberg, Silke: Match der Giganten, 1991,

© VG Bild-Kunst, Bonn 1997 Matisse, Henri: La desserte,

© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 1997 Matisse, Henri: Harmonie rouge,

© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 1997 Matisse, Henri: Interieur, fleurs etperruches,

© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 1997 Matisse, Henri: Interieur au rideau egyptien,

© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 1997

Di e Deutsche Bibl iothek - CIP-Einheitsaufnahme

Bild und Reflexion : Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhet ik / hrsg. von Birgit Recki und Lambert Wiesing. - München : Fink, 1997

ISBN 3-7705-3156-6

All e Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Verviel-fältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder

durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG

ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3156-6 © 1997 Wilhelm Fink Verlag, München Satz: Jönsson Satz & Grafik, München

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

( Bayerische ) Staatsbibliothek

l München J

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Inhalt

Bild und Reflexion Einleitung der Herausgeber 7

I . ZUR GRUNDLEGUNG DER PHILOSOPHISCHEN ÄSTHETIK

Martin Seel Ästhetik und Aisthetik

Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung 17

Wolfgang Welsch Erweiterungen der Ästhetik

Eine Replik 39

Claus-Artur Scheier Das undingliche Ding

Zum geschichtlichen Ort von Adornos Ästhetischer Theorie 68

Karl-Heinz Schwabe Das Ich als Konstitutionsbedingung des ästhetischen

Gegenstandes 81

Karlheinz Barck Ästhetische Utopie oder Heterotopien des Ästhetischen? 112

Hermann Danuser Historismus in der Postmoderne

Zur gegenwärtigen Lage der Musikästhetik 128

2. ZUR PHILOSOPHISCHEN FUNKTION DES BILDES

Ferdinand Fellmann Wovon sprechen die Bilder?

Aspekte der Bild-Semantik 147

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6 INHAL T

Hans Ulrich Gumbrecht Wahrnehmung versus Erfahrung oder

Die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz 160

Ernst Wolfgang Orth Lektüre und geistiger Bildraum 180

Heinz Paetzold Kunst und Reflexion 193

3. DIE REFLEXIVITAT DES KÜNSTLERISCHEN BILDES

Lorenz Dittmann Bild und Reflexion im >Konstruktivismus< 215

Robert Kudielka Die Lust der Reflexion und das Fest der Malerei

Über das Verhältnis von Kants Ästhetik zur Bildkunst von Matisse 241

Jens Kulenkampff Spieglein, Spicglein an der Wand ... 270

Gottfried Boehm Die Lehre des Bilderverbotes 294

Hans Ulrich Reck Referenzsysteme von Bildern und Bildtheorie 307

Die Autoren 349

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Bild und Reflexion

Einleitung der Herausgeber

D ie vorliegende Textsammlung ist der Versuch, einen Einblick in die gegenwärtige Diskussion zu Problemen der Ästhetik zu

geben. Das Thema »Bild und Reflexion« ermöglicht eine Verständi-gung über die verschiedenen Perspektiven im Bereich der Ästhetik und erlaubt zugleich, ihre Fragestellungen paradigmatisch vorzu-stellen. Dabei kann der Titel nicht nur, er soll in zweifacher Weise als Aufforderung verstanden werden. Er verlangt zunächst, das Verhält-nis von Objekt und Theorie, von ästhetischen Phänomenen und ästhetischem Diskurs in einer philosophischen Selbstverständigung zu beschreiben. Seit Piatons radikaler Verurteilung des künstleri-schen Bildes ist das Verhältnis der Philosophie zum Bild selbst wiederum ein Thema philosophischer Reflexion - und zwar heute zumeist im Zuge einer optimistischen Umwertung: An die Stelle der Verurteilung des Bildes tritt immer häufiger der Vorschlag, das Bild philosophisch ernstzunehmen - ja, ihm selbst philosophische Funk-tionen zuzutrauen.

In diesem Sinne formuliert die Themenstellung in letzter Instanz eine Einheit. Sie weist darauf hin, daß Bild und Reflexion zusammen-gehören, daß das Bild eine der möglichen Vollzugsformen geistiger Tätigkeit ist. Neben der theoretischen Selbstverständigung über die Grundlagen der Ästhetik ergibt sich hieraus als weitere Dimension eine eher kunstwissenschaftliche Aufgabenstellung. Wenn nicht nur eine Reflexion über Bilder als sinnvolle Aufgabe angesehen, sondern schon im Bild eine Reflexion behauptet wird, dann darf man erwar-ten, daß diese auch im einzelnen Bild ermittelt werden kann: Die These von der Reflexion im Bild gilt es durch exemplarische Unter-suchungen zu veranschaulichen.

Das Ziel von »Bild und Reflexion« ist durch dieses Spektrum beschrieben: Die Philosophie und die Kunstwissenschaft sollen in ein komplementäres Verhältnis gestellt werden, um dem Phänomen der Bilder näher zu kommen. Unabhängig davon, ob es als Abbild im Sinne einer materiell lokalisierbaren visuellen Darstellung oder als Vorstellung im Bewußtsein gefaßt ist, im Bild finden sich stets Reflexionsvorgänge. Mi t dem Thema ist daher keine Einschränkung

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s EINLEITUN G DER HERAUSGEBER

auf die künstlerische Darstellung oder gar das Gemälde beabsichtigt. Auch im metaphorischen Sprechen jeder poetischen oder expressi-ven Rede, bei der Funktion von Anschauung und Anschaulichkeit in alltäglichen Lebensverhältnissen, wissenschaftlicher Erkenntnis und gewiß in den technisch vermittelten Informationsprozessen ist man im Element des Bildes. Ausdrücke wie Menschenbild, Weltbild, Selbstbild und ähnliche Bildungen können bewußt machen, daß jede Konkretisierung eines Gedankens, jede Stilisierung einer Lebens-form und jede formale Gestaltung des individuellen Lebens mit Momenten der Bildlichkeit umgeht.

Die Beiträge dieses Bandes nähern sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden der Vielfalt die-ser Phänomene, die in einem noch genauer zu fassenden Bildbegriff gemeint sind. Martin Seel und Wolfgang Welsch eröffnen die Aus-einandersetzung durch eine Debatte um eine angemessene begriffli-che Grundlegung, mit der zugleich die Bestimmung der Aufgaben von Ästhetik als Wissenschaft umrissen wäre: Ist das Ästhetische, wie Welsch geltend macht, als aisthesis grundlegend als die sinnliche Wahrnehmung charakterisiert, die sich in Verknüpfungen und Über-gängen zu allen möglichen Formen von Reflexion ausdifferenziert? Oder ist es - als vollzugsorientierte und selbstbczügliche Wahrneh-mung - in allen seinen Formen von vornherein durch eine von der schlechthin sinnlichen Wahrnehmung spezifisch verschiedene Refle-xionsform bestimmt, wie Seel gegen diesen ursprünglichen Rekurs auf die Sinnlichkeit geltend macht? Was hängt an dieser Frage? Folgt man Welsch, so geht es — nach der jahrhundertelangen Geschichte ihrer Vernachlässigung und Unterdrückung - vor allem um die Rehabilitierung der Sinnlichkeit. Und eine Ästhetik, die das ganze Feld der Verknüpfungen unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi be-rücksichtigt, wäre die zeitgemäße Fundamentaldisziplin, der diese längst fällige Umwertung zugetraut werden dürfte. Seel zufolge hängt dagegen an einem Reflexionsbegriff des Ästhetischen nicht allein der differenzierte Umgang mit der Kunst, sondern mit dem Bewußtsein der Differenz zwischen erkenntnistheoretischen und ästhetischen Bestimmungen auch der Einsatz einer Ästhetik, die ihre Aufgaben nur in angemessener Abgrenzung zu den anderen Gebie-ten wissenschaftlichen Nachdenkens erfüllen kann. Es ist zu wün-schen, daß die damit begonnene Kontroverse, die ins einzelne und ins Grundsätzliche der theoretischen Ansätze beider Autoren führt, fortgesetzt und theoretisch fruchtbar gemacht wird. Einig sind sich die Streitenden - dies wird leicht übersehen - darin, daß das ästheti-

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BILD UND REFLEXION 9

sehe Erleben nicht exklusiv auf die Kunst beschränkt ist, sondern auch an den nur scheinbar unscheinbaren Gegenständen der zeitge-nössischen Lcbenswclt und der Natur seine Anlässe findet, die eine philosophische Problembestimmung ernstzunehmen hat.

Es ist diese grundsätzliche Entscheidung für einen Begriff des Ästhetischen, der in der Kunst nicht aufgeht, sondern in ihr nur die prägnanteste Gestalt der Erfüllung findet, worin die Autoren dieses Bandes übereinkommen. Dem ersten Teil der Beiträge, die sich - in mehr oder weniger ausdrücklicher Aufnahme der von Seel und Welsch exponierten Fragestellung - als Problematisierung des Äs-thetischen in seinem Kontext und zugleich als systematische Besin-nungen auf die jüngere Tradition ästhetischer Theorien verstehen (Scheier, Schwabe, Barck, Danuser), sind eine Reihe von systemati-schen und programmatischen Überlegungen zu Begriff, Leistung und Problematik ästhetischer Bilder als Vollzugsformen von philo-sophischen Funktionen an die Seite gestellt (Fcllmann, Gumbrecht, Or th, Paetzold). Kunsttheoretische Konkretisierung erfährt der Be-griff vom ästhetischen Bild - und von der ästhetischen Erfahrung -schließlich in einigen paradigmatischen Überlegungen, an denen erkennbar wird, was philosophisch und kunstwissenschaftlich aus der Reflexion in Bildern zu lernen ist (Dittmann, Kudielka, Kulen-kampff, Boehm, Reck).

Claus-Artur Scheier behandelt mit dem geschichtlichen Ort zu-gleich den hermeneutischen Kern von Adornos Ästhetik und unter-läuft dabei die »Kommunikationsverweigerung« zwischen Adorno und Heidegger. Im Widerspiel von Nähe und Ferne der antipodi-schen Positionen stellt sich Scheier an der Dialektik von sprachli-chem und dinglichem Charakter dem ontologischen Problem des Kunstwerks - und damit einer Herausforderung, der sich jede phi-losophische Besinnung auf die Kunst ausgesetzt sieht. Mi t dem ontologischen Problem von Kunst und anderen ästhetischen Gegen-ständen befaßt sich - im eingehenden Rekurs auf transzendentale und phänomenologische Theorien des subjektiven Bewußtseins -auch Karl-Heinz Schwabe. Für ihn sind die Bilder, deren ästheti-schen Sinn das erlebende Subjekt in seiner leib-sinnlichen und gei-stigen Vielschichtigkeit konstituiert, in der Entfaltung ihres Eigen-lebens selbst Instanzen von Subjektivität. Von hier aus kann Schwabe die ungebrochene Macht, die den Bildern selbst unter dem Primat der abstrakten Reflexion zukommt, aus deren gleichsam anstecken-der Wirkung erklären: Sie befreien das Subjekt zum sinnlichen Le-

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ben, indem sie ihm in der ästhetischen Reflexion eine andere Stellung zum Gegenstand und ein anderes Selbstbewußtsein, eine reichere Identität, ermöglichen als im verfügenden Urteil der Erkenntnis zu haben ist. Die praktische Dimension ästhetischen Verhaltens, die bei Schwabe damit nur indirekt angesprochen ist, bringt Karlheinz Barck zur Geltung. Er problematisiert die Verschwisterung von Ethik und Ästhetik in denjenigen Utopien des Ästhetischen, die im Anschluß an die Tradition der Aufklärung, etwa bei Schiller, mit universalistischen Projekten der Emanzipation einhergingen. Gera-de im Blick auf die sozialistischen Varianten solcher Programme in der jüngsten Geschichte gilt es für ihn, die Verbindung von Ethik und Ästhetik im Hinblick auf die Heterotopien des Ästhetischen im Rahmen eines radikalen Pluralismus neu zu durchdenken: Im Hor i-zont der Vielfalt ästhetischer Artikulationsformen steht damit eine Ethik der individuellen Selbstvcrwirklichung. Hermann Danuser schließlich stellt sich dem Problem der Bildlichkeit in der musikali-schen Moderne: Er gibt im Anschluß an Carl Dahlhaus eine Skizze der postmodernen Musikästhetik und charakterisiert sie im Blick auf ihre Ausprägungen im musikästhetischen Diskurs, in der Komposi-tionsästhetik und in der Hörästhet ik durch Pluralisierung und Gleichrangigkeit ihrer Urteilsaspekte.

Behandelt die erste Gruppe von Beiträgen den allgemeinen Begriff des Ästhetischen, so ist mit den folgenden ein Schritt in die Kon-kretisierung getan: Sie betreiben Ästhetik in der Auseinanderset-zung um die Möglichkeiten und Grenzen des Bildbewußtseins. Ferdinand Fellmann untersucht in einer phänomenologisch ange-leiteten Reflexion das semantische Feld der Bilder - aller Bilder: Auch seine Überlegungen sind nicht von vornherein auf eine Theorie der Kunst ausgerichtet, sondern auf den grundlegenden Status des Bildbewußtseins im Rahmen einer phänomenologischen Anth ro-pologie, die bewußtseinstheoretische und ontologische Bestim-mungsmomente zu einer realistischen Auffassung der Wirklichkeit integriert. Bilder, denen Fellmann den epistemischen Vorrang gegen-über konzeptuellen Leistungen gibt, haben ihren ästhetischen Cha-rakter darin, daß sie die Zuständlichkeit von Sinn inszenieren und damit zugänglich machen. Sie sprechen so die Zuständlichkeit des menschlichen Bewußtseins an. Für eine zeitgemäße Theorie der Kunst ergäbe sich aus der angemessenen Beachtung der Dynamik unserer Zustände die Konsequenz einer stärkeren Orient ierung an der computergesteuerten Animation bewegter Bilder. Es ist die tra-gende Intention dieses Programms, an die - bei allen methodischen

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BIL D UND REFLEXION I 1

Unterschieden - Hans Ulrich Gumbrecht anknüpft: Auch ihm stellt sich das Verhältnis von Bil d und begrifflicher Reflexion als ein Problem nicht nur des Umgangs mit der Kunst, sondern des zeitge-nössischen Bewußtseins überhaupt - und auch für ihn stehen die bewegten Bilder im Vordergrund. In seiner historischen Argumen-tation verbindet er mit dem Hinweis auf ihren inkompatiblen Eigen-sinn die grundsätzliche Kriti k an einem hermeneutischen Opt imis-mus, der nach seiner Auffassung obsolet ist, da er vom epistemolo-gischen Paradigma jener Trennungen von Subjekt und Objekt, von Leib und Seele, von Oberfläche und Tiefe der Bedeutung ausgeht, das durch die Reflexion auf den Körper als Bedingung der Welter-fahrung seit dem 19. Jahrhundert zunehmend in die Krise geraten ist. Di e damit angezeigte Dominanz des vorbegrifflichen Bewußtseins macht nach Gumbrecht auch die Diagnose erforderlich, daß unsere Situation durch eine Bifurkation und ein Oszil l ieren zwischen be-griffsgeleiteter Erfahrung und sinnlicher Wahrnehmung geprägt sei, die von keiner Interpretation als einer sinnvollen Deutung sinnlicher Phänomene aufgehoben werden kann. Ernst Wolfgang Orth insi-stiert dagegen im Anschluß an Husscrl und Cassircr gerade auf der Unhintergehbarkeit von Bedeutung. Alles Wahrgenommene er-scheint uns als solches immer schon als bedeutsam, und seine Be-deutsamkeit vollzieht sich in Bildern. Insbesondere die Lektüre als wahrnehmungsanaloger Informationsprozeß ist es, die nach Or th einen geistigen Raum eröffnet, in dem die Bilder als Formationen von Bedeutung fungieren. In einem nicht auf die Ästhetik und die Theorie der Kunst beschränkten Rahmen, nämlich als kul turanthro-pologisches Problem, stellt sich so die grundlegende Frage nach der Medialität der Orientierung. Für Heinz Paetzold hegt die Antwort auf dieses Problem im Hinweis auf die Sinnerfüllung des Sinnlichen, wie sie im Begriff des Symbols gemeint ist. Demnach wäre die philosophische Ästhetik mit Cassirers kulturtheoretischer Or tsbe-stimmung und Goodmans scmiotischer Funktionsanalyse im we-sentlichen als eine Symbolthcorie der Kunst auszudifferenzieren. Eine solche Kunsttheorie wil l Paetzold an die Künstlerästhetik der Moderne zurückbinden, um dem Reflexivwerden der Kunst, ihrer reflexiven Selbstverortung in der Kunstgeschichte angemessen Rechnung zu tragen. Auf diese Weise wäre auch das in der Kunst aufgehobene konzeptionelle Wissen als eine Grundlage ihres Verste-hens sicherzustellen - eine Erwartung, die in den paradigmatischen Überlegungen der folgenden Beiträge eine eindrucksvolle Bestäti-gung findet.

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Der Kunsthistoriker Lorenz Dit tmann wendet sich zwei klassi-schen Positionen der künstlerischen Avantgarde im 20. Jahrhundert zu, in denen der Ort des Menschen in einer technischen Zivilisation zum Thema wird: Im gleichwertigen Bezug auf die bildnerische Arbeit von Malewitsch und Mondrian und auf die mit ihr einherge-hende Künstlerästhetik ist exemplarisch zu zeigen, in welchem Maße in der abstrakten Kunst die theoretische Reflexion für den Aufbau der Bilder konstitutiv ist. Robert Kudielka wendet sich diesem Problem in der gegenständlichen Kunst der klassischen Moderne zu. Er sucht in der autonomen Kunst des Malers Henri Matisse die beispielhafte Erfüllung jenes Begriffs von der ästhetischen Reflexion auf, den Kant in der Kritik der Urteilskraft in der Absicht entwickelt hat, dem linearen Erkenntnisinteresse des theoretischen Verstandes das Komplement einer eigentümlichen Genuß- und Gefühlsrationa-lität zur Seite zu stellen, die zum Selbstverständnis eines sinnlich-vernünftigen Wesens dazugehört. In den vielfältigen Korresponden-zen zweier - künstlerisch und philosophisch - fortgeschrittener Posit ionen der Moderne wird in diesem Beitrag an der ästhetischen Reflexion der anregende und kritische Impetus zur Wahrnehmung von Vieldeutigkeit wie zur Selbstbesinnung in Erinnerung gerufen, durch den sie sich von der Voreiligkeit jedes zweckrationalen Inter-esses abhebt und eben darin unsere Vorstellungen belebt. Ein Vor-gang, der in der Auseinandersetzung mit Spiegeln exemplarisch wird: Den Wert, der dem Paradigma der optischen Reflexion für eine Theorie der Kunst zukommt, erörtert Jens Kulenkampff. In der Untersuchung der Objektivitäts- und Existenzimplikationen des Widcrspicgelungstheorcms findet er den Wahrheitsgehalt der alten Analogie zwischen Spiegeln und Gemälden allein darin, daß beide Medien sind, die uns etwas sehen lassen. An einem herausragenden Beispiel der Tradition - Las meninas von Velazquez — sucht Kulen-kampff in der Integration der Spiegelfunktion ins Bildsujet den extremen Grenzwert dieser Analogie auf und kommt so zu einem Entwurf von der Leistung der Kunst: Die Malerei ist nicht nur ein Sehen-lassen, in der Darstellung ihrer eigenen Leistung macht sie auch ihr Rcflexionspotential sichtbar. Im Blick auf die politischen und religiösen Bilderverbote, in denen indirekt die Macht der Bilder bezeugt ist, gewinnt dagegen Gottfried Boehm näheren Aufschluß über diese spekulative Kraft: Die Macht der Bilder besteht nicht allein in ihrer besitzergreifenden Fähigkeit zu Vergegenwärtigung und Verkörperung - in der Dialektik von Konstruktion und De-struktion, Zeigen und Ausblenden, von Sagen und Verschweigen

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BILD UND REFLEXION 13

schließt jedes Bild auch die Macht der Negat ion ein. Nicht nur in den modernen Destruktionsverfahren, auch im Paradox der perfek-ten Abbi ldung, gehört derart zu den internen Bedingungen des Bildes eine ikonoklastische Tendenz. Wie in den neuesten Entwick-lungen der Medienkultur zu sehen ist, kann diese freilich selbst wiederum mit den Mitteln bildlicher Anschaulichkeit bekämpft wer-den. Der Schritt vom Bild zur Simulation, vom Panorama zum Cyberspace markiert diese Gegentendenz. Die suggestiven Simula-t ionen des Cyberspace untersucht Hans Ulrich Reck auf ihre Stel-lung im zeitgenössischen Bewußtsein von Kunst und populärer Erlebniskultur. Es ist das Extrem einer vieldiskutierten technologi-schen Bildform, das eine Klärung des Begriffs von Kunst nicht nur verlangt, sondern nach Auffassung des Medientheoretikers auch erleichtert. Reck verspricht sich von der Kontextbest immung der neuen Bilder ein gesteigertes Bewußtsein von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aller Kunst, die stets mehr umfassen als das, was sich allein im Bezug auf die ästhetische Autonomie erschließt -und er hofft dabei auf eine neue interdisziplinäre Vermitt lung der Philosophie mit den Kunstwissenschaften.

U m diese Vermit t lung- das Bewußtsein ihrer Notwendigkei t, die Begründung ihrer Möglichkeit und Ansätze zu ihrer Realisierung -drehen sich insgesamt die Aufsätze dieses Bandes. Sie repräsentieren dabei das Programm der gleichnamigen Tagung in Münster im März 1993, in deren Rahmen die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik ge-gründet worden ist. Die Herausgeber danken dem Mitveranstalter der Tagung, Karlheinz Lüdeking, für seine engagierte Mitarbeit. Unser besonderer Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung, ohne deren großzügige Finanzierung weder die Tagung noch der Sammelband möglich gewesen wären.

Hamburg und Chemni tz 1997

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I .

ZUR GRUNDLEGUNG

DER PHILOSOPHISCHEN ÄSTHETIK

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MARTI N SEEL

Ästhetik und Aisthetik

Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung

K leine Unterschiede machen manchmal einen großen Unter-schied. Obwohl sich die beiden Begriffe meines Titels nur in

einem Buchstaben unterscheiden, benennen sie durchaus Verschie-denes. Zwar haben wir es unter beiden Titeln - dem einer »Ästhetik« und dem einer »Aisthetik« - mit einer Analyse der Wahrnehmung, insbesondere der sinnlichen Wahrnehmung zu tun, dessen also, was im Griechischen aisthesis heißt. Jedoch bezeichnen Aisthetik und Ästhetik zwei verschiedene Arten der Analyse des Sinnlichen. The-ma der Ästhetik sind Wahrnehmungs- und Herstellungsformen, die sich auf bestimmte, traditionell »schön« genannte Objekte beziehen, nicht zuletzt - aber keineswegs allein - auf die der Kunst. Thema der Aisthetik hingegen ist einfach die menschliche Wahrnehmung, ohne eine Beschränkung auf bestimmte Formen und Funktionen. Aisthe-tik ist folglich etwas sehr viel Allgemeineres als Ästhetik. Ist Aisthe-tik eine Lehre von dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen überhaupt, so handelt Ästhetik von einem bestimmten Gebrauch dieses allgemeinen Vermögens. Ästhetik ist daher ein Teilgebiet der Aisthetik. All e Wahrnehmung ist aisthetisch, nur ein Teil unserer Wahrnehmung aber ist darüberhinaus ästhetisch.

Das ist eigentlich schon alles, was ich im folgenden sagen möchte. Das mag trivial erscheinen, es ist jedoch in der gegenwärtigen Dis-kussion nicht trivial. Denn diese Diskussion ist heute vielfach durch den Ruf nach einer Entgrenzung der traditionell begrenzten Domä-ne der Ästhetik bestimmt. Die heutige Ästhetik, so pfeift es von allen Dächern, kann ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn sie sich entschlos-sen zur Aisthetik hin öffnet. Das Ästhetische, so wird uns beschie-den, ist nicht bloß ein Teilbereich des Wirklichen, es ist ein Grundzug der menschlichen Stellung zur Wirklichkeit selbst.

Die Forderung nach einer Öffnung der Ästhetik in Richtung Aisthetik, um es gleich zu sagen, ist nicht ganz verkehrt. Wenn nämlich die Ästhetik ein Teil der Aisthetik ist, kann es nicht verkehrt sein, diese beiden Analysen des Sinnlichen zueinander in Beziehung

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zu setzen. Es kommt aber sehr darauf an, wie das geschieht. In weiten Teilen der heutigen Diskussion, so scheint mir, wird die Natur dieser Beziehung zum Nachteil sowohl der Ästhetik als auch der Aisthetik verkannt. Die Ästhetik nämlich, so möchte ich behaupten, kann ihre genuinen Aufgaben nur erfüllen, wenn sie in der Lage ist, den Unterschied zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrneh-mung und Wirklichkeit eindeutig zu bestimmen.

Im ersten - eher destruktiven - Teil möchte ich diese Behauptung zu belegen versuchen; ich möchte zeigen, wie wenig Grund es gibt, die Gebiete der Aisthetik und der Ästhetik ineinander verschwim-men zu lassen. Im zweiten - eher konstruktiven - Teil möchte ich einige Besonderheiten derjenigen Wahrnehmung herausarbeiten, die sich als ästhetische Wahrnehmung von allen anderen Formen der aisthesis unterscheidet; ich möchte an einigen Beispielen zeigen, wie sich der Raum und die Zeit ästhetischer Wahrnehmung von dem Raum und der Zeit unserer sonstigen Wahrnehmung abheben.

1. Zur Kritik des ästhetischen Fundamentalismus

Bei Autoren, die sich dem postmodernen Denken verpflichtet füh-len, ist heute gern davon die Rede, die Ästhetik sei auf dem besten Weg, zu einer neuen »Leitwissenschaft« zu werden.' Damit ist zum einen gemeint, daß die Wirklichkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert mehr und mehr ästhetische Züge angenommen habe und folglich die Erfassung und Erforschung dieser Wirklichkeit mehr und mehr auf ästhetische Kategorien zurückgreifen müsse. Gemeint ist zum an-dern, daß sich in dieser Entwicklung eine bisher verdeckte oder verdrängte Natur der Wirklichkeit überhaupt zeige, nämlich ein nach durchaus ästhetischen Verfahren erstelltes Konstrukt der menschlichen Weltaneignung zu sein. Es ist dieser kühne, oft wie selbstverständlich daherkommende Schritt von ästhetischen zu er-kenntnistheoretischen Betrachtungen, der zu einigem Mißtrauen Anlaß gibt. Aisthetik, in der Bedeutung einer allgemeinen Lehre von der Wahrnehmung, wird als legitime Nachfolgerin der Ästhetik gehandelt, mit dem weitergehenden Anspruch, als eine neue Grund-

1 Z.B. Dietmar Kamper, Derjanuskopfder Medien. Ästhetisierung der Wirklichkeit, Entrüstung der Sinne, in: Florian Rotzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elek-tronischen Medien, Frankfurt a.M. 1991, S. 93-99, 98; Norbert Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991, S. 7.

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ÄSTHETIK UND AISTHETIK '9

lagentheorie die hergebrachte Ontologie, Epistemologie und selbst Ethik zu beerben. Wäre diese Aufhebung der Differenz zwischen Ästhetik, Aisthetik und einigen anderen philosophischen Diszipli-nen nur der Spleen einiger zufällig in Mode geratenen Autoren, wäre das nicht weiter von Belang. Sie ist aber Ausdruck einer ernstzuneh-menden Tendenz der gegenwärtigen Philosophie. In recht verschie-denen Zusammenhängen und von sehr unterschiedlichen Autoren wird heute die These eines mehr oder weniger stufenlosen Kont inu-ums zwischen den Gebieten der Ästhetik und der Erkenntnistheorie einerseits, der Ästhetik und der Ethik andererseits vertreten. Man findet solche Anwandlungen bei Paul Fcyerabend, Nelson Good-man, Richard Rorty, Michel Foucault oder Jacques Derrida, hierzu-lande etwa bei Günter Abel, Gernot Böhme, Peter Sloterdijk oder Wolfgang Welsch - von den Aposteln einer überschwenglichen Me-dienästhetik ganz zu schweigen.' Auf leisen oder auch lauten Sohlen begibt sich die Ästhetik hier in die Position einer — wenn nicht sogar der - fundamentalen philosophischen Disziplin. Wenn wir keine Kenntnis einer ansichseienden Realität besitzen können, so lautet eine Version des tragenden Arguments, müssen wir Realität als ein menschliches Artefakt verstehen; die Produkt ion und Rezeption von Artefakten aber fällt letztlich in die Zuständigkeit dessen, was früher einmal bescheiden Ästhetik hieß.

Eine solche Usurpation aber ist im Bereich der Erkenntnistheorie nicht weniger verfehlt als im Bereich der Ethik - nicht weil es darum ginge, eine überlieferte philosophische Rangordnung zu wahren, sondern schlicht darum, weil die Ästhetik ihren Job nicht tun kann, wenn sie das Geschäft der Epistemologie und Ethik gleich mit erledigen will . Diese Aufgabe besteht darin, eine Reihe von Unter-schieden zu erläutern und zu verteidigen, ohne deren Beachtung sowohl unser theoretisches wie unser ethisches Leben unendlich ärmer wäre: die Differenz zwischen Erfahrung und ästhetischer Erfahrung, zwischen Künstlern und anderen Konstrukteuren, zwi-schen bloßen Dingen und ästhetischen Objekten, zwischen Artefak-ten und ästhetischen Artefakten.

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, wie es zu dieser Entgrenzung der Ästhetik überhaupt kommt. Die Aufhebung der Grenze zur Aisthetik wird bei einigen Autoren durch ein kritisches Argument vorbereitet, das durchaus tragfähig ist. Zu lange, heißt es, war die

1 Vgl. hierzu Verf., Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien, in: Merkur 47/1993, S. 770-783.

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Ästhetik auf das Kunstschöne fixiert; ästhetische Wahrnehmung aber reiche viel weiter als die Wahrnehmung von Kunst; zumal im Zeitalter einer massenmedial vorangetriebenen Ästhetisierung der Lebenswelt müsse die Ästhetik endlich aus ihren elitären Bezirken heraustreten. Das Argument ist zwar ungerecht gegen die großen Vertreter einer klassisch-modernen Ästhetik - von Kant, der erst nach zwei Dritteln seiner Ästhetik auf die Kunst zu sprechen kommt, wird niemand sagen können, er sei auf diese fixiert gewesen; Hegel sagt zwar in der Einleitung zu seinen Vorlesungen zur Ästhe-tik, es gehe ihm ausschließlich um die »Wissenschaft der Kunst«, auf dem Weg dahin entwickelt er aber sowohl eine Theorie des Designs (die bei ihm den Titel einer »dienenden Kunst« trägt) als auch eine Theorie des Naturschönen; für Schopenhauer und Adorno, um nur zwei weitere zu nennen, war die Kunst bloß das wichtigste, jedoch beileibe nicht das einzige ästhetische Phänomen, dem sie sich zuge-wandt haben -; sachlich aber ist das Argument vollkommen richtig. Ästhetik der Kunst ist nur ein Teilgebiet der Ästhetik. Mehr noch: Eine angemessene Theorie der Kunst muß ihrer Kontinuität und Diskontinuität gegenüber der übrigen ästhetischen Praxis von vorn-herein Rechnung tragen. Nur ein weiter - weit über den Bereich der Kunsttheorie hinausreichender - Begriff des Ästhetischen schafft einen angemessenen Zugang zur theoretischen Analyse irgendeiner Spielart ästhetischer Wahrnehmung - gleich ob diese sich auf neuere Kunst, auf die alltägliche Fernsehpraxis oder auf Formen ästheti-scher Natur bezieht.

Soweit die Herausgeber eines 1990 bei Reclam in Leipzig erschie-nenen Sammelbandes unter dem magischen Titel Aisthesis mit ihrer Kriti k der hergebrachten Ästhetik nur dies meinen, ist also alles in Ordnung. Sie meinen aber mehr. Der Untertitel spricht es aus: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik} Die »andere« Ästhetik, heißt das, soll gerade darin anders sein, daß sie sich überhaupt nicht im traditionellen Sinn als Analyse einer be-grenzten Praxis versteht; ihr geht es nicht um eine bestimmte Form der Wahrnehmung, ihr geht es um »Wahrnehmung heute«. Nicht allein die Grenzen der Kunsttheorie sollen gesprengt werden, auch die überkommenen Grenzen der Ästhetik selbst: Wo Ästhetik war, soll Aisthetik werden.

1 Karlheinz Barck / Peter Gente / Heidi Paris / Stefan Richter (Hg.), Aisthesis. Wahr-nehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990.

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Interessanterweise berufen sich die Herausgeber hierbei auf Kant - auf jene berühmte Fußnote in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant sagt, außer und neben dem, was er als »transzendentale Ästhetik« bezeichne, könne es - entgegen Baumgartens Vorschlag - keine weitere philosophische Ästhetik geben; philosophisch sei zwar eine Aisthetik, nicht aber eine Ästhe-tik möglich1. Freilich handelt Kant nicht von Wahrnehmung um 1781 oder 1787, sondern von unhintergehbaren Bedingungen menschlicher Wahrnehmung überhaupt. Seine transzendentale Äs-thetik ist »eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori«, d. h. von der grundlegend raum-zeitlichen Verfassung aller empirischen Erkenntnis. Mi t dem Geschäft einer »Kritik des Ge-schmacks«, also jener besonderen Formen der Wahrnehmung und des Urteils, die den Phänomenen des Schönen oder Erhabenen gewidmet sind, sagt Kant, hat diese Betrachtung nichts zu tun. An dieser Einschätzung ändert sich bei Kant auch dann nichts, als er 1790, drei Jahre nach der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, mit der Kritik der Urteilskraft seine eigene Version einer Kriti k des Geschmacks vorlegt. Kant widerruft sein negatives Urteil über die Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik; diese jedoch versteht er nicht als eine Ergänzung zur transzendentalen Ästhetik, sondern als eine Untersuchung eigener Art; ihr Thema ist nicht der Spielraum der Wahrnehmung oder die Verfassung menschlicher Wirklichkeit schlechthin, sondern jenes besondere Spiel der Wahr-nehmungskräfte (und das ihm zugehörige Sprachspiel), durch das so etwas wie ein Sinn für ästhetische Phänomene entsteht.

Auch Wolfgang Welsch beruft sich bei seinem unter dem Titel »Ästhetisches Denken« veröffentlichten Plädoyer für eine aistheti-sche Transformation der Ästhetik auf Kant; auch er möchte den Begriff des Ästhetischen erweitern. »Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie subli-men, lebensweltlichen wie künstlerischen.«2 Es ist diese Aufhebung der Grenze zwischen den traditionellen Gebieten der Erkenntnis-theorie und der Ästhetik, die Welsch unter Hinweis auf Kant zu begründen versucht: »Das moderne Denken hat sich seit Kant zu-nehmend auf die Einsicht zubewegt, daß die Grundlagen dessen, was

1 A. a. O., S. 445f.; vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 35. 2 Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik, in: ders., Ästhetisches Denken, Stutt-

gart 1990, S. 9-40, 9f.

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wi r Wirklichkeit nennen, fiktionaler Natur sind. Wirklichkeit erwies sich immer mehr als nicht >realistisch<, sondern >ästhetisch< konsti-tuiert. Wo diese Einsicht durchdringt - und das geschieht heute weithin - , da legt Ästhetik den Charakter einer speziellen Disziplin ab und wird zu einem generellen Verstehensmedium für Wirklich-keit.«' A n anderer Stelle heißt es: »All unsere Orientierungen sind poietisch erzeugt, fiktional strukturiert und ihrer Seinsweise nach so schwebend, aber auch fragil, wie man es traditionell nur von ästhe-tischen Phänomenen gesagt (...) hat.« Die Folgerung hieraus lautet, »daß Erkennen und Wirklichkeit ihrer Seinsart nach ästhetisch sind.«2 Q u od erat demonstrandum: Die zur Aisthetik gemauserte Ästhetik wird zur prima philosophia, der gegenüber Logik und Ethik den Status von »Subdisziplincn«' erhalten.

Alles jedoch, was man in diesem Zusammenhang tatsächlich mit Kant sagen kann, spricht geradewegs gegen die Folgerungen, die Welsch aus einem Kantischen Konstruktivismus zieht. »Wirklich-keit erwies sich immer mehr als nicht >realistisch<, sondern >ästhe-tisch< konstituiert.« Diese Entgegensetzung ist für das postmoderne Denken typisch. Aus dem Scheitern eines metaphysischen Realis-mus wird sofort auf die »Fiktionalität« menschlicher Wirklichkeit geschlossen. »Allenthalben«, schreibt Welsch, »bemerken wir, daß es kein erstes oder letztes Fundament gibt, daß wir vielmehr gerade in der Dimension der >Fundamente< auf eine ästhetische Verfassung stoßen.«4 Wie seinerzeit Nietzsche folgert Welsch aus der Tatsache, daß wir keinen von unseren Erkcnntnismöghchkeiten unabhängigen Zugang zur Wirklichkeit haben, unser Verständnis des Wirklichen sei im Grunde fiktiv ; Wirklichkeit sei kein Faktum, sondern ein nach ästhetischen Kriterien erstelltes Artefaktum. Der enttäuschte Glau-be an eine vorgegebene Seinsordnung verwandelt sich in ein fröhli-ches Vertrauen in die Künstlichkeit des Wirklichen. In dieser einfa-chen Auswechslung der metaphysischen Kategorien verbirgt sich ein negativer Fundamental ismus. Denn nur ein heimlicher Fundamen-talist kann aus dem Umstand, daß ein bestimmtes Verständnis von Realität hinfällig ist (nämlich das fundamentalistische), geradewegs

1 Welsch, Ästhetisches Denken, a. a. O., S. 8. 2 Wolfgang Welsch, Ästhetisierungsprozesse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie

41/1993, S. 7-29, 22 u. 25. 3 So Welsch ausdrücklich in bezug auf die Ethik: a. a. O., S. 20 u. 27. 4 An anderer Stelle: »Wir sehen keine ersten oder letzten Fundamente mehr, sondern

Wirklichkeit nimmt für uns eine Verfassung an, die wir bislang nur von der Kunst her kannten« (a. a. O., S. 14).

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schließen, die Unterscheidung von Realität und Fikt ion selbst sei im Grunde hinfällig geworden.

Das folgt aber keineswegs. Der Umstand, daß Wahrheit eine Eigenschaft unserer Sätze ist, - und nicht »da draußen« längst ge-schrieben steht - bedeutet nicht, Wahrheit selbst sei eine »ästhetische Kategorie«; es bedeutet einfach, daß wir uns auf Wahrheit nur so beziehen können, daß wir die Wahrheit unserer Sätze zu erweisen (oder zu bezweifeln) suchen. Aus dem Umstand, daß sich eine menschliche Moral nicht auf göttliche Gebote stützen kann, viel-mehr eine Angelegenheit menschlicher »Selbstgesetzgebung« ist, folgt nicht, daß die Frage, welche Verpflichtungen wir untereinander haben, letztlich eine Frage »ästhetischer Kriterien« wäre'; es bedeu-tet lediglich, daß moralische Orientierungen wie alle anderen Or ien-tierungen korrigierbar sind. Aus dem Umstand, daß unseren unter-schiedlichen Orientierungen in unterschiedlichen Arten und Graden ein Erzeugungscharakter zukommt, folgt weder, daß alle unsere Orientierungen ästhetische seien, noch, daß alle Wirklichkeit letzt-lich oder eigentlich unsere Erfindung sei; es folgt bloß, daß das, was wi r als Wirklichkeit erschließen, niemals unabhängig von den kon-stitutionellen und artifiziellen Mitteln, Medien und Möglichkeiten ist, mit denen wi r unsere Auseinandersetzung mit der jeweiligen Wirklichkeit bestreiten.

Mi t allem, was in der neueren Philosophie gut und teuer ist, auf den konstruktiven Grundzug unserer Wahrnehmung, Erkenntnis und Moral zu verweisen, ist eines. Jedoch zu behaupten, darin zeige sich die fundamental ästhetische Verfassung unserer Wirklichkeit, ist etwas ganz anderes. Dieser Zusatz ist entweder redundant - dann sollte man ihn besser streichen, anstatt die erkenntnistheoretische Terminologie mit einer ästhetischen zu vermischen und zu verdop-peln. Oder aber es handelt sich wirklic h um eine These, um die These nämlich, daß die konstruktiven Züge unserer Wahrnehmung und Erkenntnis notwendigerweise mit Zügen ästhetischer Fiktion, Simu-lation, Virtualisierung usw. einhergehen. Für diese These müßten Gründe aufgebracht werden, die nicht lediglich in einer ästhetischen Umdeutung eines ganz allgemeinen, wahlweise mit Kant oder Nietzsche, Quine oder Rorty in Erinnerung gerufenen konstrukt i-vistischen Standpunkts bestehen. Dies müßten Gründe sein, die zeigen könnten, daß zwischen ästhetischer und nichtästhetischer Wahrnehmung, zwischen ästhetischer und nichtästhetischer Kon-

1 A.a.O., S. 13

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struktion, zwischen Schein und ästhetischem Schein, zwischen Fik-tion und ästhetischer Fiktion, zwischen Simulation und ästhetischer Simulation nicht wirklich ein Unterschied besteht. Man müßte zei-gen können, daß alle kognitiv relevanten Unterscheidungen letztlich ästhetische Unterscheidungen sind. Man müßte zeigen können, daß alle Unterscheidungen zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Orientierungen letztlich innerästhetische Unterscheidungen sind.

Die Beispiele, die Welsch für seine These ins Feld führt, sind nicht dazu angetan, etwas derartiges zu zeigen. Welsch weist darauf hin, daß ja auch in der Wissenschaft häufig ästhetische Kriterien - wie etwa Eleganz - eine wichtige Rolle spielen, und zwar nicht nur bei der Beurteilung, sondern auch bei der Gewinnung von Forschungs-ergebnissen.' Hierin das Zeichen einer »Fiktionalisierung« der For-schung zu sehen, ist jedoch verfehlt. Die Triftigkeit einer Theorie entscheidet sich weiterhin an ihrer empirischen Erklärungskraft hin-sichtlich der Phänomene, auf die sie sich, wenn sie etwas taugt, nicht fingierend, sondern faktisch bezieht. Daß ästhetische Kriterien bei der wissenschaftlichen Modellbildung eine wichtige Rolle spielen, macht die resultierenden Theorien nicht selbst zu ästhetischen oder »fiktionalen« Gebilden. - Im Blick auf die Medien schließt sich Welsch denjenigen an, die meinen, »vor dem Wirklichkeitsspender Fernsehen muß unser alter Realitätsglaube definitiv zusammenbre-chen.«2 Auch das will mir nicht einleuchten. Wenn mit dem »alten Realitätsglauben« der metaphysische Realismus gemeint ist, so ist dieser schon lange vor dem Fernsehen unter Beschuß geraten. Wenn aber mit »unserem alten Realitatsglauben« so etwas wie das (seit jeher fragile und irritierbare) lebensweltliche Zutrauen in eine we-nigstens prinzipielle Unterscheidbarkeit von Sein und Schein, Illu -sion und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge, buchstäblicher und fi-gürlicher Rede usw. gemeint ist, so vermag ich nicht zu sehen, wie dieses »definitiv« sollte zusammenbrechen können, ohne daß alles Denken - auch das postmoderne - mit zusammenbrechen würde. Das Fernsehen jedenfalls arbeitet mit allerlei Vertauschungen von Realität und Fiktion, Sein und Schein, vermischt und verwischt sie auch gelegentlich, aber es setzt diese Differenzen nicht als solche außer Kraft - sonst könnte es gar nicht länger mit ihnen spielen, und wir könnten uns nicht länger am Fernseher mit diesem Spiel unter-halten. Daß Wirklichkeit durch die Medien, wie Welsch sagt, ästhe-

1 A. a. O., S. 24. 2 A. a. O., S. 11.

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tisch »modellierbar« ist, heißt gerade nicht, sie selbst sei ästhetisch oder virtuell geworden. Es bedeutet vielmehr, daß in den Massenme-dien auf immer neue Weise mit der Differenz von Sein und Schein, Virtualität und Realität usw. operiert werden kann.

Al s weiteres Beispiel für eine zunehmende Ästhetisierung »unse-rer gesamten Auffassung von Wirklichkeit«' dient der Hinweis auf neue Materialtechnologien. »Neue industrielle Werkstoffe werden heute bis zur Endfertigung hin rein computer-simulatorisch konzi-piert und erprobt. Die Simulat ion-ein ästhetischer Vorgang, der sich auf der Bildfläche des Monitors abspielt - hat nicht mehr nachah-mende, sondern produktive Funktion. Auch hier also rückt Ästhetik an die erste Stelle, und zwar sowohl was das Verfahren, als auch was die Zielvorstellung angeht.« Schon diese Folgerung ist unplausibel; warum sollte die Zielvorstellung der industriellen Produkt ion zu einer ästhetischen werden, allein weil sie sich ästhetischer Entwick-/«wgsverfahren bedient (es sei denn eben, es handelte sich zufälliger-weise um ein ästhetisches Produkt)? Die wichtigere Frage ist freilich, ob es sich hierbei überhaupt um ästhetische Entwicklungsverfahren handelt. Was ist an einer Computersimulation überhaupt ästhe-tisch?2 »Simulation, ein ästhetischer Vorgang, der sich auf der Bild-fläche des Monitors abspielt« - so legt sich Welsch im Vorbeigehen fest. In der Konsequenz dieser Bestimmung müßte man sagen, je-mand, der als angehender Pilot am Flugsimulator sitzt, sei in ästhe-tischer Wahrnehmung begriffen. Das ist natürlich nicht der Fall; der Flugschüler nimmt fingierte Flugbewegungen wahr und übt an ih-nen bestimmte Steuerungstechniken - das ist alles. Die Fikt ion des Simulators hat mit Ästhetik wenig zu tun; sie ergibt sich vielmehr daraus, daß die Zeichen auf dem Bildschirm zwar eine referentielle Funktion, aber keine erfüllte Referenz haben, obwohl der Sinn der Flugübung darin besteht, so zu tun, als hätten sie eine. Eben das ist der allgemeine Sinn einer Simulation: Darstellung von Zuständen zu sein, die nur in dieser Darstellung existieren, jedoch unter der (durchschauten oder undurchschautcn) Fiktion, daß dies wirkliche Gegebenheiten seien. Eine ästhetische Komponente kommt dabei erst ins Spiel, wenn es in der Ausführung und Wahrnehmung einer

1 Wie auch das folgende a. a. O., S. 10. 2 Natürlich kann Welsch darauf verweisen, er gebrauche das Wort »ästhetisch« nun

einmal in einer sehr weiten Bedeutung. Entsprechend heißt es a. a. O., S. 12: »Äs-thetisch (ist) hier naturlich nicht im Sinn von Schönheit sondern von Virtualität und Modellierbarkeit gemeint.« Meine Frage ist jedoch, warum er die Worte in dieser irreführenden Weise verwendet.

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simulativen Darstellung nicht vorwiegend um das Simulierte, son-dern zusätzlich oder auch vorwiegend um die Art der Simulation geht. Dann wird die Simulation als Simulation interessant - und mit ihr die Wahrnehmung, die der Simulation wissentlich unterliegt. Das aber ist ein Sonderfall, der nicht auf den Einsatz simulativer Verfah-ren im ganzen übertragen werden darf.

Dieser Befund läßt sich verallgemeinern. Wie Simulation nicht notwendigerweise ästhetische Simulation ist, so ist Fiktion nicht notwendigerweise ästhetische Fiktion, Virtualität nicht notwendi-gerweise ästhetische Virtualität, Schein nicht notwendigerweise äs-thetischer Schein - und so weiter für alle Begriffe, anhand derer die postmoderne Ästhetisierung des Denkens und der Wirklichkeit be-trieben wird. Das Ästhetische, so liegt es nahe zu folgern, ist eine Modifikation allgemeinerer Formen des Wahrnehmens oder Erken-nens und ihrer Objekte. Ästhetische Wirklichkeit wäre demnach eine Modifikation dessen, was wir ansonsten als Wirklichkeit ken-nen. Mi t Kant wäre zu sagen: Eine Aisthetik, die zugleich Ästhetik sein will , ist keines von beiden. Sie klärt weder über allgemeine Bedingungen menschlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähig-keit, noch über den besonderen ästhetischen Gebrauch dieser Fähig-keit auf angemessene Weise auf. Wer Wahrnehmung und Wirklich-keit selbst ästhetisch faßt, verliert alle Möglichkeit, den besonderen Spielraum ästhetischer Wahrnehmung zu fassen. Wer die ästhetische Differenz lediglich als innerästhetische Differenz begreifen kann, verliert jeden Begriff ästhetischer Differenz. Ästhetik kann nur ein begrenzter Teil des stolzen Projekts einer Aisthetik sein.'

2. Raum und Zeit des Ästhetischen

Die Zeit ästhetischer Aufmerksamkeit, so legt die Kriti k des ästhe-tischen Fundamentahsmus nahe, eröffnet einen nach eigenen Geset-zen gebildeten Spielraum gegenüber aller übrigen Wahrnehmung der Welt. Einige Grundzüge dieses Spielraums möchte ich im folgenden etwas genauer bestimmen. Die Raum-Zeit-Struktur der ästhetischen Wahrnehmung, so möchte ich dabei zeigen, ist eine Modifikation der Raum-Zeit-Struktur von Wahrnehmung überhaupt.

1 Auf Welschs Projekt bin ich ausführlicher eingegangen in: Martin Seel, Wider das ästhetische Denken, in: Akzente 40/1993, S. 561ff.

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Ich möchte mit einem einfachen Beispiel beginnen, das sich am besten in der direkten Anrede des Lesers ausführen läßt. Nehmen Sie an, Sie befänden sich als Fußgänger oder Autofahrer an einer Straßenkreuzung inmitten einer größeren Stadt, sagen wir nach Einbruch der Dunkelheit. In dieser Situation sind zunächst einmal ganz praktische Leistungen sinnlicher Orient ierung verlangt. Sie müssen sich an den Verkehrsampeln orientieren, oder, wenn Sie deren Signale mißachten, zumindest nach den anderen Autos schau-en, wenn Sie eine Straße überqueren oder in eine andere Straße einbiegen wollen. Diese elementare Orient ierung ist in keiner Weise ästhetisch; sie ist es so wenig wie die Arbeit des werdenden Piloten am Simulator. Mi t ästhetischer Aktivitä t hat es ebenfalls nichts zu tun, wenn Sie etwa versuchen, in einer der sich kreuzenden Straßen die Wohnung eines Bekannten zu suchen, der ihnen sagte, er wohne direkt an dieser Kreuzung. Es ist einfach so, daß sie sich, in einer bestimmten Absicht, möglichst ohne allzuviel Zeit zu verlieren, an diesem Ort zu orientieren versuchen. Ästhetische Zustände freilich können in diese Orientierung jederzeit hereinspielen. Sie werden sich auf Ihrer Suche nach der Wohnung des Bekannten normalerwei-se ein Urteil über die Gegend bilden, in der dieser wohnt; Sie werden das Haus, in dem er wohnt, ebenso wie die Wohnung selbst schön oder scheußlich oder irgend etwas dazwischen finden. Sic können sich durch die Werbung in oder an den umliegenden Geschäften angesprochen oder abgestoßen fühlen. Wenn Sie genug Muße haben, können Sie aber auch einfach in der bloßen Betrachtung des Lich-terspiels der Verkehrsampeln verweilen; Sie nehmen die Ampeln dann nicht länger als imperative Signalsysteme, sondern als Genera-toren purer Erscheinungen wahr. Schließlich können Sie die Situa-tion an dieser Kreuzung auch wie eine Filmszene oder wie ein künstlerisches Bild betrachten - Sie denken beispielsweise an Scor-seses Taxi-Driver oder an die fotorealistischen Stadtansichten von Richard Estes -; dann sind Sie als Verkehrsteilnehmer zugleich Betrachter des Schauspiels der Stadt, in der Sie sich befinden. Dieser Beobachterstandpunkt unterscheidet sich wiederum signifikant von der nichtästhetischen Warte eines Verkehrspolizisten, der bemerkt, daß Sie in Ihrem ästhetischen Zustand auf eine Kollision mit anderen Verkehrsteilnehmern zusteuern - womit ich wiederum nicht sagen will , daß nicht auch der Polizist, nebenbei wenigstens, für die Stunde des städtischen Abends empfänglich sein könnte.

An diesem Beispiel - ein Wiesengrund hätte denselben Beispiel-dienst tun können - wird noch einmal deutlich, daß viele Wahrneh-

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mungsvollzüge, wie intelligent, selektiv und konstruktiv sie auch sein mögen, gleichwohl mit ästhetischer Wahrnehmung noch nichts zu tun haben. Zweitens wird klar, daß ästhetische Wahrnehmungen auch in Situationen, in denen es nicht vorwiegend um ästhetische Wahrnehmungen geht, durchaus sehr naheliegen können. Ästheti-sche und nichtästhetische Wahrnehmungsvollzüge liegen oft dicht beieinander und gehen nicht selten munter durcheinander, wie na-hezu jeder Stadt- oder Naturaufenthalt verdeutlichen kann. Selbst wenn es so ist, daß bei sehr vielen unserer Wahrnehmungen ästheti-sche Wahrnehmungsweisen mit im Spiel sind, ist dies kein Grund, die Unterscheidung zwischen pragmatischer und ästhetischer Auf-merksamkeit aufzugeben.' Die Frage nach der Quantität unserer ästhetischen Wahrnehmungen ist für die Frage nach ihrer distinkti-ven Qualität irrelevant. Welchen Raum sie in unserem heutigen Dasein auch einnehmen mag, ästhetische Wahrnehmung setzt er-stens eine nichtästhetische Wahrnehmungsfähigkeit voraus und stellt zweitens eine Modifikation dieser nichtästhetischen Wahrneh-mungsvollzüge dar. Denn ästhetische Wahrnehmung hat ihren gan-zen Sinn darin, sich von anderen Wahrnehmungsweisen abzuheben.2

Es sind, so meine ich, vor allem zwei Charaktere der ästhetischen Wahrnehmung, in denen sie sich von anderen Wahrnehmungen unterscheidet. Ästhetische Wahrnehmungen sind erstens vollzugs-orientierte und zweitens in einem bestimmten Sinn selbstbezügliche Formen sinnlichen oder sinnengeleiteten Vernehmens.

Zunächst ein Wort zur Sinnlichkeit ästhetischer Wahrnehmung. Dem üblichen Wortgebrauch entsprechend nenne ich sinnlich alle Wahrnehmungen eines oder mehrerer Sinne und auch des Gefühls;

1 Auch wenn man sagen will , daß die pragmatische Orientierung häufig ästhetische Komponenten aufweist, setzt dies eine Unterscheidung von ästhetischer und nicht-ästhetischer Orientierungsfähigkeit voraus. Im übrigen ist es wichtig zu beachten, daß meine Betrachtungen die Perspektive der Wahrnehmenden zu rekonstruieren versuchen. So sehr es richtig sein mag, daß sich - von dritter Seite - am Verhalten des Menschen immer eine ästhetische Komponente ausmachen läßt (in der Art, wie er sich bewußt oder unbewußt gibt, in seiner »Haltung«, seinem »Stil«), so liegt darin nicht, daß er selbst in seinem Wahrnehmen und Handeln allzeit ästhetisch ausgerichtet wäre.

2 Die These, daß ästhetische Wahrnehmung nichtästhetische Orientierung voraus-setzt, muß nicht als genetische These aufgefaßt werden; viel spricht dafür, daß sich ästhetische und nichtästhetische Wahrnehmungsfähigkeit ontogenetisch simultan entwickeln. Wo jedoch von ästhetischer Wahrnehmung in einem spezifischen Sinn die Rede ist, dort liegt ihre Qualität in der Abhebung von anderen Möglichkeiten der Apperzeption.

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sinnliche Wahrnehmung, in diesem Verständnis, schließt affektives Bewußtsein mit ein. Sinnengeleitet nenne ich darüber hinaus Wahr-nehmungen, die ihre Basis haben in oder ihren Ausgang nehmen bei sinnlichen Leistungen der ersten Art, ohne notwendigerweise an konkrete sinnliche Vollzüge gebunden zu sein. In diesem Sinn kön-nen auch abstrakte kognitive Leistungen sinnenhaft sein, etwa wenn sie ihren Ausgang bei der Prägnanz und Geste Musilscher Texte nehmen. Sinnlich oder sinnengeleitet zu sein aber macht allein noch keine Wahrnehmung zu einer ästhetischen; auch die Wahrnehmung unseres Wachmanns ist eminent und außerdem erfreulich sinnlich -wenn es ihm nämlich gelingt, den drohenden Zusammenstoß durch eine rasche Intervention zu verhindern.

Außerdem ist daran zu erinnern, daß nicht nur Wahrnehmung im allgemeinen, sondern auch ästhetische Wahrnehmung nicht immer bildlich ist - weder in dem Sinn, daß es sich immer um eine Wahr-nehmung von inneren oder äußeren Bildern handelte, noch auch in dem Sinn, daß sie stets der Mitvollzug eines bildhaften Sinnzusam-menhangs wäre (also eines Sinns, der sich der begrifflichen Fixierung entzieht). Ästhetische Wahrnehmung muß überhaupt nicht sinnhaft sein, obwohl sie immer sinnenhaft ist. Sie können sich auf unserer Kreuzung dem Dunkel des Nachthimmels zuwenden oder dem Geräusch der Stadt überlassen, ohne dabei auf irgendeine Art des Sinns aus zu sein. Selbst jedes Kunstwerk hat immer auch diese sinnabgewandte Dimension.' Zwar haben Kunstwerke immer auch einen bildhaften Sinn - einen, der sich begrifflich nicht fassen läßt -, wie sich ein solcher Sinn auch der Weite des Himmels oder dem Geräusch der Nacht zusprechen läßt. Aber solche Bildhaftigkeit, geschweige denn Bildartigkeit ist mit ästhetischer Wahrnehmung nicht notwendig verbunden. Deswegen kommt die Terminologie der Bildlichkeit in meiner oben gegebenen Bestimmung nicht vor. Äs-thetisch, so habe ich gesagt, sind diejenigen (sinnlichen oder sinnen-geleiteten) Wahrnehmungen, die erstens vollzugsorientiert und zweitens auf eine bestimmte Weise selbstbezüglich sind.

Vollzugsorientiert sind Wahrnehmungen, bei denen die Wahrneh-mungstätigkeit selbst zu einem primären Zweck der Wahrnehmung wird. Man kann auch von selbstzweckhafter Wahrnehmung spre-chen. Im Vollzug der entsprechenden Wahrnehmungen geht es um den Vollzug dieser Wahrnehmungen selbst. Dabei geht es jedoch

1 Vgl. Verf., Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991, Kap. V; ders., Zur ästhe-tischen Praxis der Kunst, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/1993, S. 31-43.

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gleichermaßen um das, was jeweils Gegenstand dieser Wahrneh-mung ist. Ästhetische Wahrnehmung ist keine bloße Empfindung, sondern Aufmerksamkeit für ein Objekt oder eine Umgebung. Ihr ist nicht allein der Akt , sondern zugleich das Objekt der Wahrneh-mung ein Selbstzweck. Beides ist hier nicht zu trennen. Ästhetische Wahrnehmung ist Wahrnehmung zugleich um der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen willen.

Hieraus entspringt der besondere Zeircharakter ästhetischer Wahrnehmung; ästhetische Wahrnehmung spielt sich in einem Mo-dus des Verweilens ab. Das bedeutet nicht, daß die anderen Zeitdi-mensionen-Vergangenheit und Zukunft —in der ästhetischen Wahr-nehmung ausgelöscht wären; wäre es so, könnten wir das Besondere des ästhetischen Präsens gar nicht bemerken und genießen.' Viel-mehr geht es in der ästhetischen Erfahrung um ein Verweilen in einer Wahrnehmung und bei einem Objekt dieser Wahrnehmung - ob das nun eine neue Hose, eine schöne Wohnung, eine leuchtende Farbe, eine wilde Musik, eine faszinierende Straßenszene oder irgendein Kunstwerk ist. Dabei kommt es immer auch auf ein zeitliches Dasein der Gegenstände dieser Wahrnehmung an - man denke nur an die sogenannten »Zeitkünste« (Musik, Literatur, Film, Theater, Tanz) oder auch an die Bewegtheit ästhetischer Natur. Da aber Kunstwerke als Kunstwerke eine prozessuale Verfassung haben, sind im Grunde alle Künste Zeitkünste, auch wenn sie sich für die Wahrnehmung nicht sukzessiv in der Zeit entfalten; kraft der prozessualen Interak-tion ihrer Komponenten kommt ihnen in der ästhetischen Wahrneh-mung eine nicht-lineare Zeitlichkeit zu, die sie mit den Künsten teilen, deren Werke sich in der Zeit entfalten. Im einen wie im andern Fall, innerhalb wie außerhalb der Kunst, richtet sich das ästhetische Verweilen in einer Wahrnehmungssituation nicht auf eine Zeit au-ßerhalb dieser Situation; es hält sich in der Gegenwart des wahrneh-menden Umgangs mit einem Objekt oder einer Umgebung a u f - u nd zwar um dieser Gegenwart willen.

Solange Sie eine Straße an unserer Kreuzung überqueren, die Wohnung Ihres Bekannten suchen oder regelnd in das Verkehrsge-

1 Zur Zeitstruktur des Verweilens vgl. Michael Theunissen, Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frank-furt a. M. 1991, S. 285-298; jedoch scheint es mir nicht angemessen, das ästhetische Verweilen als Freiheit von der Zeit zu fassen; es handelt sich vielmehr um einen (seinerseits eminent und ausdrücklich zeitlichen) Modus des Verhaltens in und zu Zeit. Außerdem beschränkt sich Theunissen auf ein kontemplatives Verweilen; ich verwende den Begriff hier in einem allgemeineren Sinn.

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schehen eingreifen, handeln Sie zielonentiert; Sie nehmen weder das Wahrgenommene um seiner selbst willen wahr noch vollziehen Sie Ihre Wahrnehmung um dieser Wahrnehmung willen. Ihrer Wahr-nehmung geht es nicht um das Objekt oder den Akt dieser Wahr-nehmung, sondern um etwas, das Sie u. a. vermöge sinnlicher Wahr-nehmung erreichen wollen — die andere Straßenseite, die Wohnung des Bekannten, einen reibungslosen Straßenverkehr. Sobald Sie aber die Auslagen der Geschäfte betrachten, das bloße Lichtspiel der Ampeln oder die Szene der Stadt, sind Sie - für eine wie geringe Zeit immer, und nicht notwendigerweise ausschließlich' - in der Zeit ästhetischer Präsenz. Es geht Ihnen um die Gegenwart und das Gegenüber Ihres wahrnehmenden Vollzuges selbst.

In der Bestimmung ästhetischer Wahrnehmung als einer Wahr-nehmung, der es um die Zeit bei und mit dem ästhetisch Wahrge-nommenen geht, ist das zweite Charakteristikum ihrer Selbstbezüg-lichkeit schon enthalten. Freilich hängt viel von einer genauen Be-stimmung dieser Selbstbezüglichkeit ab; es ist wichtig, die generelle Selbstbezüglichkeit, die die ästhetische Wahrnehmung von aller nicktästhetischen Wahrnehmung trennt, von den speziellen Varian-ten zu unterscheiden, durch die sich bestimmte Arten ästhetischer Wahrnehmung voneinander unterscheiden. Selbstbezüglich ist alle ästhetische Wahrnehmung in dem schon genannten Sinn, daß es ihr nicht nur um das jeweils Wahrgenommene, sondern gleichermaßen um den Akt der Wahrnehmung selbst geht. Man kann das vielleicht am besten so ausdrücken, daß man sagt, es gehe im Akt ästhetischer Wahrnehmung um den Vollzug einer jeweiligen Wahrnehmung als einer solchen Wahrnehmung. In ästhetischer Wahrnehmung sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken und imaginieren wir nicht einfach etwas, sondern wir vollziehen dieses Sehen, Hören, Fühlen usw. als ein Sehen, Hören, Fühlen usw. Wir vollziehen unser Sehen als Sehen, unser Hören als Hören, unser Tasten als Tasten, unser Riechen als Riechen, unser Schmecken als Schmecken, unser Fühlen als Fühlen, unser Imaginieren als Imaginieren, unser Verstehen als Verstehen. Dieser Vollzug des Wahrnehmens als eines Wahrnehmens bedeutet zum einen, daß es hier darauf ankommt, sich - soweit das am gegebenen Objekt oder in der gegebenen Situation als lohnend erscheint - in dieser Wahrnehmung zu halten. Zum andern bedeutet es eine Mitwahrnehmung der eigenen leiblichen - sinnlichen oder

1 Handlungen können gleichzeitig vollzugsorientiert und zielorientiert sein - wenn ich z. B., dem Fahrradfahren ein Vergnügen ist, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre.

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sinnengeleiteten - Wahrnehmungsaktivität. In ästhetischer Wahr-nehmung sind wir uns selbst als Wahrnehmende gegenwärtig - nicht lediglich als ihrer selbst bewußte Wesen, sondern als Wesen, die ihr leibliches Sensorium ausdrücklich tätig sein lassen. Unsere Wahr-nehmung ist so auf ein Objekt oder eine Situation gerichtet, daß zugleich die Position der Wahrnehmung spürbar bleibt; es kommt hier, um mein Leitmotiv zu wiederholen, zugleich auf das Verneh-men eines Objekts und auf die Spürbarkeit dieses Vernehmens an. Der leibliche Standpunkt gehört mit zur Pointe dieser Wahrneh-mung. Der Ort ästhetischer Aufmerksamkeit, so kann man auch sagen, ist selbst ein Ziel dieser Aufmerksamkeit. An diesem Ort sind wir immer schon am Ziel.'

Wenn das richtig ist, kommt ästhetischer Wahrnehmung nicht nur eine besondere Zeitlichkeit, sondern auch eine besondere Räumlich-keit zu. Das Verweilen, von dem die Rede war, ist ebenso sehr ein räumliches wie ein zeitliches Phänomen. Ästhetische Wahrnehmung impliziert nicht nur ein eigenes - präsentisches - Zeitbewußtsein, sondern ebenso ein besonderes - ebenfalls präsentisch zu nennendes - Raumbewußtsein. Zusammen mit den jeweiligen Dingen oder Ereignissen im Raum geht es hier um den leiblich erschlossenen Raum ihres Erscheinens selbst. Die Fähigkeit zur pragmatischen Orientierung in einem beliebigen Raum ist dabei eine unumgängli-che Voraussetzung für die ästhetische Erfahrbarkeit des jeweiligen Raums. Diese Raum-Gegenwärtigkeit entsteht aus einer Aufmerk-samkeit für die spürbare Gegenwart von Phänomenen, die im Wie ihres Erscheinens wahrgenommen werden. Gemälde z. B. sind in der ästhetischen Betrachtung keine einfachen Gegenstände im Raum, sie sind ein räumliches Gegenüber dieser Betrachtung.2 Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung ist somit nicht allein ein ästhetisch wahr-genommenes Objekt (oder eine Vielzahl solcher Objekte), sondern der Raum zwischen, der Raum bei, der Raum mit diesem Objekt (oder diesen Objekten). Die Gegenwart dessen, was wir dabei wahr-

1 Das ist einer der Unterschiede zwischen ästhetischer Wahrnehmung und derjeni-gen Form einer selbstbezüglichen Wahrnehmung, die etwa ein Gestaltpsychologe unternimmt, dem es im Selbstexperiment um die Formen dieser Wahrnehmung geht. Ihm geht es (allein oder außerdem) um eine bleibende Erkenntnis dieser For-men und somit um etwas, das (vorläufig) außerhalb der gegebenen Situation liegt; auch geht es ihm nicht primär um das im Vollzug dieser Wahrnehmung Erschei-nende, wie das im Zuge dezidiert ästhetischer Anschauung der Fall ist.

2 Unterschiedliche Künste und Kunststile können u. a. nach der Art ihrer Präsenz im ästhetischen Raum unterschieden werden.

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nehmen, ist nicht die eines so und so gegebenen und beschaffenen Dings oder Raums (obwohl wir es natürlich immer mit so und so gegebenen und beschaffenen Dingen und Räumen zu tun haben), sie ist eine Gegenwart des selbstzweckhaften Verweilens bei einem phänomenalen Geschehen, das sich nur für die Dauer dieses Verwei-lens abspielen kann. Hier geht die Bestimmung des räumlichen Charakters ästhetischer Wahrnehmung wiederum in eine zeitliche Bestimmung über. Denn der besondere Raum bei und mit einem ästhetisch wahrgenommenen Objekt ist zugleich eine besondere Zeit bei und mit diesem — eine Zeit, die ihm, dem Objekt, die Zeit eines prozessualen Erscheinens gibt; eine Zeit, die uns, den Wahr-nehmenden, Zeit für einen selbstbezüglichen Vollzug unserer Wahr-nehmung läßt.

Wenn ich oben von den sogenannten Raum-Künsten gesagt habe, sie seien eigentlich auch Zeit-Künste, so läßt sich jetzt umgekehrt sagen: Die sogenannten Zeit-Künste sind immer auch Raum-Künste. Musik etwa entwickelt sich nicht allein in der Zeit, sie füllt einen Raum, den sie als musikalischen bildet; die Wahrnehmung im Kino, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist Sache sowohl einer realen als auch einer imaginierten Raumerfahrung; selbst literarische Texte werden immer auch räumlich, nämlich in einem Zustand metapho-rischer Abwesenheit rezipiert; wer literarisch liest, hält sich, ganz anders als der normale Zeitungleser, in einem metaphorischen Raum der Begegnung mit dem Text oder aber in der imaginären Welt des Texts auf.' Die Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten bleibt aber dennoch sinnvoll; jedoch handelt es sich genau besehen um Unterschiede in der Art, Raum-xW-Zeit-Künste zu sein.

Begeben wir uns aber ein letztes Mal auf unsere städtische Kreu-zung. Solange der Wachmann seinen Dienstpflichten nachkommt, wird er nicht viel Sinn für den Raum seiner Wahrnehmungen haben; er wird sich auf Dinge und Ereignisse in diesem Raum konzentrie-ren. Der ästhetische Betrachter dagegen - wir sollten uns daran erinnern, daß er nicht nur visueller Betrachter ist: er hört die Stadt, er riecht, er schmeckt, er imaginiert: er spürt die Stadt, in der er sich befindet - ist offen für den Raum dieser Stadt. Das ist er nicht nur, wenn er das Geschehen an der Kreuzung wie eine filmische Szene wahrnimmt, in die er sich hineinversetzt fühlt; ein spezifisches Raumbewußtsein hat er auch dann, wenn er bloß das Licht der

1 Freilich gibt es nicht wenige, die - sehr zum Ärger mancher Mitmenschen - auch das Zeitunglesen zu einer Sache ästhetischer Abgeschiedenheit machen.

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Ampeln kontempliert: das Lichtspiel wird ihm zu einem Moment sinnentleerter Schönheit inmitten der sinnlichen Fülle des städti-schen Raums. Wieder anders sieht es aus, wenn sich unser Müßig-gänger dem Studium der Schaufensterauslagen überläßt. Die - neh-men wir an - Kleidungsstücke, die er da betrachtet, sind keine Objekte bloßer Betrachtung, sondern zugleich Objekte der Vorstel-lung, wie es wäre, derlei zu tragen (oder an jemandem getragen zu sehen), wie man sich mit dieser Mode vor den Blicken der anderen oder im Blick auf andere fühlen würde. An einem Phänomen wie der Mode lassen sich die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen äs-thetischer Wahrnehmung ebensogut ablesen wie an Straßenampeln oder Werken der avanciertesten Kunst.

Ohnehin dürfen wir uns, wenn wir der Ästhetik zutrauen, einen bestimmten und erkennbaren Beitrag zum globalen Unternehmen einer Aisthetik zu leisten, nicht einseitig an bestimmten ästhetischen Phänomenen orientieren: weder an der Kunst, noch bloß an der Mode, die in der Ästhetik gerade sehr in Mode ist - noch auch an so etwas wie einer rein kontemplativen Betrachtung. Dieser generelle Hinweis ist von besonderer Bedeutung, wenn es um den Aspekt der »Selbstbezüglichkeit« ästhetischer Wahrnehmung geht. Wenn ich eben sagte, in ästhetischer Wahrnehmung seien wir uns selbst als leiblich-sinnlich Wahrnehmende gegenwärtig, so war damit nicht gemeint, der eigene Wahrnehmungsvollzug sei der eigentliche Ge-genstand dieser Wahrnehmung. Das wäre ganz irreführend. Ästhe-tische Wahrnehmung ist nicht generell eine Wahrnehmung der Wahrnehmung. Ästhetische Wahrnehmung ist nicht generell in die-sem Sinn reflexiv. Die »Selbstbezüglichkeit« ästhetischer Wahrneh-mung, von der ich gesprochen habe, schließt nicht notwendigerweise eine SelbstrÄc&bezüglichkeit mit ein. Ästhetische Wahrnehmung reflektiert nicht notwendigerweise auf ihren eigenen Vollzug oder auf ihre eigenen Bedingungen. Ref lexivität in dieser Bedeutung einer Selbstr«c&bezüglichkeit kommt lediglich einigen Formen ästheti-scher Praxis zu. Die gleichsam vorreflexive Selbstbezüglichkeit, von der ich gesprochen habe, als ich sagte, ästhetische Wahrnehmung werde »als« Wahrnehmung vollzogen, meint eine spürbare Gegen-wärtigkeit des Wahrnehmungsvollzugs, aber als solche keine The-matisierung der Wahrnehmungsleistung, ihrer Bedingungen oder Funktionen. Sie ergänzt die Bestimmung der Vollzugsorientierung ästhetischer Wahrnehmung; sie ist ein Aspekt der generellen Selbst-zweckhaftigkeit und gelegentlichen Selbstgenügsamkeit ästheti-schen Wahrnehmens.

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Wenn ich im Wechsel des Lichts der Verkehrsampeln anschauend verweile, verweile ich in meiner Fähigkeit des Sehens und bei einem bestimmten Phänomen, ich reflektiere nicht auf die Na tur des Se-hens, auf das Verhältnis der beteiligten Farben, auf die Möglichkeit eines von aller Sinnhaftigkeit abgelösten sinnlichen Vernehmens, usw. Natürl ich kann ich auch das tun; und natürlich gibt es nicht wenige ästhetische Objekte, die uns gerade hierzu verleiten: in un-serer Wahrnehmung auf allgemeine oder spezielle Bedingungen un-serer Wahrnehmung zu reflektieren. Generell jedoch ist zu sagen: Sowenig die ästhetische Wahrnehmung als solche bildlich (oder fingierend oder simulierend oder virtuell) verfaßt ist, sowenig ist sie als solche in irgendeinem strikten Sinn reflexiv. Ästhetische Auf-merksamkeit, so möchte ich festhalten, schließt lediglich ein nicht-reflexives - ein, wie man sagen könnte, »spürendes« - Bewußtsein der Aufmerksamkeit für das jeweils Wahrgenommene mit ein. Das schließt natürlich andererseits nicht aus, daß sie häufig zugleich bildlich und reflexiv und vieles Weitere ist.

Zumal die ästhetische Wahrnehmung der Kunst ist oft nicht bloß eine, der es im Wahrnehmen um den Vollzug dieser Wahrnehmung geht, sondern darüber hinaus eine, die sich thematisch auf Strukturen dieser Wahrnehmung bezieht - sei es auf Strukturen ästhetischer Wahrnehmung, sei es auf Strukturen von Wahrnehmung im allge-meinen. Die ästhetische Wahrnehmung wird hier zu einer Form der Wahrnehmung unserer Wahrnehmung - jedoch wiederum zu einer ästhetischen Form dieser Wahrnehmung, der es erneut um ein Ver-weilen in der Gegenwart einer reflexiven Anschauung eines Dings oder eines Raums geht. Hier soll nicht etwas über die Wahrnehmung herausgefunden werden (wie es auch ein Gestaltpsychologe ver-sucht, der sich einem Selbstexperiment unterzieht), hier wollen wir in einer Zeit der sinnlichen oder sinnengeleiteten Erkundung unseres Wahrnehmungsvermögens sein.

Bei der Raum-Inszenierung etwa, die Joseph Kossuth für die Documenta IX unter dem Titel Passagen-Werk. Documenta Flänerie eingerichtet hatte, steht dieser kunstreflexive Bezug im Vorder-grund. Kossuths Passagen führten durch zwei Gänge der Kasseler Neuen Galerie; die Exponate, die sich dort normalerweise befinden (vorwiegend Tafelbilder, aber auch einige Skulpturen von regionalen Künstlern vergangener Jahrhunderte), waren in dem einen Raum mit schwarzem, im anderen mit weißem Tuch vollständig verhängt; die Wände und Fensternischen des ersten Raums waren vollständig schwarz, die des zweiten vollständig weiß übermalt. Auf den Tu-

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ehern und Wänden des ersten Raums standen diverse Zitate in weißer Schrift, im andern Raum in schwarzer Schrift zu lesen. Bei den Zitaten handelte es sich um Aussprüche meist berühmter Auto-ren zu Fragen der Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie; Wittgen-stein und Benjamin waren am häufigsten vertreten. Wie Benjamins fragmentarisches Passagen-Werk führen Kossuths Passagen durch einen Raum von Zitaten, die den Zugang zu der Sache, um die es eigentlich gehen soll, zu verstellen scheinen. Das Werk ist sicher auch eine Metapher der Interpretationsabhängigkeit aller Kunst; vor al-lem aber ist es eine Thematisierung des künstlerischen Raums als eines, in dem keine Gegenstände zu sehen sind, sondern vielmehr Artefakte, deren ästhetische Präsenz erst durch die besondere Art ihrer räumlichen Gegenwart hervorgebracht wird. Für diese Gegen-wart ist ein Umsturz der Verhältnisse des Sichtbaren und des Un-sichtbaren, des Sinnlichen und des Unsinnlichen, des Wörtlichen und des Figürlichen, des Vertrauten und des Fremden bezeichnend. Kossuths Inszenierung stellt Bedingungen ästhetischer Wahrneh-mung zur Schau, und zwar so, daß sich eine Situation ergibt, in der wir uns in der Anschauung einer Grundsituation ästhetischer An-schauung aufhalten können.

Natürlich ist es bei Kunstwerken, bei denen man sich buchstäb-lich im Raum der Werke aufhalten kann, leicht zu zeigen, daß es der ästhetischen Wahrnehmung auch und gerade der Kunst immer um die Raum-Zeit ihrer Wahrnehmung geht. Deswegen sei noch ein literarisches Beispiel angesprochen, das zwar von einem Raum han-delt, jedoch ohne in irgendeinem Sinn selbst einer zu sein. Von Rolf Dieter Brinkmann gibt es eine ebenso grimmige wie heitere »Hymne auf einen italienischen Platz«, die folgendermaßen beginnt':

O Piazza Bologna in Rom! Banca Nationale Del Lavoro und Banco di Santo Spirito, Piazza Mozzarella Barbiere, Gomma Sport! Gipsi Boutique und Willi , Tavola Calda, Esso Servizio, Fiat, Gimnastica,

Estetica, Yoga, Sauna! O Bar Tabacci und Gelati, breite Hintern in Levi's Jeans, Brüste oder Titten, alles fest, eingeklemmt, Pasticeria, Marcelleria! O kleine Standlichter, Vini , Oli, Per Via Arena,

1 Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1&2. Gedichte, Reinbek 1975, S. 85.

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Eldora Steak, Tecnotica Caruso! O Profumeria Estivi, Chiuso Per Ferie Agosto, o Lidi a Di Firenze, Lady Wool! Cinestop! Grüner Bus! O Lini e 62 und 6, das Kleingeld! O Avanti grün! O wo? (...)

Br inkmann macht aus einer wahllosen Aufzählung des auf der Piaz-za Bologna Vorhandenen eine Orgie der kontemplativen Aufmerk-samkeit, der alles gleich beachtenswert erscheint. Diese kontempla-tive Aufmerksamkeit verlangt das Gedicht aber auch von seinen Lesern. Wir sollen uns nicht nur vorstellen, wie es inmitten dieses Platzes ist, sondern das Gedicht in seiner ganz realen Fülle - in der Fülle seiner Klänge und Gesten nämlich - vernehmen: wir sind aufgefordert, uns dem Sound und der Choreographie dieses Wort-gemischs zu überlassen, und zwar durchaus auf Kosten des Sinns der verwendeten Wörter (soweit wir dieses Sinnes überhaupt mächtig sind). Der »Raum« der ästhetischen Wahrnehmung ist hier einerseits der vom Gedicht bezeichnete, für den Leser imaginäre, ihm uner-reichbare Raum, andererseits der Raum der Tätigkeit seines mit dem Gedicht mitgehenden, von allen pragmatischen Geschäften abge-wandten Lesens: jener metaphorische Raum, in dem sich das Lesen als Begegnung mit dem Sinn und dem Sound, der Bildlichkeit und der Materialität des Textes vollzieht, einem ästhetischen Raum, den der Leser im Geiste nur betreten kann, wenn er sich auch somatisch von ihm eingenommen fühlt.

N un ist der imaginäre Raum, den das Gedicht unter den Augen des Lesers evoziert, in Wirklichkeit ein durchaus realer Raum - wie im Text angegeben, ist die Rede von der (durchaus unschönen) Piazza Bologna in Rom, bei dem die Vill a Massimo liegt, deren Stipendiat Brinkmann 1972 bis 1973 war. Fingiert ist hier nichts. Der Or t, auf den der Titel des Gedichts verweist, ist - ganz wie unsere imaginäre Kreuzung - ein sehr alltäglicher Or t, ein Ort vielfacher pragmatischer Geschäfte und doch - und zwar in der Wirklichkeit wie im Gedicht - weit mehr als das, nämlich jederzeit ein möglicher ästhetischer Raum. Wie nah dies beides - die Benutzung eines Raums und die Begegnung mit einem Raum, wie schön oder unschön er auch sei - aber auch beieinander liegen mag, es handelt sich um zwei recht verschiedene Dinge. Der Aufenthalt in einem solchen Raum ist einmal durch Wahrnehmungen geleitet, die uns zu unseren Zielen führen, das andere Mal durch Wahrnehmungen, die wir um ihres Vollzugs willen vollziehen.

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3. Schluß

Entsprechend sollten die Fragmente zu einer Phänomenologie der ästhetischen Wahrnehmung, die ich zusammengetragen habe, einige Unterschiede zwischen nichtästhetischer und ästhetischer Wahrneh-mung deutlich werden lassen. Geht es der einen vorwiegend um die Ziele eines jeweiligen Handelns, dabei oft auch um das, was jeweils wahrgenommen wird, so geht es der andern außerdem um den Vollzug dieser Wahrnehmung, und zwar so, daß dieser zu einem dominanten Zweck der Wahrnehmung wird. Ästhetisch ist eine Wahrnehmung zu nennen, bei der es gleichermaßen um die Wahr-nehmung und das jeweils Wahrgenommene selbst geht. Das kann ich jetzt auch einfach so ausdrücken: Ästhetisch ist eine Wahrnehmung, bei der es um den Zeit-Raum dieser Wahrnehmung geht. Eine solche Wahrnehmung aber eröffnet eine besondere Zeit und einen besonde-ren Raum wahrnehmender Tätigkeit, die uns, auf sehr verschieden-artige Weise, in einen Zustand erfüllter Freiheit gegenüber unseren pragmatischen Orientierungen versetzt. Die Untersuchung dieses besonderen Spielraums der Wahrnehmung - und somit dieses beson-deren Spielraums ästhetischer Freiheit - ist das spezielle Thema einer philosophischen Ästhetik. Die Ästhetik untersucht eine bestimmte Form der Wahrnehmung, in der uns eine bestimmte Form der Frei-heit zugänglich ist.1

Das Projekt einer Aisthetik hingegen, so hatten wir gesehen, steht unter einem sehr viel weitergehenden Anspruch; es möchte keine speziellen, es möchte generelle Bedingungen menschlicher Wahrneh-mung, sei es überhaupt oder nur für eine bestimmte Epoche unter-suchen. Läßt man die spezielle philosophische Disziplin der Ästhe-tik in dieser viel allgemeineren Aisthetik untergehen, so verliert man jeden Begriff des Sinns jener besonderen, uns als »ästhetisch« ver-trauten Wahrnehmungstätigkeiten, über die ich hier gesprochen habe. Daher sollten wir dem postmodernen Denken, das sich so gern als Anwalt des Besonderen aufspielt, bei der Unterwerfung der Ästhetik unter das Projekt einer allgemeinen Aisthetik nicht folgen.

1 Zum Thema ästhetischer Freiheit vgl. Verf., Eine Ästhetik der Natur, a. a. O., bes. S. 197 u. 295ff.

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WOLFGANG WELSCH

Erweiterungen der Ästhetik

Eine Replik

D ie Veranstalter der Tagung »Bild und Reflexion« und die Her-ausgeber des vorliegenden Sammelbandes haben mich freund-

licherweise gebeten, eine Replik auf die Darlegungen von Martin Seel zu schreiben. Ich folge dieser Aufforderung umso lieber, als ich an der Tagung selbst nicht teilnehmen konnte und daher keine Gelegenheit zur direkten Erwiderung hatte. Im folgenden werde ich mich in zwei Teilen mit Seels Auffassung und Kriti k meiner Position auseinandersetzen. Der erste Teil behandelt das Verhältnis von Äs-thetik und Aisthetik, der zweite meinen Vorschlag einer epistemo-logischen Erweiterung der Ästhetik. Beide Themen gehören zum Pensum einer »Ästhetik außerhalb der Ästhetik«.

I. Ästhetik und Aisthetik

1. Schritt zur Aisthetik?

Ich beginne mit dem Bericht über eine Verwunderung. Vor einiger Zeit las ich von Martin Seel den Satz: »>Ästhetik< heißt soviel wie Wahrnehmungslehre.«' Eine solche Begriffsbestimmung von Ästhe-tik ist ziemlich ungewöhnlich. Üblicherweise wird unter dem Stich-wort >Ästhetik< nicht von Wahrnehmung, sondern vom Schönen und von der Kunst gesprochen. Sie sollen den definitorischen Gehalt der wissenschaftlichen Disziplin namens Ästhetik bilden. Das ist die Standardauffassung der Lexika und Handbücher. Beispielsweise be-ginnt im Historischen Wörterbuch der Philosophie der Artikel »Äs-thetik, ästhetisch« mit dem Satz: »Das Wort >Ästhetik< hat sich als Titel des Zweiges der Philosophie eingebürgert, in dem sie sich den Künsten und dem Schönen in der Allgemeinheit zuwendet, daß die

1 Martin Seel, Das gute Leben. Ästhetik als Teil einer differenzierten Ethik, in: Frank-furter Rundschau, 16. Juni 1992, Nr. 138, S. 18.

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4° WOLFGANG WELSCH

Künste in ihrer gegenwärtigen Gestalt und in ihrer europäischen und außereuropäischen Geschichte gleicherweise als ästhetischer Gegen-stand und die begleitenden Theorien Piatons oder Plotins, des Mit -telalters oder Kants, Schellings und Hegels als ästhetische Theorien gelten.«' Ähnlich vermerkt das Historische Wörterbuch der Rheto-rik, daß >Ästhetik< »im 18. Jh. als Theorie des Schönen und der Künste terminologisch vereinbart« wurde.2 Einer der Veranstalter der oben genannten Tagung, Lambert Wiesing, erklärt lapidar: »Äs-thetik ist die Lehre vom Schönen und von der Kunst.«3

Diese Standard-Definition und -Auffassung von Ästhetik habe ich seit Jahren infragezustellen versucht. Ich habe für eine Akzent-verschiebung in Richtung Wahrnehmung plädiert. Die Ästhetik solle - statt der Kunst - die Wahrnehmung, sie solle die aisthesis zum Fokus nehmen, solle sich von einer Artistik zu einer Aisthetik wandeln. Anders gesagt: Die Ästhetik hätte die ihr einerseits histo-risch tief eingeschriebene, andererseits aber gerade für eine Ästhetik paradoxe Tendenz zur Diskreditierung des Sinnlichen abzulegen und stattdessen den in Projekt und Titel der >Ästhetik< ursprünglich angezielten Bezug auf die Sinne und die Wahrnehmung wiederzuge-winnen.4,5 Infolge dieser Veränderung würde sie dann auch den

1 An. Ästhetik, ästhetisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joa-chim Ritter, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 555-580, hier Sp. 555.

2 Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1134-1154, hier Sp. 1134.

3 Philosophische Ästhetik, ausgewählt und kommentiert von Lambert Wiesing, Mün-ster 1992, S. IV.

4 Baumgarten hatte im ursprünglichen Konzept von Ästhetik Eigenansprüche des Sinnlichen zur Geltung bringen wollen, aber schon sein Schüler und Popularisator Meier machte aus der von Baumgarten in ästhetik-defensorischer Absicht erwähn-ten »Herrschaft über die Sinne«, die ausdrücklich nicht eine »Tyrannis« gegenüber den Sinnen inszenieren sollte, das Programm einer Unterwerfung der Sinne (vgl. Alexander Gottheb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt a.d. Oder 1750, § 12). Meier unterstrich, daß man sich »bei der ganzen Ausbesserung der untern Begehrungs-kraft [...] wohl in Acht nehmen« müsse, »daß sie nicht gar zu stark werde. Sonst fallen wir in den viehischen Zustand, und in die moralische Sklaverei« (vgl. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle a. d. Saale 1748 (Teil I), 1749 (Teil II) , 1750 (Teil III) , Nachdr, 3 Bde., Hildesheim 1976, hier Bd. 2, § 540, S. 654). Meier bezeichnet »die sinnlichen Erkenntniskräfte« - die doch ei-gentlich das Kapital der neuen Ästhetik darstellen-als den »Pöbel der Seele« (ebd., Bd. 1, § 219, S. 516), und er dekretiert: »Die Sinne müssen, von Rechts wegen, Sklaven der Vernunft sein« (ebd., Bd. 2, § 341, S. 176). Bei Schiller ist dann - trotz allen sinnenfreundlichen Anscheins - der anti-sinnliche Affekt der traditionellen Ästhetik voll zu erkennen. Namens der Ästhetik wird geradezu eine Kriegsstrategie gegen die Sinne inszeniert. Schiller fordert am Ende der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, daß »die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer

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klassischen Themen des Schönen und der Kunst besser gerecht werden können, als dies bei einer Beschränkung ihres Blicks nur auf diese Sphären möglich sei. Zudem werde sie auf diese Weise instand-gesetzt, mehr zur Gegenwartsverständigung beizutragen. Ich habe diesen Vorschlag, den Akzent der Ästhetik von der Artistik zur

eigenen Grenzen gebrochen« werde (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erzie-hung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fncke und Herbert G. Göpfert, München 1980, S. 570-669, hier 23. Brief, S. 624). Er stellt die Sinnlichkeit als »furchtbaren Feind« hin, gegen den es zu »fechten« gelte; man müsse »den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen« (a. a. O., 23. Brief, S. 645); »das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters« bestehe gerade dann, »daß er den Stoff durch die Form vertilgt« (a. a. O., 22. Brief, S. 639). Entsprechend lobt Schiller den mechanischen wie den schönen Künstler ausdrücklich dafür, daß sie »kein Bedenken« tragen, der Materie »Gewalt anzutun« (a. a. O, 4. Brief, S. 578). - Von da an wird die Tilgung des Primärsinn-lichen zur Heerstraße der Ästhetik. So bezeichnet Schelling es als "roh, die bloß sinnlichen Rührungen, sinnlichen Affekter, oder sinnliches Wohlgefallen, welche Kunstwerke erwecken, für Wirkungen der Kunst als solche zu halten« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 2). Und Hegel sagt, »daß das Sinnliche im Kunstwerk freilich vorhanden sein müsse, aber nur als Oberfläche und Schein des Sinnlichen erscheinen dürfe« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, 2 Bde., Frankfurt a.M. o. J., Bd. 1, S. 48). Die Kunst bringe »von Seiten des Sinnlichen her absichtlich nur eine Schattenwelt von Gestalten, Tönen und Anschauungen hervor« (a. a. O., S. 49). Dilthey erklärt: »Ästhetik und Kunstkritik haben kein wichtigeres, ja heiligeres Amt, als Wache zu halten und die brutalen, durch die direkte Beziehung auf den Zuhörer wirksamen Gefühls- und Sinneseffekte als solche zu kennzeichnen und zu bekämpfen.« (Wil -helm Dilthey, Die drei Epochen der Ästhetik und ihre heutige Aufgabe, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Leipzig 1924, S. 242-287, hier S. 263) Noch bei Ador-no heißt es: »Das Rohe, subjektiver Kern des Bösen, wird von Kunst, der das Ideal des Durchgeformten unabdingbar ist, a priori negiert.« (Theodor W Adorno, Äs-thetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1984, S. 344) Vgl. zu diesem Komplex ausführlicher: Verf., Ästhet/hik - Ethische Implika-tionen und Konsequenzen der Ästhetik, in: Ethik der Ästhetik, hg. von Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 1994, S. 3-22.

5 Terminologisch konnte ich mich für diesen Vorschlag darauf berufen, daß der Be-zug auf die Sinne und die Wahrnehmung der Ästhetik namentlich eingeschrieben ist. Baumgarten, ihr Begründer, hatte unter >Ästhetik< die Wissenschaft davon ver-standen, »wie etwas sensitiv zu erkennen ist« (Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, Halle 1735, zit. nach d. Ausg. Hamburg 1983, § CXV, S. 85; ähnlich definiert Baumgarten in der 1750 in Frankfurt a.d. Oder erschienenen Aesthetica die Ästhetik als »Wissen-schaft vom sinnenhaften Erkennen«, § 1). Eben deswegen gab er ihr auch den Na-men >Ästhetik<, denn dieser Ausdruck ist die Kurzform von episteme aisthctikc, was eben »Wissenschaft vom Sinnenhaften« bedeutet (Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, a. a. O., § CXVI , S. 87).

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4^ WOLFGANG WELSCH

Aisthetik zu verlagern, erstmals 1987 unterbreitet und dann 1990 ausgearbeitet.'

Wenn Martin Seel 1992, wie eingangs zitiert, Ästhetik umstands-los als »Wahrnehmungslehre« bestimmte, so scheint er auf meine Linie eingeschwenkt zu sein, scheint meinen Veränderungsvorschlag überzeugend gefunden zu haben. Um so größer ist die Verwunde-rung, daß Seel ein Jahr später - in dem Vortrag, der dem hier abgedruckten Aufsatz zugrundeliegt - meinen Ansatz gerade von dieser Neuakzentuierung aus anzugreifen gedenkt. Wo liegen seine Einwände?

2. Eindeutige Abgrenzbarkeit zwischen ästhetischer und nicht-äs-thetischer Wahrnehmung?

Seels erster Typ von Einwänden betrifft das Verhältnis von Ästhetik und Aisthetik. Seel hat eine klare Auffassung von diesem Verhältnis. Die Aisthetik hat es ihm zufolge mit der menschlichen Wahrneh-mung überhaupt zu tun. Die Ästhetik hingegen soll ausschließlich von einem spezifischen Wahrnehmungstyp handeln: von dem, was Seel als »ästhetische Wahrnehmung« bezeichnet. Dieser Verhältnis-bestimmung von Ästhetik und Aisthetik liegt die Annahme zugrun-de, daß ästhetische und nicht-ästhetische Wahrnehmung eindeutig unterscheidbar seien. Seel meint sogar, daß die Ästhetik ihre »genui-nen Aufgaben« nur unter dieser Voraussetzung erfüllen könne. Sie muß ihm zufolge in der Lage sein, »den Unterschied zwischen ästheti-scher und nicht-ästhetischer Wahrnehmung und Wirklichkeit ein-deutig zu bestimmen«. Das soll ihre zentrale Voraussetzung bilden.

Natürlich ist ein solches Konzept nur dann haltbar, wenn der genannte Unterschied tatsächlich eindeutig bestimmbar ist. Ich wer-de im folgenden jedoch zu zeigen versuchen, daß dies eine irrige Annahme ist. Eine eindeutige Abgrenzung ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrnehmung ist sinnvoll gar nicht möglich. Damit scheitert Seels Vorhaben seinen eigenen Prämissen zufolge.

1 Vgl. Verf., Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987; ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990. - Martin Seel kritisiert in seinem Beitrag auch eine Publikation von 1990, die den gleichen Obertitel trägt wie mein Buch von 1987: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck / Peter Gente / Heidi Paris / Stefan Richter, Leipzig 1990. Mi t dieser Publikation haben meine Vorschläge allerdings nichts zu tun. Man sollte sie damit auch nicht verwechseln.

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a. Pars pro toto - Monotypie und Generalismus

Seel beschreibt ein bestimmtes ästhetisches Verhalten, das er durch Vollzugsorientiertheit und Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet sieht. Es handelt sich um den ästhetischenTypus der Kontemplat ion. Diesen Typus beschreibt Seel zutreffend. Klassische Best immungen beispielsweise der phänomenologischen Ästhetik werden von ihm in analytischer Sprache erneuert.

Dann begeht Seel jedoch einen logischen Fehler. Er tut so, als sei der genannte Typus ästhetischen Verhaltens der einzige — oder der einzig legitime - T y p us ästhetischen Verhaltens. Davon scheint Seel so sehr überzeugt zu sein, daß er diese Unterstel lung nicht einmal weiter erläutert oder begründet. Er glaubt sich jeder Argumenta-tionspflicht für die ästhetische Prototypik der kontemplativen Ein-stellung enthoben. Andere Typen ästhetischen Verhaltens erfahren gar keine Diskussion. Seel vertritt einen ästhetischen Monismus. Dieser bildet die unausgesprochene Basis für Seels Polemik gegen andere Ansätze.

Robert Musil hat die Misere der Ästhetik einmal folgendermaßen beschrieben: »Die wissenschaftliche Ästhetik sucht nach dem Un i-versalziegel, aus dem sich das Gebäude der Ästhetik errichten ließe.«1 An dieses traditionelle Verfahren erinnert Seels Vorgehen erneut. Schon Musil führte gegen diese Versuche einer Universalzie-gelei die begriffliche Komplexität und soziale Bestimmtheit der ästhetischen Verhältnisse ins Feld. Damit komme ich zum nächsten Punkt.

Folgt man Seel, so ist, was das Ästhetische angeht, keinerlei historische, kulturelle oder soziale Differenzierung und Reflexion nötig. Das eigentl ich Ästhetische< ist immer dasselbe. Seel glaubt es auf den Begriff gebracht zu haben. Diesen ahistorischen Generalis-mus zu bemerken, heißt freilich schon, seine Unhaltbarkeit zu er-kennen. In anderen Zusammenhängen warnt Seel polemisch vor Differcnzierungsverlusten - er hat allen Anlaß, von seiner eigenen Homogenisierung abzulenken.

1 Robert Musil, Tagebücher, hg. von Adolf Frise, Reinbek 1976, S. 449. Die Notiz stammt etwa aus dem Jahr 1920.

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b. Ästhetik und Aisthetik - eindeutiger Unterschied oder Verflech-tungen?

aa. Absetzungsbedürfnis

Seel bestimmt die Ästhetik als »Teilgebiet« der Aisthetik. Von daher räumt er ein, daß die Forderung nach einer Öffnung der Ästhetik in Richtung Aisthetik »nicht ganz verkehrt« ist. Man kann, wenn es sich bei der Ästhetik um ein Teilgebiet der Aisthetik handelt, von Ästhetik eben gar nicht zureichend sprechen, ohne zugleich auf die Aisthetik einzugehen. Zumindest muß man das Verhältnis der bei-den klären. Seel bestimmt dieses Verhältnis allerdings in einer Weise, die jedes weitere Eingehen auf die Aisthetik überflüssig machen soll. Er wil l ausschließlich eine scharfe Abgrenzung, eine »eindeutige« Bestimmung »des Unterschieds zwischen ästhetischer und nicht-äs-thetischer Wahrnehmung« erreichen. Im übrigen wird die Aisthetik dann ohne jegliche Relevanz für die Ästhetik sein. Konsequent findet sich bei Seel kein einziger Hinweis, wie irgendein Beitrag der Ais-thetik innerhalb der Ästhetik fruchtbar gemacht werden könnte. Eine scharfe Dist inktion zwischen Ästhetik und Aisthetik - das ist alles, was es Seel zufolge in aestheticis braucht. Fortan wird die Ästhetik, nachdem sie die anscheinend bedrohliche Aisthetik losge-worden ist, von dieser ungestört den sicheren Weg der Kontempla-tion gehen können. Seel trägt seine ästhetiktheoretische Abgren-zungsstrategic sogar in das Phänomen ästhetischer Wahrnehmung selbst hinein: »Ästhetische Wahrnehmung«, behauptet er, »hat ihren ganzen Sinn darin, sich von anderen Wahrnehmungsweisen abzuhe-ben«.

Seel eskamotiert somit systematisch alle Verflechtungen, Implika-tionen, Durchdr ingungen, Analogien und Wechselwirkungen zwi-schen Ästhetik und Aisthetik. Das logische Design des Verhältnisses von Ästhetik und Aisthetik ist bei ihm nicht nur völli g statisch, immergleich und unmodifizierbar, sondern auch so simpel wie mög-lich angesetzt: Es soll nur um Abgrenzung, um eindeutige Unter-scheidung gehen - um sonst gar nichts. Seel erwägt weder eine positive noch eine produktive Lesart des Verhältnisses von Ästhetik und Aisthetik. Theoretisch gibt er zwar zu, daß die Ästhetik ohne Bezugnahme auf die Aisthetik nicht recht zu fassen ist, aber prak-tisch wil l er diesen Bezug ausschließlich abgrenzend und in keiner Weise einflußnehmend ansetzen. Er wil l die Ästhetik von der Ais-thetik schlicht freihalten.

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ERWEITERUNGEN DER ÄSTHETIK 45

bb. Abhängigkeits- und Durchdringungsverhältnisse

Andererseits ist aber selbst bei den von Seel vorgeschlagenen Bestim-mungen der Vollzugsorientiertheit und Selbstbezüglichkeit offen-kundig, daß sie nur innerhalb eines Verhaltensprofils Sinn machen, zu dem auch andere Verhaltensweisen, etwa solche der Aktivität, Zielorientierung und Fremdbezogenheit gehören. Anders gesagt: Ihr Sinn ist konstellativ, nicht autonom bestimmt. Seel ignoriert jedoch den konstellativen Charakter noch dessen, was er allein als ästhetische Wahrnehmung< gelten lassen möchte. Er tut so, als sei die ästhetische Wahrnehmung völlig autonom zu verstehen. Er ver-sucht, eine Ästhetik auf einem vor-Saussureschen Reflexionsniveau zu etablieren.

De facto jedoch hat der Bezug zwischen Ästhetischem und Ais-thetischem viele Formen - keineswegs nur die der Abgrenzung. Das Ästhetische bestimmt sich geradezu in spezifischer Konstellation und Verflechtung mit nicht bloß ästhetischen, sondern aisthetischen Bestimmungsstücken (und dies noch einmal auf vielfältige Art). Meine These geht dahin, daß derartige Konstellationen zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen nicht bloß zur Dy-namik des Ästhetischen gehören, sondern geradezu dessen spezifi-schen Sinn ausmachen. Deshalb muß man sich gerade in ästhetischer Perspektive auf die Konstellationen zwischen dem Ästhetischen und dem Aisthetischen einlassen, muß die wechselseitigen Affektionen, Reinterpretationen und Durchdringungen zwischen ihnen beach-ten. Seels Trennungsansatz ist nicht nur steril, sondern unterkomplex und phänomenfremd.

3. Das Ästhetische - eine jeweils spezifische Konstellation und Inter-pretation des ästhetisch-aisthetischen Feldes im ganzen

Ästhetische Vollzüge - so meine Leitthese im folgenden und der Hauptunterschied zu Seels Auffassung - gewinnen innerhalb diver-ser ästhetisch-aisthetischer Verhaltungen Kontur und Bedeutung. Sie sind jeweils durch eine spezifische Konstellation unterschiedli-cher Vollzugsformen gekennzeichnet, und sie thematisieren und modifizieren dabei jeweils das Feld des Ästhetischen. Diese Auffas-sung will ich anhand einiger Beispiele und Hinweise erläutern. Zwar kann dies im Rahmen dieses Beitrages nicht mit der • wünschenswer-ten Ausführlichkeit geschehen, aber die Andeutungen dürften genü-gen, um den Skopus deutlich werden zu lassen.

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4<S WOLFGANG WELSCH

a. Kunstwahrnehmung ist poly-aisthetisch - nicht monotypisch-kontemplativ

Gehen wir von zweifelsfrei ästhetischen Phänomenen, von Beispie-len der Kunst aus. Gerade hier vermag deutlich zu werden, mit welchen Einschränkungen Seels Auffassung operiert. Denn zwar gehört der kontemplative Wahrnehmungstypus ohne Zweifel zur Erfahrung von Kunst, aber er ist keineswegs der einzige hier rele-vante Wahrnehmungstypus, und schon gar nicht ist er in jedem Fall der ausschlaggebende. Die Beschränkung auf ihn würde die Kunst-erfahrung von vornherein reduzieren, homogenisieren und verfäl-schen.

aa. Beispiele der bildenden Kunst

Nehmen wir als erstes Beispiel Goyas Erschießung der Aufständi-schen von 1815.' Dieses Bild kann und wil l nicht einfachhin ästhe-tisch-kontemplativ rezipiert werden. Es bietet nicht nur eine erre-gende Farbdynamik und kompositorische Innovationen, sondern es leistet zugleich die Interpretation eines historischen Ereignisses, und sein ästhetischer Impuls intendiert ein bestimmtes Verständnis des Dargestellten und dient darüber hinaus der Erweckung einer neuar-tigen Einstellung zu Phänomenen der gezeigten Art. Die Explosion im Bild zielt auf die Beendigung solchen Tuns und bringt dabei zugleich das Verfahren bloß ästhetischer Darstellung und Rezeption zur Explosion. Das Bild soll nicht einfach als Bild, es soll nicht bloß kontemplativ-ästhetisch wahrgenommen werden, sondern es soll in der Vielzahl seiner Wahrnehmungsdimensionen erfaßt werden. Die komplexe Wahrnehmung durchbricht den Kontemplations-Kokon, überschreitet ihn auf Verständigungs- und Lebenskontexte hin. So wird das Bild letztlich zum Fanal: Dergleichen wie diese Erschie-ßung soll nicht mehr sein, dieses Handlungsmuster soll durchbro-chen werden.2

In der Wahrnehmung dieses Werkes sind mehrere Wahrneh-mungsweisen verkreuzt: die konstatierende des Bildes und seines künstlerisch-ästhetischen Arrangements, die expressive seiner Dy-

1 Francesco Goya, Die Erschießungen vom 3. Mai 1808 im Manzanares-Tal, 1815, Madrid, Prado.

2 Antifaschistische Demonstranten führten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhun-derts in Paris Transparente mit, auf die sie das Bild kopiert hatten. Es überschritt die Museumsschwelle nicht bloß metaphorisch.

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namik, die historische des Ereignisses vom 3. Mai 1808, die ge-schichtliche eines schrecklichen Handlungsmusters, die appellative künftiger Intervention und Unterbindung. - Goya hat gerade gegen die Reduktion aufs bloß Kontemplative angemalt.

Ein Anhänger der Seeischen Auffassung könnte vielleicht einwen-den: Sicherlich sind hier mehrere Wahrnehmungsweisen im Spiel, aber darunter ist eben nur eine die spezifisch ästhetische, und aus-schließlich von ihr ist in aestheticis zu handeln. Diese Argumentation käme jedoch einem Offenbarungseid gleich. Man würde zugeben, daß durch diese >ästhetische< Einengung nicht einmal die Kunst, sondern allenfalls ein Moment an ihr verstanden werden kann. Die Ästhetik, die sich auf ein so verstandenes >Ästhetisches< eingrenzte, würde sich selbst als Schmalspur-Ästhetik zu erkennen geben.

Eine weitere, für die ästhetische Beurteilung oftmals wichtige Wahrnehmungsdimension wird deutlich, wenn man Manets Bild Die Erschießung Maximilians von 1868 hinzunimmt, das offenkun-dig Goyas Werk zur ästhetischen Folie hat.1 Die Wahrnehmung des Bildes von Manet schließt die von Goyas Vorbild ein. Die Wahrneh-mung muß hier interikonisch sein, andernfalls wäre sie schlicht defizient. Wieder zeigt sich, wie wenig >Vollzugsorientiertheit< und >Selbstbezüglichkeit< für sich allein schon ausreichend sind. Der interikonische Bezug gehört zur Komplexität von Manets Bild (und in gewissem Sinn aller Bilder). Zusätzlich zur schon genannten Palette von Wahrnehmungsvollzügen ist eine bildhistorische bzw. interikonische Wahrnehmung erforderlich.

Wählen wir als weiteres Beispiel Marcel Duchamps Mona-Lisa-Parodie L.H.O.O.Q. von 1919. Die interikonische Struktur liegt auf der Hand. Zusätzlich gilt es eine semantische Dimension zu erfassen: Die Buchstabenfolge des Titels ist als »eile a chaud au cul« zu lesen - »der Dame ist heiß unter dem Hintern«. Wie lächerlich wäre da der Rückzug auf bloße Kontemplation. Man muß, um ein solches Bild zu begreifen, nicht nur sehen, sondern auch wissen, ahnen, erschließ-en. Mit >Vollzugsorientiertheit< und >Selbstbezüglichkeit< allein ist hier nichts getan. Reflexion ist wichtiger als Kontemplation.

Umgekehrt kann man hier schon die Gefahr ahnen, die droht, wenn jemand auch angesichts solcher Werke an Kontemplation als einzig legitimer ästhetischer Haltung festhalten und sie zum Gene-ralkriterium machen möchte. Dann ist Beckmessertum nahe und Zensur nicht weit. Was sich dem bloß kontemplativen Zugriff nicht

1 Edouard Manet, Die Erschießung Maximilians, 1868, Kunsthalle Mannheim.

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erschließt, wird dann eben bemäkelt, denunziert und ausgeschieden: »Das ist doch keine Kunst mehr«, wird man sagen, oder daß es sich »allenfalls um eine Randerscheinung« handle, die »der Beachtung nicht wert« sei.

Zusammengefaßt: Werke der Kunst überschreiten die bloß kon-templative Dimension; geschichtliche Wahrnehmungsdimensionen gehören ihnen ebenso zu wie gesellschaftliche, alltägliche, politische Dimensionen. Nicht, daß in jedem Bild die vollständige Palette dieser und weiterer Wahrnehmungsweisen im Spiel sein müßte, aber stets sind einige, sind mehrere dieser Wahrnehmungsweisen beteiligt - und nicht nur die vorgeblich allein ästhetisch zu nennende Weise der Kontemplation.' Die Werke intervenieren in unserem Verstän-digungshaushalt, und sie bringen andere ästhetische Gebilde und Paradigmen ins Spiel.

bb. Beispiele der Musik

Ähnliches zeigt sich in der Musik. In manchen Fugen Bachs ist Erlösung geradezu zu hören. Man kann auch leicht die innermusi-kalische Voraussetzung dafür angeben: Jede Auflösung dissonanter Spannung bietet die Möglichkeit, bis zur Erlösung entwickelt zu werden. Wil l man nun etwa - weil ausschließlich >Vollzugsorientiert-heit< und >Selbstbezüglichkeit< zugelassen sein sollen - dort, wo Musik Erlösung nicht bloß thematisiert (>darstellt<), sondern im Werk wirklic h werden läßt, rügend einwenden, die Musik sei dabei in Transästhetisches abgeglitten und müsse im Gegenzug dazu aufs Rein-Ästhetische zurückgestutzt werden? Derlei Beckmesserei gin-ge wohl jedem zu weit. Bach hat Musik schaffen, nicht eine reduk-tionistische ästhetische Theorie befolgen wollen.

In Mozarts Hochzeit des Figaro gibt es eine Szene, wo der Graf Almaviva voll eifersüchtigen Mißtrauens an die Tür der Gräfin klopft. Auf diese menschliche Niedrigkeit läßt sich die Musik aber in keiner Weise ein. Dadurch macht sie im Gegensatz deutlich: Die Gesellschaft ist ein Ensemble von Betrügern und Betrogenen; hin-gegen liegen Wahrheit, Würde und Menschlichkeit allein in der Musik. Man kann diese strahlende Souveränität der Musik jedoch ganz nur hören, wenn man sie im Gegenhalt zum szenischen Vor-

1 Auch wo Seel über die reine Kontemplation hinausgehen möchte, verbleibt er -aufgrund seiner Leitbestimmungen der Vollzugsorientiertheit und der Selbstbe-züglichkeit - innerhalb von deren Horizont.

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gang wahrnimmt. Intangibel kritisiert die Musik das, wovon sie intangibel ist. Es braucht diese Doppelwahrnehmung - und nicht ein bloß kontemplatives Hören der Musik -, um die Überlegenheit und Reinheit der Musik wahrnehmen zu können.

Adorno hat in bezug auf Beethoven die unabweisbare Doppel-struktur der Kunst herausgestellt: »Daß einer Beethovensymphonie so wenig jemand gewachsen ist, der nicht die sogenannten rein-mu-sikalischen Vorgänge in ihr versteht, wie einer, der nicht das Echo der Französischen Revolution darin wahrnimmt; und wie beide Momente im Phänomen sich vermitteln, rechnet zu den [...] unab-weisbaren Themen philosophischer Ästhetik.«' In diesem Sinn be-tonte Adorno, daß »ästhetische Erfahrung [...] sich selbst überschrei-ten« müsse.2 Damit ist in nuce bezeichnet, worauf ich hier insgesamt hinweisen will : Das Ästhetische bedarf auch des Transästhetischen, und für das einzelne ästhetische Phänomen ist entscheidend, wie in ihm beides zueinander gebracht ist.

cc. Verflechtungen zwischen Kunst und Realität

Gewiß ist die Grenze zwischen Kunst und Realität nicht einfach niederzulegen, aber noch weniger sind die Verflechtungen und Übergänge beider zu ignorieren. Man kann die Energie der Werke nicht an deren Rahmen oder an der Museumsschwelle oder mit dem Moment ihrer Betrachtung enden lassen. Die Kraft der Werke reicht weiter. Sie vermögen uns Welt zu zeigen - nicht nur in der Weise der Darstellung, sondern vor allem, indem sie neue Sichten der Welt generieren. Zu den Schlüsselerfahrungen mit Kunst (und umgekehrt zu den Tests, ob jemand der Kunst tatsächlich Wirksamkeit zuer-kennt oder sie bannen will , indem er Lobreden auf ihre Autonomie hält) gehört die Tatsache, daß man, eine Ausstellung verlassend, plötzlich die Welt mit den Augen des Künstlers, durch die Optik seiner Arbeiten, im Licht seiner Ästhetik wahrnehmen kann. Schon Goethe hat dies beschrieben und gewürdigt. Beim Betreten einer Schusterwerkstatt glaubte er plötzlich ein Bild von Ostade vor sich zu sehen, »so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. [...] Es war das erste Mal, daß ich auf einen so hohen Grad die Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Be-

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 41984,S. 519.

2 Ebd.

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wußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen, dessen Werken ich soeben eine besondere Auf-merksamkeit gewidmet hatte. Diese Fähigkeit hat mir viel Genuß gewährt.«1

Dies ist geradezu das natürliche und unverbildete Verhalten: daß man die Wahrnehmungsform der Kunst auch zur Wahrnehmung von Wirklichkeit einsetzt, daß man sich gegen die Wirksamkeit künstle-rischer Optiken nicht sperrt, sondern ihr Raum gibt und zu folgen bereit ist, daß man mit ihr operiert und experimentiert. Die ästheti-sche Elementarerfahrung ist nicht, daß die Kunst etwas Geschlosse-nes ist, sondern daß sie einem die Augen für ungewohnte Sichten der Welt aufzuschlagen vermag. Was Künstlerinnen entwickeln, sind spezifische und intensive Op t i ken -oder Akustiken, generell: Wahr-nchmungsversionen -, die auf die Wirklichkeit anwendbar sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn die künstlerischen Wahrnehmun-gen sind ihrerseits schon in Kontakt und Auseinandersetzung mit lebensweltlicher sowie anderer künstlerischer Wahrnehmung ent-wickelt worden, daher vermögen sie dann auch im Raum unserer Erfahrungen zu intervenieren und das ästhetische Geflecht unserer Welt neu zu konstelliercn. Man sollte sich nur nicht durch theoreti-sche Restriktionen für diese Ausgriffe blind machen lassen.

Adorno - der gewiß wie kaum ein anderer um die Bedeutung von Autonomie wußte und sie verteidigte - hat die Verflechtungen zwi-schen Kunst und Realität einmal unterstrichen, als er gegen die bloße Autonomie und Kontemplation Stellung bezog: »Wie sehr [die] Innervationen von Kunst mit ihrer Stellung in der Realität verwach-sen sind, war während der ersten Nachkriegsjahre in zerbombten deutschen Städten zu fühlen. Angesichts des leibhaften Chaos lockte jäh die optische Ordnung noch einmal als segensreich, die das ästhe-tische Sensorium längst von sich gewiesen hatte.«2 Auch wenn sich Ordnung für das ästhetische Sensorium längst als Synonym für Zweckrationalität entpuppt hatte, konnte doch eine zerstörte Ord-nung (selbst wenn diese Zerstörung sich solcher Zweckrationalität verdankte) die ästhetische Sehnsucht nach Ordnung wieder wachru-fen. Die anscheinend rein-ästhetische Wahrnehmung - das macht Adorno klar - ist eklatant kontrastbedingt.3

1 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, II . Teil, 8. Buch. 2 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 237f. 3 Auf andere Weise hatte schon Klee auf einen derartigen Zusammenhang hingewie-

sen: »Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst,

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Kunst hat denn auch stets - noch als scheinbar autonome - auf gesellschaftliche Zustände des Ästhetischen reagiert und ist daher ohne Bezugnahme auf Außerkünstlerisches gar nicht adäquat zu begreifen. Wo in der modernen Welt die Sinnlichkeit unter die Räder zu kommen drohte, suchte die Kunst, ihrer alten Bindung ans Sinn-liche eingedenk, zur Künderin und Retterin des Sinnlichen zu wer-den (etwa bei Dubuffet); wo - wie heute - allenthalben Verhüb-schung grassiert, kann Kunst ihre Aufgabe darin sehen, dieser ent-gegenzutreten und sich dezidiert spröde zu verhalten (so in der arte povera oder der concept art) - während sie früher, in einer ästhetisch kargeren Welt, Schönheit als Elysium vor Augen geführt hatte.'

Kurzum: Seel verfehlt die ästhetische Erfahrung, wenn er solche Beziehungen, Verflechtungen und Übergänge zwischen Kunst und Realität systematisch ausblendet.

dd. Moderne Kunst

Das zuvor Gesagte gilt für alle traditionelle Kunst - und für moderne umso mehr. Denn diese zeichnet sich dadurch aus, daß sie in beson-derer Weise ihre Rahmenbedingungen erprobt, infragestellt und verändert. Sie spult nicht ein scheinbar wohldefiniertes Programm namens >Kunst< einfach ab, sondern wirft in ihren Werken jeweils die Frage, was >Kunst< sei, neu auf und gibt neuartige Antworten. Kunst-werke vermögen ihre Nah- wie Fernbedingungen zu verändern, können ungewohnte Kriterien nötig machen oder die Grenzen der Kunst aufheben. Duchamp hat das Diktat der Sichtbarkeit, Joyce die Form des Buches, Pollock die Grenze der Malerei, Cage den Status von Musik infragegestellt.

Je nach künstlerischem Typus werden dabei höchst unterschied-liche Wahrnehmungsweisen relevant. Bei Duchamp würde eine Wahrnehmung ohne Reflexion nur banalen Unsinn zu erkennen vermögen; bei Malewitsch muß sich die Wahrnehmung vom Werk-anblick ins Kosmische weiten; Pollock kann man nur kinästhetisch erfassen; und On Kawara läßt sich nur zusammen mit der Schrek-kensvision Hiroshima wirklich wahrnehmen.

In all solchen künstlerischen Ansätzen wird die Palette der kon-ventionellen Wahrnehmungsweisen umgestoßen oder neu konstel-

während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.« (Paul Klee, Ta-gebücher, Köln 1957, S. 323)

1 Vgl. Verf., Thesen zur Kunst im öffentlichen Raum heute, in: orte. Kunst für öffent-liche Räume, 1/1992, S. 12-13.

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liert, werden traditionelle Hierarchien außer Kraft gesetzt und neue etabliert. Gerade die Wahrnehmung eines Unscheinbaren oder Un-erhörten - sogar die eines im traditionellen Sinn Unwahrnehmbaren - kann an die erste Stelle rücken. Kunst bestimmt das Feld der für sie relevanten Wahrnehmungsarten je eigen.

Heute arbeiten Bildkünstler oft mit Reibungen zwischen traditio-nell-künstlerischer und medialer Wahrnehmung. Sie bewegen sich gleichsam an der Schnittstelle zwischen den herkömmlichen und den neuen ästhetischen Verfahren. Dann muß man die jeweiligen Anspie-lungen auf andere Gestaltungs- und Wahrnehmungsmodi aber auch erkennen, statt sich in bloßer Kontemplation des Faktischen zu ergehen. Weithin ist derlei Doppelwahrnehmung heute durch die gesellschaftliche, vorwiegend medial bestimmte Verfassung der Bild-lichkeit erfordert. Botho Strauß drückte dies einmal so aus: »Wir schöpfen schon deswegen Atem vor einem Gemälde, weil es Bild und Anti-Film-Bil d zugleich ist«.1 Gewiß muß man Straußens Wertung nicht mitmachen, aber den Zusammenhang nicht zu sehen wäre einfach borniert. Noch das Plädoyer für Kontemplation ist - ohne es zu wissen - von der medialen Situation des Ästhetischen gebeizt. Es erfolgt vor dem Hor izont einer brodelnden Medienwelt.

ee. Kunst-Wahrnehmung ist vieldimensional

Stets sind also an der Kunstwahrnehmung verschiedene Wahrneh-mungsweisen beteiligt. Man könnte ohne die Einbringung alltägli-cher Wahrnehmungskompetenz schon nicht einmal die Gegenstän-de in Bildern erkennen; darüberhinaus ist es vorteilhaft, über durch Kunsterfahrung geschärfte Wahrnehmung zu verfügen; es kann nichts schaden, wenn man weiß, was ein Komplementärkontrast ist oder worin die Künstlichkeit der scheinbar natürlichen Zentralper-spektive besteht - das erst läßt einen ja sehen, welche Maßnahmen beispielsweise Masaccio ergreifen mußte, um trotz Isokephalie span-nungsreiche Bilder zu erzeugen. Anders gesagt: Man muß die eta-blierten Codes kennen, um die Abweichungen und neuen Pointie-rungen wahrnehmen zu können; der pictor doctus verlangt auch nach einem receptor doctus.

Das Wahrnehmungsvermögen des Rezipienten sollte daher unter-schiedliche Wahrnehmungsformen abzutasten und deren spezifi-sche, vom Werk angeregte Konstellation herauszufinden vermögen.

1 Botho Strauß, Paare, Passanten, München 1981, S. 113.

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Dabei gehört zu ästhetischer Erfahrung insgesamt eine Komplexion von Anschauung, Imagination und Reflexion. Schon die Anschau-ung ist ja nicht einfachhin konstatierend, sondern prozessual und reflexiv. Und zwar von Grund auf: Bereits die Erfassung linearer Konvergenzen und Divergenzen oder farbiger Kontraste impliziert Vollzüge sinnlicher Reflexion. Was jeweils gesehen wird, ist nicht factum brutum, sondern vom Interpretationsprozeß vorausgegange-nen und nachfolgenden Sehens abhängig. Und in diese Interpreta-tionsvorgänge geht Lebenserfahrung sowohl wie Bilderfahrung ein. Die Wahrnehmung, daß eine Geste zugreifend und zugriffsscheu zugleich ist, wäre ohne eine bestimmte Reife und Sensibilität des Wahrnehmenden nicht möglich. Und Caravaggios Angriff auf die Bildhoheit ist recht zu sehen erst vor dem Hintergrund der Vorgän-ger und Zeitgenossen. Lebensweltliche Bezüge gehören also ebenso wie interikonische Anspielungen zum Bildprozeß. Die Kontempla-tion ist nur eine Facette in einem umfassenderen ästhetischen Pro-zeß. Die Bilderfahrung ist ästhetisch, imaginativ und reflexiv ineins.

Kunsterfahrung verlangt auch eine besondere Offenheit für die Veränderung gewohnter Kategorien, Bereichseinteilungen und Un-terscheidungen. Denn die Kunst nimmt sich die Freiheit, die Welt anders zu gliedern als gewohnt oder zwischen für getrennt gehalte-nen Bereichen Korrespondenzen, Analogien, Übergänge aufzuzei-gen. Morandis Stilleben beispielsweise sind nicht einfach Stilleben von Gegenständen, sondern zugleich Soziogramme. Die Fügung der Gegenstände ist ebenso als die von Familien zu lesen. Man erkennt Hierarchien, Berührungen, Ängste, Selbstbehauptungen, Ausweich-manöver, Absetzungen, Verbundensein. Morandi betreibt als Künst-ler Mikrosoziologie - so wie Mondrian Makrosoziologie betrieb: seine Kunst des Auswägens betraf ja nicht nur bildnerische Momen-te, sondern stellte zugleich ein Vorbild für das Austarieren von Lebensgewichten dar, wie es in jedem einzelnen Leben zu leisten und analog für soziale Gebilde wichtig ist. Man nimmt diese stillen, scheinbar unprätentiösen Werke erst dann vollständig wahr, wenn man ihren Ausgriff in Dimensionen der Praxis erkennt. Mondrian verstand sie denn auch selbst als Vorbilder für den Ausgleich sozialer Kräfte, wie er für demokratische Gesellschaften charakteristisch sei. - Wieder zeigt sich: Kunsterfahrung kann gehalten sein, schein-bar fremde Horizonte einzubeziehen. Erst komplex - nicht einfach-hin kontemplativ - gelingt sie.

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ff. Resümee

Zusammenfassend gilt also, daß in der Kunsterfahrung unterschied-liche Wahrnehmungsweisen verkreuzt sind: kontemplative, histori-sche, alltägliche, semantische, allegorische, utopische, usw. Die Wahrnehmung eines Kunstwerks ist als spezifisches Geflecht solch unterschiedlicher Wahrnchmungsweisen zu praktizieren und zu be-greifen. Kunst exekutiert nicht einen einzigen Wahrnehmungstyp, sondern bringt mehrere davon ins Spiel, und ihre spezifische Lei-stung besteht in einer jeweiligen Neukonstellation des Feldes der Wahrnehmung.1 Sie bringt relevante Wahrnehmungsarten werkspe-zifisch je unterschiedlich zusammen. Die ästhetische Wahrnehmung umfaßt einen ganzen Fächer von Wahrnehmungsarten. Sie ist prin-zipiell poly-aisthetisch, nicht mono-aisthetisch.

Nur eine solch polyaisthetische Einstellung vermag den Werken gerecht zu werden. Eine Einstellung im Sinn bloßer Kontemplation - also reiner Selbstbezüglichkeit und Vollzugsorientiertheit - würde hingegen das Ausgriffspotential der Werke systematisch verkürzen und verkennen. Verweigert man sich der Polyvalenz und den Quer-griffen ästhetischen Wahrnehmens - weil angeblich einzig Kontem-plation relevant und die Absetzung von allen alltäglichen, gesell-schaftlichen, semantischen etc. Wahrnehmungsdimensionen gefor-dert sein soll -, so besteht die Gefahr, daß sich die hehre Kontempla-tion tendenziell dem bloßen Glotzen nähert. Den Unterschied des Glotzens von wirklichem Sehen hat Brecht im Leben des Galilei unnachahmlich charakterisiert. Als der Knabe Andrea behauptet, er »sehe doch, daß die Sonne abends woanders hält als morgens. Da kann sie doch nicht stillstchn!«, antwortet Galilei: »Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen.«2

Die Auffassung, daß es einen einzigen, ausgezeichneten, verbind-lichen Typus ästhetischer Wahrnehmung gebe, triff t die Kunst nicht und befriedigt allenfalls theoretische Interessen der Eindeutigkeit, Beherrschung oder Bequemlichkeit. Sie suggeriert Klarheit, ver-zeichnet aber de facto das Feld des Ästhetischen. Man sollte die Kunst von dieser Kastration im Namen theoretischer Übersichtlich-keit, man sollte sie von diesem imperialen Gestus philosophischer

1 In diesem Sinn würde ich Seels Hinweis aufgreifen, daß es in ästhetischer Wahr-nehmung um das Wahrgenommene und die Wahrnehmung zumal geht.

2 Bertolt Brecht, Leben des Galilei, 1938/39, Frankfurt a.M. 1962, S. 11, 1. Szene.

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Theorie freihalten. Das Kontemplationsdekret erneuert - kunst-freundlich redend (aber auch das gehörte zu dieser Tradition) - die alte Kunstfeindschaft der Philosophie.

A n der Durchführung der Ästhetik als Aisthetik muß einem gerade um der Kunsterfahrung willen gelegen sein. Nur eine Aisthe-ti k vermag der Poly-Aisthetik der Kunst gerecht zu werden, vermag sie vor der philosophischen Zumutung einer Mono-Ästhetik zu bewahren. Kunst - so die Grundthese der vorigen Beispiele und Analysen - bringt eine ganze Palette von Wahrnehmungsarten ins Spiel und verleiht ihr eine je bestimmte Organisation. Daher muß auch ihre Reflexionsinstanz, die Ästhetik, mit verschiedenen Wahr-nehmungsarten und unterschiedlichen Konstellationen rechnen. Genau das kennzeichnet den Begriff einer vollen Ästhetik im Unter-schied zur konventionellen Ästhetik aus.

b. Volle Ästhetik respective Aisthetik

Ob man eine Ästhetik der geschilderten Ar t dann als >Ästhetik< oder >Aisthetik< bezeichnet, ist eine zweitrangige, eigentlich eine bloß terminologische Frage. Beides ist möglich, nur muß der springende Punkt klar sein. Solange der Terminus >Ästhetik< durch einen engen, etwa kontemplativ reduzierten Begriff besetzt ist, spricht man für das Gegenkonzept besser (weil deutlicher) von >Aisthetik<. Wenn aber erst einmal klar geworden ist, daß es in aestheticis um die Vcrkreuzung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi geht, dann kann man es dafür auch beim alten Terminus >Asthetik< belassen. Er bezeichnet dann eine komplexe Ästhetik statt eine Schmalspur-Äs-thetik alter oder erneuerter Art .

Im übrigen ist, daß >ästhetisch< unterschiedliche Bedeutungsdi-mensioncn umfaßt, allenfalls für traditionelle Begriffsdogmatiker anstößig, auf einem nach-Wittgenstcinschen Reflexionsniveau hin-gegen eher erwartbar und selbstverständlich. Polysemie, wie sie für den Ausdruck >ästhetisch< charakteristisch ist, stellt generell eher ein Indiz der Fruchtbarkeit einer Sache dar. Im übrigen ist eine begriff-liche Kahlschlagpohtik nirgendwo gerechtfertigt. Denn die Bedeu-tung eines Wortes ist nicht, was Theoretikern beliebt oder was sie dekretieren, sondern »die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache» - so Wittgenstein.' Bei wichtigen Begriffen - und

1 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 225-580, hier S. 262, Nr. 43.

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gerade sie sind gerne polyvalent — hat niemals ein Eindeutigkeitsge-bot gegolten. Wie hätte es sonst beispielsweise eine Ontologie geben können, wo doch der Ausdruck >to on< beinahe hoffnungslos viel-deutig ist — wie gerade Aristoteles zeigte, der dann gleichwohl als erster ein explizites Konzept von Ontologie entwickelte?' Oder hätte man wegen der Unterschiedlichkeit der Bedeutungen von logos - >Sprache<, >Verhältnis<, >Vernunft< - darauf verzichten sollen, eine Logik auszuarbeiten?2 Die Polyvalenz eines Ausdrucks kann kein Hinderungsgrund sein, eine auf all seine Varianten bezogene Wis-senschaft auszubilden.

Im übrigen sind die diversen Bedeutungen des Ausdrucks >ästhe-tisch< gar nicht einfachhin disparat, sondern sie hängen untereinan-der in gut verständlicher Weise zusammen - freilich in jener für die moderne Begriffsauffassung charakteristischen Art, die Wittgenstein als >Familienähnlichkeit< charakterisiert hat.3 Die Saubermänner al-lerdings ertragen solche Komplexität schwer. Aber diese Schwach-heit darf man nicht zum Maß der Sache machen. Wer heute noch absolut eindeutige Unterscheidungen und Kategorien einklagt und zum alleinigen Maßstab machen möchte, muß ein Antiqui-tätenhändler sein. Nicht nur in der Ästhetik, sondern generell sind Verflechtungen, Übergänge und Durchdringungen zum Thema und Pensum der Gegenwart geworden.4

1 Aristoteles weist im grundlegenden Kapitel Met. IV 2 darauf hin, daß die vielfälti-gen Verwendungen von to on nur eine schwache Einheitlichkeit aufweisen: nicht die strenge eines kath' hen legomenon, sondern bloß die lockere von pros hen le-gomena - die kategorialen Seinssinne werden nicht gemäß einer leitenden Bedeu-tung, sondern bloß im Hinblick auf eine solche (nämlich ousia) verwendet. Noch weiter reicht die Vielfältigkeit, wenn man auch die transkategonalen Seinssinne hinzunimmt, also >an sich< und >nebenbei<, >wahr< und >falsch<, >möglich< und wirk-lich« (vgl. Met. V 7). Aristoteles' Pointe ist aber gerade, daß eine solch schwache Einheitlichkeit für die Durchführung einer auf alle Seinssinne bezogenen Wissen-schaft vom Seienden völlig ausreichend ist.

2 Oder wil l man etwa die Hegeische Logik, die diesbezüglich geradezu exemplarisch vollständig ist, nicht für eine Logik gelten lassen? Mit welchem Recht?

3 Vgl. hierzu detaillierter: Verf., Das Ästhetische - eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: Die Aktualität des Ästhetischen, hg. von Wolfgang Welsch, München 1993, S. 13-47.

4 Vgl. Verf., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der trans-versalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1995.

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IL Ästhetik und Epistemologie

Seel attackiert zweitens meine Diagnose einer epistemologischen Asthetisierung. Sie besagt, daß Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit der modernen Auffassung zufolge grundsätzlich kon-struktivistischen Charakter besitzen, und daß dies zutreffend als Asthetisierung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit beschrieben werden könne. Seel wil l den ersten Teil dieser These mitmachen, den zweiten aber nicht zugeben.

Wieder operiert Seel zum einen mit dogmatischen Festlegungen, zum anderen mit Entstellungen meiner Aussagen. Dogmatisch de-kretiert er, daß das Prädikat >ästhetisch< sich auf Schönheit zu bezie-hen habe und mit Virtualität nichts zu tun haben dürfe. Entstellend verkehrt er meine kritische Diagnose, derzufolge ich bei manchen zeitgenössischen Ansätzen die Gefahr einer Asthetisierung der Ethik sehe, in die Behauptung, ich selbst würde eine Asthetisierung der Ethik vertreten. Oftmals löst er meine Aussagen und Beispiele derart aus ihrem argumentativen Rahmen, daß sie ihren Sinn verlieren und einen anderen anzunehmen scheinen, der sich dann trefflich kritisie-ren läßt. Das betrifft beispielsweise einige meiner Aussagen über das Fernsehen, über neue Materialtechnologicn oder über die Rolle fiktionaler Elemente in der wissenschaftlichen Heurist ik. Diesbe-züglich wil l ich hier nicht platzverbrauchend meine Darlegungen wiederholen, sondern nur auf sie verweisen.1 - Ich konzentr iere mich im folgenden auf prinzipielle Differenzen und Klarstellungen.

1. Begriffliche Unterscheidung-referentielle Veränderung

Seel meint, ich wolle den Unterschied von Realität und Fikt ion aufheben. Als Beleg dafür gilt ihm beispielsweise die Aussage, Wirk -lichkeit erweise sich immer mehr »als nicht >realistisch<, sondern >ästhetisch< konstituiert«. Seels Lesart ist mehrfach unzutreffend. Erstens halte ich, wenn ich dies sage, an dem begrifflichen Unter-schied von Realität und Fiktion offenbar fest - andernfalls würde die zitierte Aussage gar keinen Sinn machen. Zweitens sage ich nicht, daß Wirklichkeit in toto >ästhetisch< verfaßt sei, sondern ich behaup-te eine solch ästhetische Prägung nur hinsichtlich der grundsätzl i-chen Schicht der WirkIichkeits&o«sr>t#fjo« - und man sollte auch

1 Verf., Das Ästhetische - eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, a. a. O.

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hier nicht Teil und Ganzes verwechseln. Drittens hat Seel nicht beachtet, daß ich die Termini >ästhetisch< und >realistisch< mit An-führungszeichen versehen habe - was doch auf eine bestimmte Problematisierung hinweist.

Ich suchte darauf aufmerksam zu machen, daß die begriffliche Unterscheidung von >Realem< und >Ästhetischem< zwar bestehen bleibt, daß sich die Referenz dieser Ausdrücke aber aufschlußreich verschoben hat. Die Grundschicht dessen, was wir seit jeher Realität zu nennen gewohnt sind, hat sich inzwischen als ästhetisch verfaßt erwiesen. Anders gesagt: Die Auffassung bzw. Interpretation von Wirklichkeit hat sich verändert - und dies zu sagen, ist offenbar etwas ganz anderes als die Behauptung, es gebe keine Wirklichkeit, alles sei bloß Fiktion. Mi t der letzteren Auffassung - die Seel für >postmodern< hält - haben meine Ausführungen nichts zu tun.

Ich habe also den Terminus >real< gerade nicht eingezogen, son-dern ihm eine neue und eigene Bedeutung zugewiesen (und das natürlich nicht arbiträr, sondern in Übereinstimmung mit, wie Seel sich ausdrückt, »allem, was in der neueren Philosophie gut und teuer ist«). Al s >rcal< gilt uns das, was sich innerhalb eines etablierten Wirklichkeitsrahmens als passend und verläßlich erweist. Insofern macht es weiterhin Sinn, von >Realität< zu sprechen - aber genau im geschilderten Sinn. Von einer Aufhebung des >Realen< kann also weder im begrifflichen noch im referentiellen Sinn die Rede sein -und ebensowenig von einer Einziehung des Unterschieds zwischen >ästhctisch< und >reak - Man sollte mit dem Etikett >postmodern< vorsichtig umgehen. Nicht jeder, den man dafür hält, vertritt den Widersinn, den man selbst darunter versteht.

Was sich hier schon andeutet, wird im folgenden verstärkt zuta-getreten: Seels Argumentation beschränkt sich im Grunde darauf, meine Aussagen an der von ihm vertretenen Beschränkung des Terminus >ästhetisch< auf bestimmte kontemplative Vollzüge zu messen. Dieser Maßstab macht es für Seel unmöglich, ästhetische Leistungen anderer Ar t überhaupt wahrzunehmen oder anzuerken-nen. Davon sind alle Dimensionen einer Tiefenästhetik - beispiels-weise alle wirkhchkeitskonstitutiven Leistungen - betroffen, sie fallen dem terminologischen Ausschlußdekret zum Opfer. Solchen Tiefcndimensionen gilt aber nicht nur mein persönliches Interesse, sondern sie sind in der Gegenwart generell die wichtigen und auf-schlußreichen ästhetischen Phänomene - und im übrigen hat schon die Tradition auf die Thematisierung einer ontologischen Dimension des Ästhetischen nicht verzichten mögen.

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2. >ästhetisch< als Bezeichnung einer Seinsweise

Der Terminus >ästhetisch< bezieht sich traditionell nämlich nicht nur auf eine Eigenschaft von Gegenständen - auf die Eigenschaft >schön< - , sondern zugleich auf eine Seinsweise. Wenn Hegel von der Kunst sagte, sie stehe »in der Mitte zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Gedanken«,1 wenn Kierkegaard das ästhetische Stadium der Existenz beschrieb,2 wenn Nietzsche sagte, man könne die »frei dichtende und frei erfindende« Tätigkeit des Menschen nicht besser charakterisieren, als indem man sie als »ästhetisches Verhalten« bezeichnet,3 dann stand jedesmal eine Seinsweise (in objektivem oder subjektivem Aspekt) im Blick.

Traditionell war diese Seinsweise als eine sekundäre gedacht. Die Primärebene, die der objektiven Wirklichkeit, sollte durch Realistik bezeichnet sein, während das Ästhetische sich auf die Sekundärebene menschlicher Erzeugung (insbesondere kunstartiger Hervorbr in-gung) bezog. Damit verglichen, läßt sich der moderne Wandel der Wirklichkeitsauffassung aufschlußreich dahingehend beschreiben, daß uns in der Moderne deutlich geworden ist, daß nicht nur die Kunst, sondern auch andere Formen unseres Tuns einschließlich des Erkcnnens Erzeugungscharakter aufweisen. Die ehedem für strikt sekundär angesehene ästhetische Scinsweise ist zur primären Scins-weise aufgerückt. Entsprechend sind Kategorien, die traditionell im Blick auf die ästhetische Scinsweise ausgearbeitet worden waren -Kategorien wie Schein, Beweglichkeit, Mannigfaltigkeit, Bodenlo-sigkeit oder Schweben -, für die moderne Auffassung zu Grundka-tegorien der Wirklichkeit geworden. Man hatte in der traditionellen Ontologie des Ästhetischen gleichsam unter der Hand Kategorien für das Verstehen von Wirklichkeitserzeugung überhaupt entwik-kelt.

Daß man auf diese Erläutcrungsmöglichkeit des modernen Wan-dels verzichten sollte, ist gar nicht einzusehen. Im Unterschied zu den Versuchen rabiater Neukonstrukt ion, die historische Verständi-gung und historische Vergleiche prinzipiell für unnötig und unnütz ansehen, bin ich der Auffassung, daß die Tradition uns mannigfach

1 Hegel, Ästhetik, a. a. O, Bd. 1, S. 48. 2 Sören Kierkegaard, Entweder I Oder (1843). 3 Friedrich Nietzsche, lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in:

Acts., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hg. von Gior-gio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 873-890, hier S. 884.

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innewohnt und nicht einfach abstoßbar ist. Traditionelle Auffassun-gen sind nicht nur einem zureichend vergewisserten philosophischen Bewußtsein vertraut, sondern ebenso unseren alltäglichen Auffas-sungen mannigfach eingeschrieben. Daher ist die Klärung histori-scher Verschiebungen erstens kategorial unumgänglich, zweitens heuristisch sinnvoll und drittens sachlich aufschlußreich.

Seel meint ferner, bezüglich meiner Verwendung des Ausdrucks >ästhetisch< nicht nur im Sinn von Schönheit, sondern auch von Virtualität oder Modellierbarkeit sei zu fragen, warum ich »die Worte in dieser irreführenden Weise« gebrauche. Die Antwort ist einfach: Ich dekretiere die Bedeutung des Ausdrucks nicht, sondern knüpfe an übliche Verwendungen an. Die Bedeutung eines Wortes ist eben nicht, was Theoretikern beliebt oder was sie zu diktieren gedenken, sondern »die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«. Und zu diesem Gebrauch gehört beim Terminus >ästhetisch< auch die Verwendung im Sinn einer Seinsweise. Diese traditionell wie gegenwärtig hochrelevante Bedeutung des Ästheti-schen blendet Seel jedoch schlicht aus bzw. er erklärt sie für illegitim - und von dieser Restriktion aus findet er dann meine wirklichkeits-bezogene Thematisierung des Ästhetischen anstößig und »irrefüh-rend«. Aber Seel selbst vermag- außer einem willkürlichen Dekret -keinerlei Grund für diese Restriktion und Reduktion anzugeben. Sie bewirkt jedoch einen Komplexitätsverlust, der zugleich Reflexions-verluste und die Preisgabe von Aufklärungschancen nach sich zieht. Man hat wenig Anlaß, einer solchen Linie zu folgen.

3. Mehrdimensionalität der Ästhetik

Ästhetik ist ein mehrstufiges Geschäft. Zum mindesten verlangt sie, zweistufig durchgeführt zu werden: in bezug auf Gegenstände und als Reflexion einer Seinsweise. Seel will sie auf das erstere beschrän-ken. Diese Restriktion entpuppt sich allenthalben als Leitlinie seiner Ausführungen. So beispielsweise, wenn er eine Unterscheidung zwi-schen »Simulation und ästhetischer Simulation« fordert - und damit die ästhetik-einschlägigen Aufgaben schon für erfüllt ansieht. Dabei ist dadurch doch nur die Aufgabe auf der Gegenstandsebene be-zeichnet. Denn gewiß ist nicht jede Simulation schön - und daher in Seels Sinn ästhetisch; und natürlich macht es auch Sinn, zwischen Simulation in genereller Bedeutung und dem speziellen Phänomen schöner Simulation zu unterscheiden. Aber das ist eine Unterschei-

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dung innerhalb des Status der Simulation, und die Durchführung dieser Unterscheidung kann von der Bestimmung des vorausliegen-den, prinzipiell ästhetischen Status der Simulation keineswegs dis-pensieren - wobei diese Bestimmung aber nicht eine Frage der Schönheit, sondern der Fiktionalität ist. Kurzum: Seel verkürzt die Problemlage wieder in der für seinen Ansatz bezeichnenden Weise, wenn er nur die sekundäre Frage der schönen oder nicht-schönen, nicht aber die primäre der Simulation überhaupt als Frage der Äs-thetik zulassen will. '

Entsprechend ist auch Seels Aussage, »wer Wahrnehmung und Wirklichkeit selbst ästhetisch faßt, verliert die Möglichkeit, den besonderen Spielraum ästhetischer Wahrnehmung zu fassen«, unzu-treffend. Man muß nur zweiäugig bzw. doppelstufig zu operieren vermögen. Es sind zwei verschiedene Fragen, inwiefern die Wirk-lichkeit prinzipiell ästhetische Momente einschließt, und inwiefern faktische Elemente schön oder nicht-schön sind. Beide Fragen gehö-ren zum Pensum einer unbeschränkten Ästhetik. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, daß die Erörterung der ersten Frage die Beant-wortung der zweiten beeinträchtigen würde. Im Gegenteil: Die Analyse der ästhetischen Seinsweise hat zugleich Konsequenzen für die Bestimmung ästhetischer Gegenständlichkeit - hingegen droht die letztere systematisch verzeichnet zu werden, wenn die erstere unterbleibt. Man sollte jedenfalls nicht Differenzierungsunfähigkeit zur Basis der Ästhetik machen - gerade nicht der Ästhetik, denn »Differenziertheit« ist, wie Adorno einmal gesagt hat, »eine ästheti-sche Kategorie sowohl wie eine der Erkenntnis«.2

Kurzum: Seel konstruiert seinen Ansatz so, daß die wirklichkeits-konstituierenden Aspekte des Ästhetischen systematisch außerhalb seines Gesichtskreises geraten. Er beschränkt sich auf die vorder-

1 Im Vorgriff auf die nachherige Diskussion des Verhältnisses zu Kant sei hier schon darauf hingewiesen, daß sich gerade Kant im Blick auf Grundleistungen der Er-kenntnis der Terminologie der Fiktionalität bedient hat. Er war es ja auch, der grundsätzlich die Berücksichtigung ästhetischer und fiktionaler Elemente in der Erkenntnis obligat machte. Die Ideen der theoretischen Vernunft hat er als »heu-ristische Fiktionen« bezeichnet (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 799). Bezüg-lich der Einbildungskraft erklärte er im Opus postumum unmißverständlich, daß diese dort, wo sie a priori tätig ist, »dichtet« (Immanuel Kant, Opus postumum. Zweite Hälfte, Akademie-Ausgabe Bd. XXII , Berlin u. Leipzig 1938, S. 476). Be-züglich der Mathematik sagte er gar, sie sei nichts anderes als »reine Dichtung« (a. a. O..S.490). Schließlich formulierte er lapidar: »Wir machen alles selbst.«(a. a. O., S. 82)

2 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 344.

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gründige und vertraute Ästhetik - und dann tendenziell noch einmal auf Phänomene der Schönheit -, von der Tiefenästhetik aber will er (und kann er den Prämissen seines Ansatzes zufolge) nichts wissen.

Dann läge wohl der Satz nahe: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«' Jedenfalls sollte man nicht anderen, die davon sprechen können, das Reden verbieten. Man sollte die Ästhetik, die sich als wissenschaftliche Disziplin auf alle Stufen ihres Gegenstandes, des Ästhetischen, beziehen muß, nicht auf den einen Aspekt reduzieren, den man selbst abzudecken imstande ist. Die Ästhetik der Kontemplation gehört - in wichtiger Funktion - zur Ästhetik. Aber sie stellt nicht die ganze Ästhetik dar. Wo sie im Gewand analytischer Sachlichkeit dergleichen beansprucht, über-nimmt sie sich. Ihre vorgebliche Bescheidenheit entpuppt sich als Ausschließlichkeitsanmaßung. Man hat gute Gründe, die Themati-sicrung des Ästhetischen von einer solchen Verengung freizuhalten.

4. Kant: Analyse des Geschmacks und Ästhetik in der Epistemologie

Schließlich will ich noch auf einen Nebengesichtspunkt eingehen. Seel kritisiert meine Bezugnahme auf Kant. Kant sei gerade ein Zeuge gegen die Folgerungen, die ich aus seinen Reflexionen zöge. Nun meine ich erstens, daß man in Sachen Kant gehalten ist, absolut präzise zu sein, und zweitens weiß ein Pluralitätstheorctiker zwar im allgemeinen um die Fraglichkeit und Angreifbarkeit seiner The-sen, aber in Fragen des philosophischen Handwerks mag ich mir keine Schlamperei nachsagen lassen. Da prüfe ich lieber, wer unge-nau argumentiert.

Ich habe behauptet, daß sich bei Kant interessante Überlegungen finden, die eine Relevanz ästhetischer Momente für das Erkennen vertreten und insofern in den modernen Kontext der epistemologi-schen Asthetisierung gehören.2 Solche Überlegungen finden sich sowohl in der Kritik der reinen Vernunft wie in der Kritik der Urteilskraft.

Bekanntlich zeigt Kant in der »transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft, daß ästhetische Strukturen für unsere Erfahrung unabdingbar, weil für die Gegenstände dieser Erfahrung

1 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 7-85, hier S. 85, Nr. 7.

2 Ausführlicher habe ich dies dargestellt in: Verf., Vernunft, a. a. O.

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ERWEITERUNGEN DER ÄSTHETIK 6}

konstitutiv sind. Nur im Rahmen der ästhetischen Vorgaben von Raum und Zeit sind uns Gegenstände überhaupt gegeben und er-kennbar. Insofern ist bei Kant die transzendentale Ästhetik episte-mologisch fundamental geworden.

Diese epistemologische Ästhetik hat gewiß mit der Geschmacks-analyse, wie Kant sie später in der Kritik der Urteilskraft vornehmen wird, nichts zu tun. Sie liegt auf einer anderen Ebene. Man muß aber fürs erste schon einmal beachten, daß Kant auf die Bezeichnung der transzendentalen Analyse der Anschauungsformen als Ästhetik großen Wert legte. Sie galt ihm 1781 und noch 1787 sogar als einzige Version von Ästhetik, »die wahre Wissenschaft ist«.'

Was hat sich demgegenüber 1790, mit der Kritik der Urteilskraft, verändert? Kant sieht jetzt auch die Möglichkeit einer anderen Äs-thetik, einer Ästhetik im Sinn einer »Kriti k der ästhetischen Urteils-kraft«. Das bedeutet, daß es fortan bei Kant zwei Arten von Ästhetik gibt. Die neue Geschmacksästhetik hebt die vorhergehende Er-kenntnisästhetik nicht etwa auf. Kant hat mit keiner Silbe die Be-zeichnung seiner transzendentalen Ästhetik als »Ästhetik« zurück-genommen. Ästhetik im Kantischen Sinne umfaßt fortan beides: die transzendentale Ästhetik und die Kriti k des Geschmacks. - Insoweit ist meine Ergänzung der traditionellen Geschmacksästhetik um die Erkenntnisästhetik durchaus Kantischen Geistes. Es ist schlicht eine unzulässige Verkürzung, in aestheticis im Blick auf Kant nur von der Geschmacks- und nicht auch von der Erkenntnisästhetik zu spre-chen. Gerade Kant zufolge kann man die transzendentale Ästhetik nicht mit leichter Hand aus dem Kreis legitimer Ästhetikbegriffe ausschließen.

Gibt es dann - zweitens - vielleicht sogar eine aufschlußreiche Beziehung zwischen diesen beiden Kantischen Versionen von Äs-thetik? In diesem Fall wäre ihre Auseinanderdividierung, wäre die Ausblendung der Erkenntnisästhetik, wäre eine Beschränkung auf die Geschmacksästhetik vollends unkantisch.

In der Tat hat Kant in der Kritik der Urteilskraft eine Beziehung zwischen der Geschmacksästhetik und der Erkenntnisästhetik her-gestellt. Das geschieht dort, wo er den Geschmack als »Beispiel« des Gemeinsinns diskutiert. Der Geschmack, sagt Kant, hat für den Gemeinsinn »exemplarische Gültigkeit«.2 Unter »Gemeinsinn« ver-steht Kant dabei eine allen Menschen gemeinsame Sinnesart, die zwei

1 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 21 bzw. B 35f. 2 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 22, B 67.

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Funktionen hat: erstens eine im engeren Sinn ästhetische und zwei-tens eine darüber hinausgehende allgemein-epistemologische. Er-stens nämlich ist der Gemeinsinn die Bedingung dafür, daß man das eigene subjektiv-private Geschmacksurteil zugleich für subjektiv-allgemein ansehen und infolgedessen anderen Subjekten die Über-einstimmung mit ihm ansinnen darf.' Und zweitens handelt es sich beim Gemeinsinn um eine Sinnesart, die generell »die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Erkenntnis« ist, weshalb sie, wie Kant sagt, de facto »in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnisse« vorausgesetzt wird.2 Der Gemeinsinn ist nicht nur ein ästhetisches, sondern zugleich ein allgemein-logisches Prinzip.

Verschärft formuliert: Kant zufolge hat das Ästhetische auch allgemein-logische Bedeutung. Nur übersieht man, wenn man wie Seel dem doppelten Vorurteil folgt, die »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« habe es nur mit dem besonderen Vermögen namens »Geschmack« zu tun und Ästhetisches sei bloß für Geschmacksfra-gen relevant, dieses Kantische Lehrstück geflissentlich. Dabei hätte man selbst unter den Bedingungen dieser Restriktion allen Anlaß, es zur Kenntnis zu nehmen, sagt Kant doch ausdrücklich, daß dieses Lehrstück den »Schlüssel zur Kriti k des Geschmacks« enthalte »und daher aller Aufmerksamkeit würdig« sei.3

Worum geht es? Kant weist darauf hin, daß sich die Erkenntnis-vermögen im Geschmacksurteil in der »proportionierten Stim-mung« befinden, »die wir zu allem Erkenntnisse fordern«.4 Diese proportionierte Stimmung, die für jegliche Erkenntnis erforderlich ist, besteht darin, daß Einbildungskraft und Verstand »zusammen stimmen«.5 Genau als Lust an einer derartigen »Harmonie der Er-kenntnisvermögen« bzw. dem »freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes«6 begreift Kant nun aber die ästhetische Lust. Insofern repräsentiert das Geschmacksurteil die Reinform des Ge-mütszustandes, wie er »zu einem Erkenntnisse überhaupt erforder-lich ist«.7 Das Geschmacksurteil realisiert die reine Grundform des Erkenntnisurteils.

1 Vgl. ebd. 2 A. a. O., §21,B66 3 A. a. O., § 9, B 27.

4 A.a. O., B31f. 5 A. a. O., B 29. 6 Ebd. 7 Ebd.

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Dann geht Kant sogar noch einen Schritt weiter. Er behauptet nicht nur, daß die ästhetischen Vollzüge den kognitiven analog sind, sondern daß sie umgekehrt Grundlegungsfunktion für diese haben. Das ästhetische Verhalten ist nicht nur gleichsam das Konzentrat des Erkenntnisverhaltens, sondern es ist eine Grundbedingung und ein faktisches Implikat aller Erkenntnisvollzüge. Warum dies? Kant sagt zunächst, daß »eine jede bestimmte Erkenntnis [...] auf jenem Ver-hältnis als subjektiver Bedingung beruht«,1 wobei er mit »jenem Verhältnis« dasjenige »in dem freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes« meint, sofern Einbildungskraft und Verstand dabei »unter einander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforder-lich ist, zusammen stimmen«.2 Kant denkt offenbar daran, daß ein jedes Urteil, welcher Ar t es auch immer sei, nicht ohne ein Gefühl der Stimmigkeit auskommt. Dieses Gefühl bezieht sich auf die Fü-gung bzw. Passung von sinnlichem und begrifflichem Moment bzw. materialer und struktureller Komponente. Ein solches »Stimmen« kann aber letztlich immer nur ästhetisch festgestellt werden. Inso-fern wohnt jedem Urteil ein ästhetischer Ak t inne. Somit entspricht das ästhetische Urteil nicht nur der reinen Grundform eines jeden Urteils, sondern es gilt sogar die Umkehrung davon: jegliches Urteil schließt einen ästhetischen Vollzug ein.

In § 21 hebt Kant diesen Punkt erneut h e r v o r - u nd in einer Form, die endgültig hätte hellhörig machen müssen. Nachdem er wieder-holt hat, daß der Anspruch des ästhetischen Urteils auf Allgemein-gültigkeit sich der Tatsache verdankt, daß dieses Urteil die reine Grundform eines Urteils überhaupt repräsentiert, weist er noch einmal darauf hin, daß kein Urteil und keine Erkenntnis ohne dieses letztlich ästhetische Moment auskommt. Er erklärt, daß ein Gemein-sinn, wie er für »die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefühls« erfor-derlich ist, generell »die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Erkenntnis« darstellt. Daher werde er »in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnisse« vorausgesetzt.3

Keine Erkenntnis ist ohne diesen innersten ästhetischen Sinn namens »Gemeinsinn« auch nur denkbar. Er ist ein notwendiges Element jeder Erkenntnislehre - meist implizi t bleibend, von Kant jedoch explizit gemacht. Ästhetischer Sinn ist ein elementares Prinzip jegli-cher Logik und Erkenntnis.

1 A. a. O..B29. 2 Ebd. 3 A. a. O, §21,B66.

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Berücksichtigt man dies, so muß man sagen: Kant hat mit allem Nachdruck auf eine hochrelevante Verbindung zwischen der Ge-schmacksästhetik und der Erkenntnisästhetik hingewiesen. Gerade bezüglich der für mein Konzept charakteristischen Thematisierung epistemologischer und geschmacksbezogener Aspekte kann ich mich zu Recht auf Kant berufen.

5. Resümee

Unter beiden im vorigen behandelten Aspekten - hinsichtlich des Verhältnisses von Ästhetik und Aisthetik sowie hinsichtlich der epistemologischen Ästhetik - ergibt sich eine Nötigung, über tradi-tionelle Beengungen der Disziplin Ästhetik hinauszugehen. In die-sem Sinn sage ich, daß es heute darauf ankomme, sich auch der »Ästhetik außerhalb der Ästhetik« zuzuwenden.1 Seel hingegen will die alten Schrauben noch einmal festziehen. Das ist der Unterschied unserer beiden Konzepte.

Ästhetische Wahrnehmung - das war mein erstes Argument - ist prinzipiell polyaisthetisch. Sie bringt unterschiedliche Wahrneh-mungsdimensionen ins Spiel. Weder deren Fächer noch ihr Verhält-nis ist ein für alle Mal festzuschreiben. Gerade daß beides auf dem Spiel steht, zeichnet ästhetische Wahrnehmung aus. Das gilt bezüg-lich der Kunst wie auch sonst. Zweitens hat das Ästhetische in der Moderne in Erkenntnishinsicht eine zuvor unbekannte Relevanz gewonnen. Eine Ästhetik auf dem Reflexionsniveau der Moderne muß auch diese epistemologische Dimension des Ästhetischen the-matisieren. Dies beides heißt weder, daß die genannten Hinsichten aufeinander zu reduzieren seien, noch daß die Ästhetik an die Stelle der Epistemologie treten könne, also >fundamentalistische< Absich-ten hegen dürfe. Es heißt nur, daß eine vollumfängliche Ästhetik sich beiden Fragekreisen zuwenden muß. Drittens ist heute generell eine Erweiterung der Relevanz ästhetischer Fragen auf Felder wie Le-benswelt und Politik, Kommunikation und Medien zu verzeichnen. Wir leben inmitten einer Globalisierung des Ästhetischen. Die Re-flexionsinstanz des Ästhetischen - die Ästhetik - kann dies nicht außer Acht lassen. Das heißt wiederum nicht, daß diese Globalisie-rung einfach gutzuheißen wäre. Nur gehört sie zum Pensum zurei-

1 Vgl. Verf., Grenzgange der Ästhetik, Stuttgart 1996.

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ERWEITERUNGE N DER ÄSTHETI K 67

chender Diagnose - von der aus dann auch kritische Interventionen angebracht sind.'

Es ist gar nicht einzusehen, warum die Ästhetik auf die Themati-sierung ästhetischer Phänomene jenseits ihres traditionell zu eng gezogenen Rahmens verzichten sollte, zumal wenn diese Phänome-ne - wie das gegenwärtig der Fall ist - vordringlich werden und diesbezüglich die Klärungsleistung ästhetischer Kompetenz viel-leicht sogar nötiger ist als bezüglich der alten Fragen. Weder die Überstellung solcher Fragen an andere Disziplinen noch ein krudes Thematisierungsverbot ist hier berechtigt. Die Ästhetik sollte alle Dimensionen und Bedeutungen des Ästhetischen beachten und be-handeln - aber natürlich mit den gebotenen Unterscheidungen und in dem für sie allenthalben charakteristischen und erforderlichen Stil differenzierten Urteilens. Dadurch würde die Ästhetik ihre diszipli-nare ebenso wie ihre zeitgenössische Aufgabe erfüllen und zugleich die Chance gewinnen, von einer etwas angestaubten Disziplin wie-der zu einem interessanten Diskussionsfeld, zu einer Instanz der Gegenwartsverständigung zu werden.

Gegenüber der Seeischen Strategie einer Exklusion von allem, was über Vollzüge der Kontemplation hinausgeht, schlage ich also das Modell einer Ästhetik vor, die sich auf alle Versionen des Ästheti-schen bezieht - und die dabei natürlich auch die Seeische Kontem-plation als interessantes Teilphänomen einschließt.

1 Vgl. zu den Möglichkeiten einer ästhetischen Kriti k an Ästhetisierungsprozessen Verf., Das Ästhetische - eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, a. a. O.

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CLAUS-ARTUR SCHEIER

Das undingliche Ding

Zum geschichtlichen Ort von Adornos Ästhetischer Theorie

Daß Adorno Heidegger näher ist, als der Autor des Jargons der Eigentlichkeit wahr haben wollte, ist längst bemerkt worden.

Heidegger seinerseits hat gemeint, die Dialektik als einen »Weg, der vor den Sachen und dem Sachverhalt ausweicht«, in einem äpart des Vortrags Zeit und Sein abschneiden zu müssen.1 Nachdem der Par-teienzwist ausgestanden ist, läßt sich das Musterbeispiel von philo-sophischer »Kommunikationsverweigerung« (Hermann Mörchen) auch als Fall von Empfindlichkeit des kleinsten Unterschieds studie-ren, die ihr quid juris an dem hat, was mit Adorno der Wahrheitsge-halt (der Texte) genannt werden kann. D. h. die hintergründige Nähe ist über die kalendarische Zeitgenossenschaft usw. hinaus geschicht-lich. Wer unbefangen parallel liest - und Unbefangenheit ist die Tugend der Erben - , dem mögen beide Denkwege unversehens derart konvergieren, daß am Ende nur noch Differenzen der Einstel-lung, der Terminologie, des zeitgenössischen Bewußtseins auszuma-chen sind. Was lernt man bei Adorno, mag einer sogar versucht sein zu fragen, was sich nicht bei Benjamin früher oder bei Heidegger gründlicher fände? »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklic h ist«, behauptet das Nest roy-Mot to vor Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen; aber wo Adorno und Heidegger sich jenseits einer Welt von Mißverständnis-sen nicht verstehen, da gibt es keinen nachträglich zu entscheidenden oder zu vermeidenden Widerspruch, sondern einen Ruck in der Sache.

Freilich wandert geschichtlicherweise nicht nur die Metaphysik in die Mikrologie ein,2 auch die Anti-Metaphysik; und unbeschadet der trotzigen Adopt ion des alten Titels bleibt Adornos Denken antimetaphysisch, selbstsicherer noch, aus gutem Grund, in der Ästhetischen Theorie als in der Negativen Dialektik. Das »Zurück-

1 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 3f. 2 Theordor W Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 397.

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DAS UNDINGLICHE DING 69

weichende«, der Wahrheitsgehalt, wie er sich im anti-idealistischen Denken seit Schopenhauer und Feuerbach aufgefächert hatte, siedelt sich kaum mehr an Ort und Stelle an, in den Sätzen oder Aussagen, die seine dem zeitgenössischen Bewußtsein zugekehrte, für den »Jargon« poröse Seite sind, sondern in den Interstit ien ihrer Kon-stellation, gleich der von Derrida so genannten differance. Seit Witt -gensteins Bemerkung, die Sätze der Logisch-philosophischen Ab-handlung erläuterten dadurch, »daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt«,1 oder Heideggers Hinweis, es gelte, »nicht eine Reihe von Aussagesätzen anzuhören, sondern dem Gang des Zeigens zu folgen«,2 ist diese schon in Nietzsches Rede vom »Wiederkäuen« virulente Einsicht allerdings einigermaßen geläufig geworden; tatsächlich ist sie ungefähr so alt wie die Philosophie selber, jeder Dialog Piatons bezeugt es. Das angemessene Verhalten dem sua sponte zurückweichenden Wahrheitsgehalt, seiner heimli-chen Geschichtlichkeit, gegenüber nannten Alkmaion und Herakl it xynienai: Zusammenbringen.

Wo sind also die mit den Namen Heidegger und Adorno verbun-denen Wahrheitsgehalte zusammenzubringen? Tautologischerweise im Konkreten.3 Adorno hat zwar bis zuletzt darauf beharrt, daß die Heidcggersche Philosophie zum Konkreten gar nicht komme, ihrer ideologischen Imprägnation wegen nicht einmal kommen könne (ein interpretatorisches Apriori) , und mit Vorliebe hat er die Probe aufs I.xempel des berüchtigten »Seins« gemacht. Auch dabei scheint ihm Hegel als »der Dunkle«, ho skoteinos, im Weg gestanden zu haben4 - ein Titel, den über Heraklit Heidegger sich selber vindiziert hatte: Er sei »der Dunkle, weil er fragend in die Lichtung denkt«.5

Fragen heißt sprachlich zu erfahren suchen, und Lichtung ist einer der »<einsgeschicklichen« Namen für Wahrheit. Deren Aufspüren in der Sprache führte den späten Heidegger bekanntl ich zu einer, zu-rückhaltend gesagt, Erweiterung des herkömmlichen Sprachbegriffs - » De Sprache spricht«6 - , die uns nach vierzig Jahren Kreuz- und Qucr icnken vielleicht nicht mehr gar so abwegig anmutet; überdies

1 LuJwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Kritische Edition, hg. vor B. McGuiness und J. Schulte, Frankfurt a. M. 1989, Satz 6.54.

2 Hedegger, Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 2. 3 Vg. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 273. 4 Th:ordor W. Adorno, Skoteinos oder Wie zu lesen sei, in: ders., Drei Studien zu

He>el, Frankfurt a. M. 1963. 5 Hedegger, Vortrage und Aufsätze, a. a. O., S. 282. 6 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 12.

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7° CLAUS-ARTUR SCHEIER

wurde Adorno zur Parataxe der Ästhetischen Theorie um einen virtuellen Mittelpunkt' durch eine analoge Erweiterung genötigt: »Der Sprachcharakter der Kunst führt auf die Reflexion, was aus der Kunst rede; das eigentlich, der Hervorbringende nicht und nicht der Empfangende, ist ihr Subjekt«;2 seine Lehre vom »Sprachcharakter« der Kunstwerke ist keine Metapher. Begegnen und trennen sich demnach Adornos und Heideggers eschatologische Erfahrungen -vage genug - in der Gegend eines ursprünglich veränderten Sprach-Gedankens, dann müssen sich darin auch die beiden äußeren Pole des Abstraktesten, des Heideggerschen Seins, und des Konkretesten, des Adornoschen Kunstwerks, zusammenbringen lassen.

Daß Heideggers Sein nicht in der gleichen Abstraktion genommen werden kann wie das unbestimmte, einfache Unmittelbare Hegels, auch dort, wo nicht das Sein der Seienden, sondern das Sein als Sein, das mit Ypsilon geschriebene oder das durchkreuzte Sein3 genannt ist, dürften schon die komplementären Titel Sein und Zeit (1927) und Zeit und Sein (1962) anzeigen. Heidegger denkt Zeit früh als Zeit des Daseins, praktische Zeit,4 später als Geschichte (des Denkens) im Sinn des Geschicks. Diese Entwicklung ist in ihren Hauptstadien festzuhalten, um sich nicht an der Trichotomie von technischem, besinnlichem und dichterischem Denken zu versehen, die seinen reifen Gedanken konstelliert; allein aus der existenzialen Dichoto-mie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ist sie nicht erklärbar. Die ihm gelegentlich angetragene Forderung, eine Ethik zu verfas-sen, bleibt schon deshalb verwunderlich, weil diese »Besinnung« von Anfang an, auch im wörtlichen Sinn, ethisch war (ethos meint die Wohnstatt, den Ort, wo eines zu Hause ist):5 was beschreiben die sogenannten Existenzialien anderes als das praktische Wesen des Daseins?

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M., S. 541.

2 A. a. O., S. 249. 3 In Über Die 'Linie' (1955), unter dem Titel Zur Seinsfrage in Wegmarken, Frank-

fur t a. M. 1967, S. 213-253. 4 Vgl. Heideggers Vortrag vor der Marburger Theologenschaft 1924: Der Begriff der

Zeit, Tübingen 1989. 5 Vg\. Sein und Zeit, Halle a. d.S. 1927, S. 189: »Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-

sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zu-hause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.«

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Mit dem Terminus der Zuhandenheit kehrte Heideggers Kriti k sich zunächst nämlich gegen die eigne Herkunft aus der als theore-tisch, d. h. als Ontologie der Vorhandenheit verstandenen Husserl-schen Phänomenologie. Es dürfte das unausgedachte Wozu der existenzialen Entschlossenheit gewesen sein, das Heidegger dann bewogen hat, den in der Rektoratsrede kulminierenden Weg der poietischen Verlängerung der Fundamentalontologie zu wählen mit dem Anspruch, nicht mehr das einzelne, sondern ein besonderes Dasein aufzurufen, ein ganzes Volk auf ein immanentes Telos, auf die Her-Stellung des neuen Staats einzustellen. Der keineswegs plötzlich folgende Rückzug aus der Politik hat aber sein philosophi-sches Interesse daran, daß er sich zur Auseinandersetzung mit die-sem poietischen Un-Wesen des eignen Gedankens zuschärft, das 1949 als »die Gefahr« erkannt sein wird; unmittelbar bevor die Einführung in die Metaphysik von 1935 den Akzent provokativ auf das griechische Volk verlagert, hatte Heidegger, zunächst noch in der Gefolgschaft des Georgeschen Hölderlin, die Vorlesung über die Hymnen Germanien und Der Rhein gehalten (1934/35). Der Wir-kungsgeschichte von Sein und Zeit unbeschadet ist es diese Ent-deckung des dichterischen Denkens, die als der geschichtliche Ein-schlag von Heideggers ursprünglich praktischem Gedanken zu neh-men ist, der hier erst, in der Disjunktion seiner poietischen Gefähr-dung, den eigensten Ort findet: sie wird auseinandergelegt in die Extreme des poetischen Denkens (dichterischen Sagens) und des technischen Denkens (Rechnens), das fortan verklammert bleibt mit der operational-theoretischen Vorhandenheitsontologie.'

Den entscheidenden Übergang macht die Vortragsgruppe über den Ursprung des Kunstwerks (1935/36) als der durchaus noch zwei-deutige Versuch, die Wahrheit des (poietischen) Werks in die vor-läufige (praktische) Besinnung zurückzunehmen. Die Amphibolie der sich zersetzenden Poiesis erhellt sogleich daraus, daß das Wesen des Kunst-Werks »Gestell« heißt,2 ein Name, der später dem Wesen der Technik vorbehalten bleibt. Es ist nicht bloß die Thematik, die den Ursprung des Kunstwerks als einzigen Heidegger-Titel in der Ästhetischen Theorie erinnert: Adorno zitiert ihn im Zusammenhang

1 Was in Die Frage nach der Technik (S. 24) erlaubt, den »metaphysischen« Gegen-stand in den technischen Bestand und ferner überhaupt die Metaphysik unmittel-bar in die Technik zu überführen.

2 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 52.

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7̂ CLAUS-ARTUR SCHEIER

seiner eignen Bestimmung des Kunstwerks als Ding.1 Und in der Tat ist es hier, in diesem Schnittpunkt der Heideggerschen und der Adornoschen Zeit-Kritik , wo der »seinsgeschickliche« Begriff des Dings entspringt, indem »aus dem Wissen vom Werkhaften des Werkes die Frage nach dem Dinghaften des Dinges auf den rechten Weg gebracht« werden soll.2

Heidegger denkt nicht minder in Konstellationen als Adorno: »Einblick in das was ist, - dies nennt die Konstellation im Wesen des Seins«,3 und in dem 1944/45 geschriebenen Dialog Zur Erörterung der Gelassenheit entspringt sie der Nacht von Hölderlins Brod und Wein: der »Näherin der Sterne«.4 Als »die Dimension, in der das Sein als Gefahr west«5 ist sie mithin eine zwiefache, genauer eine Kon-stellation von Konstellationen. Denn die »Kehre«, die der »Einblick in das was ist« eröffnet, wäre der »Einblitz von Welt in die Verwahr-losung des Dings«.6 Die früh so genannte ontologische Differenz kann von da an — wesentlich in den Vortrags-Sammlungen Vorträge und Aufsätze (1954) und Unterwegs zur Sprache (1959) - zu Ende gedacht werden. Zunächst meinte sie nur den Unterschied des Seins vom Seienden, der seine geschichtliche Konkretion daran hat, daß er das praktisch umgedachte theoretische Verhältnis von Funktion und Argument — f(a) — ist, des fundamentum inconcussum der opcratio-nalen Logik Freges und Russells, das Wittgensteins Tractatus in die äußerste Konsequenz des »Wovon man nicht sprechen kann, dar-über muß man schweigen«7 versenkt hatte.8 Aber in der Auseinan-dersetzung mit der eignen poietischen Krise - zuinnerst am Beispiel von Nietzsches »Metaphysik« - beginnt Heidegger, den Grund oder Ab-Grund dieses Fundaments, das operational-logische Tertium non datum, nämlich den Unterschied zwischen Funktion und Argu-

1 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 152. 2 Heidegger, Holzwege, a. a. O., S. 57. 3 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 44. 4 Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 71. 5 Heidegger, Die Technik und die Kehre, a. a. O., S. 44. 6 A. a. O., S. 43f. 7 Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, a. a. O, S. 7. 8 Adorno hat das so gesehen: »Der Kultus des Seins aber, oder wenigstens die At-

traktion, die das Wort als ein Superiores ausübt, lebt davon, daß auch real, wie einst in der Erkenntnistheorie, Funktionsbegriffe die Substanzbegriffe immer wei-ter verdrängt haben« (Negative Dialektik, a. a. O., S. 71). Zum Verhältnis von Sein und Funktion vgl. Claus-Artur Scheier, Wittgensteins Kristall. Ein Satzkommentar zur Logisch-philosophischen Abhandlung, Freiburg/München 1991, und Die Spra-che spricht. Heideggers Tautologien, in: Zt. f. phil. Forsch. 47 (1993), S. 60-74.

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DAS UNDINGLICHE DING 73

mcnt, Freges »leere Stelle«' als solche auszuloten. Zuletzt ist das Verhältnis dies:

Die vormaligen Argumente oder die Seienden: die Dinge. Die vormalige Funkt ion oder das Sein: die Welt. Der Unterschied oder die »Fuge« von beiden: die Zeit.

Auf der theoretisch-technischen Seite der geschichtlichen Gegen-wart nun sind die Dinge verwahrlost oder der »Bestand«, die Welt hat den Charakter des Gestells, und die Zeit ist die »Uhrzeit« mit ihren drei Dimensionen Vergangenheit, Jetzt und Zukunft. Auf der dichterisch-praktischen Seite des »anderen Anfangs« sind die Dinge allererst als Dinge »zugelassen«, die Welt ist das »Geviert« und die Zeit die »Vierung«. Diese ursprüngliche Zeit, der »Zeit-Spiel-Raum«, eint das Geviert 1) als das »Zuspiel«2 von »Nähe«, die 2) in Vorenthalt (Zukunft) und 3) Verweigerung (Vergangenheit) 4) die Gegenwart als die selber un-zu-reichende reicht. Daß sie darin vierdimcnsional gedacht wird, läßt sie mit den »Gegenden« des Gevierts zusammenbringen, 1) das Zuspiel mit den »winkenden Boten der Gottheit«, 2) den Vorenthält mit dem Himmel, 3) die Verweigerung mit der Erde als der versteinerten »Schwelle«3 und 4) die Gegenwart mit den »Sterblichen«. Diese Konstellation von Zeit und Sein ist als »Spiegel-Spiel« der Welt4 in sich reflexiv und genau dadurch der »andere Anfang« zum intentionalcn Unwesen der Welt des bloßen Bestands. So sind in der Gefahr der Kehre die dreidimen-sionale und die vierdimensionalc Zeit, die eineindcutige (mtentiona-le) und die vierfältige Welt, das verwahrloste Ding (der Bestand) und das »dingende« Ding miteinander und gegeneinander konstelliert. Aber auf der Seite des anderen Anfangs ist die Konstellation von Zeit, Welt und Ding - auch dies in mehreren Anläufen5 - so gedacht, daß jedes der drei die andern beiden »ermittelt«, d. h. in die Mitt e trit t und sie zu Extremen macht.

Das sieht nach einem vol lkommenen Gleichgewicht von Zeit-Raum, Welt und Ding aus, das Heidegger auch vorgeschwebt haben mag. Aber dem ist nicht so - aus dem geschichtlichen Grund, daß

1 Gottlob Frege, Funktion und Begriff in: Funktion, Begriff Bedeutung. Fünf logi-sche Studien, hg. und eingel. von Günther Patzig, Göttingen 1969 ( 1962), S. 29.

2 Heidegger, Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 16. 3 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 26f., 63. 4 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 178f. 5 Für das Ding im Ding-Vortrag (1950), für die Zeit in Die Sprache (1950) und für

die Welt in Zeit und Sein (1962).

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die nach-metaphysische Welt ihr Konkretum am Ding hat. Wenn Heidegger unterstellt, der Mensch habe »bisher das Ding als Ding so wenig bedacht wie die Nähe«,' dann hat dies für die Metaphysik bis in Hegels Logik und deren Ding-Kapitel hinein seine nicht-tau-tologische Rechtfertigung daran, daß sie ein solches Ding nicht brauchte - weil, wie der Blick auf das nicht länger metaphysisch gedachte Ding verdeutlicht, Polis, Civitas und Staat die ihnen jeweils eigentümliche Gefahr allerdings noch nicht an der Verdinglichung hatten. Anderseits hat das anti-metaphysische Denken seit Feuer-bach immer wieder die ursprüngliche Differenz zwischen dem »na-hen« und dem »verdinglichten« Ding aufreißen müssen, wie das paradigmatisch von Marx' Erörterung des Fetischcharakters der Ware bezeugt wird.

Dieser Primat des Dings entspringt dem geschichtlichen Abschied des spekulativen Wissens und mit ihm der Metaphysik. Demokrits Gnome, der Mensch sei, was wir alle kennen,2 ist eine metaphysische Überzeugung, aus dem Zweifel ins Unrecht gesetzt erst im 19. Jahrhundert, dem der Mensch desto unkenntlicher wurde je kennt-licher ihm die »exakte« Wissenschaft die Natur machte. Sein sich entgehendes Wesen wandert vor dem entzognen Jenseits ins Ding ein, das in idealistischer Terminologie zu beschreiben wäre als die sich irreversibel sedimentierende produktive Einbildungskraft. Wo immer das nach-metaphysische als anti-metaphysisches Denken sich in die ihm eigne Ursprünglichkeit vertiefte, begegnete es, wie das phänomenologische Bewußtsein Hegels dem Schädelknochen, dem Ding als der entfremdeten Menschenzeit. Und diesem Sach-Verhalt entsprang zugleich, der Hegeischen Rede von ihrem Ende spottend, eine Kunst, von der Feuerbach prophezeite, daß sie »an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen« werde.3

Daß die Möglichkeit höher steht als die Wirklichkeit4 - ein Axiom des anti-metaphysischen Denkens (das metaphysische hatte sein Prinzip am Actus purus) - , wird wahr, sobald die Wirklichkeit, seit der Restauration, sich gegen sich selber als gegen ihre eigne Mögl ich-keit kehrt, so daß diese ihr polemisch gegenübertritt. Das eine ist geschichtlich als Verdinglichung der wirklichen, das andere als U to-

1 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 164. 2 Anthröpos cstin hopantes idmen, DK 68 B 165. 3 Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: Ge

sammelte Werke, Bd. 9, hg. von W. Schuffenhaucr, Berlin 1982, S. 248. 4 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 38.

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DAS U N D I N G L I C H E DIN G 75

pie der möglichen Welt zum Vorschein gekommen. Diese Gegen-wendigkeit, die der Kunst zunehmend - Baudelaire notierte es be-reits für Ingres - ihren darstellenden Charakter entzog, ist das Wesen des ursprünglich gedachten Dings. Verhalten sich nun bei Heidegger Vierung, Geviert und Ding selbst zu chronologischer Zeit, techni-scher Welt (Gestell) und Bestand wie Möglichkeit zu Wirklichkeit, dann muß das Ding, dieses existenzial Nächste des geschichtlich der Verdinglichung überantworteten Menschen, jene an sich schlechthin undingliche Möglichkeit an ihm selber haben. Heidegger nennt sie, in Erinnerung an Nietzsches nahe und nächste Dinge,' einfach »die Nähe«, nämlich die Nähe der Gegenden des Gevierts zu einander als des andern der technischen Welt. Während diese inzwischen mit der »Fernsehapparatur« den »Gipfel der Beseitigung jeder Möglichkeit der Ferne« erreicht hat,2 erbrächte das Ereignis, führe es als »Ein-Blick« in das »was ist und für das Seiende gehalten wird«,3 die Konstellation von Ding, Geviert und Vierung: »Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne«.4

Es bedarf keines hermeneutischen Kunststücks, diese seinsge-schickliche Hoffnung in der dialektischen wiederzufinden: »Der versöhnte Zustand annektierte nicht [...] das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt [...]«.5 Der Unterschied ist gleichwohl nicht zu übersehen. Das Hcideggersche Ding ist zwar nicht abstrakt, aber es bleibt Mittel . Es »dingt« oder »gebärdet« Welt nur kraft der in ihm »nähernden« Nähe; sie allein, nämlich »das Ereignis«, ist das Kon-stellierende, und Adornos Unterstellung der Abstraktheit des He i-deggerschen Seins hat ihr Recht daran, daß er nicht länger die Hoffnung auf ein »absolut Verschiedene[s]« teilt, »das furchtbar des Denkens spottete«.6 Ein neuer Gedanke geht dort auf, wo eine alte Hoffnung untergeht, so jedenfalls, seit die Philosophie, nach der Metaphysik, auf nichts anderes mehr zu setzen hatte als auf die Hoffnung. Heideggers Ereignis, wie vordem Nietzsches Dionysos, käme thyrathen, »von draußen rein«. Aber daß z. B. der Film, wie der Anfang des Ding-Vortrags festhält, sein Gezeigtes noch dadurch bezeugt, »daß er zugleich den aufnehmenden Apparat und den ihn

1 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschlichcs, 2.2, Nr. 5, 16. 2 Heidegger, Vortrage und Aufsätze, a. a. O., S. 163. 3 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 264. 4 Heidegger, Vortrage und Aufsätze, a. a. O., S. 176. 5 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 190. 6 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O, S. 397.

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bedienenden Menschen bei solcher Arbeit vorführt«,' bezeugt sei-nerseits einen Circulus vitiosus, der die Welt, die aus der »techni-schen« bereits zur »verwalteten« geworden ist, dem Computer näher als der Maschine, so hermetisch abschließt wie Baudelaires Couver-cle: »Was indessen im Wort Sein, gegenüber ta onta, nachhallt: daß alles mehr sei, als es ist, meint Verflochtenheit, kein ihr Transzenden-tes«.2

Wie sich Adornos geschichtliche Welt der Informationsspeiche-rung von der Heideggers unterscheidet, die erst nur Energiespeiche-rung war,3 unterscheidet sich das ästhetisch gedachte vom seinsge-schicklich gedachten Ding. Dieses trit t als das Andere des Bestands mit seiner Welt und seiner Zeit zur Konstellation des anderen An-fangs zusammen, während jenes selber - je augenblicklich, nicht nur »jäh vermutlich«4 - der andre Anfang »zum perennierenden Stande von Unfreiheit im Ganzen«5 ist, es selber die Konstellation von Welt und Zeit: »Was transzendiert, ist nicht ohne das, was es transzen-diert«.6 Hier ist das Confinium von Heideggerschem und Adorno-schem Gedanken. Heideggers Ding gebärdete als dichterisch Geru-fenes7 seine Welt dank seiner Zeit und war so das dingende Ding. In Adornos Ding, das je Welt und Zeit in sich auffängt, ist diese spröde Identität durchlichtet von der »Innigkeit« des Unter-Schieds,8 der es mitten in der verdinglichten Welt nicht länger als das Nicht-Ding, sondern als ein Un-Ding erscheinen läßt. Für sich als das undingliche Ding - Kunstwerk - ist es, in prägnanter Engführung mit Leibniz' intelligibel-poietischer Welt, seinem Begriff nach Monade,9 »fenster-los« als der Innen-Raum, der die »Rettung des Scheins« ist;'0 umge-kehrt waren im Heideggerschen Gedanken die Dinge kraft des Sagens in den »Glanz von Welt« geborgen."

Der Schein, das, »was nicht ist und doch nicht nur nicht ist«,12 ist das nicht länger metaphysisch gedachte Intelligible, kraft dessen das

1 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 163. 2 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 110. 3 Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 18-21. 4 A. a. O, S. 180. 5 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 9. 6 A. a. O., S. 424. 7 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O, S. 21. 8 A. a. O., S. 24f. 9 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 268.

10 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 184, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 163ff. 11 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O, S. 24. 12 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 383.

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DAS UNDINGLICHE DING 77

Kunstwerk, den universalen »Verblendungszusammenhang« reflek-tierend,1 zum undinglichen Ding wird. So ist es der Schein dessen, was im Bestehenden, weil selber ohne Bestand, nicht erscheinen kann: Schein des Scheinlosen als die ursprünglich sich entziehende Wahrheit. Diese, bei Heidegger als die »Lichtung« entrückt im Spiegel-Spiel des Gevierts, hat ihr ethos, hier und jetzt, im Kunst-werk als dessen »Wahrheitsgehalt« - als das nicht und niemals Ge-machte,2 das gleichwohl nur durchpoiesis, sein Anderes, nicht schon durch praxis, »Gelassenheit«, zu vergegenwärtigen ist. In der Kunst koinzidieren darum die Welt des Dings und die Welt des Bestands, die bei Heidegger toto coelo verschieden bleiben mußten: »Die Ele-mente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu finden«,3 und dafür steht einzig die Kunst ein.

Das ist zugleich der konkrete Ursprung der Adornoschen Dialek-tik . Während bei Heidegger die Bereiche des rechnenden und des dichterischen Denkens, des Jetzt und des Einst, so auseinander sind, daß das »Zeigen« immerzu umspringen muß - an der kon t ras t ie-renden Tektonik der Texte bis zur Monotonie ablesbar - , oszilliert der Adornosche Gedanke im Satz selbst, der dadurch seinerseits monadologischen Charakter gewinnt:4 allein durch dies perennie-rende Vor-und-zurück, worin jeder seinen Wahrheitsgehalt »ver-setzt«, bleibt der Satz davor gefeit, metaphysisch, d. h. »affirmativ« zu werden. Die korrespondierende künstlerische Verfahrensweise ist die Montage; denn Montage »schaltet mit Elementen der Wirk -lichkeit des unangefochten gesunden Menschenverstands, um [...] ihre latente Sprache zu erwecken«.5 Darin negieren die Dinge ihre eigne Dinglichkeit intermittierend, sind mit Unsinnhchem, Intelh-giblem »infiltriert«.6 Wie jeder Versuch, die Copula, das Sein, »über-haupt nus zu denken, [...] auf Seiendes hier und dort auf Begriffe« führt,7 ist demzuvor das Denken selbst in der Weise des Dings da: die Kunst »denkt selber«,8 indem sie der Realität, aus der das Denken unter dem Bann abstrakter Identität sich für sich nicht zu befreien

1 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 252 2 A. a. O..S. 198. 3 A. a. O, S. 199. 4 Vgl. bereits Minima Moralta 1.44. 5 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 90. 6 A.a.O., S. 150. 7 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 109. 8 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 152

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^ CLAUS-ARTUR SCHEIER

vermöchte, als je neue Konstellation die utopische Versetzung ihrer Elemente vormacht.'

Was Adorno daher den »Zeitkern« des Kunstwerks nennt, die »sedimentierte Geschichte«,2 ist zunächst da als dessen »Sprachcha-rakter«, denn »Was Verdinglichung heißt, tastet, wo es radikalisiert wird, nach der Sprache der Dinge«3 als nach der »nicht dingfest signifikativen Sprache«.4 Das Kunstwerk konstelliert sich so als das »Mehr«,5 das »im Wort Sein [...] nachhallt: daß alles mehr sei, als es ist«;6 und mehr als das diskursive - das folgernde - Denken ist die »intentionslose[-] Sprache«7 des undinghchen Dings, die einzig das »Andere« zu vergegenwärtigen vermöchte. Dies »transcendens schlechthin«* hatte Heidegger zum Schluß gedacht als »Die Sprache des Wesens« selbst,9 die »spricht als das Geläut der Stille«,10 wobei die Stille als die anfängliche Dikeu näher die »Zeige« ist:12 »Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige«. Indem ihr »alle Zeichen entstammen«,13 ist diese »Einheit des Sprachwesens« als der »Aufriß«14 das Selbe wie die Einheit des Gevierts, der Welt,15 nämlich die Vierung: die ursprüngliche Zeit.

Aber nicht nur »Riß« ist dasselbe Wort wie »ritzen«,16 auch »schreiben«, und deshalb ist die Sprache nicht metaphysisch von der »Verlautbarung«, von derphöne her vorzustellen,17 sondern zu den-ken aus dem Aufriß, der der Logos als die »lesende Lege« ist,18 d. h. aus der Schrift. Es »wäre die gleiche«, sagt Adorno, die Nähe von Kunst- und Naturschönem evozierend, »die in dem verzeichnet ist,

1 A.a. O., S. 199. 2 A. a. O., S. 133. 3 A. a. O., S. 96. 4 A. a. O, S. 105. 5 A. a. O, S. 122. 6 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 110. 7 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 274. 8 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O, S. 38. 9 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 200.

10 A. a. O, S. 30. 11 A.a. O., S. 26 - die Gerechtigkeit, die im Adornoschen Kunstwerk die entzogene

Versöhnung vertritt. 12 A. a. O, S. 168. 13 A. a. O., S. 254. 14 A. a. O., S. 251f. 15 Vgl. schon Heidegger, Holzwege, a. a. O., S. 51. 16 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O, S. 252. 17 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, a. a. O, S. 245. 18 A. a. O, S. 228.

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DAS UNDINGLICHE DING J<)

was [...] mit einer verschlissenen und schönen Metapher Buch der Natur hieß«.1

Begnügt sich das Denken »am Ende der Metaphysik« seinsge-schickhch »mit der Erweckung einer Bereitschaft des Menschen« -der Gelassenheit - »für eine Möglichkeit, deren Aufriß dunkel, deren Kommen ungewiß bleibt«,2 dann ist es diese Möglichkeit, die, vom Ding als dessen eigenste Undinglichkeit vergegenwärtigt, die ästhe-tische Monade zum »Einstand des Verschwindenden und Bewahr-ten«3 macht. Sprache sind Kunstwerke daher nur als Schrift;4 wie-wohl auch dies nicht undialektisch, sondern intermittierend. Zwar hatte Heidegger die Einheit von Wort und Schrift als die Handschrift gefeiert,5 aber das Verhältnis ist different in der ursprünglichen Zeit, in der Vorenthalt (Ankommen) und Verweigerung (Gewesen) eben-so auseinander gehalten sind6 wie in der ursprünglichen Welt Him-mel und Stein, die ihren Einstand nur im Kristall hätten. Dieser Sachverhalt herausgedacht ist das undingliche Ding, als Monade der in sich stillgestellte, kristallisierte Prozeß.7 Freilich ist »die Erfahrung von Kunstwerken adäquat nur als lebendige«,8 d. h. nicht als Kristall, sondern als Kristallisation.9 Sie zuinnerst ist »der Laut der Reibung der antagonistischen Momente, die das Kunstwerk zusammenzu-bringen trachtet«,10 das Knistern im Spiel zwischen Schrift- und Sprachcharakter. Darin erst, nicht schon als Schrift, ist Kunst Mne-mosyne."

Zwar zitiert Heidegger gelegentlich aus Brod und Wein: Warum schweigen auch sie, die alten heiigen Theater?

1 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 105. 2 Heidegger, Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 66. 3 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O, S. 124. 4 A. a. O..S. 189. 5 Martin'Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 54 (Vorlesung Wintersemester 1942/43),

hg. von M. S. Frings, Frankfurt a. M. 1982, S. 119. 6 Heidegger, Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 14,16. 7 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 268. 8 A. a. O, S. 262. 9 Adorno erinnert mit dem Terminus Kristallisation Stendhals De l'amour, dem er

wohl auch, vielleicht über Baudelaires Peintre de la vie moderne, den Gedanken der Schönheit als »promesse du bonheur« verdankt (eh. XVII ; vgl. die Formulie-rung in Rome, Naples et Florence unter dem Datum des 28. Oktober 1816): »Ce que j'apelle cristallisation, c'est l'operation de l'esprit, qui tire de tout ce qui se presente la decouverte que l'objet aime a de nouvelles perfections.« (De l'amour,

• eh.II) 10 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 264. 11 A.a.O., S. 124.

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So CLAUS-ARTUR SCHEIER

und kommentiert Stifters Eisgeschichte, aber seine Sorge gilt auch bei Hölderl in nicht dem Roman und nicht dem Drama, sondern dem »rein Gesprochene[n]«' der Lyrik , die allein das Entrücktsein des Gevierts zu nähern vermöchte. Es ist dessen Versammlung im Ding selbst, welche der ästhetischen Theorie erlaubt, den Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman zu bestimmen und den Ver-such zu machen, das Endspiel zu verstehen: »Das Drama lauscht, was nach einem Satz wohl für ein anderer kommt«.2 Zuinnerst ist dies das Lauschen der dialektischen Monade selber, aus der »ein Wir spricht und kein Ich«.3 Kunst ist Mnemosyne, Er-Innerung, »die in der That höhere Form der Substanz«4 dadurch, daß sie, wie ihre Definition, von dem »vorgezeichnet« ist, was sie einmal war,5 und das Kunstwerk ist - als Prozeß - was es war, nämlich »seit der attischen Tragödie Verhandlung«;6 das ist sein ti en einai. Das un-dingliche Ding lauscht auf die Konvergenz von versöhnter Realität und wiederhergestellter Wahrheit am Vergangenen.7 Dessen seinsgc-schicklicher Name war Verweigerung.

Die Memnonssäule des ägyptischen Theben sang bei Sonnenauf-gang; sie schweigt, seitdem Septimius Sevcrus sie 200 n. Chr. restau-rieren ließ. In Botho Strauß' Stück Die Zeit und das Zimmer sagt die Säule zu Marie Steuber: »Alles spricht. So auch ich.« Aber sie klagt auch: »Ich bin aus dem Herzen der Dinge verstoßen.«

1 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 16. 2 Theodor W Adorno, Noten zur Literatur Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. von

Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 308. 3 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 250. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte

Werke, Bd. 9, hg. von W Bonsiepen und R. Heede, Hamburg 1980, S. 433. 5 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 11. 6 A.a. O, S. 152. 7 A. a. O., S. 67.

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KARL-HEIN Z SCHWABE

Das Ich als Konstitutionsbedingung des ästhetischen Gegenstandes

I. Die Herrschaft des Ich und die Macht der Bilder

D ie Rede vom Ich, einst aufrüttelnder Weckruf gegen den dog-matischen Schlummer, ist in unseren postmodernen Zeiten

selbst in den Verdacht des Dogmatismus geraten. Längst wurde das Ich in der anschwellenden Flut von Sinnesdaten unrettbar verloren gegeben. Längst mußte auch eingestanden werden, daß es in die Fesseln der Systeme sich nicht binden läßt.

Schon Kant räumte bei seiner Empirismuskritik ein: »Das Be-wußtsein seiner selbst nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der innern Wahrnehmung ist blos empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben.«' Er hoffte jedoch, die flüchtigen Gestalten der Wahrnehmung, der Einbildungskraft und der Reflexion in einer »Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und, worauf in Beziehung, alle Vorstellung von Gegen-ständen allein möglich ist«,2 dauerhaft zur Ruhe zu bringen.

Aber nicht nur im Denken, auch im Handeln sucht er nach einer Einheit; denn der Mensch muß »nothwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eige-nen Subjects noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen...«3

Dieses Ich findet Kant in der reinen Spontaneität der Vernunft, die eine Freiheit des Willens ermöglicht. Die Freiheit des Willens gebie-tet dem Menschen, die Grundsätze seines Handelns aus sich selbst zu bestimmen und sich dabei seiner eigenen Vernunft zu bedienen,

1 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 107.

2 Ebd. 3 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, a. a. O.,

S.451.

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82 KARL-HEIN Z SCHWABE

statt sich von seinen Begierden oder von fremden Autoritäten leiten zu lassen. Den Rechtsanspruch auf diese Willensfreiheit sieht er darin begründet, daß sich der Mensch auf verschiedene Weise be-trachtet und zu den Dingen ins Verhältnis setzt, als ein »Ding in der Erscheinung« und als ein »Ding oder Wesen an sich selbst«: »...daß er sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch die Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mit-hin als zur Verstandeswelt gehörig).«'

Kants Transzendentalphilosophie hat damit zwar die Einheit des Ich als Geist, als ein Denken, das sich selbst denkt, begründet und ins Zentrum der Bewußtseinsvorgänge gerückt, aber um den Preis der Scheidung des Menschen als »Erscheinung seiner selbst« als sinnliches Wesen, von seinem »eigentlichen Selbst« als Vernunft, als Intelligenz, das unsichtbar und keiner Anschauung zugänglich ist.2

Auf ähnliche Weise ist auch für Hegel das Ich als Subjekt reiner Geist, der zwar in die Welt hinaus muß, um sich zu verwirklichen, aber doch erst dann, wenn er alles Sinnliche abgestreift hat, bei sich selbst ankommt. A m Ende der Geschichte steht ein absoluter Geist, der zwar die ganze Welt in sich dialektisch aufgehoben hat, aber doch nur in ihren ideellen Bestimmungen. Der sinnliche Zugang zur Wahrheit gehört nach Hegels Meinung früheren Zeiten an. Ihm »erscheint der Geist unserer heutigen Welt... als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein... Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.«3

Der Dialektiker sieht zwar in dieser Entwicklung durchaus auch einen Verlust; denn er weiß, daß die allgemeinen Prinzipien und Verhältnisse, in die der Mensch nun gestellt ist, ihn in seiner indivi-duellen Freiheit und Selbstbestimmung einengen. Auch sieht er, daß die Reflexionsbildung mit dem Festhalten allgemeinerer Gesichts-punkte den Interessen der Zeit dienstbar ist. Die Abstreifung des Sinnlichen jedoch betrachtet er als einen notwendigen Vorgang in der Entwicklung des Geistes, so daß selbst der Künstler in dieser

1 Kant, Grundlegung, a. a. O., S. 457. 2 Vgl. a. a. O, S. 457 und S. 452. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 1, Berlin und Weimar 1965, S. 21

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DAS ICH ALS KONSTITUTIONSBEDINGUNG 83

reflektierenden Welt mehr Gedanken in seine Arbeit einbringen muß.1

Der im Sinnlichen verhaftete Geist ist zu sehr dem Zufall seines Stoffs ausgesetzt, um uns sicher führen zu können. So scheinen der Reflexionsbildung des modernen Verstandes die Bilder entbehrlich zu sein oder höchstens der Erkenntnis als Hilfsmittel dienlich. Für unseren modernen Geist, der die Gegenstände der Sinne distanziert betrachtet und sein eigenes Tun kritisch begleitet, erhält das zerglie-dernde und abstrahierende Wort das entscheidende Gewicht.

Wie sich jedoch in der geschichtlichen Entwicklung unseres Jahr-hunderts herausstellte, ist die Macht der Bilder - der poietischen wie der mimetischen, der mythischen und der realistischen, der symbo-lischen und ikonischen - keineswegs gebrochen. Die Bilder des Lebens und der Kunst stehen uns in einem nie gekannten Überf luß zur Verfügung, ohne uns überflüssig zu werden. Dank ihrer techni-schen Reproduzierbarkeit und Übertragbarkeit können wi r uns nach Belieben der faszinierenden Flut von Bildern des Schreckens und der Verlockung, der verruchten Tat und des schönen Scheins, des banalen Alltags und der erhabensten Ideale aussetzen, die uns durch die Kanäle der Medien, von den Reklamewänden herab oder aus den Inszenierungen der Künste zuströmen. Noch immer lassen wi r uns von den Bildern unserer Wünsche verführen oder können sie uns im Traum herbeirufen. Auf diese Weise hat sich die Reflexion auch der Bilder bemächtigt und die Bilder bedienen sich der Mittel des reflektierenden Verstandes, jedoch ohne sich in ihm aufzulösen.

Fragen wir nach den Gründen der Macht, die die Bilder in unserer reflektierenden Welt über uns haben, so können wi r gewiß auch auf die heutigen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten ih-rer Verbreitung und der Berechnung ihrer Wirkung verweisen. Ihr eigentümlicher Sinn läßt sich jedoch daraus nicht erschließen. Einen Zugang zu diesem Sinn finden wir vielleicht in dem Hinweis Hegels auf die das menschliche Bewußtsein beunruhigenden Gegensätze «des abstrakten Gesetzes gegen die Fülle der einzelnen, für sich auch eigentümlichen Erscheinungen;... des toten, in sich leeren Begriffs im Angesicht der vollen konkreten Lebendigkeit; der Theorie, des sub-jektiven Denkens, dem objektiven Dasein und der Erfahrung gegen-über«, die »durch die neuere Bildung erst ausgeführt und auf die Spitze des härtesten Widerspruchs hinaufgetrieben sind. Die geistige Bildung, der moderne Verstand bringt im Menschen diesen Gegen-

1 Vgl. a. a. O., S. 22

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s4 KARL-HE IN Z SCHWABE

satz hervor, der ihn zur Amphibie macht, indem er nun in zweien Welten zu leben hat, die sich widersprechen... Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Will e allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie in Abstraktionen auf- indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat.»'

Es ist - so legt Hegels Bemerkung nahe - der reflektierende Geist der modernen Zeiten selbst, der diese Amphibiennatur des Men-schen hervorbringt. Das Herausstellen des Allgemeinen als Bestim-mendes gegen das Besondere fixiert einen Gegensatz zwischen dem abstrakten Gesetz und den ihm unterworfenen sinnlichen Gegen-ständen und Handlungen als bloßen Erscheinungen. Schon das ein-fachste Urteil subsumiert den Gegenstand unter allgemeine Prinzi-pien und damit unter die Herrschaft des Geistes und wirft die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Subsumtion auf. Mit der Erkenntnis des subjektiven Charakters dieser allgemeinen Prin-zipien durch die Transzendentalphilosophie erhebt sich der Mensch in seiner reflektierenden Verstandestätigkeit zum bestimmenden Ich über die Gegenstände und über sich selbst als sinnliches Wesen.

Durch die Herrschaft des Allgemeinen beraubt er die Gegenstän-de ihrer Selbständigkeit und Individualität. Aber nicht nur die Dinge verfestigen sich auf diese Weise in ihren allgemeinen Bestimmungen; auch das Ich, von seinem Leib getrennt, gibt seine Selbstbestimmung an allgemeine Prinzipien ab, die aus sich heraus, aus der Vernunft, objektive Geltung als Staat, Recht, Moral, Religion, Wissenschaft, Geschäft beanspruchen.

Wie sich jedoch zeigt, sind die Gesetze des Verstandes und die Postulate der Vernunft nicht so unwandelbar und von der Sinnlich-keit und den geschichtlichen Bewegungen so unabhängig, um auf die Dauer alle Empfindungen und Interessen von sich fernhalten zu können, wie es Kants Postulat der Freiheit, wenn auch nur in prak-

1 A. a. O., S. 62f.

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tischer Absicht, fordert.' Ihre aus der reinen Vernunft begründete allgemeine Geltung ist eine Prätention, die sich nicht aufrechterhal-ten läßt. Das »moralische Gesetz in mir» vermag die meinem Ich zugehörige Sinnlichkeit nicht völli g zum Schweigen zu bringen, ohne mich selbst zu vernichten, und die Na tur in ihrer Mannigfal-tigkeit läßt sich nicht unbeschadet in eine sie beschneidende Verstan-deseinheit zwingen.

Der Rettungsanker des »Ich denke« erweist sich als zu schwach, um den dynamischen und den erosiven Kräften im Strom der Zeit substantiell widerstehen und dem Ich an dem Ort eines identischen Selbst festen Halt bieten zu können. Ausgerüstet mit modernen Kommunikationstechniken, die unsere Denkwege abkürzen und uns zu Verkürzungen verleiten, können wir scheinbar mühelos von der einen zur anderen Betrachtungsweise überwechseln. Solcherwei-se gewendet sehen wir die Dinge einmal so und einmal anders. Zu leicht verliert das Ich in den Widersprüchen seiner Reflexionsbestim-mungen und in der Plurahtät möglicher Sichtweisen auf die zahllo-sen, sich widersprechenden Begebenheiten, die ihm widerfahren, seine Identität. Zu oft dient die Berufung auf das Allgemeine den besonderen Interessen als Rechtfertigung ihrer Macht gegen die Individualität.

Die auf Herrschaft über die sinnliche Welt zielende Absicht des in allgemeinen Prinzipien verankerten Ich verkehrt sich in die eigene Versklavung. Die Aufspaltung de; Welt in das herrschende Allge-meine und das beherrschte Einzelne durch das Reflexionsverhältnis führt in ihrer Konsequenz zu einer Destrukt ion des Ich.

Angesichts des in der modernen Welt sich nachdrücklich melden-den Bedürfnisses nach Reflexion und Selbstbesinnung mag man die Unbeständigkeit und Fragilität des Ich beklagen. Die Gefahr, in der Wahrnehmungsflut zu ertrinken, läßt sich nicht bannen, indem man sich moralisierend auf ein absolutes Ich zurückzieht. Keine aus ewigen Werten gezimmerte Arche ermöglicht uns, die Sintflut unbe-fleckt zu überstehen, um am Ende der Geschichte als Auserwählte ins Elysium einzugehen. Die noch so festen Grundsätze und Begriffe halten den zersetzenden Kräften der Realität nicht stand.

Es stellt sich also schließlich heraus: Ich bin nicht Ich. Die Rede vom Ich scheint sinnlos geworden.

1 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Originalausgabe, Riga 1788, S. 238f.

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Bei genauerem Hinhören kommt in dieser Rede aber ein Grund-problem der Moderne zur Sprache, das sich nicht wegräsonieren läßt. Von den durch mythische, religiöse oder geschichtliche Auto-ritäten festgeschriebenen Sinndeutungen und Verhaltensnormen entbunden, mit nie gekannten Freiheiten und technischen Möglich-keiten zur Gestaltung seines Lebens ausgestattet, muß der Mensch in der modernen Gesellschaft die Geltung seiner als subjektiv er-kannten Denk- und Handlungsprinzipien ständig neu prüfen und als Bestimmungen seines Ich praktisch auf die sinnliche Welt bezie-hen. In seiner praktischen Lebenstätigkeit muß er sich bequemen, auch andere Grundsätze gelten zu lassen. Er kann daher seine Iden-tität nur finden, wenn er sich im theoretischen und moralischen Diskurs auf den Anderen einläßt. Doch auch in diesem Diskurs ist die Reflexion auf ein - wenn auch kommunikativ erstrittenes -Allgemeines aus, das den Urteilen als ein Bestimmendes zugrunde gelegt werden kann. Das Ich der Reflexion bleibt ein Herrschafts-Ich.'

Im Unterschied zu der Trennung der geistigen von der sinnlichen Welt, des Allgemeinen vom Einzelnen in der Reflexion führt der ästhetische Weg zu einer Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Das Ich reduziert sich hier nicht auf ein herrschendes geistiges Prinzip. Im Bild nimmt es eine andere Stellung zum Gegen-stand ein als im Urteil; es ist in den Gegenstand und seine Konstitu-tion involviert, der seine Individualität bewahrt. Es setzt sich mit der Natur ins Verhältnis, ohne sie einem Begriff, einem praktischen Zweck oder einem Interesse zu unterwerfen. Die Kunst attackiert auf diese Weise das Herrschafts-Ich, indem sie lachend dessen Prä-tentionen auf allgemeine Geltung entlarvt, seine Prinzipien tragisch an der Welt scheitern läßt, die überlieferten Normen der Zufälligkeit und subjektiven Willkür des Stils aussetzt oder einfach den allgemei-nen Begriff in der Mannigfaltigkeit der Naturformen und der sinn-lichen Eindrücke ertränkt. Das Bild gibt so das tote Ich der Abstrak-

1 Die Auffassung der Reflexion als strenge Unterwerfung des Besonderen unter ein Allgemeines scheint der Kantschen Auffassung entgegenzustehen, daß bei der re-flektierenden Urteilskraft der Verstand mit der Einbildungskraft im freien Spiel sei. Hierbei ist jedoch zu sehen, das dies nur für die ästhetische Urteilskraft gilt, in der nach einem subjektiven Prinzip nur die Möglichkeit der Subsumtion beurteilt, aber nicht wirklich subsumiert wird. Wo im theoretischen Gebrauch das Urteil wirklich vollzogen wird, findet eine Subsumtion unter Allgemeines statt (vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, Originalausgabe, Berlin und Libau 1790, S. XXI V und LI).

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t ion dem sinnlichen Leben zurück. Dieser spezifische, auf das Leben gerichtete Ich-Bezug erklärt die Macht der Bilder.

Enthalten Bilder auch keine eindeutige Botschaft, so sind sie doch unserer Zeit unentbehrlich; denn sie zeigen Möglichkeiten des Ver-hältnisses des Menschen zur Welt auf. Zwar ist das Ich im Bild weder als Person noch als allgemeines Prinzip oder als Will e anschaubar, so steckt es doch irgendwie in den Gestaltungsformen, entzieht sich aber der unmittelbaren Wahrnehmung. Die Herausdeutung dieses Nichtwahrnehmbaren und Nichtdarstellbaren ist daher ein prinzi-pielles Problem der Ästhetik, nicht nur einer Ästhetik des Erhabe-nen, wie von Lyotard betont.' Auch das Schöne ist ja bei Kant konstituiert durch die Beziehung aufs Subjekt, das sich im schönen Gegenstand selbst nicht darstellt. Allerdings treten die Spannungen und Verwerfungen im Verhältnis von Wahrnehmungsgcstalt und gemeintem Gegenstand in den heutigen Kunstformen und ästheti-schen Phänomenen schärfer hervor. An schlichte Wahrnehmung durfte man sich wohl nie und in keiner ästhetischen Erscheinung halten, wenn man den Bildgegenstand nicht verfehlen wollte. Daß uns aber diese schlichte Wahrnehmung den zerstörerischen Zügen gegenwärtiger Wirklichkeit ausliefert, darin hat Wolfgang Welsch wohl recht.2

Das zeigt die Gefahr des Ästhetischen, sich im Sinnlichen zu verlieren, der ästhetischen Selbstzerstörung des Ich durch die Asthe-tisierung. Die Gier nach ästhetischer Wahrnehmung, das Aufsam-meln »schöner« Fragmente aus dem Treibgut der Geschichte macht diese belanglos für das Ich, das in ihnen weder sein Selbst noch den Anderen findet. Dagegen hilf t aber keine Anästhetisierung, kein Wahrnehmungsverzicht und keine Entsinnlichung. Das Problem liegt nicht schlechthin in den Täuschungen über den Gegenstand, denen der Mensch in der Wahrnehmung immer mehr unterliegt, in der Undurchschaubarkeit der Verhältnisse, sondern vor allem in der Selbstvergessenheit und in den Selbsttäuschungen, die heutige Wahr-nehmungsvorgänge bewirken.

Es ist daher vor allem die freie Betätigung der individuellen Kräfte bei der ästhetischen Gestaltung, die dem ästhetischen Konsum-zwang und den Entfremdungen im Ästhetischen entgegenwirken kann und dabei auch die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit ausbil-det. »Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende

1 Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1991, S. 66f. 2 Vgl. a. a. O., S. 65.

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Wille«, sagt Nietzsche, »...der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten.«' Dieses von Nietzsche betonte aktive Gestal-ten scheint die Möglichkeit und die Unverzichtbarkeit der ästheti-schen Vermittlung von Ich und Gegenstand genauer zu erfassen als die willenlos kontemplative Haltung in Schopenhauers Konzept. Jedoch kommen hierin auch unterschiedliche Stellungen des Ich in der Kunst zum Ausdruck, die noch genauer zu erörtern sind.

IL Die subjekttheoretische Grundlegung der modernen Ästhetik

Wie sehr sich die Hoffnungen, den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand, von Besonderem und Allgemeinem zu überwinden, auf die Entfaltung der ästhetischen Kultur richteten, wird deutlich ausge-sprochen in dem vor fast zweihundert Jahren entworfenen Frag-ment, das unter dem Titel Das älteste Systemprogramm des deut-schen Idealismus in die philosophische Literatur einging. Darin äußert sein Verfasser die Überzeugung, »daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist.« Die Philosophie des Geistes sei eine ästhetische Philosophie, heißt es weiter und die Poesie werde wieder, was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit. Die Mythologie müsse philosophisch wer-den, um das Volk vernünftig, und die Philosophie müsse mytholo-gisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.2 Eine neue Mythologie soll also ihre Leitbilder aus der Vernunft begründen und eine Vereinigung von philosophischer Reflexion und bildhaftem Ausdruck der Ideen (als praktische Postulate) ermöglichen.

Dieses frühe Zeugnis für die Intention, »ästhetisches Denken« ins Zentrum philosophischer Überlegungen zu rücken und in »Lebens-formen« zu überführen, die Welsch als Merkmal moderner Ästhetik kennzeichnet,3 zeigt die über Kunst hinausweisende lebensprakti-sche Relevanz ästhetikalischer Problemstellungen. Die Vereinigung von Sinnlichkeit und Vernunft enthält das Programm einer demo-kratisch - aufklärerischen Bewegung, die die Ideen ästhetisch ma-chen will , um sie dem Interesse des Volkes anzuempfehlen.

1 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke, Bd. VI , München, Wien 1980, S. 424.

2 Vgl. Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus), in: Hölder-lin, Sämtliche Werke, Leipzig 1965, S. 1015f.

3 Vgl. Welsch, Ästhetisches Denken, a. a. O., S. 77.

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Der Aufruf zur Versinnlichung der Ideen steht im Kontext eines Grundproblems der gesamten neuzeitlichen Philosophie, des Pro-blems der Subjektivität, des Verhältnisses von Freiheit und Ordnung in der modernen Gesellschaft, das nur gelöst werden kann, wenn es gelingt, eine Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Mensch herzustellen. Mit dem Verweis auf das ästhetische Vermö-gen, auf den Mythos besteht dieses Problem aber nicht mehr bloß darin, ob durch das Bild eine Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand erreicht und die vielbeklagte Entfremdung des Menschen aufgehoben werden kann. Vielmehr geht es darum, wie das Subjekt bei der Konstituierung des Bildgegenstandes konkret wirksam wird und auf welch unterschiedliche Weise daher auch das Ich im Gegen-stand erscheinen kann. Von hier aus erschließt sich erst die Vielfalt von Formen ästhetischer Äußerungen und ihre Notwendigkeit in der menschlichen Lebenstätigkeit. Die Untersuchung der tätigen Seite bei der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes, des Verhältnisses von Bildgegenstand und Naturgegenstand, die Aufhel-lung des Zusammenhangs zwischen Bilderzeugung, Bildstruktur und verschiedener Bildrezeption im ästhetischen Prozeß rücken damit in den Mittelpunkt theoretischer Untersuchungen.

Diese tätige Seite bildete auch in dem zitierten Systemprogramm den zentralen Punkt für die Bestimmung des Verhältnisses von Sinnlichem und Geistigem als ästhetisches Verhältnis. »Die erste Idee«, heißt es ja am Anfang dieses Fragments, »ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nicht-.... Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sici tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.«'

Die Bestimmung des Ich, das zu einer solchen Freiheit der »Schcpfung aus dem Nichts« fähig ist (oder auch scheitert und Auswege erkundet, muß man vielleicht hinzufügen), die Suche nach einen subjektiven Prinzip der Welt, das deren Formen und Gesetze bestinmt und deren Sinn erfahrbar macht, wurde in der Folgezeit geradezu zum Hauptinhalt der philosophischen Arbeit. Doch im-mer cann, wenn sich eine Philosophie seiner habhaft glaubte, er-schien es in einer neuen Gestalt. Hatte es sich zunächst als reine Verntnft ausgegeben, will es bald als absolutes Ich sich selbst und

1 Vgl. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, a. a. O., S. 1014f.

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aus sich die ganze Welt setzen. Durchstreifte es soeben noch als Will e rastlos die Welt, kehrte es nun als Selbstbewußtsein von seinen entfremdeten Gestalten zu sich selbst zurück. Verachtet es heute ironisch die Welt, so wil l es diese morgen aus dem Lebenszusammen-hang verstehen oder ihr Wesen intuitiv erkennen. Manchmal auch spielt es seine Rolle heimlich als unbewußtes Es, um das Ich zu narren, oder es versteckt sich hinter der Maske des Anderen. All e diese unterschiedlichen Gestalten zeigen, daß sich das Ich irgendwie vergegenständlichen muß, um zu sich selbst zu finden, und daher ein ästhetisches Moment - verstanden als Versinnlichung und Selbstre-flexion im Sinnlichen, Verbindung von Subjektivem und Objekt i-vem im Bildlichen - notwendig in sich trägt.

So trit t uns das Ich auch in unterschiedlichen rein ästhetischen Gestalten entgegen: als Aura des Kunstwerks oder als autonome Kunst in ihrer Gegenposit ion zur Gesellschaft.' Es blickt uns, nach einem Ausdruck von Karin Hirdina, von einer Fassade herab mit dem »Pathos der Sachlichkeit« an.2 Es schrillt uns als atonales Ge-räusch in den Ohren, um sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen, oder es entzieht sich erhaben der Darstellbarkeit. Mal gefällt es sich im klassischen Stil, mal als Decadent, wil l modern sein oder postmo-dern. Es siecht auf dem Sterbebett der Traditionen dahin, um bald wieder aufzuerstehen und avantgardistisch in den Revolutionen das Schwert der Poesie zu führen.

Wie wir aus solchen Schicksalen des Subjekts in der neueren Geschichte ersehen, ist es der Philosophie und in ihr der Ästhetik augenscheinlich nicht gelungen, das flüchtige Ich zu ergreifen. All e Versuche, es zu verdinglichen und damit endgültig dingfest zu ma-chen, müssen notwendig scheitern; denn sie stehen im Gegensatz zur Na tur dieses Ich.

Ob und inwiefern diese Schwierigkeiten im Selbstverständnis der Menschen und in den damit verbundenen Wertorientierungen ein Versagen der Aufklärung zeigen, sei dahingestellt. Jedenfalls verwei-sen sie auf die Dialektik und Geschichtlichkeit dieser Bemühungen, die sich keineswegs erledigt haben. Denn die Best immung des Men-schen und seiner Stellung zur Welt und in der Welt ist keine escha-

1 Das in diesen ästhetischen Bestimmungen Walter Benjamins und Theodor W Adornos liegende Subjektproblem wird von Birgit Recki gründlich erörtert. Vgl. Birgit Recki, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benja-min und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988.

2 Vgl. Kann Hirdina, Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren, Berlin 1981.

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tologische Unternehmung, kein » letztes, größtes Werk der Mensch-heit«, wie im Systemprogramm angenommen,1 kein letztes Wort der Philosophie und kein vollendetes Bil d vom Menschen. Sie ist auch kein »letztes Gefecht« und kein »letzter Gang«. Sie ist eine Aufgabe, die ständige Neubesinnung fordert - heute dringlicher denn je.

Für die Ästhetik ist eine philosophie- und geistesgeschichthche Rückbesinnung auf das Problem der Subjektivität bedeutsam in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde ja, wie gesehen, dem ästhetischen Moment (als sinnliche Philosophie und sinnliche Religion) eine gewichtige Rolle in dem neuen geschichtlichen Selbstbewußtsein zugesprochen. Auf Anraten Schillers sollten die Menschen »auf ästhetischem Wege zur Freiheit wandern.«2 Die Lösung des theore-tischen Problems der Subjektivität wird damit weitgehend zu einem Feld der Ästhetik und ihrer erkenntnis- und sozialkritischen Inten-tionen, die sich gegen die Einseitigkeit und Interessenbeladenheit des reflektierenden Denkens richten.

Zweitens wird die Ästhetik als Wissenschaft auf eine neue theo-retische und methodologische Grundlage gestellt. In dem histori-schen Moment, in dem sich weitreichende Umwälzungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzogen und in dem die Kraft zur Erschaffung und Veränderung der Welt nicht mehr in einem außer-weltlichen Prinzip, sondern im Menschen selbst gesucht wurde, wandelte sich die Wirklichkeit von einer festgefügten, vorherbe-stimmten Ordnung in eine historische vom Denken und Tun abhän-gige Welt, die die vom Menschen realisierten Bestimmungen in sich enthält und reflektiert. Das nach feststehenden Prinzipien bestimmte und durch Traditionen sanktionierte Schöne ist noch als vorherbe-stimmte Harmonie dem ewigen Sein, der weise und zweckmäßig eingerichteten Wcltordnung selbst zugehörig. Das Ästhetische hin-gegen ist der im Sinnlichen sich zeigende menschliche Bezug der Welt oder auch nur die Antizipation einer vermenschlichten Realität, der Vor-Schein eines eigenen oder fremden Wunschbildes im Gegen-ständlichen, der auch trügerisch sein kann, besonders, wenn sich das Ich in Ware verwandelt und austauschbar wird, wie es Ernst Bloch zeigt.3

Die Ablösung des Schönheitsbegriffs als der zentralen Kategorie

1 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, a. a. O., S. 1016. 2 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von

Briefen, 2. Brief. 3 Vgl. Ernst Bloch, Ästhetik des Vor-Scheins 1, Frankfurt a. M. 1974, S. 58f.

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der Ästhetik durch den Begriff des Ästhetischen, wie er in Schillers Brief an Garve vom 25Januar 1795 bestimmt wird, erweist sich also nicht nur als eine bloße Erweiterung des Untersuchungsfeldes auf die Phänomene des Erhabenen, Tragischen, Komischen usw. Viel-mehr handelt es sich dabei auch um eine neue, nicht mehr kosmolo-gisch oder theologisch begründete, sondern vom Subjekt ausgehen-de Sicht auf diese Sphäre, die nach ihrer subjektiven Seite hin seit Gracian und besonders in der englischen und schottischen Philoso-phie des 18. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt des Geschmacks und nach der gegenständlichen Seite als formale Zweckmäßigkeit des Gegenstandes der Vorstellung bei Kant bestimmt und untersucht wurde.

Ebenso ist die verstärkte Zuwendung zu außerkünstlerischen ästhetischen Phänomenen Ergebnis dieses Paradigmenwechsels; denn die ästhetische Dimension erhält nun eine in der subjektiven Zweckmäßigkeit der Welt und in der Intersubjektivität der sinnkon-stituierenden Tätigkeit des transzendentalen Ich a priori begründete Notwendigkei t, nicht erst in der Kunstform. Die Konstitution der Welt durch die Tätigkeit schließt notwendig das ästhetische Moment in sich ein, nicht erst die Reflexion ästhetischer Sinnzusammenhänge in der künstlerischen Tätigkeit. Deshalb ist es auch konsequent, wenn Kants Geschmacksurteil zuerst die Na tur trifft .

Dieser Paradigmenwechsel von einer metaphysisch begründeten Schönheits- und Kunsttheorie zur modernen Ästhetik war bereits vorbereitet worden durch Veränderungen des philosophischen Den-kens im 17. Jahrhundert. Dazu gehört erstens die Destrukt ion des metaphysischen Substanzbegriffs insbesondere durch Locke, der die Erzeugung sinnlicher und abstrakt-allgemeiner Abbilder der Objek-te durch Sensation und Reflexion zum Ausgangspunkt nahm und damit die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis berücksichtigte, wenn auch noch vorwiegend in ihrem Bezug auf das Objekt.

Zweitens setzte die theoretische Hinwendung zum Subjekt die vor allem von Spinoza und der englischen Philosophie geleistete Kriti k an der offenbarten Religion im Gegensatz zur natürl ichen Religion voraus, die die strenge Entgegensetzung von Gott und Mensch aufhob und die geistige Voraussetzung für die Hervorhe-bung der Subjektivität des Menschen schuf.

Drittens hat die im 18. Jahrhundert gewonnene neue Naturauffas-sung, die sich vor allem mit der Philosophie Shaftesburys verbindet, eine wichtige Rolle für die Hinwendung der Philosophie zum Sub-jekt gespielt und der Ästhetik eine zentrale Stellung eingeräumt. Zu

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beachten ist dabei auch die Einmündung des Platonischen Gedan-kenguts der Schule von Cambridge in das moderne europäische Denken, wie es Cassirer bezeichnet1. Drei Momente haben bei Shaftesbury eine besondere Bedeutung für die Ästhetik: 1. die Er-klärung der Einheit der gegensätzlichen Kräfte in der Welt aus einem geistigen, Harmonie stiftenden Prinzip, die zu einer ganzheitl ichen und dialektischen Auffassung der Welt führte, 2. die Konst i tut ion der Weltordnung aus ideellen Bestimmungen als tätiger Prozeß, d. h. die Betonung der Subjektivität und Tätigkeit im Naturprozeß und bei der Erzeugung des Schönen, 3. die Auffassung des Menschen als geistig - sinnliches, zu allseitiger Ausbi ldung und Harmonie seiner Kräfte fähiges Wesen, also die Beachtung anthropologischer Frage-stellungen unter Einbeziehung sozial-und geschichtsphilosophi-scher Aspekte. Zwar hält Shaftesbury noch an der Transzendenz der Seinsgrundlagen der Welt fest. Mi t ihrer mehr panentheistischen Deutung zieht er aber schon diese geistigen Prinzipien stärker in die Welt selbst als innere wirkende Kräfte hinein.

In der schottischen Aufklärung vollzieht sich dann davon ausge-hend explizit die H inwendung zur Analyse der geistigen Vermögen des Menschen. So bestimmt Thomas Reid die intellektuellen Vermö-gen des Menschen, darunter den Geschmack, als aktive Kräfte. Im VIII . Essay seiner Schrift On the intellectualpowers ofman von 1785 untersucht er Neuheit, Größe (Erhabenheit) und Schönheit als O b-jekte des Geschmacks und legt uns die Überlegung nahe, »ob alle Erhabenheit, die wir den Objekten der sinnlichen Wahrnehmung zuschreiben, nicht herstammt von etwas Intellektuellem, dessen Wirkung oder Zeichen sie sind oder zu dem sie irgend eine Bezie-hung der Analogie haben.«2 Die ästhetischen Gegenstände stehen also nach dieser Auffassung in einem Reflexionsverhältnis zu den geistigen Kräften des Menschen.

James Beattie zeigt die Unabhängigkeit geistiger Vermögen von der Erfahrung oder von der realen Existenz der Dinge besonders an der Einbildungskraft im Gegensatz zum Gedächtnis auf. »When we remember, we have always a view to real existence, and our past experience; it oecurs to our minds, in regard to this thing which we

1 Vgl. Ernst Cassirer, Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, in: Studien der Bibliothek Warburg 24, Leipzig 1932, S. 2.

2 Thomas Reid, Über den Geschmack, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Jg. I, 1906, S. 333 (Dieser Abdruck ist eine gekürzte Überset-zung des VIII . Essays der genannten Schrift Reids).

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now remember, that we formerly heard it, or perceived it, or thought of it.... - When we imagine, we contemplate a certain thought, or idea, simply as it is in itself, or as we conceive it to be, without referring it to past experience, or the real existence«, heißt es bei ihm.' Interessant daran ist, daß nach dieser Auffassung das Bildhafte, sofern es aus der Phantasie herstammt, stärker auf innerer geistiger Tätigkeit beruht als ein bloß an der Erfahrung orientiertes Denken.

Leider wurde die schottische Philosophie des 18. Jahrhunderts mit ihren vielfältigen subjekttheoretischen Untersuchungen, die sie im Zusammenhang mit ästhetikalischen, sprach-, religions- und ge-schichtsphilosophischen sowie anthropologischen Fragestellungen durchführte, bisher vernachlässigt. Ihre stärkere Beachtung könnte wichtige Erkenntnisse über die theoretischen und historischen Grundlagen der Entwicklung der modernen Ästhetik und Philoso-phie überhaupt erbringen.

Diese kurzen Andeutungen einiger Tendenzen in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie zeigen, daß die Entwicklung der mo-dernen Ästhetik eng mit subjekttheoretischen Fragen verknüpft ist, die das eine moderne bürgerliche Gesellschaft hervorbringende und geistig reflektierende Europa bewegten, mit Fragen der Selbstbe-stimmung und Freiheit der Menschen und ihrer Beziehung zu den Gesetzen der Natur und des gesellschaftlichen Lebens. Ja, man kann sagen, die neue Stellung des Menschen in der Geschichte nach den Umwälzungen des 17./18. Jahrhunderts und ihre theoretische Refle-xion bzw. künstlerische Darstellung spielte eine ausschlaggebende Rolle für die Entstehung der Ästhetik als selbständige philosophi-sche Wissenschaft und gab ihr wesentliche inhaltliche Impulse.

Prinzipiell vollzog sich diese Verknüpfung von Ästhetik und Subjekttheorie mit der transzendentalphilosophischen Hinwendung zum Ich als Subjekt der geistigen Tätigkeit. Nicht zufällig ist es Kant, der mit seiner Transzendentalphilosophie auch die Fundamente der modernen Ästhetik legt. Es ist daher lohnend, diesem Zusammen-hang von Ästhetik und Theorie der Subjektivität auch für die Klä-rung heutiger Probleme weiter nachzugehen.

1 James Beattie, The Phüosophical Works, Vol. III , Bad Cannstatt 1970, S. 6.

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III . Das Bild und der ästhetische Gegenstand

Di e subjekttheoretische Grundlegung der Ästhetik und das darauf aufbauende Verständnis von Wahrnehmungs- und Gestal tungspro-zessen verändert die Sicht auf das Verhältnis von Bild und ästheti-schem Gegenstand grundlegend. Im vorkrit ischen theoretischen Verständnis ist das Bild eine Abbildung von etwas. Der Gegenstand des Bildes ist schon außerhalb des Bildes da - nicht unbedingt als ein greifbarer Gegenstand, aber doch unabhängig von dem Bild. Im Bil d wird er dauerhaft, wenn auch in einer bestimmten Sicht, zur An-schauung gebracht. Er kann immer wieder mit dem Original - sofern es verfügbar ist - verglichen werden. In der modernen Sicht ist das Bil d eher die Bildung zu etwas. Der Gegenstand wird erst durch das Bil d hergestellt. Er hat etwas Fiktionalcs, das ohne das Bil d nicht zur Anschauung gelangt, auch wenn es einen Gegenstand außerhalb des Bildes gibt, zu dem es eine Referenz aufweist. Ein Vergleich mit diesem Gegenstand ist bedeutungslos für die ästhetische Sinnhaftig-keit und den ästhetischen Wert des Bildes, wenn er auch für mögliche Referenten von Bedeutung sein kann. Eine Komödie erhält ihren ästhetischen Sinn nicht dadurch, daß sie einen Zeitgenossen verlacht. Wohl aber kann diese Komödie manchen Zeitgenossen treffen oder wegen ihrer Anspielungen ergötzen. Sie erzeugt aber bei einem kunstsinnigen Publikum auch ganz ohne diese Anspielungen einen ästhetischen Effekt.

Auf die Auffassung des Gegenstandes als Abbild stützen sich Kunsttheorien, die das Bild in ein Spiegelungsverhältnis zu einem äußeren Gegenstand setzen. Es gehört aber zu den großen Irr tümern mancher Philosophen, daß wir zur Erkenntnis und Auffassung der Dinge eines Spiegels bedürften. Das liegt wohl an der Unterschät-zung des Sinne, der Philosophen so gern verfallen. Zwar können wi r im Spiegel auch die Dinge der Welt sehen, auf die wi r ihn richten. Doch wer Augen hat zu sehen, bedarf des Spiegels nicht. Unentbehr-lich ist er aber dem, der sich selbst in die Augen schauen will . Diese scheinbar elementare Tatsache hat weitreichende Konsequenzen, die Jacques Lacan in der Beschreibung des Spiegelstadiums aufzeigt: »Das ist das ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum ersten Mal die Erfahrung macht, daß er sich sieht, sich reflektiert und sich als anders begreift, als er ist - die wesentliche Dimension des Menschlichen, die sein ganzes Phantasieleben strukturiert.«1 Das

1 Jacques Lacan, Das Seminar von]. Lacan, Buch I (1953-54), Ölten 1978, S. 105.

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Erkennen des Ich im Anderen und die Bildung der Ichfunktion am Anderen stellt ein wesentliches, für das ästhetische Weltverhältnis grundlegendes Moment menschlicher Kognitionsleistung dar, das sich im Spiegelstadium herausbildet.

Der eigentliche Sinn, von einer Spiegelfunktion der Kunst zu sprechen, liegt wohl darin, daß wir in den Bildern - wie auch in den Gegenständen unserer Lebenswelt - uns selbst sehen. So ist wohl auch das »ursprüngliche Abenteuer« des ästhetischen Genusses da-mit verbunden, daß wir im Anderen uns selbst entdecken, aber anders als wir uns kennen. Das Bild spiegelt nicht einen Gegenstand, sondern - indem es einen Gegenstand herstellt - unser Ich. Das ist möglich, weil der Mensch sich in den Gegenständen praktisch und geistig vergegenständlicht und sich so in ihnen anschaut.

In diesem Sinne ist wohl auch die Mimesis bei Aristoteles zu verstehen: Sie ist Nachahmung des Lebens, d. h. unseres Selbst, der Welt, in die wir immer schon involviert sind. Die Tragödientheorie Aristoteles' zeigt, daß die Unterscheidung von »realem« Gegenstand und Kunstgegenstand keine Entdeckung der Neuzeit ist. Dennoch zeigen sich in der Kunstentwicklung gerade in bezug auf die Auffas-sung ihres Gegenstandes deutliche Unterschiede, die auf ein unter-schiedliches Selbstverständnis des Menschen hinweisen. Ist das klas-sische Kunstideal noch mehr auf die Darstellungeines Allgemeinen, Charakteristischen in ihren Kunstgestalten aus, so ist sich die mo-derne Malerei und Poesie ganz der subjektiven Bestimmtheit des Bildaufbaus und der Hervorbringung des Gegenstandes bewußt, und diese Reflexion bedingt maßgeblich die Kunstformen unseres Jahrhunderts. Georges Braque drückt das sehr prägnant aus, wenn er schreibt: »Man darf nicht wahrhaftig erscheinen wollen durch die Imitation von Dingen, die vergänglich sind und sich verändern und die wir nur irrtümlicherweise als unveränderlich ansehen. Die Dinge an sich existieren ja gar nicht. Sie existieren nur durch uns. - Man darf die Dinge nicht nur abbilden wollen. Man muß in sie eindringen, man muß selbst zum Ding werden. Das Ziel ist nicht, eine anekdo-tische Tatsache wiederzugeben, sondern eine malerische Tatsache zu geben.«1 Das Beständige des ästhetischen Gegenstandes liegt im Subjekt und seine Zeit ist die subjektive Zeit.

Im Sinne einer solchen Auffassung vom ästhetischen Gegenstand als subjektiv konstituiertes Gebilde ist es eigentlich sinnlos, von

1 Cahiers de Georges Braque, zitiert nach Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Ver-ständnis der modernen Malerei, Reinbek 1975, S. 54.

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gegenstandsloser Kunst zu sprechen. Wenn dies doch geschieht, so ist auf einen dem Bild äußeren Gegenstand verwiesen. Hier soll aber unter ästhetischem Gegenstand der im Bil d intentierte Gegenstand gemeint sein, der mit der Bildstruktur auf ähnliche semiotische Weise verbunden ist wie die Bedeutung mit dem Wort.

U m nun den Zusammenhang des Ich mit dem ästhetischen Ge-genstand einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, ist es zu-nächst notwendig zu bestimmen, was unter der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes zu verstehen ist. Ich verwende den Be-griff »Konstitution« in Anlehnung an Kants Ausdruck »konstitutiv für«. Danach sind Raum und Zeit konstitutiv für die sinnliche Anschauung, das Kausalitätsprinzip für die Erscheinungen der Na-tur, das Postulat der Willensfreiheit für die Sittlichkeit und das Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit, letzteres aber nur im re-flexiven Gebrauch der Urteilskraft, konstitutiv für das Gebiet des Geschmacks. Das heißt, außerhalb von Raum und Zeit ist keine sinnliche Anschauung möglich, außerhalb von Kausalität keine Na-tur, außerhalb der Freiheit keine Sittlichkeit und außerhalb der subjektiven Zweckmäßigkeit kein ästhetischer Geschmack. Die Prinzipien der jeweiligen Vermögen konstituieren das Gebiet, auf das sie angewendet werden und außerhalb dieses Gebietes können sie nicht konstitutiv, höchstens regulativ gebraucht werden. Die Konstitutionsleistung ist also nicht im Sinne Piatons als Konstitution der Erscheinungswelt durch mimetische Erzeugung von Schatten-bildern der transzendenten Ideen bzw. von Schattenbildern der Schattenbilder zu verstehen, sondern eher als die Abschattung im Sinne Husserls, als die Sicht auf den in der sinnlichen Anschauung gegebenen Gegenstand in seiner bestimmten Gegebenheitsweise, also als Korrelation zwischen dem transzendentalen Ich und dem zur Anschauung gelangenden Gegenstand (nicht zwischen den empi-risch-psychologischen Einstellungen des Betrachters und dem Ge-genstand). Konstitution des Gegenstandes heißt dann, einen be-stimmten Sinnzusammenhang herstellen, in dem der in der Anschau-ung oder durch Reflexion gegebene Gegenstand erst als dieser be-stimmte Gegenstand sich zeigt. Husserl bestimmt diese Konstitu-tionsleistung folgendermaßen: »Wo immer wir von Gegenständen sprechen, da stammt der Sinn dieser Gegenstandsrede ursprünglich her von Wahrnehmungen, als den ursprünglich Sinn und damit Gegenständlichkeit konstituierenden Erlebnissen. Konstitut ion ei-nes Gegenstandes als Sinnes ist aber eine Bewußtseinsleistung, die für jede Grundart von Gegenständen eine prinzipiell eigenartige ist...

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für jedes erdenkliche Ichsubjekt ist jedes gegenständliche Dasein mit dem und dem Sinnesgehalt eine Bewußtseinsleistung, die für jeden neuartigen Gegenstand eine neue sein muß.«1

In diesem Sinne ist der vom Botaniker beschriebene und klassifi-zierte Baum ein anderer Gegenstand als der zu ökologischem Ver-halten mahnende Baum auf einem Plakat und dieser wieder ein anderer als der von Schubert besungene Lindenbaum am Brunnen oder die von Caspar David Friedrich gemalte Eiche. Der eine steht in einem wissenschaftlichen, der zweite in einem ethischen, die anderen stehen in einem ästhetischen Sinnzusammenhang. Konsti-tution des ästhetischen Gegenstandes heißt also, eine gegebene An-schauung oder Vorstellung praktisch oder geistig in einen ästheti-schen Sinnzusammenhang zu bringen.

Eine ausführliche Erörterung dieses von der Phänomenologie ausgehenden Verständnisses des ästhetischen Gegenstandes finden wi r bei Waldemar Conrad. Er hebt hervor, daß bei der Beschreibung des ästhetischen Gegenstandes das Tatsachenmaterial nicht unter dem Gesichtspunkt der »dinglichen Objektivitäten und deren kau-saler Beziehung«, also etwa des Verhältnisses von Farbe und Ge-fühlswirkung, zu betrachten sei, sondern die Aufmerksamkeit ist auf das im ästhetischen Urteil Gemeinte zu richten, auf das intentionale Erlebnis. Dessen Gegenstand wird in einem mit dem ästhetischen Erlebnis verbundenen noetischen Akt durch das Subjekt als eine ideale Wesenheit konstituiert. Die kausale und substantiale Betrach-tung führt vom Ästhetischen weg zu einer physikalischen Auffas-sung. So ist eine Sinfonie als ästhetischer Gegenstand nicht als Folge von Tönen oder deren emotionalen Wirkungen zu verstehen; das hieße, am ästhetischen Gegenstand vorbeischauen.2

Eine phänomenologische Analyse ist also darauf gerichtet, auch dasjenige aufzuspüren, das hinter dem im Bild Sichtbaren (bzw. Hörbaren) durch Freilegung tieferer Schichten erscheint. Sie muß sich dabei auf den Aufbau des Werkes als einem zeitlich ausgedehn-ten und gegliederten Gegenstand und die ihm zugehörigen Aus-

1 Edmund Husserl, Analyse der Wahrnehmung, in: ders., Phänomenologie der Le-benswelt. Ausgewählte Texte II , Stuttgart 1986, S. 73f.

2 Vgl. Waldemar Conrad, Der ästhetische Gegenstand, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 3. Jg. (1908), S. 73. Eine ausführliche Darstel-lung der Auffassung Conrads ist zu finden bei Norbert Krenzlin, Das Werk "rein für sich«. Zur Geschichte des Verhältnisses von Phänomenologie, Ästhetik und Li-teraturwissenschaft, Berlin 1979.

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druckscharaktere richten. Eine solche Analyse finden wi r sehr aus-führlich durchgeführt in Roman Ingardens Schrift Das literarische Kunstwerk, besonders in seinen Untersuchungen zum Schichtenauf-bau des Werks.

Worin bestehen aber diese Ausdruckscharaktere, was sind die spezifisch ästhetischen Sinnzusammenhänge, die den ästhetischen Gegenstand ausmachen, wenn nicht die äußeren Gegenstände oder die hervorgerufenen Gefühle?

Einen Lösungsansatz für dieses Problem finden wi r in Kants Bestimmung des Geschmacksurteils. In diesem wird die gegebene Anschauung nicht auf einen objektiven Begriff bezogen, sondern auf das Subjekt selbst, auf das Gefühl der Lust und Unlust, jedoch nicht auf eine mit der Vorstellung der Existenz eines Objekts verbundene Lust oder Unlust, wie es beim Angenehmen der Fall ist. N ur in der formalen Zweckmäßigkeit der Vorstellung eines Gegenstandes liegt der Grund des ästhetischen Wohlgefallens. Der Gegenstand in seiner objektiven Bestimmtheit durch Begriffe ist also nicht der konsti tu-ierte ästhetische Gegenstand, sondern nur in seiner Beziehung zur Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, also zum freien Spiel der Einbil-dungskraft in seiner Übereinstimmung mit dem Vermögen des Ver-standes bzw. der Vernunft. Die Anschauung oder das Bil d eines Gegenstandes werden gewissermaßen zum Medium der Arbeit der reflektierenden Urteilskraft als freier Betätigung subjektiver Kräfte. Das intentionale Erleben ist hier nicht auf den in der Anschauung gegebenen Gegenstand gerichtet, sondern auf das Subjekt selbst, seine innere Tätigkeit. Der Bestimmungsgrund von Geschmacksur-teilen liegt nicht in Beweisgründen, sondern in der »Reflexion des Subjekts über seinen eigenen Zustand (der Lust und Unlust),« be-merkt Kant.1 Dabei erhebt sich aber noch immer die Frage, welche Bedeutung einer gegenständlichen Gerichtetheit, einer Interitionali-tät in dieser Reflexion zukommt.

Ferdinand Fellmann erfaßt diesen Zusammenhang mit dem Be-griff zuständliches Bewußtsein. In dessen Analyse sieht er eine »Chance, über die Intentionalität hinaus zur Perspektivität der situa-tionalen Bedeutungen vorzudringen«. Um die Sinnbildungsprozesse auch dieser Form des Bewußtseins in seinem »medialen, semioti-schen Charakter« zu erfassen, hält er »einen erweiterten, die konkre-ten Situationen des menschlichen Lebens berücksichtigenden Pra-

1 Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. a. O., S. 141

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xisbegriff« für erforderlich.1 Damit wird auch die Frage nach der Rolle des Ich als Subjekt bei der Konstituierung ästhetischer Sinn-zusammenhänge und nach dem Zusammenhang von Ich und Welt auf neue Weise gestellt.

Wenn wir diesen Ansatz weiter verfolgen wollen, ist zunächst eine weitere Bestimmung des Ich vorzunehmen. Was ist dieses Ich, auf das der Gegenstand im ästhetischen Urteil bezogen wird, wenn es nicht im psychologistischen Sinne nur als das empirische Gefühl der Lust und Unlust bestimmt werden soll? Wie bezieht sich das Ich auf den Gegenstand?

IV. Das Ich und der ästhetische Gegenstand

Ferdinand Fellmann fragt in seinem Beitrag: Wovon sprechen die Bilder?2 Wir könnten aber auch fragen: Wer spricht in den Bildern? Wie aus den bisherigen Überlegungen hervorgeht, ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Daß es nicht einfach der Verfertiger des Bildes ist, wurde von Fellmann schon hinreichend begründet. Wer aber ist es dann? Manchmal scheint es ein guter Bekannter zu sein, der dort spricht, manchmal ein Fremder, dessen Sprache wir nicht verstehen und dessen Botschaften wir enträtseln müssen. Und oft führen wir angesichts der Bilder auch nur Selbstgespräche - eine durchaus nützliche Kommunikationsform, wie wir seit Shaftesbury wissen. Doch immer gehört der Sprecher wohl irgendwie zu der Botschaft des Bildes dazu, wir werden ihn nicht los. Offensichtlich ist in der Frage etwas Falsches unterstellt. Sie suggeriert, in den Bildern spräche ein anderer, außerhalb des Bildes Stehender. In Wahrheit jedoch sprechen die Bilder selbst. Sie sind selbst ein Ich. Der ästhetische Gegenstand gewinnt gewissermaßen nach seiner Konstitution ein Eigenleben. Er ist nicht mehr in den Schoß der sie konstituierenden Subjektivität zurückzunehmen, denn diese Sub-jektivität ist ja selbst keine absolut feststehende Größe. Auf diese Weise ist die Konstituierung des Gegenstandes auch die Konstituie-rung eines Ich, das aber sein wirkliches Leben erst im Rezeptions-vorgang beginnt, aber auch dort nicht als »der Rezipient«, sondern eher als sein Widerpart in einem kommunikativen Vorgang.

1 Vgl. Ferdinand Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbekl991,S. 16.

2 Siehe vorliegender Band S. 147-159.

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Halten wir uns bei der Suche nach dem das Bild konstituierenden und in ihm sprechenden Ich weiterhin an Kant, so können wir dieses Ich allgemein als die »bloße Form des Bewußtseins« bestimmen.1

Mi t der Beziehung der Anschauung auf das Ich haben wir also keine sinnliche Anschauung von uns selbst; denn die Vorstellung des Ich ist, wie Kant an einer anderen Stelle sagt, »eine bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit eines denkenden Subjects.«2 (Auf das Problem der Ich-Vorstellung komme ich unten zurück.)

Beziehung auf das Subjekt heißt also hier Beziehung auf die geistige Tätigkeit selbst, auf den Vollzug in seiner Spontaneität und Reflexivität. Es handelt sich um das, was man oft die Selbstbezüg-lichkeit der Kunst nennt. Aber nicht das Werk oder der darin kon-stituierte Gegenstand verweist auf sich selbst, sondern das Ich ver-weist mittels des ästhetischen Gegenstandes (als bestimmter Sinnzu-sammenhang) auf sich. Nicht nur, daß ein Geistiges im Sinnlichen erscheint oder zur Existenz kommt, wie Hegel scheinbar sagt (die genaue Interpretation dieser Hegeischen Bestimmung bedürfte einer ausführlichen Erörterung), macht den ästhetischen Charakter einer Vorstellung aus, sondern vor allem, daß sie Reflexionsvorgänge auslöst, die sich auf das Ich selbst beziehen. Dieses entdeckt und gestaltet im Gegenstand oder mittels des Gegenstandes seine eigene Befindlichkeit, die aber natürlich nicht gegenständlich auftaucht als Anschauung von uns als personale Gestalt. Der ästhetische Gegen-stand versinnbildlicht in der Mannigfaltigkeit seiner aus dem freien Gebrauch der Einbildungskraft entstandenen Ordnungsstruktur (Form) die sonst in keiner Anschauung gegebene Subjektivität. Un-ter der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes können wir somit eine spezifische ästhetische Sinngebung bzw. Sinndeutung einer gegebenen Anschauung in ihrem Bezug auf das Ich durch das Zusammenspiel von produktiver bzw. reproduktiver Einbildungs-kraft mit dem Verstand oder der Vernunft verstehen, die sowohl auf den intentierten Gegenstand als auch auf den Zustand des Ich gerich-tet ist. Die Betrachtung einer Gestalt läßt in diesem Vorgang die Phantasie spielen, die die Gestalt in verschiedene Sinnzusammen-hänge stellt und zugleich den Zustand dieses freien Spiels genießt. Im Falle der Kunst tritt dazu noch die entsprechende Ausdrucks-und Gestaltungsfähigkeit. (Dabei wäre aber der Schichtenaufbau von Kunstwerken und die Polyphonie des ästhetischen Wertes der

1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 382. 2 A. a. O., B 278.

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Schichten im Sinne Ingardens und der ästhetische Eigenwert der Schichten zu beachten).

Diese Erklärung des ästhetischen Gegenstandes aus einem geisti-gen Ak t der Sinndeutung und Sinnstiftung wirf t ein Problem auf, das Welsch mit Bezugnahme auf Peter Weiss durch das Wort »Input-Hermeneutik« verdeutlicht.1 Es geht um die Frage, welche Rolle dem Betrachter bei der Kunstrezeption zukommt. Wie kann er ein authentisches Werkverständnis erlangen? Zweifellos muß er sich dabei von den Strukturen des Werkes selbst leiten lassen. Versuche, den Wallenstein oder den Faust von einer bestimmten Standesper-spektive her zu deuten und auf die Bühne zu bringen, sind oft unternommen worden, gehen aber in der Tat meist am Werk vorbei und bergen die Gefahr des Mißbrauchs für außerästhetische Zwecke in sich. Welche eigene Konstitutionsleistung kann und muß aber der Rezipient vollziehen, um des im Werk konstituierten Gegenstandes habhaft zu werden?

Peter Weiss stellt seine Überlegungen zwar in einen politischen Kontext. Sie können jedoch nicht als Plädoyer für eine politische Instrumentalisierung der Kunst verstanden werden. Im Gegenteil! Die Kunst »gegen den Strich behandeln« heißt für ihn, »alle Vorrech-te, die damit verbunden sind, ausschalten«. Er wil l gerade die vorge-gebenen, oft aus einseitigen Blickwinkeln in die Werke hineingeleg-ten Deutungen in Frage stellen und einen neuen Interpretationsspiel-raum gewinnen, der oft genug durch Expertenkulturen eingeengt wird. Er wendet sich so auch gegen eine Herauslösung der Kunst aus dem lebensweltlichen Zusammenhang und gegen die Kluf t zwischen der gehobenen Kunstästhetik und dem Kunstverständnis des einfa-chen Publikums, der niederen Klassen, die sich vom Werk betroffen fühlen und diese Betroffenheit aus ihrer eigenen Befindlichkeit zu erklären versuchen. Dieses Kunstverständnis aus dem Diskurs aus-zuschließen, kann nur wieder einseitige Ansprüche an die Kunst begründen helfen und sowohl der Authentizität des Werkes wie auch der Pluralität der Deutungsmöglichkeiten entgegenstehen.2

Das Problem des Verhältnisses von Werkvorgabe und Rezep-tionsleistung ist wohl nur zu lösen, wenn die Konsti tuierung des ästhetischen Gegenstandes als ein kommunikativer Vorgang verstan-den wird, der eine Fremderfahrung in einer intersubjektiv bestimm-

1 Vgl. Welsch, Ästhetisches Denken, a. a. O., S. 158. 2 Vgl. dazu Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Erster Band, Berlin 1983, S. 41

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tcn Welt ermöglicht, die ja nicht notwendig eine Funktionalisierung des ästhetischen Objektes für außerästhetische Zwecke nach sich zieht. »Zum Seinssinn der Welt und im besonderen der Natur als objektiver gehört ja...das Für-jedermann-da«, schreibt Husserl und verweist darauf, daß zur Erfahrungswelt Objekte mit geistigen Prä-dikaten gehören, die ihrem Ursprung und Sinn gemäß auf Subjekte, und im allgemeinen auf fremde Subjekte und deren aktiv konsti tu-ierende Intentionalität verweisen, und er zählt dazu alle Kul turob-jekte innerhalb einer bestimmten Kulturgcmeinschaft.1

Husserl sieht die Möglichkeit der Erfahrung dieses auf andere Subjekte verweisenden Sinns darin, daß die objektive Welt als ideales Korrelat einer intersubjektiv vergemeinschafteten Erfahrung bezo-gen ist auf eine Intcrsubjektivität (er spricht auch von einem tran-szendentalen Wir), deren Einzelsubjekte ausgestattet sind mit einan-der entsprechenden und zusammenstimmenden konstitutiven Sy-stemen.2 Es wäre also demzufolge diese Intersubjektivität und der Kommunikationszusammenhang in der Lcbenswclt für die Sinn-deutung zu berücksichtigen. Die Konstitut ion ästhetischer Gegen-stände schließt auch Intersubjektivität in den kommunikativen Ak -ten ein. Eigene Bestimmungen in ein Werk hineinlegen kann also auch heißen, es auf den intersubjektiv in der Lebenswelt bestimmten Sinn zurückführen, auf das »transzendentale Wir« als Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung.

Der Rückbezug des Gegenstandes auf das erlebende Subjekt, der dem Konstitutionsvorgang zugehört und einen weiten Deutungs-spiclraum eröffnet, hat nicht nur empirische Gründe in der psychi-schen und sozialen Differenz der Individuen, sondern auch den transzendentalen Grund der Intentionalität und Reflexivität des Bewußtseinsvorgangs als Bedingung der subjektiven Konsti tut ions-leistung. Dieses Wechselspiel von Welthaltigkeit und Ich-Bezogen-heit bewirkt einen eigentümlichen Doppelcharaktcr des ästhetischen Erlebens sowohl in Betrachtung der Na tur als auch bei der Kunst-rezeption - das Spannungsverhältnis zwischen dem kontemplativen Charakter des ästhetischen Genusses, der aus der Interesselosigkeit des Betrachters und der Begriffslosigkeit der Rezeption des darge-stellten Gegenstandes resultiert, und der Ich-Beteiligung durch Re-flexionsvorgänge, die zu einer Einfühlung in den Gegenstand führen.

1 Vgl. Edmund Husserl, Konstitution von Intersubjektivität, in: ders., Phänomeno-logie der Lcbenswclt. Ausgewählte Texte II , Stuttgart 1986, S. 169.

2 Vgl. a. a. O, S. 185.

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Müller-Freienfels charakterisiert diese beiden Haltungen folgen-dermaßen: »Bei der ästhetischen Einfühlung (und Einfühlung über-haupt) hat das erlebende Subjekt das Bewußtsein, als stecke sein Ich gleichsam im Gegenstand, als >spiegle es sich in der Außenwelt<, als objektiviere es sich<, um mit Lipps zu reden.« Bei der kontemplati-ven Haltung hingegen scheint es, »daß der ästhetische Genuß in der vollständigen Ausschaltung der Ichvorstellung stecke, daß die Seele ganz erfüllt sei vom Objekte, ohne daß das Ich irgendwie im Be-wußtsein anklinge.«1

Diesen beiden Haltungen entsprechen, wie Müller-Freienfels her-vorhebt, zwei Typen des Verhaltens in der Kunstrezeption:

Der 1. Typ ist der des Mitspielers, der sich einfühlend verhält und sich von dem dargestellten Gegenstand betroffen zeigt. Er legt, wie Lipps sagt, etwas von sich in den Gegenstand hinein und schaut sich an, erkennt sich selbst.

Der 2. Typ ist der des Zuschauers, der das Kunstwerk kontempla-tiv aufnimmt und genießt und dabei in einem gewissen Sinn von sich selbst absieht.

Man könnte diese beiden Einstellungen vielleicht auch als Verhält-nis der Nähe und der Ferne kennzeichnen. Sie weisen auch auf die Momente des Dionysischen und Apollinischen bei Nietzsche hin.

Auf diesen unterschiedlichen Haltungen der Kontemplation und der Einfühlung, die das Ich zum ästhetischen Gegenstand einneh-men kann, bauen verschiedene Theorien auf, die sich meist als nicht miteinander vereinbar verstehen (z. B. Schopenhauers Auffassung von der Ausschaltung des Willens in der ästhetischen Einstellung und seine Betrachtung des ästhetischen Subjekts als reines Weltauge im Gegensatz zu Theodor Lipps' Einfühlungsästhetik).

Müller-Freienfels meint aber, daß die Entgegensetzung dieser beiden Ichbeziehungen und ihre Verabsolutierung in gegensätzli-chen Theorien falsch sind. Beide sind nur Extremfälle im Erlebnis-vorgang, in dem jedoch die Möglichkeit des Miteinander beider Zustände besteht, eine Art »Doppelzustand«, wie er sagt.2 Eine Erklärung für die Möglichkeit des Nebeneinander dieser scheinbar entgegengesetzen Positionen sucht er in einer differenzierteren Be-stimmung des Ichbegriffs. Er unterscheidet zwei Erscheinungswei-sen des Ich, die im ästhetischen Erlebnis auftreten: das Ichgefühl, das

1 Richard Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst, Bd. 1, Leipzig und Berlin 1922, S. 62 f.

2 Vgl. a. a. O., S. 71.

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in allen Bewußtseinslagen stetsvorhanden ist, und die Ichvorstel-lung, die zeitweise aus dem Bewußtsein verschwinden kann, und die in allen jenen psychischen Zuständen enthalten ist, die ich in der 1. Person (ich denke...) aussprechen kann. Die Ichvorstellung ist also ein reflektiertes Verhältnis des Ich zu sich selbst.

Das Ichgefühl ist für die notwendige Ich-Bezogenheit jedes ästhe-tischen Erlebens zuständig. Das Ich ist gewissermaßen in jeder Tätigkeit gefühlsmäßig dabei, ob es sich seiner bewußt wird oder ob es im Unbewußten bleibt. Es begleitet unreflektiert diese Tätigkeit und kann vielleicht mit dem zuständlichen Bewußtsein verglichen werden. Dabei kann es von der Ichvorstellung überschattet werden.

Die Ichvorstellung kann dagegen in einer rein kontemplativen Haltung verschwinden oder sich wandeln durch das Hineinschlüp-fen in ein anderes Ich bei der Einfühlung. Daraus ist auch die Bedeutung der Mimesis für die Reflexion des Ich erklärbar: Sie ermöglicht zu denken oder zu fühlen: Ich bin ein anderer. Notwen-dig in der ästhetischen Einstellung ist lediglich die Ausschaltung der praktischen Ichvorstellung, die auf einem Interesse an der Existenz des Gegenstandes beruht, aber nicht jeder Ichvorstellung als Bezug auf das eigene Ich, die eigenen Bestimmungen.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich wichtige Konsequenzen für das Konstitutionsproblem. Die Differenz zwischen Kontempla-tion und Einfühlung verweist darauf, daß die Konstitution des äs-thetischen Gegenstandes nicht mehr, wie in der klassischen Kunst-auffassung noch weitgehend angenommen, aus einer Einheit des Ich, des Bewußtseins oder gar nur des Denkens erklärt werden kann. Die Vielschichtigkeit der Ich-Struktur mit ihren Spannungen bestimmt maßgeblich die Sinnstrukturen des ästhetischen Gegenstandes.

Die Spuren, die das Ich am Gegenstand hinterläßt, sind sehr verschiedener Herkunft und Natur. Sie sind Spuren der Seele oder des Leibs, der Hand oder des Kopfes - auch des Auges und des Ohrs, ja sogar des Gaumens und der Nase; sie stammen aus dem Es oder dem Über-Ich, sind dem Gegenstand bewußt aufgeprägt oder unbe-absichtigte Spuren des Vollzugs einer Handlung. Im Auffinden die-ser Spuren entdecken wir vielfältige Formen von Subjektivität, die in den verschiedenen Stilrichtungen in unterschiedlicher Weise her-vorgehoben oder unterdrückt werden, wie z. B. im Surrealismus, der das Unbewußte zur bestimmenden Ichvorstellung erhebt. Im einfa-chen Geschmacksurteil des Alltags wirken die Formen des Ich meist unkontroll iert zusammen oder gegeneinander, aber auch in der Kunst ist eine solche Mehrfachcodicrung möglich, um diesen Aus-

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druck von Wolfgang Welsch1 zu gebrauchen. Daß sie heute bewußt als stilistisches Verfahren genutzt wird, hängt sicher mit der Situation des Ich in der Gegenwart zusammen.

So wie die Ich-Struktur vielschichtig ist, sind es auch die Spuren des Ich am Gegenstand. Aber nicht alle diese Spuren sind semiotisch zurückführbar auf bestimmte Bezugspunkte im konstituierenden Subjekt und schon gar nicht eindeutig auf ein Geistiges hin zu deuten. Sie verweisen auch auf die Spontaneität der subjektiven Tätigkeit, die zur Wesensbestimmung von Subjektivität gehört. Jede Festsetzung des Subjekts in identischen, objektivierbaren Bestim-mungen führt zur Verdinglichung und Negation von Subjektivität. Wie Albrecht Wellmer hervorhebt, liegt darin für Adorno ein Grund des Abschieds »von einem Typus der Einheit und des Sinnganzen, für den in der Epoche der großen bürgerlichen Kunst die Einheit des geschlossenen Werks ebenso stand wie die Einheit des individuellen Ich. Die ästhetische Aufklärung entdeckt, so stellt es sich für Adorno dar, in der Einheit des traditionellen Werks ebenso wie in der Einheit des bürgerlichen Subjekts ein Gewaltsames, Unreflektiertes und Scheinhaftes: einen Typus der Einheit nämlich, der nur um den Preis einer Unterdrückung und Ausgrenzung von Disparatem, Nicht- In-tegrierbarem, Verschwiegenem und Verdrängtem möglich war.«2

Das Ich, nun nicht mehr nur als in sich identisches, geistiges Prinzip gedacht, ist noch in anderer Weise Bedingung der Konstitu-t ion ästhetischer Gegenstände als bloß in seiner intellektuell-reflck-tierenden Ich-Vorstellung. Nicht nur in der bewußten, auf die Her-stellung ästhetischer Objekte (Kunstwerke, Design, Werbeartikcl, Feste usw.) gerichteten Tätigkeit vollzieht es eine solche Konstitu-tionslcistung; auch durch den unreflektierten Vollzug menschlicher Lebenstätigkeit bei der praktischen Aneignung der Welt als Produk-tion und Reprodukt ion der eigenen Lebensbedingungen hat es an der Erzeugung ästhetischer Welten Anteil. Damit ist aber die No t-wendigkeit ausgesprochen, von der begrifflich reflektierten, objek-tiven Welt auf die Lebenswelt zurückzugehen, die nicht in ein kon-stituierendes Bewußtsein zurückgenommen werden kann, sondern dessen Grundlage ist.

Einen originären Beitrag zur Analyse der Konstitution ästheti-scher Gegenstände im praktischen Lebensvollzug stellt der in den

1 Vgl. Welsch, Ästhetisches Denken, a. a. O., S. 74. 2 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M.

1990, S. 103.

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»Ökonomisch-phi losophischen Manuskripten« von Marx enthalte-ne Ansatz zur Best immung der Formen sinnlich-gegenständlichen Verhaltens aus den Bedingungen und Formen der Reprodukt ion des menschlichen Lebens dar. Ausgehend von Feuerbachs Bestimmung des Menschen als gegenständliches Wesen betont er dabei in An-knüpfung an den deutschen Idealismus die tätige Seite des Gegen-standsbezugs gegenüber der Anschauung. Die praktische Tätigkeit als Vermenschlichung der Natur und Vergegenständhchung des Menschen enthält gleichsam notwendig ein ästhetisches Moment als Elemcntarform der subjektiven Konstitution ästhetischer Gegen-stände in sich: Die nach menschlichen Vorstellungen erzeugten Ge-genstände enthalten eine kritisch auf unterschiedliche Lebensäuße-rungen und Befindlichkeiten in der Lcbenswclt zurückweisende Gegenstandsbedeutung. Sie fungieren so in einem Kommunika-t ionszusammenhang auch als ästhetische Zeichen.

Aber auch nach der subjektiven Seite besitzt die praktische Tätig-keit ästhetische Relevanz. In ihr betätigt der Mensch seine Kräfte, deren er sich in der ästhetischen Tätigkeit und Anschauung bedient und auf die er in der Reflexion zurückgreift. Auf diese Weise ent-wickelt er nicht nur seine geistigen Vermögen - Vernunft, Verstand, Urteilskraft, Begehrungsvermögen, Gemüt und Charaktereigen-schaften, Sprache, Geselligkeit und Gemeinsinn -, sondern auch die leiblichen Kräfte — Beweglichkeit, Handfertigkeit, Schrift, Gestik, Mimik , Kooperation, Werkzeuge, Kommunikat ionsmittel, Materia-lien — bildet er aus und macht sie sich als Bedingungen seines Ich bewußt und verfügbar. Ebenso bestimmt die Form der Kooperation und Arbeitsteilung die Formen gegenständlicher Tätigkeit. Sie er-möglicht erst die Ausbildung eines autonomen Gebietes der Künste, in denen dem Menschen das freie Spiel und der Selbstgenuß seiner Kräfte zum Selbstzweck werden können.

Die Fundierung der subjektiven Konstitut ion ästhetischer Ge-genstände einschließlich der fiktiven Gegenwclten in einem prak-tisch-lebensweltlichcn Zusammenhang erfaßt die pluralen, individu-ell und sozial sich differenzierenden Perspektiven der leistenden Subjektivität, ohne ihre apriorischen Bedingungen in der raum-zeit-lichcn Struktur der Sinne, in dem spezifischen Status des Ge-schmacksurteils und in den rationalen Denkformen zu übersehen. Das Schwergewicht des Ästhetischen - und darin ist vielleicht ein gewisser Idealismus dieses Ansatzes zu sehen - liegt hier auf der Entwicklung produktiver Fähigkeiten des Menschen im Gegensatz zu einer vorwiegend konsumorientierten und daher auf Verdingli-

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chung und Funktionalisierung hinwirkenden Asthetisierung. Eine Kriti k des Phänomens der Asthetisierung müßte wohl an diesem Punkt ansetzen. Die Kriti k ästhetischer Praktiken ist immer auch Kriti k an Praxisformen überhaupt, also Gesellschaftskritik. Der praktische Lebensvollzug ist die Bedingung der Möglichkeit der Konstitution von geistigen Welten. Mit ihm gewinnen und verlieren sie ihren Sinn. Die Praxis ist daher die tiefstliegende Schicht für die Erzeugung von Welten und für ihre Beziehungen aufeinander. Me-thodologisch bildet sie daher einen notwendigen Ausgangspunkt der Konstitutionsanalyse.

Einen ähnlichen Weg schlägt Merleau-Ponty ein, wenn er in Abgrenzung von Husserl betont, daß die Konstituierung des Seins-sinns sich nicht im Bewußtseinsleben der transzendentalen Subjek-tivität vollzieht, sondern im Feld des präpersonal-präreflexiven Voll-zug des leiblichen Zur-Welt-Seins, hinter den die Reflexion nicht zurückgehen kann. Zur Subjektivität gehört eben wesentlich Spon-taneität, Handeln auch aus anderen inneren Antrieben als aus geistig reflektierten Prinzipien. »Sofern ich Hände, Füße, einen Leib, eine Welt habe«, so schreibt er, »trage ich stets mich umgebende Inten-tionen mit mir, denen keinerlei Entscheidungscharakter eignet und die meine Umgebung mit Charakteren versehen, die ich nicht wähle. Diese Intentionen sind allgemeine in einem doppelten Sinne: einmal konstituieren sie ein System, in das sich alle mir möglichen Gegen-stände mit einem Schlage eingeschlossen finden...; zum anderen sind sie nicht meine eigenen, kommen sie von weiter her als ich selbst, und ich bin nicht überrascht, sie bei allen psychophysischen Subjek-ten wiederzufinden, deren Organisation eine der meinen ähnliche ist.«1 Die Konstitution ästhetischer Gegenstände ist damit ein not-wendiges Moment der Lebenswelt und ihrer Reproduktion in der praktischen Tätigkeit, die auch Prozesse der Sinnstiftung in kommu-nikativen und sinnlich-praktischen Tätigkeiten umfaßt.

V Ästhetik und Theorie der Subjektivität

Wenn wir die Schicksale des Ich in der neueren Geschichte von seinen Eroberungen im Zentrum unserer geistigen Welt bei Fichte bis zu seiner völligen Vernichtung bei Mach überblicken, so sehen wir, daß sich mit dieser Entwicklung auch das Problem einer philo-

1 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 499f.

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sophischen Ästhetik anders und prinzipieller stellt als an ihren mo-dernen Anfängen. Zwar sah schon Hegel - und vor ihm auch Baum-garten - den möglichen Einwurf gegen die Ästhetik, daß sie aufgrund des Ursprungs der Kunst in der regellosen Phantasie und ihrer Befangenheit im Sinnlichen sich der wissenschaftlichen Betrachtung entzieht. Diesen Einwurf zu entkräften ist ihm aber nur gelungen, weil er das Kunstschöne, das Subjektive in den ästhetischen Gestal-ten in einer objektiven Idee verankerte, die sich selbst denkt und in den historischen Stufen ihrer Entwicklung dem sinnlichen Stoff seine zwingende Form gibt.1

Die Destruktion eines solchen im Geist festgeketteten identischen Selbst - nicht nur in der Theorie, auch in den praktischen Lebens-formen - hebt die Möglichkeit einer solchen Lösung auf. Eine auf klassische oder irgendwie anders geartete Kunstideale gerichtete Ästhetik ist nicht zurückholbar.

Umsomehr wird mit der Macht, die den sinnlichen Gestalten und Lebensformen heute zukommt, eine Ästhetik notwendig, die sich nicht mehr schlechthin auf geistige Prinzipien ästhetischer Gestal-tung richtet. Die trotz (oder auch wegen) der Rationalisierung unse-res Lebensvollzugs sich verstärkenden Bemühungen um eine die Sinnlichkeit ansprechende Gestaltung der Welt können in einer Theorie der Subjektivität nicht länger ignoriert werden.

Der aus den Verbindlichkeiten der Idee entlassene, aus der Spon-taneität der subjektiven Kräfte entspringende und diese reflektieren-de Gegenstand ist ein flüchtiges Phänomen. Seine Subjektivität ist nicht geistig, allgemein, eindeutig bestimmbar. Sie ist aber als jenes »Totum der ins Kunstwerk hineingetragenen Kräfte... die potentielle Gegenwart des Kollektivs im Werk, nach dem Maß der verfügbaren Produktivkräfte«.2 Doch auch dadurch ist sie nicht einfach allgemei-ne gesellschaftliche Formbestimmtheit, sondern immer auch Spon-taneität.

Gerade durch diese Nichtreduzierbarkeit der ästhetischen Gestal-tung auf allgemeine Prinzipien macht ihre theoretische Betrachtung auf etwas aufmerksam, was die »Geistphilosophie« gern vernachläs-sigt, aber ohne das auch die geistigen Strukturen sowie die kommu-nikativen und technischen Prozesse ihrer Hervorbringung nicht begriffen werden können: Das Ich ist nicht nur durch intentionale Akte auf seine Gegenstände bezogen. Mi t der Wahrnehmung des

1 Vgl. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, a. a. O., S. 23f. 2 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 71.

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Gegenstandes sind auch immer Selbstwahrnehmungen verbunden, das Gewahrwerden eigener Befindlichkeiten, die sich im Gegenstand verdichten. Ulrich Pothast beschreibt diesen Zusammenhang so, daß manches von unseren »Spüren« für anderes steht und bezeichnet diese Erscheinung als »Konfrontation«, die er auf folgende Weise begründet: »Wenigstens für den Fall der äußeren Wahrnehmung, zum Beispiel der Wahrnehmung von solchem, was wir im Alltag >Gegenstand< nennen, nehme ich an, daß bestimmte Anteile aus dem spürenden Leben des Organ ismus / ir solches Äußere stehen oder im spürenden Leben als dieses Äußere fungieren«.*

Die Konstituierung des Gegenstandes ist also nicht nur ein reflek-tierter intentionaler Akt , sondern ein Zusammenwirken verschiede-ner subjektiver Kräfte und psychischer Prozesse. Die in diesem Konstitut ionsakt wirkende Instanz des Ich ist anderer Ar t als die des »Ich denke«. Die Ästhetik bringt damit Aspekte in eine Theorie der Subjektivität ein, die bei einer auf Erkenntnisleistung beschränkten Sicht außer acht bleiben oder nur ungenau wahrgenommen werden. So wird auch erklärlich, warum selbst dann, wenn - wie bei Ernst Mach - das Ich ganz in Frage gestellt und in Empfindungen aufgelöst wird, gerade dieses Selbstverständnis des Ich sich in ästhetische Hal tungen umsetzte und tiefe Wirkungen hatte, wie der Impressio-nismus zeigt.2

Der Mensch kann und muß nicht notwendig in der Reflexion seiner Lebensvollzüge eine absolute Identität finden. In dem über die hier geltenden allgemeinen Prinzipien geführten Diskurs sind von einem rein intellektuellen Standpunkt schnell Einigungen über Veränderungen, notwendige Brüche, Umorientierungen möglich. In der sinnlichen Welt aber muß der Mensch leben. Aus ihren Entfrem-dungen, aus ihrer Tristesse kann er sich nicht durch den theoreti-schen und moralischen Diskurs befreien und an ihre Schönheit fesselt ihn nicht der abstrakte Gedanke. Auf sie muß er sich empfin-dend und gestaltend einlassen; denn sie berühren sein Lebensgefühl und seine Existenz. Die Bilder der Kunst zeigen uns mehr und andere Seiten unserer Lebenswelt als der reflektierende Verstand. Sie liefern uns auch neue Welten, in denen wir heimisch sein können und die doch nur Ersatzwelten bleiben. Der Weg zur Freiheit, um diesen hochfliegenden Gedanken Schillers nochmals aufzugreifen, wird

1 Ulrich Pothast, Über Bewußtsein, in: ders. u. a. (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt a. M. 1987, S. 20f.

2 Siehe dazu Manfred Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus, Berlin 1977.

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kein bloß ästhetischer sein, aber auch kein Weg, der ohne ästhetische Ansprüche gegangen werden kann.

Erst im sinnlichen Leben findet und bestätigt der Mensch sein Selbst, und auch in den Empfindungen des Verlorenseins kommt ein Ich zum Bewußtsein. So bleibt uns nur, mit Hermann Bahr zu sagen: »Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Göt ter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten... Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklic h und Ich bin Ich.«1

1 Hermann Bahr, Das unrettbare Ich, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Mo-demc, Stuttgart 1990, S. 148.

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KARLHEINZ BARCK

Ästhetische Utopie oder Heterotopien des Ästhetischen?

A uf dem Hannoveraner Kongreß über die »Aktualität des Ästhe-tischen« (1992) warnte Jean Fran$ois Lyotard vor der trügeri-

schen Erwartung, im melancholischen Rückblick auf die Ruinen der abendländischen Kulturtradition neue Hoffnungen aus einer ubi-quitären Asthetisierung zu schöpfen.1 Man würde mit derart panäs-thetischen Erklärungen der Menschenrechte nur die Verschleierung wesentlicher Unterschiede und Differenzen im Namen ihrer Gleich-Gültigkeit fortschreiben und einer Indifferenz gegenüber den Un-gerechtigkeiten das Wort leihen, die noch immer das Komplement der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gleichwertigkeit ist, die den Mehrwert ebenso verbirgt wie das Gleichheitsprinzip den Blick auf die Gerechtigkeit verstellt.

Nach einer Bemerkung Ortega y Gassets »verrät es eine Art von geistiger Armut, wenn man nicht gewillt ist, auch in der Niederlage eines der Gesichter zu erkennen, die das Leben annehmen kann.«2

Denn als Symptom für Um- oder Neuorientierungen angesichts einer Niederlage kann man wohl bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen die gegenwärtige Ästhetik-Debatte ansehen. In welchem Sinne, das wäre genauer zu prüfen. Vorab aber sei behauptet, daß es die Niederlage (oder das Scheitern) einer bestimmten Form ästheti-scher Utopie ist, auf die diese Debatte fixiert ist und worin sie eines ihrer Epizentren hat. Ist also, so möchte ich uns fragen, die Formel des Noch-Nicht, des Vorscheins, an der Blochs »Prinzip Hoffnung« hängt, mit dem durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus und das scheinbare Ende der euro-amerikanischen Ära der Kalten Kriege besiegelten »Nicht-Mehr« einer utopischen Alternative erle-digt? Wäre mithin jene neue/alte »One World Order«, die Francis Fukuyama, Berater der Bush-Administration, auch als eine Realisie-

1 Vgl. Michael Franz, Die »Allgegenwart« des Ästhetischen. Kritischer Rückblick auf einen Kongreß, in: Weimarer Beiträge, 39. Jg. H. 2 (1993).

2 Jose Ortega y Gasset, Espana Invertebrada (1921), in: Obras Completas, Bd. 3, Madrid 1957, S. 54.

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rung amerikanischer Utopie, des american dream, imaginiert hat, der für uns alle jetzt verbindliche Bild- und Denkraum?

Die im Zuge einer Bewegung von West nach Ost und im Ergebnis einer sogenannten »nachholenden Revolution« (Habermas) eta-blierte Demokratie, in der viele Zeitgenossen nun das (vorerst) letzte Wort der Geschichte zu sehen geneigt sind, kann, denke ich, nicht fraglos hingenommen werden.

Was aber hat das mit der Ästhetik und mit ästhetischer Utopie zu tun? Darüber will ich versuchen, mir Klarheit zu verschaffen und einige Überlegungen vorzustellen.

Damit wir uns im Blick auf das Thema dieser Konferenz »ins Bild setzen« - im Sinne der ja wohl bei der Wahl des Themas bedachten Konzeption Heideggers im Aufsatz Die Zeit der Weltbilder*, derzu-folge »die Welt als Bild begriffen« (nicht aber sich ein Bild von der Welt machen), »das Wesen der Neuzeit auszeichnet«. Darin hat Jacob Taubes in seinem letzten Aufsatz über die »Asthetisierung der Wahrheit im Posthistoire« eine »Bedingung der Möglichkeit der gegenwärtigen Konjunktur der Ästhetik« gesehen. Eine Vorausset-zung auch, um aus dem Verhältnis von Bild und Reflexion Orientie-rungen für eine »Ortsbestimmung der Gegenwart«2 zu gewinnen.

Dazu gehört im Falle meines Themas der Rückblick auf eine mit der »Wende« (man kann dieses ungenaue Schlagwort als schnelle Kurzformel ohne weiteren Kommentar einmal verwenden) und mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zwar verschobene, aber nicht verschwundene Ost-West-Differenz im Umgang mit der Ästhetik und ästhetischer Erfahrung. Denn die auffällige und nahezu simultane Konjunktur der Ästhetik seit etwa Mitte der 80er Jahre in der DDR und in der BRD und im Westen generell stand unter ganz unterschiedlichen Sternen.

Sie entwickelte sich in der DDR etwa zeitgleich mit der Perestroi-ka im Zeichen der Kriti k an einer der puren Machterhaltuhg eines von den Erfahrungen der Bevölkerung entfremdeten politischen Apparates und der dieser Macht und ihrer Legitimation dienenden Politisierung der Künste und ihrer öffentlichen Wirkungsräume. Die Kriti k richtete sich auch gegen eine »Verschwisterung von Ethik und

1 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 82t

2 Jacob Taubes, Asthetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Streitbare Philoso-phie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, hg. von Gabriele Althaus und Irmingard Staeuble. Gruß wort von Oskar Negt, Berlin 1988, S. 47 u. S. 4L

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Ästhetik« als einem Bestandteil dieser Legitimation. Die politisch aufgeladene Kategorie der Verantwortung1 fungierte darin als re-pressive Formel der Verpflichtung auf eine abstrakte sozialistische Moral, auf die Beschwörung eines gesellschaftlichen Interesses, d. h. auf die Entäußerung der Selbstbestimmung der Individuen, ihrer Entscheidungsfreiheit an außerhalb ihrer selbst liegende Mächte, Interessen und Instanzen.

In diesx* Diskussion über Kunst und Ästhetik ging es in einem weiteren Sinne um die Kriti k an einem Kunstzentrismus und dem daran hängenden Kult staatskultureller Praxis. Mi t dem Plädoyer für die Entfaltung »sozialer Phantasie« (ein von dem früh verstorbenen Ostberliner Philosophen Wolfgang Heise begründetes Konzept für eine andere Ästhetik) als einer Maxime nicht für die »Asthetisierung der Lebenswelt« (wovon in der reduzierten und konkurrenzlosen Warenwirtschaft der DDR ohnehin keine Rede sein konnte) wurden die sklerotischen kulturellen und sozialen Verhältnisse in Frage gestellt.

Um in aller Kürze die Differenz zu veranschaulichen, erlaube ich mir, aus einem Text zwei Gedanken zu referieren, mit denen wir 1988 im Anschluß an die internationale Diskussion Annäherungen an eine andere Ästhetik zur Diskussion stellten.2

Der erste Gedanke betrifft die Umstellung der Ästhetik (und ihres Begriffs) auf Probleme der Wahrnehmung, womit auch ein anderes Politikverständnis nahegelegt wurde. Um einen erweiterten Politik-begriff zu entwickeln, versuchten wir, den öffentlich geführten po-litischen Diskurs zu unterlaufen, indem Strukturen und die Deter-miniertheit menschlichen Denkens beschrieben wurden. Wahrneh-mung wurde zu einer zentralen Kategorie, um bisher als unantastbar geltende Begriffe - Subjekt, Humanismus, Dialektik, Fortschritt -in die Krise zu bringen, weil sie als unangemessen, korrumpiert erfahren wurden bzw. in ihrer totalisierenden Gestalt zur Beschrei-bung von erlebter Welt nicht mehr ausreichten.

Der andere Gedanke betrifft den Gebietsanspruch der Ästhetik auf einen (autonomen) Sonderbereich der Künste und plädiert für eine zweite Umstellung: vom Sinn auf die Sinne. Das entspräche

1 Vgl. dazu Norbert Wokart, Verantwortung. Garant konservativer Ethik, in: ders., Ent-Täuschungen. Philosophische Signaturen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 59-75.

2 Vgl. Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Es-sais, hg. v. Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris/Stefan Richter, Leipzig 1990 (5. Aufl . 1993).

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dem, was Foucault die Einübung in eine nicht-faschistische Lebens-kunst genannt hat, ein Konzept, das wir glaubten stark machen zu müssen, um die Differenz zu allen Formen ästhetischer Kompensa-tion zu unterstreichen. Insofern könnte man sagen, daß mit der Einstellung auf Phänomene der Wahrnehmung die Differenz (und die Gegensätzlichkeit) zwischen einer Idealität des Sinns und einer Materialität der Sinne als eine Aufgabe oder Orientierung behauptet wird.

Vor diesem Hintergrund haben sich ästhetische Utopien in einem bestimmten Sinne als frag- und kritikwürdig erwiesen. Das betrifft vor allem eine ihrer wesentlichen geschichtlichen und strukturellen Voraussetzungen und Funktionsmechanismen (oder Dispositive). Jene nämlich, die man durch das Prinzip der »Verschwisterung von Ethik und Ästhetik« in einem ganz bestimmten Sinne kennzeichnen kann.

Dieses Prinzip bestimmt die ästhetischen Utopien in ihrer moder-nen Gestalt seit der Aufklärung und Moderne und gibt ihnen die Form eines Emanzipationsprojektes. Dessen immer totalisierende utopische Zielstellung wäre einer Beobachtung des französischen Kunsttheoretikers Thierry de Duve zufolge von einer nicht-teleolo-gischen Emanzipationsmaxime zu unterscheiden. Die ästhetische Praxis der Künste garantiert dieses emanzipatorische Projekt (manchmal, wie im Futurismus, wie ein Projektil) durch eine pro-messe de bonheur, durch ein Glücksversprechen, auf das sie die Mitwelt verpflichtet. Sie ist Garant und Bild-Raum einer künftigen Erfüllung und Einlösung von Hoffnungen und Erwartungen. Der »Erlösungshorizont« ästhetischer Utopie orientiert die ästhetische Praxis, auch in ihrer kritischen Funktion, immer auf der Suche nach einer Vermittlung von Tat und Traum, von Ethik und Ästhetik.

Seit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Men-schen, einem locus classicus ästhetischer Utopie, ist der Begriff des »ästhetischen Staats« und »ästhetischer Kultur« ein bis zu Hannah Arendt reichendes Faszinosum.1 Das auf dem »Schauplatz der schö-

1 Freilich ist Hannah Arendts Verständnis von Kants 3. Kriti k als politischer Philo-sophie durch die Perspektive der Fortschrittskritik bedingt: »Gerade die Idee des Fortschritts -wenn es sich dabei um mehr handelt als einen Wandel von Umständen und eine Verbesserung der Welt - widerspricht Kants Vorstellung von der Würde des Menschen. Es ist gegen die menschliche Würde, an den Fortschritt zu glauben. Fortschritt meint darüber hinaus, daß die Geschichte als erzählbare niemals ein Ende hat. Ihr Ende liegt in der Unendlichkeit. Es gibt keinen Punkt, an dem wir stillstehen und mit dem rückwärts gewandten Blick des Historikers zurückschauen

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nen Kunst« kodifizierte »Gesetzbuch für die ästhetische Welt« ent-wirf t Schiller zufolge die »Schönheit der Freiheit« (oder die Freiheit durch Schönheit) entsprechend der Annahme, »daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert«'. Ethik und Ästhetik sind in dieser Schil-lerschen Utopie im Raum des Staates auf eine Weise verbunden und vermittelt, die in manchem die 15 Jahre später in Frankreich von Charles Fourier entworfene ästhetische Utopie der »universellen Analogie« vorwegnimmt. So heißt es im 27. Brief, der eine Art von Drei-Staaten-Theorie entwirft:

»Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt - wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, so darf er ihm im Kreise des schönen Um-gangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reiches.«2

Wir können uns ein genaueres Bild von der Struktur dieser Utopie des ästhetischen Staates und der darin verankerten Vorstellung, die Kunst mit dem Leben zu verbinden machen, wenn wir uns die verschiedenen Formen vor Augen führen, die das Emanzipations-projekt in der Geschichte der Avantgarden angenommen hat. Seit den französischen Saint-Simonisten, die den Künstlern als der Avantgarde eine Führungsrolle in der Gemeinschaft mit den Indu-

könnten.« Hannah Arendt, Über Kants Politische Philosophie, in: dies., Das Urtei-len. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. u. mit einem Essay von Ronald Bei-ner, München-Zürich 1985, S. 102f.

1 Schillers Werke, Philosophische Schriften. Erster Teil, Nationalausgabe, Bd. 20, Wei-mar 1962, S. 312.

2 A. a. O., S. 410. Es bedarf einer gründlichen Darstellung, wie diese SchiUersche Idee sich in der Folgezeit in einen ästhetischen Mythos nationaler Identitätssuche in Deutschland verwandelt, bis hin zu der von Benjamin benannten »Asthetisierung der Politik« im Nationalsozialismus. Auf diesen Zusammenhang einer ästhetischen Lösung für die Probleme nationaler Identität haben Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy in ihrer Analyse Le mythe nazi(Marseille 1991) aufmerksam ge-macht: »On comprend peut-etre mieux, des lors, pourquoi le national-socialisme n'a pas simplement represente, comme le disait Benjamin, une >esthetisation de la politique< (ä laquelle il eüt ete süffisant de repondre, ä la maniere de Brecht, par une >politisation de l'art<: car de cela aussi un totalitarisme est parfaitement capable de se charger), mais une fusion de la politique et de l'art, la production du politique comme ceuvre d'art. Pour Hegel dejä, le monde grec etait celui de >la cite comme oeuvre d'art<.« (S. 48f.)

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striellen und den Wissenschaftlern zuschrieben1, bis zu den Gesamt-kunstwerken der russischen Avantgarden der 20er Jahre und zu denen des Faschismus (Boris Groys hat mit seiner Interpretation der Sowjetunion als »Gesamtkunstwerk Stalin« beide aufeinander bezo-gen und gewissermaßen ein Negativbild von Schillers ästhetischem Staat geschaffen2). Seither bestimmt die Verbindung von sozialer und ästhetischer Utopie, der ästhetischen als sozialer Utopie, auch den Begriff der Avantgarde.

Diese uns vertraute Konjunktion hat ihren Ursprung in der Auf-klärung. Sie legitimiert sich in ihrer kritischen Funkt ion durch die Grundsätze der Revolution und der Menschenrechte, durch ein Ziel der Geschichte und die politische Bindung an die jeweils als Träger-subjekte des Fortschritts angesehenen Kräfte. Die einschlägigen Bei-spiele sind hinlänglich bekannt: David und die Französische Revo-lution, Gericault und die Julirevolution, Courbet und die 48er Re-volution und die Pariser Commune, Tatlin und die Oktoberrevolu-tion. Immer war die utopische Verlängerung einer Erfahrung in und mit der Revolut ion an die Hauptstraße eines die ganze Menschheit einschließenden universalen Raums gebunden, waren diese ästheti-schen Utopien europäischen Ursprungs hegemonial und exklusiv in der doppelten Bedeutung des Terminus: elitär und alle Nebenstraßen ausschließend (oder vereinnahmend). Die Heterotopien als Ant i -Utopien einer anderen ästhetischen Praxis fanden vor der von dieser ästhetischen Utopie bestimmten theoretischen Reflexion lange Zeit keine Gnade. Nicht nur die anderer nicht-westlicher Kulturen, de-nen man abwertend oder nostalgisch das Etikett »primitiv« anhefte-te3, sondern auch nicht die Gegenorte innerhalb der europäischen Kultur selbst wie z. B. die sogenannte Schwarze Moderne, deren Vertreter die katastrophale Seite der Geschichte in das Zentrum ihrer Praxis rückten: Sade und Goya, Nerval und Büchner, Lautreamont und Panizza, Kafka und Joseph Conrad, Heiner Müller und Bob Wilson oder Pina Bausch. Als »Erinnerungsutopie« (Walter Benja-

1 Vgl. den Erstbeleg in diesem Sinne bei dem Saint-Simon-Schüler Olinde Rodriguez in dem fiktiven Dialog L'artiste, le savant et l'mdustriel (1829), in: Claude-Henri Saint-Simon, (Euvres, Bd. 5, Paris 1966.

2 Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München-Wien 1988.

3 Vgl. z. B. James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethno-graphy, Literature, and Art, Cambridge, Mass. u. London 1988; Sally Price, Primi-tive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1992.

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min) wäre Utopie nicht Vertröstung, sondern Solidarisierung mit den Toten.

Die am utopischen Kunstmodell orientierte ästhetische Reflexion forderte immer im Namen der idealen Menschenrechte die Ver-pflichtung auf eine universal gültige Ethik ein. Freiheit- Gleichheit - Brüderlichkeit als ihr Welt-Bild, ihre Welt als Bild: »Künstlerische Freiheit als Freiheit von Normen und Zwängen sollte politische Befreiung eröffnen. Ästhetische Gleichheit als Kreativität aller war ein Vorbild sozialer Gleichheit. Kulturelle Brüderlichkeit als nicht-arbeitsteilige oder spezialistische Verfügung über Ausdrucksmittel und Ausdrucksmöglichkeiten war die Garantie moralischer Ge-meinschaft. Oder auch (in grober Verkürzung gesagt): in einer kom-munistischen Gesellschaft eines von der Notwendigkeit befreiten Reichs der Freiheit wäre jedermann ein Künstler (zufolge einer utopischen Vision des jungen Marx). Mi t anderen Worten: In diesen am Emanzipations/>ro;e&£ orientierten ästhetischen Utopien steht als Wegziel am Ende immer die Universalität. Jede Aktion, sei sie politisch oder künstlerisch, ist nur ein Mittel für diesen Zweck.«'

Ich brauche hier nicht näher zu begründen, warum und woran diese an einem Emanzipationspro/e^r orientierten ästhetischen Uto-pien zwar nicht gescheitert (sie wurden ja auf unterschiedliche Weise immer auch verwirklicht), wohl aber geschichtlich überholt und anachronistisch geworden sind. Diese ästhetischen Utopien können wir heute den »großen Erzählungen« zurechnen. Die Ostberliner Literaturwissenschaftlerin Inge Münz-Koenen hat auf einer Leipzi-ger Konferenz über Posthistoire im Sommer 1992 berichtet, daß kürzlich ein litauischer Schriftsteller bemerkte, er sei grundsätzlich gegen jede Utopie, insbesondere gegen die sozialistische, weil er sein ganzes bisheriges Leben in einer Utopie zugebracht habe. »Das triff t den Kern dessen, was Adorno einmal >die Paradoxie der Erfüllung< genannt hat, den Sachverhalt nämlich, daß das Beste auf der Strecke bleibt, wenn man der Versuchung erliegt, Utopien in die Tat umzu-setzen. Die dabei entstehenden Gestehungskosten, heute sind das vor allem die Folgen der durch Technologien erfüllten ehemals utopischen Träume, sind der Fluch solcher Reduktionen und prak-tischen Umsetzungen von Utopien.«2 So daß man der Utopie eine

1 Thierry de Duve, Function critique de l'art? Examen d'une question, Unveröff. Typoskript eines Vortrags auf dem internationalen Leipziger Symposion »Ethik der Ästhetik«, 2. 12. - 5. 12. 1993.

2 Inge Münz-Koenen, Ende der Utopien = Ende der Geschichte? Der Ort des Sozia-

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Chance wohl nur noch in der Form ihres Negativbildes einräumen kann, eine negative Utopie, wie sie z. B. Robert Jungk sich vorgestellt hat, die die Konsequenzen berechnet, die unausweichlich entstehen, wenn es immer so und im Rahmen derselben Logik weitergeht wie bisher.'

Wenn darum, wie ich meine, die Zeit der ästhetischen Utopien in den uns bekannten Formen und Strukturen abgelaufen ist, dann bleibt doch für die heutige ästhetische Reflexion, die sich ja dieser Erbschaft nicht entziehen kann, die Aufgabe, nach anderen Ufern Ausschau zu halten und nach anderen Orientierungen zu suchen.

Gibt es aber Alternativen zu der anachronistisch gewordenen Okkupation der Zukunftshorizonte durch universalistische ästheti-sche oder andere Utopien? Lassen sich »Gegenorte« anstelle der unwirklichen Räume der Utopien ausmachen, lassen sich Antiuto-pien als »wirkliche und wirksame Orte« im Sinne der von Foucault geforderten Heterotopologie2 beschreiben, in denen ästhetische Pra-xis nicht an vorgefertigten und vorgeschriebenen Projekten orien-tiert ist, nicht mehr nur der Bereich von Kunst-Spezialisten wäre, sondern als experimenteller Spiel- und Bildraum in nicht außenge-leiteter oder fremdbestimmter Gemeinschaft sich entfaltet?3 Oder wäre das schon wieder eine neue Utopie? Solche Praxis an anderen wirklichen Orten würde, wil l man sie ins Bild setzen, eine Erweite-rung und eine prinzipielle Neubestimmung des so fest in unserem Bewußtsein haftenden und an einem bestimmten Modell von Kunst und von Werkgerechtigkeit orientierten Begriffs von Ästhetik vor-aussetzen. Eine Erweiterung zum Ästhetischen in einem vielleicht an Kants Konzept einer nicht mehr nur idealen »Gefühlsgemein-schaft«, d. h. einer von Vor-Urteilen freien (und die bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht ignorierenden) mit-menschlichen Kommunikation. Einer Kommunikation, in der die Ur-Teile, die Teilbarkeit und Mitteilbarkeit der Gefühle nicht immer schon vorab unter der Pflicht zu und der Verpflichtung gegenüber

lismus in den Modernisierungsprozessen, in: Weimarer Beiträge, 39. Jg. H. 1 (1993), S. 17.

1 Robert Jungk, Projekt Ermutigung. Streitschrift wider die Resignation, Berlin 1988. 2 Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute, a. a. O., S.

34-46. 3 In solche Richtung weist das Buch von Ferdinand Fellmann, Lebensphtlosophie.

Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek 1993. Vgl. auch Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994.

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einem einheitlichen Konsens steht. Damit stellt sich zugleich in unseren kapitalistisch strukturierten Gesellschaften noch einmal die Frage nach der Demokratie und deren möglicher Verbindung mit dem Ästhetischen. Denn darum dreht sich doch wohl letzten Endes die gegenwärtige Ästhetik-Diskussion, auch dort und dann wo man (wie Odo Marquard) resignierend und kompensierend die ästheti-sche Erfahrung als die letzte Alternative zur irreversiblen »Krise der Erwartung« sieht, weil zwar alles Mögliche passiert, aber nichts wirklich geschieht.'

Die Aktualisierung des Kantschen Konzepts des reflexiven Ur-teils, das, wie wir wissen, von den bestimmenden Urteilen der Ver-nunft unterschieden ist und in dieser Unterschiedlichkeit als sensus communis aestheticus gefaßt wird, weist in eine andere als nur kom-pensatorische Richtung.

Dies ist denn auch der bewußte oder unbewußte Denkhorizont, wenn heute etwa »eine Kulturrevolution des Gemeinsinns« gefor-dert wird mit dem Blick auf eine »sozial-ökologische Neuorientie-rung«, wie sie Fritz Vilmar forderte, der schon Vorjahren eine Kultur der Sinnlichkeit, einen zeitgemäßen anthropologischen Materialis-mus ohne technikfeindliche Kulturkritik gefordert hat:

»Wir brauchen eine gemeinsame Strategie gegen den alltäglichen Terror der totalen Rücksichtslosigkeit, dem unsere laisser-faire-Ge-sellschaft hilflos gegenübersteht. Eine Kulturrevolution des Gemein-sinns, die den Konsens über eine neue solidarische Ethik herstellt, um der fatalen Persönlichkeitsdeformation zu begegnen: dem Ver-lust elementarer Fähigkeiten zur Mitbürgerlichkeit, gegenseitiger Hilf e und Solidarität.«2

Eine neue solidarische Ethik! An dieser Forderung scheiden sich in der Ästhetik-Diskussion die Geister. Sie trennt diese auch durch eine überzeugt bejahende oder ebenso überzeugt ablehnende Hal-tung zu der ja mit der Verschwisterung von Ethik und Ästhetik implizit aufgerufenen politischen Dimension, d. h. in der Frage, ob und wie eine demokratische Polis im Raum unserer Gesellschaften möglich ist und ob nicht (wie Jean-Francois Lyotard z. B. meint) der philosophischen wie der ästhetischen Reflexion aufgetragen ist, das

1 Vgl. Odo Marquard, Krise der Erwartung- Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes, Konstanz 1982.

2 Fritz Vilmar, Sozialökologische Neuorientierung, in: Nürnberger Blätter, Nr. 6 (1987), S. 18.

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Vermächtnis Kants heute durch eine 4. Kriti k einzulösen, durch die noch immer ungeschriebene Kritik der politischen Vernunft.*

Ich wil l meinen Standpunkt dazu in aller Kürze nach einer knap-pen Charakterisierung der gegenüber einer Verschwisterung von Ethik und Ästhetik kontroversen Ansichten erläutern.

Die Radikalkritik an der Verschwisterung von Ethik und Ästhetik wurde in Deutschland jüngst im Zeichen der zwar konjunkturellen, aber gleichwohl symptomatischen Debatte über die Hybris deut-scher Schriftsteller und Intellektueller im Lichte der »Wende« in der D D R vorgetragen. Im sogenannten »deutsch-deutschen Literatur-streit«2 wurde Max Webers Distinktion von Gesinnungs- und Ver-antwortungsethik in dem Verdikt gegen die »Gesinnungsästhetik« deutscher Autoren aktualisiert. Die Verkopplung und Verkupplung von idealistischer Moral und Politik, von Walter Benjamin schon zu seiner Zeit als das Dilemma »Linker Melancholie« analysiert und kritisiert, wurde sogar als ästhetische Variante des deutschen Sonder-wegs bezeichnet. Mi t dieser Kriti k am Modell ästhetischer Utopie sind ihre Anwälte noch einmal einer »Verlockung zur Regression« (Jacob Taubes) erlegen. Denn die grundsätzliche Absage an eine »in den Dienst der Geschichte« genommene Ästhetik (so Ulrich Greiner in seiner den Streit eröffnenden Attacke wie auch Karlheinz Bohrer in seiner Rede über die »Grenzen des Ästhetischen« auf dem Kon-greß in Hannover) hat ja als ihr Korrelat und ihre Konsequenz, daß man der Kunst in einem ganz bestimmten (und ganz traditionalisti-schen, nämlich ganzheitlichen) Verständnis noch einmal ein Reservat der Erbauung und der reinen Sublimierung zuweist. Diese Kriti k ist ihrerseits darin zu kritisieren, daß sie nur die Kehrseite der diskrimi-nierten Utopie hervorkehrt, daß sie deren elitäre Tendenz, nun befreit von politischen und ethischen Ansprüchen jeder Art , fort-schreibt. Hinter der neu aufgezogenen Mauer ästhetischer Autono-mie bleibt kein Raum für andere Orte des Ästhetischen, für Hetero-topien. Das mobilisierte begriffliche Arsenal ist (wie schon in Ador-nos Ästhetik) traditionell und exklusiv. Wie schon der Umgang mit dem höchst fragwürdigen Begriff »Massenkultur«, ist der theoreti-sche Ansatz hinter der Kriti k an der »Gesinnungsästhetik« einer

1 Jean-Francois Lyotard, Le differend, Paris 1983 u. ders., Leconssur l'Analytique du sublime, Paris 1991.

2 Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder »Freunde, es spricht sich schlecht mit ge-bundener Zunge«. Analysen und Materialien, hg. v. Karl Deiritz und Hannes Krauss, Hamburg/Zürich 1991.

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Strategie der kulturellen Abgrenzung und Diskriminierung aller Formen des Genusses und des Vergnügens verpflichtet. Der Wert-gegensatz von »ästhetischer Kultur« und »Massenkultur« bleibt blind für die Intermundien einer nicht-hegemonialen Kultur der Marginalität.

Auf der anderen Seite interveniert eine im weitesten Sinne auf die Begründung einer »Lebenskunst« zielende Artikulation von Ästhe-tik und Ethik genau an jener Stelle heutiger Sozialtheorien, wo im politisch-rechtlichen Bereich die Grenzen einer »Entmoralisierung der Politik« diskutiert und beklagt werden. D. h. wo die von Kant begründete Trennung von Moralität und Legalität die Regelung von Konflikten im Rahmen einer traditionellen Rechtslogik, z. B. ange-sichts gravierender Folgen technologischer Entwicklungen, aus-schließt und die dieser Logik weiterhin folgende Politik als a-mora-lisch kenntlich macht. Gegen ein in politischen, rechtlichen, kultu-rellen und wissenschaftlichen Systemen verankertes Stellvertreter-prinzip wird daher eine andere Logik und Denkweise erkennbar, wenn z. B. Heinz v. Foerster, einer der Begründer des sogenannten Radikalen Konstruktivismus, die Entscheidungssouveränität des In-dividuums in einem Ästhetik und Ethik verbindenden doppelten Imperativ verankert und das Bild einer Zukunft nicht von einem Projekt (wie in den ästhetischen Utopien) abhängig macht, sondern von der Verantwortung für das, was man sieht, was man beobachtet, was man wahrnimmt. So lauten:

»Der ethische Imperativ: Handle stets so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.

Der ästhetische Imperativ: Willst Du sehen, so lerne zu handeln.« Dem von Foerster einen Kommentar hinzufügt, der die Utopie aufhebt:

»In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf die Zu-kunft hin zu handeln, die wir wünschen. Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, wie wir sie sehen und erstreben. Dies kann nur für diejenigen ein Schock sein, die ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen, daß für die Zukunft nur die Regeln gelten sollen, die in der Vergangenheit befolgt wurden. Für diese Menschen ist die Vorstel-lung einer Veränderung unbegreiflich, denn Veränderung ist der Prozeß, der die Regeln der Vergangenheit auslöscht.«1 Oder, so könnte man hinzufügen, der die Wirklichkeit unmöglich macht!

1 He inz von Foerster, Sicht und Einsicht, Braunschweig-Wiesbaden 1985 (Wissen-schaftstheorie. Wissenschafts und Phi losophie. Bd. 21), S. 41 u. S. 10.

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Das scheint wohl das eigentliche Motiv einer neu best immten trostlosen »Ethik des Ästhetischen« zu sein: der Widerstand gegen alle Formen eines Fundamental ismus und der Anmaßung von uni-versalen Interessen, wo schon im gängigen Verständnis des Begriffs die ursprüngliche Bedeutung des Miteinanderseins, das Inter-esse, ganz aus dem Bewußtsein verschwunden ist. Die Ankunft eines Homo aestheticus, die dem französischen Soziologen Michel Maffe-soli zufolge die Herrschaft des Homo oeconomicus und des Homo politicus abzulösen hätte, erinnert an diese ursprüngliche Bedeutung von Interesse. »Das Interesse, das mich an die Gruppe bindet, das gemeinsame Erlebnis, ist ein Faktor der Sozialisation.«1

»Hören wi r auf die Gegenwart zu hassen! «2 ist das Leitmotiv eines unter eine Maxime Bakunins (»Lapassion destructrice est unepassion creatrice«) gestellten radikalen Hedonismus, der dem Ästhetischen einen dionysischen anderen O rt zuweist in der Folge von Nietzsches zumeist ästhetizistisch mißverstandenen anzüglichen Satz, »daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist«3.

Wenn auch nicht verkannt werden sollte, daß dieser Homo aes-theticus in der von Michel Maffesoli beschriebenen Gestalt als eine Spätgeburt ökonomisch übersättigter Gesellschaften noch alle Züge eines apokalyptischen Tänzers am Abgrund trägt, eine Ar t »joyeuse apocalypse« vorführt, die in anderen Teilen der Welt wenig Zuspruch fände, so ist doch die alltagsweltliche Verortung des Ästhetischen, die Aufbrechung kultureller und verwalteter Reservate des »imagi-naire social« (oder der »sozialen Phantasie«) ein ernstzunehmendes Phänomen. Allerdings wäre dieser Ansatz über die Vereinigung

1 Michel Maffesoli, Aux creux desapparences. Pour une cthique de l'esthetique, Paris 1990, S. 35. Vgl. auch ders., Das ästhetische Paradigma. Soziologie als Kunst, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 111-126. Dieser »Homo aestheticus« hat, was Maffesoli übersieht, einen Vorläu-fer. Karl Justus Obenauer hat dessen Ideologiegeschichte 1933 in seinem Buch Die Problematik des ästhetischen Menschen in der deutschen Literatur kritisch behan-delt mit einer ambivalenten, auf die Kriti k des Nationalsozialismus am »ästheti-schen Menschen« eingestimmten These: »Niemand wünscht im unklaren darüber gelassen zu werden, wo die Grenzen der ästhetischen Lebensidee liegen. Diese ins Bewußtsein zu heben, ist heute die Aufgabe. Wir haben nur noch geringe Sympa-thien für diesen Typus, wir können selbst Kierkegaard zustimmen, der den ästhe-tisch Lebenden in nihilistischer Schwermut enden läßt.« (S. 2f. Vgl. auch Walter Benjamins Rezension von Obenauers Buch, in: GS III , S. 408f.)

2 Maffesoli, Aux creux des apparences, a. a. O., S. 11. 3 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische

Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 17.

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vielfältiger Schönheit mit dem Alltäglichen, worin Gianni Vattimo den Kern eines »Übergangs von der ästhetischen Utopie zur Hete-rotopie des Ästhetischen« gesehen hat1, weiterzudenken.

Dazu kann ich hier abschließend nur ganz vorläufige und tastende Annäherungen vortragen. Von »Gegenorten«, Heterotopien des Äs-thetischen zu sprechen heißt ja, die Ästhetik nach ihrer 200jährigen Exklusivität und Unterordnung unter Vernunftprinzipien (das war schon Kants Kriti k an Baumgarten) in ihrer Passion für die materiel-len und sinnlichen Dinge zu rehabilitieren. Insofern wäre (Dietmar Kamper zufolge) »Ästhetik die Spur des Anderen in der Wahrneh-mung der Welt. Sie folgt nicht der Geschichte des Selbst, des Geistes, sondern der Gegengeschichte des Buchstabens und damit einer ge-nuinen Ethik, die härter ist als jede Moral und jede Religion. Von Anfang an hat sie Zweifel angemeldet an den Obsessionen einer Selbstbegründung der Vernunft und an der Immanenz eines common sense, wie er sich heute in einem ubiquitären gesellschaftlichen Ima-ginären manifestiert. Ästhetik besteht - auch unter der Prämisse der Unerträglichkeit - darauf, daß die Menschheit eines konkreten Au-ßen, eines körperlichen und zeitlichen Nichtidentischen bedürftig ist, wenn sie nicht in einer Selbstbefriedigung des Geistes< (Hegel) enden will.«2

Die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Gemeinsinn, ja die Gemeinschaft als Ort des Ästhetischen legitimiert bei Kant den Universalitätsanspruch des ästhetischen Urteils. Der sensus commu-nis basiert auf einer idealen Gefühlsgemeinschaft ebenso wie er diese konstituiert. Lyotard hat die Mitteilbarkeit des Gefühls darum als »Transitivität« bezeichnet.3 Man könnte sie auch eine »kommunizie-rende Röhre« nennen. Das ästhetische Urteil bei Kant ist in seinem Kern »unmittelbare Kommunikation«, worin es sich von allen ande-ren Formen des Urteils unterscheidet. Im Unterschied zu dieser Unmittelbarkeit des ästhetischen Urteils gibt es aber keine unmittel-bare ethische Gemeinschaft. Für Kant geht Lyotard zufolge »die

1 Gianni Vattimo, La soaetä trasparente, Milano 1989, S. 84ff. (»Dall'utopia all'ete-rotopia«).

2 Dietmar Kamper, Ethik der Ästhetik, unveröff. Typoskript (1992). 3 Jean-Francois Lyotard, Sensus Communis, in: Le cahier du College International

de Philosophie, Nr. 3 (1987), S. 67-87. Eine erweiterte deutsche Fassung unter dem Titel Sensus communis, das Subjekt im Entstehen jetzt in: Vogl (Hg.), Gemeinschaf-ten, a. a. O., S. 223-250.

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ÄSTHETISCHE UTOPIE I 2 5

ethische Idee nicht aus der ästhetischen Rezeptivität hervor«'. Das ist allein deswegen nicht der Fall, weil das ästhetische Urteil immer reine Reflexion ist, d. h. nicht wie Moral und Ethik durch Gesetz oder empirische Interessen begrenzt wird. Daher die Bedeutung, die Kant der Form im Urteil über das Schöne beimißt (und dies im Unterschied zum Stofflichen des nur Angenehmen2). Damit hat Kant die ursprüngliche Bedeutung der aisthesis als sinnlicher Wahr-nehmung aktualisiert. Denn die »Transsubjektivität, die der Konsti-tution individueller Subjekte vorausgeht«3, wird durch Wahrneh-mungsprozesse konstituiert. Wir nehmen unsere gegenständliche Welt selektiv und in Formumrissen, in Gestalten und Fragmenten wahr. Es ist das Feld des Sichtbaren, das uns zu sehenden Subjekten macht. Von dieser Formbestimmtheit des ästhetischen Urteils ausge-hend, ließe sich von Kant auch eine Brücke zu Marx schlagen, der in den Frühschriften (und noch bevor ihn die Lektüre von Hegels Ästhetik fesselte) eine ästhetische Physiologie der Sinne (wie später auf andere Weise Nietzsche auch) bedacht hat, in einem Zusammen-hang, der die »Bildung der 5 Sinne als eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« auffaßt: »Denn nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlich-te Natur.«4 Was wir auch so verstehen können, daß die aisthetische Unterscheidung heterotoper Bild- und Wahrnehmungsräume, audi-tiver, visueller, taktiler usw. die Hegemonie der Ästhetik durch die Heterogenität des Ästhetischen ersetzt.

Es sind nun heute die theoretischen und vor allem praktischen Folgen eines grenzenlosen Szientismus, die unter anderen Faktoren die erwähnte »Verschwisterung von Ethik und Ästhetik« in neu zu begründender Weise zu einer doch dringlichen und drängenden Aufgabe der Reflexion machen. Und zwar in einem anderen und

1 Jean-Francois Lyotard, Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 26 (1986), S. 20.

2 Franchise Proust (Kant. Le ton de l'histoire, Paris 1991) hat gezeigt, daß Kant mit der Distinktion von »ästhetischer Sympathie« und »ästhetischer Antipathie« auch vor einer Verwischung von empirischen Tatsachen und transzendentaler Idee warnt. So z. B. im Streit der Fakultäten mit der Bemerkung, daß die Beurteilung der Französischen Revolution vom Standpunkt »ästhetischer Antipathie« blind macht für die Erhabenheit der revolutionären Form. Vgl. S. 267.

3 Lyotard, Grundlagenkrise, a. a. O., S. 21. 4 Marx-Engels-Werke (MEW), Erg.-Bd. 1, Berlin 1977, S. 541 f.

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weiteren als rein hedonistisch bestimmten Sinn und unter Berück-sichtigung aller politischen Instrumentalisierungen. Die Folgen ei-nes zerstörerischen kapitalistischen Fortschritts, gegen die man heu-te sogenannte Technikfolgenabschätzungskonzepte mobilisiert, wa-ren zu Kants Zeiten kaum absehbar. Der aufklärerische Universalis-mus in Kants Theorie der Französischen Revolution aus deutscher Sicht wurde vor allem als Souverän des selbstbewußten und kriti -schen Individuums befestigt. In unserer Lage ist mit dem Zerfall abstrakter Allgemeinbegriffe, mit dem Desaster aller eurozentrisch formierten Geschichtsphilosophien eine »Dezentrierung traditio-neller geschichtlicher Antriebszentren« (Oskar Negt) eingetreten, deren Widersprüchlicheit durch den Zerfall alter und die Bildung neuer Ordnungen offenkundig geworden ist. Prozesse, die den ethi-schen Fragen einen neuen Vorrang bei der Suche nach alternativen Konzepten eingeräumt haben.

Ein Horizont des Verschiedenen und des Unterschiedlichen ver-langt Toleranz gegenüber dem Dissens, den sich keine vorgeschrie-bene oder verordnete universale Gemeinschaft usurpatorisch einver-leiben kann. Toleranz gegenüber dem Differenten, ohne z. B. zu sagen: Wir sind alle Weiße, wir sind alle Deutsche oder auch wir sind alle Menschen. Es geht um ein Zusammenleben in Differenz ohne Gleichgültigkeit, ohne Indifferenz.

In solche Richtung weist eines der letzten Bücher des früh ver-storbenen französischen Analytikers Felix Guattari. Gegen den ou-trierten Szientismus und die wachsende Intoleranz plädiert er für eine Okosophie, die er Caosmose nennt' und der er ein »ethisch-äs-thetisches Paradigma« zugrunde legt:

»Ich möchte den wesentlichen pluralistischen, multizentrischen und heterogenen Charakter zeitgenössischer Subjektivität betonen, obwohl dieser durch die Massen-Mediatisierung von Homogenisie-rung bedroht ist. In meiner Sicht ist ein Individuum immer schon ein Kollektiv, eine Zusammenfassung heterogener Bestandteile. Ein subjektiver Sachverhalt weist auf persönliche Orte - den Körper, das Ich —, aber zugleich auf kollektive Orte - die Familie, die Gruppe, die ethnische Zugehörigkeit. Hinzukommen all jene Verfahren der Subjektivierung, die sich im Sprechen, im Schreiben, in der Informa-tion und in den technologischen Maschinen verkörpern. So müßte man folglich für eine globale Konzertierung Platz schaffen und eine neue Ethik der Differenz befördern, die die Mächte des gegenwärti-

1 Felix Guattari, Caosmose. Um novo paradigma estetico, Rio de Janeiro 1992.

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ÄSTHETISCHE UTOPIE 127

gen Kapitalismus durch eine am Begehren (desir) der Völker orien-tierte Politik ersetzt.«1

Ob solche Hoffnung nur Utopie bleibt, verschoben auf kommen-de Zeiten, oder ob sie schon ein Bild von anderen Räumen des schon jetzt möglichen Zusammenlebens ist, das sollte ein vordringlicher Gegenstand ästhetischer Reflexion sein, damit wir uns über den Zustand der Welt und unsere Rolle darin ins Bild setzen.

1 Felix Guattari, Pour une refondation despratiques sociales, in: Le Monde diploma-tique (Paris), Okt. 1992, S. 27. (Dieses Anfang August 1992 geschriebene Manifest ist durch Felix Guattaris Tod am 29. 8. 1992 zu seinem Vermächtnis geworden.)

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HERMANN DANUSER

Historismus in der Postmoderne

Zur gegenwärtigen Lage der Musikästhetik

Das System der Ästhetik ist ihre Geschichte. (Carl Dahlhaus)

Wer sich die Situation der Musikästhetik außerhalb der Musik-wissenschaft vergegenwärtigt, wird mutmaßlich zuallererst

an Theodor W Adorno denken, jenen Philosophen, der - bei aller Distanz zur historischen Musikforschung - wie kein anderer Philo-soph die ästhetische Reflexion an einer spezifischen Erkenntnis der Musikwerke zu orientieren vermochte. Wer indessen diese Verge-genwärtigung innerhalb der Musikwissenschaft betreibt, dem steht ein anderer Autor vor Augen: Carl Dahlhaus. Ein Vierteljahrhundert jünger als Adorno, zwei Jahrzehnte nach ihm gestorben - 1989 -, prägte Dahlhaus jenes Denken aus, bei dem mein Versuch musikäs-thetischer Reflexion heute einsetzt, auch wenn er im Fortgang der Argumentat ion zu anderen Posit ionen gelangen wird.

Da ich nicht davon ausgehen kann, daß im Kreis der allgemeinen Ästhetik die musikästhetischen Hauptschriften Dahlhaus' in glei-cher Weise vertraut sind wie Adornos Philosophie der neuen Musik* seien vorab die Titel jener drei Publikationen genannt, auf die ich mich implizi t beziehe: Musikästhetik1, Musik-zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten1', sowie Klassische und romantische Musikästhetik*.

Wie läßt sich, in aller Kürze, der Kern der Dahlhaus'schen Musik-ästhetik zusammenfassen? Es handelt sich um ein Denken, welches einerseits eine gewisse Selbständigkeit des musikästhetischen Dis-kurses - soweit er sich in Texten niedergeschlagen hat - anerkennt

1 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1949. 2 Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967. 3 Musik -zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten, aus-

gewählt und kommentiert von Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann, Mün-chen und Kassel 1984.

4 Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988.

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HISTORISMUS IN DER POSTMODERNE 129

und jede vorschnelle Rückbindung dieses Diskurses an bestimmte Gegebenheiten der Kompositionsgeschichte zurückweist, welches andererseits aber doch die verbal-begriffliche Ästhetik als eine Form des Denkens über Musik in steter Wechselwirkung sieht mit dem »Denken in Musik«, dem Komponieren als einem »Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material«, wie der Musikästhetiker Eduard Hanslick um die Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert hat'. Auf-schlußreich ist immerhin, daß der Musikhistoriker Dahlhaus von fast denselben Fixpunkten der Reflexion ausgeht wie Adorno, der Anti-Musikwissenschaftler: Bach, dann vor allem Beethoven, Wagner, schließlich Schönberg. Diese Konstellation wurde für die Musikwis-senschaft überaus fruchtbar, weil sie in dialektischer Weise eine Tradition der Moderne erkennen läßt, die von einer statischen, on-tologischen Auffassung eines »Wesens« von Musik Abstand nimmt und auch philosophisches Fragen danach partiell obsolet werden läßt. Sie verbindet Traditionskontinuität - von Bach zu Schönberg -mit Traditionsveränderung und -brechung. Damit ist für die Musik-ästhetik die Maßgabe vorgezeichnet, daß sie sich nicht in historischer Rekonstruktion erschöpfen darf, sondern sich als eine auch um aktuelle Positionen zeitgenössischen Komponierens bemühte Diszi-plin zu begreifen hat.

Nun ist hier nicht der Ort dafür, Dahlhaus' Auseinandersetzung mit und seine Kriti k an Adorno2 zu thematisieren. Als einen Kern dieser Auseinandersetzung dürfen wir das Bemühen sehen, die Hauptbestände der »deutschen Musiktradition« - denn um nichts anderes handelt es sich bei dieser Traditionslinie von Bach bis Schön-berg - einer kritisch-historischen Neubewertung zu unterwerfen. Dahlhaus' Musikdenken lebt aus der Spannung zwischen den Polen einer radikalen Historisierung der Werke und ihrer Kontexte einer-seits und einem unbeugsamen Festhalten an der romantischen Idee des autonomen Musikwerks als Telos der Musikästhetik anderer-seits3. Der gegen Adornos Philosophie der neuen Musik und dessen Musiksoziologie4 gerichtete Vorwurf, die Beethovensche Instrumen-

1 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, 'l854, Wiesbaden ,61966.

2 Carl Dahlhaus, Zu Adornos Beethoven-Kritik, in: Adorno und die Musik, hg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 12), Graz 1979, S. 170ff.

3 Vgl. Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, sowie ders., Die Idee der absoluten Musik, Kassel und München 1978.

4 Theodor W Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorle-sungen, Frankfurt a. M. 1962.

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vielfältiger Schönheit mit dem Alltäglichen, worin Gianni Vattimo den Kern eines »Übergangs von der ästhetischen Utopie zur Hete-rotopie des Ästhetischen« gesehen hat1, weiterzudenken.

Dazu kann ich hier abschließend nur ganz vorläufige und tastende Annäherungen vortragen. Von »Gegenorten«, Heterotopien des Äs-thetischen zu sprechen heißt ja, die Ästhetik nach ihrer 200jährigen Exklusivität und Unterordnung unter Vernunftprinzipien (das war schon Kants Kriti k an Baumgarten) in ihrer Passion für die materiel-len und sinnlichen Dinge zu rehabilitieren. Insofern wäre (Dietmar Kamper zufolge) »Ästhetik die Spur des Anderen in der Wahrneh-mung der Welt. Sie folgt nicht der Geschichte des Selbst, des Geistes, sondern der Gegengeschichte des Buchstabens und damit einer ge-nuinen Ethik, die härter ist als jede Moral und jede Religion. Von Anfang an hat sie Zweifel angemeldet an den Obsessionen einer Selbstbegründung der Vernunft und an der Immanenz eines common sense, wie er sich heute in einem ubiquitären gesellschaftlichen Ima-ginären manifestiert. Ästhetik besteht - auch unter der Prämisse der Unerträglichkeit - darauf, daß die Menschheit eines konkreten Au-ßen, eines körperlichen und zeitlichen Nichtidentischen bedürftig ist, wenn sie nicht in einer Selbstbefriedigung des Geistes< (Hegel) enden will.«2

Die Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Gemeinsinn, ja die Gemeinschaft als Ort des Ästhetischen legitimiert bei Kant den Universalitätsanspruch des ästhetischen Urteils. Der sensus commu-nis basiert auf einer idealen Gefühlsgemeinschaft ebenso wie er diese konstituiert. Lyotard hat die Mittcilbarkeit des Gefühls darum als »Transitivität« bezeichnet.3 Man könnte sie auch eine »kommunizie-rende Röhre« nennen. Das ästhetische Urteil bei Kant ist in seinem Kern »unmittelbare Kommunikation«, worin es sich von allen ande-ren Formen des Urteils unterscheidet. Im Unterschied zu dieser Unmittelbarkeit des ästhetischen Urteils gibt es aber keine unmittel-bare ethische Gemeinschaft. Für Kant geht Lyotard zufolge »die

1 Gianni Vattimo, La societä trasparente, Milano 1989, S. 84ff. (»Dall'utopia all'ete-rotopia«).

2 Dietmar Kamper, Ethik der Ästhetik, unveröff. Typoskript (1992). 3 Jean-Francois Lyotard, Sensus Communis, in: Le cahier du College International

de Philosophie, Nr. 3 (1987), S. 67-87. Eine erweiterte deutsche Fassung unter dem Titel Sensus communis, das Subjekt im Entstehen jetzt in: Vogl (Hg.), Gemeinschaf-ten, a. a. O, S. 223-250.

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ethische Idee nicht aus der ästhetischen Rezeptivität hervor«'. Das ist allein deswegen nicht der Fall, weil das ästhetische Urteil immer reine Reflexion ist, d. h. nicht wie Moral und Ethik durch Gesetz oder empirische Interessen begrenzt wird. Daher die Bedeutung, die Kant der Form im Urteil über das Schöne beimißt (und dies im Unterschied zum Stofflichen des nur Angenehmen2). Damit hat Kant die ursprüngliche Bedeutung der aisthesis als sinnlicher Wahr-nehmung aktualisiert. Denn die »Transsubjektivität, die der Konsti-tution individueller Subjekte vorausgeht«3, wird durch Wahrneh-mungsprozesse konstituiert. Wir nehmen unsere gegenständliche Welt selektiv und in Formumrissen, in Gestalten und Fragmenten wahr. Es ist das Feld des Sichtbaren, das uns zu sehenden Subjekten macht. Von dieser Formbestimmtheit des ästhetischen Urteils ausge-hend, ließe sich von Kant auch eine Brücke zu Marx schlagen, der in den Frühschriften (und noch bevor ihn die Lektüre von Hegels Ästhetik fesselte) eine ästhetische Physiologie der Sinne (wie später auf andere Weise Nietzsche auch) bedacht hat, in einem Zusammen-hang, der die »Bildung der 5 Sinne als eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« auffaßt: »Denn nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlich-te Natur.«4 Was wir auch so verstehen können, daß die aisthetische Unterscheidung heterotoper Bild- und Wahrnehmungsräume, audi-tiver, visueller, taktiler usw. die Hegemonie der Ästhetik durch die Heterogenität des Ästhetischen ersetzt.

Es sind nun heute die theoretischen und vor allem praktischen Folgen eines grenzenlosen Szientismus, die unter anderen Faktoren die erwähnte »Verschwisterung von Ethik und Ästhetik« in neu zu begründender Weise zu einer doch dringlichen und drängenden Aufgabe der Reflexion machen. Und zwar in einem anderen und

1 Jean-Francois Lyotard, Grundlagenkrise, in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 26 (1986), S. 20.

2 Franchise Proust (Kant. Le ton de l'histoire, Paris 1991) hat gezeigt, daß Kant mit der Distinktion von »ästhetischer Sympathie« und »ästhetischer Antipathie« auch vor einer Verwischung von empirischen Tatsachen und transzendentaler Idee warnt. So z. B. im Streit der Fakultäten mit der Bemerkung, daß die Beurteilung der Französischen Revolution vom Standpunkt »ästhetischer Antipathie« blind macht für die Erhabenheit der revolutionären Form. Vgl. S. 267.

3 Lyotard, Grundlagenkrise, a. a. O., S. 21. 4 Marx-Engels-Werke (MEW), Erg.-Bd. 1, Berlin 1977, S. 541f.

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weiteren als rein hedonistisch bestimmten Sinn und unter Berück-sichtigung aller politischen Instrumentalisierungen. Die Folgen ei-nes zerstörerischen kapitalistischen Fortschritts, gegen die man heu-te sogenannte TechnikfolgenabSchätzungskonzepte mobilisiert, wa-ren zu Kants Zeiten kaum absehbar. Der aufklärerische Universalis-mus in Kants Theorie der Französischen Revolution aus deutscher Sicht wurde vor allem als Souverän des selbstbewußten und kriti -schen Individuums befestigt. In unserer Lage ist mit dem Zerfall abstrakter Allgemeinbegriffe, mit dem Desaster aller eurozentrisch formierten Geschichtsphilosophien eine »Dezentrierung traditio-neller geschichtlicher Antriebszentren« (Oskar Negt) eingetreten, deren Widersprüchlicheit durch den Zerfall alter und die Bildung neuer Ordnungen offenkundig geworden ist. Prozesse, die den ethi-schen Fragen einen neuen Vorrang bei der Suche nach alternativen Konzepten eingeräumt haben.

Ein Horizont des Verschiedenen und des Unterschiedlichen ver-langt Toleranz gegenüber dem Dissens, den sich keine vorgeschrie-bene oder verordnete universale Gemeinschaft usurpatorisch einver-leiben kann. Toleranz gegenüber dem Differenten, ohne z. B. zu sagen: Wir sind alle Weiße, wir sind alle Deutsche oder auch wir sind alle Menschen. Es geht um ein Zusammenleben in Differenz ohne Gleichgültigkeit, ohne Indifferenz.

In solche Richtung weist eines der letzten Bücher des früh ver-storbenen französischen Analytikers Felix Guattari. Gegen den ou-trierten Szientismus und die wachsende Intoleranz plädiert er für eine Ökosophie, die er Caosmose nennt' und der er ein »ethisch-äs-thetisches Paradigma« zugrunde legt:

»Ich möchte den wesentlichen pluralistischen, multizentrischen und heterogenen Charakter zeitgenössischer Subjektivität betonen, obwohl dieser durch die Massen-Mediatisierung von Homogenisie-rung bedroht ist. In meiner Sicht ist ein Individuum immer schon ein Kollektiv, eine Zusammenfassung heterogener Bestandteile. Ein subjektiver Sachverhalt weist auf persönliche Orte - den Körper, das Ich -, aber zugleich auf kollektive Orte - die Familie, die Gruppe, die ethnische Zugehörigkeit. Hinzukommen all jene Verfahren der Subjektivierung, die sich im Sprechen, im Schreiben, in der Informa-tion und in den technologischen Maschinen verkörpern. So müßte man folglich für eine globale Konzertierung Platz schaffen und eine neue Ethik der Differenz befördern, die die Mächte des gegenwärti-

1 Felix Guattari, Caosmose. Um novo paradigma estetico, Rio de Janeiro 1992.

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gen Kapitalismus durch eine am Begehren (desir) der Völker orien-tierte Politik ersetzt.«'

Ob solche Hoffnung nur Utopie bleibt, verschoben auf kommen-de Zeiten, oder ob sie schon ein Bild von anderen Räumen des schon jetzt möglichen Zusammenlebens ist, das sollte ein vordringlicher Gegenstand ästhetischer Reflexion sein, damit wir uns über den Zustand der Welt und unsere Rolle darin ins Bild setzen.

1 Felix Guattari, Pourune refondation despratiques sociales, in: Le Monde diploma-tique (Paris), Okt. 1992, S. 27. (Dieses Anfang August 1992 geschriebene Manifest ist durch Felix Guattaris Tod am 29. 8. 1992 zu seinem Vermächtnis geworden.)

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Historismus in der Postmoderne

Zur gegenwärtigen Lage der Musikästhetik

Das System der Ästhetik ist ihre Geschichte. (Carl Dahlhaus)

er sich die Situation der Musikästhetik außerhalb der Musik-wissenschaft vergegenwärtigt, wird mutmaßlich zuallererst

an Theodor W Adorno denken, jenen Philosophen, der - bei aller Distanz zur historischen Musikforschung - wie kein anderer Philo-soph die ästhetische Reflexion an einer spezifischen Erkenntnis der Musikwerke zu orientieren vermochte. Wer indessen diese Verge-genwärtigung innerhalb der Musikwissenschaft betreibt, dem steht ein anderer Autor vor Augen: Carl Dahlhaus. Ein Vierteljahrhundert jünger als Adorno, zwei Jahrzehnte nach ihm gestorben - 1989 -, prägte Dahlhaus jenes Denken aus, bei dem mein Versuch musikäs-thetischer Reflexion heute einsetzt, auch wenn er im Fortgang der Argumentation zu anderen Positionen gelangen wird.

Da ich nicht davon ausgehen kann, daß im Kreis der allgemeinen Ästhetik die musikästhetischen Hauptschriften Dahlhaus' in glei-cherweise vertraut sind 'wie Adornos Philosophie der neuen Musik* seien vorab die Titel jener drei Publikationen genannt, auf die ich mich implizit beziehe: Musikästhetik1, Musik- zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten1', sowie Klassische und romantische Musikästhetik4.

Wie läßt sich, in aller Kürze, der Kern der Dahlhaus'schen Musik-ästhetik zusammenfassen? Es handelt sich um ein Denken, welches einerseits eine gewisse Selbständigkeit des musikästhetischen Dis-kurses - soweit er sich in Texten niedergeschlagen hat - anerkennt

1 Theodor W Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M. 1949. 2 Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967. 3 Musik - zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten, aus-

gewählt und kommentiert von Carl Dahlhaus und Michael Zimmermann, Mün-chen und Kassel 1984.

4 Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988.

w

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und jede vorschnelle Rückbindung dieses Diskurses an bestimmte Gegebenheiten der Kompositionsgeschichte zurückweist, welches andererseits aber doch die verbal-begriffliche Ästhetik als eine Form des Denkens über Musik in steter Wechselwirkung sieht mit dem »Denken in Musik«, dem Komponieren als einem »Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material«, wie der Musikästhetiker Eduard Hanslick um die Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert hat'. Auf-schlußreich ist immerhin, daß der Musikhistoriker Dahlhaus von fast denselben Fixpunkten der Reflexion ausgeht wie Adorno, der Anti-Musikwissenschaftler: Bach, dann vor allem Beethoven, Wagner, schließlich Schönberg. Diese Konstellation wurde für die Musikwis-senschaft überaus fruchtbar, weil sie in dialektischer Weise eine Tradition der Moderne erkennen läßt, die von einer statischen, on-tologischen Auffassung eines »Wesens« von Musik Abstand nimmt und auch philosophisches Fragen danach partiell obsolet werden läßt. Sie verbindet Traditionskontinuität - von Bach zu Schönberg -mit Traditionsveränderung und -brechung. Damit ist für die Musik-ästhetik die Maßgabe vorgezeichnet, daß sie sich nicht in historischer Rekonstruktion erschöpfen darf, sondern sich als eine auch um aktuelle Positionen zeitgenössischen Komponierens bemühte Diszi-plin zu begreifen hat.

Nun ist hier nicht der Ort dafür, Dahlhaus' Auseinandersetzung mit und seine Kriti k an Adorno2 zu thematisieren. Als einen Kern dieser Auseinandersetzung dürfen wir das Bemühen sehen, die Hauptbestände der »deutschen Musiktradition« - denn um nichts anderes handelt es sich bei dieser Traditionslinie von Bach bis Schön-berg - einer kritisch-historischen Neubewertung zu unterwerfen. Dahlhaus' Musikdenken lebt aus der Spannung zwischen den Polen einer radikalen Historisierung der Werke und ihrer Kontexte einer-seits und einem unbeugsamen Festhalten an der romantischen Idee des autonomen Musikwerks als Telos der Musikästhetik anderer-seits3. Der gegen Adornos Philosophie der neuen Musik und dessen Musiksoziologie4 gerichtete Vorwurf, die Beethovensche Instrumen-

1 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, 'l854, Wiesbaden 161966.

2 Carl Dahlhaus, Zu Adornos Beethoven-Kritik, in: Adorno und die Musik, hg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 12), Graz 1979, S. 170ff.

3 Vgl. Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, sowie ders., Die Idee der absoluten Musik, Kassel und München 1978.

4 Theodor W Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorle-sungen, Frankfurt a. M. 1962.

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talmusik und die Kategorien des sich darin manifestierenden Musik-denkens würden verabsolutiert und zum Maßstab auch solcher mu-sikalischer Erscheinungen gemacht, die außerhalb dieser Tradition stehen - Strawinskys CEuvre etwa -, läßt sich in abgeschwächter Form auch auf Dahlhaus selbst beziehen. Ist es doch keine Frage, daß Dahlhaus Schlegels Diktum von der »Unkritisierbarkeit des Schlechten« zur wissenschaftlichen Leitschnur erhoben hat, indem sein Erkenntnisinteresse vor allem jener Traditionslinie galt, die den Höhenkamm der romantischen Kunstmusik markiert1. Trivialmu-sik, Volksmusik, Popularmusik lagen außerhalb seines Blickfeldes. Wenn man Dahlhaus' Ästhetik auf eine knappe Formel bringen möchte, die im übrigen auch für seine Historik gälte, so könnte man am ehesten von einem »sentimentalischen Historismus« sprechen -einem Historismus reflektierter Art also.

Eine Antipodin hatte er übrigens in der polnischen Musikforsche-rin Zofia Lissa. Lissa war Schülerin Roman Ingardens und hat in mehreren Aufsätzen und Abhandlungen auf eine originelle Weise einen phänomenologischen Ansatz mit einem marxistischen zu ver-schränken versucht2.

Dahlhaus und Lissa sind zweifellos noch heute die einflußreich-sten Musikästhetiker innerhalb der akademischen Musikwissen-schaft. Beide standen den Bemühungen der Musikpsychologie fern, durch Hörerbefragungen »ästhetisches Verhalten« gegenüber Musik und musikalischen Werken zu ergründen. Da diese empirische Me-thodik das ästhetische Telos der Werke, d. h. die normgebende Kraft der ästhetischen Gebilde selbst, mißachtet, läuft sie Gefahr, die hermeneutische wie die ästhetische Anstrengung des musikalischen Verstehens durch bloße Urteile subjektiver Geschmackspräferenzen zu ersetzen. Über den Hörer ist in diesen Fällen viel, über die in Frage stehende spezifische Musik dagegen wenig oder nichts ge-sagt.

Fruchtbarer erweist sich demgegenüber die Rezeptionsästhetik, wenngleich erst 1988, als das Interesse an diesem Paradigma in den Nachbardisziplinen schon merklich nachgelassen hatte, bei einem Hannoverschen Symposion ein erster zusammenhängender Gedan-

1 Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Mu-sikwissenschaft, Bd. 6), Wiesbaden 1980.

2 Vgl. Zofia Lissa, Aufsätze zur Musikästhetik, Berlin 1969, sowie dies., Neue Auf-sätze zur Musikästhetik, Berlin 1975.

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HISTORISMUS IN DER POSTMODERNE I 3 I

kenaustausch darüber innerhalb der Musikwissenschaft stattfand1. Der späte Einstieg brachte im übrigen keineswegs nur Nachteile; im Gegenteil wurde es dadurch möglich, Vor- und Nachteile des rezep-tionsästhetischen Paradigmas gelassen gegeneinander abzuwägen und übertriebene Erwartungen gar nicht erst aufkommen zu lassen.

In meinem Beitrag werde ich aber nicht daran anknüpfen, sondern werde von einem systematischen Standpunkt aus einige Überlegun-gen skizzieren, um die Richtungen anzudeuten, in denen sich mu-sikästhetisches Denken gegenwärtig produktiv entfaltet. Dabei will ich ein Dreifaches - getrennt - vergegenwärtigen, das in Wirklichkeit zusammengehört. Es sind dies: der verbale Diskurs, die schriftliche Notation von Musikwerken, und deren klangliche Existenz. Musik-ästhetik bezieht sich auf diese drei »Wirklichkeiten« und sucht in je spezifischer Akzentuierung deren Verhältnis - im Sinne von Nähe oder Ferne, Präsenz oder Absenz - zu ergründen. Mein Versuch wird es sein, einige Gedanken zur postmodernen Situierung dieser drei Wirklichkeiten - und ihrer Relationen zueinander - zu formulieren.

Meine These ist, daß in allen drei Wirklichkeiten, die indessen jeweils nur partielle sind und zu einer vollen musikalischen Wirk-lichkeit allein in ihrem Zusammengreifen werden, nach dem Ende einer geschichtsphilosophisch linear modellierten, entwicklungshaf-ten Fortschrittskonzeption in der Musik und ihrer Ästhetik eine Pluralisierung auf allen Ebenen eingesetzt und den Status der je einzelnen Bestimmungen damit drastisch verändert hat. Wie sieht diese pluralisierte Wirklichkeit einer postmodernen Musikästhetik aus? Indem ich einige ihrer hervortretenden Züge nennen möchte, wende ich mich zunächst dem »musikästhetischen Diskurs«, danach der »Kompositionsästhetik«, und schließlich der »Hörästhetik« zu.

1. Musikästhetischer Diskurs

Der Aufspaltung der Kompositions- und Interpretationskultur in diverse »Kulturen« entspricht auf der Ebene des verbalen musikäs-thetischen Diskurses eine Verzweigung von ähnlicher Vielfältigkeit. Die postmoderne Wirklichkeit manifestiert sich in dieser Hinsicht durch den Zerfall der modernen »Herrschaftssprache« der seriellen und postseriellen Musik, die eine spezifische »Fachsprache« eng

1 Vgl. Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher (= Publikationen der Hoch-schule für Musik und Theater Hannover, Bd. 3), Laaber 1991.

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umgrenzter Geltung war (was nicht gegen ihre Validität spricht). Parallel zu entsprechenden Phänomenen in Bildender Kunst und Literatur seit den mittleren siebziger Jahren - die Stichworte Abkehr vom Konstruktivismus, Hinwendung zu Neuer Subjektivität, Neu-er Innerlichkeit, Neuer Emotionalität müssen hier genügen - ent-wickelte sich die zeitgenössische Musik der achtziger und frühen neunziger Jahre nach je individuellen Schwerpunkten und Maßstä-ben. Während früher - in den fünfziger und sechziger Jahren - ein strenges Materialdenken vorherrschte, das die zugelassenen von den verbotenen, weil historisch obsolet gewordenen Materialien schied, ist das in der seriellen Moderne Verdrängte - zumal die Konsonanz, Grundlage eines genießerischen Verhaltens zur Klangerscheinung -längst zurückgekehrt1: weniger als Basis neuer Systeme, wohl aber als eine Ausdrucksform, die sich wieder gleichwertig neben der dissonant-atonalen Klangwelt behauptet. Weil hier eine Ideologie neuer Spontaneität sich Geltung verschaffte, nahm man Abstand von allen systematisch-diskursiven Ästhetikentwürfen; statt ihrer - statt der Konstrukt ionsmechanismen und der unweigerlich gestellten Hauptfrage danach, wie ein Stück »gemacht« sei - entdeckte der musikästhetische Diskurs seit den späten siebziger Jahren erneut den Hörer bzw. die freie Entscheidung des Komponisten als höchste Instanz der Formgebung. Besonders eindrücklich manifestiert sich solches Musikdenken bei Wolf gang Rihm, der mit gut vierzig Jahren bereits auf ein CEuvre von mehreren hundert Werken und eine Vielzahl von Reden und Schriften blickt2. Zentral ist für Rihm der Begriff eines »inklusiven Komponierens«:

»Unter inklusivem Komponieren verstehe ich eine Arbeitsweise, die durch Einbeziehung und Umschließung aller von Phantasie und Arbeitsökonomie berührten und geöffneten Bereiche zu ei-nem mit Gegenwart vollgesogenen Ergebnis gelangt. Dieser Vor-gang liegt näher beim Integrieren als beim Summieren [...]. Versu-chen wir, inklusives Komponieren näher zu bestimmen, so erge-ben sich drei Hauptgesichtspunkte: 1. das Zusammenstel len und

1 Vgl. in der Ästhetik die von Hans Robert Jauß proklamierte Rehabilitation des Genusses als ästhetischer Kategorie in: Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1984, S. 31 ff.

2 Vgl. Wolfgang Rihm, Chronologisches Werkverzeichnis 1965-1993, hg. von Hans Oesch, fortgeführt von Ulrich Mosch, sowie die Publikationen ausgewählter Schriften und Reden von Wolfgang Rihm, hg. von Ulrich Mosch (= Veröffentli-chungen der Paul Sacher Stiftung Basel), Druck in Vorbereitung.

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Verbinden von - wie ich es jetzt fordere - Heterogenem, Fertig-Unfertigem, Einanderbeeinträchtigendem und Auseinanderher-vorgegangenem; 2. die Offenheit für Einflüsse von außen, die nicht wegrationalisiert, sondern als Fermente zu sich selbst ge-führt, verarbeitet, nicht verdrängt werden; 3. die Möglichkeit, aus dem >Krisenzwang< heraus zu arbeiten und nicht mehr von den Kerben der Verletztheit absehen zu müssen.«1

Subjektivität setzt sich hier so rückhaltlos wie vormals nur im Schön-bergschen Expressionismus, wo es hieß: »Ich [seil. Schönberg] ent-scheide beim Komponieren nur durch das Gefühl, durch das Form-gefühl.«2 Insgesamt zeigt sich - Rihm ist eine Ausnahme — eine spürbare Reduktion des musikästhetischen Diskurses seitens der jüngeren Komponisten - Kehrseite von deren Bemühen, die Musik wieder gleichsam unmittelbar zum Hörer sprechen zu lassen, nicht länger vermittelt durch langatmige Poetiken, gutgemeinte Absichts-erklärungen oder auch komplexe Dispositionen, wie sie für die Neue Musik nach 1950 unabdingbar waren.

Gibt es heute, in einer als Postmoderne aufzufassenden Situation3, musikästhetische Konzepte von einer Geltungskraft, die den Haupt-entwürfen des 19. und mittleren 20. Jahrhunderts vergleichbar wä-ren? Wenn wir daran denken, in welchem Maße sich die frühroman-tische Musikkritik (insbesondere E.Th.A. Hoffmann) für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Schopenhaucrsche Metaphysik der Musik für die zweite Hälfte als diskursprägend erwiesen haben - um die Jahrhundertwende aufs nachhaltigste ergänzt durch ihre Nietz-

1 Wolfgang Rihm, Der geschockte Komponist, in: Ferienkurse '76, hg. von Ernst Tho-mas (= Darmstädter Beitrage zur Neuen Musik, Bd. 16), Mainz 1978, S. 47f.

2 Arnold Schönberg, Harmonielehre, [1911] Wien 71966, S. 499. 3 Allgemein vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne.

Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985; Wo.fgang Welsch, Unsere post-moderne Moderne, Weinheim 1987; Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Post-modeme-Diskussion, hg. von Wolfgang Welsch, Weinheim 1988; Ästhetik im Wi-derstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Francois Lyotard, hg. von Wolfgang Welsch und Christine Pries, Weinheim 1991; musikspc/.ifisch vgl. Das Projekt Mo-derne und die Postmoderne, hg. von Wilfried Gruhn (a Hochschuldokumentatio-nen zu Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Musikhochschule Freiburg, hg. von Wilfried Gruhn u.a., Bd. 2), Regensburg 1989; Moderne versus Postmoderne -zur ästhetischen Theorie und Praxis in den Künsten, p jbhziert unter der Heraus-gabe von Siegfried Mauser in Jahrbuch 4 der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Schaftlach 1990; Wiederaneignung und Neubestimmung. Der Fall »Post-moderne« in der Musik, hg. von Otto Kolleritsch (= Studien zur Wertungsfor-schung, Bd. 26), Wien und Graz 1993.

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sche'sche Variante -, wenn wir weiterhin daran denken, wie umfas-send Adornos Philosophie der neuen Musik das Denken innerhalb der Neuen Musik der fünfziger und sechziger Jahre zu bestimmen vermochte, dann ist heute ein musikästhetischer Diskurs von einer auch nur annähernd vergleichbaren Geltungsmacht nicht mehr ge-geben. Wir dürfen dies wohl als ein Resultat der fundamental plura-lisierten Situation der gegenwärtigen Musikkultur verstehen.

2. Kompositionsästhetik

»Und ich wäre stolz«, schreibt Schönberg am Anfang seiner Harmo-nielehre1, »wenn ich [...] sagen dürfte: Ich habe den Kompositions-schülern eine schlechte Ästhetik genommen, ihnen dafür aber eine gute Handwerkslehre gegeben.« Sei es, daß die kodifizierte Ästhetik von einem innovativen Kunstschaffen als konservativ empfunden wird - wie in diesem Fall -, oder sei es umgekehrt, daß eine progres-siv-moderne Ästhetik traditionsbewußten Künstlern Fesseln anlegt, - die Behinderung einer freien Modellierung des musikästhetischen Entwurfs wird bei Schönberg historisch weder zum ersten noch zum letzten Mal beklagt.

Was indes ist mit »Kompositionsästhetik« gemeint? Nichts ande-res als die musikästhetische Reflexion auf die Komposition qua Werkstruktur, auf die Partitur als den verbrieften künstlerischen Willen des Komponisten, die als Gebilde freilich losgelöst ist von der Autorintention. Der Weg, auf dem sich Kompositionsästhetik er-schließen läßt, ist die musikalische Analyse, die analytische Durch-dringung der komponierten Werkstruktur. Natürlich kann dies nicht ohne Referenz zur musikästhetischen Diskursebene oder auch zur Ebene des musikalischen Hörens erfolgen.

Die Musikwissenschaft wählt bevorzugt diesen Zugang zum Werk, denn er kommt ihrem Bedürfnis nach einem vermeintlich festen Standpunkt entgegen. Dabei ist erst vergleichsweise spät ihr Glauben, nach Klärung der philologischen Probleme einen »Urtext« oder »definitiven Text« eines musikalischen Werkes rekonstruieren zu können, erschüttert worden - durch die Editions- und Auffüh-rungsgeschichte, durch die Rezeptionsgeschichte, aber auch durch die Anlage als work in progress in der Moderne. Bei Gattungen wie der Oper in ihrer Rossinischen Prägung ist die Vorstellung einer autonomen, zeitenthoben-gültigen, vom Komponisten sanktionier-

1 Schönberg, Harmonielehre, a. a. O., S. 6.

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ten Werkgestalt illusionär: Es gibt so viele Werkfassungen, wie es Aufführungen einer Oper gegeben hat; und die Vorstellung, einer derselben käme gegenüber den anderen ein Primat zu, liegt jenseits des Rossinischen Denkhorizontes. Bei Gattungen autonomer In-strumentalmusik kommt die Textkategorie durch Wechselfälle der Rezeptionsgeschichte ins Wanken1. Wir können also bereits auf der Ebene der Kompositionsästhetik eine Pluralisierung des Gegenstan-des beobachten, die nicht ohne Folgen für den ästhetischen Diskurs bleibt.

Die Lust am Text, von der Roland Barthes gesprochen hat2, vermag sich im Bereich der Musik an vielerlei Texten zu entzünden. Und es scheint, als habe die Musikästhetik, soweit sie von der Musikwissenschaft betrieben wird, noch viel zu lernen von einem nicht-akademischen Musikverstehen. Dieses Musikverstehen - bei Adorno etwa oder Bloch - weiß von vornherein um seine »Unend-lichkeit«, wie denn bereits Dilthey den Prozeß des Verstehens, die Hermeneutik, als einen unendlichen Vorgang qualifiziert hat3. Na-türlich gilt dies auch für die Darstellung einer Kompositionsästhetik als Werkbeschreibung, die sich heute vermehrt einem pluralistischen Zugang öffnet. Je bewußter man auf eine Vollständigkeit der analy-tischen Beschreibung verzichtet, desto erhellender kann die vertiefte Untersuchung einzelner herausgehobener, auch im Prozeß des Hö-rens besonders markanter Abschnitte und Stellen ausfallen. Da Sub-jektivität des Zugangs also erwünscht ist, werden totalisierende Strukturtabellen und Formschemata, wie sie bei der kompositions-ästhetischen Analyse lange Zeit vorherrschten, mehr und mehr ver-abschiedet.

Nehmen wir zum Beispiel Wagners Tristan und Isolde. Dieses Werk ist insofern ein mythisches, als das, was sich »ereignet«, von Anfang an vorgezeichnet ist. Seit in der Vorgeschichte der Handlung Isolde den tödlich verwundeten Tristan wider ihren »Willen« rettete, waltet zwischen Liebe und Tod eine Dialektik. Sie bestimmt alles, was aus Liebe geschieht, zum Tod und wendet umgekehrt jede

1 Vgl. Carl Dahlhaus, Philologie und Rezeptionsgeschichte, in: Festschrift Georg von Dadelsen zum 60. Geburtstag, hg. von Thomas Kohlhase und Volker Scherhess, Neuhausen-Stuttgart 1978, S. 45ff.

2 Roland Barthes, Leplaisir du texte, Paris 1973. 3 Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste

Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (= Gesammelte Schriften, Bd. 5), Stuttgart 1957, S. 330.

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Handlung, die den Tod will , zur Fortsetzung und Vertiefung der Liebe.

Notenbeispiel 1:

Der Liebestod Isoldes knüpft mit der Tonart H -Dur an die Tonart der »Liebes-Lust«-Partie aus dem Duett des zweiten Aktes an - eines der kompositorischen Mittel , durch die Wagner die Einheit von Liebe und Tod musikalisch sinnfällig macht und über eine bloß textlich-verbale Absicht hinaus musikästhetisch verwirklicht. Durch ihr Sterben an der Seite von Tristans Leiche stellt Isolde die mythi-sche Einheit der Liebenden wieder her. Die Entgrenzung der Person, greifbar im Tausch der Namen im zweiten Akt , weitet sich hier zu einem pantheistischen Ende:

»In des Wonnenmeeres wogendem Schwall, in der Duft-Wellen tönendem Schall, in des Welt-Athems wehendem Al l -ertrinken — versinken -unbewußt — höchste Lust!«1

Di e musikalische Konfiguration dieses Endes stellt eine Individuali-sierung jener Schlußformel dar, die Wagner in den meisten Werken einsetzt2: Mol lsubdominante in Quart-Sext-Stellung, Durchgang in Oberst immenmelodie mit Auflösung in Dur-Tonika mit (Dur-)Terz in Oberst imme. Sie dient hier der »Verklärung« Isoldes, welche die Regieanweisung fordert. Die musikalische Individuation besteht darin, daß Wagner im fünft- und viertletzten Takt das chromatisch höherstrebende »Sehnsuchtsmotiv« gis — a — ais — h (mit der Fortset-zung: eis - dis) in die Schlußgestaltung einbezieht. Damit verweist er am Ende des Werkes auf seinen Anfang zurück und bekräftigt

1 Zit. nach Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 7, Leipzig 1907, S. 80f.

2 Vgl. Gerhard J. Winkler, Wagners >Erlösungsmotiv<. Versuch über eine musikalische Schlußformel. Eine Stilübung, in: Musiktheorie 5 (1990), S. 3ff.

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( l i o ld e amkl,wi« vvrklkrt , in Br*nxi»* * Annan Mafl aoflViaUa* L«ich» OroÜ« Rührung und Kntrückttfi t nnUr d*n Um*teh>nd«n )

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(.Der Vorhang1 fall t langsam wahrend der letzten Fermate)

Richard Wagner, Tristan und Isolde, Schlußpartie des dritten Aktes, Klavierauszug (Edition Peters, Frankfurt a. M. u.a.)

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musikalisch die zirkelhafte Struktur des Tristan, die mit der Liebe-Tod-Dialektik den Zeitverlauf in eine räumliche Dimension über-führt. In Wagners Tristan wird die musikhistorisch bahnbrechende Chromatik, mit der zu Beginn des Werkes eine große, kaum je aufgelöste Dissonanzspannung gesetzt wird - musikalische Chiffre für das Sehnen der Liebenden - , in der Schlußkonfiguration noch einmal aufgegriffen und am Ende in einen Dur-Zustand aufgelöst. Damit spannt Wagner das Werk unter einen riesigen Bogen, dessen Ende durch den Rückverweis auf den Anfang die Handlung als ein Ganzes zusammenfaßt.

3. Hörästhetik

Einem Laien möchte es vielleicht scheinen, als kämen wir nun erst zur »eigentlichen« Musikästhetik, ja als sei Musikästhetik mit Hö r-ästhetik geradezu identisch, weil die bislang zur Sprache gebrachten Gegenstände - »Musikästhetischer Diskurs« und »Komposit ionsäs-thetik« - nur mittelbar mit Ästhetik, mit einer auf die aisthesis der Klangwahrnehmung gerichteten Erfahrung, in Verbindung stünden. Daß die M u s i k- nach Wilhelm Busch - »mit Geräusch« verbunden ist, wissen wir; aber sie ist ebenso sehr auch mit Stille, mit Schweigen verbunden - spätestens seit Debussys musique du silence und den musikästhetischen Entwürfen zur Stille aus dem späteren 20. Jahr-hundert, zumal solchen von John Cage und Morton Feldman.

Das Hören erfolgt jedoch nicht als ein isolierter Vorgang, so wenig wie die beiden anderen Bereiche des Musikdenkens, das verbale Denken über Musik (der musikästhetische Diskurs) und das imagi-native Denken in Musik (der kompositionsästhetische Prozeß, sei es als faktische Genesis oder als analytische Rekonstruktion) isoliert sind. Vielmehr ist das Hören mit den beiden eben genannten Formen des Musikdenkens verknüpft und wird von ihnen geprägt. Verhielte sich dies anders, so wäre ein »gehörloser Komponist« eine paradoxe Vorstellung und nicht ein, durch Beethoven erwiesener, musikhisto-rischer Paradefall. Tatsächlich wird das Hören determiniert durch eine Vielzahl von Faktoren, deren Konstellation eine Hörästhet ik zu berücksichtigen hätte: physiologische Fähigkeit, Bildung, Gedächt-nis, Begabung, Wissen, Erfahrung etc.

Heutzutage erscheint das Hören von Musik weitgehend plurali-siert. Die Medien haben eine Revolution der Musikästhetik bewirkt. Sie haben mit der repetierbaren Tonkonserve etwas »verdinglicht« und verfügbar gemacht, was in seinen ästhetischen Konsequenzen

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schwerlich überschätzt werden kann. Mit ihnen ist Wirklichkeit geworden, was als »Interpretationskultur« zu gelten hat. Die Diffe-renzen zwischen den Interpretationen ein und desselben Werkes -realisiert durch verschiedene, mitunter aber auch durch dieselben Interpreten - ziehen in ihr mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Differenzen zwischen den Werken, deren Erörterung Gegenstand der Kompositionskultur ist. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch bezog sich die Musikkritik primär auf die Komposition und nahm von der Qualität der Aufführung eher beiläufig Notiz, bereits am Ende des Jahrhunderts dagegen sah sich ein Mann wie der Musik-forscher Hugo Riemann zur Klage veranlaßt, das Publikum habe »sich so an das Kritisieren gewöhnt, daß es auch die Aufführung einer Beethovenschen Symphonie nicht mehr anhören kann, ohne sich in erster Linie immer die Frage, ob die Aufführung eine gute, eine mustergültige oder eine mäßige ist, zu beantworten. An das Werk selbst denkt es kaum mehr.«'

Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen einem Musikwerk und seiner Interpretation stellt jedoch, wie vertraut sie auch sein mag, eine irrige Sicht dar. Ein Musikwerk gewinnt im Gegenteil durch die prinzipiell unendlich verschiedenen Aufführungen an Deutungs-und Erfahrungstiefe. Der Wachtraum mehrerer Komponisten, der Interpret, diese in ihren Augen mißliche Zwischeninstanz zwischen Autor und Publikum, ließe sich ausschalten, damit sie direkt zum Hörer sprechen könnten, wird durch die Geschichtlichkeit der gro-ßen Werke Lügen gestraft.

Wir können zwischen drei Modi der Interpretation unterschei-den, die prinzipiell gleichwertig nebeneinander stehen2: 1) traditio-neller Modus, 2) historisch-rekonstruktiver Modus, und 3) aktuali-sierender Modus. Während es sich in unserem Rahmen erübrigen dürfte, für den ersten Modus, den traditionellen, Beispiele beizubrin-gen - man mag an Furtwängler oder Toscanini, an Karajan, Abbado und viele andere Interpreten denken -, seien die beiden anderen Modi anhand einiger Beispiele knapp vorgestellt.

Der zweite Modus, der historisch-rekonstruktive, kommt in der heutigen ästhetischen Wirklichkeit zur Geltung auf zwei Weisen:

1 Hugo Riemann, Das Überhandnehmen des musikalischen Virtuosentums, in: ders., Präludien und Studien. Gesammelte Aufsätze zur Ästhetik, Theorie und Geschichte der Musik, Bd. 1, Leipzig 1925, S. 8.

2 Vgl. Hermann Danuser, Einleitung zum Band Musikalische Interpretation, hg. von dems. (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 11), Laaber 1992, S. 13ff.

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zum einen durch eine Archäologie der Klangforschung im Sinne einer Wiedererschließung historischer Tondokumente, zum anderen durch die zeitgenössischen Rekonstrukt ionsbemühungen innerhalb dieses Modus, die von Vertretern der »Early Music« betrieben wer-den. Die Freiburger Firma Weite zum Beispiel hat in den Anfangs-jahrzehnten unseres Jahrhunderts zahlreiche berühmte Komponi-sten und Klavierinterpreten mit eigenen und fremden Werken auf reproduzierbare Rollen - sogenannten Welte-Mignon-Rollen - auf-genommen, die heute erforscht und wieder gehört werden können. Mi t welcher Eleganz, mit welcher Kunst des Rubatospiels hat doch der alte Edvard Grieg sein Stück »Schmetterling« aus den Lyrischen Stücken op. 43 für Klavier eingespielt!

Heute greift der historisch-rekonstruktive Modus der Interpreta-tion weit bis ins 19. Jahrhundert hinein; die Alt e Musik des 17. und 18. Jahrhunderts wird in Darbietungen von Spitzenensembles wie dem Freiburger Barockorchester unter Thomas Hengelbrock so lebendig, daß sie als die eigentlich junge oder neue Musik unserer Zeit erscheinen mag. Auch Aufnahmen von Symphonien Felix Men-delssohn Bartholdys mit Roger Norr ington zeigen eine Aktualität des historisch-rekonstruktiven Modus, dem in solchen Momenten alles Verstaubte, ideologisch Angehauchte, wissenschaftlich Aufpo-lierte aus den früheren Zeiten der historischen Musikpraxis fehlt.

Der dritte Modus der Interpretation schließlich, der aktualisieren-de, läßt sich anhand der zehn Interpretationen veranschaulichen, die der Organist Gerd Zacher von dem Contrapunctus I aus Bachs Kunst der Fuge 1968 realisiert hat1.

Notenbeispiel 2:

Jede dieser Interpretationen bringt eine spezifische - für das Musik-denken der sechziger Jahre aktuelle - Deutungsidee des Contra-punctus zum Tragen, insgesamt ergeben sie einen kleinen Kosmos moderner Orgelinterpretation. Zu Recht nennt Zacher ihn Die Kunst einer Fuge.

Bei Nr. 4 zum Beispiel (Harmonies für György Ligeti) wird jeder Ton zur vorgeschriebenen Zeit angeschlagen, mitunter aber über seinen Wert hinaus gehalten, so daß sich Echos, Harmonien, Verwi-

1 Gerd Zacher, Festival - Die Kunst einer Fuge, Wergo Schallplatten GmbH Mainz, CD 6184-2.

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HISTORISMU S I N DER POSTMODERNE I 4 I

Handschrift : I Erstausgabe: Contrapunctus 1

Einfädl e Fuge über das Thema in seiner Urgestalt (vierstimmig)

Johann Sebastian Bach, Die Kunst der Fuge (BWV 1080), Contrapunctus I, Takte 1 -15 (Bärenreiter Verlag, Kassel u.a.)

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2 .

ZUR PHILOSOPHISCHEN FUNKTION

DES BILDES

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FERDINAND FELLMANN

Wovon sprechen die Bilder?

Aspekte der Bild-Semantik

Unsere postmoderne Lebenswelt verwandelt sich immer mehr in Bilderwelten, genauer gesagt: in Bildschirmwelten. Man mag

die Verwandlung als Verlust von Wirklichkeit beklagen, rückgängig machen läßt sie sich wohl kaum. So ist es nur natürlich, daß die Philosophie sich verstärkt dem Bild als Reflexionsmedium zuwen-det. Nach dem linguistic tum, der vor einigen Jahrzehnten die Phi-losophie revolutioniert hat, scheint mir nun die Zeit für einen imagic turn gekommen. Damit soll nicht etwa gesagt sein, daß die Bilder alles sind. Die Sprache hat ihre eigene Domäne, die ihr vom Bild nicht streitig gemacht werden kann. Aber das Bild ist mehr als eine bloß untergeordnete Klasse von Zeichen, der allenfalls Vermittlungsfunk-tion zukommt. Ich halte das Bild für einen selbständigen, sogar für den primären Bedeutungsträger, der die sinnlich-geistige Doppelna-tur des Menschen in elementarer Weise zum Ausdruck bringt. Daher ist es den Versuch wert, im Vergleich mit den sprachlichen Zeichen das dem Bild eigene semantische Feld abzustecken. Al s Frage for-muliert: Wovon sprechen die Bilder?

Zunächst möchte ich zwei negative Antworten geben, also sagen, wovon die Bilder nicht sprechen: Sie sprechen weder von den Inten-tionen der Menschen, die Bilder herstellen oder mit ihnen umgehen (I) , noch von den Gegenständen, die auf Bildern dargestellt werden (II) . Diese Antworten mögen verwunderlich klingen, verlieren aber ihre Anstößigkeit, sobald ich verrate, wovon die Bilder .meiner An-sicht nach wirklic h sprechen (III) . Meine These werde ich sodann an Hand einer strukturellen oder semiotischen Bild-Analyse erläutern (IV) . Daraus ergeben sich schließlich Folgerungen, die auch für die Ästhetik von Bedeutung sind (V).

I. Die Nicht-Intentionalität des Bildes

Bilder, so meine erste These, sprechen nicht von den Intentionen derjenigen, die sie herstellen oder mit ihnen umgehen. Sicherlich ist

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die Herstel lung eines Bildes ein intentionaler Akt : Ich muß wissen, was ich zeichnen oder malen will . Aber jeder kennt die Erfahrung, daß das Resultat nie ganz den ursprünglichen Absichten entspricht. Das triff t nicht nur diejenigen, die schlecht zeichnen können, son-dern auch den professionellen Bilder-Macher. Denn es liegt im We-sen der Bildlichkeit, daß sie die gedankliche Konzeption transzen-diert. Die Künstler ziehen aus diesem Sachverhalt in der Regel die Konsequenz, daß sie, danach gefragt, was sie mit einem Bild sagen wollen, den Fragenden auf das Bild selbst verweisen.

Fragt man ganz allgemein, warum Bilder nicht von Intentionen sprechen, so lautet die Antwort: Bilder sind zu konkret. Zwar um-fassen auch sie nur einen Bruchteil dessen, was der Fall ist, nämlich das Sichtbare. Aber Bilder gliedern das weite Feld des Sichtbaren nach einem anderen Prinzip als es die Begriffe tun. Diese lösen aus der Vielfalt des Gegebenen Merkmale heraus, d. h. sie abstrahieren. Di e Abstrakt ion erfolgt nach pragmatischen Gesichtspunkten, sie beruht auf Intentionen, die ohne Rücksicht auf die Gesetze der Sichtbarkeit das Gegebene zerlegen und neu zusammenfügen. So etwa in der Biologie, in der Blüten unabhängig von ihrer Farbe nach der Form ihrer Befruchtungsorgane klassifiziert werden.

N un sagt man zwar auch von Bildern, sie abstrahieren (etwa die Form vom Gegenstand); es besteht jedoch ein deutlicher Unter-schied zu den Begriffen, die ihrem Wesen nach aperspektivisch und daher eindeutig definierbar sind.1 Bilder können Eigenschaften nicht beliebig voneinander trennen und isolieren. So läßt sich durch ein Bil d die Farbe eines Gegenstandes nicht unabhängig von seiner Form darstellen. Das Bild eines grünen Baumes z. B. sagt immer auch etwas über seine Form. Allgemein gilt: Ein Bild verhält sich zum sichtbaren Gegenstand wie ein Teil zum Ganzen. Das wird am deutlichsten beim Abbild, das man rein mechanisch herstellen kann. Es zeigt einen Ausschnitt, so wie ein Fenster, durch das wir einen Teil der Landschaft erblicken.

Besonders deutlich trit t der nicht-intentionale Charakter des Bil -des in der Kommunikat ion zutage. Wenn ich möchte, daß jemand das Fenster schließt, so bediene ich mich zur Aufforderung am besten der Worte. Für die reine Mitteilung von Sachverhalten erhält ebenfalls der sprachliche Ausdruck den Vorzug. »Mach das Fenster zu!« oder »Peter kommt über den Hof« sind Sätze, aus denen die

1 So konstatiert z. B. Ernst H. Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd, Frankfurt a. M. 1978, S. 18: »Wir abstrahieren nicht-wir differenzieren«.

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WOVON SPRECHEN DIE BILDER? I 4 9

Intention des Sprechenden eindeutig hervorgeht. Wollte ich stattdes-sen die Intentionen mit Hilf e von Bildern formulieren, so dürfte das einigermaßen schwerfallen. Ich könnte ein Foto zeigen, das Peter über den Hof gehend abbildet. Aber derjenige, der das Bild von Peter auf dem Hof sieht, weiß nicht, worauf er achten soll. Das Foto zeigt Peter in einer bestimmten Kleidung, die für meine Mitteilung irrele-vant ist. Im Fall des Befehls müßte ich mindestens zwei Bilder benutzen, um mich verständlich zu machen: ein Bild vom offenen und ein Bild vom geschlossenen Fenster. Aber selbst dann bliebe der Befehl noch unklar.

Als Fazit läßt sich festhalten: Intentionen richten sich auf Sach-verhalte, und diese wiederum lassen sich nur durch begriffliche Abstraktion eindeutig feststellen. Die besprochene Welt ist eine Sachverhaltswelt. Dagegen geben Bilder Ausschnitte, die sich in eine unbestimmte Anzahl von Sachverhalten übersetzen lassen. So ent-hält das Foto von Peter die Information, daß er eine rote Jacke trägt, daß die Sonne scheint usw. Es heißt nicht umsonst: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Es sagt aber nie genau das, was man sagen will . Denn Bilder sagen nichts, was sie nicht als solche sind, nämlich Farbe und Form. Die Bilderwelt ist daher konservativer als die Sachverhaltswelt, in der sich das intentionale Bewußtsein beliebig bewegen kann.

II . Die Nicht-Gegenständlichkeit von Bildern

Ebensowenig wie von Intentionen sprechen Bilder von Gegenstän-den, die sie abbilden. Das erfährt man häufig genug, wenn man einen Gegenstand aus einem Katalog kauft. In der Regel schwebt er einem auf Grund der Abbildung ganz anders vor, als er in Wirklichkeit ist. Die Diskrepanz beruht darauf, daß das Bild beim Betrachter die Phantasie anregt und Wünsche wachruft, die über den Gegenstand als solchen hinausgehen. Die Sprödigkeit der Gegenstände gegen-über Bildern, die man sich von ihnen macht, wird verständlich, wenn man sich die Art und Weise vergegenwärtigt, wie Gegenstände leibhaftig gegeben sind: in der Wahrnehmung.

Die optische Wahrnehmung gleicht dem Bild prinzipiell darin, daß sie dem Betrachter Ansichten von Gegenständen liefert. Inso-fern sind Gegenstände als ganze niemals direkt erfahrbar. Nach phänomenologischer Auffassung besteht die Gegenständlichkeit in nichts anderem als darin, eine Folge von Ansichten aufeinander zu beziehen. Der Gegenstand als solcher ist also ein begriffliches Kon-

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strukt. Er steht für die Summe möglicher Wahrnehmungen, die in geregelter Abfolge einen stetigen Wissenszuwachs bringen. Nur im Hinblick auf diesen Wissenszuwachs ist es überhaupt sinnvoll, von Gegenstandswahrnehmung zu sprechen. Das macht die Realität der Wahrnehmung aus, in der jeder Anblick vom folgenden bestätigt und ergänzt wird.

Vergleicht man nun die Wahrnehmung mit der Abbildung, so springt die Differenz sofort ins Auge. Wie gesagt, Bilder gleichen der Wahrnehmung zwar darin, daß sie Ansichten von Gegenständen bieten. So kann man jedes Bild als Ansicht bezeichnen, aber nicht jede Ansicht ist ein Bild. Zum Bild wird eine Ansicht erst dadurch, daß sie isoliert von anderen Ansichten auftritt, also etwa dadurch, daß man sie einrahmt. Das bedeutet eine Fixierung, die zur Neutra-lisierung oder sogar zur Irrealisierung der Gegenständlichkeit führt, da diese, wie an der Wahrnehmung gezeigt, vom Wechsel der An-sichten lebt. Man könnte sagen, ein Bild ist nur der Anfang einer Wahrnehmung und damit ein Gegenstandsversprechen, das nicht eingelöst wird. Während in der Wahrnehmung die verschiedenen Ansichten gleichsam im Gegenstand verschwinden, wird im Bild die Ansicht an dieser Transformation gehindert und der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Pragmatisch äußert sich das darin, daß wahrgenommene Gegenstände dazu einladen, mit ihnen etwas an-zufangen, während das Bild vor allem die Phantasie des Betrachters beschäftigt.

Vielleicht wird man einwenden, daß bei aller Anerkennung der Differenz zwischen Wahrnehmung und Bild letzteres doch von Gegenständen spricht. Sagt man doch, auf dem Foto sei ein Haus zu sehen. Das ist zwar richtig, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß es sich hier um eine metaphorische Redeweise handelt. Denn streng genommen, sehe ich nur ein bedrucktes Stück Papier. Wenn ich darüber hinausgehe und, wie üblich, sage, ich sehe auf dem Foto ein Haus, so ist das, was ich sehe, eine Ansicht des Hauses, nicht das Haus selbst, welches möglicherweise schon zerstört ist. Das Bild spricht also nicht vom Haus, wie es ist, sondern vom Haus, wie es sich mir in Abwesenheit darstellt. Dazu bedarf es der Phantasie als der Fähigkeit, im Realen (einem Stück Papier) etwas Irreales (ein Bild) zu erkennen.1

1 Vgl. dazu die Analysen von Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, dt. von H. Schönberg, Reinbekl971.

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Fragt man noch einmal ganz allgemein, warum Bilder nicht von Gegenständen sprechen, so lautet die Antwort: Bilder sind zu fixiert. Natürlich kann man von einem Gegenstand mehrere Bilder anferti-gen, ihn beispielsweise von allen Seiten fotografieren, aber auch dieses Verfahren kann die Wahrnehmung nicht ersetzen. Die Diffe-renz liegt darin, daß die Bilderfolge diskontinuierlich bleibt und daher keinen Zugang zum Gegenstand ermöglicht. Sicherlich berei-chert eine Reihe von Fotos mein Wissen über einen Gegenstand, aber diese Bereicherung bleibt eigentümlich oberflächlich, da jedes Bild für sich steht. Das wird deutlich, wenn man sich eine Reihe von Fotos einer Person ansieht. Noch so viele Fotos können beim Betrachter nicht den Eindruck der leibhaftigen Präsenz der abgebildeten Person hervorrufen. Das ändert sich erst, wenn die Bilder so schnell aufein-ander folgen, daß der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung entsteht. Das ist bekanntlich beim Film der Fall. Aber auch hier bleibt eine Unbestimmtheit im Vergleich zur direkten Gegenstands-wahrnehmung, die in ihrer Wirklichkeit von den Bildern niemals ganz eingeholt werden kann.

III . Bildlichkeit als Zuständlichkeit

Wenn die Bilder weder von Intentionen noch von Gegenständen sprechen, wovon sprechen sie dann? Meine Antwort lautet: Bilder sprechen von Zuständen. Ich möchte also die sicherlich etwas gewag-te These vertreten, daß die Zuständlichkeit das eigenständige seman-tische Feld der Bilder darstellt. Um intuitiv näher zu bringen, was ich meine, sei an ein berühmtes Bildnis erinnert: an Leonardos Mona Lisa. Ihr rätselhaftes Lächeln tendiert dazu, die Identität der darge-stellten Person aufzuheben. Der Zauber, den das Bild auf uns ausübt, geht sicherlich nicht von der bestimmten historischen Persönlichkeit aus. Die zahlreichen Abwandlungen, die das Bild in der Moderne über sich ergehen lassen mußte, lassen darauf schließen, daß das Bild eine provozierende Unbestimmtheit besitzt, die zu Übermalungen reizt.

Um noch deutlicher zu machen, was mit der Zuständlichkeit des Bildes gemeint ist, möchte ich auch auf die inneren Bilder, auf die Erinnerungs- und Phantasiebilder hinweisen. Wieweit es sich hier überhaupt um Bilder im eigentlichen Sinn handelt, ist eine berech-tigte und vieldiskutierte Frage.1 Denn vom Sonderfall des Eidetikers

1 Vom phänomenologischen Standpunkt aus hat Edmund Husserl die in der Psycho-

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einmal abgesehen, lassen sich die inneren Bilder kaum als sichtbare Bewußtseinsinhalte beschreiben. Wenn man dennoch von ihrer Exi-stenz überzeugt ist, so rührt das daher, daß den inneren Bildern eine eigene Gefühlsqualität zukommt.' Das Bil d meines Elternhauses etwa steht in der Erinnerung nicht gestochen wie ein Foto vor meinen Augen, sondern bleibt ähnlich diffus wie die jeweilige Stim-mung, aus der heraus das innere Bil d entsteht. Gerade dieser Grenz-fall kann eine Vorstellung davon vermitteln, was es heißt, daß die Zuständlichkeit der Stoff ist, aus dem Bilder gemacht sind.

Um die These von der Zuständlichkeit der Bilder nicht zu sehr im Unbestimmten zu belassen, sind einige Erläuterungen zum Begriff des Zustands angebracht. Mi t Zustand assoziiert man im Unter-schied zum Gegenstand etwas Veränderliches, an dem kein in der Zeit sich durchhaltender Kern anzutreffen ist. Anders gesagt: A m Zustand kann sich nichts ändern, ohne daß es ein anderer Zustand wird. Daher ist jeder Zustand ganz und gar das, als was er im Augenblick erscheint. Anders als bei Gegenständen hat es in Bezug auf Zustände keinen Sinn, zwischen Sein und Erscheinung zu unter-scheiden.

Der Zustand unterläuft aber noch eine andere Dist inkt ion, näm-lich die von innen und außen. Zwar bezeichnet man den Schmerz beispielsweise als inneren Zustand und wil l damit sagen, daß er von anderen nicht nach Ar t eines wahrgenommenen Gegenstandes be-obachtet werden kann. Aber auch ich selbst kann meinen eigenen Bewußtseinszustand nicht beobachten, denn ich befinde mich so-zusagen in ihm. Die Rede von der Innerlichkeit von Bewußtseinszu-ständen kann also nur bedeuten, daß sie nicht wie Gegenstände in Abschattungen gegeben sind, sondern in ihrer Totalität aufgefaßt werden. Das triff t aber nicht nur für psychische Zustände zu, son-dern auch für physische, wie z.B. Körperzustände, die mir von innen und von außen zugleich gegeben sind. H inzu kommen Zustände im

logie des 19. Jahrhunderts geläufige Rede von »inneren Bildern« als Immanenzil-lusion zurückgewiesen: Edmund Husserl, Logische Untersuchungen I I / l , Tübin-gen ' 1968, S. 423. Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion über innere oder gei-stige Bilder (im Englischen »mental Images«) siehe Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bilder im Geiste, Amsterdam 1995.

1 Den Zusammenhang von Gefühl und innerem Bild hat Wilhelm Dilthey in seinen Schriften zur Poetik, insbesondere in seiner Schrift Die Einbildungskraft des Dich-ters (1887) herausgearbeitet. Die Texte sind in Bd. VI der Gesammelten Schriften vereint. Dilthey stützt sich insbesondere auf Hippolyte Taine, der in seinem Buch Der Verstand den inneren Bildern eine zentrale Rolle einräumt.

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moralischen Sinn, etwa chaotische Zustände einer Gesellschaft. Auch für diese Zustandsbegriffe gilt das gleiche wie für die Bewußt-seinszustände: Sie sind nur als Totalität erfahrbar und daher verliert die Unterscheidung von innen und außen in diesem Zusammenhang ihren Sinn.

Mein Vorschlag lautet nun, Bildlichkeit und Zuständlichkeit gleichzusetzen. Sicherlich triff t es zu, daß Bildlichkeit kein reales Prädikat ist und ein bildkonstituierendes Bewußtsein voraussetzt.1

Für einen Hund beispielsweise ist ein Foto kein Bild, sondern ein Stück Papier, das er allenfalls beschnuppert. Allei n der Mensch als mit Phantasie begabtes Wesen besitzt bildkonstituierendes Bewußt-sein. Damit etwas als Bild aufgefaßt wird - ein Vorgang, zu dem der Betrachter durch das Bild gedrängt wird -, bedarf es der Fähigkeit, einen Gegenstand (den Bildträger) aus dem realen Kontext heraus-zulösen. Die Kunstpsychologie der Jahrhundertwende hat diesen Vorgang »ästhetische Negation« genannt.2 Der Entwirklichung des ästhetischen Objekts entspricht auf der Subjektseite die Aufhebung des empirischen Ich. An seine Stelle trit t in der betrachtenden Ein-stellung das reine Selbstgefühl, das man insofern als »objektiviertes Selbstgefühl« bezeichnen kann, als es an die Präsenz des ästhetischen Gegenstandes gebunden ist.

Die Analyse läßt erkennen, daß das Bildbewußtsein nicht primär intentional ist, sondern zuständlich, da Zuständlichkeit die Ar t und Weise bezeichnet, wie man sich selbst bei der Betrachtung des Bildes erfährt. Zuständlichkeit und Bildlichkeit fallen somit zusammen. Die Zuständlichkeit bildet den ontologisch indifferenten Grundbe-griff der ästhetischen Erfahrung, der sowohl objektiv auf das Bild als auch subjektiv auf das Bildbewußtsein anwendbar ist. Die Idealität des Bildes, die man von der Realität des Bildträgers sowie des abgebildeten Gegenstandes unterscheiden muß, ist nichts anderes als die Zuständlichkeit, die das Bil d mit dem Betrachter verbindet.3

1 So Husserl, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 422. Zu Husserls Theorie des Bildbewußtseins siehe: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, hg. von E. Mar-bach, The Hague 1980 (Husserliana XXIII) . Dazu: Bildlichkeit, hg. von V. Bohn, Frankfurt a. M. 1990.

2 Theodor Lipps, Ästhetik, in: Die Kultur der Gegenwart. Systematische Philosophie, hg. von P. Hinneberg, Berlin und Leipzig 1907, S. 371.

3 Zur Unterscheidung des Bildes als idealer Entität vom realen Bildträger einerseits und dem ebenso realen abgebildeten Gegenstand andererseits vgl. den Aufsatz von Hans Jonas, Die Freiheit des Bildens: Homo pictor und die differentia des Menschen,

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Welche bewußtseinstheoretischen Folgerungen ergeben sich dar-aus, daß Bilder von Zuständen sprechen? Bilder fixieren eine mo-mentane Ansicht, die sich auch dadurch nicht verändert, daß der Betrachter sich vor dem Bild bewegt. Darin gleicht die Bildwahrneh-mung den Bewußtseinszuständen, die, wie wir gesehen haben, im-mer ganz als das erfahren werden, was sie sind. Kurz gesagt: Die Wahrnehmung von Bildern geschieht nicht wieder durch Bilder. Daher gibt es beim Bild auch kein Innen und Außen. In dieser rein strukturellen Übereinstimmung zwischen Bild und Bewußtsein sehe ich den Grund dafür, daß Bilder keine Verdoppelung der Gegenstän-de sind, sondern eine Art und Weise, Zustände zu erfahren.1 Daher fällt die Zuständlichkeit der Bilder in den Bereich dessen, was man nicht aussagen, sondern nur sehen kann, weil es sich zeigt. Insofern gilt für Bilder der Satz von MacLuhan: »The medium is the message«.

Die Medialität des Bildes kann man auch so verstehen, daß sich im Bildbewußtsein Spontaneität und Rezeptivität die Waage halten. Während im Begriff das aktive Subjekt dominiert, die Intentionalität, die der Wirklichkeit ihre Raster aufzwingt, behält beim Bild die Gegebenheitsweise der Dinge ihren Eigenwert, den man nicht belie-big umformen kann. Insofern stellt das Bild einen Kompromiß zwischen Spontaneität und Rezeptivität dar, es vermittelt infolge seiner Zuständlichkeit zwischen Idealismus und Realismus. Diese Doppelseitigkeit haben schon die Theoretiker des Impressionismus erkannt, indem sie nämlich die Wirkung eines Bildes auf das »Zu-sammentreffen eines momentanen Zustands des realen Daseins mit einem unreflektierten psychischen Zustandsgefühl« zurückführen.2

Die Rede von der Idealität des Bildes, das zwischen der Realität des Bildträgers und des abgebildeten Gegenstandes schwebt, ist somit kein Piatonismus. Sie verweist nicht auf >Urbilder<, sondern steht für die Unhintergehbarkeit des Zuständlichen.

Daß Bilder von Zuständen sprechen, das Zuständliche im Men-schen ansprechen, kann ein banales Beispiel aus unserer Lebenswelt verdeutlichen. Man denke an die Titelfotos der Illustrierten, die

in: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen 1963, S. 26-63. 1 Die Zuständlichkeit als fundamentale Bestimmung des Bewußtseins habe ich an

Dilthey demonstriert. Siehe dazu mein Buch Symbolischer Pragmatismus. Herme-neutik nach Dilthey, Reinbek 1991, sowie meinen Aufsatz Intentionalität und zu-ständliches Bewußtsein, in: Sybille Krämer (Hg.), Bewußtsein. Philosophische Bei-träge, Frankfurt a. M. 1996, S. 213-226.

2 Zitiert nach Max Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987, S. 21.

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meist eine attraktive Frau zeigen. Auffälli g daran ist, wie sich die Bilder gleichen, obwohl es sich doch um verschiedene Personen handelt. Beim Titelbild kommt es also nicht auf die Identität und Individualität des Modells an, sie wirkt sogar störend. Um es sehr kraß zu formulieren: Wenn man auf dem Titelfoto den individuellen Menschen wiedererkennt, verfehlt es seine Wirkung, weil die Reali-tät sich zu sehr ins Bild drängt. Das gelungene Titelfoto zeichnet sich dadurch aus, daß es lediglich einen bestimmten Sinngehalt inszeniert oder suggeriert, den man als jugendlich, aggressiv usw. bezeichnen mag. Was am Beispiel des Titelfotos extrem hervortritt, gilt im Prinzip von allen Bildern: Bilder sind Inszenierungen von Sinn, und Sinn ist primär zuständlich. Die Zuständlichkeit macht die Idealität des Bildes aus, die, wie das Beispiel des Titelfotos zeigen soll, keines-wegs an >ideale< Gegenstände gebunden ist. Daß Bilder eine gegen-ständliche Referenz besitzen und in Sachverhalte übersetzbar sind, erweist sich demnach als Zutat, die von der Struktur des Bildes selbst keineswegs gefordert wird.

IV. Das semiotische Bildschema

Die Zuständlichkeit als Dimension löst den traditionellen intellek-tualistischen Bildbegriff auf und läßt eine Ontologie des Bildes, die vom Verhältnis zwischen Urbild und Abbild ausgeht, hinfällig wer-den.1 Was bleibt, ist eine analytische Bildanalyse, die den Relationen nachgeht, welche sich zwischen Bildträger, Bildbetrachter und abge-bildetem Gegenstand (sofern es einen solchen gibt), nachweisen lassen. Dazu möchte ich an das Schema der semiotischen Analyse anknüpfen. Dem bekannten Schema von Charles W. Morris zufolge lassen sich an jedem Zeichenprozeß drei Dimensionen unterschei-den: die syntaktische, die semantische und die pragmatische Dimen-sion. Die syntaktische Dimension umfaßt die Beziehung der Zeichen untereinander; die semantische Dimension die Beziehung der Zei-chen zu den bezeichneten Gegenständen; die pragmatische Dimen-sion schließlich die Beziehung zum Zeichenbenutzer. All e Dimen-sionen hängen miteinander zusammen. Allerdings gibt es gute Grün-de, für die Sprache die pragmatische Dimension als die fundamentale zu betrachten. Darauf beruht die seit Wittgenstein geläufige und

1 Siehe den »Die Seinsvalenz des Bildes« überschriebenen Abschnitt in Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 128-137.

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heute weitgehend anerkannte Gebrauchstheorie der sprachlichen Bedeutungen.

In Bezug auf das Bild möchte ich nun die These vertreten, daß die syntaktische Dimension gegenüber der semantischen und der prag-matischen Vorrang besitzt. Das läßt sich im Vergleich mit sprachli-chen Zeichen erläutern. Im Unterschied zu Wörtern, die sich aus Buchstaben, und zu Sätzen, die sich aus Wörtern zusammensetzen, stellt das Bild ein sogenanntes dichtes syntaktisches System dar, das eine unbegrenzte Auflösungsrate hat und in dem folglich alle Rela-tionen bedeutungsbildend sind. Die Bedeutung eines Bildes ist dem-nach von seiner Syntax bestimmt. Sie allein macht schon das Bild aus. Denn ein Bild, das nichts Gegenständliches darstellt, das also keine Referenz hat, hört darum nicht auf, ein Bild zu sein. Die abstrakte Malerei bietet dafür genügend Belege. Dagegen werden sprachliche Zeichen ohne Referenz zur sinnlosen Reihung von Buchstaben oder Lauten, mit denen man sogar in der Poesie kaum etwas anfangen kann.

Auch in pragmatischer Hinsicht läßt sich der Primat der syntak-tischen Dimension der Bilder im Unterschied zur Sprache verdeut-lichen. Die Gebrauchstheorie der Sprache scheint mir nur begrenzt auf Bilder übertragbar zu sein.1 Während sich bei den natürlichen Sprachen Bedeutungen im Gebrauch bilden, besteht beim Bild ein deutlicher Hiatus zwischen dem Bild selbst und seinem Verwen-dungszusammenhang. Dieser ergibt sich daraus, daß beim Bild an-ders als in der Sprache Erzeugung und Verwendung nicht zusam-menfallen. Ferner gibt es natürliche Bilder, wie etwa Spiegelbilder auf dem Wasser, die unabhängig von der Intention des Betrachters entstehen. Sicherlich kann man durch Verwendungszusammenhän-ge den Sinn eines Bildes verändern, wie der Fall eines Fotos im Lexikon belegt. Die dort abgebildete Mücke z.B. stellt zwar ein individuelles Tier dar, steht aber für eine Klasse der stechenden Insekten. Doch die Bedeutungsveränderung von individuellen Bil -dern durch den Verwendungszusammenhang hält sich in engen Grenzen. Man kann aus dem Bild einer Mücke kein Elcfantenbild machen, denn das syntaktische System des Mückenbildes widersetzt sich dieser Verwandlung.

Das syntaktische System sichert dem Bild sowohl gegenüber Referenzverlusten als auch gegenüber Verwendungsvariationen eine

1 Wie weit man mit der Gebrauchsabhängigkeit beim Bildbegriff kommt, hat Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, Freiburg und München 1991, untersucht.

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Selbständigkeit, die es zum Repräsentanten der Zuständlichkeit macht. Das erklärt auch, warum Bilder so sehr auf andere Bilder verweisen, daß es genügt, ein einziges Bild als Bild zu erkennen, um andere Bilder zu verstehen. Bei Sprachen ist das leider nicht der Fall: Man muß jede Sprache neu lernen. Hieran zeigt sich besonders deutlich der Primat der syntaktischen Dimension: Diese fällt letzt-lich mit der Bildlichkeit selbst zusammen.

V. Kunsttheoretische Folgerungen

Abschließend möchte ich kurz darauf eingehen, was sich aus der vorgeschlagenen Bild-Theorie für die ästhetische Reflexion ergibt. Die Bildtheorie, wie ich sie bisher entwickelt habe, orientiert sich am Abbild, schließt aber auch die künstlerischen Bilder ein, die von semantischen Bildtheorien häufig als Ausnahme betrachtet werden. Dagegen bin ich der Ansicht, daß an den Bildern der Kunst nur deutlicher hervortritt, was für das Bild im allgemeinen gilt; d.h. die ästhetische Dimension ist dem Bild wesentlich. Denn die ästhetische Dimension bedeutet nichts anderes als die Zuständlichkeit des Bildes selbst. In der Zuständlichkeit liegt auch das, was man das Schöne nennt.

Die Identifizierung des Zuständlichen mit dem Ästhetischen setzt allerdings voraus, daß diesem mehr als bloß ornamentaler Charakter zuerkannt wird. Das Ästhetische stellt nämlich eine eigene symbo-lische Funkt ion dar, was übrigens auch in der geläufigen Rede vom kognitiven Charakter der Kunst zum Ausdruck kommt.1 Diese Überzeugung hat allerdings mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die der Kunst zugeschriebene Erfahrung von der begrifflichen Erkennt-nis abzugrenzen. Die Abgrenzung ergibt sich nun ohne Rückgriff auf eine angebliche intellektuelle Anschauung aus der Zuständlich-keit: Bilder sind eine eigene Wissensform, die an schon bekannten Gegenständen noch unerkannte Zustandsqualitäten hervortreten läßt. Der Artspruch der Kunst, an der Wirklichkeit etwas sichtbar zu machen, bekommt dadurch einen präzisen Sinn. Was sie sichtbar macht, sind die syntaktisch beschreibbaren Raster, nach denen der Mensch die Welt und sich selbst erfährt. Daher hat die Kunst immer zwei Funktionen: eine negative, die Selbstverständlichkeiten der

1 Zur Theorie der ästhetischen Erfahrung siehe Hans Robert Jauß, Ästhetische Er-fahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991.

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gen dem gängigen Verdacht, er feiere eine > Asthetisierung der Welt< - zu betonen, daß dies in einer Situation geschieht, angesichts deren Komplexität das Bedürfnis nach begrifflich vermitteltem, >rationa-len< Urteilen dringlicher ist als je zuvor. Sonst kaum des Paktierens mit Lyotard verdächtig, hat Ferdinand Fellmann den - aus der Perspektive unseres Interesses komplementären - Versuch unternom-men, im Anschluß an Dilthey das menschliche Bewußtsein als nicht durch Begriffe, sondern durch Bilder konstituiertes zu beschreiben* (ohne daß ihm dabei an einer Historisierung oder gar an einer politischen Applikation dieser These gelegen war).

Gerade um die historische Dimension aber wird es mir auf den folgenden Seiten gehen, so daß die Differenz zwischen meiner These und Positionen wie denen von Lyotard oder Fellmann vor allem in einer anderen Setzung des argumentativen Schwerpunktes liegt. Ich behaupte, daß die Annahme einer prinzipiellen Verrechenbarkeit zwischen der Wahrnehmung und den Begriffen in eine Krise geriet, weil es dem westlichen Denken bis heute nicht gelungen ist, auf eine epistemologische Verschiebung zu reagieren, die sich seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert abzeichnete und deren Wirkungen durch den Einfluß der seither entstandenen Medientechniken erheb-lich verschärft worden sind. Um diesen in den vergangenen zweihun-dert Jahren eingetretenen Wandel unserer Wissensstrukturen be-schreiben zu können, werde ich zunächst jenes epistemologische Pa-radigma charakterisieren, welches bis um etwa 1800 - und seit der frühen Neuzeit - Denken und Erfahrungsbildung im Westen geprägt hatte. Dieses Paradigma nenne ich das hermeneutische Feld, und ich sehe es gegründet auf die Position eines Beobachters erster Ordnung.2

Der darauffolgende Abschnitt beginnt mit der These vom Herauf-kommen einer Beobachterposition zweiter Ordnung um 1800 und konzentriert sich dann vor allem auf verschiedene Formen des Rea-lismus und auf die Geschichte neuer Kommunikationsmedien im 19. Jahrhundert als den letztlich fehlschlagenden Versuch, die Folgen der mit dem Komplexerwerden der Beobachterposition entstehenden

und: ders., Lecons sur l'analytique du sublime, Paris 1991, S. 61ff. 1 Vgl. Ferdinand Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey,

Reinbek 1991, v.a. S. 65ff. 2 Unter der Vielzahl von Publikationen, die in Deutschland an die wachsende Be-

deutung des Beobachter-Begriffs im Werk von Luhmann angeschlossen haben, sind besonders aufschlußreich die Aufsätze von Niklas Luhmann, Humberto Maturana, Miki o Namiki, Volker Redder und Francisco Varela in: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien, München 1990.

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epistemologischen Krise aufzufangen. Stattdessen haben seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - und bis dahin führen meine Überlegun-gen-vorallem die Kommunikationsmedien der schnellen Bilderden bis dahin eher vagen Eindruck von der Problematisierung einer Denk- und Erfahrungsform in die Divergenz zwischen einer Welt der Wahrnehmung und einer Welt der Erfahrung überführt. Noch unsere epistemologische Gegenwart wird von diesem Problembewu-ßtsein beunruhigt.

Natürlich kann man einer auf so viele verschiedene Diskursebe-nen anspielenden und so weite historische Strecken umfassenden Argumentation den Vorwurf machen (oder vielleicht darf man ihn ihr gar nicht ersparen), über die Maßen des Verantwortbaren hinaus spekulativ zu sein. Von bestimmten Standards historischer Doku-mentation, die 'eigentlich zu berücksichtigen wären, will ich in diesem Zusammenhang lieber gar nicht reden, denn ihnen könnte man wohl nicht einmal mit einem Buch erheblichen Umfangs genü-gen. Was aber spricht dann für einen Entwurf wie diesen (oder, um noch bescheidener zu sein, für einen solchen Versuch)? Vielleicht vor allem die Tatsache, daß es kaum möglich ist, so verschiedene Dimen-sionen wie Epistemologie und Technik, Erfahrung und Wahrneh-mung in einem Verhältnis komplexer Wechselwirkung zu sehen, wenn die akademisch-zünftigen Evidenz-Kriterien und Dokumen-tations-Pflichten beachtet werden. Sollte man aber wirklich das Ri-siko der Spekulation so sehr fürchten, daß es am Ende das Denken solcher Zusammenhänge verhindert?

Erfahrung im hermeneutischen Feld

Jener intellektuelle Habitus, den die europäische Philosophie vor allem im 19. Jahrhundert unter dem Titel >Hermeneutik< analysiert und kanonisiert hat, war als ein historisch spezifisches Verhältnis des Menschen zur Welt schon weit früher zu einer stabilen Konfigura-tion geworden - nämlich in der Zeit des Übergangs von der mittel-alterlichen zur frühneuzeitlichen Kultur. Ich werde dieses Welt-Ver-hältnis (in Unterscheidung von der akademischen Teildisziplin der philosophischen Hermeneutik«) >hermeneutisches Feld< nennen und durch den Verweis auf vier zentrale Implikationen umschreiben.

Die erste strukturelle Voraussetzung für die Genese des herme-neutischen Felds ist das Exzentrisch-Werden des Menschen gegen-über der Welt. Im mittelalterlichen Weltbild hatte sich der Mensch

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als Teil einer Schöpfung gesehen, außerhalb derer allein Gott - als ihr Schöpfer - stand. Auf diese Exzentrizität des Menschen spielen wi r an, wenn wir von >frühneuzeitlicher Subjektivität« reden, und nur aus der Beobachterposit ion eines solchen exzentrischen Subjekts wird die Welt zu einer >Welt der Objekte.« Das hermeneutische Feld ist die Sphäre des Subjekt/Objekt-Paradigmas.

Das Subjekt/Objekt-Paradigma weist zweitens die menschlichen Körper der Seite der Objekte zu. Deshalb ist das Subjekt körperlos und geschlechtslos, und deshalb kann es nicht Bezugspunkt sinnli-cher Wahrnehmung sein. Dem entgegen hatte noch die mittelalterli-che Theologie den menschlichen Geist und den menschlichen Kör-per als Einheit gedacht. Diese Prämisse ist ein wesentlicher Grund für die von uns erfahrene Fremdheit des Mittelalters. Mi t solcher Alterität kämpfte die protestantische Theologie in ihren Reformu-lierungen der Transsubstantiationslehre, aber auch in ihrer Ausein-andersetzung mit Theologemen wie denen der leiblichen Auferste-hung von den Toten oder der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.

Drittens beobachtet das Subjekt die Welt der Objekte, indem es eine Unterscheidung einführt, deren Absenz in der mittelalterlichen Kultur es so schwer für uns macht, jenen kulturellen Habitus nach-zuvollziehen, den man >mittelalterlichen Symbolrealismus« genannt hat. Es ist die Unterscheidung zwischen einer >bloß< materiellen Oberfläche der Dinge und einer spirituellen Tiefe. Weil diese Tiefe als eine Sphäre der Konzepte gedacht wird und den Status eines Orts der Wahrheit annimmt, entsteht die existentielle Notwendigkeit, die dingliche Oberfläche zu durchdringen, um der Wahrheit inne zu werden. Dieses Durchdringen ist die eine Seite des Akts der >Inter-pretation«, welcher sich im Gewahrwerden der konzeptuellen Tiefe als seiner anderen Seite erfüllt. Erst durch die Unterscheidung zwi-schen der spirituellen Tiefe und jener materiellen Oberfläche, welche als bloße Voraussetzung für die Möglichkeit von Erfahrung selbst bedeutungslos bleibt, wird die Sphäre des Subjekts zum hermeneu-tischen Feld. Diese Unterscheidung hat man in einer schier unend-lichen Zahl von Variationen beschrieben, deren heute bekannteste die linguistische Dichotomie zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat ist.

Al s Teil der dem Beobachter-Subjekt gegenüberstehenden Welt und mithin als Objekt der Interpretation kommt viertens der menschliche Körper innerhalb des hermeneutischen Feldes unter zwei Perspektiven in den Blick. Wenn Körper und Geist nicht mehr

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als Einheit gedacht werden, lassen sich - erstens - Gedanken, Kon-zepte und Wahrheiten hinter dem Körper verbergen. Dann kann es nötig werden, den Körper - interpretierend1 - zu durchdringen, um Geheimnisse als Wahrheiten zu entdecken. Aber selbst wenn sich das Subjekt nicht hinter einen Körper zurückzieht, ist es - zweitens -mit der Unmöglichkeit konfrontiert, die Wahrheit seiner Gedanken durch Vermitt lung des Körpers - unter Benutzung der Stimme oder der Hand - vollständig zu artikulieren. Genau auf diese Schwierig-keit spielt die ursprünglich metaphorische Bedeutung des Wortes >Ausdruck< an, deren Erstbelege auf das Ende des Mittelalters zu-rückgehen.2 Erst unter der Voraussetzung einer solch prinzipiellen Unzulänglichkeit des Sich-Ausdrückens wird Interpretation ihrer-seits zu einer existentiellen Notwendigkeit. Sie soll jenen Sinn, der im Ausdruck nie vollständig bewahrt werden kann, für die Kommu-nikation unter Subjekten retten.

Hinsichtlich der Frage nach den historischen Voraussetzungen für die Emergenz des hermeneutischen Feldes und des Subjekts als Beobachter erster Ordnung müssen wir uns — falls das überhaupt eine Frage mit einer möglichen Antwort ist - darauf beschränken, nur kurz zwei Richtungen einschlägiger Hypothesenbi ldung zu erwähnen. Wenn das Subjekt als Agent und Zentrum der Sinnbil-dung in Erscheinung trat, so ermöglichte es diese Konfiguration -im Gegensatz zur christlichen Kosmologie, für die der Sinn aller Phänomene als im Schöpfungsaki ein für allemal gegeben galt —, Sinnbildung als Prozeß einer Wissens-Akkumulation aufzufassen. Das war zu einem Anliegen und zu einem Legit imationsproblem vor allem der entstehenden Naturwissenschaften geworden. Denn mit der Institutionalisierung des Buchdrucks hatte die Faszination der Produktion und Mehrung von Wissen die traditionelle Obsession der Bewahrung eines von Gott geoffenbarten Bestands an Wissen fast unversehens abgelöst.3 Die Körperlosigkeit und die Spiritualität

1 Als Interpretation in diesem konkreten Sinn stand die Praxis der Inquisition seit dem späten 15. Jahrhunden in enger historischer Beziehung zur Genese frühneu-zeitlicher Subjektivität. Vgl. Claudia Krülls-Hepermann, Die Unwahrschemlich-keit neuzeitlicher Subjektivität. Spanische Schäferromane des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1990, S. 4-55.

2 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Stimme als Form. Zur Topik lyrischer Selbstinszenie-rung im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, in: Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Musique naturele. Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, München 1995, Fußnote 30.

3 Diese Beobachtung spielt eine zentrale Rolle in den kulturgeschichtlichen Skizzen von Niklas Luhmann. Vgl. etwa: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der

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des Subjekts hingegen mag zu tun gehabt haben mit der sich im gleichen mediengeschichtlichen Kontext vollziehenden Umstellung von der - eine Kopräsenz der Körper voraussetzenden - Interaktion auf Kommunikation, welche ihrerseits die Körper auf die Seite der Umwelt verschob. Wenn die gedruckten Texte im Gegensatz zu den Manuskripten alle Spuren der an ihrer Produktion beteiligten Kör-per ausschlössen und wenn zugleich die damals entstehende Figur der Autorschaft ein enges Konstitutionsverhältnis zwischen Subjekt und Text postulierte, so beförderte diese Konfiguration die Tendenz, das Subjekt unter Ausblendung des Körpers zu denken.

Im Kontext unseres Versuchs, das hermeneutische Feld durch solche Thesen zur Rekonstrukt ion seiner Genese und durch das Postulat (mindestens: derMöglichkcit) seines Endes zu historisieren, trit t das Zeitalter der Aufklärung als Höhepunkt seiner Entfaltung und unangefochtenen Geltung hervor. Die Aufklärung war jene Epoche, welche die Unterscheidung zwischen der Oberfläche der Dinge und ihrer konzeptuellen Tiefe zu dem (von Foucault »klassi-sche Episteme« genannten1) Gedanken einer Isomorphie zwischen der Welt der Phänomene und der Struktur des Wissens über die Phänomene entwickelte. Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum Wörterbüchern und Enzyklopädien im 18. Jah rhunde r t -um es anachronistisch zu formulieren - eine >ontologische< Funkt ion zugedacht wurde, für die D'Alemberts und Diderots gefalteter Auf-riß des Wissens im ersten Band der Encyclopedie ou dictionnaire raisonne des arts et des metiers der berühmteste Beleg ist. Entmythi-sierung als intellektuelles Programm der Aufklärung war getragen von dem Vorsatz, all jene Wissensbestände definitiv zu eliminieren und zu ersetzen, die noch nicht in Subjekt-Erfahrung fundiert wa-ren. Auf dieses Projekt schließlich war die Erwartung gegründet, daß die fortschreitende (und nur zögernd als unabschließbar gedachte) Mehrung des Wissens soziale Wohlfahrt und Gerechtigkeit beför-dern werde. Hier liegen die Anfänge des >utopischen< und des >wis-senschaftlichen«, aber nie wirklic h >real< gewordenen Sozialismus.

Den in diesem Zusammenhang schon vor 1800 üblich geworde-nen Vorbehalt, daß allein vorurteilsfreie« oder>unentfremdete< Sub-

Kunst, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K.Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, S. 620-672, hier S.633f.

1 Ihre ausführlichste Beschreibung findet sich in: Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, S. 60ff.

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jekt-Erfahrung die Wahrheit des neuen Wissens garantiere, können wi r als ein - der höchsten Entfaltung des hermeneutischen Feldes zeitgleiches - Anzeichen für jene Zweifel an der >Objektivität des Subjekts« auffassen, welche die Epistemologie im 19. Jahrhundert destabilisieren sollten. Dasselbe gilt für die Äusdifferenzerung der Teildisziplin phi losophische Ästhetik«, mit der sich eine neue Auf-merksamkeit für sinnliche Wahrnehmung in Unterscheidung von begrifflich artikulierter Erfahrung manifestierte. Schließlich war auch der Materialismus des 18. Jahrhunderts fasziniert von der kör-perlichen Mechanik der Sinneswahrnehmung. Aber noch themati-sierten die Materialisten das menschliche Auge und das menschliche O hr ausschließlich unter dem erklärten Ziel, sich von der Möglich-keit einer Adäquanz im Verhältnis der über die Sinnesorgane ver-bundenen Pole >Wirklichkeit< und >Wissen< zu überzeugen.

Unübersehbarkeit der Körper

Solche Selbst-Überzeugung wurde während des 19. Jahrhunderts zu einer zunehmend mühsamen und prekären Selbst-Überredung. Die historischen Quellen machen deutlich, daß bei diesem Prozeß Ver-änderungen in der Epistemologie, der Wirtschaft und der Sozial-struktur, aber auch in der Technik und in den Symbolsystemen mit einer Komplexität zusammengerpielt haben, welche die Annahme jeglicher Priorität oder gar Kausalität ausschließt. Statt jene umgrei-fende Transformation des Weltbildes (in einem der anspruchsvollen klassischen Bedeutungen des Wortes) zu verstehen, kann man sie wohl nur illustrieren und dokumentieren - und dabei läßt sich Foucaults historischer Begriff von der >Episteme des 19. Jahrhun-derts« mit Luhmanns systematischem Begriff des Beobachters zwei-ter Ordnung« zur Konvergenz bringen.

Im Unterschied zum Subjekt/Objekt-Paradigma, auf dem als Basis sich das hermeneutische Feld konstituiert hatte, lag die Beson-derheit der >Wissenschaften vom Menschen« als Episteme des 19. Jahrhunderts in der Doppelrolle, die dem Menschen als Subjekt und als Objekt der Beobachtung zugewiesen wurde. Diese historische Konfiguration entspricht der Definition des Beobachters zweiter Ordnung, der sich selbst beim Beobachten (als Beobachter erster Ordnung) beobachtet, und in dessen Gesichtsfeld deshalb die blin-den Flecken der ersten Beobachter-Ebene treten. Zu ihnen hatte die Ausblendung des menschlichen Körpers als Instrument der Welt-

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Wahrnehmung und der Welt-Erfahrung gehört. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wirkte deshalb die neue Aufmerksamkeit für die Rolle des Körpers als eine problematisierende Interferenz gegenüber dem Prinzip von der >Darstellbarkeit der Welt«, welches die Möglichkeit einer Adäquanz zwischen Welt und Welterfahrung garantiert hatte. Für die Ausbildung der Einsicht, daß die Welt nur durch die Ver-mittlung und unter den spezifischen Bedingungen der menschlichen Körper wahrgenommen und erfahren werden konnte, gibt es vielfa-che Anzeichen. Wenn man etwa darauf verzichtet, die Entdeckung der Geschichtl ichkeit der Phänomene« seit dem späten 18. Jahrhun-dert als Entdeckung einer transzendentalen Wahrheit zu feiern, dann eröffnet sich eine Perspektive, unter der die historische Dimension und ihre narrativen Modelle1 als Raum einer Verarbeitung der Insta-bilität von Erfahrung in Variabilität von Erfahrung erscheinen. Dazu komplementär wurden gewisse Prinzipien von - bezeichnenderwei-se: körperbedingter- Dynamik extrapoliert, welche diese beständige Veränderung der Phänomene erklären sollten: zu ihnen gehörten ein transzendentaler Begriff des >Lebens< oder der >vis vitalis« in der Biologie und ein neues Konzept der >Arbeit< in den erst jetzt langsam entstehenden Disziplinen der Nationalökonomie und der Soziolo-gie.2 Langfristig noch folgenreicher war aber der sich herausbildende Habitus, zwischen zwei Perspektiven, Ebenen und Prinzipien des menschlichen Welt-Verhältnisses zu unterscheiden: zwischen der körpergebundenen Wahrnehmung und der sich in Begriffen vollzie-henden Erfahrung. Natürl ich war diese Unterscheidung noch nicht synonym mit dem Postulat einer Inkommensurabil ität zwischen Wahrnehmung und Erfahrung, aber sie implizierte doch schon die Herausforderung, die nun voneinander abgehobenen Ebenen der Wahrnehmung und der Erfahrung in ein Verhältnis zu setzen. Mi t anderen Worten: die Zeit der selbstverständlichen Gleichsetzung der Erfahrung des körperlosen Subjekts mit der objektiven Erfahrung war zuendc gegangen.

Der mit der Aufhebung dieser Selbstverständlichkeit hervortre-tende Zweifel an der Möglichkeit objektiver Erfahrung - als einer den Gegenständen der Welt adäquaten Erfahrung - hielt Phi loso-phie, Kunst und Literatur seit dem frühen 19. Jahrhundert in Bann.

1 Das brillante Standardwerk zu diesem Thema ist Hayden Whites, Metahistory. The Histoncal Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973.

2 Foucault, Les mots et les choses, a. a. O., S. 229 (zur Krise der Darstellbarkeit von Welt) und S. 262ff. (zu den Begriffen >Leben<, >Arbeit< und >Sprache<).

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Es gehört zu den Merkmalen jenes Typs von Realismus, den die Literarhistoriker vor allem mit den Romanen Honore de Balzacs assoziieren, bei ihren Lesern zunächst Skepsis nicht nur gegenüber der Erfahrbarkeit einer kosmologischcn Ordnung, sondern - allge-meiner und radikaler - gegenüber der Existenz einer solchen Ord-nung zu wecken. Von dieser am Beginn ihrer fiktionalen Handlung regelmäßig eintretenden Krise führen jene Romane dann zur Veran-schaulichung der Überzeugung, daß sich die Ordnung der Welt mindestens jenen Beobachtern offenbart, die es verstehen, eine be-stimmte - wahrheitsenthüllende - Perspektive zu gewinnen. Das kann - im elementarsten Fall - der Blick auf die Welt von einem erhöhten Ort im Raum sein, und das ist - im häufigsten und trivial-sten Fall - die Diskursebene eines allwissend-auktorialen Erzählers. Häufig bleibt das Privileg der objektiven Weltsicht aber auch als eine Art von Offenbarung jenen Protagonisten als Belohnung vorbehal-ten, deren Verhalten den moralischen Idealen des jeweiligen Autors entspricht.'

Die Tatsache, daß die entscheidende naturwissenschaftliche Vor-aussetzung für die sich nach 1800 rasch vollziehenden Entwick-lungsschritte hin zur Photographie schon 1727 mit der Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen gemacht worden war, legt es nahe, auch sie mit der durch die Emergenz des Beobachters zweiter Ordnung provozierten epistemologischen Krise zu assozi-ieren.2 War die Problemlösungsstrategie des frühen literarischen Realismus eine Unterscheidung zwischen adäquaten und inadäqua-ten Beobachterperspektiven gewesen, so hing das noch sclbstgewis-sere Objektivitätsversprechen der Photographie von der Eliminic-rung des eben entdeckten Beobachters und seines Körpers ab.3 Unter eben dieser Bedingung, so glaubte man, müßten sich die Gestalt und

1 Vgl. als Hintergrund zu dieser kurzen Charakterisierung des frühen Realismus die Essays von Charles Grivel, Die Identitätsakte bei Balzac. Prolegomena zu einer allgemeinen Theorie des Gesichts; Hans Ulrich Gumbrecht / Jürgen E. Müller, Sinnbildung als Sicherung der Lebenswelt. Em Beitrag zur funktionsgeschichtlichen Situierung der realistischen Literatur am Beispielvon Balzacs Erzählung La Bourse; Rainer Warning, Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comedie hu-maine, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hg.), Honore de Balzac, München 1980, S. 93-142, 339-390, 9-56.

2 Diese These hat Tim Lenoir in unserem gemeinsamen Seminar zur Geschichte der Aufzeichnungstechniken (Herbst 1991) vorgetragen.

3 Vgl. zu den juristischen Folgen dieser (vermeintlichen) Substitution des menschli-chen Beobachters durch die Kamera Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990.

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die Ordnung der Dinge direkt auf der photographischen Platte niederschlagen. Ganz entgegen solchen Erwartungen jedoch setzte sich bald die Erfahrung durch, daß weder die der Idealität der Begriffe entsprechenden Idealformen der Dinge noch die Objekti-vität ihrer Beziehungen je auf den Photographien sichtbar wurden. Vielmehr waren die neuen Bilder unausweichlich von den kontin-genten Elementen ihres Entstehungsaugenblicks - dem Augenblick der photographischen Aufnahme - geprägt, so unausweichlich in der Tat, daß ein seit etwa 1840 sich abzeichnender neuer Typ von Rea-lismus in Malerei und Literatur nun gerade aus der Betonung von Kont ingenz bei der Darstellung der Welt hervorging. In diesem Kontext tauchten die ersten Belege für eine programmatische Ver-wendung des Prädikats >Realismus< auf - und zwar zunächst in Bezug auf neue Techniken der Malerei.1 Bilder wie die von Courbct oder Menzel können wir >wahrnehmungsorientiert< nennen, weil sie ein neues Sehen lehrten, dessen verfremdende Wirkung darin lag, nicht mehr an der Suche nach idealen Gegenständen oder wahrheits-erschließenden Perspektiven orientiert zu sein.2 Die Maler began-nen, die Konturen der Dinge zu verwischen und ihre Blickwinkel so zu konstruieren, daß sich die Gestalt von Themen und Motiven gegen sie durchsetzen mußten. Widerständigkeit gegenüber einem durch Begriffe vororientierten Bild der Wirklichkeit wurde nun zu einem Symptom für Wirklichkeitsnähe.3

Genau diese Spannung zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und Begrifflichkeit inszenierte Gustave Flaubert in seinen Romanen. Doch im Gegensatz zu den realistischen Malern seiner Zeit war Flauberts Methode nicht die Problematisierung, sondern die ironi-sche Reprodukt ion von Diskursen und Konzepten.4 Emma Bovary

1 Vgl. zur Geschichte von >Realismus< als literaturkritischem Begriff Helmut Pfeiffer, Roman und historischer Kontext. Strukturen und Funktionen desfranzösischen Ro-mans um 1857, München 1984, S. lOOff.

2 Vgl. zum Motiv des >neuen Sehens« unter dem Theorie-Stichwort >Aisthesis< Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, S. 125ff.

3 Das entspricht dem anhand der Literatur des 19. Jahrhunderts illustrierten »Wirk-lichkeitsbegriff der erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen« in Hans Blumen-bergs klassischem Essay Wirklichkeitsbegnff und Möglichkeit des Romans, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, Poetik und Hermeneutik, Bd. I, München 1964, S. 9-27, hier S. 24f.

4 Vgl. zum philosophiegeschichtlichen Ort von Flauberts Werk Franz Koppe, Litera-rische Versachlichung. Zum Dilemma der neueren Literatur zwischen Mythos und Szientismus. Paradigmen: Voltaire, Flaubert, Robbe-Grület, München 1977, S. 53ff.

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geht an der Immunität ihrer aus romantischer Literatur gespeisten Tagträme gegenüber der Wirklichkeit zu Grunde; für Frederic Mo-reau, den keine Trivialität scheuenden Helden der Education senti-mentale, bleiben die Szenen der Revolution von 1848 ein verwirren-des Chaos, und seine Liebesepisoden sind nichts als die immer neuen Projektionen schaler Erwartungsschemata; Bouvards und Pecuchets Vorstellungen von Wissenschaft und Fortschritt schließlich setzen das Freundespaar auf Distanz zu jeglichem produktiven Erkennen. Als Voraussetzung für seine Schreib-Praxis hatte Flaubert im Dic-tionnaire des idees recues ein Repertoire von Elementen des bürger-lichen Alltagswissens mit geradezu empririscher Akribie gesammelt.

Die Manifestationen dieses zweiten Typs von Realismus wirken im Blick auf die zeitgenössische Krise der Epistemologie immer dann weit weniger eindrucksvoll, wenn sie der Kontingenz von Perspek-tiven und Diskursen die Möglichkeit einer >wirklichkeitsadäquaten< Weltsicht entgegengestellen-wie etwa der Ideologiebegriff von Karl Marx. Denn die historische Signifikanz des zweiten Realismus-Typs liegt gerade darin, daß er keine Auswege aus der Wirklichkeitsferne und aus der Beobachterabhängigkeit der Diskurse mehr suggeriert. In seiner berühmten Definition des realistischen Romans hatte Stendhal schon um 1830 auf diese Erfahrung mit der Metapher von einer beweglichen Beobachtung reagiert, die nur vielfache Aspekte - nicht aber ein stabiles Bild - der Wirklichkeit reflektieren kann : »Un roman est un miroir qui se promene sur une grande route. Tantot il reflete ä vos yeux l'azur des cieux, tantot la fange des bourbiers de la route.«1

Während die verschiedenen Typen des Realismus (und des Natu-ralismus) im 19. Jahrhundert noch mit immer neuen Varianten die nun als Spannungsverhältnis entdeckte Beziehung zwischen der Welt und den beobachterabhängigen Formen und Medien ihrer Darstellung durchspielten, bildete sich schon ein Spektrum von künstlerischen Formen heraus, in denen auch die im hermeneuti-schen Feld stets stabile Verweisungsstruktur zwischen den >bloß materiellen« Signifikanten und den eigentlich relevanten« Signifika-ten aus dem Gleichgewicht geriet. Weil sich Fälle solcher Dcstabih-sierung sowohl auf der Signifikanten-Seite wie auf der Seite der Signifikate ereigneten, kann man sie - allgemein und mit einer Kri -

1 Aus dem neunundvierzigsten Kapitel von Le rouge et le noir, zitiert nach Hugo Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal, Balzac, Flaubert, Frankfurt a. M. 1961, S. 15f.

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sen-Metapher aus der Wirtschaft - als >sign-deregulation< charakte-risieren. In diesen Zusammenhang gehört Richard Wagners >Pro-gramm-Musik« als der Versuch, den nach tradiertem Verständnis >bloß wahrnehmbaren« Klängen dekodierbare Bedeutungen zu ge-ben. Wie ein Gegenpol zur Programm-Musik wirkt im selben Spek-trum historischer Phänomene die Poetik des literarischen Symbolis-mus aufgrund ihrer Tendenz, die Aufmerksamkeit der Leser auf jene sinnlichen Qualitäten zu lenken, mit denen sprachliche Signifikanten ihre konventionell bedeutungstragende Funktion überschreiten. Das konnte - wie etwa bei Mallarme - das Layout des gedruckten Textes sein, aber ebenso die selbst noch in stiller Lektüre realisierte Klanglichkeit und Rhythmik eines Gedichts, und gewiß war sign-deregulation auch der motivierende Kontext für Rimbauds lyrische Spekulationen über die Farben der Vokale. Schließlich ermöglicht es unsere historische Perspektive, Friedrich Nietzsches Werk als den philosophischen Hor izont solcher Verschiebungen zu lesen. Nietz-sches Polemik gegen den »Willen zur Wahrheit« problematisiert die hermeneutische Dimension der begrifflichen Tiefe; ihre Kehrseite, das Philologen-Lob für Buchstäblichkeit oder die Begeisterung für die sinnlichen Qualitäten von Maske und Tanz, wertet die Oberflä-che auf. Wo aber das Gesicht hinter der Maske nicht mehr sichtbar wird und der Tanz nichts mehr auszudrücken braucht, kollabiert die auf der Abhebung der Signifikate von den Signifikanten begründete Struktur des hermeneutischen Feldes.

Der Kollaps des hermeneutischen Feldes vollzog sich in chrono-logischer Simultaneität zu der akademisch so folgenreichen Entfal-tung der Hermeneutik zu einer philosophischen Methodologie in den Schriften von Wilhelm Dilthey. Ich wil l diesen Befund auf die These zuspitzen, daß die Hermeneutik - und mit ihr ein auf Inter-pretation begründetes Verhältnis des Subjekts zur Welt der Objekte - angesichts genau jener historischen Situation für den begrenzten Raum der akademischen Institution gerettet und zum Organon der Geisteswissenschaften hypostasiert wurde, in der die meisten ande-ren sozialen Teilsysteme (vor allem die Technik, die Wirtschaft und die Kunst) dem Subjekt/Objekt-Paradigma eine tiefergreifende Transformation auferlegten. So gesehen forderte die hier erreichte Ausdifferenzierung und Autonomie der Geisteswissenschaften, welche sie freisetzte gegenüber dem von den Naturwissenschaften ausgehenden Erfolgsdruck, einen hohen Preis: er lag in einer Episte-mologie, welche die Geisteswissenschaften von ihren gesellschaftli-chen Umwelten isolierte. Ferdinand Fellmanns (bereits eingangs

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kurz erwähnte) neue Dilthey-Lektüre verpflichtet uns allerdings zu einer Revision - oder positiver: zu einer Komplexifizierung - dieser Behauptung. Denn wenn man Fellmanns Sicht zustimmt, nach der im Zentrum von Diltheys Philosophieren die Bemühung um ein Konzept des menschlichen Bewußtseins als einem von Bildern kon-stituierten Bewußtsein steht,1 dann liegt es nahe, in der Entwicklung dieses Motivs weniger einen Akt intellektueller Rettung als eine Reaktion auf die epistemologischen Verschiebungen des 19. Jahr-hunderts zu sehen. Aber vielleicht ist die für den Zusammenhang unserer Argumentation entscheidende Schwelle gar nicht von die-sem Unterschied zwischen begriffskonstituiertem und bildkonstitu-iertem Bewußtsein markiert, sondern von dem Kontrast zwischen statischen und bewegten Bildern als Bewußtseinsinhalten. Denn erst die bewegten Bilder entzogen sich endgültig dem Habitus der Inter-pretation - und mithin den geisteswissenschaftlichen Methodolo-gien -, weil die Statik der für die Interpretation unerläßlichen Begrif-fe nicht mehr der Instabilität bewegter Bilder gerecht zu werden vermag.2

Wahrnehmung von Bewegung

Die bewegten Bilder des Mediums >Film< kamen der Vorstellung von nicht begrifflich strukturierten Bewußtseinsinhalten denkbar nahe. Da jedoch die Bilder des Films nicht - wie die Bilder der Imagination - im Bewußtsein entstehen, sondern zunächst von der Wahrneh-mung erfaßt und an das Bewußtsein vermittelt werden müssen, läßt sich das Problem, das zu lösen war, bevor bewegte Bilder technisch produzierbar und damit auch rezipierbar wurden, durch die Frage umschreiben, wie etwas bewegt sein und zugleich eine wahrnehm-bare Form haben kann. Die Antwort liegt in der Einsicht, daß allein in rhythmisch arrangierten Bild-Sequenzen Bewegung und Form konvergieren - mit anderen Worten: >Rhythmus< ist unser Begriff für

1 Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, a. a. O. 2 Die Folgen der Verschiebung von der Sprache hin zu den (bewegten) Bildern als

dominantem Kommunikationsmedium diskutiert aus der Perspektive der Philoso-phie Wlad Godzich, Vom Paradox der Sprache zur Dissonanz des Bildes, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusam-menbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 747-758.

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die >Zeitobjekten im speziellen Sinn« eigene Formqualität.1 Tech-nisch wurde das Problem der Erzeugung von Rhythmus durch die Perforation des Filmmaterials gelöst, welche die Koppelung der Bilder an den Rhythmus von Maschinen ermöglichte. Bis heute sind der Rhythmus des Filmtransports wie der Rhythmus der Konstitu-tion von Zeilen auf dem Fernsehbildschirm unerläßliche (obwohl kaum je erwähnte) Voraussetzungen für die Wahrnehmung tech-nisch produzierter bewegter Bilder geblieben.

Henri Bergson freilich verweigerte dem frühen Film als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit technischer Produktion von bewegten Bildern seinen philosophischen Segen.2 Er stieß sich an dem an sich trivialen Umstand, daß das Filmmaterial selbst nichts anderes ist als eine Serie statischer Bilder - denn statische Bilder ließen sich nicht unter seinem Begriff der duree als Sphäre einer weder von Zahlen meßbaren noch von Begriffen oder Konturen umschreibbaren Zeitlichkeit und Bewegtheit subsumieren. Gewiß wird man - auf systematischer Ebene - Gilles Deleuze zustimmen, der Bergsons Kriti k die Erfahrung entgegenhält, daß trotz der Statik der Bilder auf der Filmrolle die Zuschauer einer Filmprojektion bewegte Bilder (»images-mouvement«) wahrnehmen - und zwar bewegte Bilder genau im Sinne von Bergsons ^«ree-Konzept. Den-noch ist - historisch gesehen - mit Bergsons Einspruch gegen die phänomenologische Legitimität des Films ein medienpragmatisch höchst folgenreicher Aspekt, nämlich eben die Einsicht in die In-kommensurabilität zwischen den bewegten Bildern und der Statik der Begriffe, in Vergessenheit geraten (oder vielleicht sogar: ver-drängt worden?). Berücksichtigt man aber dieses Element aus Berg-sons Polemik, dann erscheint die technische Innovation des Films als Beginn des Übergangs von einer Welt der Erfahrung zu einer Welt der Wahrnehmung. Niklas Luhmanns These, nach der im Medium

1 Der Begriff der >Zeitobjekte im speziellen Sinn« stammt von Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), Husserliana, Band 10, Haag 1960, S. 23. - Vgl. zur Definition von >Rhythmus< Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Ma-terialität der Kommunikation, München 1988, S. 714-729, und zur historischen Konjunktur des Themas >Rhythmus< um die Jahrhundertwende Michael Golston, >lm Anfang war der Rhythmus'-. Rhythmic Incubations in Discourses ofMtnd, Bo-dy, and Racefrom 1850-1944, in: Stanford Humanities Review 1996.

2 Vgl. zum historischen Ort und zur Kriti k von Bergsons Polemik gegen die »illusion cinematographique« Gilles Deleuze, Cinema 1. L'image-mouvement, Paris 1983, S. 9ff.

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des Films zum erstenmal Bewegung Teil von Information und mithin Gegenstand von Kommunikation wird,' kann man deshalb dahinge-hend ergänzen, daß solche Information nicht mehr von Begriffen transportiert werden kann.

Eine erstaunliche Vielfalt konvergierender intellektueller Projek-te an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert macht den Vorschlag plausibel, die 1895 beginnende Geschichte des Films als die medien-und technikgeschichtliche Variation einer langfristigen Transforma-tion der westlichen Epistemologie anzusehen. Im Zentrum dieser Fokussierung stehen philosophisch ambitionierte Beschreibungen von vorkonzeptuellen Schichten des Bewußtseins. Das ist das Anlie-gen von Bergsons Ausarbeitung des duree-Begriffes2 und der ent-scheidende epistemologische Durchbruch in Freuds Buch zur Traumdeutung.3 Gleichzeitig, aber in einem von Bergson und Freud denkbar weit entfernten intellektuellen und institutionellen Kon-text, entwarf George Herbert Mead eine Theorie der Vorstellungs-kraft, derzufolge Bilder der Vorstellung unmittelbar von Umwelt-Wahrnehmungen ausgelöst werden und ihrerseits unmittelbar In-nervationen und mithin Muskelbewegungen (als Reaktionen der Aggression oder der Flucht) auslösen. Die Verarbeitung der Wahr-nehmungen und der Vorstellungsbilder durch Begriffe weist Mead dann einer höheren Evolutionsstufe des Menschen zu. Allein mit ihr assoziiert er die Möglichkeit, von Umweltwahrnehmungen ausge-löste Körper-Impulse reflexiv zu kontrollieren.4

1 Modcs of Communication and Society, in: Niklas Luhmann, Essays on Self-Refe-rence, New York 1990, S. 99-106, v.a. S. 102f.

2 Vor allem im zweiten Kapitel von Essai sur les donnees immediats de la conscience, Paris 1889. - Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch Husserl zu nennen, der etwa in seinen Schriften Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins wieder-holt das »Bildbewußtsein« thematisiert. Im Gegensatz vor allem zu Freud und Mead scheinen allerdings im Vordergrund von Husserls Interesse solche Bewußt-seinsinhalte und Bewußtseinsstrukturen gestanden zu haben, die sich begrifflich verrechnen lassen..

3 Die Traumdeutung ist im Jahr 1900 in Wien, aber »in Wirklichkeit bereits im No-vember 1899« erschienen. Vgl. >Vorbemerkung der Redaktion« zu der Ausgabe des Fischer Taschenbuchverlags, Frankfurt a. M. 1961, S. 5. - Daß Freuds Methode -trotz ihrer Konzentration auf die vorbegrifflichen Schichten des Bewußtseins - an den Strukturen des hermeneutischen Feldes orientiert war, zeigt u.a. die Topik der Metaphern im Motto seines Buches: »Flectere si nequeo superos, acheronta move-bo«.

4 Vgl. George Herbert Mead, Die Philosophie der Sozialität, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, Frankfurt a. M. 1969, S. 229-324, hier S. 306ff.

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Aber auch die Kunst und die Literatur jener Zeit nahmen das komplexe Motiv des Zusammenhangs zwischen der vorbegrifflichen Wahrnehmung und der Bewegtheit der wahrgenommenen Welt in ihre Programme und in ihre Praxis auf - oft sogar unter explizitem Bezug auf die Schriften von Autoren wie Nietzsche, Bergson oder Freud. Zurecht hat man deshalb den Surrealismus als die (manchmal obsessive) Inszenierung einer Defiguration und Erosion der Gestalt-haftigkeit von Bedeutungen charakterisiert. Zugleich vollzog sich im Surrealismus eine Umstel lung von der weltdarstellenden Funkt ion der Kunst und Literatur hin zur Funkt ion der Produkt ion von Ereignissen als Emblemen der Kontingenz. Nur wenig später trans-formierten dann Autoren wie Italo Svevo oder James Joyce im Bewußtseinsstrom-Roman ein zentrales Motiv aus der Psychoana-lyse und der Phänomenologie in eine Diskursform, welche perma-nent bemüht sein mußte, ihre unvermeidlich begriffliche Verfaßtheit zu unterlaufen und zu löschen.

Auf der anderen Seite standen in der intellektuellen Szene des frühen 20. Jahrhunderts philosophische Positionen, welche sich ge-rade aus dem Widerstand gegen die Verflüssigung der Begriffe in bewegte Bilder und gegen die Verflachung der Erfahrung in Wahr-nehmung konstituierten.1 So war es eine Prämisse für die Wissens-soziologie, wie sie sich ausgehend von der Phänomenologie seit Mitt e der zwanziger Jahre in den Schriften von Max Scheier, Karl Mannheim und Alfred Schütz ausbildete, daß die Frage nach der Adäquanz oder nach der Wahrheit von Welterfahrung obsolet ge-worden war. Statt sich jedoch vom Kollaps des Subjekt/Objekt-Pa-radigmas intellektuell lähmen zu lassen, konzentrierten sich die Wissenssoziologen - nicht mehr auf die Wirklichkeit >selbst<, son-dern - auf Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirk -lichkeiten durch Begriffe und Wissenselemente.2 Hier liegt die intel-

1 Die Intensität des Interesses an vorbegrifflichen Schichten des Bewußtseins einer-seits und andererseits die Rückkehr zu Sprache und Begrifflichkeit (in vollem Be-wußtsein ihrer >Inadäquanz gegenüber der Wirklichkeit«) lassen sich als zwei di-vergierende Typen der Reaktion auf eine sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts durchsetzende »zweite Entmythisierung« darstellen, die eine Entmythi-sierung des Entmythisierungs-Programms der Aufklärung war. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Deconstruction deconstrueted. Transformationen französischer Logo-zentrismuskritik m der amerikanischen Literaturwissenschaft, in: Philosophische Rundschau 33 (1986), S. 1-35.

2 Im Hinblick auf unsere These von der Inkompatibilität zwischen Bewegung (be-wegten Bildern) und statischer Begrifflichkeit ist es bemerkenswert, daß Alfred Schütz - unter Rückgriff auf Bergsons Konzept der >duree< und auf Husserls Kon-

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lektuelle Vorgeschichte des heute so populären Konstruktivismus. Weit stärker als bei den frühen Wissenssoziologen waren die Reak-tionen auf den Verlust der epistemologischen Tiefendimensionen der Konzepte und der Wahrheit unter den Denkern der Konservativen Revolution von existentiellen Besorgnissen motiviert. Sie kämpften um die Wiedergewinnung eines sicheren Grundes für Wertungen und Handlungen - oft im vollen Bewußtsein von der Unmöglichkeit der Erfüllung solcher intellektuellen und existentiellen Sehnsucht. Deshalb näherte sich die philosophische Architektonik von Heideg-gers Sein und Zeit mit der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein dem für das hermeneutische Feld konstitutiven Bina-rismus von der Oberfläche der Dinge und der ihre Wahrheit bergen-den Tiefe, und deshalb rückten die Akte des Verstehens und des Auslegens ins Zentrum von Heideggers Analyse des menschlichen Daseins.1 Zugleich aber beantwortete er die umfassendste Frage seines Hauptwerks, die Frage nach dem Sinn des Seins, mit einer spezifischen Ausarbeitung des Begriffs >Zeitlichkeit< -und das heißt unter einer Perspektive, wie sie vor der Krise des Subjekt/Objekt-Paradigmas und vor der Destabilisierung des Welt-Begriffs als Ob-jekt-Begriff wohl kaum denkbar gewesen wäre. Es sei der Sinn des Seins, liest man erstaunlicherweise bei diesem Führer der konserva-tiven Revolution, »sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit [zu] übernehmen und augenblicklich [zu] sein für >seine Zeit««.2

Während die Intellektuellen an solchen Versuchen zur Rettung der Erfahrung, des Verstehens und der Werte arbeiteten, schritt im Alltag die Umstellung auf eine Welt körperzentrierter Wahrneh-mung fort. Als eines unter zahllosen Symptomen für diese Verschie-bung kann man auf den damals - vor allem, aber nicht auschließlich - von faschistischen Politikern so häufig benutzten Begriff des 'Men-schenmaterials« verweisen.3 Zu >Menschenmaterial< reduzierte

zept der >Zeitobjekte im speziellen Sinn« - zwischen »Handeln« als >polythetischem< Vollzug und »Handlung« als einer in Retention und Protention »monothetisch« er-faßbaren Sinneinheit unterschieden hat. Vgl. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, S. 43ff. (>Die Kon-stitution des sinnhaften Erlebnisses in der je eigenen Dauer«).

1 Vgl. Martin Heidegger, Sem und Zeit, Tübingen 1927, v.a. Paragraph 31f. 2 A.a.O., Paragraph 74, hier S. 385. 3 In einem gemeinsam mit Jeffrey Schnapp und mir gehaltenen Graduate Seminar

zum Thema »Cultural and Technological Incubations of Fascism« (Stanford / Win-ter 1992/93) hat Tim Lenoir gezeigt, wie während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die im Begriff des »Menschenmaterials« artikulierte Reduktion der

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menschliche Existenz waren Körper, deren Umweltsensibilität allein die Koppelung an den Rhythmus anderer Körper und an den Rhyth-mus der Maschinen - das heißt: die Integration der Körper in Syste-me höherer Komplexität - zu ermöglichen hatte. Der einer intelli-genten Maschine untergeordnete und mit dieser Maschine auf Ver-nichtung und Selbst-Vernichtung disponierte Körper des Kamika-ze-Piloten war das Emblem für diese Konfiguration.

Noch die epistemologische Situation der Gegenwart scheint von der Bifurkation zwischen einer Sphäre der Begrifflichkeit, der Statik, der Sprache und einer Sphäre der Wahrnehmung, der Bewegung, des Körpers beherrscht zu sein, wie sie sich in den Manifestationen unserer Kultur seit dem frühen 19. Jahrhundert abgezeichnet hat. Noch immer setzen wir uns voller Leidensmut einem kulturpcssi-mistischen Diskurs aus, der die geistige Tiefe der Bücher und das diese Tiefe erschließende geduldige Verstehen wie eine Monstranz des Guten, Wahren und Schönen gegen die Flachheit der Bildschirme und gegen die behenden Bewegungen der an sie gehefteten Augen hält. Aber wahrscheinlich beruhen diese gutgemeinten Sorgen auf viel zu radikalen Prämissen: auf dem Postulat etwa, daß die restlose Überführung aller Wahrnehmungen in Begriffe eine existentielle Notwendigkeit sei, auf der Erwartung, daß langfristig die Dimension der Wahrnehmung jene der Erfahrung und der Reflexion gänzlich verdrängen werde, und auf der Befürchtung schließlich, daß die Okkupicrung des individuellen Bewußtseins von Bildern, die nicht dort entstanden sind, unvermeidlich in Situationen absoluter Fremd-bestimmtheit enden müsse.1 Al l diese Schreckensbilder implizieren die doppelte Voraussetzung, daß man - erstens - nur entweder in der Sphäre der Erfahrung oder in der Sphäre der Wahrnehmung leben könne, und daß es - zweitens - selbstverständlich besser sei, allein in der Sphäre der Erfahrung zu leben.

Vielleicht ist aber gerade ein Oszillieren zwischen Erfahren und Wahrnehmen jene lebhafte Existenzform und jene agile Form des Denkens, in deren Vollzug wir den Bannkreis des hermeneutischen Feldes und seines akademischen Nachlebens endlich verlassen kön-nen. Trotz aller kritisch gerunzelten Stirnfalten gibt es ja heute nicht nur eine Generation von Teenagern, die mit Computerspielen auf-

menschlichen Existenz die Integration der Körper in neue Strukturen von indu-striellen und militärischen Systemen ermöglichte.

1 Allein in dieser Behauptung stimme ich Godzich, Vom Paradox der Sprache zur Dissonanz des Bildes, a. a. O., S. 757, nicht zu.

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gewachsen ist und dennoch beginnt, Plato zu lesen, sondern auch wohletablierte Theorie-Formen und viel bewunderte Theorie-Heroen, denen diese Oszillation mühelos gelingt. Jacques Derrida setzt in seinem Spiel der Dekonstruktion stets an bei scheinbar stabilen Bedeutungskonfigurationen - um sie in die Dynamik der differance und in die Sinnlichkeit der Schrift zu überführen. Niklas Luhmann besteht - umgekehrt - zunächst darauf, daß wirklic h nur das ist, was geschieht, und daß sich alles, was geschieht, in gleichzei-tigen Operat ionen ohne Sinn-Dimension vollzieht - um dann diese Wirklichkeit zu beobachten und ihr im Beobachten Begriffe abzu-gewinnen.1

Einmal in Bewegung gesetzt, kommen solche intellektuellen Os-zillationen nicht mehr von selbst zum Stillstand. Mi t anderen Wor-ten: es ist nun wirklic h Zeit, die Illusion abzulegen, daß sich Wahr-nehmungen je vollständig durch Begriffe und Reflexionen werden einholen lassen. Statt darauf zu vertrauen, ans Ende zu gelangen, muß man einfach aufhören können.

1 Der hier umschriebene Wirklichkeitsbegriff gehörte zu den Themen eines Kollo-quiums, das Niklas Luhmann im März 1993 in Stanford gehalten hat. Vgl. auch: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklä-rung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 95-130, hier v.a. S. 98ff.

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ERNST WOLFGANG ORTH

Lektüre und geistiger Bildraum

D ie durchaus fragmentarischen Überlegungen, die hier angestellt werden, stehen im Rahmen dessen, was man - zunächst sehr

pauschal - Kulturanthropologie nennen kann. Diese Kulturanthro-pologie soll probehalber und vorläufig als eine Art »Erste Philoso-phie« dienen. Dabei kann von Kultur - als Welt des Menschen - nur im Hinblick auf das Anthropologische gesprochen werden, wie korrelativ dazu die Anthropologie die Dimension der Kultur gleich-ursprünglich impliziert. Zwei Begriffe sind für diese Kulturanthro-pologie entscheidend: Orientierung und Medialität. Kultur ist der Fall von Orientierung - für uns universal und partikulär zugleich; und sie ist stets medial, d.h. man darf von der Medialität der Orien-tierung sprechen. Erst aus diesem Grundverhalt entfaltet sich das, was man Wahrheit nennt.

Wenn Kultur nun als die Dimension jedes menschlichen Welt-und Selbstverständnisses bezeichnet werden kann, über die hinaus für uns keine weiteren Dimensionen praktisch begehbar sind, dann ist die Lektüre, das Lesen ein kulturelles Paradigma von besonderer Dignität. Die Lektüre, das Lesen eröffnet uns eine Dimension, die man als »geistigen Raum« bezeichnen mag, innerhalb dessen uns, wenn nicht die Wirklichkeit, so doch eine Para-Wirklichkeit greifbar wird.

In diesem Sinne könnte man den Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation verstehen, den Hugo von Hofmannsthal in seiner, Karl Vossler gewidmeten Rede von 1927 benutzt hat. In der Tat bezeichnet dieser Hofmannsthalsche Redetitel recht sinnfällig jenen eigentümlichen Bedeutungsraum, den wir uns durch Lesen erarbei-ten und in den wir zugleich hineingestellt sind. Aber hier sind wir bereits Opfer einer für einen Leser nicht untypischen Autosugge-stion: Der Text, der den Titel ausmacht, verspricht etwas, was der Redetext selbst nicht hält. Wir müssen also auf eigene Rechnung versuchen herauszupräparieren, was dieser Bedeutungsraum der Lektüre ist, der in unserem Titel bereits »Bildraum« genannt wird.

Zunächst fällt auf, daß wir uns in Metaphern ergehen. Der Bild-raum, der in der Lektüre und im Lesen thematisch wird, ist sowenig

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LEKTÜRE UND GEISTIGER BILDRAUM I 8 I

ein extensionaler Raum wie der »geistige Raum der Nation«, den das »Schrifttum« bildet. Er ist weder der Raum der Physiker noch der der Geographen. Auch Bild und Bilder gibt es hier nicht im selben Sinne wie im Wahrnehmungsraum. Trotzdem ist der mit dem Lesen the-matisierte Bedeutungs- und Bildraum kein bloßes Abstraktum; denn die Lektüre findet doch unbestreitbar einen substrathaften Halt eben am Schrifttum, in dem elementaren Sinne seines graphischen Bestan-des einerseits und an den umgrenzbaren Vorstellungen und Vorstel-lungsbildern andererseits, die in der Regel und durchschnittlich mit dem Lesen verbunden oder von dem Text angeregt werden. Das Lesen ist geradezu die mehr oder weniger gelingende Aktivierung und Reaktivierung solcher Vorstellungen und Vorstellungsbilder aus dem schriftlichen Bestand.1 Auch hier ist freilich bemerkenswert, daß der Ausdruck >Lesen< durchaus metaphorisch ist - und dies sogar in doppelter Hinsicht. Ich nenne ihn eine paradigmatische Metapher.

Was wir durchschnittlich »Lesen« nennen im Sinne der bekannten und so speziellen wie universellen, nämlich der literarischen Kultur-technik, verweist metaphorisch hinter diese Technik zurück und zugleich über sie hinaus. Sowohl das deutsche »lesen« wie das grie-chische »legein« oder das lateinische »legere« haben zunächst die elementare, sozusagen vor-literarische Bedeutung des konkreten Aufsammeins und Auflesens, das dann in semantisch übertragener Bedeutung für die bekannte literarische Kulturtechnik verwendet wird. Dieses literarische Lesen aber, das Erfassen literarischer Texte, wird seinerseits über das Literarische hinaus für die Bezeichnung aller möglicher, vor allem höherstufiger und komplexerer Weltver-ständnisse semantisch und semiotisch eingesetzt. In der Formel von der »Lesbarkeit der Welt« erreicht die Lesemetapher ihre denkbar weiteste Ausdehnung,2 ohne jedoch ihre je speziellen Einsatzmög-lichkeiten dabei abzuschneiden. »Lesen« ist eine Metapher, die nicht an sich halten kann.

Dabei ist auch der universalisierende Gebrauch der Lesemetapher doppeldeutig. Ich unterscheide die Kantische und die Diltheysche Lesemetapher. Kant hebt auf die operative Funktion der Lektüre ab, Dilthey auf ihre Dimensionierungsfunktion, d.h. auf ihren Charak-

1 Erinnerung (als Internalisierung) spielt hier die entscheidende Rolle sowohl im Sinne des Verweises auf, der Anmahnung, als auch der Verinnerlichung. Es geht immer um »Erinnerung an die Wirklichkeit«.

2 Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981 -sowie seine Konzeption einer Metaphorologie.

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ter der Horizonteröffnung und der Bereitstellung einer Orient ie-rungsdimension, besser: des immer schon Hineingestelltseins in eine solche Dimension. So erhalten nach Kant »die reinen Verstandesbe-griffc« ihre »Bedeutung« nur dann, wenn man sie lediglich dafür einsetzt, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können« (Prolegomena § 30). Erkenntnis im Sinne objekti-ver Erfahrung wird also erlangt, wenn Erscheinungen als subjekti-ves, ästhetisches Material geordnet werden, d.h. wenn wir »die Ver-bindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art« (nämlich durch Kategorien) »notwendig machen, und sie einer Regel unterwerfen«. So wird den Erscheinungen »objektive Bedeutung erteilt« und die »Dignität« des verbindlichen Gegenstandsbezugs verliehen (KdrV A, S. 197/B S. 242f.). Kant knüpft hier präzise an das Buchstabieren an - als einem Sinnvollmachcn des Textes, um das Funktionieren verbindlicher Erfahrungserkenntnis zu charakterisieren. Es läßt sich freilich fragen, ob Kant nicht besser statt des »Buchstabierens« das Modell der grammatischen Konstruktion gewählt hätte. Inder Kritik der reinen Vernunft setzt Kant die Formel vom Buchstabieren der Erscheinungen mit einer gegenüber den Prolegomena anderen Ten-denz ein: »Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthe-tischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicherweise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen,...« (KdrV A, S. 314/B, 370f.). Der operative Charakter des Buchstabierens wird hier noch deutlicher: Mögen die positiven Einzelwissenschaften Erscheinungen buchsta-bieren, um objektive Wirklichkeit emprisch bestimmen zu können, die Aufgabe der Philosophie ist es demgegenüber, Möglichkeiten solchen Buchstabierens und der Generierung möglicher Alphabete zu erörtern. Eines haben freilich die beiden Textstellen in den Prole-gomena und in der Kritik der reinen Vernunft gemeinsam: nämlich es wird von Erscheinungen im Plural und von der Erfahrung im Singular gesprochen. Erfahrung ist der vereinheitlichende und ver-einheitlichte Zusammenhang der Erscheinungen.

Von diesem Zusammenhang geht Dilthey aus. Und es handelt sich dabei um einen literarischen Zusammenhang, um ein Textgewebe. Dilthey trägt dem kulturwissenschaftlichen Befund Rechnung, daß all unser Wissen von Wirklichkeit in Texten, d.h. in Literatur und damit in Lektüre terminier t- gleich ob es sich um naturwissenschaft-liche oder geisteswissenschaftliche Wirklichkeiten handelt. Deshalb interessiert er sich für geisteswissenschaftliche Statistik (GS XVI , S.

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134f.), und deshalb beschäftigt er sich 1889 mit Archiven der Litera-tur (GS IV, S. 555-575). Auch sein berühmter Hermeneutikaufsatz von 1900 (GS V, S. 317 passim) trägt zunächst und in erster Lini e der Tatsache Rechnung, daß unsere Weltkenntnis an literarische Texte gebunden ist. Das Schrifttum ist nicht nur für den Philologen, son-dern auch beispielsweise für den Physiker die unvermeidliche Orien-tierungsdimension. Wer Physik studiert, studiert zunächst nicht die Natur, sondern die Naturwissenschaft; und diese ist ein literarisches Faktum.1

Ich möchte nun die These vertreten, daß beide metaphorische Auffassungen von Lektüre zusammengeführt werden können und daß dies im Falle von Ernst Cassirers Konzeption der symbolischen Formung und der symbolischen Formen tatsächlich geschieht. Ehe ich das erläutere, wil l ich jedoch noch etwas über das Lesen als paradigmatische Metapher ausführen.

So sinnfällig Kants Rede vom Buchstabieren der Erscheinungen und Diltheys Auffassung der Literatur, des Schrifttums, als Orientie-rungsrahmen sein mögen - muß man von solchem Reden nicht das unterscheiden, was wirklic h Sache ist, und damit die Metaphern Metaphern sein lassen, die zwar begrenzte didaktische Zwecke er-füllen können, aber doch wohl mehr nicht? Kant weiß doch, daß Buchstabieren nicht dasselbe wie objektive physikalische Erkennt-nis ist; und auch Dilthey unterscheidet ja gerade zwischen Literatur als einem geisteswissenschaftlichen Thema einerseits und Natur als einem naturwissenschaftlichen andererseits. Das Problematische der Metaphorik liegt nicht nur in ihrer scheinbaren Sachabgehobenheit, sondern auch darin, daß die jeweiligen Metaphern von anderen Konkurrenz erhalten. Warum sprechen wir nicht in unserer Meta-phorik statt vom »Lesen« vom »Schreiben«, warum nicht überhaupt -wenn es um den dimensionierenden Rahmen der Wirklichkeit geht - statt von »Literatur« von der »Sprache«, deren Grenzen doch angeb-lich die Grenzen unserer Welt sind ? (Die leitenden Metaphern wech-seln; so favorisiert ja Derrida offensichtlich das Schreiben vor Lesen und Sprechen).

Nehmen wir deshalb das Lesen einmal als das, was es zunächst ist, nämlich als eine vorherrschende und subtil elaborierte Kulturtech-nik, die gewohnheitsmäßig geradezu im Sinne einer zweiten Natür-

1 Vgl. Leonardo Olschki, Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Litera-:ur, 3 Bde., 1919/22/27.

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lichkeit ausgeübt wird. So betrachtet, ist das Lesen ein wahrneh-mungsanaloger Informationsprozeß. Ich lasse hier einmal die meist rhetorischen Qualifikationen des Begriffs Information - seien sie technologisch-szientifischer, seien sie politisch-imperativer Art -beiseite. Es lassen sich dann drei Formen von Information schon beim Wahrnehmen unterscheiden: die Mikro-Information, die Me-so-Information und die Makro- oder zentrische Information. Die letzte Form erweist sich als eine problematische Größe.

Bei der Mikro-Information handelt es sich um Daten und Impul-se, die sich unterhalb unseres bewußten Erlebens abspielen und deren Verarbeitung der Steuerung des Verhaltens dient. Dieser In-formationstyp konstituiert jene elementare Orientierung, in welcher das Moment der Passivität vorherrscht, die aber gleichwohl oft mit einer Metaphorik der Aktivität beschrieben wird (vgl. »Arbeit« der Sinnesorgane, »unbewußter Schluß« bei Helmholtz).

Die Meso-Information kann als ein erstes relativ stabilisiertes, erlebnishaftes Resultat von Mikro-Informationen verstanden wer-den, ohne daß der Erlebende von den vorgängigen Mikro-Informa-tionen etwas wissen muß (diese werden vielmehr indirekt und wis-senschaftlich von der Sinnesphysiologie tematisiert, wie wir dies besonders seit dem 19. Jahrhundert kennen). Die Meso-Information ist diejenige Information, die wir in einem durchschnittlichen Sinne Information nennen; es handelt sich um die bewußte Wahrnehmung von diesem und jenem, zu welchem freilich immer auch ein Moment von Aufmerksamkeit gehört, obwohl das durchschnittliche Wahr-nehmen scheinbar unvermeidlich und unwillkürlich geschieht.

Die Makro- oder zentrische Information ist diejenige Informa-tionsleistung, die die vorausgegangenen Informationen in einer größeren Dimension zusammenfaßt. Sie eröffnet einen Raum, den man sowohl Bild-Raum als auch Bedeutungs-Raum nennen könnte. Dabei ist sowohl der Begriff des Raumes als auch der des Bildes mehrdeutig. Was den Raum betrifft, so kann es sich dabei zwar auch um den objektiven, geometrischen Wahrnehmungsraum handeln; aber, wie wir wissen, ist dessen eindeutige Bestimmung ein relativ späteres Produkt kultureller Evolutionen. Kinästhetische Aktions-räume, Lebensräume mit so oder so qualifizierten Raumgefühlen gehen diesem späten objektiven Raum voraus. Der Raum ist also selbst Bedeutungsraum, d.h. nicht nur das Gefäß für Bedeutungen, sondern selbst eine bedeutsame Dimension. Von Bild können wir hinsichtlich dieses Bildraumes zum einen als dem Bild und den Bildern sprechen, die in diesen Raum hineingestellt sind; zum ande-

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ren kann damit aber auch das Gesamtbild gemeint sein, das mit dem Bildraum vermittelt und etabliert wird. Nennen wir den Bild- und Bedeutungsraum die Makro-Information, so denken wir eher an die Vielzahl oder gar Allheit der Bilder; fassen wir ihn als zentrische Information, so heben wir ab auf den zusammenfassenden Dimen-sionscharakter als Horizont, der nicht alles, nicht einmal möglichst viel, aber doch mehreres umfaßt und ihm ein einheitliches Gepräge gibt, eben als erlebte, zusammenhängende Wirklichkeit. Gleichwohl sind beide Fassungen der Makro- oder zentrischen Information durch eine gewisse, zumeist anmutungshafte Anschaulichkeit cha-rakterisiert.1

Das Problematische unserer dritten Informationsform ist die Vieldeutigkeit ihres Dimensionscharakters: im Sinne einer mehr quantitativen Pluralität oder eines mehr qualitativen Sinnzusam-menhangs, der zwar nicht alles umfaßt, aber für alles Mögliche offensteht. Nennen wir diesen offenen zentrischen Horizont Orien-tierungsdimension, so haben wir doch zu berücksichtigen, daß Orientierung sich allfällig in unterscheidbarc Bedeutungsfelder di-mensioniert. Dies hängt wohl u.a. mit charakteristischen Rückbezo-genheiten auf jeweils spezielle oder typische Substrate zusammen. Zu beachten ist nun nämlich, daß die drei Informationsformen sich in der menschlichen Wahrnehmung wechselseitig implizieren, d.h. Mikro- und Meso-Information sind bereits auf dimensionale Zen-trierung angelegt, die zentrische Dimension existiert nur, sofern sie sich an Mikro- und Meso-Informationen bewährt.

Die vorausgegangenen Darlegungen scheinen mir nahezulegen, daß man das Lesen als eine kulturhafte Wiederholung des »natürli-chen« menschlichen Wahrnehmungsvorganges ansehen darf - oder anders gesagt: die Kulturtatsache der Lektüre zeigt, wenn man sie mit der natürlichen menschlichen Wahrnehmung vergleicht, den impliziten Kulturcharakter der Wahrnehmung selbst. Was wir auf der Ebene der Wahrnehmung als Mikro-Information bezeichneten, entspricht hinsichtlich der Lektüre dem quasi-automatischen, sozu-sagen natürlichen Auffassen des graphischen Bestandes. Welch eine ungeheuerliche Zivilisationsleistung dieser normal ausgeübten Fä-

1 Diesen eigentümlichen Charakter der Anschaulichkeit erfahren wir in der Lektüre hinsichtlich unserer »Vorstellungen« von dort »beschriebenen« Personen, Tatsachen und Ereignissen, deren literarische Beschreibung nie abbildlich ist und uns dennoch gre:fbare Gestalten suggeriert. Verfilmte Literatur zeigt durch ihre »Enttäuschun-ger.«, wie eigentümlich diese literarische Anschauung ist.

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higkeit zugrunde liegt, bemerken wir in einigen Fällen des Mißlin-gens, die zudem zeigen, wie sehr die Etablierung subtiler Bedeutun-gen von der Möglichkeit ganz elementarer physiologischer Realisie-rungen des Lesens abhängen.1 Was wir Meso-Information nennen, ist in der Lektüre die Erfassung des relativ überschaubaren Textes, der etwas Bestimmtes besagt.2 Der Makro- und zentrischen Infor-mation entspricht die Eröffnung und Thematisierung eines Bedeu-tungsraumes, der potentiell für jede Ar t und jeden Inhalt von Welt-kunde eröffnet wird. Er ist allerdings keine bloße Wiederholung seines Pendants auf der Wahrnehmungsebene; denn er scheint mir einen Mehrwert zu haben: Die Lektüre eröffnet nicht nur die Makro-und zentrische Dimension, sie thematisiert diese auch und macht sie kultivierungsfähig. Sie ist nicht nur Orient ierung; sie ist Orientie-rung über Orient ierung, damit nicht nur Weltverständnis, sondern Hor izont möglichen Selbstverständnisses, auf das Weltvcrständnisse sich jeweils beziehen. In der Lektüre entdeckt sich das Subjekt -durch die Praxis des Lesens - als Platzhalter oder Zeuge von Wirk-lichkeitsverständnis.

Damit erhält die Metaphorizität des Begriffs der Lektüre auch ihre paradigmatische Dignität: Die Kulturtcchnik des Lesens reicht tat-sächlich zurück auf vorliterarische Formen der Orientierung, und sie bringt Orient ierung geradezu — so ist man zunächst versucht zu sagen - auf den Begriff. Aber dieses »Auf den Begriff bringen« ist eher die Etablierung einer Praxis, deren Pointe darin besteht, daß sie tatsächlich vollzogen und gelebt wird. Diese Praxis heißt Lektüre (allerdings darf man die gesprochene Sprache, das Gespräch, das Sich-etwas-erzählen und -berichten als Vorstufe und Vorspiel dieser Lektürepraxis ansehen).

Die vornehmste Funkt ion solcher Lektüre ist es, daß sie Bedeu-tungsräume eröffnet, die in dem kulminieren, was ich das imaginäre Buch nennen möchte, das Buch der Bücher, das nie existieren wird,

1 Was die Realisierung von Bedeutungen im Lesen betrifft, so gibt es offensichtlich beim Leser unterschiedliche Kapazitäten derphysiologischen Realisierbarkeit. Ge-rade auch im stimmlosen, »rein« innerlichen Lesen stellt jeder Text niedrigere oder höhere Ansprüche seiner physiologischen Realisierbarkeit. Warum kann man beim stillen Lesen eines Gedichtes seine »Schönheit« voll erfassen und zur Geltung brin-gen, obwohl man sie bei eigener Verlautbarung eher erheblich stören würde? Ex-trem ist der Unterschied zwischen der im Lesen noch qualifizierenden Erfassung einer Partitur und ihrer tatsächlichen instrumentellen Realisierung (auf beiden Sei-ten gibt es Unterschiede des Noch- und Nicht-mehr-könnens).

2 Vgl. Richard Hönigswald, Beiträge zur Psychologie des Lesens, in: Acta Psycholo-gica Vol. 4, Amsterdam 1938, S. 62-82.

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das aber durch Lektüre immer schon impliziert ist. Wir sind ge-wohnt, zu unterstellen, daß in diesem Bedeutungsraum der Lektüre eine Welt der Bilder - sozusagen auf ihre Ar t - existiert. Aber diese Bilder sind hinsichtlich der Quahfizierbarkeit ihres ontologischen Status so schwer bestimmbar, wie sie es schon auf der Ebene des Wahrnehmens waren. Was wi r Bild nennen, ist durch und durch metaphorisch, gleichsam ein autosuggestiv und mittelfristig stabili-siertes Moment in einem Transposit ionsprozeß. Üblicherweise die-nen uns das Bild und die Bilder als Merkposten für die Erfüllung des Ideals der Anschaulichkeit.

Versteht man nun unter Metapher den Sachverhalt, daß etwas im Hinblick auf etwas anderes Bedeutung erlangt, so ist das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung, von sinnlichem Substrat und Sinn das einfachste Modell der Metapher. Ein absolutes Diesseits der Meta-pher kann es dann nicht geben; wohl aber gibt es ein sozusagen relatives Jenseits; das ist jene Bedeutung, die sich bei Gelegenheit eines Ausdrucks und um den Preis seiner minimalen Anerkennung erlebend vollzieht. Husserl sah hier die Möglichkeit, die Metaphorik am Ausdruck und durch den Ausdruck hindurch intuitiv zu unter-laufen, was ihn bekanntlich zu einer eigentümlichen Fassung des Anschauungsbegriffs führte. Die Folge ist ein doppelter Anschau-ungsbegriff zwischen kontextueller Il lustration und ideierender In-tuition. Am Beispiel der »kategorialen Anschauung«, so wie Husserl sie faßt, wird das deutlich.1 Zum einen meint Husserl damit, daß eine Kategorie - wie z.B. die Kausal i tät- nur zureichend verstanden wird, wenn man sie im Zusammenhang ihrer möglichst elementaren Kon-texte vollzieht und sie damit gleichsam fundamental illustriert; an-dererseits wil l er sagen, daß Kausalität selbst und was sie bedeutet nur uno intuitu »angeschaut« oder erfaßt wird - dann nämlich, wenn uns schlagartig aufgeht, daß wir beispielsweise mit dem propter hoc etwas anderes meinen als mit dem post hoc. Damit glaubt Husserl sich durch die Intuit ion der Sache selbst versichert und von den Kontingenzen des Ausdrucks befreit zu haben.2

1 Vgl. Thomas Seebohm, Kategoriale Anschauung, in: Phänomenologische For-schungen Bd. 23 (Logik, Anschaulichkeit und Transparenz), hg. von Ernst Wolf-gang Orth, Freiburg/München 1990, S. 9-47.

2 Zu Husserls »ursprünglichen Ausdrücken» (im Zusammenhang phänomenologi-scher Selbstgebung) als literarischer Größen vgl. Ernst Wolfgang Orth, Zur Phä-nomenologie des philosophischen Textes, in: Phänomenologische Forschungen Bd. 12, Freiburg/München 1982, S. 7-20, bes. S. 15ff.

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Demgegenüber macht Ernst Cassirer darauf aufmerksam, daß auch solche Intuitionen - wenn man sie denn einräumt - notwendig substrat-bezogen und sicht-bedingt sind. Das heißt: Das Spiel zwi-schen Datum und sinngebender Dimension ist nie aufhebbar. Cassi-rer nennt das »symbolische Ideation«.' Zu ihr gehört, daß Gegebenes immer »sub specie« einer »Hinsicht« oder »Sicht« erfaßt wird - und daß umgekehrt solche Sicht sich nur an einem Substrat manifestieren kann. Bemerkenswert ist es nun, daß dieser Akt einer »symbolischen Ideation« für Cassirer schon im Falle der durchschnittlich so ge-nannten Wahrnehmung vorliegt. So bekundet sich nach Cassirer in jedem »Wahrnehmungserlebnis« das, was er »symbolische Prä-gnanz« nennt, d.h. »jene Art, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen »Sinn« in sich faßt und ihn zu unmittelbarer Darstellung bringt« (PhsF III , S. 235). Diese Eigenheit des Wahrnehmungserlebnisses wird nun in dem, was Cassirer die »symbolischen Formen« nennt, gleichsam ausdrücklich kultiviert. Oft genug nennt Cassirer diese Formen, die symbolischen Formen, eine Welt der Bilder, die sich gleichsam zwischen uns und die sogenannte Wirklichkeit schiebt und durch die wir die Wirklichkeit erst erfassen, aber eben als ein »symbolisches Universum«.2 Aber diese Überlegungen Cassirers sind durch eine unvermeidliche metaphorische Redeweise charakte-risiert; denn eigentlich darf der kritische Idealist eine solche Unter-scheidung zwischen der Welt und der Welt der Bilder gar nicht treffen. Und so wehrt er sich auch immer wieder gegen eine hypo-stasierende Trennung zwischen Symbol und Gegenstand.3 »Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in Einem: sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschauli-cher Form sich äußert.« (PhsF III , S. 450). »Es ist nicht die Natur des Bildes, sondern die zugleich freie und gesetzliche Natur des Bil -dens«, um die es hier geht (WWS, S. 183), eine Funktion, die sich vor allem als »Stil« erfüllt.

1 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Darmstadt 1958 (= PhsF III) , S. 155f.

2 Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissen-schaften (1921/22), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956 (= WWS), S. 175; vgl. ders., An Essay on Man. An Introduction toa Philosophy of Human Culture, New Haven/London 1944, 21972, S. 200, 221.

3 Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (Göteborg 1942), Darmstadt 1961, S. 31.

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Die Anschaulichkeit der symbolischen Formen, des Inbegriffs unseres Wirklichkeits-Universums, eines symbolischen Univer-sums, seine Bildhaftigkeit - ist so eigener Art , daß man sie auch wieder als »nichtanschaulich« oder als »über-anschaulich« bezeichnen kann. Genau das ist es, was wi r in der Lektüre erfahren und auspro-bieren. Ihre Bildwelten und Anschaulichkeiten haben einen merk-würdig schwebenden Charakter: Die Welt der Lektüre ist immer >irgendwie< bildhaft, aber auch zugleich immer irgendwie bedeut-sam, jedenfalls nie das eine ohne das andere. Ihre Anschaulichkeit scheint vor allem in der Lebendigkeit des Vollzugs durch den Leser zu bestehen, aus »toten« Buchstaben »eine Welt« entstehen zu lassen, d.h. Texte als graphische Daten so zu buchstabieren, daß wir sie als Erfahrung (eine Welt) lesen können. »Sich etwas vorschweben lassen zu können« (vgl. Hua III , S. 107), überhaupt die »Fiktion« ist »das Lebenselement der Phänomenologie« (Hua III , S. 163), so schreibt Husserl. Was Husserl noch rein erkenntnistheoretisch meinte, wird bei Cassirer schon näher an die »Fiktion« im Sinne der Literatur herangerückt. Denn für ihn sind symbolische Formen, als Inbegriff des symbolischen Universums, eine Ar t Sprachen, Idiome, wie er sagt, deren Grammatik er sucht.1

Damit ist aber auch sinnfällig geworden, was wir oben andeuteten, nämlich daß Cassirer den Kantischen und Diltheyschen Begriff der Lektüre vereint. Im Diltheyschen Sinne sind die symbolischen For-men Kulturdimensionen, als welche uns unsere Welt begegnet; im Kantischen Sinne spricht Cassirer aber auch von symbolischen Funkt ionen, die das operative Motiv des Lesens berühren. Ich wil l diesen letzten Punkt - zum Schluß - für die Bestimmung meines Lektürebegriffs erläutern.

U m die operative Strukturgesetzlichkeit der symbolischen Formen im Sinne einer symbolischen Formung zu charakterisieren, unter-scheidet Cassirer drei symbolische Funktionen: Ausdruck, Darstel-lung, reine Bedeutung.2 Unter Ausdruck versteht er den elementaren Grundverhah oder das »Urphänomen«, daß ein sinnliches Substrat gleichursprünglich mit einem Sinn erfaßt wird und umgekehrt, ohne

1 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache (1923), Darmstadt 1956 (= PhsF I), S. 19.

2 Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Ernst Cassirer. Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, Hamburg 1985 (21995), S. 1-21, bes. S. 4ff., S. 8ff.

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daß die beiden Momente bewußt unterschieden werden. Darstellung besteht in der bewußten Nutzung der Unterscheidbarkeit von Sub-strat und Sinn. Sie begründet damit die sachlich-gegenständliche, objektive Orientierung. Gleichzeitig aber eröffnet sie die Möglich-keit des Spiels mit Ideen und ihrem Verhältnis zu Substraten. Es ist nach Cassirer die Kunst, insbesondere die sprachliche Kunst als Literatur, die dieses Spiel kultiviert. Unter reiner Bedeutung versteht Cassirer den formalen Umgang mit Wirklichkeiten, in welchem eine weitgehende Lösung vom Substrat erfolgt; Musterbeispiel ist ihm der mathematische Kalkül - aber auch das, was er Stil nennt (vgl. WWS, S. 183,187).1

Bemerkenswert ist es nun, daß nach Cassirer alle Kultur und alle Kulturentwicklung sich zwischen den beiden »Extremen« Ausdruck und reiner Bedeutung vollzieht und daß es gerade die Aufgabe der Kunst ist, ein »ideales Gleichgewicht« zwischen diesen beiden Ex-tremen herzustellen.2 Damit wird die Kunst zu einem Paradigma menschlicher Lebensformen als Kultur.

Die so gekennzeichneten symbolischen Funktionen legen es nahe, daß sie, auch als einzelne, nicht statisch, sondern dynamisch verstan-den werden müssen. Gerade in der Literatur zeigt sich das in beson-derem Maße: Als Darstellung ist die Literatur nämlich zugleich auch Ausdruck. Das besagt: Die Lektüre muß eine Ansicht vermitteln, die wie der Ausdruck die Qualität einer Einheit von Substrat und Sinn suggeriert; dennoch behält sie den Charakter des bewußten Oper ic-rens, gleichsam des Arrangements von Substrathaftigkeit und Sinn-haftigkeit und impliziert insofern die Funktion des Stils (der also nicht hypostasiert werden darf). So hatte Cassirer auch in seinem Aufsatz Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geistes-wissenschaften von 1921/22 die an Goethes Aufsatz von 1789 orien-tierte Trias von Nachahmung, Manier und Stil für seine Zwecke eingeführt. Später wendet er dieses Schema in einem Essay über Thomas Manns Goethe-Bild an.3 Was Goethe-Bild hier besagt, ent-

1 Interessanterweise sieht Cassirer in diesem auf die Geisteswissenschaften bezoge-nen Aufsatz eine Erfüllung des Stilprinzips gerade in Einsteins Relativitätstheorie.

2 Vgl. Ernst Cassirer, Form und Technik (1930), in: Orth (Hg.), Ernst Cassirer. Sym-bol, Technik, Sprache, a. a. O, S. 39-90, bes. S. 86; vgl. S. 84.

3 Vgl. Ernst Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar, in: The Germanic Review Vol. XX (New York 1945), S. 166-194; jetzt auch in Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Geist und Leben. Aufsätze Ernst Cassirers zu den Lebens-ordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Leipzig 1993.

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spricht genau dem, was wir mit dem Bild- oder dem Bedeutungs-raum angezielt haben.

Um jenes Weltbild oder jene Welt-Anschauung, für die Cassirer die allgemeine Bezeichnung »symbolische Formen« benutzt, funktio-nal zu bestimmen, hat er also eine triadische Funktionsformel einge-führt, die aber ihrerseits in unterschiedlicher Gestalt zum Ausdruck gebracht oder dargestellt werden kann. Neben der Trias von »Aus-druck, Darstellung, reiner Bedeutung« finden wir diejenige von »Nachahmung, Manier, Stil«, übrigens 1923 auch die von »mimi-schem, analogischem und symbolischem Ausdruck« (PhsF I, S. 134 ff.). Es ist offenkundig, daß sich damit nicht nur die symbolischen Formen selbst als »metaphorisch« erweisen; auch die Begrifflichkeit ihrer funktionalen Bestimmung erscheint metaphorisch.1 Damit fällt aber von dieser symbolischen Funktionsbestimmung her auch ein interpretierendes Licht auf die von mir oben eingeführte triadische Informationstypik (von Mikro-, Meso- und Makro- oder zentri-schen Informationen). Die Mikro-Information beispielsweise, die wir auf der Ebene der symbolischen Funktionen dem Ausdruck zuordnen müssen, kann also eigentlich nie als bloßes, völlig sinnfrei-es Datum gefaßt werden. Vielmehr vereinigen sich im Datum immer schon Substrat- und Sinnqualitäten, so wie sich zentrische Bedeu-tungshorizonte eröffnen. Was kulturell einmal als Meso-Informa-tion erarbeitet ist, kann in die Funktion der Mikro-Information transponiert werden, um neue Lektüresysteme zu erarbeiten.

Der paradigmatische Fall des Spiels all dieser Funktionen, die verschiedene Benennungen zuzulassen, wenn nicht zu fordern schei-nen, ist die Lektüre, die Lektüre als tatsächlich vollzogene Kultur-praxis und Kulturtechnik. Cassirer zeigt dies folgerichtig übrigens nicht mehr sosehr durch die Theorie als vielmehr durch die Praxis der Art von philosophischer Literatur, die er produziert. Die sprach-lich literarische Darstellung ist für ihn der Rahmen, der auch seine theoretischen Bestimmungsversuche umfaßt und verständlich macht, sowie seine Auffassung von Wirklichkeit als einer gelebten Kultur praktisch ermöglicht und manifestiert.

Eine solche Sicht der Dinge scheint eine Gefahr zu implizieren, die Rüdiger Bubner in seinem Essay-Band Ästhetische Erfahrung unter den Titeln Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen und

1 So illustriert Cassirer die symbolischen Funktionen an dem durchaus metaphori-schen Modell des Achsenkreuzes; vgl. Cassirer, Das Symbolproblem, a. a. O., S. 9.

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Asthetisierung der Lebenswelt durchaus einsichtig gemacht hat.1

Diese Problematik würde uns jedoch ein neues Thema eröffnen, das im Zusammenhang dieses Beitrages nicht mehr behandelt werden kann. Die Nennung von Gefahren ist freilich noch kein Beweis gegen die Unhintergehbarkeit des ästhetischen Spiels für die Etablierung der entwickelten Lebensform, die wir Kultur nennen. Wahrheitsan-sprüche aber entfalten sich immer aus solcher Kultur. Zu erörtern, was hier möglich ist, würde eine gründliche Diskussion des Kultur-begriffs, seiner unterschiedlichen Dimensionen und ihres Verhält-nisses zueinander sowie des Sinnes der Konvertierbarkeit des Kul-turbegriffs mit dem Wirklichkeitsbegriff erforderlich machen.

1 Vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 99 passim, S. 143 passim.

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HEINZ PAETZOLD

Kunst und Reflexion

M ein Beitrag läßt sich demjenigen Teil des Diskurses der Ästhe-tik zuordnen, welchen man mit Kunsttheorie überschreiben

könnte. Obwohl es vielleicht etwas künstlich klingen mag, aber über Art und Bedingungen der ästhetischen Erfahrung soll es nur am Rande oder doch zumindest nur in zweiter Instanz gehen.

Um hier schon die Stoßrichtung meiner Überlegungen anzudeu-ten: Im ersten Teil dieses Beitrages werde ich systematische und historische Motive angeben, die es geraten erscheinen lassen, in den Begriff oder die Theorie der Kunst heute ein spezifisches Wissen aufzunehmen, das man konzeptionelles Wissen nennen könnte. Es ließe sich auch etwas vorsichtiger mit konzeptioneller Kenntnis umschreiben. Mi t diesem Begriff wil l ich, das ist die Absicht, dem Reflexivwerden der modernen und der postmodernen Kunst gerecht werden.

Im zweiten und dann im abschließenden dritten Teil meines Bei-trages werde ich versuchen, den Begriff einer konzeptionellen Kunst einzuschreiben in eine symboltheoretisch transformierte Transzen-dentalphilosophie. Fragen des Rückbezuges einer solchen Gestalt von Philosophie auf den Typus Kantischer Philosophie selbst oder auf den Typus einer kommunikationstheoretisch transformierten Transzendentalphilosophie werde ich hier nicht weiter behandeln1.

Ich will vielmehr nur dem'Entwicklungspfad der Philosophie der symbolischen Formen von Cassirer zu Goodman nachgehen. Hier werde ich zu zeigen versuchen, daß Cassirers Begriff der Kunst im Sinne einer symbolischen Form sowie Goodmans Theorem einer Symptomatik des Ästhetischen nur dann etwas ausrichten können, wenn man sie in einen systematisch einsehbaren Zusammenhang mit der Problematik des Konzeptionellen zu bringen vermag. Diese

1 Vgl. mein Buch Ästhetik der neueren Moderne, Stuttgart 1990, S. 125ff.; vgl. auch meinen Aufsatz Die beiden Paradigmen der Begründung philosophischer Ästhetik, sowie die Diskussionen Kunstkonzeption und Urbanität, in: Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, hg. v. Franz Koppe, Frankfurt a. M. 1991, S. 270-295 bzw. 388-401.

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194 HEINZ PAETZOLD

Verklammerung ist nötig, soll vor allem das zeitdiagnostische Poten-tial künstlerischer Hervorbr ingungen nicht hinterrücks dem syste-matisierenden Zugriff der Philosophie zum Opfer fallen.

I

Jürgen Habermas1, Hans Robert Jauß2, Marshall Berman3 und Peter Bürger4 zufolge steht die Moderne unter dem Gesetz, ein Verständ-nis der eigenen Zeit, der »Jetzt-Zeit«, um Benjamin zu zitieren, zu erarbeiten, das weder in der vorbildlichen Kraft der historischen Frühzeit noch in solchen als »klassisch« geltenden Epochen ihr normatives Richtmaß findet. Modern sein, heißt gesteigert, der eige-nen Gegenwart zugewendet leben und aus der Gegenwart selbst die Bedingungen des Denkens und des Handelns herzuleiten. Das Be-wußtsein der Moderne ist ein Bewußtsein der Krise, das sich speist aus der Erfahrung des Dahinschwindens von stabilen Traditionen. Das Bewegungsgesetz der Moderne ist das der Entzauberung vor-mals geltender Normen des Lebens. Entzauberung, Ausdifferenzie-rung, Rationalisierung: Das sind zentrale Schlüsselbegriffe mit und über Max Weber hinaus, wil l man die Modernisierung im Sinne eines sozialen und zugleich kulturellen Prozesses verstehen und beschrei-ben.

Die Künste emanzipieren sich seitdem 18. Jahrhundert sukzessive aus der Botmäßigkeit von Kirche und Hof und kündigen Ende des 19. Jahrhunderts das zwischenzeitliche Bündnis mit dem Bürgertum auf. Die Künste emanzipieren sich vom Handwerk, ohne doch dadurch Lohnarbeit zu werden, wie Kant schon sah. Die Kunst selbst wird - wie man mit Cassirer sagen kann - eine »symbolische Form«. Sie verfügt fortan über eine ihr eigene Geschichte. Sie wird universell, was die Geltung und die Gegenstände und Themen der Werke betrifft.

Mi t dem Ende des 19. Jahrhunderts kommt dieser Prozeß der Ausdifferenzierung zu einem ersten Resultat. Die Kunst trit t ein in die Phase der Selbstreflexion oder der »Selbstkritik«, wie man mit Bürger sagen kann5.

1 Vgl. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985. 2 Vgl. Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1972, S. 11 ff. 3 Vgl. All that is Solid Melts into Air. The Experience of Modemity, New York 1982. 4 Vgl. Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974; Zur Kritik der idealistischen

Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983. 5 Bürger, Theorie der Avantgarde, a. a. O, S. 65.

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Wenigstens ist es seit der klassischen Moderne, die man etwa in die Zeitspanne von etwa 1890 - 1930 datieren kann, mit der Spiegelung der Künste in den idealistischen Entwürfen der Philosophie vorbei. Die Künste verschaffen sich eigene Formen und Instanzen der Selbstverständigung über ihre Praxis. Hatte der Begründer der neu-zeitlichen philosophischen Ästhetik, hatte Alexander Gottlieb Baumgarten das Band zu den Disziplinen der Poetik und Rhetorik noch nicht gänzlich zerschnitten und damit die Ästhetik in einem Kontinuum mit den Reflexionsformen der künstlerischen Praxis halten können -seit Kant, Schelling und Hegel war es damit definitiv vorbei. Die auf Systemgestalten drängende Philosophie hatte die Ästhetik unabhängig und vielfach im Gegenzug zu den poetischen Reflexionen der Literaten und den Reflexionen der bildenden Künstler entwickelt. Die Integration der Ästhetik in den Corpus der philosophischen Wissenschaften gelang nur um den Preis der Ab-schottung gegen die Theorien der Künstler selbst1.

Romantische Künstler wie Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich hatten zunächst zwar noch ihre Selbstverständigungen in Fühlung mit der in Führung gegangenen Philosophie durchführen können. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Allianz von Kunst und Philosophie vorbei, sieht man von Wagner und Schopenhauer sowie dem subkutanen Einfluß Nietzsches auf die Künste einmal ab. Ich nehme stilisierende Vereinfachungen in Kauf.

Seit der klassischen Moderne wenigstens tauchen Künstlertheo-rien, in denen Künstler Bedingungen und Ziele ihrer eigenen Praxis reflektieren, in gesteigertem Maße auf. Darunter seien Texte von Künstlern verstanden, worin diese sich Rechenschaft ablegen von ihrer eigenen Praxis. Der Form nach kann es gehen um Briefe, Essays, Manifeste, Statements, Vorträge, Gespräche, Vorlesungen, Interviews, Tagebücher. Man denke nur an die bunte Schar von Texten aus der Feder von Vincent van Gogh, Paul Cezanne, Theo van Doesburg, Piet Mondrian, Wassily Kandinsky, Paul Klee, von den Surrealisten und Futuristen, von der Gruppe »Cobra«, Barnett Newman, Ad Reinhardt, Meret Oppenheim, Henti Matisse, Asgar Jörn, Will y Baumeister und - um wenigstens einige markante Ge-genwartskünstlerinnen zu nennen - Bruce Nauman, Joseph Kos-suth, Donald Judd, Sol Lewitt, Franz Erhard Walther, Niek Kemps,

1 Vgl. mein Buch Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne, Wien 1990, S. 211-219.

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Marlene Dumas, Judy Chicago, Raimer Jochims, Jenny Holzer, Peter Halley u.a.1.

I m deutschen Sprachbereich hatten die Neomarxisten Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno auf der einen und Arnold Gehlen auf der anderen Seite versucht, den philosophischen Diskurs der Ästhetik zu unterfüttern mit den Mentalitäten der in ihrer Zeit maßgeblichen Kunstströmungen des Expressionismus, des Surrealismus, der Zwölftonmusik, des Kubismus, de Stijl, des Kon-struktivismus und des Bauhauses.

Es wäre nun freilich allzu gewagt, zu behaupten, daß die ästheti-schen Theorien der genannten Autoren lediglich Systematisierungen von Künstlertheorien wären. Sind doch bei den Neomarxisten Rückbezüge auf Stadien der klassischen Ästhetiken des deutschen Idealismus nicht von der Hand zu weisen. Für Adorno und Bloch sind Kant und Hegel, Hegel und Schopenhauer ständig präsente Reflexionspartner. Andererseits sind aber auch Künstlertheorien -aus der Schönberg-Schule, von Klee und Baudelaire - als Subtexte Referenzpunkte der Theoriebildung. Außerdem ist das Formbe-wußtsein der eigenen jeweiligen Theorie zweifellos sensibilisiert an den Kunstströmungen der Zeit.

Diesen für uns schon historischen Theoriestrang möchte ich hier systematisch aufgreifen. Ich wil l die philosophische Ästhetik in ein Kont inuum bringen zu den Künstlertheorien. Die Künstlertheorien können und sollen die Quellbasis sein für das Konzeptionswissen. Ich wil l nicht behaupten, daß das Gewahrwerden von Kunstkonzept io-nen ausschließlich der Lektüre von Künstlertexten sich verdanken muß. Unter Umständen mag das Konzeptionelle auch aufgehen in der Konfrontat ion mit den Werken selbst.

Auf jeden Fall scheint mir der Begriff des Konzeptionellen geeig-net zu sein, das Reflexivwerden der Künste heute in den Blick zu nehmen. Künstlerinnen und Künstler der verschiedensten Richtung haben seit den Tagen der klassischen Moderne bis zur heutigen Postmoderne mit diesem Begriff gearbeitet und ihn benutzt. Dane-ben wurde der Begriff in verschiedenen ästhetischen Theorien schon verwendet. Gehlen ist zu nennen mit seiner an Daniel-Henry Kahn-weiler entlehnten Formel der »peinture conceptuelle«, Max Bense

1 Für heutige Beispiele vgl. Blasted Allegones. An Anthology ofWriüngs by Contem-porary Artists, ed. by Brian Wallis, foreword by Marcia Tucker, New York and Cambridge, Mass. 1987 und: Ik geef mezelf de hortzon. Kunstenaarsteksten tussen theorte en filosofie, Amsterdam 1992.

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hat den Begriff gebraucht, aber auch Pierre Bourdieu sowie Susanne K. Langer.

Meiner Meinung nach erstrecken sich konzeptionelle Fragen heu-tigen Kunstschaffens auf den kulturellen Daseinssinn der Kunst, außerdem auf die jeweiligen bildnerischen internen Problemstellun-gen, ferner auf die Frage nach der spezifischen Organisation von Werken, schließlich auf das Verhältnis des jeweiligen Kunstentwurfs zur Geschichte der Kunst. An dieser Stelle meines Beitrages wil l ich den Begriff des Konzeptionellen vorläufig erläutern und konturie-ren. Später im dritten Teil werde ich zeigen, daß auch eine symbol-theoretische Fassung der Kunstphilosophie auf ihn angewiesen ist.

II

Um Kunstwerke heute zu verstehen, ist es nicht unerheblich, zu realisieren, welchen kulturellen Geltungssinn sie beanspruchen. Werke etwa von Joseph Beuys werden nur verständlich, wenn sie rezipiert werden als Beispiele für »soziale Plastik«. Die leitende Idee ist dabei, daß die Kunst mit immanent stringenten bildnerischen Formsprachen zugleich in politische und soziale Symboliken effek-tiv eingreift. Die Ausdifferenzierungen der modernen Kultur in Kunst und Politik, Kunst und Wissen sollen zwar nicht rückgängig, wohl aber ihre Grenzen gegeneinander motiviert durchlässiger ge-macht werden1.

Performances und Video-Aktionen von Ulrike Rosenbach wollen die Symbolik der überlieferten westlichen Kunst als eine maskulin prädisponierte enthüllen. Wenn Rosenbach auf ein Foto von Stephan Lochners Bild Madonna im Rosenhag in ihrer Arbeit Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin aus dem Jahre 1975 mit einem Pfeil schießt, dann soll damit symbolisch die Bildformung der Frau als eine durch Männer dominierte dekonstruiert werden2. Luce Irigaray zufolge hat die Frau in der westlichen Kultur lediglich die Funktion eines emotionalen Residuums für die Produktion des Mannes. Alles kommt aber Irigaray und Kristeva zufolge darauf an, die tradierten Bilder der Kunst als Bilder aus Männerperspektiven zu enthüllen,

1 Vgl. meinen Aufsatz Kunst als soziale Plastik, in: Kunst + Unterricht, Heft 159, 1992, S. 16,17,56.

2 Vgl. Heide Göttner-Abendroth, Die tanzende Göttin. Prinzipien einer matriarcha-len Ästhetik, München 1982, S. 137.

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um Raum zu schaffen für eine symbolische Repräsentation des Femininen und um damit die Kultur zu erneuern1.

U m eine genuin postmoderne Konstellation zu benennen: Kunst im öffentlichen Raum könnte heute nach dem Durchspielen aller Möglichkeiten der Kunstautonomie neu legitimiert werden als Form »heautonomer« Kunstpraxis. Mi t dieser Kant entlehnten Formel hat Michael Lingner ein neues Verständnis der Auftragskunst für öffent-liche Räume umschrieben und dabei das seinerzeit von Starnberger Phi losophen entwickelte »Finalisierungsmodell« der Naturwissen-schaften (Gernot Böhme, van der Daele, Wolfgang Krohn) auf die Kunstproblematik appliziert.2

Zur Verdeutl ichung des zweiten Aspektes des Konzeptionellen, die jeweiligen bildnerischen Probemstellungen betreffend, kann ich mich in stenographischer Abkürzung auf Lyotard berufen. Lyotard zufolge läßt sich die Entwicklungslogik der modernen Malerei hin zur Postmoderne rekonstruieren als thematische Problematisierung jeweils spezifischer Facetten von Bedingungen des Malens. Dadurch daß die Malerei die diversen Bedingungen des Malens zum Thema der Kunst erhebt, wird das jeweils gesellschaftlich herrschende Mo-nopol der symbolischen Darstellungsformen entkräftet. Lyotard nennt die folgenden Aspekte: »Le ton local, le dessin, le melange des couleurs, la perspective lineaire, la nature du support et celle de l ' instrument, la »facture«, l'accrolage, le musee«3. Zu deutsch: »Lo-kalton, Zeichnung, die Mischung der Farben, die Linearperspektive, die Ar t des Trägers und des Arbeitsmittels, die Machart, die Hän-gung, das Museum.«

Um eine etwas kompliziertere Story einfach zu halten: Zur Kon-zeption der »Fauves« gehört die Anfechtung eines zwingenden Junkt ims von Bildgegenstand und dazugehörigem Kolorit . Bei Da-niel Buren wird das Museum als der Ort der Repräsentation von Kunst thematisiert und probematisiert.

Zum Verständnis von Kunstwerken heute gehört eine konzept io-nelle Einsicht in die Spezifik der Werkgenese. Es ist oft nicht unwich-tig, sich klar zu machen, ob Werke in Zyklen, Serien, Reihen, Mo-dellen sich realisieren. Zur Konzeption konstruktivistischen Kunst-

1 Vgl. The Irigaray Reader, ed. by Margaret Whitford, Oxford and Cambridge, Mass. 1991, S. 53ff., 118ff.; The Kristeva Reader, ed. by Toril Moi, Oxford 1990, S. 187ff.

2 Vgl. Michael Lingner, Art asa System within Society, in: Place Position Presentation Public, ed. by Ine Gevers, Jan Van Eyck Akademie Maastricht, Amsterdam 1993, S. 109-122

3 Jean Francpis Lyotard, Le Postmoderne explique aux enfants, Paris 1988, S. 27.

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Schaffens gehört die Annahme, daß eine bildnerisch ergiebige »Idee« in einer endlichen Anzahl von Exemplaren einer Serie auszuschöp-fen ist. Zu des jüngeren Franz Erhard Walthers Konzept ion des »Immateriellen Werkes« gehört die Auffasung, daß der Künstler nur »Werk-Zeuge«, d.h. gewissermaßen Instrumente zu liefern hat, de-ren sich die Rezipienten zu bedienen haben, um modellhaft leibbe-zogene räumliche Erfahrung zu realisieren1.

Serie, Zyklus, Reihe, Modell: Mi t derartigen Konzept ionen für Werkgenesen fechten die Künste experimentierend die Auffasung an, derzufolge das eine stabile, in sich abgeschlossenen Werk die Intention des singulären Künstlerindividuums verkörpert. Das in-dessen war das Kunstpendant zur Idee des neuzeitl ichen individuel-len Schöpfergottes, der sich in der einen Welt darstellt und spiegelt.

Konzeptionelle Fragen der Kunst erstrecken sich nicht allein auf Fragen nach dem kulturellen Daseinssinn der Kunst und d.h. auch nach dem Künstlertum, nach den bildnerischen Ausgangspunkten und nach der Werkgenese, sondern konzeptionelle Reflexionen be-treffen auch die Haltung, welche ein Kunstentwurf gegenüber der Kunstgeschichte einnimmt.

Raimer Jochims' Konzeption der Identitätskunst wil l die denota-tiv nach außen verweisende, die »Identif ikationskunst«, außer Gel-tung setzen. Dies geschieht durch eine derartige Organisat ion der bildnerischen Mittel , daß wir betrachtend nicht mehr zwanghaft nach außerbildlichen Korrelaten fachen, sondern daß die Bi ldwahr-nehmung ihrer selbst reflexiv inne wird in den Akten ihrer in der Zeit sich erstreckenden Vollzüge.

Um zwei aktuelle Beispiele zu geben: War bei Jochims noch die dezidiert moderne Vorstellung führend, derzufolge die Kunstge-schichte als eine unterirdisch wirksame Fortschrittsgeschichte von der Identifikationskunst zur Identitätskunst zu verstehen ist, so bietet Jonathan Lasker ein postmodernes Paradigma. Jonathan Las-ker bringt die gestische Malhandlung lediglich in einem begrenzten Bildausschnitt zur Geltung. Damit geht er in Distanz zu einer heute existentiell nicht mehr verpflichteten Kunstauffassung. Das All -Ovcr-Prinzip wird preigegeben, das doch bei Malern wie de Koo-ning oder Pollock noch konstitutiv war und auch das Ethos anarchi-stischer Rebellion verkörperte. Durch den meist rosigfarbigen Bild-

1 Vgl. zuletzt: Das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von F. E. Walther, hg. von Michael Lingner, Klagenfurt 1990; vor allem die Beiträge von Growe, Schenker, Kasprzik, Helms.

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grund, von dem sich der »wilde« gestisch gemalte Ausschnitt abhebt, wird bei Lasker die geschichtliche Differenz als eine des unbestimm-ten Abstandes, nicht jedoch des Fortschrittes markiert.

Die Installation Transparency of Forms (1989) der englischen Künstlerin Andrea Fisher besteht aus minimalistischen, Judd-nach-empfundenen metallenen Kästen, die als Reihe an einer Wand ange-bracht sind. Darüber ist ein übergroßes Schwarz-Weiß-Foto zu sehen, das man im ersten Zusehen als ausgebreitete Gesichtsland-schaft wahrnimmt. Erst bei weiterem Hinsehen entpuppt sich diese Körperlandschaft als ein zerfetzter Körper. Das Foto gibt sich als ein Kriegsfoto zu erkennen. Offensichtlich geht die Künstlerin in eine schroffe Distanz zu dem Pathos der Reinheit und der leiblichen Affektlosigkeit der Minimal Art . Das modernistische Pathos der glatten Reinheit zergeht vor der dämmernden Atmosphäre des kör-perlich sich meldenden Schreckens.

II I

In dem nun folgenden Teil meines Beitrages geht es mir darum, mit Cassirer und Goodman die Basis zu legen für eine symboltheoreti-sche Kunstphilosophie für heute. Später werde ich in diese meinen Konzeptionsbegriff einschreiben.

Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zunächst geht es darum, so etwas wie einen Cassirer und Goodman verbindenden Denkhori-zont freizulegen. Sodann sollen einige explizite Erwägungen Cassi-rers zur Kunst folgen. Schließlich wil l ich diese in eine Goodmansche Beleuchtung rücken und vice versa.

IV

Die Philosophie Cassirers in ein Kont inuum zu derjenigen von Nelson Goodman zu bringen, setzt voraus, in Cassirers komplexem Denken einige Züge gewissermaßen einzuklammern. In Cassirers Philosophie gibt es sicher Hegeische Denkansätze, denen zufolge eine interne Entwicklungslogik die symbolischen Formungen durchwirkt. Außerdem kann man eine berühmte Stelle im Essay on Man*, derzufolge der Mensch, wie Cassirer sagt, zwischen sich und

1 Ernst Cassirer, An Essay on Man. An lntroduction to a Philosophy of Human Cul-ture, New Haven 1944, S. 25. Deutsche Übersetzung: ders., Versuch über den Men-schen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 50.

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die Welt das Reich des Symbolischen schiebt und daß die Menschen in den Symbolen weit eher sich selbst begegnen, statt der Wirklich-keit gewissermaßen ungeschützt ins Antlitz zu sehen, diese Stelle kann man in die Richtung eines kritischen Realismus von Peirce-schem Geist lesen wie aber auch als Ausdruck des Nominalismus, wie das übrigens Helmut Kuhn einst tat1. Man kann Cassirers Ansatz aber auch mit Goodmanscher Optik als nominalistischen »Kon-struktionalismus« deuten. Ich gebe nur einige wenige Hinweise für diese Sicht:

1. Cassirers Einführung des Reihenbegriffs schon in seinem Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 behauptet die kon-struktive Funktion von Begriffsreihen und impliziten Definitionen im Gegenzug zu der klassischen, auf Aristoteles zurückdatierenden Theorie des Begriffs. Letztere bleibt konstitutiv an eine Ontologie der »substantiellen Formen« gebunden. Sie taugt nicht mehr dafür, die neuzeitlichen Naturwissenschaften und die Mathematik sagen wir seit Galilei, Descartes und Leibniz angemessen zu deuten2.

Begriffe stehen in Feldern und Reihen zueinander. Ihre Frucht-barkeit bemißt sich daran, Wirklichkeitsregionen zu vernetzen, d. h. zu »konstruktionalen Systemen« - wie Goodman sagt3 - zu gelan-gen. An die Stelle des alten korrespondenztheoretischen Begriffs von »Wahrheit« und Erkenntnis treten die Postulate von »nghtness«4, von Kohärenz, Stringenz und Stimmigkeit. Deduktion und Induk-tion sind in Wahrheit funktionale Wcchsclbegriffe. Hypothesen der Wissenschaften sind Mittel, um Fakten zu ordnen eher als ihnen letzte Deutungen überzuwerfen. All e Beobachtungen sind immer schon theoriegeleitet. Sie erfüllen bei der Konstruktion kohärenter Ordnungen eine funktionale Rolle.

2. Seit der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen For-men in den zwanziger Jahren gilt für Cassirer die Annahme als unhintergehbar, daß wir uns immer schon in Symbolkreisen befin-den. Wir können lediglich die eine symbolgestcuerte Interpretation der Wirklichkeit an einer anderen, ebenfalls symbolabhängigen In-

1 Vgl. Helmut Kuhn, Ernst Cassirers Kulturphilosophie, in: Paul Arthur Schilpp (Hg.), Ernst Cassirer, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 404-430.

2 Vgl. zu Cassirer mein Buch Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993, sowie mein Buch Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994.

3 Ways of Worldmaking, Hassocks, Sussex 1978, S. 13. 4 Vgl. Nelson Goodman and Catherine Z. Elgin, Reconceptions in Philosophy and

other Ans and Sciences, Indianapolis/Cambridge 1987, S. 155ff.

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terpretation messen. Einen neutralen Standpunkt außerhalb gibt es nicht, weder substantielle Formen noch erfahrungsunabhängige »Dinge an sich«. Cassirers Charakterisierung etwa des Mythos durch Strukturen wie Polysynthesen, Sympathieformen, Metamor-phosen, die Dichotomie von Heiligem und Profanem könnte man als Vorstudien zu einer Theorie des Mythos im Sinne eines Symbol-schemas lesen, obwohl Goodman selbst der Mythostheorie Cassi-rers bekanntlich wenig abgewinnen konnte1. Mi t einem Wort: Cas-sirer mit Goodmans Opt ik zu lesen, bedeutet, seine Philosophie der symbolischen Formen konsequent als konstruktiven Relationalis-mus, wenngleich nicht als Relativismus zu interpretieren.

3. Goodman wie Cassirer unterstreichen, daß schon die sinnliche Wahrnehmung das Resultat einer aktiven Formung ist. Cassirers Intuition der »symbolischen Prägnanz«, zweifellos inspiriert durch die Gestaltpsychologie, wil l deutlich machen, daß alle sinnlichen Wahrnehmungen immer schon aus Sinnperspektiven hervorgehen. Akte der Akzentuierung, Rhythmisierung, Hervorhebung sind an dem Aufbau von Wahrnchmungsfeldern konstitutiv beteiligt. We-nigstens ist es nicht so, wie man bestimmten Kant-Deutungen fol-gend meinen sollte, daß das spontane Denken einem amorphen Material sinnlicher Eindrücke aufgeprägt wird. Die symbolische Ideation ist schon auf der Ebene der Wahrnehmung wirksam. Frei-lich bleiben alle Ideationen stets offen für fortschreitende und ver-feinernde Verarbeitungen. Cassirers wie Goodmans philosophisches Interesse gilt den Transformationen, den Verschiebungen, kurz: den dynamischen Aspekten unseres an Symbolen sich entlang tastenden Verstehens.

4. Cassirers Definition des Schlüsselbegriffs seiner Philosophie, der »symbolischen Form«, als »Energie des Geistes«, wodurch ein »geistiger Bedeutungsgehalt« immer an »Zeichen« geknüpft ist und diesem Zeichen »innerlich zugeeignet wird«2, ist in der Sprache Wilhelm von Humboldts formuliert. Diese Definition betont die dynamische Seite des Symbolischen, die tätige Arbeit gegenüber dem fertigen Werk. Außerdem unterstreicht diese Definition, daß alle Prozesse des Denkens stets auf Darstellungsmedien angewiesen sind, um artikuliert werden zu können. Schließlich trit t aber auch zutage, wenn man den weiteren Kontext beachtet, daß unser Verste-hen des Symbolischen nicht ausschließlich am Leitfaden der verbalen

1 Goodman, Ways of Worldmaking, a. a. O., S. 1. 2 Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 175.

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Sprache zu orientieren ist. Alles das sind durchaus Goodmansche Themen, behauptet dieser doch, daß die Gleichung, derzufolge »de-piction« und »description« von derselben Ordnung seien, nicht aufgeht.

Man könnte selbst Cassirers berühmte Trias von Ausdrucksfunk-tion, Darstellungsfunktion und Bedeutungsfunktion, die der analy-tischen Klärung der symbolischen Formen untereinander dient, mit Goodmans Augen sehen. Dann handelt es sich um Symbolschemata, welche Weisen der Kohärenz, der Organisation und Stringenz be-zeichnen. Während allerdings Goodmans Blick auf ihre intern logi-schen Strukturen fällt, wo immer diese sich zeigen, arbeitet Cassirer noch mit der Annahme von mehr oder wenigen stabilen, wenn auch nicht mehr substantiellen Formen. Sie sind es, die unsere Verarbei-tungen der Erfahrungsströme steuern und lenken. Goodman erweist sich als der konsequentere Funktionalist, während Cassirer am Kon-zept der Form festhält.

V

Cassirer deutet die symbolische Form der Kunst als Ausdifferenzie-rung des Mythos. Die »Krise« des Mythos als eine »Dialektik« von »Bild« und »Bildbewußtsein« führt einerseits in die moralische Re-ligion und andererseits in die die symbolische Welt der Bilder reflek-tierende Kunst.

Cassirers symboltheoretische Deutung der Kunst als Ausdrucks-funktion könnte man mit Goodmans Interpretation von Ausdruck als metaphorische Exemplifikation analytisch schärfen und konkre-tisieren1. Die Metapher ist eine Verschiebung der Rcferenzklassen und bewegt sich in der Dimension der Denotation. Die Exemplifi-kation dagegen ist eine dazu diametral anders gerichtete Weise der Referenz. Sie ist das Besitzen von Eigenschaften und zugleich das Fokussieren einiger davon. Ausdruck faßt also zwei Operationen zusammen. Eine selbstreferentielle Operat ion schiebt sich über ein Referenzschema, dieses selber in seinem Geltungsbereich dynamisch verändernd und modifizierend.

In anderer, Cassirerscher Terminologie: Die Kunst ist der sein eigenes symbolisches Medium reflektierende Mythos. Während der Mythos seine Bilder schöpft im symbolischen Medium ohne Bre-

1 Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 94ff.

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chung, schafft die Kunst Distanz zu ihm, indem sie der Welt der Bilder ihren magischen Bann nimmt.

VI

Cassirers explizite Ausführungen zur Kunst im Essay on Man kön-nen auf die folgenden Gesichtspunkte gebracht werden. Erst mit der Kritik der Urteilskraft sei ein stringenter Nachweis für die »Auto-nomie der Kunst«1 geführt worden, und zwar bezüglich der kogni-tiven Erkenntnis wie auch bezüglich der Sphäre der Moral.

Die kognitive Leistung der Kunst darf weder als Nachahmung der äußeren Welt noch als Nachahmung der inneren Welt eines Künst-lerindividuums verstanden werden. In Goethes Formulierung der »charakteristischen Kunst« sieht Cassirer den Rettungsanker. Die Expressivität des Künstlerindividuums muß rückgebunden werden an objektive Werte. Cassirers Fazit: »Like all the other symbolic forms art is not the mere reproduction of a ready-made, given reality. I t is one of the ways leading to an objective view of things and of human life. It is not an imitation but a discovery of reality«2.

Auch Goodman gewinnt seine Theorie der bildlichen Repräsen-tation aus einer (Meta)Kritik dessen, was in der Tradition Mimesis hieß. Goodman argumentiert gegen die Annahme, daß zwischen Bil d und Dargestelltem eine Ähnlichkeitsrelation bestünde. Wäh-rend die Ähnlichkeit eine symmetrische und reflexive Relation ist, ist bildliche Darstellung denotative Referenz, und diese ist nicht von der Ähnlichkeit her konzipierbar.

Außerdem macht Goodman gegen die Deutung, derzufolge bild-liche Repräsentation als ein Abbildungsverhältnis gedacht werden kann, geltend, daß wir auf Bildern nicht nur »Etwas«, sondern »Etwas« als etwas (Bestimmtes) erfassen3. Das könnte man in Paral-lele setzen zu Cassirers »Charakteristischem«. Beim Lesen von Bil -dern machen wir nicht allein Gebrauch vom Sehen daß, sondern auch und vor allem vom Sehen als.

Oft ist nämlich gar nicht genau klar, was Bilder darstellen. Dann sehen wir uns genötigt, Bilder allererst zu klassifizieren. Wir fragen

1 Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 212. 2 Cassirer, Essay on Man, a. a. O., S. 143. 3 Goodman, Sprachen, a. a. O., S. 21.

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nach der Art der Bilder1. Hier kommt Goodman dem nahe, was ich Konzeption nennen will . Die Konzeption legt den Spielraum der ästhetischen Erfahrung fest, ohne diese damit auch schon insgesamt zu determinieren.

Aber folgen wir zunächst noch ein Stück Cassirer. Die Fähigkeit des Entdeckens von Wirklichkeit kann noch nicht das entscheidende Kriterium der Kunst sein. Entdeckend sind alle symbolischen For-men, sofern sie ja aktive Auseinandersetzungen der Menschen mit der Welt sind. Cassirer sagt daher, daß die Kunst auf die Formen der Wirklichkeit gerichtet ist, und zwar fixiert die Kunst, wie Cassirer mit Goethe sagt, die höchsten Momente der Erscheinungen. Die ästhetische Erfahrung ist, wie Cassirer wörtlich ausführt, »pregnant with infinite possibilities which remain unrealized in ordinary sense experience«2.

Die Verdächtigungen der Kunst von Piaton bis Tolstoi, daß sie die moralische Ordnung untergräbt, sofern sie die Affekte und die Leidenschaften erregt, sind Cassirer zufolge unangebracht. Erstens geht es in der Kunst um dargestellte und damit distanzierte Leiden-schaften. Zweitens führt die ästhetische Erfahrung eher zu einer, wenn auch dynamischen Haltung der Ruhe. Man hat das meistens mit dem Begriff der Kontemplation fassen wollen. Drittens geht es selbst bei Satiren und Komödien nicht um moralische Urteile, son-dern die »comic catharsis«3 führt eher zur sympathetischen Vision des menschlichen Lebens statt zu dessen Verurteilung.

Goodman wie Cassirer gehen in Distanz zu romantischen Abso-lutheitstheoremen des Ästhetischen. Bei Goodman führt ein histo-rischer und kultureller Relativismus das Wort. Bei Cassirer ist die Annahme des Relationalismus der symbolischen Formen führend.

Goodman wie Cassirer verstehen die ästhetische Erfahrung als intellektuellen kognitiven Genuß, nicht als sinnlichen Hedonismus etwa im Sinne Santayanas. Auch wird von beiden Autoren eine Verabsolutierung der »ästhetischen Intuition« im Stile Bergsons oder im Sinne von Nietzsches Dionysischem kritisiert. Kunst ist weit eher ein Kräftespiel von Rationalität und Intuition4. Für Cassirer ist die Kunst darauf gerichtet, eine sonst unentdeckte »order in the

1 A. a. O..S. 43. 2 Cassirer, Essay on Man, a. a. O., S. 145. 3 A. a. O . S. 150. 4 Goodman, Sprachen, a. a. O., S. 252; Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O.,

S. 248ff.

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apprehension of visible, tangible, and audible appearances«1 darzu-bieten. Während wir im Alltag zumeist an dem Kausalnexus der Dinge unser pragmatisches Handeln orientieren, geht es in der Kunst um das »rerum videre formas«2 in einem Reichtum von Aspekten und Nuancen, den der schnelle Alltag gerade immer wieder reduzie-ren muß.

VI I

Es dürfte schon überdeutlich geworden sein, daß Goodmans Ästhe-tik sich in eine Cassirersche Fluchtlinie bringen läßt. Und doch weist Cassirers Insistenz auf der Formenwelt der Erscheinungen in die Richtung der Tradition zurück, während Goodmans Symptomatik des Ästhetischen heutigen Bedingungen der Kunst eher gerecht zu werden scheint. Syntaktische Dichte (syntactical density), semanti-sche Dichte, syntaktische Völle (syntactical completeness), Exempli-fikation und multiple Referenzketten sind die Aspekte für die rast-lose ästhetische Suche nach Verstehen.

Goodman unterstreicht immer wieder, daß wir bei heutiger Kunst weit eher auf die Art der Symbole als auf ihre denotative Referentia-lität verwiesen sind3. Wir blicken nicht durch die Symbole hindurch, sondern haften an ihrer Opazität. Nur so kommt der Reiz der ästhetischen Erfahrung zustande, den Goodman als eine »Mitte« bezeichnet hat »auf dem Weg vom Unverständlichen zum Offen-sichtlichen«4.

VII I

Nun kann ich den Bogen zu meinem Ausgangspunkt schlagen. Meine These ist, daß die Symptomatik des Ästhetischen von Good-man in Geltung bleibt; und doch ist eine Umgrenzung angezeigt. Sie kommt durch das Konzeptionelle zustande.

Goodman betont zurecht, daß heute nicht mehr sinnvoll nach dem »Was« der Kunst, sondern nur noch gefragt werden kann: »Wann ist Kunst?« Das aber schließt ein Vertrautsein mit Konzep-

1 Cassirer, Essay on Man, a. a. O., S. 168. 2 Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 260. 3 Goodman, Ways of Worldmaking, a. a. O., S. 69. 4 Goodman, Sprachen, a. a. O., S. 260.

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t ionen ein. Sonst ist das Kräftige und Gewagte von der Wiederholung nicht unterscheidbar. Sagt doch Goodman selbst, daß etwa Dichte definiert sein muß1. Sonst verpufft nämlich der Anreiz zu fortwäh-renden Such- und Sondierungsbewegungen. Hier hat genau der Konzeptionsbegriff seine Stelle. Er umgrenzt die Erfahrung der Kunst und zeichnet ihr einen Spielraum vor, ohne sie damit vollstän-dig auszuschöpfen. Goodmans Kriterium schließlich der multiplen Referenzketten ist ohne den Einschuß konzeptioneller Kenntnis nicht vorstellbar.

Gadamer hatte einst gemeint, eine starke Trumpfkarte zu ziehen, als er in einer Rezension zu Gehlens Buch Zeit-Bilder dessen Autor vorwarf, das Plädoyer für konzeptionelle Kunst laufe auf eine Ver-wissenschaftlichung hinaus. Aber dieses Argument hat doch an Überzeugungskraft eingebüßt. Lebt es doch von einer antinomi-schen Gegenstellung von methodischer wissenschaftlicher For-schung einerseits und ungebundener hermeneutischer Erfahrung andererseits. Mi t Goodman ließe sich sagen, daß schlüssiger die Annahme des Relationalismus ist. Entscheidend sind Kontraste, Akzente, Verschiebungen anstelle von substantiell ausdefinierten Bereichen.

Zum Schluß lediglich noch ein Beispiel, das aber als Argument entfaltet werden könnte. Um das Werk etwa von Cindy Sherman angemessen verstehen und würdigen zu können, muß man wissen, daß sie selbst in den unterschiedlichen Kostümierungen und Haltun-gen vor der Kamera posiert hat. Es gehört eben zur Konzeption Shermans, das historisch überlieferte Verhältnis: Frau posiert als Modell vor dem männlichen Maler, dem Malerfürsten, umzukehren. Konsequenterweise arbeitet Sherman mit einem Selbstauslöser. Sie fotografiert sich selbst, entzieht also den weiblichen Körper dem kulturellen Schema des sehenden und malenden Mannes. Ohne Kenntnis dieses konzeptionellen Einsatzes bleiben die Fotos stumm. Interessanttrweisc verlieren die Fotos aber auch nichts von ihrer Eindringlichkeit, wenn man die Konzeption kennt. Das Hinschauen wird vielmehr durch eine spezifische Form des Wissens stimuliert.

1 Goodman, Sprachen, a. a. O., S. 254

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IX

Meine Ausführungen können in den folgenden Thesen zusammen-gefaßt werden:

1. Das Verstehen von zeitgenössischer Kunst setzt so etwas wie konzeptionelles Wissen oder konzeptionelle Kenntnis voraus. Wäh-rend die orthodoxen Hermeneut iker sich auf die Annahme zurück-ziehen, daß Verstehen Verstandenhaben voraussetzt, plädiere ich für die Einführung des Konzeptionsbegriffs. Am Ende wäre zu fragen, ob nicht der hermeneutische Zirkel filier t bleibt an traditionelle Kunstauffassungen, sagen wi r des »organischen Werkes«. Außerdem scheint die Hermeneut ik stabile Traditionen vorauszusetzen. Die konzeptionelle Reflexion dagegen rechnet mit der Permanenz von Krisen und Umbrüchen als Signaturen des Modernen.

Der Konzeptionsbegriff gewinnt Konturen, indem man die Texte der Künst ler innen studiert. Geben diese doch Auskunft über die spezifischen Einsätze der jeweiligen Kunst. Aber die Werke illustrie-ren keine Konzept ionen, sondern sind eher deren Realisationen. Die philosophische Ästhetik sollte sich zu dem öffnen, was man Künst-lertheorien nennt.

2. Der Konzeptionsbegriff läßt sich einer symboltheoretischen Facettierung der Kunstphi losophie einschreiben. Kunst als eine Wei-se der Welterzeugung, der man nur auf die Spur kommt, wenn man sich an die internen Symbolstrukturen hält. Da sich die Weisen der Welterzeugung nicht in prinzipieller Hinsicht auseinanderhalten lassen, sondern nur hinsichtlich des Ausmaßes der Dominanz von Symbolsystemen, entfallen die ausschließenden Gegenstellungen von Rationalität und Intuit ion, von Gefühl und Denken.

Aber die Spezifik der Symbolisation läßt sich nur gewahren, wenn sie gewissermaßen als provisorische Eingrenzung gedacht wird. Es ist der Konzeptionsbegriff, welcher den Spielraum der ästhetischen Suchbewegungen umgrenzt, ohne diese vollgültig zu determinieren. Bourdieu hat durchaus recht, wenn er die Konzeption als eine Ar t Code versteht. Aber mit der Kenntnis des Codes ist die Eigenart des Ästhetischen nicht ausgeschöpft. Hier ist das Feld dessen, was Goodman die Symptome des Ästhetischen genannt hat.

3. Gerade die postmoderne Kunst bestätigt die Fruchtbarkeit der Annahme des Konzeptionellen. Hat te man früher denken können, daß eine gegen die Tradition gerichtete, neuartige Bildsprache, wie sie von den klassischen Modernen entwickelt worden war, zu ihrer Legitimation gewissermaßen der abstützenden Reflexion bedarf, so

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KUNST UND REFLEXION 209

zeigt die Kunst in ihrer postmodernen Phase neue Facetten des Umgangs mit dem Konzeptionellen. Das Konzeptionelle verliert seine vormalige Verschränkung mit dem Prinzipiellen. Postmoderne Werke zeigen das »Zittern« des Konzeptionellen. Die Referenzen auf das Moderne werden komplexer; denn das Moderne ist realisiert worden. Nun geht es um das Ertragen des Modernen, nicht mehr nur um dessen Durchsetzung.

4. Gerade dann, wenn man es als die Aufgabe der Ästhetik ansieht, die Kunst als Indikator der Zeitdiagnose zu würdigen, scheint die von mir vorgeschlagene Einschreibung des Konzeptionsbegriffes in eine symboltheoretische Fassung der Kunsttheorie angebracht. Goodmans Frage nach dem »Wann« der Kunst läßt sich lesen als Verarbeitung von Krisenerfahrungen. Aber selbst des späten Cassi-rers Einsicht in die Krisenhaftigkeit des Symbolverstehens — sie resultiert aus der nicht gesicherten Stellung der symbolischen For-men zueinander - dürfte nicht allzu fern stehen von Goodmans Kehre vom »Was« zum »Wann«.

Um jedoch das Spezifische der Diagnose zu gewahren, muß man das Konzeptionelle als den Motor des Symbolischen zu verstehen lernen. Wir wollen ja nicht immer nur wissen, wie es immer war, sondern als Moderne wollen wir des »Jetzt« in seiner aktuellen Signatur inne werden. Die Bilder der Kunst zehren von der Sehn-sucht, absolut gegenwärtig zu sein.

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3-

DIE REFLEXIVITAT

DES KÜNSTLERISCHEN BILDES

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LORENZ DITTMAN N

Bild und Reflexion im >Konstruktivismus<

ie verhalten sich Bil d und Reflexion bei Malewitsch und Mondrian, den Begründern einer radikal gegenstandslosen

Kunst? Bei beiden wird Reflexion konstitutiv für die Erscheinung des

Bildes. Beide aber thematisieren in ihren Theorien »Realität« un-gleich intensiver als »Bild«.

1927 erschien in der Reihe der »Bauhausbücher« die Publikat ion von Kasimir Malewitsch Die gegenstandslose Welt. Im ersten Teil dieses Buches, betitelt Einführung in die Theorie des additionalen Elementes der Malerei, behandelt Malewitsch auf eine reichlich naiv anmutende Weise das Verhältnis der Kunst zu der Umgebung, in die sie eingebettet ist. »Futuristen und Kubisten« sind, wie Malewitsch feststellt, »ausgesprochene Großstädter. Sie sind vol lkommen auf die Energie der Stadt, der Großindustr ie, konzentr iert und spiegeln ihre straffe, dynamische Geometrik wider. Das Stampfen der Maschinen, die rasenden Räder ... gehören zu der inspirierenden Umgebung ihres metallischen Schaffens«.

Über die »inspirierende Umgebung (»Realität«) des Akademikers« hingegen führt Malewitsch aus: »Ein Maler der Cezanneschen Kul -tur wird dagegen immer aus der Großstadt hinausstreben; ihm ist der Bauer und das »Land« nicht fremd. Besondere Vorliebe zeigt er jedoch für die Vorstadt und die mittleren Provinzstädte. Es ist somit anzunehmen, daß man eine weit höhere Leistungsfähigkeit bei einem Maler erreichen könnte, wenn man ihn stets in der entsprechenden Umgebung arbeiten ließe. So müßte z. B. die Gruppe der Cezannei-sten eine Akademie außerhalb der Großstadt haben, denn in der Provinz würde ein Maler dieser Gruppe am wenigsten der Einwir-kung ihm wesensfremder Elemente ausgesetzt sein und brauchte seine Kräfte nicht zu verschwenden. Er könnte mit geringerem Kraftaufwand stärkere Werke schaffen.«

Di e dem »Suprematismus«, also Malewitschs eigener Kunst, »ent-sprechende Umgebung« schließlich »ist durch die neuesten Errun-

w

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2 l 6 LORENZ DITTMAN N

genschaften der Technik, insbesondere der Aviatik gegeben, so daß man den Suprematismus auch den »aeronautischen« nennen könn-te...«

In scheinbar schroffem Widerspruch zu dieser Auffassung ent-wickelt der zweite Teil dieser Abhandlung, unter dem Titel Supre-matismus, die neue eigene Kunsttheorie Malewitschs. Der Künstler definiert: »Unter Suprematismus verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst. - Vom Standpunkte des Suprematisten sind die Erscheinungen der gegenständlichen Natur an sich bedeutungslos; wesentlich ist die Empfindung-als-solche, ganz unabhängig von der Umgebung, in der sie hervorgerufen wur-de.«

Was aber für den Suprematismus gilt, gilt in einem weiteren Sinne für alle Kunst, denn, so Malewitsch, »der bleibende, tatsächliche Wert eines Kunstwerks (welcher »Schule« es auch immer angehören mag) liegt ausschließlich in der zum Ausdruck gebrachten Empfin-dung. - ... Eine gegenständliche Darstellung-an-sich (das Gegen-ständliche als Zweck der Darstellung) ist etwas, was mit der Kunst nichts zu tun hat, jedoch schließt die Verwertung des Gegenständli-chen in einem Kunstwerk den hohen künstlerischen Wert desselben nicht aus.

Für den Suprematismus ist... immer jenes Mittel der Darstellung das gegebene, das die Empfindung-als-solche möglichst voll zum Ausdruck bringt und das Gewohnte der Gegenständlichkeit igno-riert ...«

Und noch einmal: »Die Empfindung ist das Entscheidende ... und so kommt die Kunst zur gegenstandslosen Darstellung - zum Suprc-matismus.

Sie gelangt in eine »Wüste«, in der nichts als die Empfindung zu erkennen ist.«

»Sinnbild« dieser »Wüste« ist für Malewitsch das Schwarze Qua-drat auf weißem Feld von 1913, das im genannten Buch in einer Zeichnung mit dem Titel Das grundlegende suprematistische Ele-ment reproduziert wurde.

Malewitsch schreibt dazu: »Die Wüste aber ist erfüllt vom Geiste der gegenstandslosen Empfindung, der alles durchdringt. - Auch mich erfüllte eine Ar t Scheu bis Angst, als es hieß, »die Welt des Willens und der Vorstellung« zu verlassen, in der ich gelebt und geschaffen hatte und an deren Tatsächlichkeit ich geglaubt hatte. Aber das beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandslosigkeit riß mich fort in die »Wüste«, wo nichts als die Empfindung Tatsäch-

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BILD UND REFLEXION IM »KONSTRUKTIVISMUS« 217

Abb. 1: Kasimir Malewitsch, Die erste aus dem Quadrat entstandene suprematisti-sche Form. 1913. Aus: Kasimir Malcwitsch, Die gegenstandslose Welt (1927),

Mainz, Berlin 1980, S. 68.

lichkeit ist. ... - und so ward die Empfindung zum Inhalte meines Lebens. - Es war dies kein »leeres Quadrat«, was ich ausgestellt hatte, sondern die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.«

Weshalb jedoch ein Quadrat, ein schwarzes Quadrat, zum »Sinn-bild« dieser »Wüste«, zum Träger einer »Empfindung der Gegen-standslosigkeit« werden konnte, dazu äußert sich Malewitsch nicht. Stillschweigend vorausgesetzt wird hier die Einfachheit der Form, ihre Entwicklung aus dem quadratischen Bildformat, der einfache Kontrast von Schwarz (in der Zeichnung: Grau) zu Weiß, vielleicht auch die Konnotation von Schwarz als Dunkelpol der Farben.

»Empfindung« ist für Malewitsch untrennbar verbunden mit »Bewegung«. Die in sich bewegte Struktur der Zeichnung des

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Abb. 2: Kasimir Malewitsch: Das verlängerte suprcmatistische Quadrat. 1913. Aus:A. a. 0 . , S . 71.

Schwarzen Quadrats mag darauf verweisen. Sie wird jedoch verbal nicht reflektiert.

Vor allem aber entwickelt Malewitsch die weiteren suprematisti-schen Elemente als Bewegungsformen des Quadrats:

den Kreis durch Drehung des Quadrats als »die erste aus dem Quadrat entstandene suprcmatistische Form«. Bezeichnenderweise befindet sich der Kreis nicht mehr im Zentrum der Bildfläche, sondern schwebt links oben. Damit werden - stillschweigend -bildnerische Gewichtsdifferenzen veranschaulicht (Abb. 1),

das stehende Rechteck als Bewegungsbahn des Quadrats: »Das verlängerte suprematistischc Quadrat«, auch hier durch den Zei-chenduktus dynamisiert (Abb. 2),

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Abb. 3: Kasimir Malewitsch: Das zweite suprcmatistische Element. 1913. Aus: A. a. O., S. 69.

schließlich das Kreuz als horizontal-vertikale Durchkreuzung der Bewegungsbahnen zweier Quadrate, - Das zweite suprcmatistische grundlegende Element (Abb. 3).

Daß einfache geometrische Formen Bewegungsiormen sein kön-nen, wird von Malcwitsch ohne ausdrückliche Reflexion vorausge-setzt.

Ich komme zurück zum Verhältnis des ersten zum zweiten Teil des genannten Buches. Der Widerspruch zwischen »Empfindungs-lehre« und »Widerspiegelungstheorie« löst sich, wenn man erkennt, daß Malewitsch auch alle praktischen Tätigkeiten und Geräte als aus der »Empfindung« entstanden auffaßt.

Er schreibt: »Es ist nichts als die Empfindung der Schnelligkeit...,

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des Fluges ... - die, indem sie nach einer Gestalt - einer Form - suchte, das Flugzeug entstehen ließ. Denn das Flugzeug ist nicht dazu erbaut, um Geschäftsbriefe von Berlin nach Moskau zu tragen, sondern um dem unwiderstehlichen Triebe der gestaltwerdenden Empfindung »Schnelligkeit« Folge zu leisten.«

»Die Empfindungen des Sitzens, Stehens oder Laufens sind vor allem plastische Empfindungen, die die Entstehung der entsprechen-den »Gebrauchsgegenstände« veranlassen und auch ihre Gestalt im wesentlichen bestimmen. Der Stuhl, das Bett, der Tisch sind nicht Zweckmäßigkeiten, sondern die Gestalt plastischer Empfindungen, so daß der allgemein üblichen Ansicht, alle Gegenstände des tägli-chen Gebrauchs seien das Resultat praktischer Erwägungen, falsche Voraussetzungen zugrunde liegen.«

Ja, noch weiter greift Malewitsch aus, wenn er die Thesen aufstellt: »Aus der Empfindung Gottes entstand die Religion - und aus der Religion die Kirche. - Aus der Empfindung des Hungers entstanden die Begriffe der Zweckmäßigkeit - u nd aus diesen Begriffen: Gewer-be und Industrie.«1

»Empfindung« ist somit für Malewitsch das Grundlegende, das Ursprüngliche schlechthin, und die dem Buch Die gegenstandslose Welt beigegebenen Abbildungen von Zeichnungen sind insofern höchst aufschlußreich, als sie immer auf »Empfindungen« verwei-sen:

»Komposition suprematistischcr Elemente (Empfindung des Flu-ges)«, mit einer schwebenden, diagonal ausgerichteten Kreuzform, die noch an ein Flugzeug erinnern mag (Abb. 4),

»kombinierte suprematistische Komposition (Empfindung me-tallischer Laute - dynamisch; blaß - metallische Färbung)«: eng gereihte Schrägformen scheinen im Aneinanderstoßen Laute auszu-senden, Laute in Form von Zickzacklinien, Geraden oder Kurven.

»Suprematistische Komposit ion (Empfindung des Stromes. Tele-graphie)« mit Linien, die an Morsezeichen erinnern. »Suprematisti-sches Element des Verklingens«: eine Graufläche löst sich in das Weiß hinein auf.

»Suprematistische Komposition (Empfindung magnetischer An-ziehung)«: eine langgezogene Schrägform zieht kleinere, stabförmi-ge Elemente in ihren Bann.

1 Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt. Mit einer Anmerkung des Heraus-gebers und einem Vorwort von Stephan v. Wiese. Neue Bauhausbücher, Mainz, Berlin 1980, S. 58, 59, 65, 66, 72, 74, 96, 86.

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Abb. 4: Kasimir Malcwitsch: Komposition suprematistischer Elemente (Empfindung des Fluges). 1914-15. Aus: A. a. O, S. 79.

»Suprematistische Komposition (Empfindung des Weltalls)«: ver-klingende Bogenformen, Gerade und Durchkreuzungen schweben fern im Weiß des Bildgrunds.

Ähnlich, noch stärker reduziert: »Suprematistische Komposition (Empfindung des Weltraumes)«.

Und schließlich die »Suprematistische Komposition (Empfin-dung einer mystischen »Welle« aus dem Weltall)«: ein zartes Linien-kreuz, umhüllt von verklingendem Grau, verharrt wie ortlos im Weiß (Abb. 5).

Die Titel lösen sich zunehmend vom Konkreten. Entsprechendes vollzieht sich in den Bildzeichen, die sich einsenken in das umfas-sende Weiß.

Spontan mag man die Entsprechung von »Bildzeichen« und der in Titeln angezeigten »Realität« empfinden, - Malewitsch themati-

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L O R E N Z DITTMANN

Abb. 5: Kasimir Malewitsch: Suprematistische Komposition (Empfindung einer mystischen »Welle« aus dem Weltall). 1917. Aus: A. a. O., S. 93.

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siert solche Entsprechung nicht, er gibt sich nicht Rechenschaft über den »Ausdruckswert« der einzelnen Zeichen, über deren Ort im Bildfeld, über die Struktur der Bildfläche, - im Gegensatz z. B. zu Kandinskys 1926 erschienener Untersuchung Punkt und Linie zu Fläche, die den Untert i tel trägt: Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente.

Malewitschs Untersuchungen, wie sie sich etwa in der Theorie des additionalen Elementes in der Malerei darstellen, sind anders orien-tiert, historisch, behandeln den Übergang von der gegenständlichen Kunst über den Kubismus zur gegenstandslosen Kunst.

Das künstlerische Schaffen aber vollzieht sich nach Malewitsch unbewußt. Er wird nicht müde, dies zu wiederholen: »Die aus einer Empfindung entstehende künstlerische (malerische) Auffassung der linearen, zweidimensionalen und räumlichen Erscheinungen stützt sich nicht auf eine verstandesmäßige Erkenntnis des zweckmäßigen Zusammenhanges dieser Erscheinungen; sie ist gegenstandslos und unbewußt und bildet vom Standpunkt des Verstandesmäßigen ge-wissermaßen eine »blinde, unkontrol l ierte Norm«.«1 — »Das Schöp-ferische vollzieht sich außerhalb der Erkenntnis, in blindem Wirken und auch das nur unter der Bedingung, daß dieses Wirken keinen Beeinflussungen durch die äußeren Verhältnisse ausgesetzt ist.« -»Das Wirken des Künstlers ist. .. einem Wirbelwind zu vergleichen inmitten der Fülle der Erregungen.« »Ein wirklicher Maler gleicht in seiner Erregung dem All , das aufleuchtet und erlischt, nicht etwa, weil ihn eine Stimmung erfaßt hätte ..., sondern ... durch die eine Urerregung, die keine Unterschiede kennt.«2

Der Künstler wird gewissermaßen zum Medium der kosmischen Erregung. In Malewitschs 1922 verfaßtem Manuskript Suprematis-mus als Gegenstandslosigkeit heißt es: »Die suprematistische Kunst offenbart in allem die Erregung und den kosmischen Zusammen-hang aller Erregungserscheinungen«. - Was in anderen Texten »Empfindung« hieß, »Empfindung, die im Menschen lebendig wird«, wird nun »Erregung« genannt und auf den ganzen Kosmos übertragen.

»Das Weltall oder der Kosmos erscheint mir«, so Malewitsch, »als eine unendliche Zahl von Kraftfeldern, die sich um ihre Erregungs-

1 A. a. O., S. 18. 2 Kasimir Malewitsch, Suprematismus - Die gegenstandslose Welt, übertragen von

Hans von Riesen, Köln 1962, S. 60, 83, 86.

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Zentren drehen ...« Diese Bewegung bestimmt alle Erscheinungen der Natur und der Kultur, prägt Farben und Materien.

»Jedes Material und jede Kraft hat (nach Malewitsch) ihre eigene Farbe, und nur die farbige Ausstrahlung verändert ihre Intensität in den verschiedenen Zonen. Je mehr sich diese Ausstrahlung dem Erregunsgszentrum nähert, um so mehr wird sie von Schwarz oder Weiß absorbiert, wobei ich Schwarz und Weiß als die beiden äußer-sten Grenzen der Bewegungszustände, als höchste Kultur betrach-te.«

»In unserer Gesellschaftsordnung«, fährt Malewitsch fort, »hat die Intensität der Erscheinungen noch nicht den weißen Zustand erreicht. Erreicht wurde dieser Zustand bisher nur in der Kunst, und zwar im Suprematismus, im schwarzen und weißen Quadrat.«

Weiter Malewitsch: »Die Dynamik der Bewegung hat hier in ihrem Erregungszentrum die äußerste Grenze erreicht, an der sie sich zerstäuben muß, um dann,... als reales neues weißes Bewußtsein von einem Ring in den anderen überzugehen.«

»Daraus ersehe ich, daß die Kultur der Bewegungen aller Erschei-nungen von der härtesten Dichte und dem größten Gewicht über die verschiedenen Ringe oder Zonen immer mehr an Dichte und Ge-wicht verliert und einem Zustand zustrebt, den ich als den weißen Begriff des Suprematismus bezeichne. Auch alle Farben, die zwi-schen Schwarz und Weiß liegen, gehen durch die gleichen Ringe oder Zonen und geben den Formen der Gegenstände die entsprechende Färbung.«

Buntfarben sind für Malewitsch also nur Übergänge zwischen Schwarz und Weiß. Im Weiß findet der Suprematismus seine Erfül-lung. Der »neue Künstler«, der, nach Malewitsch, »die Natur als einen Kosmos der Erregung« erfährt, sieht auch eine »weiße Natur« voraus, eine »weiße Natur«, die »eine Ausweitung der Grenzen unserer Erregung« sein wird.1

So sind in allen suprematistischen Bildern die farbigen, dynamisch gespannten Formen eingebettet in einen weißen Grund, das an-schauliche Symbol von Gegenstandslosigkeit und räumlicher Uner-meßlichkeit. Schwarz verweist als Gegenpol auf dieses allumfassen-de Weiß. (Ein Beispiel dafür ist das Suprematistische Gemälde von 1915 im Stedelijk Museum, Amsterdam, Abb. 6)

»Bilder« dieses Weltbildes aber sind Malewitschs Werke nicht. Von »Ringen« oder »Zonen« etwa ist in ihnen nichts zu erkennen.

1 A.a. O..S. 207, 210, 211,217.

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4 X vv

1

Abb. 6: Kasimir Malewitsch: Suprematistisches Gemälde. 1915. Amsterdam, Stede-lij k Museum. Aus: Malcvich. Ausstellungskatalog der Berliner Ausstellung 1927,

Amsterdam 1970, S. 73.

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Und umgekehrt: Malewitsch reflektiert nicht das Geometrische der Formen seiner Bilder.

So stellt sich die Frage nach dem Ort dieser Werke im Verhältnis zur Theorie Malewitschs.

Diese Theorie zerfällt ja in zwei unterschiedliche Teile. Der erste stellt die Welt der Gegenständlichkeit und Zweckdienlichkeit radikal in Frage. In schärfster Form kritisiert er die technisch-praktische Welt.

Im zweiten Teil aber kommt Malewitsch wieder zu positiven, objektbezeichnenden Aussagen über die »gegenstandslose Welt«, Aussagen über »Erregungszentren«, »Ringe«, »Zonen«, usf."

Malewitschs Bilder »illustrieren« weder den ersten noch den zweiten Teil, sie stehen »zwischen« beiden.

Und sie speisen sich noch aus anderen Erfahrungen als in der Theorie benannten. So sehr Malewitsch auch sein Schwarzes Qua-drat als dramatischen Durchbruch zum »Suprematismus« betrach-tete, bestimmte Charakteristika seiner Kunst läßt schon sein Früh-werk erkennen.2

Auch Malewitsch begann ja als Maler der erscheinenden Natur in der Nachfolge des Impressionismus. 1904 malte er die Blühenden Apfelbäume (heute im Staatlichen Russischen Museum, St. Peters-burg). Ganz ins Weiß sind die beleuchteten Seiten der Baumstämme gehoben, ihre Eigen- und Schlagschatten erscheinen in lichtem Blau. Hinzu kommen helle Grün- und Braunrosa-Töne. Eine Besonder-heit aber zeichnet dies im weiteren Sinne »impressionistische« Ge-mälde aus: das ist die Verflechtung, die lineare Verkettung der Äste zu einem allseitig verknüpften Gespinst. Schon am konkreten Motiv blühender Apfelbäume erfaßte Malewitsch mithin die Na tur als einen in Bewegungsbahnen, in Kraftlinien gebundenen Zusammen-hang.

Veranschaulicht strahlendes Weiß hier noch das Licht der Sonne, so wird in der Landschaft mit gelbem Haus von 1906/07 (ebenfalls in St. Petersburg) Weiß zur Masse, zur Substanz, aufgetragen in pastosen Flecken. Dies Weiß verunklärt das gegenständliche Motiv.

1 Zur Theorie Malewitschs vgl. etwa Jiri Padrta, Kasimir Malewitsch - Einige Fragen und Bemerkungen zur Interpretation, in: Malewitsch - Mondrian. Konstruktion als Konzept. Alexander Domer gewidmet, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 1976, S. 39-49.

2 Farbabbildungen dazu etwa in: Troels Andersen, Malevich, Stedelijk Museum Am-sterdam 1970. - Kazimir Malevich. 1878-1935, Ausst. Kat. Russian Museum Le-ningrad, Tretiakov Gallery Moscow, Stedelijk Museum Amsterdam 1988/89.

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Es bildet den Grund für lichte, gelblich-bläuliche Streifen, in der Bildmitte wird es zum gitterförmigen Raster. Was ist gemeint? Schnee oder Fülle des Lichts - oder beides? Solche Studien machen deutlich, wie Malewitsch schon früh fasziniert war vom Weiß als Medium der Entwirklichung, der Befreiung von der Aufdringlich-keit des Gegenständlichen.

Spätere Bilder aber vermitteln eine geradezu gegenteilige Erfah-rung, die Erfahrung des In-sich-Verschlossenseins, der Schwere, des Gewichts. (»Gewicht« ist freilich auch ein Begriff, der in Male-witschs Reflexionen immer wieder auftaucht.1)

Auf der Bank, ein Bild von 1910 im Stedelijk Museum Amster dam, zeigt, anknüpfend an Möglichkeiten des Fauvismus, eine sit-zende, zusammengekauerte Gestalt, gegliedert und umschlossen von schweren Schwarzkonturen.

Im Bild Bauersfrau mit Kübeln von 1912 (ebenfalls im Stedelijk Museum) sind die Körper zu mächtigen, ungefüg wirkenden Volu-mina angewachsen, zugleich jedoch eigentümlich verklärt durch ein aus dem Dunkeln glühendes Rotorange.

Malewitschs »kubofuturistische« Phase vertritt der Holzfäller aus demselben Jahr und im selben Museum aufbewahrt. Hier schließen sich die Oberflächen in metallischer Härte und Glätte voneinander ab und werden im gleichen Maße zu Trägern einer übergegenständ-lichen, unruhig suchenden Bewegung. Die Farbe, irisierend von Weiß zu Schwarz, von Schwarz zu Weiß und Gelb, von Gelb zu Rot und Grün, verwandelt sich aus ihrer Modellierungsfunktion zum Indikator einer Energieumwandlung.

Der Kopf eines Bauernmädchens, ein Bild von 1912/13 im Besitz des Stedelijk Museums (Abb. 7), komprimiert, mit der Schärfung der Form, die Farben zu Energieschüben aus gelblich-orangetonigem Licht in ein düster-abgründiges, grünschwarzes Dunkel. Farben und Formen werden schon hier zu Erregungsträgern, veranschaulichen eine alle gegenständliche Begrenzung überflutende Kraftentfaltung.

Wie unmittelbar hat Malewitsch auch das Dichte, das Undurch-dringliche der Dinge erfahren! Davon legen seine aus dem Kubismus entwickelten Stilleben Zeugnis ab. Das 1913 entstandene Stilleben Musikinstrument/Lampe (im Stedelijk Museum) zeigt ein kompak-tes, kantiges, in seinen Verschränkungen wie zusammengebackenes Gebilde in dichten, aller Transparenz abholden Farben.

1 Vgl. etwa Malewitsch, Suprematismus, a. a. O, S. 41, 165, 167, 175, 219, 230, 231

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Abb. 7: Kasimir Malewitsch, Kopf eines Bauernmädchens. 1912/13. Amsterdam, Stedelijk Museum. Aus: Kazimir Malcvich 1878-1935, Katalog Moskau, Leningrad,

Amsterdam 1988/89, S. 90.

Ein Blick auf Georges Braques im selben Jahr geschaffene Collage Der Tisch des Musikers (aufbewahrt im Centre Pompidou) läßt dessen ganz andere Auffassung erkennen. Hier schweben die Schich-ten locker neben- und übereinander, unterschnitten von den Hell-dunkelzonen der »Passagen«. Das Dingliche löst sich in einen Fächer rhythmisch entfalteter Streifen von Braun- und Weißnuancen.

Es waren offenbar die gegensätzlichen Erfahrungen der Realität dinglicher Schwere, überdinglicher Kraftbahnen und einer im Weiß verdichteten Unermeßlichkeit des Lichts, die Malewitsch den Weg zum Suprematismus öffneten.

Auch in den seit 1915 einsetzenden »suprematistischen« Bildern (ein Beispiel ist das Suprematistische Gemälde, Acht rote Rechtecke, aufbewahrt im Stedelijk Museum, Abb. 8) stellen die Farbformen ja optische Gewichte dar, wirken dinghaft-dicht. Gegeneinander sind sie leicht verschoben, wie erfaßt von einem unsichtbaren Kraftfeld, das sich im Weiß des Grundes verbirgt.

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Abb. 8: Kasimir Malewitsch: Suprematistisches Gemälde, Acht rote Rechtecke 1915. Amsterdam, Stedelijk Museum. Aus: Malevich, a. a. O, S. 71.

Die scheinbar widersprüchlichen Erfahrungen sind so in ein Bild zusammengefaßt. Und es sind einfache geometrische Formen, in denen Farben und Kräfte zur Erscheinung kommen, geometrische Formen als Zeichen für Rationalität, einer Rationalität, deren Reali-tätsbasis Malewitsch, wie er selbst in seinem eingangs zitierten Sche-ma akzentuierte, in der technisch-industriellen Umwelt erfuhr, -die er jedoch als geometrische Formen nicht eigens reflektierte.

»Abstraktion« meint bei Mondrian etwas anderes als bei Male-witsch, nicht den Durchbruch zu einer schlechthin »gegenstandslo-

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sen Welt«, sondern die Darstellung der »großen Gesetze«, die die sichtbare Natur »verschleiert«.

Grundlage ist die sichtbare Wirklichkeit. Mondrian stellt fest: »Alles, was der nicht-gegenständlich malende Künstler von der Außenwelt aufnimmt, ist nicht nur nützlich, sondern unerläßlich, weil es ihm Anregung gibt, das zu schaffen, was er nur vage fühlt. Ohne diesen Kontakt mit der sichtbaren Wirklichkeit und dem Leben, das ihn umgibt, käme es zu keiner wahren Gestaltung. Auf die Realität ist es zurückzuführen, daß er malend objektiviert, was er seiner Subjektivität entgegenzustellen wünscht. So bestimmt die sichtbare Wirklichkeit seine Ausdrucksmittel; in der Beobachtung seiner Umgebung gewinnt er das, was aus ihm einen abstrakten Künstler macht.«1

Mondrians Aufsatz in Dialogform von 1919/20 Natürliche und abstrakte Realität beschreibt in immer neuen Wendungen diesen Prozeß des Abstrahierens. Hier heißt es etwa: »Die Ruhe dieser Landschaft ist so groß, weil die Horizontale und die Vertikale darin wirksam sind: die Beziehung der Positionen kommt in der natürli-chen Harmonie zur Erscheinung. Allerdings nicht in reinem Gleich-gewicht.«2 Und in seiner Essaysammlung Plastic Art andpure Plastic Art schreibt Mondrian: »Ich beobachtete die See, den Himmel und die Sterne. Ich suchte ihre plastische Funktion durch eine Vielzahl sich kreuzender Vertikalen und Horizontalen festzulegen. Beein-druckt von der Weite der Natur, versuchte ich immer wieder, ihre Ausdehnung, ihre Ruhe und Einheit auszudrücken.«3

Mondrians frühe Werke bezeugen diese Nähe zur Natur.4

Die Horizontl inie scheidet im Bild Die rote Wolke von 1907 (aufbewahrt, wie die folgenden Werke zumeist, im Gemeentemu-seum Den Haag) die lichte grüngraue Bodenzone vom hellen Blau des weiten Himmels, in dem eine orangetonige Wolke schwebt.

Das Vertikale, das Aufragen verdichtet sich in den Bildern des Leuchtturms von Westkapelle von 1909 - mit gleichsam neo-impres-sionistischer Teilung der Farbflächen in Farbpunkte -, und des Kirchturms von Domburg.

1 Zitiert nach: L. C. Jaffe, De Stijl. 1917-1931. Der niederländische Beitrag zur mo-dernen Kunst, Berlin, Frankfurt a. M., Wien 1965, S. 90.

2 Zitiert nach: Michel Seuphor, Piet Mondrian. Leben und Werk, Köln 1957, S. 304. 3 Zitiert nach Jaffe, De Stijl, a. a. O., S. 89. 4 Farbabbildungen hierzu etwa in: L. J. F. Wijsenbeek, Piet Mondrian, Recklinghau-

sen 1968.

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BILD UND REFLEXION IM »KONSTRUKTIVISMUS« 23 I

Abb. 9: Piet Mondrian: Blühender Apfelbaum. 1912. Den Haag, Gemeentemu-seum. Aus: L. J. F. Wijsenbeek, Piet Mondrian, Recklinghausen 1968, S. 61.

Andere Motive führen den Bildgegenstand bis zur Verwandlung in die kubistische Facettierung. Im Roten Baum von 1908 klingt noch etwas nach von Van Goghscher Expressivität und gleichwohl richtet er die in bläulichen Grund eingebetteten rotblauen Äste verhalten schon nach den Senk- und Waagrechten aus.

Dies systematisiert sich im Blühenden Apfelbaum von 1912 (Abb. 9). Ein bläulich-grautoniger Grund öffnet sich in eine Vielzahl bläu-licher, grünlicher, nach der Mitte zu ockerfarbener Lanzettformen. Die Unterscheidung von Bildgrund und Bildfigur, Bildraum und Bildgegenstand erscheint nahezu aufgehoben. Solche Aufhebung wird konstitutiv für Mondrians spätere, nur ihm eigene Bildform.

Einen Schritt weiter in der Angleichung von Bildgrund und Bild-figur führt dann die Ovale Komposition (Bäume) von 1913 (im Stedelijk Museum Amsterdam), und zugleich akzentuiert sie die horizontal-vertikale Ausrichtung des Bildmotivs. Die »Konstruk-tion« bildnerischer Verhältnisse geht einher mit der »Destruktion« des Bildgegenstandes.

In solchem Prozeß des Abstrahierens erkundet der Künstler zu-gleich die Möglichkeiten der bildnerischen Mittel, und zwar, auch dies anders als Malewitsch, systematisch, Schritt für Schritt.

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Abb. 10: Piet Mondrian: Komposition Nr. 3 mit Farbflächen. 1917. Den Haag, Gemecntcmuseum. Aus: A. a. O, S. 97.

1917 entsteht die Komposition mit Linien (Otterloo) mit einer schwebenden Zuordnung horizontal-vertikaler Mikro-Elemente,

im selben Jahr die Komposition mit Farbflächen (Den Haag, Abb. 10), die unter Verzicht auf lineare Gliederungsmittel zartfarbige Rechtecke, schwebend vor Weiß, zum Ausgleich bringt,

1917 schließlich auch die Komposition in Farbe (Otterloo) mit der Synthese von schwarzen Linienstücken und buntfarbigen Rechtek-ken, die einander stellenweise überschneiden.

1918 vereinen sich die Linienstücke zu längeren Horizontalen und Vertikalen, etwa in der Komposition mit Farbflächen und grauen Konturen in Zürich, aber noch nicht zu solchen, die das ganze Bildfeld durchziehen.

Dies geschieht erst 1919, in Werken wie der Komposition Dame-brett, helle Farben (Den Haag, Abb. 11). Ein horizontal-vertikaler, enggeführter Raster systematisiert nun das Bildfeld, wird jedoch von den zarten Farben in freien Rhythmen verlebendigt.

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BILD UND REFLEXION IM »KONSTRUKTIVISMUS« 233

Abb. 11: Piet Mondrian: Komposition Damebrett, helle Farben. 1919. Den Haag, Gemeentemuseum. Aus: A. a. O., S. 101.

Damit ist die Voraussetzung geschaffen für die Werke der »neuen Gestaltung« im eigentlichen Sinne.

Mondrian definierte in dem Band Neue Gestaltung, Neoplastizis-mus, Nieuwe Beelding, erschienen 1925 als fünftes der »Bauhausbü-cher«, Kunst als den »bildlichen Ausdruck unseres ganzen Wesens«. Was ist darunter zu verstehen? »Unser ganzes Wesen«, so Mondrian, ist sowohl »das Unbewußte und das Bewußte, das Unbewegliche und das Bewegliche; entstehend und Form wechselnd in wechseln-der Aktion. Diese Aktion enthält alles Leid und alles Glück des Lebens, - das Leid entsteht durch fortgesetzte Scheidung, das Glück durch immerwährende Erneuerung des Veränderlichen. Als Unbe-wegliches steht über allem Leid und allem Glück - das Gleichge-wicht.«

Und Mondrian fährt fort: »Durch unser Unbewegliches ver-schmelzen wir uns mit allen Dingen. Das Veränderliche zerstört unser Gleichgewicht, es trennt und scheidet uns von allem, das anders ist als wir. - Aus diesem Gleichgewicht, dem Unbewußten

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und dem Unbeweglichen, entsteht die Kunst. Sie erhält sichtbaren Ausdruck durch das Bewußtwerden. Daher ist die Erscheinung der Kunst der gestaltete Ausdruck des Unbewußten und des Bewußten. Er zeigt den Zusammenhang des einen mit dem anderen ...«'

Diese Sätze sind Teil einer umfassenderen Theorie, die — wie jene von Malewitsch - in ihren philosophischen Elementen eklektizi-stisch und wenig stringent ist.2 Ich gehe darauf nicht weiter ein.

Seinen Werken nähert sich Mondr ian mit Aussagen über die »neue Gestaltung«. Die »neue Gestaltung« - als Beispiel erscheint hier die Komposition I mit Rot, Gelb und Blau von 1921 (Den Haag, Abb. 12) - ist »eine Komposit ion farbiger Rechtecke, welche die tiefste Realität ausdrücken. Dahin kommt sie durch den gestalteten Aus-druck der Verhältnisse, und nicht durch die natürliche Erscheinung. Sie verwirklicht das, was alle Malerei gewollt hat, aber nicht anders, als in verschleierter Form ausdrücken konnte. Die farbigen Flächen drücken sowohl durch ihre Lage und Größe als durch die Stärke ihrer Farben bildnerisch nur Verhältnisse und nicht Formen aus ...«3

Immer wieder kommt Mondr ian auf die neue Veranschaulichung allein von Verhältnissen und der daraus notwendigen Überwindung von Formdarstel lungen zu sprechen: «... So lange die Gestaltung sich irgendwelcher »Form« bedient, ist es ausgeschlossen, reine Verhält-nismäßigkeiten zu gestalten. Aus diesem Grunde hat sich »die neue Gestaltung« von jeder >Form«bildung befreit. So ist die Malerei dazu gekommen, sich durch ein Gestaltungsmittel auszudrücken, das rein malerisch ist: nämlich durch die reine Farbe, flächenhaft auf der Fläche ...«4

A n anderer Stelle erläutert Mondr ian das Verhältnis der Gestal-tungsmittel zueinander genauer: Die »neue Gestaltung« hat »die neue Realität errichtet durch die Komposit ion von rechtwinkligen Flächen von Farbe und Nicht-Farbe, die die umgrenzte Formdar-stellung ersetzen. Dies Universalausdrucksmittel ermöglicht den exakten Ausdruck der großen ewigen Gesetzmäßigkeit, im Verhält-nis zu der die Objekte und alles Sein nur ihre undeutl ichen Verkör-perungen sind. »Die neue Gestaltung« drückt diese Gesetzmäßigkeit,

1 Piet Mondrian, Neue Gestaltung - Neoplastizismus - Nieuwe Beelding. Neue Bau-hausbücher, Mainz, Berlin 1974, S. 5.

2 Zur Theorie Mondrians vgl. Jaffe, De Stijl, a.a. O., passim. -Carsten-Peter Warncke betont die »philosophische Unerheblichkeit« der »Stijl«-Theorie. (Das Ideal als Kunst: De Stijl 1917-1931, Köln 1990, S. 73.)

3 Mondrian, Neue Gestaltung, a. a. O, S. 11. 4 A.a. O , S. 32.

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Abb. 12: Piet Mondrian: Komposition I mit Rot, Gelb und Blau. 1921. Den Haag, Gemeentemuscum. Aus: L. J. F. Wijsenbcek, Piet Mondrian,

Recklingshausen 1968, S. 107.

dieses »Unveränderliche« aus durch das Verhältnis von Stand, d. h. das Rechtwinklige. Sie bedient sich dazu insofern des »Veränderli-chen«, als das Verhältnis der Dimensionen (Maß), das Verhältnis der Farben und das Verhältnis von Farbe zu Nicht-Farbe.

In der Komposition drückt sich das Unveränderliche (das Geisti-ge) aus durch die gerade Linie und die Flächen in Nichtfarbe (schwarz, weiß, grau), während das Veränderliche (das Natürliche) Ausdruck findet in den Farbflächen und im Rhythmus.«1

In der Beschreibung der bildnerischen Elemente kommt Mondri-an hier seinen Bildern näher als Malewitsch in seinen Reflexionen den eigenen Werken.

1 A.a.O., S. 30/31.

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Gleichwohl bleiben Mondrians Bewertungen dieser Elemente problematisch. Er identifiziert ja das Unveränderliche mit dem Gei-stigen, das Veränderliche mit dem Natürl ichen und ordnet dem Geistigen, Unveränderlichen als Ausdrucksmittel die gerade Lini e und die Flächen in Nichtfarbe zu, dem Natürlichen, Veränderlichen jedoch die Farbflächen und den Rhythmus.

Mondrians Bilder aber lassen eine derart säuberliche Trennung nicht zu. Die geraden Linien sind ja entscheidend mitbestimmt vom Rhythmus ihrer Unterteilungen, werden von dessen Bewegung mit-erfaßt, und die Farbgestalt lebt aus dem Wechselverhältnis, der Wechselbestimmung farbiger und unfarbiger Flächen. Geistiges und Natürliches, Unveränderliches und Veränderliches sind untrennbar ineinander verschränkt. Das Geistige, Unveränderliche erhält mit jedem Bilde Mondrians einen je anderen, individuellen Ausdruck.

Über Rhythmus handelt Mondrian vor allem in seinem Aufsatz Die neue Gestaltung in der Musik und die futuristischen italienischen Bruitisten. Hier heißt es: »Nur im Zustand vol lkommener Reife vermag sich das wahrhaft »menschliche« Wesen des Tieres zu entle-digen, und erreicht so schließlich die reine Herausstellung des tief-sten inneren »Ich«. Erst in diesem Augenblick wird in der Kunst die Animahtät überwunden sein. Dann wird man sich weder der Gestal-tungsmittel der Vergangenheit noch des menschlichen Stimmorgans bedienen. Töne und Geräusche, die von nicht animalischer Materie herrühren, werden dann die gemäßen sein. Das Geräusch einer Maschine (als Klangfarbe) wird ihm sympathischer sein als der Gesang von Vögeln und Menschen. Der wird ihn allemal nach der Ar t des Vortrags bald mehr, bald weniger nur als Individuum berüh-ren, wogegen durch reine Materie erzeugter Rhythmus weniger auf die Individualität wirkt . Der (Rhythmus) einer Stampfpresse (als Klangfarbe) wird ihm vertrauter sein als Psalmengesang. So wird der neue Mensch durch die Kraft der Dinge dazu kommen, 'wahrhaft »neue« Instrumente zu erfinden ...«

Im selben Aufsatz aber finden sich auch die Sätze: »So verstehen die meisten nicht, daß »das Geistige« sich stärker in irgendeiner modernen Tanzmusik, als in allen Psalmen zusammen ausdrückt.. .« »»Die Gerade« findet im Rhythmus der neuen Tänze (z. B. im Shim-my) bereits reichlich Verwendung ...«

Und schon 1920 schrieb Mondrian: »In der neuen Kunst folgt der Tanz (Ballett usw.) demselben Weg, wie Geste und Mimik . Er geht von der Kunst ins Leben. Man wird auf Tanzdarbietungen verzich-ten, denn man wird den Rhythmus selbst verwirklichen. Die außer-

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Abb. 13: Piet Mondrian: Broadway Boogie-Woogie. 1942/43. New York, Museum of Modern Art. Aus: A. a. O., S. 159.

halb der Kunst stehenden neuen Tänze Tango, Foxtrott usw. er-wecken schon etwas den neuen Gedanken des Gleichgewichts durch Gegensätze des Einen mit dem Anderen. So wird es möglich, die ausgeglichene Realität physisch zu erleben ...«'

Dreierlei ist an solchen Sätzen bemerkenswert: Einmal, daß die späten, in Amerika entstandenen »Boogie-Woo-

gie«-Bilder, Broadway Boogie-Woogie von 1942/43 (Abb. 13) und Victory Boogie-Woogie von 1943/44 gedanklich schon mit Mondri-ans Reflexionen der frühen zwanziger Jahre verbunden werden können.

1 A. a. O., S. 37, 32,40, 28.

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Zum anderen, daß in Mondrians Aussagen zur »modernen Tanz-musik« gerade das Rhythmische als Ausdruck des »Geistigen« be-zeichnet wird, daß Mondrian hier also mit seiner eigenen Unter-scheidung des Geistigen und des Natürlichen in Widerspruch ge-rät, - was aber nur auf die schon vorhin erwähnte Untrennbarkeit beider Dimensionen in Werken der Kunst verweist.

Und zum dritten: Mondrian spricht hier davon, daß die neue, »ausgeglichene« Realität »physisch« erlebt werden kann.

Damit ist wiederum auf die zentrale Bedeutung des Rhythmi-schen in Mondrians Kunst verwiesen. Rhythmus aber wird nicht vom Intellekt, sondern vom Leib erfahren. Freilich geht in Mondri-ans Rhythmus die Rhythmik einer »nicht animalischen Materie« ein.

Sind so bei Malewitsch wie bei Mondrian Bild und Reflexion viel-fältig ineinander verschränkt, zielt bei beiden Künstlern Reflexion letztlich auf eine unausweisbare »wahre« Wirklichkeit, - bleiben dann auch die Bilder unlösbar an diese spekulativen Wirklichkeiten gebunden?

Ich möchte abschließend mit einigen Sätzen Hinweise formulie-ren auf die den Theorien vorausliegenden Wirklichkeiten, die sich in den Bildern anschaulich darstellen. Es handelt sich um unterschied-liche Dimensionen des vom Menschen konstituierten Raumes. Ich beziehe mich dabei auf Elisabeth Strökers Philosophische Untersu-chungen zum Raum.*

Der »Aktionsraum« bestimmt Charakteristika der Bilder Male-witschs und liegt als Erfahrungsbasis seiner Theorie zugrunde.

Der »Aktionsraum« ist der »im Handlungsentwurf konstituierte Raum«, ein »Richtungsraum«, ein »dynamisches Gefüge«. »Nur im menschlichen Aktionsraum gibt es die Vertikale als Dimension, als ein Kontinuum möglicher Richtungsgegensätze von »oben« und »un-ten«.« Bezeichnenderweise heißt es auch bei Malewitsch: »Das rege Bewußtsein und der Trieb zur Aktivität reizen den Menschen immer wieder zum Kampfe gegen die träge Natur; und so kämpft er denn auch sein Leben lang für seine aufrechte, bewußte Aktivitäts-Posi-

1 Elisabeth Ströker, Philosophische Abhandlungen, Bd. XXV, Frankfurt a. M. 1965 (21977). Zitate auf den Seiten 70, 54, 58, 71, 73, 67/68, 55, 64, 260, 262, 263, 279, 267.-Vgl. dazu weiterführend Lorenz Dittmann, Abstraktion, Leib und Raum, in: Abstrakt. Katalog der Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes in Dresden 1993, Stuttgart 1993, Bd. 2, S. 4-9, 30-33, 44-47, 60-65. - Lorenz Dittmann, Abstrakte Kunst und Raumkonstitution, in: Magazin Forschung. Universität des Saarlandes, Saarbrücken,1/1994,S.43-50.

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tion, - für das Vertikale ...«' Nur von der Vertikalen aus erschließen sich die für Malewitschs Bilder konstitutiven Schrägrichtungen. Die im »Aktionsraum« sich ausgliedernde Unterscheidung von »Oben« und »Unten« entspricht Malewitschs Bezeichnung seiner Kunst als »aeronautischem Suprematismus«. - In der Differenz von »Oben« und »Unten« wird »Schwere« erfahrbar. »Erst im Umgang mit den Dingen erfahre ich ihre Schwere, erfahre ich das »oben« als Richtung meiner Kraftanstrengung gegen ihre Schwere, das »unten« als Rich-tung, in der ich ihrer Schwere folge ...« Immer wieder kam Male-witsch, wie erwähnt, zu sprechen auf Schwere, Gewicht und Über-windung der Schwere, Gewichtslosigkeit. - Dem Aktionsraum eigen ist die »Erweiterung der Hier-Gegend«, nicht als »Hinausschieben der Hiergrenze, sondern durch Einbeziehen des Dort in das Hier.« Damit ist auch die für die Kunst Malewitschs charakteristische Raumtranszendenz benannt. - Schließlich ist es der Aktionsraum, in dem »das Subjekt... Geräte zu handhaben versteht, in deren Herstel-lungsgang die mathematische Konstruktion und die Gesetze der exakten Naturwissenschaft eine Rolle spielen, Apparate im engeren Sinne, die Maßgeometrie und physikalische Theorie voraussetzen.« Dies verweist auf Malewitschs Bezug zur Technik. - Hinzuzufügen ist freilich, daß Malewitsch die im »Aktionsraum« auftretenden Gegebenheiten in »Empfindungsdaten« verwandelte.

Der »Aktionsraum« liegt dem »Raum der Metrik« vorauf und wird andererseits doch erst von diesem aus erschlossen.

Der »Raum der Metrik« ist der Ort der Mondrianschen Kunst und Theorie. Ihr Zentralbegriff ist »Beziehung«, »Verhältnismäßig-keit». »Als Grundgegenstände der Geometrie gelten im Sinne der euklidischen Axiomatik Punkt, Gerade, Ebene, sowie einfache zwi-schen ihnen obwaltende Beziehungen.« Die »Strecke« ist das »ei-gentliche Fundamentalgebilde der Geometrie«, mit ihr bildet sie die »Maßwissenschaft des Raumes«. Die »Strecke«2 - und als kürzeste, die Gerade - ist das Grundelement der von Mondrian immer wieder akzentuierten »Beziehungen«. »Strecke wird prinzipiell nur be-

1 Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, a. a. O., S. 16. 2 Über die Herkunft der »Strecke« schreibt Elisabeth Ströker, Philosophische Ab-

handlungen, a. a. O., S. 262: »Die Kante ist ein morphologisches Merkmal des Anschauungsdinges. Als solches erfaßt und von anderen Formen körperlicher Be-grenzung unterschieden in der Begegnung mit dem tastenden und sehenden Leibe, bildet sie das sinnliche Fundament für die Auffassung »Strecke«.« Damit wird auch die Herkunft sowohl der Kunst Malewitschs wie derjenigen Mondrians vom Ku-bismus phänomenologisch begreifbar.

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stimmbar in der Weise des Vergleichens mit anderen, in ihrem Ver-hältnis zu anderen Strecken; d. h. als Relata solcher Verhältnisse fungieren stets nur Strecken.« - Die einfachste Opposition von Strecken bildet der rechte Winkel. »Der rechte Winkel besitzt gegen-über allen sonstigen Winkelmaßen eine eigentümliche Sonderstel-lung. Geometrisch deutlich wird diese in der Tatsache, daß die herkömmliche Winkeleinteilung unter dem Gesichtspunkt des rech-ten Winkels vorgenommen und daß dieser als ... Maßstab gesetzt wird, um alle übrigen Winkel als kleiner oder größer im Vergleich zu ihm zu kennzeichnen. Phänomenologisch gesehen stellt sich die Orthogonalität als eine Formalisierung der absoluten Gegensätz-lichkeit der Bewegungsrichtungen dar ...« - Es ist eine Besonderheit der Kunst Mondrians, daß sie den »Raum der Metrik« in seiner Herkunft aus der leiblichen Dynamik zeigt. Denn auch für die »Strecke« ist »Leibesbewegung« konstitutiv-und Mondrian inten-siviert dieses Moment noch durch die erwähnte Bedeutungserhö-hung der »Rhythmik«.

So bietet die Erörterung von Bild und Reflexion bei Malewitsch und Mondrian die Möglichkeit, beide Bereiche in ihrer Verschrän-kung ernst zu nehmen und doch nicht stehen zu bleiben bei deren bloßer Wechselbestimmung, sondern sie zu verankern in Dimensio-nen der vom Subjekt vollzogenen Raumkonstitution.

Diesen Dimensionen entspricht die unterschiedliche Beziehung von Bild und Reflexion bei Malewitsch und Mondrian.

Warum aber überhaupt der Rückblick auf Mondrian und Male-witsch? Beide reflektierten als erste und am radikalsten in Werk und Theorie den möglichen Ort des Menschen in einer technisierten Welt, einer Welt, deren Bannkraft wir in immer stärkerem Maße ausgesetzt sind.

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ROBERT KUDIELK A

Die Lust der Reflexion und das Fest der Malerei

Über das Verhältnis von Kants Ästhetik zur Bildkunst von Matisse

D ie Gegenüberstellung von Kant und Matisse mag auf Anhieb überraschen. So sehen die Bilder, die man mit der Kritik der

Urteilskraft verbindet, in der Regel nicht aus; jedenfalls nicht dieje-nigen, welche die Einbildungskraft auf Anleitung des philosophi-schen Begriffs vom Schönen hervorzubringen geneigt ist. Umge-kehrt wird ein Kunsthistoriker, wenn je er sich mit dem sogenannten Hedonismus von Matisse anlegen sollte, schwerlich von dem Skru-pel des § 9 der »Analytik des Schönen« angefochten werden: »ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe« (KU 27).* Mit solch betulichen Präliminarien hält sich eine Fachwissenschaft nicht lange auf. Die erste Verwirrung ist denn auch rasch ausgestanden. Bei näherer Prüfung zeigt sich, daß die seltsame Paarung weder histo-risch noch systematisch gesichert ist. Es gibt keinen Wirkungszu-sammenhang, der eine Verbindung zwischen dem Philosophen und dem Maler verbürgte: Matisse ist zu keinem Zeitpunkt direkt oder indirekt mit der Philosophie Kants in Berührung gekommen. Eben-so abwegig, um nicht zu sagen rundheraus aberwitzig, wäre der Versuch, eine sachliche Übereinstimmung oder auch nur Geistesver-wandtschaft zu konstruieren. Die blanke Torheit des Klischees triff t dieses eine Mal ungeschmälert zu: Der Philosoph des kategorischen Imperativs und der Maler von Luxe, calme et volupte bewohnen zwei grundverschiedene Regionen der Welt.

Dennoch gibt es diese unwahrscheinliche Beziehung über ein Jahrhundert hinweg, und zwar so augenscheinlich und bis in moti-

1 All e Kant-Zitate sind im Text entweder nach der Originalpaginierung der maßgeb-lichen Ausgaben oder durch den Verweis auf die Akademie-Ausgabe der Gesam-melten Schriften (AA) ausgewiesen.

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vische Einzelheiten hinein nachweisbar, als gehörten das Fest der reinen Bildintelligenz und jene »Lust der Reflexion«, die für Kant »gerade das Rätselhafte im Prinzip der Urteilskraft« (KU IX ) gewe-sen ist, zueinander wie Anschauung und Begriff. Schwierigkeiten bereiten nur die besonderen Umstände dieser Verbindung; denn zu allem Überfluß steht sie nicht einfach außerhalb jeglicher Distink-tion, sondern stellt die bewährten Muster des Verstehens mit schöner Regelmäßigkeit auf den Kopf. So ist auf den zweiten Blick doch eine gewisse historische Kausalität erkennbar, wenngleich eher im Sinne der »rückwirkenden Kraft«, die Adorno an modernen Kunstwerken beobachtet und als richtungsweisend für die ästhetische Reflexion angesehen hat.1 Statt einer vorausgegangenen Philosophie lediglich die anschauliche Bestätigung hinterherzuschicken oder einen auf-schlußreichen Nachtrag anzuhängen, verschafft die Kunst von Ma-tisse vielmehr einer Seite von Kants Ästhetik Anklang und Bedeu-tung, die unmittelbar gerade nicht gewirkt hat und von der Überlie-ferung weitgehend verdeckt worden ist. In flagrantem Kontrast zum üblichen Kant-Bild setzt der Maler der Interieurs und Odalisken, als hätte es nie ein philosophisches Formalismusproblem gegeben, den so gerne vermißten Sachgehalt der transzendental-logischen Urteils-analysen ins Recht. Dazu wiederum bedurfte es anscheinend keiner besonderen Nähe oder inneren Affinität ; eher wären die Vorzüge des Epochenabstandes und der geistigen Unabhängigkeit der französi-schen Maltradition hervorzuheben. Kant hatte ja, indem er den objektiven Geltungsanspruch des ästhetischen Urteils einschränkte, zugleich die Zuständigkeit und Reichweite der Erkenntnis selber begrenzt. Die unvermittelte Zusicherung des Schönen, »daß der Mensch in die Welt passe« (AA , Bd. XV, S. 127, Nr. 1820a), entzieht sich der zureichenden Vergewisserung durch unseren Verstand. Die-sem Zurückweichen auf die kritische Grundlinie der Gewißheit kommt die Malerei von Matisse insofern entgegen, als sie die Grenze, die Kants dritte Kritik von innen her befestigte, gleichsam von außen stützt und ergänzt: durch eine Bildwirklichkeit, die nicht auf die Objektivität der Repräsentation oder, wie Kant sagen würde, »die Existenz des Gegenstandes« abhebt, sondern sich primär aus dem absolut relativen, sich selbst tragenden Gefüge rein bildnerischer

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt a.M. 1970, S. 533.

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DIE LUST DER REFLEXION UND DAS FEST DER MALEREI 243

Faktoren bestimmt. »Ich erschaffe keine Frau«, sagt Matisse, »ich mache ein Bild«.*

Die Korrespondenz beruht also geradezu auf der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Positionen; und der Zusammenhang besteht effektiv in einer Entsprechung des Unvergleichbaren, einer gegen-seitigen Angemessenheit ohne Maß gewissermaßen. Damit aber er-weist sich diese Beziehung zwischen Kunst und Philosophie als eine eminent ästhetische: nämlich als eine Korrelation, die selber noch einmal das problematische Verhältnis von Bild und Reflexion expo-niert. Wenn je Kants berühmte Bestimmung der »ästhetischen Idee«, daß ihr »kein Begriff völli g adäquat sein kann« (KU § 49), positiv, als ein Indiz für den Reichtum und Überschuß dieser Anschauung, zu verstehen ist, dann kann die bloße Veranschaulichung von Begrif-fen allein wohl kaum eine angemessene Vorstellung von dem lust-vollen Zurückbleiben der Reflexion hinter ihren Absichten geben. Auf diese Weise wird höchstens der transzendentale Grundsatz, daß keine einzelne Anschauung die synthetische Allgemeinheit des Be-griffes zu erschöpfen vermag, bestätigt. Das wird selbstverständlich niemand davon abhalten, ex cathedra ästhetische Theorien zu de-monstrieren und Kunstwerke auf das Maß des Diskutablen zurecht-zustutzen. Absolut unwiderleglich und zeitlos wie die Wahrheit selber ist der Stumpfsinn, der in Kants Ästhetik und in den Bildern von Matisse von jeher nur das Eine, Gleiche, allzu Naheliegende wiedererkennen mochte: »Tapeten«! Ab einem bestimmten Grade der intellektuellen Ausrüstung werden die Gebrechen des menschlichen Verstandes irreparabel. Wo immer die Sache der Ästhetik auf dem Spiele steht, geht es unweigerlich um ein Rangproblem: die von Mal zu Mal neu auszutragende Streitfrage, wieviel »Schwung der Einbil-dungskraft« (Kants besorgtes Wort: a. a. O.) die Reflexion zuzulas-sen imstande ist; und umgekehrt, wie weit ein Urteilsvermögen sich fordern läßt, welches - nach Auskunft der Kritik der reinen Ver-nunft - »gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will « (KrV A 133).

Aus dieser mangelhaften Bestimmtheit der Erfahrung folgt be-kanntlich nicht, daß sich philosophische Ästhetik mit Kunstwerken befassen müsse. Kant selber gilt als das überragende Beispiel dafür, daß ästhetische Kompetenz nicht unbedingt auf eine ausgebreitete Kunstkenntnis angewiesen ist. Aber einmal abgesehen von der pro-

1 Henri Matisse, Berits etpropos sur l'art, ed. parD. Fourcade, Paris 1972, p. 163. Dt. Übersetzung in: Henri Matisse, Über Kunst, hg. von Jack D. Flam, Zürich 1982, S. 151.

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tokollarischen/7et/te5se, ob diese einzigartige Koinzidenz von phi lo-sophischem Rang und historischer Sachkonstitution immerdar und schlechthin allgemein berufen werden kann, ohne daß die Abstände - in jeder Hinsicht - sichtbarer werden, tut die Ästhetik gut daran, wenn sie sich nicht allzusehr auf einen monologischen Diskurs, und noch dazu mit den Phantomen der Einbildungskraft, verläßt. Mi t Lust und Fassung zu unterliegen, die eigene Inadäquatheit zu wollen und befriedigend gestalten zu können, fällt dem Begriff alleine auf die Dauer schwer. Adorno hat kein Hehl daraus gemacht, daß die kritische Maxime seiner Apologetik der Moderne, »das Beste im Neuen entspreche einem alten Bedürfnis«, nicht aus dem Lehrbuch der negativen Dialektik stamme, sondern »Valerys These« sei.1

Künstler scheinen in der Übung der zweiten Reflexion, im Erreich-ten das Verlangen wiederzugewinnen, anstatt nur den unmittelbaren Erfolg oder Fortschritt festzuhalten, eigentümlicherweise versierter. Indem 1921 erschienenen Dialog Eupalinos oder Der Architekt stellt Paul Valery an die Spitze seiner Kunstlehre die Forderung: »Eines ist wichtig vor allem: zu erreichen, daß das, was sein wird, mit der ganzen Kraft seiner Neuheit genüge den vernünftigen Anforderun-gen dessen, was gewesen ist.«2 Das ist exakt die These der Konfron-tation von Kant mit Matisse: daß ein grundstürzendes Werk moder-ner Kunst den »vernünftigen Anforderungen« (exigences raisonnab-les) einer traditionellen Ästhetik entspricht; oder genauer, deren »Anforderungen« als »vernünftige« herausstellt und bekräftigt. Die Pointe liegt jedoch darin, daß dieses Äquivalenzprinzip von Valery keineswegs metaphysisch begründet wird, etwa durch eine verbor-gene, in allen Wandlungen gleichbleibende Vernunft in der Ge-schichte. Mitnichten. Obwohl der Zusammenhang von Tradition und Fortschritt ausdrücklich, wie die emphatischen Unterstreichun-gen zeigen, mit angesprochen ist, leitet Valery den runden Sinn der Zeit an der gegebenen Stelle unmittelbar aus der inneren Spannung der künstlerischen Arbeit her: nämlich aus dem Anspruch, daß das Ziel des Handelns (der Ausdruck, die Form, das Werk) der ursprüng-lichen Veranlassung - mag man sie nun Inspiration, »ästhetische Idee« oder Empfindung nennen - gewachsen sein müsse. Das heißt,

1 Theodor W. Adorno, ebenda. Ähnlich in dem Aufsatz Über Tradition, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a. M. 1967, S. 29-41.

2 Paul Valery, Eupalinos, ou l'Architecte, in: idem, Eupalinos, L'Ame et la danse, Dia-logue de l'arbre, Paris 1979, p. 35. Dt. Übersetzung von Rainer Maria Rilke in: Paul Valery, Eupalinos oder Der Architekt, Frankfurt a. M. 1973, S. 87.

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DIE LUST DER REFLEXION UND DAS FEST DER MALEREI 24 5

die Kunstpraxis wird im allerersten und -engsten Kreis von einem Kriterium geleitet, das über die geläufigen Kategorien des Bewirkens und Hersteilens hinaus den Gesichtspunkt der zureichenden Ent-sprechung, der Parität von Ergebnis und Grund, Künftigem und Gewesenem geltend macht.

Der Gedanke leuchtet unmittelbar ein. Das Ungenügen am bloß Gewordenen oder schlechterdings Machbaren, gleichviel, scheint kein ausschließliches Privileg der Künstler zu sein. In unterschiedli-chen Graden setzt sich wohl jeder Formulierungsversuch der An-spannung aus, einem im Zuge der Darstellung erst näher zu bestim-menden Antrieb oder Anliegen zu genügen. Nichtsdestoweniger hat diese Anstrengung, gemessen an ihrer Offensichtlichkeit und relativ hohen Verbindlichkeit, erstaunlich wenig Beachtung in der Philoso-phie gefunden. Keines der traditionellen Bezugsschemata- einerlei, ob man die Logik, die Mechanik oder die Teleologie zu Rate zieht -erfaßt den präzise beschreibbaren Bewegungszusammenhang einer Äußerung oder Handlung, deren Rang und Gelingen sich daran entscheidet, ob und inwieweit sie am Ende, in der Verwandlung des Ergebnisses, die Kondit ionen ihres Anfangs zu entgelten vermag. »Wie da nicht dunkel sein? ...«, kommentiert Valery seine eigene Maxime.

Doch die Dunkelheit, die der Dichter sieht, ist nicht die der Konfusion, sondern der Kontrast, in dem das Helle steht. Mehr als nur der Souffleur einer betörenden Losung, die ein Jahrhundert auf die Spanne der Differenz zwischen Anspruch und Bewährung zu raffen erlaubt, ist Paul Valery gewissermaßen der Gewährsmann des Themas, der leibhaftige Dritte, der - in Ermanglung einer gemeinsa-men Basis - die Rolle des Dolmetsch in dieser Beziehung von Kunst und Philosophie zu spielen vermag. Denn er hat auf seinen eigenen Wegen ziemlich genau das relevante Spannungsfeld entdeckt und vermessen. So ist er bei der kritischen Befragung des schöpferischen Aktes dem Problem der »expression« im Werk von Matisse bis in den Wortlaut der Selbstzeugnisse hinein nahe gekommen. Noch erstaunlicher erscheint freilich, daß ihn die Verfolgung des Problems der zureichenden Entsprechung in analytischer Hinsicht bis an die Schwelle von Kants Ästhetik geführt hat. Das bedeutet nicht, daß Valery die Beziehung zwischen Kant und Matisse als solche gesehen hätte. Aber im luziden Spiegel seiner völli g unkonventionellen In-telligenz läßt sich zumindest indirekt die schwer zu fassende Bezugs-ebene des Themas näher bestimmen.

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Die Unterbrechung der Geburt der Ideen (Valery)

Die historisch-kritischen Formalien scheinen in diesem Fall unpro-blematisch. Wie Matisse gehört Paul Valery (zusammen mit Proust, Gide u. a.) zu derjenigen Generation von französischen Künstlern, die in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erstmals von einem grundlegenden Zweifel am modernen Selbstverständnis des Kunst-schaffens ereilt wurden. Nach einer großen, im maßstäblichen Sinne klassischen Periode moderner Literatur und Malerei stand mit dem Problem der Fortsetzung auf einmal die bange Frage, ob sich in der direkten Verfolgung des Eigenen etwas Ebenbürtiges zustande brin-gen lasse, ins Haus. Dabei scheint Valery, der im symbolistisch-de-kadenten Ton zu dichten begonnen hatte, von der Entdeckung der unwillkürlichen Irreführung des spontanen Ausdruckswollens am stärksten betroffen worden zu sein. In einer dramatischen, später zur lebensentscheidenden Schicksalsstunde stilisierten Gewitternacht vom 4. zum 5. Oktober 1892 in Genua schwört der 21-jährige dem allzu begabten Wortgeklingel ab, um sich für die nächsten zwei Jahrzehnte ausschließlich der »Anstrengung« (effort), Ordnung in seinem Kopf zu schaffen, zu verschreiben. Ab 1894 beginnt er Aufzeichnungen seiner frühmorgendlichen »intellektuellen Gym-nastik« anzulegen, die bis zu seinem Tode 1945 zu einem Konvolut von 260 Cahiers - der umfangreichsten Position in seinem Gesamt-werk — anwachsen werden.1

Matisse hat die Krise, aus der sein originäres Werk hervorging und von der er in beinahe regelmäßigen Abständen immer wieder einge-holt wurde, nicht annähernd so spektakulär reflektiert. Eigentümli-cherweise wird der kritische Punkt erst in den späteren Jahren, als mit der Anerkennung die Mißverständnisse zu wachsen beginnen, deutlicher formuliert - und selbst dann eher unwirsch, aus dem Widerspruch der jeweiligen Situation heraus. Im Jahre 1929, am Ende der als untimistisch« verrufenen Nizza-Periode, erneuert Ma-tisse gegenüber Teriade sein seit einem Vierteljahrhundert gültiges Credo: »Je ne pense qu' ä rendre mon emotion.«2 Fünfzehn Jahre

1 Die Cahiers liegen inzwischen in einer sechsbändigen deutschen Ausgabe vor: Paul Valery, Cahiers/Hefte, nach der von J. Robinson besorgten franz. Ausgabe hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M. 1987-93. Eine vorzügliche philosophische Einleitung in Valerys Denken gibt Karl Löwith, Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971.

2 Matisse, Ecrits etpropos, loc. cit., p. 100. Dt. Übersetzung in Über Kunst, a. a. O., S. 113.

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später, als die Legende von der begnadeten legerete des Meisters die Runde zu machen begann, wird Leon Degand gleich zum Auftakt eines Interviews zurechtgewiesen: »La spontaneite n'est pas ce que je recherche«.1 Es geht nicht um Spontaneität, es geht nur um den Ausdruck des Gefühls: in diesem scheinbaren Paradox wird wie mit einer Zange das Kernproblem gefaßt, daß es keinen unmittelbaren Ausdruck eines Ausdruckssubjektes gibt - außer den Schimären einer ziemlich durchsichtigen Konfusion. Wie sollte denn eine »emotion« geradewegs auf eine Fläche, in Formen und Farben, »ausgedrückt« werden können, wenn nicht ein kontinuierlicher Übergang zwischen Innen und Außen, geistiger und physischer Welt unterstellt wird? Ein Gedanke, so »insoutenable« (um den entrüste-ten Aufschrei von Leibniz zu zitieren), »unhaltbar« und »unerträg-lich«, wie das mechanische Einfluß-Modell! Das Gefühl kann höch-stens im Bild wiedergefunden werden, indem ein bestimmter Zu-sammenhang der Bildfaktoren gesucht und artikuliert wird. Die entscheidende Kondition dieser Arbeit aber hat der Malpraktiker Matisse wiederum sehr viel früher gesehen als der Sprachartist Vale-ry. In den Notizen eines Malers aus dem Jahre 1908 verlangt er der Kunstpraxis eine spezifische Form des »effort« ab: »Ich glaube, daß man die Vitalität und Stärke eines Künstlers danach beurteilen kann, ob er seine Empfindungen unter dem unmittelbaren Eindruck der Natur zu ordnen imstande ist und ob er sogar mehrmals und an verschiedenen Tagen im gleichen Geisteszustand darauf zurück-kommen kann.«2 In der Beherrschung der Spontaneität zeigt sich gerade die »vitalite« des Künstlers; denn nur dank der »Stärke« (puissance) des Anhaltens und Aufschiebens der Expression vermö-gen sich die Empfindungen zu ordnen und in gehörigem Maße auszubilden. Paul Valery hat diesem Prinzip der Retardierung im Eupalinos eine ganze Salve von Huldigungen dargebracht. »Ich mäßige und unterbreche die Geburt selbst der Ideen«, tönt dort der Künstler-Architekt; oder weniger hochfliegend »ich hindere sie dar-an, mich zu befriedigen«; und schließlich unüberbietbar: »Je differe le pure bonheur« - Ich zögere das reine Glück hinaus.3

Diese Übereinkunft in der Auffassung des Ausdrucksproblems ist an sich schon bemerkenswert und in beiderlei Hinsicht, in der Diagnose wie in der Therapie, keineswegs überholt. Mehr denn je

1 Loc. cit., p. 300. A. a. O., S. 186. 2 Loc. cit., p. 51. A.a. O..S. 75-76. 3 Valery, Eupalinos, ou l'Architecte, loc. cit., p. 35. Dt. Ausgabe a. a. O, S. 87.

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leidet die Kunstpraxis am Ende des Jahrhunderts unter dem Dilem-ma, daß die notorische Schwäche, zu schnell fertig zu sein, die notwendige Zeit, um überhaupt mit dem Arbeiten anfangen zu können, gar nicht mehr aufkommen lassen will . Doch Valery ist bei der Analyse der künstlerischen Situation nicht stehen geblieben. Bereits kurz nach 1900 mehren sich in den Cahiers die Reflexionen und kritischen Anmerkungen zur Philosophie und zum Gebrauch von Begriffen wie Wesen, Substanz, Ursache.1 Mi t nichts als seinem artistischen Acumen gewappnet, hat der Dichter die Domäne der Metaphysik durchmessen und entdeckt, daß Eilfertigkeit nicht allein ein Problem des unmittelbaren lyrischen Versprühens von Gefühlen ist. Es gibt noch eine andere Version. Entgegen der offiziellen Mei-nung scheinen Umsicht und Bedächtigkeit nicht unbedingt Kardi-naltugenden der Philosophie zu sein. »Alles, womit sich die Philo-sophen beschäftigen«, heißt es im Eupalinos, »ereignet sich zwischen dem Blick, der auf einen Gegenstand fällt, und der Erkenntnis, die daraus resultiert ...um immer vorzeitig zuende zu sein.«2 »Vorzeitig« hat hier den präzisen Sinn von »frühreif« (prematurement). Die Denker, die entschlossen aufs Letzte zielen, teilen mit den Künstlern, die Knall auf Fall zuende kommen, noch im Widerspruch ein ge-meinsames Versäumnis. Anstatt der Überstürzung, in der zwischen dem Blick und der Erkenntnis die Dinge und die Ideen unablässig von neuem geboren werden und vergehen, entgegenzuwirken, for-ciert die Philosophie das Schwinden der Erfahrung noch, indem sie auf definitive Positionen und Gewißheiten dringt. Dadurch entsteht jenes Repertoire von überforderten Begriffen, schiefen Fragen und Phantomproblemen, das Valery einer brillanten Destrukt ion unter-zieht. Das erstaunlichste Ergebnis dieser Konfrontation mit der Philosophie ist jedoch die völlig selbständige Erneuerung des ästhe-tischen Grundgedankens von Kant, die summarisch in der kleinen Spätschrift L'infini esthetique (1934) vorliegt. Ohne der Belehrung durch die Kritik der Urteilskraft bedürftig zu sein, gelingt es Valery, den positiven Sinn der »Interesselosigkeit« im Wohlgefallen aufzu-weisen - und zwar schlicht dadurch, daß er sein artistisches Prinzip

1 Vgl. die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1902 in Cahiers/Hefte, Bd. 2: »Der leere und nutzlose Begriff »Ursache« ist das Verderben jeder guten Darstellung« (S. 19). »Das Geheimnis wäre, nur sagen zu können, was ist - was man will « (S. 24). »Die Metaphysiker kann man stets zwingen, zu ihren Quellen und wahren Begriffen zurückzukehren - und dort sind sie verloren« (S. 26).

2 Valery, Eupalinos, loc. cit., p. 35. Dt. Ausgabe, a. a. O., S. 87.

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der Unterbrechung und des Aufschubs gewissermaßen phänomeno-logisch im Leben selber lokalisiert.

Daß Rosen überhaupt schön seien, hat Kant im § 8 der »Analytik des Schönen« mit gutem Grunde ausgeschlossen. Denn so betrach-tet, als Regelfälle eines empirischen Allgemeinbegriffes, haben sie alle insgesamt und jede einzelne für sich den Zauber ihrer Gegenwart mit der Feststellung ihrer Identität verloren an die Beständigkeit von Gegenständlichkeit überhaupt - und keine noch so aufgeschlossene Bemühung vermag dieses vorzeitige Welken umzuwenden und eine bloße Position in ein volles Bouquet zu verwandeln. Nach Valery gehört eine solche Betrachtungsweise, unerachtet ihrer rein kogniti-ven Orientierung, immer noch der »Ordnung des Pragmatischen« an, weil »das einmal erreichte Ziel alle durch die Sinne vermittelten Bedingungen der Tätigkeit zum Erlöschen bringt (deren Für-sich-dauern gleichsam aufgebraucht erscheint oder kaum mehr zurück-läßt als eine abstrakte und kraftlose Erinnerung).«1 Daneben gibt es jedoch - eigentlich ganz unverdient, wenn auch nicht ohne eine gewisse Ausbildung der Empfänglichkeit - die Möglichkeit des Aufschubs der Hinrichtung oder, wie Kant gerne sagt, die »Gunst«, die uns »diese Rose da« so unter die Augen kommen läßt, daß die durch die Einbildungskraft gefaßte Mannigfalt der Anschauung auch ohne Begriff der Reflexion bereits Grund genug ist, in der Gegenwart solch eines »Bildes« zu verweilen, »weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert« (KU 37). Dann sind wir in Valerys »Ordnung des Ästhetischen« übergewechselt, wo »die Be-friedigung das Bedürfnis wiedererstehen läßt, die Antwort die Frage zu neuem Leben ruft, das Dasein in seinem Schöße das Nichtdasein austrägt und das Besitzen das Verlangen«.1

Diese Hinweise auf den Dichter, der den Aussagen der Philoso-phen ebenso skeptisch gegenüberstand wie den Einflüsterungen der Musen, mögen genügen, um die Bezugsebene des Themas zu ver-deutlichen. Die weitergehende Annahme einer gewissen Parallelität zwischen dem Ausdrucksproblem des modernen Künstlers und Kants kritischer Frage nach der Verbindlichkeit des ästhetischen Urteils ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Unter dem Einfluß der modern gewordenen Hellhörigkeit für die Signifikanz des

1 L'infini esthetique, in: Paul Valery, CEuvres, Bd. II , Paris 1960, p. 1343. Dt. Über-setzung von Carlo Schmid unter dem Titel Der Unendlichkeitsfaktor in der Ästhe-tik, in: Paul Valery, Über Kunst, Frankfurt a. M. 1959, S. 143.

2 Ebd.

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»Kunstbegriffes« mag es fast so aussehen, wie wenn zwischen der ästhetischen Diskussion am Ende des 18. Jahrhunderts, als der mo-derne Begriff von Kunst noch nicht entschieden war, und dem Zweifel der Künstler an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, als eine vorübergehende Vorentscheidung wieder fragwürdig wurde, eine Ar t spiegelbildlicher Entsprechung bestünde: hier Auflösung, dort Genese - und ein erhöhtes Problembewußtsein allemal. Aber das Sternbild am Firmament der Historie täuscht über die entscheidende Zumutung des Themas hinweg. Denn die hübsche Symmetrie zwi-schen den Zeiten gibt keinen Begiff davon, mit welch unverblümter Direktheit Matisse am Gravamcn des Kunstproblems vorbei gerade die nach allgemeiner Übereinkunft rückständigste und entbehrlich-ste Seite von Kants Ästhetik rehabilitiert.

Die Provokation läßt sich am ehesten aus dem Abstand zur unmittelbaren Wirkungsgeschichtc des Werkes ermessen. Mi t der einen großen Ausnahme Goethes scheint für das künstlerische und kunstgesinnte Publ ikum der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Deutschland - insonderheit für Schiller und die Frühromantiker -die »vernünftige Anforderung« der Kritik der Urteilskraft die kon-sequente Weiterführung und Entfaltung der Kunstidee gewesen zu sein; und die spezielle Anforderung an die Vernunft selber, die spekulative Geister der umfangreichen »Einleitung« entnehmen mochten, die dialektische Vollstreckung des »Systemgedankens«. Da-von findet sich bei Matisse keinerlei Nachhall. Seine Entsprechung ist buchstäblich grundstürzend, indem sie dem ästhetischen Gedan-ken die praktische Dist inkt ion und Spie l form-den »Witz«, wie man im 18. Jahrhundert gesagt hätte - zurückgibt, die mit der Subjektivi-tätsphilosophie und den Bildungswissenschaften des 19. Jahrhun-derts endgültig verloren schienen.

Die Kunst, einen Tisch anzurichten (die Gäste zu setzen)

Die zierliche Spur ist in der Kritik der Urteilskraft durchaus aufzu-finden. Aber sie wird dort überschattet von Kants gewaltiger und effektiv vergeblicher Anstrengung, ein populäres Mißverständnis des englischen Naturenthusiasmus, die vermeintlich unbewußte Produktivi tät des Kunstgenies, philosophisch zu nobilitieren. In den Vorlesungen hingegen ist der Duktus des Diskurses unbefangener und dadurch häufig durchsichtiger auf die leitenden Sachvorstcllun-gen. So findet sich im handschriftlichen Nachlaß zur Anthropolo-gievorlesung folgende Not iz: »Zu schönen Künsten gehört die

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Kunst zu meubliren, zu kleiden und zu putzen; die Kunst, ein Gefolge in einem Aufzuge oder im consess in seiner pracht an zu ordnen.« Mi t späterer Hand ist in Klammern hinzugefügt: »einen Tisch zu serviren, die Gäste zu setzen« (AA , Bd. XV, S. 292, Nr. 660).

Wohl nur ein heillos verstocktes Gemüt wird sich dem Charme dieser wundersamen Aufzählung entziehen können. Ja, hier spricht der »elegante Magister«, der sich nach der Mode »kleidete«, für den farbigen »Putz« die Orient ierung am Beispiel der Aurikel empfahl und am dies academicus, wenn die Kollegen im prächtigen »Aufzu-ge« in die Kirche zogen, aus dem Gefolge ausscherte und gemessenen Schritts nach Hause ging. Dennoch repräsentiert dieser einzigartige Katalog der »schönen Künste« nicht einfach die »vorkritische Stufe« oder gar eine possierliche Schrulle des großen Mctaphysikzermal-mers. Indem Kant gleichsam den Schuh mit der Silberschnalle in der Tür stehen ließ, gewährt er in der Tat einen letzten Durchbl ick auf jene Welt, in der das Kunstproblem noch in der Ordnung der artes, der freien und der mechanischen, verborgen war; und der Begriff der »schönen Künste« markiert exakt den Zenith des Übergangs, ehe die Wissenschaften und die Technik nur noch die eine Kunst übrig ließen, die keiner weiteren Prädikation mehr bedurfte. Zugleich jedoch gibt dieser Kanon von Verrichtungen eine sehr einfache und konzise Vorstellung davon, was Kant meint, wenn er erklärt, daß die ästhetische Lust an den Dingen nicht unmittelbar, weder sinnlich noch intellektuell, auf ihre Gegenständlichkeit ziele. Was für eine offene, unverkrampfte Welt muß das doch gewesen sein, in der »Putzen« noch nicht selbstredend Reinemachen hieß! Ganz zu schweigen von jenen Zusammenkünften »im consess«, die nicht allein von der Pflicht der Geschäfte diktiert wurden, sondern dar-über hinaus im decorum ihrer Anordnung »dem tief verborgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in der Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden« (K U 53) zu genügen suchten.

Nichtsdestoweniger wäre diese rückwärts gewandte Seite Kants heute wohl nur noch von antiquarischem Interesse, etwa für eine kulturgeschichtliche Rekonstrukt ion der »Ästhetik des Alltags«, wenn nicht Matisse - zwar nicht er allein, aber doch als erster — den vermeintlichen Anachronismus brüsk umgedreht und in ein zu-kunftsweisendes Paradigma moderner Malerei verwandelt hätte. Die Umstände dieser Revolution sind beinahe ebenso undramatisch wie ihr Ergebnis. Auf Anraten seines Lehrers Morcau beginnt Matisse im Herbst 1896 sein erstes großes Bild (jedenfalls nach damaligen

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Maßstäben: 100 x 131 cm), das ihn bis ins Frühjahr 1897 hinein beschäftigen wird.1 Das Thema ist höchst eigenartig, was sich in der anfänglichen Unentschiedenheit des Titels widerspiegelt: Endgültig La desserte, »Der angerichtete Tisch«, genannt, hieß dieses Bild zunächst Les preparatifs (nature morte), »Die Vorbereitungen (Stilleben)«. Offenbar ohne Vorbild in der ikonographischen Tradi-tion, scheint das Sujet auch wiederum nicht schlechterdings erfun-den, sondern en passant aufgelesen und schrittweise umgeformt worden zu sein. Eine erste Spur enthüll t Das bretonische Dienstmäd-chen, ein Interieur aus dem Sommer 1896, als Matisse zusammen mit dem impressionistischen Maler Emile Wery in der Bretagne arbeite-te. Das Motiv der im Servieren einer Mahlzeit begriffenen Frau erinnert unmittelbar an Chardins bekanntes Genrebild Das Tischge-bet (1740), wenngleich Matisse bezeichnenderweise gerade die sen-timentale Besetzung des Motivs - das Gebet und die Beziehung zwischen Mutter und Kind - eliminiert. Zurück in Paris erneuert er im Oktober den Kontakt mit Chardin, indem er - zeitgleich mit dem Projekt von La desserte - im Louvre das Prunkstilleben Le buffet (1728) zu kopieren beginnt: zum Broterwerb. Diese allgemein übli-che Lohnarbeit hat sich anscheinend auf die hochaufgetürmten Früchtestilleben der eigenen Komposit ion ausgewirkt. Dagegen ist die zentrale Handlung der Komposition, das letzte Aufschütteln der Blumen in der Vase auf der compotiere, unverkennbar ein Stück von Matisse selber.

Was La desserte zu einem Schlüsselbild macht, ist jedoch weniger das eigenartige Sujet an sich, als vielmehr die daran offen zutage tretende Diskrepanz zwischen Motiv und Darstellungsweise; denn in ihr scheint die Richtung der endgültigen Verwandlung bereits angelegt. Als Matisse 1908 in der Harmonie Rouge dasselbe Thema noch einmal aufgreift und bestimmte Details, wie z. B. die Blumen-vase auf der compotiere, sogar genau zitiert, hat sich nicht bloß sein Malstil erheblich verändert. Die Bedeutung des Bildes ist vielmehr eine grundlegend andere geworden, weil jetzt das Thema vollkom-men den entwickelten Anforderungen der Darstellungsweise ent-spricht (nicht umgekehrt). Im Rückblick scheinen zumal zwei signi-

1 Die Entstehungsgeschichte und Beziehung des Motivs zur Harmonie Rouge (1908) wird ausführlich erörtert von John Elderfield in dem Katalog Henri Matisse. A Retrospectwe, Museum of Modern An, New York 1992, S. 24-25. Zu den Kopien von Matisse nach Bildern von Chardin im Louvre vgl. den Ausstellungskatalog Copicr Creer. De Turner ä Picasso: 300 ceuvres inspirees par les maitres du Louvre, Musee du Louvre, Paris 1993, S. 348-349.

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1. Henri Matisse, La desserte (Der angerichtete Tisch), 1897, 100 x 131 cm, Privatsammlung. Aus: Henri Matisse. A Retrospective, The Museum of Modern

Art, New York 1992, S. 97.

fikante Abweichungen - eine auffällige und eine weniger offensicht-liche - diesen Umbruch anzukündigen. Bei der ersten Ausstellung von La desserte 1897 im Salon de la Societe Nationale des Beaux-Arts nahm das Publikum offen Anstoß an der Behandlung der Lichtre-flexe, die pastos und opak anstatt in transparenten Lasuren vorgetra-gen sind.1 Die dadurch hervorgerufene stumpfe, viskose Materiatur der hellen Partien widerspricht der gewohnten gegenständlichen Vorstellung von der Differenz zwischen Licht und Substanz. Matisse war jedoch gerade durch das Studium der Phänomene enplein air-während seiner Zusammenarbeit mit Wery in der Bretagne - zu dieser Angleichung der Konsistenzunterschiede gelangt. Für die differenzierte Farbwahrnehmung des Malers erweist sich die Vor-

1 In einem Interview mit Jacques Guenne (1925) erinnert sich Matisse an diese Ver-fahrensweise (»je ne transposai plus dans la transparence du Louvre«) und gibt eine ironische Erklärung für die Reaktion des Publikums: Da damals eine Typhus-Epi-demie in Paris herrschte, habe die Vertrübung der Karaffen die Bazillenangst pro-voziert... Matisse, Ecrits et propos, loc. cit., p. 82. Über Kunst, a. a. O, S. 103.

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Stellung vom durchsichtigen Licht als eine undurchschaute Abstrak-tion. Aus dieser Einsicht gewann Matisse in den folgenden Jahren einen selbständigen Zugang zu Cezanne und erhob den Primat der Bildordnung rigoros zum Prinzip, indem er Schatten, Lichter und Lokalfarben generell gleichwertig, als Farborte in der Bildfläche, behandelte.

Diese Tendenz zur Verselbständigung der Bildfarbe wird in La desserte noch unterstützt durch einen unauffälligen kompositori-schen Faktor. Der erste Eindruck, als werde die räumliche Einheit der Anschauung durch eine konventionelle projektive Konstruktion bewerkstelligt, hält der näheren Nachprüfung nicht stand: Das Weg-kippen des Oberkörpers der Serviererin, vom ausgestreckten Arm aufwärts, in die völli g ungeklärte Bildebene ihres Gesichts ist eine prekäre Schwachstellc der Komposition. Daß das Bild trotzdem ungemein dicht und fest zusammenzuhängen scheint, rührt in erster Lini e daher, daß in die opake Helligkeit der Weiß- und Grautöne hinein ein Rot-Grün-Kontrast verwoben ist, der unbeschadet der gegenständlichen Unterschiede die gesamte Farborganisation durchdringt. Seine Schwerpunkte liegen in den Karaffen von Essig und Öl, in den Früchten und Blumen und in der Gesichtsfarbe der Serviererin; aber er scheint ebensosehr in den Stühlen und in der Wandbespannung auf und zieht sich durch den Halbschatten des herabhängenden Tischtuchs. Zusammen mit der Undurchsichtigkeit der Lichter bildet dieser flache, durchweg vertrübte Kontrast einen diffusen Schleier, der vor allem die Gegenstände auf dem Tisch seltsam ungreifbar erscheinen läßt.

Eben diese Schleierhaftigkeit scheint in der Harmonie Rouge restlos verschwunden. In dem großen Wandbild (180 x 220 cm) für das Eßzimmer des Moskauer Sammlers Schtschukin herrscht eine fast übernatürliche Klarheit und Deutlichkeit. Aber daß wir in derart gesteigerter Weise sehen, heißt offenbar nicht, daß uns das Bild die Dinge in dieser Klarheit und Deutlichkeit zu verstehen gibt. Eigent-lich hat nur die Darstellung der toile dejouy, der Zierdecke mit dem Arabeskenmuster, eine ungefähre Ähnlichkeit mit der Gegenständ-lichkeit des Dargestellten. Anstatt daraus stracks die bekannten Schlußfolgerungen zu ziehen, scheint es an diesem Punkt eher hilf -reich, für einen Augenblick noch einmal zurückzublicken - auf die merkwürdige Verhangenheit von La desserte. Denn diese Irritation der Wiedererkenntnis ist ja keine Spezialität des jungen Matisse. Spätestens seit Manet scheint die Enttäuschung der gegenständlichen Erwartung das skandalöse Novum der französischen Malerei der

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2. Henri Matisse, Harmonie rouge (Rote Harmonie), 1908, 180 x 220 cm, Eremitage in St. Petersburg. Aus: Henri Matisse. A Retrospective, a. a. O., S. 187.

klassischen Moderne gewesen zu sein; und das versierte Pariser Salonpublikum hat sich davon vielleicht genauso provoziert gefühlt, wie der deutsche Bildungsbürger- mangels originärer Kunsterfah-rung - aus Überzeugung Anstoß genommen hat an Kants These, daß das Interesse am Schönen nicht an der »Existenz des Gegenstandes« interessiert sei. Wie immer man diese unterschiedlichen Formen von Entrüstung werten mag und wieviel gute Gründe zur Stützung der ästhetischen Lust auf »Existenz« auch beigebracht werden können: Tatsache ist, daß die Äpfel in der modernen Kunst - nach einer Äußerung Rilkes über Cezanne - nicht mehr genießbar sind. Der Sachverhalt ist wahrscheinlich, wenn man sich nur weit genug um-sieht, viel weniger alarmierend, als der kurzangebundene kulturkri-tische Blick in den Abgrund wahrhaben möchte. Denn die affektive Besetzung der Dinge als Objekte des Menschen beschränkt sich auf eine relativ bemessene Epoche der europäischen Malerei - grob gesagt, von Caravaggio über die Niederländer zu Chardin. Davor gibt es die »Dinge zum Anbeißen« so wenig wie danach; ganz abge-sehen davon, daß andere Bildkulturen, wie etwa die fern-östlichen,

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eine vergleichbare Appropriationsmentalität nicht zu kennen schei-nen.

Solche Erwägungen mindern den Affront der Harmonie Rouge keineswegs. Im Gegenteil. Beide Einschränkungen, die Relativie-rung des europäisch-neuzeitlichen Problems der Repräsentation und die Einbindung der Kunst von Matisse in den Zusammenhang der Moderne seit dem 19. Jahrhundert, lassen den revolutionären Charakter dieser Bildform überhaupt erst gehörig hervortreten. So bewußt und provokant hat sich die Malerei noch nie und nirgendwo zuvor von der Aufgabe der Abbildung losgesagt; und mit dem Verzicht des direkten Abhebens auf eine vorausliegende Wirklich-keit entfällt zugleich der Flor des Entzugs. Die Verschleierung ist entschleiert - aber nicht dadurch, daß irgendein Schleier gefallen wäre, sondern allein infolge des Verschwindens seiner Durchschau-barkeit zugunsten einer fugen- und fensterlosen Bildwelt. Kein Son-nenstrahl verirrt sich mehr in diesen Raum, die Farbe allein macht Licht. Von aller Heimlichkeit entbunden, setzt der Rot-Grün-Kon-trast jetzt sowohl den Tenor der mittleren Helligkeit als auch den internen Gegensatz von Innen und Außen. Die bekannte Geschich-te, wie Matisse, nachdem er das Bild bereits verkauft hatte, die ursprünglich blau-grüne Harmonie in eine rot-grüne umgewandelt hat, bestätigt beiläufig, daß nicht die gegenständliche Assoziation der Einzelfarben, sondern die reine Kontrastwirkung im Bild die Farb-wahl bestimmt. Ebenso scheint sich jede Bildebene zuallererst par-allel zur Grundfläche zu verhalten, unberührt von den Gesetzmä-ßigkeiten des optischen Brennpunkts. Die Serviererin ist topfeben und ohne jedes Schwanken gegen den bläulichroten Fond der Zier-decke gesetzt. Auf dem Tisch fehlen die Gedecke: Es gibt keine Teller, Bestecke und Gläser mehr. Eine erdrote und eine goldgelbe Essenz in den beiden Karaffen weckt kaum Interesse an der Existenz des Inhalts. Abwesende Gäste oder Bedürfnisse werden offenbar nicht bedient. Am linken Rand, auf der Eingangsseite des Bildes, ist ein Stuhl uns, den Betrachtern, frontal entgegengestellt. Der Wink ist eindeutig: In der Harmonie Rouge gibt sich die Malerei selber als die Kunst, »einen Tisch zu serviren, die Gäste zu setzen«, zu erken-nen.

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Die »Reinheit der Mittel« und der Wechsel der Gänge

Die meisten dieser Bestimmungen sind an sich klar - und im übrigen längst bekannt. Aber die Einladung des Malers anzunehmen, ist eines; ein anderes, zu bemerken, auf welcher Veranstaltung man ist. Denn die eminente Deutlichkeit der Anschauungen birgt die Gefahr der Eilfertigkeit, die Valery konstatiert hat: den unverzüglichen Fortgang vom Blick zur Erkenntnis - »pour en finir toujours pre-maturement.« Wenn man nur auf die genannten Merkmale achtet, ohne die Art ihrer Verknüpfung näher in Betracht zu ziehen, dann könnte es in der Tat so scheinen, als hätte Matisse bloß Positionen gewechselt und wäre von der einen Einstellung in die entgegenge-setzte umgesprungen: von der Mimesis zur freien Dekoration, vom gegenständlichen Abbild zum autonomen Bildgegenstand - oder wie immer die gängigen Formeln moderner Kunstinterpretation lauten mögen. Doch in dieser zweifellos denkbaren strategischen Ordnung konkurrierender Absichten und Konzepte kommt das beschämend einfache Problem, das Matisse zu Bildern wie der Har-monie Rouge geführt hat, überhaupt nicht vor. 1907 sagt er in seinem ersten Interview zu Apollinaire: »Wenn mich Schwierigkeiten beim Arbeiten aufgehalten haben, sagte ich mir: Ich habe Farben und eine Leinwand, und ich muß mich unverfälscht ausdrücken, und müßte dies auch ganz summarisch geschehen, indem ich z. B. vier oder fünf Farbflecke setze, indem ich vier oder fünf Linien ziehe, die einen plastischen Ausdruck ergeben.«1

Wie drückt man sich unverfälscht aus? Für »unverfälscht« steht im Französischen »avec purete«. Die von Matisse immer wieder beschworene »Reinheit der Mittel« bildet die erste Ebene des Pro-blems. Denn diese Reinheit beruht nicht auf irgendeiner objektivier-baren Eigenschaft an sich, sondern tritt gerade dann am reinsten hervor, wenn die Bildmittel weder künstlich isoliert und damit gegen ihren Sinn als Mittel betrachtet werden, noch gewaltsam verein-nahmt, also bloß als Mittel benutzt werden. Dann nämlich zeigt sich die besondere Bewandtnis der bildnerischen Relativität, daß die Darstellungsfunktion von Formen und Farben zunächst einmal auf ihren Beziehungen untereinander beruht, nicht in ihnen selber. Das heißt, selbst die »Reinheit« der Bildmittel kann im Bild nur relativ behauptet werden - im Gegensatz zu denjenigen Formen der Instru-

1 Matisse, Berits etpropos, loc. cit., p. 55. Über Kunst, a. a. O., S. 64.

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mentalisierung, gegen die sie sich absetzt; oder sie bleibt undekla-riert. Es ist daher keine Inkonsequenz, wenn gerade die frühen programmatischen Bilder wie die Harmonie Rouge beiläufig immer auch die Gegenpositionen einräumen. N ur blinde Prinzipienreiter werden in der Zweideutigkeit, daß der Kontrast zwischen dem strahlenden und dem gedeckten Gelb in der Leibung des Fensters auch als Lichteffekt gelesen werden kann, einen Verstoß gegen den Ausschluß der Lichtillusion erkennen. Für das unbefangene Auge wird dadurch die in der Bildfarbe selber liegende Differenz zwischen Lichterscheinung und Pigment durchaus angemessen - nämlich un-auffällig - pointiert. Geradezu beispielhaft trit t diese Klarstellung durch den Kontrast in der Raumkonzeption des Bildes hervor. O b-wohl die prinzipielle Flächigkeit der Bildfarbe an keiner Stelle durch die Farbe selber (etwa durch Körperschatten) angetastet wird, sorgt die Raumzeichnung mittels diagonaler Verschiebungen und Verwer-fungen dafür, daß die Farbflächen untereinander in einen räumlichen Spannungsbezug geraten. Wahrscheinlich läßt sich dieses überra-schende Auftauchen einer fluchtpunktlosen Bühnenperspektive auf die erste intensive Begegnung mit der Malerei Giottos während einer Italienreise im Sommer 1907 zurückführen. Anders als der Floren-tiner weist Matisse der Skenographie freilich keine tragende Funk-tion zu, sondern bedient sich ihrer lediglich partiell um der dynami-schen Wirkung willen. Die flächigen Akzente der Fensteröffnung und der Zierdecke gleichen den projektiven Schub entlang der Tisch-kante bei weitem aus, während die Tiefenstaffelung der beiden Stühle in der Gegenrichtung - links vorn der eine, der andere rechts hinter dem Tisch - von der identischen Höhe der beiden Stuhllehnen wieder zurückgenommen wird.

Dieses kunstvoll geknüpfte Beziehungsgeflecht der Darstellungs-mittel untereinander steht nun aber insgesamt noch einmal in Bezie-hung zur Ausdrucksabsicht des Malers. Erst in dieser Hinsicht wird die eigentliche, indirekt den Anforderungen von Kants ästhetischer Vernunft genügende Ranghöhe der Malerei von Matisse vollends faßbar. Die »Reinheit der Mittel« dient in der Harmonie Rouge nämlich nicht etwa, wie in anderen Bildern, dem Ausdruck von dieser oder jener »emotion« oder Befindlichkeit; vielmehr richtet Matisse hier, in den Grenzen des gewählten Motivs, ein Ganzes an Erfahrung aus, indem er die Relativität der Mittel in ihrer Aus-drucksfunktion als eine absolute hinstellt. Das geschieht unter den endlichen Bedingungen der Malerei dadurch, daß die gegenständli-che Lesart der Zeichen in zwei wichtigen Zusammenhängen sowohl

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bestätigt als auch dementiert und sogar umgekehrt wird. So läßt sich die Zuordnung der toile de Jouy zu den Früchten und Blumen auf dem Tisch sowie dem Naturmotiv im Fenster als eine buchstäbliche Demonstrat ion des von Matisse so geliebten Prinzips der »Arabe-ske« sehen: Im Bil d sind die dargestellten Dinge zuletzt ebensosehr dekorativ-ornamentale Zeichen, wie es die Muster auf der Zierdecke von vornherein waren. Aber statt es bei dieser Lektion bewenden zu lassen, kehrt Matisse den Sinn der Aussage noch einmal um. Das blaue Muster des Früchtekorbs erscheint im direkten Vergleich mit der stilisierten Blumenvase und gegenüber allen anderen Naturalien im Bild ungleich »natürlicher« als die Motive aus erster Hand. Die großen Rankenornamente sind geradezu das vitalste Element in dieser Manege, gewissermaßen der Peitschenknall, der den artisti-schen Dressurakt in Schach hält - bis die große poetische Verwand-lung, mit der gehörigen Verzögerung, durchdringen kann. Zum Auftakt hält der trockene Witz von Matisse noch einmal derb dage-gen: Hat der Haarknoten der Serviererin nicht eine gewisse Ähnlich-keit mit den Brötchen auf dem Tisch? Aber dann ist das Geheimnis entdeckt. Die Frauengestalt, die, gedankenverloren vornüberge-beugt, die Fruchtschale in ihrem Arme wiegt, ist in ihrem Umriß und ihrer Hal tung ein echtes Analogon zu dem Baum vor dem Fenster, der in seiner schütteren weißen Tracht über die Blumen auf der Wiese wacht...

Damit ist das Maß der Ausdeutbarkeit aber auch schon erschöpft. Jede weitere Niederkunft der Erkenntnis, wie z. B. der fromme Schluß, hier werde die Utopie der paradiesischen Wiederversöhnung aller Wesen verkündet, wäre nicht nur vorschnell, sondern fiele hoffnungslos unter das Darstellungsniveau des Bildes. Denn die Verheißung ist längst eingelöst, die wundersame Wandlung am Be-trachter selber vollzogen, wenn auch nur im ästhetischen Modus des Wahrnehmbar-Möglichen und für die Dauer der Gegenwart des Bildes. Statt mit der Existenzbehauptung von diesem oder jenem abwesenden Sachverhalt Position zu beziehen, wartet das Bild mit einer Anordnung von unterschiedlichen Darstellungs- und Aus-drucksfaktoren auf, die gezielt jede objektive Feststellung unterbin-det - um die Gemütskräfte von Verstand und Einbildungskraft in einem Verhältnis zu wiegen, das Kant »freies Spiel« genannt hat. In der ersten, unveröffentlichten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft wird die ungerichtete, von keiner Regel geleitete Bewegung des Denkens folgendermaßen beschrieben: » R e f l e k t i e r en (Überle-gen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit anderen, oder mit

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seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch mög-lichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten« (AA, Bd. XX , S. 211). In dieser einfachen, monologischen Hinsicht bleibt die Freiheit der Reflexion noch unverwandt an der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des ausstehenden Begriffes orientiert. Indem die Harmonie Rouge dem »Vergleichen« und »Zusammenhalten« der Vorstellungen miteinander und mit der ursprünglichen Einheit der Apperzeption jedoch einen entsprechenden Ort in der Anschauung verschafft, weicht die reine Erkenntnisintention der genuin ästheti-schen Genugtuung an der Affirmation des spontanen Denkvollzugs selber. Das Bild gewährt der Reflexion die »Gunst«, sich auch ohne Grund auf der Höhe der Anschauung fühlen zu dürfen: dank der ausschließlich reflexiven, subjektiv lustvollen Evidenz, daß diese Betrachtung »sich selbst stärkt und reproduziert«.

Allerdings läßt diese Parallelität zwischen Kants Ästhetik und der Bildkunst von Matisse auch eine feine aber wichtige Abweichung erkennen. Sie betrifft weniger die effektive Übereinstimmung an sich als die Konstitutionsform der einander ergänzenden Anschauungen. Unberührt bleibt die Grundtatsache, daß nur eine der begrifflichen Versicherung überlegene oder, wie Kant sehr viel schöner sagt, »überschwengliche« Anschauung der Reflexion die im Ansatz nega-tive Erfahrung der Vergeblichkeit des Erkenntnisinteresses wider Erwarten als eine entgegenkommende und zutiefst affirmative in Aussicht zu stellen vermag. Aber dieses Übermaß scheint - anders als Kant uns und vor allem sich selber im § 49 der Kritik der Urteilskraft klar zu machen versucht - nicht unbedingt auf dem Wege einer expansiven oder kumulativen Überschreitung des kogni-tiven Fassungsvermögens durch die Fülle der Anschauung zustande zu kommen. Die Vorstellung vom genialen »Schwung der Einbil-dungskraft« scheint ein allzu pauschales Zugeständnis der Transzen-dentalphilosophie an den Aberglauben von der Kraftnatur des Ge-nies. Matisse jedenfalls gibt in der Harmonie Rouge sowohl durch die Relativierung der Gesichtspunkte als insbesondere durch die Unterbrechungen und Umleitungen der Intentionalität des Sehens zu erkennen, daß die »ästhetische Idee« womöglich gar keine einfa-che »Idee« ist, sondern daß die Veranlassung, »mehr dabei, obzwar auf unentwickelte Art, zu denken« (KU 196), schlicht die vernünf-tigen Anforderungen der Mehrdimensionalität und Wandelbarkeit der Erfahrung zur Geltung bringt. Kurzum, was für die »Synthesis der Rekognition« wie eine überreiche, die Ökonomie des Begriffs sprengende Festtafel aussehen mag, erweist sich unter dem Gesichts-

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punkt der Servierkunst der Malerei als die Wirkung eines wohlkal-kulierten Wechsels der Gänge.

Die weitere Entfaltung der Bildkunst von Matisse hat genau diese Differenz in der Konzeption von >Fülle< durch einen ungeahnten Reichtum an Formulierungen erhärtet und vertieft. Die Korrespon-denz mit der rätselhaften Spur der Lust im Horizont der Reflexion ist dadurch zusehends weniger zwingend geworden - bis zu dem Punkt, wo die Bilder der transzendentalen Prämisse des ästhetischen Urteils unverhohlen zu spotten beginnen. Andererseits hilft gerade die Erinnerung an die vorübergehende Nähe zu Kants Ästhetik, im Wachsen des Abstandes die Emanzipation einer radikal bildneri-schen Logik zu erkennen. Deswegen sei das Aufbrechen der Kluft abschließend an zwei exemplarischen Stationen des Weges von Ma-tisse aufgezeigt: an dem Interieur, fleurs etperruches (1924, Baltimo-re Museum of Art) aus der Nizza-Periode und an einem Bild aus der letzten Phase der Tafelmalerei, dem Interieur au rideau egyptien (1948, Phillips Collection Washington).

Jenseits der Einheit des Gegenstandes

Als Matisse im Winter 1917-18 erstmals die Saison der lichtarmen Tage in Nizza verbrachte, begann er seine künstlerische Arbeit zur allgemeinen Überraschung von Grund auf neu zu orientieren. Die Bilder, die während der nächsten zehn Jahre entstanden, unterschei-den sich von dem bahnbrechenden Werk der Jahre 1905-1916 insge-samt dadurch, daß sie auf Anhieb - wie die Kriti k gleich bei der ersten Ausstellung 1919 vermerkte - unvergleichlich zahmer und konven-tioneller zu sein scheinen.1 Die beinahe diagrammatische Deutlich-keit der Ausdruckselemente und die abrupte Verknüpfung inkon-gruenter Darstellungsformen scheinen aufgegeben zugunsten subti-ler Tonwert-Abstufungen und einer einheitlichen Tiefenräumlich-keit. Der Grund für diese Veränderung ist die Einführung der Hell-Dunkel-Modulierung, die bislang - im Gefolge des Ausschlusses der Lichtdarstellung - keine eigene Rolle im Bildbau gespielt hatte. Spätestens seit 1915 scheint Matisse jedoch zunehmend von einer offenkundigen Verkürzung seiner quasi-cartesianischen Reduktion

1 Das Verdikt von Jean Cocteau lautete: »Nun ist das sonnenumstrahlte Raubtier (fauve) zu einer kleinen Bonnardschen Katze geworden.« Wiederabgedruckt in Jean Cocteau, Le Rappelä Vordre, Paris 1926, S. 98-99.

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auf die reinen Bildfaktoren beirrt worden zu sein: Plastische valeurs und die charakteristische Tiefenempfindung des Raumes (im Unter-schied zur geometrischen Projektion) waren ohne eine ausdrückli-che Tonwert-Differenzierung nicht zu bewerkstelligen. Ein wichti-ger »Gang« fehlte offenbar in der Festordnung der Malerei, und im Mangel eine Tugend zu sehen,war mit Matissens Vorstellung von der »Reinheit der Mittel« unvereinbar. »Man macht keine Ordnung in seinem Haus, indem man sich dessen entledigt, was man nicht hat«, schreibt er 1933.'

Die neue Ordnung seit 1918 ist freilich, wie das Interieur, fleurs etperruches zeigt, alles andere als ein Rückfall in alte Hausregeln der Malerei. So mag zwar das Zurücktreten der buchstäblichen, forma-len Abstraktion zunächst wie ein Nachlassen der bildnerischen Am-bition erscheinen; aber all jenen, die lieber lesen als sehen mögen, gibt der Bildtitel einen ironischen Wink: Wo sind die Wellensittiche? Ein paar grüne und gelbe Flecken im unteren Drittel des Käfigs deuten auf die mögliche Anwesenheit von zwei Exemplaren hin -vielleicht sind es aber auch vier, wenn die abgeschwächte Wiederho-lung im oberen Drittel nicht bloß als ein Reflex verstanden wird... Besser als jede langatmige Erklärung mahnt dieser plötzliche Wech-sel des Deutlichkeitsgrades innerhalb der ungefähr gleichbleibenden Klarheit der Bildgegenwart an, daß dem friedlichen Rückzug des Malers auf eine »intimistische« Tonwert-Malerei nicht zu trauen ist. Matisse hat seine eigentümliche Bildlogik vielmehr auf die Skalen der Nuancierung und Gradierung auszudehnen begonnen. Hell und Dunkel sind im Bild primär ja keine gegenständlichen Abbildungen, sondern, ähnlich wie das Licht, echte propria, Eigentümlichkeiten der Farbe selber. Analog zum jeweiligen Eigenlicht der Bildfarbe gibt es eine interne Helligkeitsskala, in der sich die Farben untereinander ausdifferenzieren. Das Problem, wie diese Eigenhelligkeit in relati-ver »Reinheit« entfaltet und organisiert werden kann, ohne auf eine fiktiv e Lichtquelle zu rekurrieren oder auch nur den Schein von »Beleuchtung« hervorzurufen, läßt sich aus dem Interieur von 1924 nur mehr indirekt erschließen - durch die beinahe vollkommene, so gut wie unauffällige Lösung. Ausgehend von der mittleren Hellig-keit der starken Buntfarben, die durch die beiden Rotwerte des Fußbodens etabliert wird, lassen sich zwei grundverschiedene Ent-wicklungen der Tonskala beobachten. Der geraffte braune Vorhang im Durchgang und der zarte Anklang des Stillebens links vorn in der

1 Matisse, Berits etpropos, loc. cit., p. 127. Über Kunst, a. a. O., S. 126.

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3. Henri Matisse, Interieur, fleurs et perruches (Interieur mit Blumen und Sitti-chen), 1924, 116,9 x 72,7 cm, The Baltimore Museum of Art (Conc Collcction).

Aus: Henri Matisse. A Retrospective, a. a. O., S. 333

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Farbkonstellation um das Fenster rechts hinten zeigen, daß Matisse keine Bedenken hat, die einzelnen Farbwerte über ihre angestammte Tonhöhe hinaus nach Weiß hin aufzuhellen. Dem entspricht umge-kehrt jedoch keine kontinuierliche Abdunkelung der Farben. Statt-dessen wechselt, wo immer ein Ton verdunkelt oder eine Intensität verschattet wird, zugleich der Farbwert, wie aus dem Sprung von einem roten zu einem neutralen Braun im Schatten der Tischober-fläche und vor allem aus dem Umschlag von Grau nach Dunkelbraun in dem dekorativen Wandbehang auf der linken Bildseite ersichtlich ist. Diese offene und überlegte Beugung eines Darstellungsprinzips erinnert an die Behandlung der Perspektivität in der Harmonie Rouge; und so wenig ist dieses ehedem vordringliche Kalkül verges-sen in dem späteren Interieur, daß es in unauffälliger Form sogar mitspielt: Während die Tiefenprojektion des Bildraumes, die Flucht von drei Zimmern durchmessend, die Grundebene bis über die Mitte der Bildfläche aufspringen läßt, bleibt das Rautenmuster der Fliesen auf der gesamten Strecke unverkürzt dasselbe.

Abgesehen von dem schieren Vergnügen, das bildnerische Intel-ligenz noch beim nachzeichnenden Zusehen bereitet, zerstreuen solche Beobachtungen die vorschnelle gegenständliche Wiederer-kenntnis so weit, daß die unerhörte Zumutung des Bildbaus eine Chance bekommt, sichtbar zu werden. Die Spannung ist vom ersten Moment an spürbar - angefangen von der ungewöhnlichen Propor-tion des Hochformats: 116,9 x 72,7 cm. Aber erst wenn sich der Blick in den Binnenverhältnissen des Bildes näher umgetan hat, wird die konstruktive Funktion der Annäherung an das Türformat erkenn-bar: Das Interieur, fleurs et perruches ist eine extrem zweiseitige Komposition. Auf der rechten Seite scheint die enorme Distanz zwischen dem Türprofil im Vordergrund und dem Fenster an der Rückwand durch ein paar wenige helle Graustufen überbrückt und eng in der Fläche zusammengedrängt zu sein. Dieser farbigen und räumlichen Kontraktion steht auf der linken Seite eine üppige, fast überbordende Entwicklung von Buntfarben, Form- und Farbkon-trasten und träge sich wölbenden Kurvaturen gegenüber. All e Ge-wichte, die satten Intensitäten ebenso wie die vollen Formgebilde, sind auf dieser ausgedehnten Seite versammelt, während die kompri-mierte helle Passage weitgehend entlastet, fast schwerelos nur den Raum selber zu gliedern scheint. Mehr noch, als ob der gegensätzli-chen Verschränkung nicht schon genug wäre, flieht die locker geraff-te Staffelung der Graustufen auf der rechten Seite rasch hinauf und zurück in die Tiefe des Bildes. Ihr Pendant hingegen, die ausladende

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4. Henri Matisse, Interieur au rideau egyptien (Interieur mit ägyptischem Vor-hang), 1948, 116,2 x 89,2 cm, The Phillips Collection Washington. Aus: Henri

Matisse. A Retrospective, a. a. O., S. 443

und hochbefrachtete Kaskade zur Linken, gravitiert nicht nur nach unten, sondern schwingt zugleich mit einem mächtigen Satz nach vorn: in der Spanne zwischen den farbigen Andeutungen an der Rückwand mit dem Fenster und der vollen Gegenwart von Gelb,

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Rot, Blau und Grün in dem Stilleben auf der Zierdecke unmittelbar unter den Augen des Betrachters.

Wohl jeder, der sich mit bildender Kunst beschäftigt, kennt diese Format ion, zumindest vom Hörensagen; und Matisse, der ein Leben lang nach dem Modell gezeichnet hat, mag der Verteilung der Ge-wichte und Charaktere nicht einmal mehr eine besondere Aufmerk-samkeit beigemessen haben. Das ändert jedoch nichts an der frappie-renden Tatsache: Die Bauform des Interieur, fleurs et perruches ist ein echter Contrapposto, eine plastische Aufstellung und Ponderie-rung der menschlichen Gestalt - ins Idiom der Bildfläche übersetzt! Di e Überschrei tung der Gattungsgrenzen und der Austausch der Motiv e erscheint weniger gewaltsam und willkürlich , wenn man sich deutlich macht, daß die hochklassische antithesis der griechischen Skulptur ja weder eine anatomische Gesetzmäßigkeit des menschli-chen Körpers noch eine ausschließlich skulpturale Aufstellungstech-nik gewesen ist.1 Die extreme Spannung zwischen einer belasteten und einer entlasteten, einer kontrahierten und einer entspannten Seite in Skulpturen wie dem Doryphoros des Polyklet z. B. vermag kein Modell ruhig und sicher zu stehen, weil die Entgegensetzung keine wirkliche Stellung repräsentiert, sondern einen möglichen Zusammenhang des Daseins - das Zueinandergehören von Bewe-gung und Ruhe - ins Werk setzt. Wie sehr diese Möglichkeit eine genuin ästhetische und nicht bloß eine plastisch-technische ist, zeigt sich freilich erst an der irrtümlichen Konsequenz der akademischen >Standbein-Spielbein«-Lchre, auch den weiblichen Körper in den Contrapposto richten zu wollen. Obwohl Frauen physisch kaum anders stehen als Männer und plastisch genausogut nach reinen Proport ions- und Gewichtsverhältnissen aufgebaut werden können, gibt ihre Körpergestalt von sich aus nicht die Ansatzpunkte her, um das volle konträre Verhältnis von Bewegung und Ruhe im freien Stand plausibel zu machen. Für die klassischen Bildhauer selber ist dieses »Problem« bekanntlich nie akut geworden. Die großen Frau-enskulpturen des 5. Jahrhunderts - etwa die Gött innen vom Typus der Athena Lemnia oder die Amazonen aus dem Wettbewerb für das

1 Zur kunsttheoretischen Bedeutung dieses Sachverhalts vgl. die Ausführungen des Autors in dem Aufsatz Abstraktion als Antithese. Vom Sinn der Entgegensetzung in der Malerei Piet Mondrians und Jackson Pollocks, in: H. Poos (Hg.), Kunst als Antithese, Berlin 1990, S. 211-239. Den radikalen Unterschied der griechischen Bauform zur gängigen Vorstellung vom »Standbild« erörtert Dieter Rahn in seinem Buch Die Plastik und die Dinge, Freiburg 1993 (vor allem in dem Kapitel »Die Zeitdimension der griechischen Plastik«, S. 65-82).

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Diana-Heiligtum in Ephesos - sind alle Gewandfiguren, in denen die antithetische Ponderation sozusagen »malerisch«, durch die Hülle des Gewandes erklärt wird. Statt rein anatomischer Merkmale wer-den in den Peplos- und Chitongewändern die Spannung und der lose Fall von Bausch und Faltenwurf, Straffung und Schürzung zur Artikulation des freien Auftretens der Gestalt herangezogen.1

Diese Erinnerung mag kunsthistorisch hinreichen, um die ver-blüffende Übersetzung und Anwendung des Kontrapost auf die Verhältnisse des Bildraumes und den Aufbau eines Interieurs weni-ger absonderlich erscheinen zu lassen. Aber für die Reflexion wird dadurch der Bildcharakter des Matisse-Gemäldes erst eigentlich problematisch. Denn im präzisen Sinne stellt das Interieur von 1924 keinen Gegenstand der Betrachtung mehr dar. In einer grundlegen-den Einlassung der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant das Be-wußtsein der Notwendigkeit, daß unserer Erkenntnis etwas »dawi-der« sei, mit der objektiven formalen Einheit des Selbstbewußtseins begründet, wogegen wir unsere Vorstellungen zusammenhalten (KrV A 104f.). Diese Fundierung der Einheit von Gegenständlich-keit überhaupt in der ursprünglichen Synthesis des Aktes »Ich den-ke« gilt auch noch für diejenigen empirischen Anschauungen, deren Gegenwart die Urteilskraft nicht auf die Position eines Begriffes abstellen kann. Die ästhetische Reflexion bleibt in ihrer subjektiven Ausrichtung auf Gegenständlichkeit zunächst immer noch an einer Vorstellung vom »Bild« als einer Einheit von Mannigfaltigem orien-tiert - auch und gerade dann, wenn sie sich den Wonnen der Zer-streuung und intellektuellen Unterforderung ergibt. Matisse stellt dieser Einstellung nicht einfach eine andere (wo immer auch herge-holte) entgegen, sondern fordert die Beweglichkeit und innere Wi-dersprüchlichkeit der Synthesis ein. Statt Vielfalt als den Inhalt von Einheit - von ihr umfaßt und durch sie geprägt - zu formulieren, hatte bereits die Harmonie Rouge den Wechsel der Bildbezüge im ganzen als einigenden Faktor ins Spiel gebracht. Die Anverwandlung der klassischen antithesis geht jedoch noch einen entscheidenden

1 Ein gutes Beispiel für die praktische Blindheit gegenüber diesem plastischen Pro-blem ist die im 19. Jh. mehrfach aufgelegte Broschüre von Gottfried Schadow, Po-liclit, oder von den Maassen des Menschen nach Geschlecht und Alter, die auf dem Titelblatt eine nackte Frau bei dem Versuch zeigt, gestützt auf eine Stange die ar-givische Hochentlastung zu simulieren. Dagegen hat ein »Theoretiker« wie Ludwig Curtius die skulpturale Hilfskonstruktion des Gewandes sofort erkannt: Die anti-ke Kunst (1938), Bd. 2: Die klassische Kunst Griechenlands (darin der Abschnitt »Der weibliche Körper und das Kleid«, 2. Aufl . 1959, S. 276-287).

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Schritt weiter in der Umbildung der gegenständlichen Konzeption von Einheit. Auf eine plastische, am leibhaften Dasein orientierte Auffassung von Totalität zurückgreifend, verankert Matisse die Ein-heit der Bildanschauung in einer offenen kompositorischen Entge-gensetzung.

An diesem Punkt beginnt die Beziehung zwischen den Gemälden des Malers und den Bildern der Reflexion kontrovers zu werden. Aber selbst angesichts der nicht mehr zu übersehenden Divergenz gewährt Kants kritische Begründung der ästhetischen Erfahrung immerhin noch die Möglichkeit, die letzte Aufführung des Festes der Malerei in ihrem Rang zu würdigen. Im Jahre 1948 malt Matisse, ehe er sich fast ausschließlich der Arbeit an der Rosenkranzkapelle und an denpapiers decoupes widmet, in Vence eine Gruppe von Tafelbil-dern, die in ihrer betörenden Einfachheit den konzisen Endpunkt seiner malerischen Entwicklung darstellen. Jetzt ist nicht nur die gegenständliche Geltung der Bildwirklichkeit verschwunden, son-dern auch jede Spur von einem antithetischen Gegenentwurf. Statt-dessen zeigt das Interieur au rideau egyptien drei scheinbar unver-mittelt zusammengestellte Motive: das Fenster in der Vill a »Le Re-ve«, wo Matisse von 1943 bis 1949 lebte und arbeitete, mit der auch in anderen Bildern wiederkehrenden Dattelpalme; davor einen Tisch mit einer Fruchtschale; daneben den im Titel genannten ägyptischen Vorhang. Die einzige erkennbare Verknüpfung dieser Orte und Dinge im Bild besteht darin, daß sie sich sowohl unserer Vorstellung gemäß zueinander verhalten - als auch vollkommen entgegengesetzt. Fenster sind in der autonomen Bildwelt von Matisse von jeher keine Öffnungen von Innen nach Außen gewesen, sondern Innenansich-ten von Draußen, deren relative Gegensätzlichkeit ein Zimmer über-haupt erst als Interieur erklärte.1 Hier aber blicken nicht mehr wir hinaus auf ein Kontrastbild zum Innenraum, die gewaltige Explo-sion des Sterns der Dattelpalme im Fenster ist vielmehr die Quelle, von der her uns die Abgeschiedenheit des Interieurs sichtbar wird. So sehr bestimmt das Versprühen der Blau-, Grün- und Gelbnuan-cen auf weißem Grund das farbige Eigenlicht des Bildes, daß der

1 Im Jahre 1942 antwortete Matisse in einem Radiointerview auf die Frage, woher der »Charme« seiner »Bilder mit offenen Fenstern« rühre, mit einer Beschreibung seiner Perzeptionen, die Leibniz entzückt hätte: »Wahrscheinlich daher, daß für mein Gefühl der Raum eine Einheit ist vom Horizont bis ins Innere meines Ateliers und daß das vorübergleitende Schiff im gleichen Raum lebt wie die vertrauten Din-ge in meiner Umgebung. Die Mauer mit dem Fenster schafft nicht zwei verschie-dene Welten.« Über Kunst, a. a. O, S. 170.

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blaurosa Schimmer auf dem Tisch wie eine impressionistische In-duktionsfarbe erscheint - und der Schatten der Fruchtschale gerade-zu blauviolett (obwohl er so schwarz ist wie die Innenwand des Raumes und Teile des Vorhangs). Drei Jahre später wird das Glas-fenster mit dem »Lebensbaum« genau dieses rosa Farblicht in der Chapelle du Rosaire hervorrufen. In dem Tafelbild von 1948 aber wird das traumwandlerische Schweben zwischen Turbulenz und Stille abrupt unterbrochen: durch den Schnitt des ägyptischen Vor-hangs, der die angedeutete Raumtiefe unvermittelt flach macht, indem er, der Fensterkante entlang das gesamte rechte Bilddrittel kappend, die Ausdehnung des Raumes mit dem Tisch schlicht un-terschlägt. Es ist dies freilich ein Schnitt von jener Zweischneidigkeit, die Matisse in den Scherenschnitten weiter verfolgen wird. Die Trennung unterbricht und verbindet zugleich. Der nämliche Vor-hang, der scheinbar jegliche Raumentwicklung abblockt, erweist sich bei näherem Hinsehen als die repottsstnr-Fläche, auf die bezogen die Ortsbeziehungen des Bildes überhaupt erst ihre volle plastische Bestimmtheit finden: die imaginäre Tiefe des Innenraums ebenso wie der fulminante Einbruch des Fensters.

Was fasziniert die Reflexion an solchen Bildern, die der gegen-ständlichen Synthesis aufgekündigt haben? Vielleicht ist es gerade die offenkundige Widersetzlichkeit, welche das »belebende Prinzip im Gemüte«, das in der Kritik der Urteilskraft »Geist« heißt, wach-ruft. In der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von der »Idee« Piatons als dem Irrtum der Taube, die meinte, über den Wolken, wo der Widerstand abnimmt, müsse die Freiheit gren-zenlos sein. Ähnliches gilt womöglich von einer allzu großen Boden-nähe der Ästhetik, wenn sich die Reflexion von dem alltäglichen Krieg der Bilder ständig unmittelbar betroffen und ubiquitär gefor-dert wähnt. Flattern ist nicht Fliegen. Nicht die vielen Bilder, die der Urteilskraft gelegen kommen, bringen sie auf die Höhe der rätsel-haften Lust an der Welt, sondern eher solche, die Hören und Sehen machen, indem sie die eilfertigen Auslegungen verweigern. Im Nachlaß zur Anthropologie vermerkt Kant (AA, Bd. XV, S. 76, Nr. 199): »Man denkt besser, wenn man stille Beschäftigungen [sie] vor Augen hat.«

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JENS KULENKAMPFF

Spieglein, Spieglein an der Wand ...

»Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So befragt Schneewittchens Stiefmutter ihren »wunderbaren Spie-gel«. Sie ist eine schöne, aber stolze und übermütige Frau, die es nicht leiden kann, »daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden«. Vom Spiegel holt sie sich ihre Bestätigung; der wunderbare Spiegel sagt, was sie hören will . Denn solange Schneewittchen ein kleines Kind ist, antwortet der Spiegel

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Aber schließlich werden Kinder größer und Mädchen schöner, die Eltern aber bekanntlich älter und im allgemeinen nicht schöner. Und so kommt der Tag, an dem der Spiegel mit unbestechlicher logischer Präzision antwortet:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Nach dieser Kränkung ihres Stolzes trachtet die vom Neid getriebe-ne Königin Schneewittchen mit Tücke und allerlei Hinterlist nach dem Leben.

Der Fortgang des Märchens mit seinen Grausamkeiten und Schrecknissen, seinen Wunderl ichkeiten und Glücksfällen ist be-kannt und führt dahin, wohin ein Märchen führen muß: zu Schnee-wittchens Wiederbelebung durch den Prinzen und ihrem märchen-haften Glück und zur mittelalterlich grausamen Todesmarter für die böse Stiefmutter.1

Diese Erinnerung an das bekannte Märchen diene als Auftakt für die Erörterung einer Frage, für die nur einige wenige Aspekte der Geschichte relevant sind. Al l die vielen Motivbezüge zu Neid und Überheblichkeit, zu Eitelkeit und Vergänglichkeit, auch die subtile-ren Implikationen, was Unsterbl ichkeitswunsch und ewige Jugend,

1 Zit. nach: Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm, Darm-stadt 1963, S. 297ff.

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was Mütter und Töchter oder die Konkurrenz unter Geschlechtsge-nossinnen angeht, und vieles andere mehr muß hier außer Betracht bleiben. Auch dem leicht herzustellenden Bezug zum Mot i v des Spiegels in der Kunst: als Attr ibut weiblicher Schönheit, als Vanitas-Symbol, als schmeichelhafte Verdoppelung wie als vernichtendem Wahrspruch, kann hier nicht nachgegangen werden.1 N ur der relativ abstrakte Sachverhalt ist hier wichtig, wie das Märchen in den Be-gegnungen der Königin mit ihrem »wunderbaren« Spiegel die Tat-sache unterstreicht, daß, was der Spiegel zeigt oder denjenigen sehen läßt, der in ihn schaut, zu dessen Wahrnehmungserwartungen, seinen Wünschen und Meinungen über sich und über seine Welt - bestäti-gend oder widerlegend - in Beziehung steht. Der Spiegel ist also ein Instrument der Wahrnehmung, das dem Hineinschauenden sei's Schmerzliches, sei's Erfreuliches offenbaren kann.

Dies ist wichtig, denn hier interessiert die Frage, ob und wieweit, was sich an Spiegel und Spiegelbild ablesen läßt, geeignet ist, Wesent-liches an der Malerei verständlich zu machen, sofern auch diese Darstellung und ebenfalls offenbarend ist. Was Bilder sind, durch den Spiegel zu erläutern, ist ein alter Gedanke; in Mode scheint er nicht zu sein. Aber Recht und Aufgabe der Philosophie ist es, auch alte Ideen neu zu prüfen.

Doch zunächst sei noch an eine zweite Geschichte erinnert: In Böotien, im Gebirge Hel ikon, soll es gewesen sein, daß der sech-zehnjährige Narkissos, der bis dahin sein eigenes Spiegelbild noch nie gesehen hatte, erhitzt und ermüdet vom Jagen, mitten im Wald (an einem rechten locus amoenus also) auf eine ungetrübte ver-schwiegene Quelle stößt. Und was nun geschieht, schildert Ovid so:

Doch wie den Durst er zu stillen begehrt, erwächst ihm ein andrer Durst: beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen Liebt er ein körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper. Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz, Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist. Liegend am Boden erschaut er das Doppelgestirn seiner Augen, Sieht seine Haare - sie hätten Apollo geziert oder Bacchus -, Sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein schimmert, Seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von Rosen. Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern: Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte,

1 Vgl. dazu Gustav Friedrich Hanlaub, Der Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst, München 1951.

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Und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und Entflammter. Oh, wie küßt' er so oft - vergeblich! - die trügende Quelle, Tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen, Den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen. Was er ersieht, nicht weiß er's; er sieht's, und es setzt ihn in Flammen, Und seine Augen betrügt und entzündet der nämliche Irrtum. Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern! Nirgends ist, was du ersehnst; was du liebst, du wirst es vernichten, Wenn du dich wendest; du siehst ein nichtiges Spiegelgebilde; Eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert, Mi t dir geht es hinweg - wofern du zu gehen vermöchtest!

Die Nichtigkeit seines Gegenübers, die Täuschung, der er erliegt, durchschaut Narziß nicht. Bei Ovid verzehrt er sich im Leid uner-füllter und unerfüllbarer Liebe; in anderen Versionen der Geschichte stürzt er sich in die Quelle und ertrinkt.

N immt man die Vorgeschichte hinzu, nämlich daß Narz iß die Liebe der Nymphe Echo verschmäht, deren Verhängnis es ist, stets die letzten Worte ihres Gegenübers wiederholen zu müssen und nichts Eigenes sagen zu können, so kann man das Schicksal des Narziß entweder als eine Ar t mythischer Strafe verstehen, sofern er die Echo verschmähte, aber an einem anderen Echo zugrundeging; oder man kann es als Steigerung eines leerlaufenden Egozentr ismus und einer Selbstbezogenheit auffassen, die im Anderen nur sich selbst hört oder sieht und dadurch beides: die Wahrnehmung des Anderen wie zugleich die Selbstwahrnehmung verhindert.

Auch an dieser Geschichte sei wieder nur ein wahrnehmungspsy-chologischer Aspekt aufgegriffen und die überreiche Symbolik und tiefenpsychologische Bedeutsamkeit außer Acht gelassen. Denn außer der Wahrheit, daß eine exklusive autoerotische Selbstbezogen-heit eigentlich gar keine wirkliche Beziehung, sondern geradewegs Beziehungsunfähigkeit ist, daß es keine Selbst- ohne Fremdwahr-nehmung gibt und umgekehrt, demonstriert die Geschichte von Narziß eben auch die für unser Weltverständnis grundlegende Tat-sache, daß die Wahrnehmung eines Spiegelbildes als eines solchen die keineswegs automatische und keineswegs selbstverständliche kogni-tive Leistung einschließt, Spiegel und was er spiegelt, zu unterschei-den und auf den möglichen Augentrug des Spiegelbildes, dem »eige-nes Wesen gebricht«, nicht hereinzufallen. Uns, die wir in einem

1 Ovid, Metamorphosen. Epos in fünfzehn Büchern, übers, u. hg. v. Hermann Brei-tenbach, Zürich 1958, 1964, Stuttgart 1986, S. 105f. (3. Buch, Z. 414-436)..

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Zeitalter der Glaspaläste und Spiegelwände leben, mag ein entspre-chendes Unterscheidungsvermögen zur Selbstverständlichkeit ge-worden sein. Nichtsdestoweniger haben wir es erwerben müssen. Und irritierbar bleibt es allemal, wie jeder feststellen kann, der sich der sinnverwirrenden Erfahrung barocker Spiegelkabinette aussetzt oder der sich hin und wieder doch von den Spiegelungen irreführen läßt, durch die uns manch ohnehin schon üppige Verkaufsauslage noch einmal verdoppelt wird.

Es wundert natürlich nicht, daß die Narziß-Geschichte nicht nur der illusionistischen Malerei ein höchst reizvolles Motiv geliefert, sondern daß sie auch die Theoretiker der Malerei inspiriert hat. Alberti etwa bezeichnet (halb scherzhaft wohl) Narziß als den Er-finder der Malerei. Denn, fragt er, was ist die Malerei anderes als ein solches Umfangen oder Erfassen dessen, was sich auf der Wasser-oberfläche der Quelle zeigt, nur mit künstlichen Mitteln?1 Das ist mit Bezug auf Narziß zwar eine kuriose Bemerkung, weil sie just denjenigen zum Erfinder der Malerei macht, dem es gerade nicht gelang, zu umfangen und festzuhalten, was sich auf der Wasserober-fläche zeigte. Aber Albertis Punkt ist natürlich die in der rhetori-schen Frage gelegene These, daß die Malerei nichts anderes sei als der Versuch, durch künstliche Mittel das flüchtige Spiegelbild festzuhal-ten. Ut speculum pictura, wie der Spiegel, so die Malerei also? Das ist die Frage, um die es hier geht.

Piaton scheint der erste gewesen zu sein, der diese Analogie deutlich ausgesprochen hat (Staat 596 e). Aber derselbe oder ein ganz ähnlicher Gedanke scheint auch den zahlreichen Maleranekdoten zugrundezuliegen, die den Gipfel der Malerei im spiegelgleichen Kunststück des illusionistischen Augentrugs erblicken. Von Zeuxis wird berichtet, er habe Weintrauben so täuschend echt zu malen verstanden, daß die Vögel herbeigeflogen seien, um daran zu picken. Parrhasios aber versprach, den Zeuxis noch zu übertreffen: Ge-spannt betritt dieser die Werkstatt des Parrhasios und wil l das Tuch von der verhängten Staffelei wegziehen - da ist es gemalt!2 Natürlich war das immer eine pointierte Übertreibung, die nur dartun sollte, daß das Ziel wenigstens illusionistischer Malerei größtmögliche

1 Leon Battista Alberti, De pictura - libro primo § 26: »Che dirai tu essere dipignere altra cosa che simile abbracciare con arte quella ivi superficie del fönte?« (L. B. Alberti, opere volgari, in: Scrittori d'Italia n. 254, Bari 1973, S. 46.)

2 Vgl. Ernst Kris, Die Legende vom Künstler, Wien 1934, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1980, S. 90.

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Ähnlichkeit mit ihrem Vorwurf sei. Und was kommt in dieser Hin-sicht den Gegenständen näher als ihr Spiegelbild? Doch so wenig wie Spiegelbilder an sich und von Natur aus allesamt täuschend sind, ebensowenig hat die Malerei am Ende nichts anderes als den trompe-l'oeil-Effekt im Sinn.

Diesen abwegigen Gedanken korrigiert Piaton, wenn er sagt, es möchte allenfalls guten Malern gelingen (und auch nur, wenn sie ihr Gemälde »nur hübsch von fern« sehen lassen), Kinder und unkluge Leute glauben zu machen, vor ihnen stünde statt einem Bild die Sache selbst (Staat 598 c). Auf das Moment der Täuschung kommt es also nicht an. Aber auch wo keine Täuschung eintritt, soll zwi-schen dem Spiegelbild und dem Gemälde die Analogie bestehen, daß beide von den Dingen, die sie abbilden, etwas nachbilden, nämlich ihre Erscheinung oder ihr Aussehen, und daß sie dadurch etwas der Gestalt oder Form nach Ähnliches erzeugen. Spiegel und Maler (der eine natürlicherweise, der andere durch sein absichtliches Tun) sind — wie Piaton sie nennt — »Nachbildner«, die durch ihre Nachbildne-rei zu den »Werkbildnern« in Konkurrenz treten sollen. Als »Werk-bildner« bezeichnet Piaton die Handwerker, also die Verfertiger von nützlichen Gebrauchsdingen. Auch diese sind »Nachbildner«, denn sie bilden Dinge nach dem Vorbild entsprechender Ideen: Bettgestel-le nach der Idee des Bettgestells, Stühle nach der Idee des Stuhls etc. Das heißt, sie bringen etwas den Ideen Ähnliches hervor, etwas, das anderem der Gestalt oder Form nach ähnlich ist. Insofern scheint es, daß die »Werkbildner« wie die Spiegel und die Maler ein Gleiches tun, nur daß man mit den Produkten der einen etwas Nützliches anfangen kann, mit den Hervorbringungen der anderen dagegen nicht. Allerdings bilden Spiegel und Gemälde nicht Ideen, sondern nur Erscheinung und Aussehen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge nach, ja sogar noch weniger als das, da beide nur denjenigen Anblick nachbilden, den die Dinge bieten, sofern sie von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen werden, während unendlich viele weitere Aspekte der Dinge von jedem Spiegelbild und jedem Gemälde un-erfaßt bleiben. Diese unaufhebbare Einseitigkeit scheint Piaton den Malern als eine Art Betrug oder Gaukelei vorzuwerfen, so als ver-sprächen die Maler, mehr zu geben, als sie geben können. Nun ist das mit der Einseitigkeit der Bilder sicher richtig; aber jeder weiß es auch (wenn man einmal von den besagten »Kindern und unklugen Leu-ten« absieht). Und wenn dieser Sachverhalt allgemein bekannt ist, dann - man mag nun von der Nützlichkeit oder Nutzlosigkeit von Spiegeln und Gemälden halten, was man wil l - stehen die Maler doch

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keineswegs in Konkurrenz zu den nützlichen Handwerksmeistern, weil sie eben nicht vorgeben, zu können, was sie nicht können, oder zu geben, was sie nicht geben können.

Und dennoch dreht Piaton ihnen aus der Nachbi ldnerei einen Strick. Spiegel und Gemälde kommen nach Piaton nämlich darin überein, daß sie, was immer sie abbilden, partiell nachbilden, indem sie eine zweite Entität hervorbringen, die einen Ausschnitt der Er-scheinung anderer Dinge enthält, die also zwar nur ein Stück, aber eben doch ein Stück der Form oder der Gestalt mit einer anderen Entität teilt. Und das ist, scheint Piaton sagen zu wollen, ontologisch weniger, als wir an den realen körperlichen Dingen haben, und weniger, als wir machen können. Und wenn wir für uns Nachbi ldner das Prinzip ansetzen, daß wir bei unserer Nachbi ldnerei ontologisch immer möglichst hoch greifen und möglichst viel erreichen sollen, dann ist, was die Maler leisten, immer zu wenig. Und das ist der Grund, sie wie die Dichter als fahrendes Volk zu behandeln und höflich, aber bestimmt aus der Stadt zu weisen (vgl. Staat 398a-b).

I n Wahrheit liegen die Gründe für Piatons Maler-Krit ik allerdings tiefer und weisen auf ernste Schwierigkeiten in seiner Ontologie hin. Denn da die Ideen selbst nichts als Form und Aussehen sind und die Dinge der wirklichen Welt nur zu der Ar t von Dingen gehören, zu der sie nun einmal gehören, weil sie zu entsprechenden Ideen in der Relation stehen, daß sie an ihnen teilhaben, weil sie dieselbe Gestalt haben, so scheint in diese Theorie Unordnung zu geraten, wenn Leute auftreten, die etwas hervorbringen, das einem Gegenstand ähnlich ist (weil es aussieht wie er und seine Form mit ihm teilt), das aber offensichtlich kein zweiter solcher Gegenstand ist. Man hat den Eindruck, daß Piaton es die unschuldigen Maler und Bildhauer entgelten läßt, daß in seiner Metaphysik etwas nicht in O rdnung ist. - N un braucht diese Seite der Sache hier nicht zu interessieren, wohl aber die Frage, ob Piaton die Analogie zwischen Spiegel und Gemäl-de eigentlich richtig bestimmt hat. Ist es richtig, daß Spiegel und Gemälde mit dem, was sie abbilden oder darstellen, in der Weise etwas teilen, daß sie etwas von den Dingen selbst anderswo und an, auf oder in anderen Dingen wiederholen?

Die Rede von Erscheinung oder Aspekt oder Aussehen führt sich leicht, aber sie führt auch leicht irre, dann zumal, wenn das Aussehen eines Gegenstandes oder sein Aspekt als etwas verstanden werden, was sich anderswo noch einmal finden kann. Das hat zwar bei Gemälden eine gewisse Anfangsplausibilität, weil wi r hier eine Flä-che haben, auf der Pigmente nun nicht irgendwie, sondern so verteilt

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werden, daß - könnte man ja sagen - das Dargestellte in Erscheinung tritt , indem sein Aussehen wiederholt wird. Ferner ist es ja so, daß zumindest die Meister der illusionistischen Malerei gelernt haben, gerade auf das Aussehen der Dinge, also darauf zu achten, wie sich Licht und Schatten, Farben und Farbnuancen unter gegebenem Gesichtspunkt verteilen, so daß die Maler - wie es scheint - es eigentlich nicht mit den Dingen, sondern nur mit deren Aussehen zu tun haben. Und dennoch: Bilder erreichen die Leistung der Darstel-lung nicht dadurch, daß sie etwas von demjenigen besitzen, was sie darstellen, nämlich das Aussehen des Dargestellten, noch sind sie selber etwas, was (und sei es auch bloß oberflächlich) aussieht wie das, was sie darstellen. Die Relation des Aussehens-wie scheint nur zwischen Entitäten desselben ontologischen Typs bestehen zu kön-nen, also nicht zwischen den flachen Bildern und den voluminösen Dingen, die sie darstellen. Und selbst da, wo diese Relation in Frage kommt, hilft sie nicht, den Sachverhalt der Darstellung zu erklären. Denn einer mag aussehen wie Richard III. , ohne ihn darzustellen, und einer mag ihn darstellen, ohne auszusehen wie er. Natürlich können Bilder aussehen wie andere Bilder, ein Picasso wie ein Brac-que vielleicht. Und ein dargestellter Gegenstand kann aussehen wie ein realer Gegenstand, unter Umständen eben wie der, den das Bild darstellen soll (darauf zielt die Porträt-Malerei gewöhnlich). Aber ein Bild, das etwas darstellt, sieht nicht aus wie das, was es darstellt, und rechnet das Aussehen des Dargestellten nicht zu seinen Eigen-schaften.

Dieser Punkt wird noch deutlicher, wenn man den Spiegel und das Phänomen der Spiegelung bedenkt. Hier spürt man sofort, daß es Unsinn ist zu sagen, der Spiegel sehe aus wie das, was er spiegelt, oder zu sagen, auf seiner Oberfläche sei, befinde oder zeige sich das Aussehen dessen, was sich im Spiegel spiegelt. Narziß ist nicht auf etwas hereingefallen, was aussieht wie ein Mensch, sondern er ist dem Irrtum zum Opfer gefallen, sein Spiegelbild für einen Menschen zu halten und nicht zu erkennen, daß nicht zwei Menschen da sind, sondern daß nur er selbst es ist, der sich im Wasser spiegelt. Ein Spiegel, der einen Menschen spiegelt, sieht nicht aus wie ein Mensch. Also ist auch nicht das Aussehen eines Menschen im Spiegel, wenn dessen Spiegelbild im Spiegel erscheint.

Piatons Bestimmung der Analogie zwischen Spiegel und Gemälde ist also falsch, und zwar nicht, weil keine Analogie bestünde; sondern weil Spiegel nicht tun, was Piaton ihnen zuschreibt (und was die Gemälde ihnen dann angeblich nachtun sollen): Sie bilden nichts von

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dem nach, was sie spiegeln, und sie enthalten auch nichts (auch nicht »ein Weniges«, wie Piaton sagt - Staat 598 b) von den Dingen, die sich in ihnen spiegeln, auch nicht von ihrem Aussehen, von ihrer Gestalt oder ihrer Form, wenn diese als selbständige Entitäten ver-standen werden.

Piaton mochte zu seiner Fehldiagnose durch die (wie man sie nennen könnte) Eidolon-Theorie des Sehens verleitet worden sein, die in der Antike weit verbreitet war. Dieser Theorie zufolge sehen wir , was wir sehen, dadurch, daß wir etwas von der Oberfläche der Dinge selbst zu fassen bekommen (sei es, daß unsere Augen es aktiv abziehen, sei es, daß die Dinge es abschicken und unsere Augen es eher passiv einfangen), das Aussehen der Dinge eben, ein Bildchen gleichsam. Lukrez schildert die Sache so: Die »Abbilder«, die wi r so nennen,

Weil sie vom Äußeren her so aussehen wie die Gebilde, denen sie, heißt es, entstammen, um dann in die Weite zu schweifen [,]

sind

Häutchen vergleichbar, geschält von der Oberfläche der Körper, zart wie ein Hauch, so durchfliegen sie hierhin wie dorthin die Lüfte; treffen dann, wenn wir wachen, auf unsern Gesichtssinn ... Kurz: Von der Oberfläche der Dinge, der Hülle, der Schale, Borke wie Haut, da lösen Gestalten sich, hauchzarte Bilder.

Genauso erklärt Lukrez auch das Phänomen der Spiegelbilder:

Schließlich erscheinen uns Bilder in Spiegeln, im Wasser, auf jeder glänzenden Fläche. Auch diese müssen, notwendigerweise, da den Gebilden sie gleichen, deren Ansicht sie liefern, aus den Teilchen bestehen, die jenen Gebilden entströmen. Folglich gibt es hauchzarte, ähnliche Abbilder jener Dinge, die zwar im einzelnen niemand mit Blicken erfassen kann, die jedoch bei häufigem, anhaltend wirksamem Rückprall, wiedergegeben von spiegelnder Fläche, den Augen sich bieten. Schwerlich läßt es sich anders erklären, daß sie erhalten bleiben und derart ähnliche Bilder der Dinge uns liefern.

1 Lukrez, Vom Wesen des Weltalls, übers, v. Dietrich Ebener, Leipzig 1989, S. 170f. (IV, 30ff.)u.S. 172f. (IV,98ff.).

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Mi t dieser obsoleten Theorie des Sehens fällt natürlich auch die Erklärung des Spiegelbildes und mit ihr eine darauf aufbauende Analogie zwischen Spiegeln und gemalten Bildern. Ist damit aber auch zugleich die Idee »ut speculum pictura« erledigt? Das bleibt zu prüfen.

Erinnert sei an ein paar simple Fakten, die wir aus der Erfahrung unseres Umgangs mit Spiegeln kennen. Der wichtigste Punkt ist sicher dieser: Wenn wir etwas im Spiegel sehen, so sehen wir die Sache selbst! Manchmal ist die Situation die, daß wir durch eine Blickwendung den Gegenstand auch direkt wahrnehmen können; manchmal ist das - bei gegebenem Standpunkt - nicht möglich. Und gerade dies ist eine Situation, die den Spiegel interessant macht: Er vermag uns die Möglichkeiten visueller Wahrnehmung zu erweitern. Mittels eines Spiegels können wir Dinge sehen, die wir ohne ihn nicht sehen könnten. Und einer der wichtigsten Fälle - auch das demon-striert die Narziß-Geschichte j a auf ihre Weise - sind wir bekanntlich selbst, ist unser eigenes Gesicht. Sokrates soll übrigens den Blick in den Spiegel zu Zwecken der Selbsterkenntnis empfohlen haben, was natürlich nur Sinn ergibt, wenn wir selbst es sind, die wir beim Blick in den Spiegel sehen; mit weniger als uns selbst, bloß einem Abzieh-bild von uns selbst wäre uns nicht gedient. Bei Schopenhauer1 aber findet sich die interessante Bemerkung, daß der Spiegel kein gutes Instrument der Selbsterkenntnis sei, weil wir uns selbst in ihm nur sehen, solange wir die Augen fixiert halten, mit der Folge, daß wir unser eigentliches Mienenspiel, zu dem das Augenspiel wesentlich hinzugehört, nicht beobachten können. - Doch das gehört, so inter-essant es ist, nicht hierher. Richtig und wichtig bleibt, daß wir uns selbst sehen, wenn wir uns im Spiegel erblicken.

Freilich sehen wir die Dinge, die wir im Spiegel erblicken, indi-rekt, nicht direkt, aber wir sehen sie und nicht irgendwelche merk-würdigen schemenhaften Entitäten wie ihr Aussehen, ihre Erschei-nung oder ihr Abbildchen. Unsere Wahrnehmungserfahrung mit Spiegeln, die beim Blick in den Spiegel und auf die Frage, was man sieht, ganz natürlicherweise die Dinge selbst nennt, ist nur 50 richtig beschrieben, d.h. bevor irgend eine optische Theorie ins Spiel kommt, die sich anschickt, diesen Sachverhalt zu erklären. Kommt sie ins Spiel, so wird sie in aller Regel noch einen zweiten Begriff des Sehens einführen, der mit dem gewöhnlichen Begriff des Sehens

1 Vgl. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II. Psychologische Bemer-kungen § 331, in: Arthur Schopenhauers Werke, Bd. V, Zürich 1988, S. 509f.

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keineswegs identisch ist. Denn »sehen« kann einen Wahrnehmungs-modus bezeichnen oder nur die physikalisch-optischen Zusammen-hänge zwischen Sehorgan und Umwelt meinen. Mi t anderen Wor-ten: Das Sehen im oder vermittels des Spiegels ist zwar indirekte Wahrnehmung, nichtsdestoweniger ist es wirklic h Wahrnehmung. Irrtumsmöglichkeiten, möglicherweise sogar in der dramatischen Form, für die Narziß ein Beispiel ist, Sinnestäuschungen gibt es hier wie sonst auch; aber die Regel sind sie nicht. Auch mit den Beson-derheiten dieser Wahrnehmungsmöglichkeit kennen wir uns aus und wissen zum Beispiel, daß wir die Dinge seitenverkehrt sehen, daß manche Spiegel vergrößern, andere verkleinern und selten welche wirklic h nicht verzerren. Das stört und irritiert uns in aller Regel so wenig wie der Umstand, daß ein aus dem Wasser herausragender Stab abgeknickt zu sein scheint.

Erinnert sei auch daran, daß die längste Zeit, solange nämlich Planspiegel von einiger Größe entweder teuer oder noch gar nicht herstellbar waren, allenthalben Konvexspiegel im Gebrauch waren, die den Vorteil hatten, daß sie - verglichen mit Planspiegeln gleicher Größe - ein erheblich größeres Stück der Welt sehen ließen, wenn-gleich man dafür in den Randzonen nicht unerhebliche Verzerrun-gen in Kauf nehmen mußte. Das aber ist dann kein hoher Preis, wenn man sich klar macht, daß die Information, die ein Konvexspiegel über die Gegenstände liefert, die sich in ihm spiegeln, für die meisten praktischen Zwecke genau so groß ist wie bei Planspiegeln und nur dann abfällt, wenn es aus irgendwelchen Gründen darauf ankommt, den Gegenstand im Spiegel möglichst genau so zu sehen, wie man ihn vom Ort des Spiegels aus direkt sehen würde. Von einem solchen Interesse war Leonardo offenbar geleitet, wo er den Planspiegel als Korrekturinstrument und Lehrmeister für eine Malerei empfiehlt, für die ihrerseits das Planspiegelbild offensichtlich Ideal und Vorbild war.1

Wenn hier herausgestrichen wird, daß der Blick in den Spiegel nichts anderes als ein etwas komplizierter Blick in die Welt ist, Wahrnehmung also, die es mit den Dingen selbst und nicht mit materielosen Entitäten wie der Erscheinung, dem Aussehen oder mit ephemeren Bildern zu tun hat, so soll damit nicht bestritten werden, daß uns beim Blick in den Spiegel gerade interessieren kann, wie das

1 Vgl. Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, hg., übers, u. erläuten v. Hein-rich Ludwig, Wien 1882 (Neudruck Osnabrück 1970) (= Quellenschriften der Kunstgeschichte Bd. XV), Bd. 1, Nr. 407, 408, S. 398ff.

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aussieht, was wir sehen. Aber das interessiert uns auch sonst manch-mal beim Blick in die Welt und unterscheidet die durch Spiegel vermittelte Wahrnehmung offensichtlich nicht von anderer. Nicht einmal das würde einen wesentlichen Unterschied machen, wenn wir besonders darauf achteten, wie die Dinge aussehen, wenn sie sich spiegeln (- ein völlig berechtigter Gesichtspunkt, wenn wir beden-ken, daß Metallspiegel die Dinge anders aussehen lassen als Glasspie-gel und diese wiederum anders je nach Belag). Aber auch so haben wir es mit den Dingen selbst zu tun. Und die Frage, die uns da interessieren mag, unterscheidet sich nicht wesentlich vom Interesse daran, wie z.B. der Mont Ventoux im Schnee, im Dunst, am Abend, an frostigen Wintertagen oder bei schwerer Sommerhitze aussehen mag.

Übrigens macht es für dieses vielleicht typisch malerische oder ästhetische Interesse daran, wie die Dinge unter verschiedenen Be-dingungen aussehen, gar keinen Unterschied, ob man mit einer physikalisch-optischen Theorie des Sehens im Augenpunkt, also auf der Augenoberfläche, Halt macht oder ob man noch berücksichtigt, daß das Auge selbst ein optischer Apparat ist, auf dessen Hinter-grund abgebildet wird, was vor dem Auge in der Sehpyramide vorhanden ist. Mi t Wahrnehmung, mit dem Wissen-wollen, wie die Dinge aussehen, hat das herzlich wenig zu tun. Kepler wußte das, wie man aus einem Zitat bei Svetlana Alpers lernen kann1, auch Descartes.2 Und da nicht unsere Augen die Subjekte der Wahrneh-mung sind, sondern wir, tragen rein physikalisch-optische Theorien

1 Vgl. Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahr-hunderts, Köln 1985, S. 94.

2 Vgl. Rene Descartes, Principia philosophute, § 195, 196; ferner: ders., Dioptrik, übers, v. Gertrud Leisegang, Meisenheim 1954, S. 87: »Man weiß bereits zur Genü-ge, daß es die Seele ist, die empfindet, und nicht der Körper ... Und man weiß, daß die Empfindung eigentlich nicht dadurch zustandekommt, daß die Seele sich in den Gliedern befindet, die den äußeren Sinnen als Organe dienen, sondern daß sie im Gehirn ihren Sitz hat...«. Noch interessanter ist folgende Stelle: »Außerdem muß man sich hüten anzunehmen , daß die Seele, um zu fühlen, irgendwelche Bilder betrachten muß, die von den Gegenständen zum Gehirn gesandt werden, ... oder man müßte wenigstens das Wesen dieser Bilder ganz anders verstehen... Der einzige Grund, solche Bilder anzunehmen, war, daß unser Denken, wenn wir ein Bild se-hen, leicht dazu angeregt werden kann, sich den Gegenstand vorzustellen, den es darstellt. Es schien den Philosophen, daß wir die Gegenstände, die auf unsere Sinne wirken, durch kleine Bilder, die sich in unserem Kopfe formen, in uns aufnehmen. Statt dessen müssen wir beachten, daß es noch andere Dinge als Bilder gibt, die unser Denken anregen können, zum Beispiel die Zeichen und die Worte, die in keiner Weise den Dingen gleichen, die sie bezeichnen.« (S. 89).

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des Sehens so gut wie nichts zu Fragen bei, die sich uns aus spezifi-schen Wahrnehmungsinteressen heraus stellen mögen. Und wäh-rend es nun sehr einleuchtet, daß es die niederländischen Maler, und zwar nicht erst die des 17. Jahrhunderts, sehr interessiert hat, zu zeigen, wie die Welt aussieht, und zu zeigen, was man alles sehen kann, ist es doch sehr zweifelhaft (nebenbei gesagt), ob Svetlana Alpers gut daran getan hat, das Verständnis dieses Sachverhalts just durch Berufung auf die Kepler attestierte Entanthropomorphis ie-rung des Sehens befördern zu wollen.1 Das ist sehr unplausibel. Der Unterschied zwischen italienischer und niederländischer Malerei hat nichts mit den optischen Modellen des physikalischen Sehvorgangs zu tun. Und die Niederländer haben nicht gemalt (oder gar »be-schrieben«), wie sich die Welt im physikalisch-passiven Vorgang des Sehens im Auge malt, sondern sie haben gemalt, was sie (nicht ihre Augen, geschweige ihre Netzhäute) sahen, und sie haben uns gezeigt, was es alles zu sehen gibt und wie die Dinge für uns aussehen. - Doch dieses kritische A-part eilt voraus; vor den Bildern noch einmal kurz zurück zu den Spiegeln.

Der simple Punkt, der hier unterstr ichen werden soll, besagt, daß der Blick in den Spiegel nichts weiter ist als eine etwas kompliziertere Form der Wahrnehmung eines Stücks der Welt. Folglich ist dieser Vorgang so aktiv oder passiv, so aufmerksam oder routinemäßig wie alle Wahrnehmung. Das Auge, das in den Spiegel blickt, ist so unschuldig oder hat so viel vom Baume der Erkenntnis gegessen wie das Auge, das ohne diesen Umweg in die Welt schaut. Was wi r im Spiegel sehen, wahrnehmen, wirklic h erkennen oder zu erkennen meinen, ist (wie sonst auch) einerseits natürlich abhängig von phy-sikalisch-physiologischen Bedingungen, die uns jedoch zum größten Teil nicht nur unbewußt sind, sondern im allgemeinen auch gänzlich unbekannt sind und bleiben. Andererseits aber ist unsere Wahrneh-mung auch von Erfahrung, Wissen, Sehgewohnheiten, Auffassungs-mustern und Erwartungen abhängig, die oft genug bestätigt und manchmal eben auch enttäuscht werden (das ist die - zugegebener-maßen reichlich abstrakte - Moral aus den Rencontres, welche Schneewittchens Stiefmutter mit ihrem »wunderbaren« Spiegel hat-te). Ganz wie sonst auch gibt es bei der durch Spiegel vermittelten Wahrnehmung Fehlgriffe, Täuschungen und spezifische I r r tums-möglichkeiten, — zuvörderst natürlich die, den gesehenen Gegen-stand dort zu vermeinen, wo nichts ist als eine nicht diffus reflektie-

1 Vgl. Alpers, Kunst als Beschreibung, a. a. O, S. 94.

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rende Fläche. Kurzum: Spiegel sind nicht besonders täuschende Medien, und sie speisen uns auch nicht mit bloßen Erscheinungen ab, sondern sie sind (um Hart laubs Ausdruck zu gebrauchen) »Ge-räte«, die uns etwas sehen lassen und die mit dem, was sie uns sehen lassen, außer dem Lichtkontakt so wenig zu tun haben wie unsere Augen, die ebenfalls »Geräte« sind, mit deren Hilf e wir die Welt wahrnehmen.

U t speculum pictura: Wenn an dieser Analogie etwas dran ist, dann scheint sie einfach darin zu bestehen, daß auch die Hervorbr in-gungen der Malerei Geräte sind, die uns etwas sehen lassen. Mögli -cherweise, doch keineswegs notwendigerweise geschieht das so, daß uns der Anblick eines Gemäldes an einen Blick in den Spiegel erinnern mag. Das wäre dann das Ideal illusionistischer Malerei, das hier und da ja tatsächlich erreicht worden ist.

Bei Leonardo finden wir den Gedanken, daß Spiegel wie Gemälde und Gemälde wie Spiegel sind, präzise formuliert, wenn er sagt:

Ein Spiegel von planer Oberfläche enthält auf eben dieser Oberfläche das wahre Gemälde; und das vollkommene Gemälde auf einer planen Ober-fläche (welchen Materials auch immer) gleicht der Oberfläche des Spie-gels. Und Ihr Maler findet in der Oberfläche des Planspiegels Euren Lehrmeister, der Euch das Hell und Dunkel und die Verkürzung eines jeden Gegenstandes zeigt.

Und an anderer Stelle:

... die Dinge auf der Oberfläche [eines Planspiegels] haben in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit Gemälden. Das auf eine plane Fläche gemalte Bild läßt einen nämlich plastisch erscheinende Dinge sehen, und der Spiegel tut auf seiner Fläche das gleiche. Das Gemälde ist nichts weiter als eine Oberfläche und der Spiegel desgleichen. Das Gemälde ist ungreif-bar, insofern man das, was rund und freistehend aussieht, nicht mit den Händen umfassen kann; genauso beim Spiegel. Durch die Verteilung von Schatten und Licht zeigen Spiegel und Gemälde etwas den Dingen Ähn-liches; im einen wie im andern Fall scheint das Abgebildete hinter der Oberfläche zu sein.

1 Vgl. Hartlaub, Zauber des Spiegels, a. a. O., z. B. S. 16 u. passim. 2 Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, 3. a. O, Nr. 410, S. 402: »Lo specchio

di piana superfittie contiene in se la uera pittura in essa superfittie; et la perfetta pittura, fatta nella superfittie di qualonche materia piana, e simile alla superfittie de lo specchio, et uoi, pittori, trouate nella superfittie delh specchi piani il uostro mea-stro, il quäl u'insegna il chiaro et l'oscuro et lo scorto di qualonche obbietto;...»

3 A. a. O., Nr. 408, S. 400: »(et sopra tutto lo specchio si de'pigliare per suo maestro, cioe lo specchio piano, imperoche) su la sua superfitie le cose hanno similitudine

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Freilich hat Leonardo die illusionistische Malerei vor Augen und zieht deshalb die Parallelen zwischen Gemälden und Planspiegeln. Es gilt aber ganz generell und nicht nur für die illusionistische Malerei, daß Bilder, die etwas darstellen, von uns natürlicherweise genauso verstanden werden wie Spiegel, die uns etwas sehen lassen. Das zeigt sich zuallererst an der Rede, die auf Bildern ganz selbst-verständlich Menschen, Tiere, Pflanzen, Gerätschaften, Gegenstän-de, Dinge (was auch immer) identifiziert, wo »an sich« freilich nichts dergleichen ist. Aber darauf hinzuweisen, ist gewöhnlich so beck-messerisch und überflüssig wie der Hinweis, daß ja nicht wirklich im Spiegel ist oder dahinter zu sein scheint, was man im Spiegel sieht. Hier wie dort muß also dafür, daß einen gewisse Geräte etwas sehen lassen, die nicht völlig selbstverständliche Voraussetzung erfüllt sein, daß man das, was man sieht, eben dort nicht finden kann, wo sich das Gemälde oder der Spiegel befinden, die einen auf oder vermittels ihrer Oberfläche etwas sehen lassen.

Soweit die Analogie. Daß sie nicht nur theoretische Spielerei, sondern auch praktisch nütze ist, soll sich noch zeigen. Zunächst aber meldet sich das Bedenken, ob diese Analogie angesichts der offensichtlich auch gegebenen Disanalogien nicht zu schwach ist, um wirklich aufschlußreich zu sein. Da wäre zunächst der Maler: Ist nicht allenfalls er es, der uns vermittels des Bildes etwas sehen läßt, der also etwas zeigt, und zwar vielleicht, was er sah? Ein solches Subjekt tritt bei der Spiegelei nicht auf. Und es läßt sich nicht leugnen, daß hier ein wirklicher Unterschied ist. Aber wie und wo fällt er ins Gewicht? Ist nicht das Bild wichtiger als der Maler? Es gibt natürlich viele Fälle, in denen die Kenntnis dessen, was der Maler darstellen wollte oder sollte, den Betrachtern zu erkennen oder zu sehen hilft, was das Bild sehen läßt. Das hat mit Mangel an Realismus oder mit dem Grad an Illusionismus wenig zu tun, sondern kann immer dann eine Rolle spielen, wenn das Bild eine bestimmte Be-deutung oder Botschaft transportieren soll. Andererseits aber scheint das Ideal zumindest der illusionistischen Malerei gerade darin zu bestehen, daß zur Erfassung dessen, was das Bild für einen direkt die Gegenstände identifizierenden Zugriff sehen läßt, keine

co'la pittura in molte parti; cioe, tu uedi la pittura fatta sopra un piano fa'l medesi-mo, la pittura e una sola superfittie, e lo specchio e quel medesimo; la pittura e inpalpabile, in quanto che quello, che pare tondo et spiccato, non si puo circondare co'le mani, et lo specchio fa il simile; lo specchio e la pittura mostra le similitudini delle cose circondata ä ombra e lume; l'una e l'altra pare assai di la dalla sua super-fittie.«

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Erläuterungen und Rückgriffe auf die Intention des Malers nötig sind. Und generell steht es mit den Gemälden nicht anders als etwa mit den Wörtern: Einmal dem Mund entflohen oder aufgeschrieben und aus der Hand gegeben, sind sie der Verfügbarkeit ihres Autors entzogen und zu Stücken der Welt geworden, die sich andere auf ihre Weise aneignen können.

Man hat versucht, den Maler in der Spiegelanalogie unterzubr in-gen, indem dieser selbst (oder sein Geist) zum Spiegel erklärt wurde. Berühmt sind Leonardos Bemerkungen, in denen er nicht nur den Spiegel als Lehrmeister der Maler anpreist, sondern auch erklärt:

Der Geist des Malers hat dem Spiegel zu gleichen, der sich stets in die Farbe des Gegenstandes wandelt, den er zum Gegenüber hat, und der sich mit so viel Ähnlichem anfüllt, als Dinge sind, die ihm gegenüberstehen.

Das ist ein gewagter und aus vielen Gründen zum Scheitern verur-teilter Schachzug, nicht zuletzt aus einem Grund, dem Leonardo an anderer Stelle implizi t selbst Rechnung trägt, wenn er notiert:

Der Maler, der sich beim Zeichnen allein auf Übung und das Urteil des Auges verläßt, aber seine Vernunft nicht gebraucht, gleicht einem Spiegel, der alles wiedergibt, was vor ihn hingestellt wird, ohne zu wissen, was.

Ist der Geist des Malers ein Spiegel, so braucht es offensichtlich noch Auswahl- und Erkenntnisprinzipien, da der Maler ja eben nicht automatisch alles wiedergibt, was vor ihn hingestellt wird, sondern nur das, was er erkennt. Es braucht also genau noch denjenigen, der - müßte man sagen - sich des geistigen Spiegels bedient. Wenn es aber im Geist einen solchen Betrachter oder Benutzer des geistigen Spiegels geben muß, dann können wir uns Verdoppelungen sparen und mit mehr Plausibilität den Maler gleich selbst diese Rolle spielen lassen und aus dem mentalen wieder einen realen Spiegel machen, dessen sich der Maler (nach Leonardos eigener Anweisung) ja tat-sächlich bedienen soll. Man wird also gut darantun, die Spiegel-Ana-

1 Leonardo da Vinci, Buch von der Malerei, a. a. O., Nr. 56, S. 110: »L'ingegno del pittore uol esser' ä similitudine dello specchio, il quäle sempre si trasmuta nel colore di quella cosa, ch'egli ha per obbietto, e di tante simihtudini s'empie, quante sono le cose, che li sono contraposte.««

2 The Literary Works of Leonardo da Vinci, compiled & edited by Jean Paul Richter, London 1970, Bd. 1, Nr. 20, S. 119: »Il pittore che ntrae per pratica e givditio d'oechio, sanza ragione e come lo spechio, che in se imita tutte le a se cotraposte cose sanza cognitione d'esse.«

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logie nicht zu überspannen und sie auf das Verhältnis Gemälde — Spiegel zu beschränken.

In gewisser Hinsicht ist die Tatsache, daß die Gemälde den Maler brauchen, die Spiegel aber nur den Betrachter, natürlich sehr bedeut-sam, denn durch den Maler wird die Malerei frei. Er kann darstellen, was kein Spiegel einfangen könnte, und kann weglassen, was ein Spiegel spiegeln müßte. Neben möglichen kann er auch unmögliche Stand- und Blickpunkte wählen, ja sogar mehrere zugleich einneh-men und in einem Bild vereinigen. Durch den Maler vergrößert sich also der Spielraum des Darstellbaren gewaltig, durch ihn wird die Malerei zu einem Reich fast unbegrenzter Freiheit. Die Malerei kann uns also nicht nur wie die Spiegel Dinge sehen lassen, die wir von unserem Standpunkt aus nicht direkt sehen können, sie kann uns auch Dinge sehen lassen, die uns kein Spiegel zeigen könnte.

Man sollte allerdings zögern, aus der Unumgänglichkeit des Ma-lers auf ein unumgängliches Moment der Subjektivität in aller Male-rei zu schließen, wenn das im Gegensatz zur vermeintlichen Objek-tivität der Spiegel gemeint wäre. Der Spiegel gilt zwar seit alters als Sinnbild des Wahrspruchs und, weil er gleichsam nicht anders kann, als alles zu spiegeln, wovon Licht auf ihn fällt, unter den epistemo-logischen Metaphern als Inbegriff der Objektivität. Doch das ist eine Naivität. Denn Spiegel sind (wie schon gesagt) als Medien indirekter Wahrnehmung genauso selektiv oder wahllos aufnehmend wie alle Wahrnehmung. Weiter zeigt sich hier auch ein naives Verständnis des Gegensatzes von »subjektiv« und »objektiv«: Was ein Maler malt und dann uns Betrachter in seinem Bilde sehen läßt, das kann unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten richtig oder falsch, objektiv unverzerrt oder subjektiv verzerrend sein. Darüber gibt es keinen Vorwegentscheid, denn die Kriterien der Objektivität liegen nicht a priori fest.

Lassen" wir diesen Punkt auf sich beruhen und nehmen wir eben einfach hin, daß es bei Gemälden (anders als bei Spiegeln) der Kunstfertigkeit eines Malers bedurfte, damit entstand, was uns et-was, einen Weltausschnitt, sehen lassen kann. - Wie aber steht es mit folgender Disanalogie? Die robuste Gewißheit, daß Spiegel die Sa-chen selbst zeigen und daß der Blick in den Spiegel, wenngleich auf indirektem Wege, ein Stück der gegenwärtigen Wirklichkeit erfaßt, zehrt natürlich davon, daß es (selbst im Fall von Irrtum und Täu-schung!) tatsächlich jetzt etwas gibt, das sich im Spiegel spiegelt. Die mantische Tradition, in der Spiegel eine Rolle spielen, weiß zwar zu berichten, daß im Spiegel mehr erscheinen und zu sehen sein soll, als

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was in realer Körperlichkeit gerade gegenwärtig ist; aber daß dieser Fall eintreten könnte, auch wenn überhaupt nichts Realwirkliches da wäre, das sich spiegelte, mochte sie natürlich nicht behaupten. Das Spiegelbild erlaubt also Rückschlüsse auf Existenz; bei Bildern da-gegen gilt, wie jeder weiß, diese Existenzimplikation nicht. Mag sein, daß es das gibt oder gab, was die Bilder uns sehen lassen, vielleicht aber auch nicht. Und jedenfalls müssen die betreffenden Objekte, die uns die Bilder sehen lassen, nicht gegenwärtig sein. Zwar können auch Spiegel uns sehen lassen, was wi r von unserer Position aus vielleicht nicht sehen können; nichtsdestoweniger können sie uns nur sehen lassen, was zum gegebenen Zeitpunkt wirklic h da ist. Dagegen ist eine der großen Leistungen von Bildern ja gerade, daß sie uns sehen lassen können, was nicht nur nicht anwesend ist, sondern was möglicherweise gar nicht mehr existiert, ganz zu schweigen von der Leistung, daß sie uns sehen lassen können, was gar nie existiert hat.

Hier stößt die Spiegel-Analogie also unzweifelhaft an eine Gren-ze. Es mag trösten, daß diese Fähigkeit der Bilder zwar oft beschrie-ben und beschworen, aber (soweit ich sehe) noch nie erklärt worden ist, ohne sich im Kreise zu drehen. Man kann sie mit Rückgriff auf Phänomene wie Erinnerung, Traum oder Bildgedächtnis zu erklären suchen, weil diese vor das innere Auge stellen, was nicht gegenwärtig ist und vielleicht nie dagewesen ist. Aber wir erklären diese Fähig-keiten ihrerseits entweder gar nicht oder als Leistungen von Einbil-dungskraft, Imagination oder Phantasie, die wi r dann wiederum als die Fähigkeit erklären, sich ein Bil d oder eine Vorstellung von etwas zu machen, das nicht gegenwärtig ist oder auch gar nicht existiert. Das sind Erklärungen nach dem Muster einer Erklärung der Schlaf-mittelwirkung durch eine vis dormitiva.

Die einzig ernstzunehmende Alternative hat Goodman ausgear-beitet. Sein Vorschlag war, darstellende Bilder als denotative Symbo-le aufzufassen, um dann darauf hinzuweisen, daß der Gebrauch eines denotativen Symbols niemals garantiert, daß es das Denotat auch gibt.1 Wir kennen diesen Sachverhalt aus der Sprache. Eigennamen etwa und sogenannte Kennzeichnungen sind denotierende Symbole, aber wie Russells berühmtes Beispiel demonstriert, garantiert eine Rede über den gegenwärtigen König von Frankreich nicht, daß es diese Person auch gibt. Das Mißliche an Goodmans Vorschlag (ab-

1 Vgl. Nelson Goodman, Languages of Art, Brighton 1981, Kap. I »Reality Remade«, hier bes. 1.5 »Fictions«.

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SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND... 287

gesehen von internen Schwierigkeiten bei der Durchführung seiner Idee) scheint nur dies zu sein, daß er das Problem verschiebt. Denn nun müssen wi r hinsichtlich der Sprache nicht nur das Faktum erklären, daß es Ausdrücke gibt, deren semantische Rolle darin besteht, etwas zu bezeichnen, und die gleichwohl nichts bezeichnen, sondern wir müssen vor allem auch den interessanteren Punkt erklä-ren, was es heißt und was es uns möglich macht, eine sinnvolle Rede zu führen, obwohl es das gar nicht gibt, wovon wi r doch sprechen. Wer das erklären könnte, hätte eines der Grundprobleme der Lite-raturtheorie gelöst. Aber nur, wer das erklären kann, ohne sich der Bildmetaphorik in der Rede von Vorstellung, Imagination und Ein-bildungskraft zu bedienen, hätte eine Erklärung geliefert, die nicht das eine Dunkle durch ein anderes Dunkles erklärte.

Zurück zu Bild und Spiegel: Der Unterschied bleibt, daß Spiegel-bilder gewisse Existenzimplikationen haben, die bei Gemälden und anderen darstellenden Bildern nicht gelten. Aber trotz dieser Schwierigkeit ist die Spiegel-Analogie triftig , weil sie einen wesent-lichen Punkt artikuliert: Darstellende Bilder sind Gegenstände, die uns etwas sehen lassen. Daß diese Analogie auch das Selbstverständ-nis zumindest der illusionistischen Malerei trifft , sieht man nicht zuletzt daran, daß sie das Spiegelbild ins Bild selbst aufgenommen und sozusagen in Dienst genommen hat, um die Möglichkeiten, im Bilde etwas sehen zu lassen, noch zu vergrößern. Daß es auf diese Weise möglich wird, im Bilde von Körpern sowohl die Vorderseite wie auch die Rückansicht zugleich sehen zu lassen, ist im immerwäh-renden Wettstreit der Künste geradezu zum Argument für die Über-legenheit der Malerei über die Plastik gemacht worden.1 Aber auch ohne diesen zweifelhaften Sieg: Was wäre die Malerei ohne Spiegel? Ohne das gemalte Spiegelbild im Bild? Ohne die Verdoppelung des Sehen-Lassens also, das ein dem Spiegel abgegucktes Wesensmerk-mal der Malerei ist?

Es scheint also, daß trotz der aufgewiesenen Grenze die Spiegel-Analogie hält, wenn man sie richtig versteht. Malerei ist nicht Malen des Sehens oder Sichtbarmachung des Sehens2 oder die Wiedergabe, wie sich die Welt im Auge des Betrachters abbildet, sondern Malerei ist - wie die Spiegel - Sehen-lassen.

Damit soll nicht behauptet werden, die Spiegel-Analogie treffe als einzige den Wesenskern der Malerei. Albertis andere berühmte Me-

1 Vgl. Hartlaub, Zauber des Spiegels, a. a. O., S. lOOff. 2 Vgl. Alpers, Kunst als Beschreibung, a. a. O., S. 114.

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tapher vom Bild als geöffnetem Fenster und die in der Theorie der Perspektive ausgearbeitete Analogie von Gemälde und Durchsicht beleuchten andere Züge der Malerei. Im Widerspruch zur Spiegel-Analogie stehen sie nicht. Und wie diese haben auch jene Analogien ihre Grenzen. Denn das Gemälde ist ja nun einmal kein Fenster oder diaphaner Schnitt durch die Sehpyramide; und für das Problem der ungültigen Existenzimplikation (wie also zu erklären wäre, daß man im scheinbaren Durchblick durch das geöffnete Fenster des Bildes Dinge sehen kann, die es gar nicht gibt) hat auch diese Analogie keine Antwort.

Eine Aufgabe der Ästhetik als einer philosophischen Kunsttheo-rie wäre es nun, die aus solchen Analogien gewonnenen Kategorien genauer auszuarbeiten, ihre Triftigkeit und ihre Grenzen zu bestim-men, auch ihre metaphorischen Ausdehnungen auf andere Bereiche und Gattungen der Kunst darzustellen und schließlich zu untersu-chen, wie sie mit ganz anderswoher kommenden Kategorien inter-agieren. Diese Aufgabe ist nicht neu; sie stellt sich nur immer wieder neu, weil wir uns die Hervorbringungen der Künste, und zwar nicht nur die neuen, sondern ebenso die alten, immer wieder neu erobern müssen.

Aber anstatt mit unbefriedigend abstrakter Programmatik soll mit einem Blick auf ein Gemälde geschlossen werden, das allgemein als eines der größten gilt: Las Meninas von Velazquez. Wer über dieses Bild spricht, muß natürlich wissen, daß er zu großen Interpreten in Konkurrenz tritt, die darauf eine ganze Philosophie gegründet ha-ben. Trotzdem sei eine kurze Betrachtung gewagt, die sich einfach dadurch rechtfertigen kann, daß sie ernst zu nehmen versucht, was das Bild uns sehen läßt. Einige wenige Fakten seien rasch in Erinne-rung gerufen (Abb. 1): Links im Bild, von einer großen Leinwand, die der Bildbetrachter nur von hinten sieht, einen Schritt zurückge-treten, steht niemand anders als Velazquez selbst, mit Malgerät bewaffnet und offenbar den nächsten Pinselstrich erwägend. Zwar steht Velazquez nicht im Bildzentrum, aber die überragende Figur der ganzen Komposition ist er allemal, so daß das Gemälde sicher auch ein Selbstporträt ist. Darüberhinaus ist es ohne Zweifel auch ein Porträt, der Infantin Margarita nämlich, jener Prinzessin, die das Zentrum des Bildvordergrundes einnimmt. Spannend wird die Sache nun bekanntlich durch den Umstand, daß diese beiden Hauptperso-nen und noch mehrere Begleitpersonen aus dem Bild herausschauen, und zwar - wie es scheint - auf uns, die wir das Bild betrachten. So scheint es also, als seien wir in das Bildgeschehen schmeichelhafter-

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Abb. 1: Diego Velazquez, Las Menifias. 1656, Madrid, Museo del Prado. Aus: Jo-nathan Brown, Velazquez. Maler und Höfling, München 1988, S. 258 (Ausschnitt).

weise irgendwie einbezogen und darum gewissermaßen eingeladen, über Bild und Betrachter, über das durch das im Bild Sichtbare einbezogene Unsichtbare, überhaupt über Sichtbarkeiten und Un-sichtbarkeiten und anderes mehr Reflexionen anzustellen.'

Doch dieser Schritt ist voreilig. Denn (jeder weiß auch das) im Hintergrund des Bildes, auf der Wand, die den Raum abschließt, in den uns das Bild hineinsehen läßt, ist ein Spiegel zu sehen, in dem sich das Königspaar Philipp IV. und Marianne spiegelt, die man sich genau dort sitzen oder stehen denken muß, wohin die aus dem Bild hinausgehenden Blicke zielen. Das aber ist der Ort, den wir Betrach-ter - man möchte fast sagen - unerlaubterweise eingenommen haben und an den wir, gemäß dem genauen Sinn dessen, was das Bild sehen läßt, gar nicht gehören. Das Spieglein, Spieglein an der Wand ver-weist uns also unsere Dreistigkeit und Zudringlichkeit. Denn wir sind offenkundig gar nicht gemeint als Bezugspunkt der verschiede-nen Blicke aus dem Bild.

1 Vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humamcs, Paris 1974; deutsch: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, 1. Kap. »Die Hoffräulein«.

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Abb. 2: Jan van Evck, Die Arnolfini-Hochzeit. 1434, London, National Gallery. Aus: Elisabeth Dhanens, Hüben und Jan van Evck, Königstein/Ts. 1980, S. 194.

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Abb. 3: Jan van Evck, Die Arnolfini-Hochzeit. 1434, London, National Gallery. Aus: Elisabeth Dhanens, Hubert und Jan van Evck, Königstein/Ts. 1980, S. 194

(Ausschnitt).

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Wer diesen Sachverhalt ernst nimmt, kann wohl nicht anders, als zumindest im Geiste einen erheblichen Schritt hinter das Königspaar zurück-, wenn nicht gar auf die Seite zu treten. Dann aber (indem wi r uns sozusagen aus dem vom Bild aufgespannten Raum zurück-ziehen) schließt sich das Bil d erst zu jener Einheit zusammen, die seinen Sinn verständlich macht. In der Tat nimmt das Gemälde auf Betrachter Bezug, nur eben nicht auf beliebige, sondern auf genau zwei Personen. Dieser Bezug ist durch das Spiegelbild eindeutig. Das wäre übrigens auch dann der Fall, wenn wir über das Bild und die dargestellten Personen nicht so genau informiert wären und nicht wüßten, daß es sich um Velazquez, die Infantin Margarita und um deren Eltern handelt. Die Situation wäre dann zwar nicht so leicht zu entschlüsseln. Aber sie wäre nach einigem Überlegen doch immer noch klar, und sie setzt ein Faktum, das (einmal klar geworden) kein Bildverständnis übergehen oder wieder außer Kraft setzen kann. Schließlich ist gerade dadurch, daß es sich nicht wirklic h um einen Spiegel handelt, in dem sich spiegelte, wer immer vor das Bild träte (sonst wäre aus der ganzen Sache wohl nur ein Scherz oder eine Jahrmarktsattrakt ion geworden), sondern dadurch, daß es sich um ein gemaltes Spiegelbild handelt, dieser Bezug auf genau zwei be-stimmte Personen auf Dauer gestellt und der Bildsinn auch dann noch entschlüsselbar, wenn das königliche Paar, das sich gemeint sehen mußte und sollte, nicht da ist. (Und nachdem dies klar ist, dürfen auch wir nicht gemeinten, beliebigen Betrachter wieder her-antreten.)

Und welches ist nun der Bildsinn? Das Bild scheint die wahrhaft geniale Lösung für das Problem zu sein, wie der zu hohen Ehren gelangte Hofmaler, der Zugang zum engsten Kreis der königlichen Familie hat, eben dies darstellen, d.h. sich selbst in Szene und seinem berechtigten Stolz ein Denkmal setzen kann, ohne sich dadurch zu überheben und die Tabugrenzen der höfischen Gesellschaft zu über-treten. Er tut's, indem er tatsächlich sich selbst als Hauptperson ins Bil d bringt, das Bil d aber durch eindeutigen Bezug an die höchsten Herrschaften adressiert und diese wissen läßt (wenn man will : mit einem Anflug souveräner Ironie), daß selbstverständlich eigentlich sie das Sujet sind, daß sie es sind, um die sich alles dreht (und denen der Maler - hat man den Eindruck - so nebenbei noch das Porträt ihres Sonnenscheins, der Infantin Margarita, schenkt). Velazquez erreicht sein Ziel, indem er einen Einfall des Jan van Eyck umkehrt (Abb. 2): Dieser hatte sich ins Bild gebracht, indem er auf der Rückwand, die den Bildraum abschließt, einen Spiegel anbrachte.

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Der Spiegel zeigt das Hochzeitspaar Arnolfin i von hinten und den vor dem Paar zu situierenden Maler von vorn - freilich winzig klein im prächtigen Konvexspiegel und zur Beglaubigung der Inschrift über dem Spiegel: »Johannes de Eyck fuit hie« (Abb. 3). Bei van Eyck dient das Spiegelbild dazu, den Zeugen der Hochzei tszeremonie, das heißt, eine wichtige, aber keine Hauptperson, mit in diese gemalte Heiratsurkunde aufzunehmen.1 Indem Velazquez diesen Kunstgriff (und damit auch die innerbildlichen Proport ionen) umkehrt, kann der Maler selbst zur Hauptperson werden und doch zugleich die sozialen Proport ionen wahren.

Las Meninas ist nun weiter genau dadurch, daß der Maler als Malender dargestellt ist, ein Gemälde über die Malerei. Velazquez erreicht dies durch die ganz ungewöhnliche Konstellation, zwar den Maler zu zeigen, wie er im Begriff ist, den nächsten Pinselstrich zu setzen, den Betrachter von Las Meninas aber nur die prosaische Seite der Malerei, die nichts sehen lassende Rückseite der Leinwand sehen zu lassen. Hier wird der handfeste, ganz materielle Vorgang der Malerei hervorgekehrt, der, wenn Auge und Hand des Meisters am Werk sind, das Wunder eines Bildes bewirken kann. Und noch eins: Indem der Spiegel verrät, was auf dem Gemälde, von dem wi r nur die Rückseite sehen, zu sehen sein wird, scheint Las Meninas gera-dezu eine Illustration des Satzes >ut speculum pictura« zu sein, mit der treffenden Präzisierung freilich, daß diese Analogie nur Bil d und Spiegel betrifft und daß wi r uns das Vermögen des Malers (der den Spiegel ja gar nicht beachtet und seiner offensichtlich nicht bedarf) nicht als ein Abspiegeln erklären können.

1 Vgl. Erwin Panofsky,/an van Eyck's Arnolfini Portrait, in: Creighton Gilbert (Hg.), Renaissance Art, New York 1970, S. 1-20.

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GOTTFRIED BOEHM

Die Lehre des Bilderverbotes

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D ie neuere Wendung der Kunst gegen sich selbst und auf sich zurück, die im 19. Jahrhundert einsetzte, wird mit der abstrak-

ten Malerei zu einem Geburtszeichen der Moderne, das sich seitdem nicht verloren hat. Die Welt, so darf man daraus schließen, ist dem Künstler keine naturwüchsige Heimat, kein Ort, an dem er sich schön einzurichten hätte. Eher gleicht sie einem befremdlichen, jedoch höchst gestaltbaren und gcstaltungsbcdürftigen Stoff-dessen Rätselhaftigkeit ihn zu Rückfragen auf sein Tun, zur Prüfung seines Auges veranlaßt. Ätzende Proben, Akte der Destrukt ion sind zu durchlaufen, jenseits der Konventionen des Auges und der Hand ist ein neuer tragfähiger Boden allererst zu schaffen. Diese Stichworte bringen einen geläufigen Sachverhalt in Erinnerung, den wir im folgenden in der Perspektive einer uralten Tradition betrachten wol-len. Man darf sie wohl zu den ältesten schriftlichen Überlieferungen zählen, die im Bereich bildender Kunst innerhalb des europäisch-vorderasiatischen Raumes existieren: gemeint ist das alttestamenta-rische Bilderverbot. Es gibt zu denken, daß die Geschichte der Bildnerei (soweit sie sich in Texten spiegelt) ausgerechnet mit einem Verbot einsetzt. Seinem Sinn gehen wir in jener Beleuchtung nach, welche von modernen künstlerischen Strategien erzeugt wird und von einem Bilddenken, welches daraus Konsequenzen zog.

Moderne Bildverfahren kennzeichnen oftmals Destrukt ionen, die auf einfache Grundlagen durchdringen möchten, Negat ionen in bestimmender Absicht. Die Wendung des Auges, welche von abstra-hierenden und abstrakten Bildideen veranlaßt wird, hat mit Reduk-tion, mit der Suche von Elementen oder mit Auslöschungen zu tun. Solche Beobachtungen legen den Vergleich mit der Geschichte der Ikonoklastik nahe. Es ist neuerdings Mode geworden, von einem modernen »Bilderstreit« zu reden, darunter wurde aber vor allem die vage Konkurrenz verschiedenster künstlerischer Konzepte in der zeitgenössischen Szene verstanden, eine Ar t Kunstmarkt-Darwinis-mus, »for the surviving of the fittest«. Die hier entwickelten Über-legungen zielen in eine andere Richtung.

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Versucht man den theologischen Gedanken des Bilderverbotes in die moderne Welt zu verpflanzen, so ergibt er in ihr zunächst keinen Sinn. In einer Zivilisation der bilderzeugenden Apparate, der Medien und Simulationscomputer sind Bilder verfügbar, allgegenwärtig und banal - mehr als je zuvor. Das elektronische Bild, mittels unsichtba-rer Energie durch den planetarischcn und interstellaren Raum trans-portierbar, macht die Frage eines Bilderverbotes anscheinend gegen-standslos. Vor allem deshalb, weil wir über keine Instanz verfügen, welche die Angemessenheit von Bildern gegenüber der Wirklichkeit zu beurteilen vermöchte. Damit fallen auch mögliche Sanktionen dahin. Natürl ich bleibt der ökonomische und kulturelle Zugriff auf die Medien umkämpft. Politische Ideologien haben deswegen immer wieder Zensuren und Interventionen ausgeübt. So gesehen waren und sind Bilderverbote auch moderne Phänomene. Sie erstreckten sich gleichfalls auf den künstlerischen Bereich im engeren Sinne. Auch da wurden ästhetische Doktrinen erlassen, die aus politischer Opportuni tät die Freiheit der künstlerischen Äußerung unterdrück-ten. Moderne Bilderstürme, zum Beispiel unter Vorzeichen »entar-teter Kunst« beziehungsweise »volksdemokratischer« Reinigungs-ritualc in Gang gesetzt, folgen den älteren, eher theologisch gepräg-ten nach, denke man nun an die Reformation oder die Geschichte von Byzanz. Die physische Stign..itisicrung der Gemälde, ihre fak-tische Vernichtung gehört zur Geschichte der Bilderfeindschaft we-sentlich hinzu. Erst wenn das Gebilde »gestürzt« ist, zerschmettert im Schmutze liegt, scheint es tot und erledigt, seine Macht (die Höhe und Hoheit einschließt) gebrochen.

Diese schnell skizzierten Sachverhalte sollen eine erste Frage vorbereiten helfen und ihre Beantwortung erleichtern. Was an den Bildern veranlaßte denn überhaupt Bilderverbote? Der ikonoklasti-sche Eingriff erscheint doch nur dann plausibel, wenn er nötig ist und ans Ziel zu führen verspricht. Nötig aber ist er, wenn die intervenie-rende Gegewmacht mit einer primären Bildmacht zu rechnen hat. Mi t anderen Worten: nur unter der Annahme, daß Bilder Macht repräsentieren (und sei es eine ästhetische Potenz oder Kraft, die sich von sakralen Ikonographien löste), ist das Bilderverbot eine erwart-bare Komponente der historischen Entwicklung.

Die Lehre, welche die Ikonoklastik erteilt, macht nachdenklich. Es bedürfte einer eigenen historischen Recherche, die konkreten Gründe und Argumente der Bilderfeinde (aber auch der Bilderfreun-

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296 GOTTFRIED BOEHM

de) zu entwickeln, ihre Theologien zu erhellen und die Anlässe sichtbar zu machen, welche sie aktivieren. Unser Interesse zielt auf etwas anderes. Wir möchten uns in die Lehre der Ikonoklastik ohne Umschweife weiter vertiefen. Was hilf t sie uns an dem verstehen: was ein Bild ist? Wir sehen von den jeweiligen historischen Umständen der Bilderstürme weitgehend ab und beschäftigen uns mit der Kom-ponente jener Mächtigkeit, die an Bildern ernst zu nehmen sie uns gezeigt haben. Diese Mächtigkeit ist Bestandteil der bildlichen Rea-lität selbst, der Ikonokiast geht gegen sie an, die Bilderfreunde haben sie sich im Laufe der Kulturgeschichte mittels Ritualen der Bildma-gie, der Andacht oder der ästhetischen Teilhabe zustimmend zuge-eignet. Bilder erscheinen als Kraftquellen, die sich in verschiedensten Funktionen, in unterschiedlichen Weisen des Umgangs mobilisieren lassen.

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Was erzeugt die Macht in den Bildern? Wer den Gedanken einer magischen Besetzung oder irrationalen Projektion für zu ungreifbar hält, der wird nach sachlicheren Argumenten suchen. Schließlich haben auch die Künstler selbst (in der langen Überlieferungsge-schichte ihrer Strategien, Arbeitsweisen und bildnerischen Verfah-ren) reichlich bekundet, daß das Gelingen des Werkes einer zielge-richteten Anstrengung, eines »Diskurses« bedarf, so rätselhaft schließlich das Zustandekommen eines »lebendigen« Werkes auch bleiben mag. Wir leiten aus all diesen Vorüberlegungen eine These her, nämlich diejenige, daß in jeder künstlerischen Bildfindung, der es überhaupt gelingt, einem Stück Materie ästhetische Lebendigkeit zu verleihen, sie mit Wirksamkeit auszustatten, ein ikonoklastischer Zug mitspielt. Ikonoklastik gehört mithin zu den integralen Grund-lagen von Bildlichkeit. Sie stellt nicht nur einen externen Ak t des Eingriffs dar (der sich historisch verändert), sondern rechnet zu den internen Bedingungen des Bildes selbst. Damit jedenfalls ist jene These umschrieben, die wir im folgenden diskutieren möchten. Auf den ersten Blick mag sie spekulativ oder auch verwirrend erscheinen. Wie wird aus den Bilderstürmen, die sich ihre pikturalen Opfer suchen, um ihre rigide Theologie daran zu manifestieren, ein Ereig-nis des künstlerischen Handelns, des Werkes selbst? Wie kommt Ikonoklastik ins Bild, wie ist sie dort wirksam und erkennbar? Verständlicher erscheint diese Überlegung, wenn wir uns klar ma-chen, daß jeder Akt der Darstellung einen Akt des Auslöschens

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notwendig einschließt. Unter Bedingungen einer materiellen Reali-sierung, wie sie für die bildende Kunst gelten, bringt bereits die Grundierung einer unbearbeiteten Leinwand den Bildträger in sei-ner Beschaffenheit zum Verschwinden. Jeder weitere Schritt, den der Maler vollzieht (unbesehen des »Stils«, in dem er sich ausdrückt), zeigt, indem er negiert. Die Figur überdeckt den Grund, der seiner-seits wiederum positiv gelesen werden kann, ein vorderer Bildplan überdeckt den hinteren etc. Diese Logik des Verdeckens rechnet zu den Bedingungen bildlicher Formulierung. Auch an anderen Gat-tungen lassen sich vergleichbare Strukturen beobachten. Dem Be-griff der »Skulptur« liegt der Vorgang des Wegschiagens von Materie zugrunde (bis sich schließlich die Gestalt ausgrenzt), die Kategorie der »Plastik« basiert stärker auf der Veränderbarkeit weichen Mate-rials. Der griechische Wortstamm »plasso« hat mit dem Fließen (und der Einflußnahme darauf) zu tun. Kurzum: auch die visuelle Sprache ist ebenso endlich wie es die verbalen Sprachen sind, jede Affirma-tion begleitet der Schatten des Nichtgesagten, des Ausgeschlossenen. Die Gegenwart des Absenten zeigt sich im jeweiligen Bau des Wer-kes. Jede Fügung, jede Passage, die wir daran beobachten, alles dem Auge Gegenwärtige basiert auf Akten der Negation. Der Kern künstlerischer Arbeit und die Struktur des Bildes selbst hat mit Entscheidungen zu tun, mit einem Ja und Nein. So zieht sich durch jedes Bild der Saum des Ungesagten, folgen wir betrachtend der labilen Grenze, an der sich das Sichtbare aus den undurchdringlichen Schatten des Unsichtbaren erhebt. Die Sichtlinie (die auch im Begriff der Idee, des Eidos mitschwingt) bringt das Ausdrückliche vor dem Hof des Ausdruckslosen zur Geltung, verleiht ihm Gegenwart. Alles Ikonische bindet sich, im jeweiligen Werke, an seine anikonische Gegenrealität. Diese Verknüpfung ist unausweichlich. Das Bild teilt sich nur mit, es ist nur dann Sprache, wenn es über die Macht der Negation gebietet.

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Muß man diese Macht ikonoklastisch nennen? Mit welchem Recht geschieht dies? Wir haben durch die Geschichte der Moderne ge-lernt, das autonome Tafelbild der Neuzeit nicht als das selbstver-ständliche Maß aller Bildnerei zu betrachten. In archaischen (aber auch modernen) Artefakten ist der Prozeß der Scheidung, der Kampf (und das Scheitern) der Gestaltfindung ablesbar, vom Begriff der Vollendung, der klassischen Schönheit nicht völlig überlagert. In alle

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bildliche Präsenz ist das Muster der Absenz eingewebt. Dies ließe sich vielfach belegen. Schon bei Autoren wie Monet, Seurat oder Cezanne, nicht erst bei Kandinsky, Malewitch oder Mondrian ver-lieren bildliche Elemente einen Teil ihrer Referenz, bekunden sie einen offenen Zustand der Vieldeutigkeit. Das bildliche Element ist sich seines Sinnes nicht gewiß. - Wichtig für den Moment ist die Feststellung, daß das Gestaltlose die Gestalt im jeweiligen Werk selbst begleitet. Der Künstler erscheint als ein Akteur der Grenze, der beide Wirklichkeiten kennt. Im vollendeten Werk ist das Ikono-klastische freilich eine zwiespältige Bestimmung. Es hat mit den bildauflösenden Kräften zu tun (über die der Künstler in seinem Tun Herr wird), es hat aber auch damit zu tun, daß das gelungene und abgeschlossene Werk sich als ikonoklastisch erweisen kann: nämlich dann, wenn es sich von dem, was es darstellt, gar nicht mehr unter-scheiden läßt. Das perfekte Abbild streicht sich als Bild selbst durch, geht darin auf, die Sache zu zeigen, im Extremfall die Sache zu sein. Auf einer anderen Ebene bringt das magische Artefakt die beschwo-renen Kräfte selbst zur Geltung. In beidem liegt eine bildzerstörende Handhabung des Bildnerischen. Ein angemessener Bildbegriff (eine befriedigendere Antwort auf die Frage: Was ist ein Bild?) ist mit diesen Extremfällen nicht zu gewinnen. Es wird darum gehen, das Ikonoklastische als wirksame, aber nicht dominante Komponente des Bildprozesses zu bestimmen. Die Selbstaufhebung erfüllt die Bestimmung des Bildes nicht. Zum vcritablcn Bil d gehört ein Ver-gleichen und Unterscheiden, ein Prozeß, dessen Spannungen, dessen inneren Kontrast wi r noch näher erhellen möchten.

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Versuchen wi r zuvor die Lehre des alttestamentarischen Bilderver-botes noch gründlicher zu verstehen. Der Text des Dekalogs (Buch Exodus 20,4) lautet folgendermaßen: »Du sollst Di r kein Bild ma-chen ... Du sollst Dich nicht vor diesen Bildern niederwerfen und sie verehren. Denn ich Jahwe, Dein Gott, bin ein eifernder Gott.« Die im Buch Genesis (1,26/27) formulierte Gottebenbildlichkeit des Menschen ziehen wir, hilfsweise, hinzu. Den Sinn dieses Gebotes, das an der Spitze der zehn Gebote steht, möchten wi r als den Versuch umschreiben, den Rückschluß vom Bild auf die Realität des Aller-höchsten auszuschalten, die darin liegenden Gefahren abzuwenden. Es fällt dabei auf, daß das Bild zweimal vorkommt, als das zu

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verbietende Machwerk und als ein prototypisches Bild, welches für jenen Gott steht, von dem es heißt, der Mensch sei ihm gemäß, nach dem Muster dieser Vorgabe, d. h. nach dem Bilde Gottes erschaffen. Menschenbilder setzen Urbilder voraus. Allein dem Schöpfer bleibt es freilich vorbehalten, diese Relation einzulösen: In jedem Men-schen, den er selbst aus Lehm erschafft, scheint das Urbild auf. Diesen Vorrang des Schöpfergottes möchte die ikonoklastische In-tervention festhalten. So sehr in die Vorstellung Gottes, wie sie im Siebentagewerk des Buches Genesis aufscheint, ältere Ideen, z. B. die eines archaischen, knetenden Töpfers hineinwirken mögen, das Bil-derverbot sieht in Jahwe vor allem den Unvergleichlichen, den pri-mären Urheber, der nicht an die Kette der Metaphern gelegt werden darf. Er ist der ganz Andere, der Unsichtbare, der Verborgene, der Furchterregende, der Allmächtige - den auch die menschliche Er-fahrung nur via negationis vorzustellen imstande ist. Jedes Bild (nicht nur das Goldene Kalb, welches den Zorn Moses' auf sich zog), sofern es auf das kardinale Urbild zielt, müßte dieses »Ganz Andere« in seiner Realität schwächen und damit verfälschen. Umgekehrt liegt in der Konsequenz des Verbotes auch eine Aussage über die Bilder: Ihre Macht erscheint von der Art, daß sie einer solchen Minderung des Allerhöchsten fähig sind. Dies erklärt auch, warum das Gebot der Bildlosigkeit nicht beiläufig, sondern an der Spitze des Dekaloges erscheint. Worin besteht aber nun diese unerhörte Macht der Bilder? Offenbar in ihrer Fähigkeit, ein unsichtbares und fernes Sein zu vergegenwärtigen, den Raum der menschlichen Aufmerksamkeit damit völlig zu erfüllen. Vor allem aber besteht sie in der Kraft der Verähnlichung, des sich Gleichsetzens mit dem Dargestellten, so sehr, daß das Bild mit seinem Inhalt völlig verschmilzt. Im deutschen Wort »ähnlich« schwingt die Gestaltgleichheit, das in-eins-Setzen (frühneuhochdeutsch: »einlich«) noch mit.

Dies leisten bei weitem nicht alle Bilder, und diejenigen, die es vermögen, leisten diese Ineinssetzung nicht zu allen Zeiten. Auch für das Volk des Moses wäre ein Goldenes Kalb, welches - modern gesprochen - in die Kategorie Kunstgewerbe zählte, kaum eine Gefahr gewesen. All e Bilder jedenfalls, an denen die Unterscheidung zwischen dem, was das Bild ist und dem, was es meint (worauf es verweist), stets mitgesehen werden kann, sind theologisch harmlos. Die Gefahr, in die Realität des Dargestellten rückhaltlos einzutau-chen, entsteht unter diesen Bedingungen nicht. Dem Betrachter ist die Reflexion des Vergleichens und Unterscheidens nicht verwehrt. In diesem Fall kann er zum Beispiel sagen: Das ist ja nur ein Bild, mit

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der Realität des Dargestellten verwechsle ich es in keinem Moment. Ein kraftvolles Idol der Verehrung dagegen verfügt über viel wirk -samere Kräfte der Repräsentanz, solche, die imstande sind, die Rea-lität Gottes selbst zu vergegenwärtigen bzw. den für die jüdische Theologie gefährlichen Anschein zu erwecken, eine solche bildliche Verkörperung, und das heißt für sie immer auch: eine Besitznahme Gottes, sei möglich. Mächtige Bilder dieses Typs ziehen ihre Kraft aus einem Akt der Angleichung, sie gehen völlig darin auf, sich an die Stelle dessen zu setzen, was sie vergegenwärtigen. Die Zäsur des Bilderverbotes möchte offenbar diese Leistung der Kunst ausschal-ten. Die alte magische Wurzel aller Bildnerei (die auch im modernen Abbildwesen nicht völli g verloren ist) schleppt eine gefährliche Ver-schiebung ein: Ihr fällt die Differenz zwischen der Realität des Bildes und der dargestellten Realität zum Opfer. In dem Augenblick, da einem Bilde diese Verschmelzung gelingt, verdeckt es (vermöge eigener Kunstfertigkeit) den Abstand zwischen dem Bildnerischen und seiner Referenz (zwischen signifiant und signifie). Auf dieser Scheidung bzw. Unterscheidung beharrt das Bilderverbot. Offenbar schätzt es die Gefahr so hoch ein, daß sie nur kompromißlose Negation zu bannen vermag.

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Die fortdauernde Fruchtbarkeit des jüdischen Bilddenkens (die Leh-re des Bilderverbotes) besteht vor allem in Zweierlei. Es macht deutlich, daß die Realität nicht schlechthin in Besitz genommen werden kann (auch wenn die Bilder zu dieser Idee verführen mögen). Undarstellbares, Wirklichkeit jenseits der Reichweite der Bilder wird sichtbar, solches, was sich aller Sprache, auch den visuellen Komparativen, entzieht. In einer zweiten Hinsicht veranlaßt das jüdische Bilderverbot den modernen Leser, die Gleichung Bild ver-sus Wirklichkeit zu befragen, ihre Voraussetzungen zu erkunden. Eine befriedigende Theorie des Bildes ist damit freilich noch nicht gewonnen. Sie setzte voraus, paradox gesprochen, die Unfaßbarkeit darzustellender Realität mit ihrer Bildförmigkeit zu versöhnen.

Immerhin haben wir gelernt, das Bild nicht als Zeichen oder Stellvertreter, nicht als Ding oder vom Gedanken des Abbildes her zu interpretieren, sondern als einen anschaulichen Prozeß, dessen Sprachähnlichkeit auffällt. Den Prozeß vermögen wi r nunmehr ein-zugrenzen. Er unterscheidet sich von einem reinen unterscheidungs-

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losen Vertreten und von einer extremen, selbstbezogenen Autono-mie. Beide Möglichkeiten unterminieren, was der Darstellungsvor-gang des Bildes umfaßt. Anders gesagt: Kein wirkliches Bild wird sich damit begnügen wollen, eine vorhandene Welt gleichsam zu verdoppeln. Es bringt eine Art Mehrwert ins Spiel, einen Zuwachs an Einsicht und Wirklichkeit. Die Präsenz des Dargestellten kommt im Bilde allererst heraus, sie wird greifbar, vollendet sich, indem es Bild wird. Das Für-sich-Sein des Bildes geht im Darstellungsprozeß nicht verloren, so sehr die Suggestionen, die es in Gang setzen, auf Nichtunterscheidung vom Dargestellten zielen. Der Eigenwert des Bildes, die Selbstreferenz des ikonischen Systems wird sich anderer-seits nie so weit verselbständigen dürfen, daß seine Verweiskraft völli g abstirbt. Auch die absoluten Bilder der Moderne (in der Art von Malewitchs Schwarzem Quadrat oder Ad Reinhardts black paintings) bleiben Metaphern von Realität, sie bleiben Bilder unter Bildern, auch dann, wenn sie als die letzten Bilder gemeint sind, die man malen kann. Kein Werk vermag den Diskurs mit anderen Wer-ken abzuschütteln, sich aus dem stummen Dialog im Universum der Bilder zu befreien. So sehr sich Bilder wechselseitig feind sein mö-gen, um Superiorität ringen, die Pluralität gehört zum Agon hinzu. Ein Bild, das alle anderen erledigt hätte, die Realität aller Bilder vor ihm und nach ihm in sich aufgesaugt hätte, gliche jenem absoluten und letzten Wort, jenseits der Zeit, von dem man allenfalls theolo-gisch reden könnte. Es wäre das Urbild schlechthin und damit von jener unwiederholbar höchsten Dichte und Mächtigkeit, die Jahwe in der Geschichte vom Bilderverbot für sich beansprucht.

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Wenn im Bildprözeß die Verknüpfung divergenter Gesichtspunkte gelingen soll, eine prekäre Balance stattfindet, dann liegt es nahe, ihre Komponenten als bildstärkende und als bildschwächende, als ikoni-sche und als ikonoklastische zu identifizieren. Davon war bereits die Rede, als wir die Rolle des Negativen, des Absenten für die Gestalt und die Präsenzleistung des Bildes betonten. Es geht jetzt darum, die ikonische Polarität näher zu erörtern. Schon das einfachste Bild baut diesen Kontrast auf. Es verweist nämlich nach zwei Richtungen: auf sich selbst (seine Farben, Linien, das Repertoire der virtuellen Ver-anschaulichung) und von sich fort (auf Baum, Berg oder Blume, oder auf die Metaphorik primärfarbiger Flächen etc.). Zur bildlichen

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Darstellung gehört offenbar die Unterscheidung und zugleich die Nichtunterscheidung von Darstellung und Dargestelltem. Der Be-trachter kann seine Aufmerksamkeit akzentuieren, sich innerhalb des Kontrastes hin und her bewegen. Ein Bild betrachten, seine visuelle Sprache verstehen, heißt nichts anderes, als die ikonische Differenz in ihrem Unterscheidungs-, Vergleichs- und Einheitspo-tential zu realisieren. Die Analyse dieses Sachverhaltes (und eine Theorie des Bildes) erschöpft sich freilich nicht in der Konstatierung des Kontrastes und seiner Komponenten, sie zielt vor allem darauf, den Sinn jenes Prozesses zu verstehen, den das Bild in Gang setzt. Die besprochenen Randfälle waren für das Verständnis bereits hilf-reich. Von einem wirklichen Bild erwarten wir, daß es nicht nur veranschaulicht, was wir schon wissen oder jenseits alles Wissens ein ästhetisches Spiel inauguriert, wir erwarten von ihm vielmehr einen Zuwachs an Wirklichkeit. Bilder kommen zu ihren eigenen Möglich-keiten, wenn sie die Realität bereichern. Dies setzt ein Potential an Lesemöglichkeiten für den Betrachter voraus, dessen Unerschöpf-lichkeit zu den Sacheigenschaften des Bildes rechnet.

Soll ein Bild die angedeutete Erweiterung unserer Einsichten zustande bringen, muß es eine Mitte finden zwischen ikonischem Eigenwert und ikonoklastischer Nichtunterscheidung. Wir machen Erfahrungen (und sei es über motivisch Altbekanntes wie Blumen, Gefäße, Bäume, Farbfelder), die wir ohne das jeweilige Bild niemals machen würden. Es ist der Einschlag von bildstärkenden und bild-aufhebenden Kräften, der jenen Zuwachs an Wirklichkeit allererst ermöglicht. Bevor wir diese Sprache der Bilder und zwar an Beispie-len genauer analysieren, empfiehlt es sich, die beteiligten Kompo-nenten, die komplexen Ausgangsbedingungen mit historischen Ex-tremfällen zu kontrastieren.

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Ikonoklastische Nichtunterscheidung liegt nicht nur dem in unserer Zivilisation weitverbreiteten Abbild zugrunde (das wohl gängigste Bildparadigma überhaupt). Sie spitzt sich besonders in illusionisti-schen Bildtechniken zu. Das trompe l'ceil verleugnet zwar nie, daß es ein Artefakt ist - der Stolz auf die stupende Leistung der Täu-schung gehört zur Gattung hinzu -, dennoch gehört zu seiner Sug-gestionsmacht, Realität soweit zu simulieren, daß wir zumindest für einen Moment das Gefühl der Unsicherheit haben: Sehen wir das Ding selbst oder nur seinen bildlichen Stellvertreter? In dieser

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Schwebe läßt sich jene Verschmelzung nachvollziehen, die sich im Gelingen der Nichtunterscheidung einstellt. Wenn das Bild seine ikonoklastische Kapazität entfaltet, verschwimmen die Kategorien des Ärtifiziellen und des Realen. Das Bild läßt uns die Differenz übersehen. Dies gelingt ihm um so besser, je mehr es sich selbst als Bil d durchzustreichen vermag. Diesem Vorgang liegt eine kalkulier-te, artifizielle Leistung zugrunde. Nur wer die Gestaltungsmittel so vollkommen beherrscht, kann sie gestaltend auch zum Verschwin-den bringen. Ikonoklastisch ist diese Bildform (und die entsprechen-de künstlerische Einstellung), denn: Bild soll nicht sein, Realität soll sein, genauer: das Bild soll Realität werden. Je mehr sich das Bild dem Dargestellten angleicht, um so mehr vollendet sich der implizite Ikonoklasmus. Gelingende Illusionistik ist mithin ein radikal ikono-klastischcs Verfahren.

In anderer Weise implizieren die mechanischen oder elektroni-schen Bildtechniken einen ikonoklastischen Grundzug. Damit soll ihnen ihre künstlerische Valenz nicht abgesprochen werden. Es ist aber nicht zu bestreiten, daß in Fotografie, in Film oder Fernsehen ein starkes Moment der Suggestion von Realität mitspielt. Das ver-blichene Familienbild, der hochartistische Film, die flimmernde Vi -deoshow - sie alle verleugnen ihre ikonische Basis nicht - und dennoch ist die Bindung an das abgebildete Objekt konstitutiv. Davon scheint Roland Barthes zu sprechen, wenn er in seinem Fotografie-Essay meinte, daß sich eine bestimmte Ar t von Fotogra-fie niemals von ihrem Bezugsobjekt (ihrem signifie) unterscheiden läßt, wenigstens nicht sogleich.

Die Moderne verfügt aber auch über Instanzen, welche die Stei-gerung des Ikonischen betreiben. Die Betonung der bildlichen Ei-genwirklichkeit, der Artifizialitä t ist durch die abstrakte Kunst in Gang gekommen, die sich freilich in der Regel nicht als ein selbstbe-zogener Formalismus verstanden wissen will . Die bedeutenden Pro-tagonisten der Abstraktion waren, ganz im Gegenteil, an einer neuen und universellen Metaphorik interessiert, die es gestattete, die Rea-lität als ein unbegrenztes Ganzes, als ein Universum oder dergleichen zu entdecken. Dennoch läßt sich in diesem Umkreis zumindest der Fall konstruieren, daß im Bild das Niveau möglicher Differenzierun-gen und Kontraste soweit abgesenkt wird, daß sich gleichsam eine Indifferenz etabliert, eine stehende Leere. Bekanntlich haben sich an dieser p renze eine Reihe künstlerischer Konzepte angesiedelt, die mit der Minimierung der Differenzen (z. B. unter den beteiligten Farben) eine Konzentration des Blickes und eine Genauigkeit des

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Betrachtens induzieren möchten. Jenseits dieser Grenze wäre schließlich der Zustand erreicht, wo das Bild keinerlei Unterschei-dung mehr anböte. Solche, auf die Spitze der Reduktion getriebenen Bilder würden auch die ikonische Eigenrealität bis zum Äußersten steigern. Freilich um den Preis, daß die Selbstreferenz des ikonischen Systems in Leere umschlägt, wo die Vieldeutigkeit in Deutungslo-sigkeit übergeht. Es würden uns nur noch reine Möglichkeiten der Malerei vorgeführt. Die bloßen Prämissen erfüllen aber den Tatbe-stand des Bildes so wenig, wie die völlige Transgression des Werkes in seinen Inhalt noch ein Bild genannt werden kann. Durch die Hintertür setzt sich der ikonoklastische Angriff auch hier durch, obwohl die Strategie zunächst ganz auf Artifizialität zielt, auf die Unterscheidung der bildlichen Elemente und ihrer Syntax gegen-über der Realität. Ein fingiertes, auf den Nullzustand heruntertrans-formiertes Bild wäre als Bild so wenig noch erkennbar, daß man es eine bemalte Sache nennen müßte, seine visuelle Sprache wäre elimi-niert (nicht verstummt), was uns erreicht, wäre allenfalls mit dem nachrichtentechnischen Begriff des leeren Hintergrundgeräuschs, des »weißen Rauschens« zu charakterisieren. Die radikale ikonische Unterscheidung, nach der das Bild nur Bild sein soll und sonst nichts, mündet (in unserem Gedankenexperiment) schließlich ihrerseits in einen ikonoklastischen Destruktionsakt.

Die Umgrenzung der Extreme lenkt uns auf den gelingenden Bildprozeß zurück. In ihm weist das Werk auf sich selbst und deutet gerade darin seinen Sinn aus, weist gerade auf diesem Wege über sich hinaus. Die Instanz der Malerei stellt die Realität in Frage. Die Instanz der Realität stellt, im Gegenzug, die Malerei in Frage. Die Austragung dieses Widerstreites ist das Bild (jedenfalls ein Bild von künstlerischem Ernst). Der Widerstreit zeigt aber auch, daß Bilder höchst indirekte Medien sind. So sehr sie sich in materiellem Glanz, in farbiger Transparenz, in unnachahmlicher Balance, insgesamt als unvertretbare Originale erfüllen: Ihre Wirklichkeit ist doch nichts Greifbares. Was sie uns veranschaulichen, kann man anschaulich erfahren, aber auch nur erfahren. Zu greifen (im taktilen, begriffli-chen, definitorischen Sinn) ist es nicht. Sie haben am Undarstellbaren Anteil, sie machen die Grenze erkennbar, wo das Sichtbare vom Unsichtbaren sich scheidet, mit ihm verflochten bleibt. Ein ent-wickelter Begriff des Bildes versucht diesen Dialog ikonischer und ikonoklastischer Kräfte nachzuzeichnen und zu bestimmen. In die-sem Sinne enthält die Lehre des Bilderverbotes Aspekte einer Ant-wort auf die Frage: Was ist ein Bild?

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DIE LEHRE DES BILDERVERBOTES 305

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Wenn wir diese Überlegungen abschließend kurz illustrieren, erhe-ben die nun folgenden Bemerkungen keinen interpretatorischen Anspruch. Kasimir Malewitch steht im Rufe eines modernen Bilder-stürmers, der auch die Tradition der Kunst vernichtet habe. Eine ausführlichere Erörterung könnte freilich zeigen, daß es ihm um eine neue Art der Versöhnung von Kunst und Leben ging. Ihn bewegte, was man einen sensualistischen Impuls genannt hat, so, daß er vom Schwarzen Quadrat auf weißem Grund (1913) sagen konnte, die dargestellte Grundform repräsentiere eine reine und das heißt gegen-standslose Empfindung, für die er die neue Gestalt einer Nullform findet. Greifbarkeit und Ungreifbarkeit begegnen sich in ihr. Die Setzung des schwarzen Quadrates auf weißem Feld ist für Malewitch die Abwesenheit des Bildes und zugleich seine Apotheose. Denn die Abkehr von allem Gegenständlichen, der Weg zur gegenstandslosen Welt, ermöglicht die Erfahrung einer Art Essenz der Realität: der reinen Empfindung. Die semantische Vieldeutigkeit seines Quadra-tes (gleiche Seiten, gleiche Farbe, keine Hierarchie etc.) kommt dem Versuch entgegen, alle Art von Abbildlichkeit in seinem Bilde zu vermeiden. Das Quadrat erscheint als die einzige Form, die, nur sich selbst bedeutend, alles bedeuten kann. Es ist Bild des Selben, vom Joche jeder Illusion oder Ähnlichkeit befreit. Das Bild ist eine opake Zone, in der sich ein Dunkel manifestiert, welches das »Ungegen-ständliche« zur Erscheinung bringt. In diesem Sinne ist die Leere, die opake Nullform, nicht nur ein Zustand äußerster Reduktion aller Bildmöglichkeiten, ein höchstes Defizit, sondern auch der Ursprung einer bildlichen Realität, in der sich die von allen Schlacken befreite Wirklichkeit, ein Inbegriff des Lebens und der Lebendigkeit zeigt. Malewitchs Schwarzes Quadrat formuliert demnach das Paradox, ein Unsichtbares zu veranschaulichen, ihm Präsenz zu verleihen, ohne es an ein »Sein« zu binden.

In einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase hat Barnett Newman die Prämissen der Malerei in seinem bildnerischen Verfah-ren reflektiert. Der Betrachter stößt, kurz gesagt, auf den Sachver-halt, daß die Bilder innere Beziehungen verweigern, einen Prozeß der Entgrenzung in Gang bringen. Die Werke Newmans locken ihn auf den Weg einer grundsätzlichen Überforderung seiner Wahrneh-mung. Ihr Scheitern am Bild und durch das Bild erfährt der Betrach-ter an sich selbst. Nach gängigen Interpretationen, die hier nicht weiter entwickelt werden, hat der angedeutete bildliche Befund,

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welchen der Künstler nach 1945/46 entwickelt hatte, mit Erhaben-heit zu tun, das heißt mit der Erfahrung einer grundsätzlichen Disproport ion zwischen einem Übergroßen und der Kapazität der Wahrnehmung bzw. des Erkennens im Betrachter. Kant bzw. andere Theoretiker der Erhabenheit zeigten, daß diese negative Erfahrung, die Verendlichung meiner Selbst, zugleich die Erfahrung oder das Gefühl einer eigenen Freiheit entfaltet. Die unaufhebbare Dispropor-tion aber, ein Erkenntnisbezug (zwischen dem Ich und der Totalität der Wirklichkeit), ist in jedem Falle die Pointe des Sublimen. Wohl nicht zufällig findet sich bei Kant bei der Erläuterung des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft (B 124/25) ein Hinweis, der auf unsere eigene Fährte zurückverweist. Kant sagt da, das Gefühl des Erhabe-nen sei zwar niemals etwas anderes als eine bloß negative Darstel-lung, »die aber doch die Seele erweitert«. Und dann fährt er fort: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuch der Juden, als das Gebot: Du sollst Di r kein Bildnis machen; noch irgend ein Gleichnis...«

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Referenzsysteme von Bildern und Bildtheorie

Wieweit eine Wahl von Methoden ihrerseits methodologisch begründet werden kann, ist umstritten. Erkenntnisleitende

Motivationshintergründe lassen sich nicht ausreichend durchsichtig machen. Auch methodenplurale Toleranz unterliegt einem histori-schen Wandel und ist alles andere als ideologie- oder interessenfrei. Spätestens als Streitgegenstand eines Für oder Wider die Pluralitat wird sie selber paradox. Die Perspektiven, in denen ästhetische Orientierungen akzeptiert, Kunstwerke konzeptualisiert, Kunst funktionalisiert werden, ergeben sich aus einem komplexen, letztlich im Undurchdringlichen, in Idiosynkrasien sich verlierenden Bündel an Prägungen und Erfahrungen, Überzeugungen und improvisierten Einsichten, kontingenten Affinitäten und nicht rational begründba-ren Abneigungen. Eine Reflexion der Methode zur Darstellung einer Methodenwahl ergibt vorerst nur: Nichts ist evident.

Für die theoretische Durchdringung von Kunst haben sich wie in anderen Sparten main-stream-Überzeugungen, akademische Kon-ventionen, eine Art konsensuelle, wenn auch höchst indirekt vermit-telte Abstimmung des Zuträglichen und Zulässigen gegenüber dem Unseriösen und Spekulativen herausgebildet. Probleme gibt es von zwei Seiten: Philosophie will die Singularität der Kunst nicht den-ken, Kunstgeschichte sich strikt auf diese beschränken. Philosophi-sche Ästhetik beschäftigt sich nur am Rande mit Kunst. Zur Peri-pherie rechne ich auch das allgemeine Reden über die ästhetische Form von Kunstwerken. Das Problem der philosophischen Ästhetik scheint sich auf die Differenz von allgemeiner, automatisierter und selbstreflexiver Wahrnehmung zu beschränken. Die herkömmliche Kunstgeschichte orientiert sich an den begrifflichen Vorgaben - Stil, Epochalität, Oeuvre des Künstlers, Entwicklungstendenzen, Quer-schnitte, Zustände, Abweichungen, Verzweigungs- und Umschlag-punkte -, die sie sich als Grundlage vorgegeben hat. Zwar scheinen immer wieder allgemeine Strukturen der Erörterung von Bildern und Kunst in der Beschreibung und Deutung von Kunstwerken auf - z. B. ikonologische Bildmodelle, Sprachverfaßtheit des Visuel-len, Phänomcnalität des Kunstwerks als Autonomie des Bildes.

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Kunst- und Bildtheorie fordert, hinzuschauen auf das Konkrete und das historisch-empirisch Geleistete zu beschreiben. Gegenüber der Philosophie, die zur Verrechnung im universalen Begriff tendiert, wo gestalthaft Heterogenes keiner vereinheitlichenden Perspektive unterworfen werden kann, hat diese Insistenz auf dem Singulären -die im übrigen einem Historismus und Positivismus auch in der Kunstgeschichte erst abgerungen werden mußte - den Vorteil einer Skepsis gegen Universalisierungen. Solches wird aber dogmatisch, wenn die Werke immer über komplexe Kontexte gestellt, als Epipha-nien von ideellen Zuständen behandelt und aus einer grundlegenden Reflexion über die strukturellen Bedingungen allen, auch des außer-künstlerischen Bildermachens ausgegrenzt werden. Daß nur das Singulare das Wahre der Kunst sei, korrespondiert einem soziologi-schen Reduktionismus, der das Gegenteil behauptet, nur allzu gut. Die Epiphanie-Qualität von Kunstwerken, die es tatsächlich - wenn auch nicht für alle in derselben Hinsicht - gibt, ist trivialerweise abhängig davon, daß eine Kultur so etwas wie »Kunst« als autono-mes Feld und spezifische Symbolisierung kennt. Diese Regulierung der Kontexte, in denen Kunstwerke überhaupt erst auf »Kunst« bezogen werden können, entstammt nicht den Werken. Anders gesagt: Die Singularität der Kunstwerke - ihres stofflich individuel-len Bestandes wie ihrer Charakteristik als Monaden - ist nicht nur eine Denkfigur des Kunst-Diskurses, sondern wäre ohne diesen weder entstanden noch als ästhetische Erwartung aktualisierbar1. Gegenüber dem Problem eines historisch erzwungenen Konfliktes zwischen Kunst und Philosophie erweisen sich unterhalb einer an-gemessenen Reflexion Erörterungen der spezifisch sinnlichen und geschmacklichen, prototypischen und exemplarischen Ansprüche an Kunstwerke als Konstruktion dessen, was Pierre Bourdieu den Habitus nennt: eine Fähigkeit von Personen, sich in einem rituali-sierten Feld symbolisch zirkulierender, legitimationsfähiger kultu-reller Äußerungen zurechtzufinden2. Dieses Feld beinhaltet an ver-

1 Vgl. dazu ausführlicher Hans Ulrich Reck, Vom System zum Fragment. Die Vernunft der Kunst und die moderne Demoralisierung der Bilder, in: Jacques Hainard/ Ro-land Kaehr (Hg.), Si... Regards sur le sens commun, Neuchätel 1993; ders., Die Kunst und die Werke. Eine nommalistische Theorieskizze, in: Eleonora Louis/ Toni Stooss (Hg.), Die Sprache der Kunst. Die Beziehung von Bdd und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Katalog Kunsthalle Wien/ Frankfurter Kunstverein, Stuttgart 1993.

2 Vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 125ff., 159ff.; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli-chen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, Kap. 1.

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schiedenen Stellen eine subjektive Metaphysik. Zwar hat die Philo-sophie traditionell mit Metaphysik zu tun, wohingegen Kunst erst aus deren Zerfall als Erkenntnisanspruch eigener Art, projektive Realisierung der Erkenntniskraft des Bildes als Bild, hervorgegangen ist1. Dennoch projizieren beide, sei es auf ästhetische Situationen oder auf Kunstwerke, Ansprüche und Metaphern, Ordnungssyste-me und rhetorische Figuren, die aus historischen, kulturell codierten Persönlichkeitsprofilen und Subjekt-Entwürfen stammen. Über-zeichnet: Philosophen sprechen, wenn sie von »Kunst« handeln, meist über Kunst ohne Kunstwerke. Ästhetische Theorien, bis hin zu Adorno, entwerfen das Kunstwerk im Licht einer kategorialen Selektivität. Kunsthistoriker tendieren dazu, über Kunstwerke zu sprechen, als ob sie Texte seien2 oder als ob sie mit »Kunst« deshalb nichts zu tun haben, weil sie substantielle Gebilde außerhalb des symbolischen Austauschs ästhetischer Konfigurationen sein könn-ten, also erst im Rückzug aus diesem Kontext ihre Wahrheit und künstlerische Autonomie finden würden. »Kunst« ohne Kunstwerk und Kunstwerk ohne »Kunst« sowie die Abspaltung beider von einer immer noch vorrangig auf Wahrnehmungsformen abzielenden philosophischen Ästhetik - das markiert den belastenden Hinter-grund aktueller Kunsttheorie. Das zeigt sich besonders scharf und unverstellt, wenn es um die von verschiedenen Seiten reichlich spe-kulativ geführten Debatten um das Verhältnis der Kunst zu den neuen Medien und um die kunstdieoretischen und philosophisch-ästhetischen Konsequenzen daraus geht3.

1 Zu dieser breit ausgeführten These von Georg Picht s. Hans Ulrich Reck, Mythos und Beschreibung. Ästhetisches Differenzdenken als Problem von Kunst und Kunsttheorie, in: Richard Klein (Hg.), Zur Kunstphilosophie Georg Pichts (Arbeits-titel), (voraussichtlich) Würzburg 1997.

2 Vgl. dazu die gute Problemdarlegung bei Oskar Batschmann, Einführung m die kunstgeschtchtliche Hermeneutik, Darmstadt 1986.

3 Vgl. als Auslegung des gesamten Hintergrundes Hans Ulrich Reck, Grenzziehun-gen. Ästhetiken in aktuellen Kulturtheonen, Würzburg 1991;ders., Zugeschriebene Wirklichkeit. Alltagskultur, Design, Kunst, Film und Werbung im Brennpunkt von Medientheorie, Würzburg 1994; ders., Das verschwundene Selbst: Medienkanal und innere Zeit, in: Georg Christoph Tholen u. a. (Hg.), Zeitreise. Bilder-Maschi-nen-Strategien-Rätsel, Basel/ Frankfurt a. M. 1993, S. 344; außerdem verweise ich auf folgende Bausteine zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes: Hans Ulrich Reck, Der Widerstand des Konstruktiven und die Autonomie der Bilder, in: Florian Rot-zer/ Peter Weibel (Hg.), Strategien des Scheins. Kunst-Computer-Medien, Mün-chen 1991, S. 23-54; ders., Der Betrachter als Produzent? Zur Kunst der Rezeption im Zeitalter technischer Medien, in: Wolfgang Welsch / Christine Pries (Hg.), Äs-thetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Francois Lyotard, Wein-

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Ich entwickle im folgenden eine generelle, bildtheoretisch ange-legte Argumentation, die drei Ziele verfolgt: 1. den Nachweis, daß eine strukturelle Bildtheorie eine Komponente der künstlerischen Praxis, des Werkes wie seiner Konzeptuahsierung innerhalb der Entwicklung der bildenden Künste ist, 2. den Nachweis, daß die Referenzsysteme von Bildern und Bildtheorie immanente Faktoren der Kunstprodukton sind, daß also die sich wandelnde Verwendung von Materialien und Medien überhaupt keine sinnvolle Ebene der Befragung von »Kunst oder Nicht-Kunst« darstellt, 3. eine medien-theoretische Schärfung der philosophischen Ästhetik und Kunst-theorie dadurch, daß »Medientheorie« das Reflexivwerden von Kunsttheorie und Kunstproduktion wie bezeichnet, wodurch sie eine neue Schnittstelle zwischen den seit langem auseinandertreiben-den Domänen von Kunstwissenschaft und Philosophie ausbilden kann1.

heim 1991, S. 129-142; ders., Von der Utopie des Films zur Theorie der Video-Kunst: Gibt es Fortschritt in der Bilderwelt?, in: Medien. Kunst. Passagen, Wien Heft 3/92, S. 72-87; ders., Immer anderswo? Kunst und Imagination im Zeitalter von Telema-schinen, in: Medien. Kunst. Passagen, Wien, 4/92, S. 44-55; ders., Geschwindigkeit. Destruktion. Assoziation. Zur Zukunft des Erinnems in der Medienkultur, in: ders. (Hg.), Zur Zukunft des Erinnems m der Medienkultur, Arbeitsberichte der Lehr kanzel für Kommunikationstheorie, Heft 1, Hochschule für angewandte Kunst Wien 1992; ders., Medientheorie und -technologie als Provokation gegenwärtiger Ästhetiken, in: Jörg Huber (Hg.), Wahrnehmung von Gegenwart, Basel/Frankfurt a. M. 1992, S. 169-188; ders., Foto-Theorie und Techno-Imagination, in: Foto-Me-dia. Technische Bilder zwischen Rohstoff, Konstruktion, Autonomie, Postproduk-tion, hg. von Hans Ulrich Reck, in: EIKON. Internationale Zeitschrift für Photo-graphie und Medienkunst, 8/1994, Wien; ders. (Hg.), Transitorische Turbulenzen -Konstruktionen des Erinnems I Zwischen Erinnern und Vergessen, 2 Bde., Kunst-forum International, Bde. 127 und 128, Köln 1994. Für eine grundlegende Kriti k bestimmter neuerer Medientheorie aus der Perspektive der Kunstwissenschaft: Horst Bredekamp, Mimesis, grundlos, in: Hans Ulrich Reck (Hg.), Imitation und Mimesis, Kunstforum International Bd. 114, Köln 1991.

1 Wobei für die Künstler, die Rezipienten und konzeptuelle Theorien diese Diver-genz gegenstandslos ist; sie ist allerdings eine die akademische Partialisierung auf dem Hintergrund des Herauslösens von Kunst aus der Technikgesellschaft repro-duzierende Stereotypie der Kunstgeschichte und entspricht dem Rückzug der Phi-losophie aus der Wissenschaftsorganisation auf Methodologie und sekundäre Sinn-Sicherungsversuche (notorisch z. B. die »Ethik des Ästhetischen« und dergleichen). Vgl. dazu umfassend und kritisch Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Ma-schmenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstge-schichte, Berlin 1993; Hans Ulrich Reck, Der Streit der Kunstgattungen im Kontext der Entwicklung neuer Medientechnologien, in: Kunstforum International Bd. 115, Köln 1991 (teilweise auch in: Interface 1. Elektronische Medien und künstlerische Kreativität, hg. v. Klaus Peter Dencker, Hamburg 1992).

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REFERENZSYSTEME VON BILDERN UND BILDTHEORIEN 3 I I

Vorabsetzungen: Perspektiven von Ästhetik und Kunst auf Medien theorie

Nicht nur die Objekte von Theorie und die Gegenstände von Er-kenntnisinteressen, auch die Methodologien sind durch kulturellen Wandel, die Entwicklung von Techniken und, im Falle der Kunst-werke, die Epochenschwellen von visuellen Modellen bestimmt. Eine medientheoretische Ergänzung oder Ausweitung der Kunstge-schichte ist weder lineare Fortsetzung noch diskontinuierender Bruch. Sie bedeutet ganz einfach eine Meta-Stufe bisheriger Theo-riebildung und wirkt deshalb komplexitätssteigernd, weil auf ihrer Ebene Faktoren beobachtet werden, welche auf der Beobachtungs-stufe des Systems »Kunstgeschichte«, das seinerseits die Systeme von »Kunst« und »Kunstwerk« beobachtet, nicht zugänglich sind. Prinzi-piell wird der Streit zwischen Singularität und Universalität als Existenzmodus von Kunst durch die Differenzierung der Beobach-tungsebenen gegenstandslos, weil sich jeweils nur die durch die jeweiligen Systeme immanent getroffenen Unterscheidungen beob-achten, d. h. jeweils nur die eine Seite der Bezüge zur selben Zeit darstellen lassen1. Die medientheoretische Komplexitätsstufe der Kunstgeschichte hat die impliziten medienspezifischen Faktoren der bisherigen Kunstgeschichte zum Gegenstand, kein neues Gebiet, Material oder »Medium«2. Dazu gehören die Strukrurierungsformen der symbolischen Verhältnisse zwischen Kunst und Alltag' ebenso wie die die eigene Theorie konstituierenden außertheoretischen Le-gitimationsbezüge - humanistisches Modell der Person als Subjekt, Lernen und Sinnlichkeitskontrolle als Geschmacksbildung, lebens-geschichtlicher Aufbau des Verfügenkönnens über die »titres de culture« (Bourdieu) - sowie die Negativitätsfiguren oder »Mon-stren«4, deren Abwehr die eigene Perspektive jeweils stabilisiert. Dazu rechne ich die Dämonisierung der Massenkultur als Feld der Genußsucht und des Kitsches, aber auch die Negativ!tat der Lebens-formen, die sich der Geschmackserziehung, der ästhetischen Eman-

1 Vgl. Niklas Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation, in: Stillstand/ Switches 1, hg. v. Harm Lux und Philip Ursprung, Shedhalle Zürich 1991, S. 65-74.

2 Vgl. Hans Ulrich Reck, Kunst und neue Technologien - Medientheoretische Refle-xionen, in: Götz Pochat (Hg.), Kunstgeschichte zwischen Theorie und Praxis, Akten der Vorträge des 7. Österreichischen Kunsthistorikertag (1993), Wien 1994.

3 Vgl. Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977.

4 Michael Thompson, Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981.

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zipation und einer designtheoretischen Funktionalisierung der Kunst im Rahmen eines befreiten Lebens widersetzen, das der Seg-mentierung von Kunst und Nützlichkeit, Ästhetik und Technologie, Kontemplation und Aktivität nicht mehr bedarf. Nicht die Wirk-samkeit dieser Einflußgrößen ist der Gegenstand der medientheore-tischen Meta-Kunstgeschichte, sondern die kunsthistorische Ab-spaltung der Werke von Kontexten, in denen diese Einflußgrößen im gesamten sozialen Umfeld des Gebrauchs von »Kunst« - von der Produktion bis zur Rezeption, von der Instrumentalisierung bis zur Institutionalisierung, von der Veränderung der künstlerischen Ab-sichten bis zu den Rahmenbedingungen künstlerischer Existenz -den vermeinlich autonomen und immanent auf die Werke gerichte-ten Blick immer schon vorstrukturiert haben. Die medienskeptische Einstellung, die natürlich nicht aus Werken abzulesen ist, sondern eine spezifische Erwartungshaltung auf spezifisch geeignete Objekte wirft1, findet sich nicht allein auf der Seite einer Philosophie, welche Sprache nicht als Medium des Denkens, sondern als dieses selbst versteht, oder der Seite einer Kunstgeschichte, welche das Werk ursprungsphilosophisch aus nicht-künstlerischen Kontexten her-ausgelöst hat2. Sie findet sich auch in definitorischen Verallgemeine-rungen zum Stichwort »Medienästhetik«3, wenn einerseits jedes Mittel künstlerischer Gestaltung - wegen der Etymologie von »Me-dium« als »Mittel« - als Medium bezeichnet, auf der anderen Seite der Medienbegriff doch den technischen Massenmedien vorbehalten werden soll. Diese Unklarheiten belegen die auratische Kraft von Begriffsfeldern. Die semantische Herkunft wird mit Vorstellungsbil-dern überlagert, Kategorien werden durch Atmosphären angerei-chert. Es scheint, als ob das Pathos des Kunstwerks durch seine

1 Diesen Zusammenhang reflektiert Donald Judd, Spezifische Objekte, in: Laszlo Glozer (Hg.), Westkunst. Zeitgenössische Kunst nach 1939, Köln 1981, S. 267ff. -und zwar durchaus im hier beanspruchten ästhetisch hierarchisierten Feld der Kunstkennerschaft; vgl. auch ders., Architektur, Münster 1989, sowie meine Kriti k an diesen Auffassungen: Hans Ulrich Reck, Stilnotate zwischen Lebensform, Sub-version und Funktionsbegriff, in: Bazon Brock / Hans Ulrich Reck (Hg.), Stilwan-del, Köln 1986, S. 100-152; ders., Vom Ende der Differenz/ Ästhetische Perspekti-ven, in: Kunstforum International, Bd. 85, Köln 1986; ders., Zugeschriebene Wirk-lichkeit, a. a. O.

2 Eine umfassende Studie über historisch vorgängige, nicht primär künstlerische Kontexte von Bildern hat vorgelegt Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.

3 Vgl. z. B. Lexikon der Ästhetik, hg. v. Wolfhart Henckmann/ Konrad Lotter, Mün-chen 1992, S. 159f.

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REFERENZSYSTEME VON BILDERN UND BILDTHEORIEN } I 3

Zugehörigkeit zu Medien an Konsistenz verlöre, obwohl es in seiner Materialität unverändert bleibt. Gerade das Insistieren auf den vor-oder gegenmedialen Zügen des Kunstwerks konstruiert die ihr ad-äquaten Gegenstände. Solche Verursachung bestimmter Werke aus bestimmten Diskursen erreicht eine medientheoretische Ebene der Beobachtung dann, wenn genau dieser Zusammenhang als ein die Semantik und letztlich auch den vermeintlich rein phänomenalen Blick auf die Werke steuernder Faktor diskursiver Rückbezüglich-keit erkannt worden ist. Die Beschreibung der Kunst ist die intensive Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk, wie es als Kunstwerk identifiziert und zugänglich gemacht worden ist. Das Kunstwerk ist aber auch ein Endprodukt des Prozesses, dessen mediale Eigenheiten - poetische Organisation des Ausdrucksmaterials, Autorschaft, Ori-ginarität, Authentizität, Allegorisierung herauszubildener Persön-lichkeitsbezüge - unter der Kategorie »Kunst« zusammengefaßt worden sind. Diese Ebene ermöglicht es, andere Dinge als die erste Ebene zu beobachten. In ihr ist von Bedeutung, daß es, sozial wie kommunikativ, den Authentizitätsanspruch der Kunst als mentale Leitfigur ästhetischer Erwartung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Technisierung der Bildproduktion, ohne die Geschichte der Reproduzierbarkeit1, ohne die Erfolge von Print-Medien, Touris-mus und, später, Television, gar nicht geben würde. Die Eingriffe bestimmter Technologien, Erwartungen und Gewohnheiten in die bestehenden Kommunikationsformen bilden ein Feld, das im Blick auf die Kunstgeschichte als Medientheorie bezeichnet wird. Ohne Rückwirkungen der Effekte und Intentionen jeweils neuer Bildtech-nologien auf die überlieferte Semantik und ohne die Strukturierung neuer Formen im bisherigen Licht kann weder die Produktion noch die Ansprüchlichkeit von Kunstwerken verstanden werden. Kunst-werke sind keine von Kontexten isolierten Singularitäten. Es sind ihre Autonomie, die ästhetische Organisation außerästhetischer Be-züge und die »semantische Geste« (Mukafovsky2), welche die Kon-textualität des Werkes als »Kunst« herausfordern.

1 Vgl. Reck, Der Betrachter als Produzent? Zur Kunst der Rezeption im Zeitalter technischer Medien, a. a. O.

2 Vgl. dazu Miroslav Petricek, Die Kunstauffassung des Prager Strukturaltsmus und die Dekonstruktion, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog, Wien 3/1991, S.23ff.

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Kunst, Kommunikation und Kontext

Die imaginative Ebene ästhetischer Wahrnehmung im Kunstwerk zeichnet die Sprachlichkeit von Dingen nur dann als Beschaffenheit von natürlich Existierendem aus, wenn der Rückschluß von der Kunst auf die Natur vorausgesetzt ist1. Daß der Bodensee mit den Werken von Lorrain, Watteau, Turner oder Hodler Zwiesprache hält, scheint nur dem auf, der den Dingen die Kunstsprache der Natur leiht und Korrespondenzen zwischen Diskurs und als Kunst-werke angenommenen Gegenständen innerhalb der Kunst aufbaut. Daß eine Errungenschaft moderner Kunst die Auffassung jedes beliebigen außerkünstlerischen Gegenstandes als eines kunstwerk-artigen Gebildes darstellt, setzt voraus, daß moderne Kunst alles, obwohl es zunächst nicht als Kunst erscheint, zur Kunst erklären, in deren Bezeichnungsvorgang einbeziehen kann. Insofern ist das Pro-blem nicht die Vorgeblichkeit der Dinge als Kunstwerke, sondern die Tatsache, daß der Auffassung, alltägliche Dinge ließen sich so auffassen, als wären sie Kunst, die nur innerhalb der Kunst leistbarc Begründung vorausgehen muß, wie Bestehendes zum Bestandteil der Kunst erklärt werden kann, damit die noch ausgesparten, profa-nen, noch nicht valorisierten Dinge dereinst gelten können, als wären sie Kunst2. Wenn auch Kunst zunehmend auf die Techniken des Fingierens sich konzentiert hat, setzt das nicht immer eine schon artikulierte Situation voraus. Kunst als Agent solcher Fikt ion reprä-sentiert artikulierte Situationen und die Darstellung der durch es geschaffenen Tatsachen nur, wenn Kunst auf Prozesse der Wahrneh-mung beschränkt wird. Daß die Kunst paradigmatisch der Erhellung der Wahrnehmung dient, ist eine traditionelle Denkfigur derjenigen Ar t von Philosophie, welche die Kunst zu Zwecken ästhetischer Demonstrat ion instrumentalisiert und Formen der Wahrnehmungs-verdeutlichung vorrangig unterwirft. Das entspricht keineswegs der tatsächlichen Mannigfaltigkeit einer Kunst-Situation, die sich durch Heterogeneität und die Koexistenz von kognitiven, ästhetischen und technologischen Arrangements auszeichnet3. Darüberhinaus zeigen

1 Die folgenden kritischen Bemerkungen beziehen sich auf Martin Seel, Die Einheit des Kunstwerks, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Ästhetische Re-flexion und kommunikative Vernunft, Frankfurt a. M. 1992.

2 Vgl. Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/ Wien 1992.

3 Von einer prinzipiellen Unscharfe jeder Integration von Kunst in eine allgemeine ästhetische Theorie ausgehend stellt Birgit Recki zu Recht fest, daß nicht nur für

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Ausstellungen der jüngsten Vergangenheit1, daß die korresponsive und kontemplative, ja selbst die imaginative Dimension des Kunst-werks nurmehr innerhalb einer zu Ende geführten und abgeschloße-nen Reflexion der Kunst auf ihre Kontexte wirksam werden kann. Kunsttheorie, Kunstwerk und Kontextutalität der Kunst werden gleichermaßen neben- wie durcheinander auf einer jeweils höheren Stufe reflexiv, als solche Unterscheidungen nahelegen, die nur von einer Seite des Unterscheidens her gedacht werden können. Das herausragende Phänomen moderner Kunst - die Koppelung bildhaft autonomer Erkenntnis an Universalisierung und Indifferenz der Stofflichkeitsgrundlagen ihrer Zeichen, was die Ununterscheidbar-keit von künstlerischem und nichtkünstlerischem Material impli-ziert - läßt sich gegenständlich nur dann ausmachen, wenn die grundsätzliche Zuordnung von Dingen zum Code der Kunst nicht nur bereits vollzogen worden ist, sondern jederzeit und parallel zur Kunstwerkbehauptung die Selektivität von Kunst versus Nicht-Kunst mitvollziehbar bleibt. Kunst kann Kunst mittels Zugehörig-keit zur codierten und validierten Sphäre nur sein, wenn sie die Sphäre der Nichtkunst definitiv verlassen hat. Das kann sie nicht auf der Ebene der Sinnlichkeit - denn hier sind die Kunstwerke unun-terscheidbar von ihren alltäglichen Gegenstücken. Sie kann das nur auf der reflexiven und diskursiven Ebene ihrer Codes. Kunst ist insofern ein durch und durch soziologischer Tatbestand, wobei die soziale Wirksamkeit des Codes sich epistemologisch autonom, als strukturelle Beschaffenheit des Codes, nicht als externe Zweckhaf-tigkeit oder gar Funktionalität im Hinblick auf Einwirkungen in die außerkünstlerischen Sektoren erweist. Kunst ist eine spezifische Kommunikationsform, die sich zwar regulativ, aber nicht ontolo-gisch oder apodiktisch als Wahrnehmungsvorgang auszeichnet. In-nerhalb dieser Kommunikationsform finden permanente Umwer-tungen statt. Die oft beklagte Marginahsierung der Kunst ist aus dieser Sicht keine Folge eines verlorenen Kampfes um die Beset-zungs- und Lenkungsinstanzen in der symbolischen Kultur, sondern

konzeptuell-semiotische Kunst, sondern auch für die Gradation von Sinnlichkeit kein eindeutiges oder unhintergehbares Mindestmaß an Eigenschaften angegeben werden kann. Vgl. Birgit Recki, Wie ästhetisch ist die moderne Kunst?, in: Volker Gerhardt (Hg.), Sehen und Denken. Philosophische Betrachtungen zur modernen Skulptur, Münster 1990, S. 93-120, hier S. 110.

1 Ich nenne beispielhaft Markus Brüderlin, Das Bild der Ausstellung, Wien 1993; und Offenes Kulturhaus Linz, Speicher. Versuche zur Darstellbarkeit von Geschichte/n, Linz 1993.

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eine strukturelle Auszeichnung ihres Codes. Wenn der Kunst kein eigener Stoff, keine exklusive Form, keine ausschließliche Darstel-lungsfunktion eignet, dann etabliert sie eine Form von Sehen, Dar-stellen und Erkennen, die keinen bewußtseinssättigenden Einheits-sinn mehr produziert, der auf ein Ganzes, einen kohärenten Wirk-lichkeitssinn verweisen kann. Kunst als Fragmentsinn impliziert diejenige Ar t ästhetischer Erfahrung, die heterogen, divergent und singulär ist. Kunst ist - weit davon entfernt, ihr Ende durch philo-sophische Reflexion bestimmt zu erhalten - eine reflexive Kriti k an jeder monolithischen philosophischen Theorie und deren Verbind-lichkeitsanspruch für kognivistisch verkürzte Ästhetiken1. Wie im-mer Erwartungen formuliert, Perspektiven skizziert, Leitlinien ge-zogen werden, der Code der Kunst (nach dem Zerfall des prämoder-nen Codes einer geschmacklichen Setzung und subjektiven Selbst-behauptung) ist denkbar einfach: »Er ist, um es vorweg zu sagen, die schlichte Zurechnung/NichtZurechnung zum Kunstsystem auf dem Wege der Bezeichnung/ Nichtbezeichnung von etwas als Kunst oder Nichtkunst«2. »Das Kunstsystem, scheint es, benutzt im Einsatz seines Codes sich selbst wie ein Medium. Die Behauptung, etwas sei Kunst, sei ein Kunstwerk, falle als Ereignis in die Domäne der Kunst, reicht aus, den Tatbestand, den sie behauptet, zu realisieren.«3 Ein-geschhffene Grenzziehungen lassen sich nur schwer durchbrechen. Ein eingeschhffener Topos ist beispielsweise die strikte Divergenz zwischen der Konkretheit des Kunstwerks und den externen Bedin-gungen seines sozialen Gebrauchs. Ich schlage dennoch vor, über Kunst in der Weise zu sprechen, daß die strukturellen Bedingungen von »Kunst« eine unauflösliche Einheit mit dem einzelnen Kunst-werk darstellen und dieses ebenso zu seiner sozialen Existenz brin-gen, wie umgekehrt im Schritt der sozialen Einzeichnung des Kunst-werks dessen Feld durch die Gegebenheit des Werkes ermöglichen. Trennungen zwischen Kunst und Kunstwerk sind in beiden Hin-sichten abstrakt. Offenbar existieren die Plastizität und Bestim-mungskraft des ästhetischen Feldes »Kunst« nur, insofern Kunst-werke seine Evidenz belegen. Und offensichtlich bleibt die Rede vom Kunstwerk ohne Möglichkeit einer Rekonstrukt ion seiner vor-

1 Vgl. dazu aus dezidiert philosophischer Sicht Dieter Henrich, Theorieformen mo-derner Kunsttheorie, in: ders./ Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M. 1982, S. 34.

2 Peter Fuchs, Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a. M. 1993, S. 164.

3 A. a. O, S. 171.

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ausgesetzten kulturellen Semantik, der Regulierung des Kunstsy-stems, leer. Dualistische Kennzeichnungen verwischen die notwen-dige Unterscheidung zwischen Geltung und Genealogie, mit Fou-cault gesprochen: zwischen Archäologie und Genealogie. Versteht man mit Foucault Genealogie als Taktik, als Spiel mit den Topoi, Definitionen und rhetorischen Figuren eines bestimmten Gebietes oder Dispositivs, dann ist leicht zu sehen, daß die Kunst in den letzten Jahren nicht allein ein Objekt neuer Technologien geworden ist, sondern selber - als strategisches Dispositiv - in Gesellschaft, Wissenschaft und Technologie interveniert. Nicht mehr im Namen der Utopie allerdings, sondern um Weiteres über sich selbst zu erkunden. Kunst soll im folgenden nicht im Hinblick auf die Bestim-mungen des sanktionierten Werkes oder der sozialen Gebrauchsre-geln festgelegt, sondern als Aktivierung der eigenen Hintergrund-sannahmen und Theoriebedingungen untersucht werden. Erst dann läßt sich absehen, inwieweit die Künste tatsächlich dem vorschnell herbeigeschriebenen Paradigmenwechsel folgen oder ob nicht um-gekehrt solche Theorie-Rhetorik von Metaphern, Gesten, Haltun-gen und Positionen bestimmt wird, die an den sozialen Schnittstellen zwischen Kunstwerk und Rezeption über eine lange Zeit als Para-digma von Kunsterleben aufgebaut worden sind, so daß die neue Erlebniskonfiguration des Techno-Imaginären, die Aktivierungs-räume telematischer Szenarien oder die Interaktivität ästhetischer Reizangebote nicht den Bruch mit dem bisherigen Kunstsystem markieren, sondern dieses ästhetisch in einem anderen, sichtlich durch Konsum und Massenkultur geprägten Kontext fortsetzen und damit aufhören, in einem spezifischen Sinne »Kunst« zu sein. Auf diesem Hintergrund soll Kunst gelten als spezifisches Kommunika-tionssystem und damit als gesellschaftstheoretische Zentralkatego-rie. Kunst besteht nicht allein aus der Summe der Kunstwerke, sondern auch aus ihren dramaturgischen Symbolisierungen. Noch die hermetischste Handlung im Kunstsystem spielt sich in Nähe zu soziokulturellen Aktivitäten ab. Kunst ist ein reflexives Paradigma für die ästhetische Produktion, Distribution und Rezeption symbo-lischer und symbolwirksamer Handlungen. Der soziale Kern ist auch der Kern des Kunstwerks, insofern es kommuniziert. Es ist spätestens seit Winckelmann kontextuell, diskursiv und theoretisch angeleitet und eingebunden. Kunst ist nicht allein durch Kunsttheo-rie vorbereitet, sondern auch in der kulturellen Einrichtung eines Dispositivs, das im Zusammenhang mit der Aufklärung als Antwort auf autonome und verselbständigte Technisierungsprozesse der

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Kunst die in der Abspaltung fundierte Kompensationsaufgabe über-greifender Sinndeutungen ohne eine intervenierende Einflußnahme überschreibt. Schon das erklärt, weshalb die Wahrnehmung von Technologien eine Affinität nicht allein zur Aisthesis, sondern zur Kunst hat. Komplementär dazu ist die Kunst des Konstruktivismus eine Lehre von der Lösung von Gravitation und dem lähmenden Reich der Erde1 . Inder Technologie kommt zum Vorschein, was die Kunst ihr als Erwartung zuliefen: eine überwältigende Manifesta-tion der Bildkräfte.

Die technologische, medientheoretische und ästhetische Perspek-tive auf die Kunst ist ein wesentlicher Faktor des Kunstprozesses und der reflexiven Anstrengungen von Künstlern. Deren Konzepte be-rechtigen zur Wahrnehmung dieser Perspektive auch in der traditio-nellen Kunstwissenschaft. Es ist die Automie des ästhetischen Zei-chens, welche die Kontextbezüge als Elemente des Kunstwerkes erzwingen. Die semantische Geste des Kunstwerks ist ein dynami-scher Prozeß, in dem die außerkünstlerischen Zeichen durch die ästhetisch autonomen Zeichen des Kunstwerks ermöglicht werden. Aus der Sicht der Kunst kann Ästhetik deshalb stärker beschränkt werden als in der Philosophie, weil Kunst der ästhetischen Reflek-tion spezifische Niveaus abverlangt. Ästhetik ist aus ihrer Sicht nicht sinnliche Wahrnehmung, Stoffbasis reflektierender Urteilskraft oder Exerzierfeld einer moralischen Disziplinierung des Geschmacks im Kunstschönen, sondern die Selbstwahrnehmung der reflektierenden Urteilskraft. Sie ist die Beschreibung von Differenzierungen im Prozeß der Gewinnung von Bedeutungen innerhalb der zunehmend auf die Einsicht in Modelle sich verschiebenden symbolischen Handlungen2. Künstlerische Kommunikation und Erkenntnis kann ihre ästhetischen Objekte und Ereignisse ohne die Konstruktion von Kontexten und ohne intensive Kontextbildung nicht beschreiben.

1 Vgl. zum Utopieanspruch des Konstruktivismus Hans Ulrich Reck, Durch Asthe-tisierung ausgeschaltete Welt, in: Hans Ulrich Reck/ Martin Heller (Hg.), Euphorie und Elend. Visuelle Gestaltung, Museum für Gestaltung, Zürich 1992, S. 98ff.;ders., Nachbetrachtung zur Lektüre von Bildpublizistiken, a. a. O., S. 89ff.; ders., Zwge-schriebene Wirklichkeit, a. a. O.

2 Die überzeugendste Ausführung einer Ästhetik der Differenz hat Bazon Brock vorgelegt. Vgl. Bazon Brock, Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Ge-neralisten, Köln 1976; ders., Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986, Köln 1986; ders., Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre, München 1990.

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Aspekte und Metaphern des Techno-Imaginären am Beispiel »Cy-berspace«

Der Kultautor der Branche, der mit seinem Roman »Neuromancer« nicht nur den Ausdruck »Cyberspace«, sondern auch den von »Cy-berpunk« erfunden hat, stellt lakonisch fest: Technik ist nichts au-ßerhalb des Menschen Liegendes. Wir sind die Technik. Dem Körper können Technologien eingeschrieben werden. Als Objekt der Macht bietet er sich gerade deshalb an, weil er nur beschränkt symbolisiert werden kann. Er eignet sich als Stoff und Objekt der Organisierung von Prothesen, Zusätzen, Ein- und Ausgriffen, aber er eignet sich nicht als Projektionsobjekt medial vermittelter Erotik. RealerTerror, nicht virtueller Sex ist der Aggregatraum des Leiblichen. Der Körper bleibt selbst dann übrig, wenn die ihm eingeschriebenen Technolo-gien das Körperliche zu substituieren trachten. Der Cyberspace lebt vom Phantasma des Hyper-Perfekten. Die technische Komplettie-rung des Leiblichen droht, die Widerstandskraft des Körpers und damit auch die der Kunst, sofern wir diese konzeptuell auf die Linie Surrealismus - art informel - nouveau realisme verpflichten, auszu-schalten. Im Cyberspace soll sich der Betrachter mit Hilf e eines Cybernauten in den Akteur verwandeln. Die angestrebte Unmittel-barkeit läßt sich inhaltlich als Differenzlosigkeit zwischen Selbst-Sti-mulierung und den Environments beschreiben. Der sich selber voll-endende Hunger nach evidenten Bildern impliziert technisch nicht allein die sekundär manipulierte Erlebnisrealität der Schnittstelle, des Interface zwischen menschlicher Sensualität und Datenprojek-tion, sondern auch eine Asthetisierung des mathematischen Materi-als, das kein Raum, sondern eine Fläche ist. Diese richtet sich offen-sichtlich an repressiven Leitbildern aus. Wie neu auch immer das technologische Arrangement - die Bilderwartung reduziert sich auf die Surrealität der Syntax und die Ikonizität von Referenz und Repräsentation. Das gesteigerte Erleben bindet sich an den gewöhn-lichen Naturalismus, der an den Bildern ihre suggestive Täuschung, die Technik des Unsichtbarmachens des Bildes, die Ununterscheid-barkeit von Phantasma und der Realität des Sichtbaren bewundert — ein durch und durch christliches Konzept, aber auch das Arrange-ment einer Syntax, das eine ziemlich platte Kalkulation der Elemente als zugänglichen »Stil« betreibt. Woher bezieht diese mediale Asthe-tisierung ihre Bilder, woher die technische Implementierung der Person ihre Überzeugungskraft?

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Surreale Syntax und expressives Erleben verschmelzen im mathe-matisch-technischen Prozeß, der zwar nurmehr in der Fläche ver-läuft, aber dennoch auf der Konstruktion der neuzeitlichen Perspek-tivität und den Verfahren einer Abbildung resp. Projektion von Punkten auf der planimetrisch organisierten Ebene einer Registratur und Einschreibung beruht. Versprochene Sinnennähe, die Skurrilität des Merkwürdigen, die Begegnung mit dem sich Offenbarenden, die reale Illusion der ästhetischen Verstofflichung der Datenfläche die-nen im Falle von Cyberspace der Fortsetzung des philosophischen Solipsismus, wobei der Selbst-Bezug durch die Verstofflichung der Technologie am und im eigenen Leib gesteigert werden soll. Cyber-space setzt das mathematisch-technische Referenzsystem und ein kognitives Apriori der Konstruktion ent-tabuisierter Bildwelten voraus. Es ist gewiß nicht unnütz, hinter die Bildoberflächen zu blicken und an die inhaltsneutrale und unbegrenzte Homogeneisie-rung des zentralperspektivisch entfesselten, im göttlichen Sehstrahl absolut ermächtigten Blicks zu erinnern. Auf diesem Hintergrund werden im kybernetischen Raum angeboten: eine surrealistische Syntax als Stil, eine aktionistische Beweglichkeit des rückwirkend veränderten Ausgangsmaterials (Interaktivität) als Spielraum von Subjekt, eine Übersteigerung der Illusion durch Elimierung der das Sichtfeld des Auges bestimmenden Grenzen und die Verwirklichung von Täuschungsversprechen als Ausreizung der Illusion auf dem Hintergrund einer sowohl lust- wie angstvoll vermuteten Ununter-scheidbarkeit der visuellen Zeichen von den gewöhnlichen, alltägli-chen (An-)Zeichen des Visuellen. Auf diesem Hintergrund baut sich ein monumentales Panorama von ästhetiktheoretischen Suggestio-nen auf, nach denen das Reisen im Cyberspace nicht nur über einige, nun schon zurückliegende Jahre als ästhetische Innovation gepriesen worden ist, sondern auch als paradigmatischer, mit einem technolo-gischen Schlag sichtbar werdender, radikaler und einmaliger Wandel im Gefüge von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Es läßt sich leicht erkennen, daß die Propaganda und Faszination dieser Hallu-zinationsmaschine sich auf Vorprägungen beziehen, die nicht nur auf das Feld der Metaphern und Kunstkonzepte, sondern auch der sozialen Instrumentierung von Kunstrollen und generelleren Zei-chenkonzepten verweisen. Diese Vorprägungen sind Faktoren des gesellschaftlich Imaginären und untrennbar unserer Kultur verbun-den, die keineswegs nur durch Mentalitäten charakterisiert werden kann. Die konzeptuellen Entschiedenheiten, wie die Welt und die Repräsentation der Welt in Artefakten zu verstehen sind, wirken mit

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stofflicher Eindringlichkeit. Die Handhabung der Symbole zirku-liert im Sinne von Macht als Medium: Organisation der Unsichtbar-machung ihrer Wirkungen. Nur deshalb sind hinter deskriptiven Zugängen mental-rhetorische Figuren überhaupt wirksam. Wären sie bloße Faktoren, ließen sie sich problemlos isolieren. Sie sind aber eingebunden in ein komplexes Geflecht unerschütterlicher Grund-überzeugungen. Gerade das macht ihre Wirksamkeit aus.

Ohne populären Bilderhunger, d. h. ohne Sakralisierung profani-sierter Bildwelten auf dem Hintergrund einer religiösen Problema-tisierung des Bildes, gäbe es neben vielen anderen massenkulturell wirksamen Vergnügungsapparaten auch die kybernetische Maschine »Cyberspace« nicht. Deren populäres Bildversprechen triff t auf die mittlerweile habitualisierte Syntax eines Surrealismus, dessen Arran-gement sichtlich auf die Züge der sensationellen Kompensation eines gewöhnlichen Alltags reduziert worden ist. Die rezeptive Verein-nahmung des Surrealismus, die Isolierung seiner Programmatik von seinen bildnerischen Formeln, die gegen seine Intention gerichtete Wiedererrichtung eines Reichs der assoziativen Metaphern gegen die Provokationen des Metonymischen1 verbinden sich massenkulturell assimilierten Bild-Montage-Techniken und vor allem technologi-schen Ermöglichungen von Zeitmanipulationen und Zeitreisen. Ob-wohl die Rhetorik des »Cyberspace« vor allem in Europa in den Rang kunsttheoretischer Sophistikation erhoben worden ist, wohin-gegen in den USA »Cyberspace« eine Erlebnistechnologie bleibt, die kaum einer ohne Bedenken auf den Kunstbegriff anwendet, scheinen es die blinden Flecken einer kulturellen Semantik zu sein, die solche Übertragungen in die spekulative Bildlichkeit alteuropäischer Epi-steme einrücken - von Piatons Höhle bis zur Unschärferelation, der konstruktiv abgeschirmten Binnenwelt des Erkenntnissubjekts und der nur noch endogenen Perspektive auf die Welt, die als bloßes Schnittstellenproblem einer ontologisch verallgemeinerten Compu-tertechnologie erscheint2. Die theoretische Durchdringung der Ge-

1 Vgl. Hans Ulrich Reck, »Dunkle Erkundungen eines verstummenden Echos«. Na-tur im surrealistischen Film, Natur des surrealistischen Films: Zu einer beispielhaften Poetik des Sequentiellen, in: Jörg Zimmermann (Hg.), Die Erfindung der Natur, Sprengel Museum Hannover, Freiburg 1994.

2 Vgl. dazu die wie immer beabsichtigten oder bewußten theologischen Denkfiguren maßgeblicher Theoriepropagandisten und Kronzeugen wie Weibel und Rotzer; s. Peter Weibel/ Florian Rotzer, Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, Mün-chen 1993; Peter Weibel, Über die Grenzen des Realen. Der Blick unddas Interface, in: Der entfesselte Blick, hg. v. G. J. Lischka Bern 1993; Florian Rotzer, Ästhetische

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bundenheit solcher Quasi-Theoreme, die sich als aktionistische Kul-turprogramme und als Dramatisierung ästhetischer Haltungen lesen lassen, muß durch externe Perspektiven gedeutet werden. Dazu ist eine vergleichende Analyse der US-amerikanischen und der europäi-schen Kultur auf der Ebene der Regulierung des Visuellen, der Plausibilität von Theoriebildung, der Konzeptualisierung der Erfah-rungen und der durch Kunst und Symbolsysteme aktivierten Ver-hältnisse zwischen Individuum und Gesellschaft vonnöten1. Wenn »Cyberspace« für US-amerikanische Kultur typisch ist, dann nicht nur wegen der immer wieder genannten Aktualität und Kontinuität von aktionistischen Kunstkonzepten, 60-er Jahre-Subkulturen, Drogen und Halluzinationsapparaten. Sondern grundsätzlich und weiter zurückgreifend, weil die US-amerikanische Kultur eine des Fahrens, der Asthetisierung der Dinge und der Hicroglyphisierung kulturellen Verhaltens2 ist. Diskursives wird in Visuelles umgesetzt, die Logotechniken belegen die hieroglyphische Einheit von Bild-

Herausforderungen von Cyberspace, in: Jörg Huber/ Alois Martin Müller (Hg.), Raum und Verfahren, Frankfurt a. MV Basel 1993. Überhaupt ist erstaunlich, daß die europäischen Propagandisten spekulative, unempirische und zuweilen in Rase-rei ausartende symbolistische Zugänge vorschlagen, aber keineswegs technologi-sche Gebrauchsformen. Die hier bezeichnete Grenze der Kompetenz macht im-merhin deutlich, wie stark die Theoriebildung auf dem suggestiv aufgeladenen Un-tergrund europäischer Kunst-Utopien beruht. Ohne die automatisierte Erwartung einer Transformation des kontingentcn Lebens in Kunst und, umgekehrt, ohne die kreative Transformation der techno-szientistischen Kultur in Ästhetik, wie sie die utopiesüchtigen Konstruktivismen seit 1915 in die kollektive Imagination europäi-scher Künstler und Intellektueller eingesenkt haben, läßt sich die vorgeblich so konkrete Feier ästhetischer Techno-Apparate nicht verstehen. Die propagandisti-sche Theoriesprache ist belebt von diesen früheren Energiefeldern und sieht Tech-nologien und ihre Nutzung als ästhetische Transformation gänzlich im Lichte die-ser spekulativen Funktionalisierung. Zur Kriti k Horst Bredekamp, Der Mensch als »zweiter Gott«. Motive der Wiederkehr eines kunsttheoretischen Topos im Zeitalter der Bildsimulation, in: Interface 1. Elektronische Medien und künstlerische Kreati-vität, hg. von Klaus Peter Dencker, Hamburg 1992; Hans Ulrich Reck, Neue Me-dien: Selbstverständlich geworden?, in: Alois M. Müller (Hg.), Neue Wirklichkeiten I, (Museum für Gestaltung), Zürich 1992 (teilweise auch als: Heilslehre der digita-len Art, in: Finanz und Wirtschaft »Informatik 92«, Zürich, 2. September 1992).

1 Ein solches Forschungsprogramm wird von mir derzeit unter dem Titel Das En-zyklopädische und das Hieroglyphische entwickelt. Vgl. vorerst Hans Ulrich Reck, Das Hieroglyphische und das Enzyklopädische. Perspektiven auf zwei Kulturmo-delle am Beispiel >Samplmg< - eine Problem- und Forschungsskizze, in: ders. (Hg.), Kommunikationstheorie, Heft 4, Hochschule für angewandte Kunst, Wien 1995.

2 Vgl. Marie-Louise Lienhard, Das amerikanische Bilderalphabet. Über das Zeichen-hafte der visuellen Kultur Amerikas, in: Kunstforum International Bd. 112 »Out-side USA I«, Köln 1991, S. 276ff.

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zeichen, Sprachabstraktion und grammatikalisch-pragmatischer Orientierung ebenso wie Glamour, Star-Kult und die Tatsache, daß der Hollywood-Film, der die affektive und aktionistische Zeichen-bildung bevorzugt, um den Film auf Narration zu verpflichten1, kulturell ab Stunde Null mit einer bis heute wirksamen Mystifika-tion der Natur und einer ursprungshistorisch erfolgreichen Indu-strialisierung rechnen konnte. Beides sind wesentliche Momente einer säkularen Legitimität, die außerhalb des Säkularisierungsvor-gangs kein primäres Ursprungsgut kennt, also eine Art Säkularisa-tion ohne Säkularisate darstellt. Vor der Geschichte der technisierten Hieroglyphenbildung, vor der Stunde Null der Logotechniken gibt es keine US-amerikanische Geschichte, was deren tiefe Liebe zu Phantasmen und zwischen Bildzeichen und Befehlssprachen schil-lernden hieroglyphischen, in ständigem Fließen befindlichen Figu-rationen und Szenarien erklärt.

Von der automobilen Durchdringung des Raums über die Logo-technik der Marken, das ästhetische Theater der Ware, den Tempel des Konsums und die juristischen Bedingungen genügende Beschrei-bung der Handhabung von Dingen, Objekten und Waren für einen als vollkommen unfähig gesetzten Verbraucher bis hin zur telemati-schen Präsenz der Leitbildpersönlichkeit kann das hieroglyphische Phantasma beschrieben werden als Anstrengung, die Distanz zwi-schen Signifikanten und Signifikaten zu eliminieren. Dabei ist das visuelle Zeichen, in welches das Diskursive sich zusammenzieht, scheinbar präsent, ohne vermittelt zu werden. Das Bild ist ganz Aureole, religiöse Offenbarung, Epiphanie. Es bricht ohne Intermit-tenzen hervor. Es ist lesbar als das, was es bedeutet. Das, was es bedeutet, ist es in einem ontologischen Sinn. Da solches naturge-schichtlich nicht möglich ist, sondern der Kontextbildung und Ein-übung in entsprechende Referenzialitäten und Lektüren bedarf, kann man ermessen, mit welcher Wirksamkeit dieses Konzept als US-amerikanische Kultur von Anfang sich durchgesetzt hat, wohin-gegen in der europäischen Geschichte Phantasmen und Logotechni-ken späte Errungenschaften sind, die auf eine problematische und konfliktträchtige Weise sich wesentlich archaischere Hintergrunds-modellierungen überstülpen.

Nur die Betrachtung dieses Hintergrunds ermöglicht, das Hand-lungsangebot »Cyberspace« und weitere Maschinen des Techno-

1 Vgl. Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 117f., 177f.

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Imaginären nicht dem Verkaufswortlaut nach als kunsttheoretische Umwandlungsfiguren, sondern als etablierte, semantisch, rhetorisch und ästhetisch abgestützte Kulturtechniken, in enger Verbindung der Kunstbehauptung zum Alltäglichen, zu verstehen. Das ästheti-sche Erleben - das »Kunst« nur insofern zu sein beansprucht, als der Betrachter zum Akteur wird und Interaktivität das Werkparadigma der Kunst durch technologisch-kybernetische Schaltkreise ersetzt -erscheint als technisch konfigurierte Landschaft, als integrierter Schaltkreis von Datenfluß, Informatik, Programmierung und Da-ten-»Processing«. Die Suggestion der Distanzüberwindung ist das bewegende Moment und natürlich einmal mehr ein »Go-west«: triumphale Geste, die sich der durch Herrschaft geschrumpften Weiträumigkeit der Landschaft einschreibt. Hieroglyphe als Eingra-bung des Heiligen zeigt, daß auch im Cyberspace die Herrschaft über die Landschaft den Schlüssel zur Manipulation der Zeit dar-stellt.

Die klassische europäische Moderne wollte Erleben an ein über-trainiertes Reizvermögen zur Abwehr von Schocks binden. Automatisierte Abläufe verschieben Erfahrungen zunehmend auf Erlebnisse. Unterhalb des Bewußtseins muß gehandelt werden kön-nen. Zwar blieb auch hier die Überwindung von Distanzen bestim-mend. Aber die Distanzlosigkeit sollte gerade nicht als eigene Aus-prägung in die Wahrnehmung des Erlebens ein-, sondern in ihr als Mechanik automatisierter Reizverarbeitung auftreten. Diese Struk-tur des Erlebens wird in der US-amerikanischen Kultur ritualisiert. Im Erleben selber soll durch rückhaltloseste Annäherung sich eine wohltuende Distanz einstellen. Die Steuerung der Artefakte auf der Datenfläche verliert ihren Zauber paradox gerade durch den Ausbau ihrer rituellen Funktion: Das grenzenlose Erleben findet, von außen betrachtet, in einer black-box, einem rituellen Raum, einem eigent-lichen »templum«, statt. Eine solche visuelle Kultur ist für christo-logisch ausgereizte Leibfeindschaft, strahlende Transzendenzerwar-tung, Endzeitgewißheit ebenso anfällig wie für die halluzinative und psychedelische Besetzung der Dinge und Environments. Der Ani-mismus des Stofflichen, die Popularität sprechender Bilder, das sich-eröffnende Wunderbare: Was John Dewey schon für die Schönheit des Kaminfeuers beschrieb, hat ungebrochene Gültigkeit im »Cy-berspace«. Dagegen ist der Hinweis darauf, daß Kunst ohne Distanz-modellierung keine Kunst ist, kein Einwand. Das technische Arte-fakt des halluzinativen Reiseaggregates nährt den Traum reiner Mi -mesis. Natur als unverstandene oder unverfügbare löst sich in reinen

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Mitvollzug stimulierter Datenlandschaften auf. Das Versprechen des Ewigen wird Gegenwart natürlich nur in der Gestalt einer Identität auf Zeit. Phantasmatisch ist, was durch den Aufschub der Zeit sich absolut setzt und zugleich als vitale Hoffnung auf Dauer des Suspens libidinös besetzt wird. Metaphorologisch gelesen ist »Cyberspace« also eine Verbindung von Illusion, Naturalismus, Expression und einem unbändigen Willen zu glauben. Gegen die am Horizont auf-tauchende drohende Enttäuschung der Imagination mobilisiert diese alle Kräfte, bewaffnet sich gar mit einem maschinisierten Verspre-chen, mit der Illusion als Transsubstantiation des Leiblichen im pneumatischen Energiefluß des durch die kosmischen Weiten rasen-den Auges, auf welches sich letztlich die Rückkoppelung des tau-melnden Erlebens an die leiblichen Sinne fixiert. Momentanes Ge-lingen geschlossener Identität steht prinzipiell unterm Bann unvor-hersehbarer Abweichungen und Kollisionen. Die Datenfläche wird leiblich-substituierende Kraft durch Turbulenzerzeugung. Das tech-nische »Kunstwerk« ist nicht mehr ästhetisches Objekt im Sinne von Mukafovsky1, nicht prozessierende Energie, semantische Geste und Organisierung der außerästhetischen durch die autonomen ästheti-schen Zeichen, sondern besteht nur noch in den Verweisen auf die technischen Komponenten, die allesamt aus dem Arsenal regulierter Massenkommunikation herrühren. Die Rhetorik des Kulturwandels schreibt der Technik weit über die Fetischisierung und mitvollzieh-bare Faszinierung von Geräten hinaus eine auratisch-poetische Kraft zu, die in der Feier des Individuellen gebündelt erscheint. Soll eine solche Technologie als ästhetischer Prozeß kunstwürdig werden, dann bedarf sie der Kontextualisierung ihrer ästhetischen Faktoren im Diskurs. Kunst kann ohne Einbezug des Kommunikationspro-zesses hinsichtlich ihrer Gegenstände und Behauptungen nicht be-schrieben werden. Die bloß ästhetische, anmutende, reizbezogene Referenz von Objekten als Kunst oder kunstartige, zuweilen kunst-würdige Gegenstände reicht nicht über externe Analogien hinaus. Insofern ist »Cyberspace« ein Objekt kultureller Unterhaltung und intensiver Metaphernbildung und rechnet zu den Apparaten sozialer Imaginationsmodellierung, aber (noch) nicht zu einer Veränderung der Kunst durch Technologie oder gar einer Wandlung des Imaginä-ren durch künstlerische Interventionen.

1 Vgl. Jan Mukafovsky, Die Kunst als semiologisches Faktum (1936), in: ders., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1970, S. 138ff., bes. S. 146f.

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Über Referenzsysteme und Paradigmen der Konzeption visueller Realität

In gewisser Weise ist das Illegitime der Kunst ihr Gewöhnlichstes geworden. Das reicht allerdings nicht hin, um Setzungen außerhalb des künstlerischen Kontextes wegen der Trivialisierung einer dem Kunstwerk abgelesenen Intensität ästhetischer Erfahrung schon Kunstcharakter zu konzedieren. Das Interesse an Kunst hat aus vielerlei Perspektive auch damit zu tun, daß es sich um den historisch letzten Gegenstand unerbittlicher Kapitalisierung und universaler Profanierung nicht-ökonomisierbarer, »höherer« Werte handelt1. Das erzeugt einen die Aufmerksamkeit intensivierenden Wider-spruch zum historischen, ideell allzu einseitig bewerteten Entwick-lungsgang spezifischer Ausprägungen moderner Kunst als Verkör-perung von Widerstand. Nicht zuletzt die Kunst hat dieses Potential selber instrumentalisiert. Ihr Oppositionsanspruch verläuft inner-halb des Kunstsystems kontrafaktisch zur Selbsteinschätzung - ganz ähnlich wie das Techno-Imaginäre, das sich vorschnell in einen Kunstdiskurs integrieren will . Das Ende der Avantgarden beispiels-weise ist nicht ihr Scheitern, sondern die konsequente Verwirkli -chung ihres Prinzips. Notwendigerweise gelangt die Überschußbe-hauptung der Irritation an der erzwungenen Lernfähigkeit des Re-zipienten an ein Ende2. Das künstlerische Widerstandspotential ist kein transzendentales Prinzip, sondern bestenfalls ein soziales und historisches Kapital. Zerschlissen worden ist es nicht durch externe Kommerzialisierung allein, sondern auch durch Selbstauszehrungs-vorgänge, Phraseologie und Repetitivität einiger serieller, historisch überkommener Muster und Rollenkonzepte. Die Wahrheit der Kunst setzt sich kontrafaktisch und schonungslos auch gegen die Maßlosigkeit ihrer Versprechen durch. Kunst ist nicht nur eine Korrektur am Säkularisicrungs- und Entzauberungsprozeß, son-dern hat daran als Objektfeld teil. Das zeigen drei ihr wesentliche, auf dem Hintergrund der Romantik erst im 20. Jahrhundert reflexiv bestimmte Momente: die Selbstsetzung als autonomes Erkenntnis-

1 Vgl. Hans Ulrich Reck, Wenn Kunst zur Ware wird, ist Werbung Kunst?, in: Kunst-forum Bd. 104, Köln 1989; ders., Werbung als Anspruchsmodell, in: Michael Schir-ner, Werbung ist Kunst, München 1988.

2 Vgl. Reck, Vom System zum Fragment, a. a. O.; ders., Der Betrachter als Produ-zent}, a. a. O; ders., Dialektik der Provokation und die Antiquiertheit der Revolte, in: Karin Wilhelm (Hg.), Kunst als Revolte? Von der Fähigkeit der Künste, Nein zu sagen, Gießen 1996, S. 50-90.

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vermögen (von Carl Blechen und Philipp Otto Runge über Gustave Courbet und Paul Cezanne bis Bruce Nauman), die religiöse Befrei-ung der Materie aus ihrer Gebundenheit ans Instrumentelle (von Caspar David Friedrich über Wassily Kandinsky und Paul Klee bis zu Barnett Newman, Mark Rothko, Antoni Tapies und Jean Dubuf-fet) und die Versöhnung von Kunst und Leben (von Schelling, Novalis und Carus bis zu Beuys). Die Binnen-Instrumentalisierung der Kunst hat mit der durch sie selbst gesteigerten Kompensations-bedürftigkeit auf der Basis der sie erst ermöglichenden Säkularisie-rung zu tun1. Die Okkupation von Utopie und Widerstand führt zur Selbsterschöpfung. Zahlreiche avantgardistische Künstler haben ge-gen ihren Willen diese Erschöpfung befördert. Der Prozeß der Selbst-Instrumentalisierung, als welcher die Entwicklung der Kunst der letzten 150 Jahre auch gedacht werden kann, verpflichtet die Kunst zunehmend auf das Nicht-Diskursive, auf diejenigen spezifi-schen Symbole, welche ihre Geltung durch Ausschluß der Kontexte, besonders der sozialen Kommunikation behaupten.

Solche Kontexte sind empirisch nicht von der Existenz der Kunst-werke zu trennen. Unterschiedliche kulturelle Konzeptualisierun-gen von »Kunst« bestimmen die Werke stärker, als der Ausdruck »Stil« nahelegt. Referenzsysteme sind Kontexte, die zu Faktoren, gestisch zeigbaren Spuren der Bildfigurationen geworden sind. Zwar gibt es eine historische Abfolge der Referenzsysteme, aber nicht im Sinne eines Fortschreitens. Referenzsysteme können sich überla-gern, verbinden, zuweilen verschmelzen sie zu etwas Neuem. Die Rekonstruktion der Referenzsysteme zeigt, daß die die Bilder und die Bilderwelt tragenden Stützen unsichtbar sein, ins Unbewußte abgelagert werden können. Im Blick auf das Techno-Imaginäre schä-len sich verschiedene Referenzsysteme als bestimmende, im Hinter-und Untergrund tragende, kulturell codierte und sozial stereotypi-sierte Erwartungen heraus. Nach der Darlegung des techno-imagi-nären Bezugssystems skizziere ich in gebotener Kürze: das mathe-matisch-technische/ ethisch-pädagogische Referenzsystem (1), das expressive-surreale (2) und das semiotisch-konzeptuelle (3).

(1). Die durch Brunelleschi experimentell demonstrierte Konstruk-tion der Zentralperspekive löst die früher vorherrschende Topogra-phie des Heiligen und dessen symbolische Hierarchien endgültig ab.

1 Man kann die profunden Erkenntnisse Hans Beltings, Bild und Kult, a. a. O., auch in dieser Richtung auswerten.

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Die vordem als faktuales und verweisendes Handwerk bestimmte Kunst setzt sich als autonome Darstellung eines perspektivistisch gewandelten Weltbildes, für welches die Perspektive selber zu einer symbolischen Form der Verhältnisbestimmungen zwischen Mensch und Natur geworden ist: Prädominanz des Sehens und die objekt-hafte Modellierung einer zunächst bedeutungsneutral gesetzten Na-tur entsprechen sich symmetrisch. Natur wird als Kulturgeschichte, die Perspektive auf Natur mythologisch besetzt. Das mathematisch-technische Referenzsystem impliziert die Voraussetzung, daß in der Bildordnung die generelle Erwartung an ein ikonisches Referenzsy-stem zum alltäglich Sichtbaren als diskursive Kontrolle des Bildli -chen, das nur heteronom gilt, aufgebaut wird, nicht mehr eine sym-bolische Topographie des Unsichtbaren, das in eine mentale Ver-weisklammer eingespannt erscheint. Die symbolische Dimension der Zentralperspektivität läßt sich an einer symmetrischen Doppe-lung des Unendlichkeitspunktes (des imaginären Schnittpunkts der parallelen Geraden) aufweisen: Dieser ist der Erscheinungsort des Göttlichen, aber auch, invers, demonstrativer Vergegenständli-chungspol der Selbstermächtigung und Selbstvergottung des menschlichen Auges. Daß Bildarbeit Kontrollarbeit an der Anoma-lie der Sinne zu sein hat, belegt den heimlichen Bilderverbotstext hinter den universalvoyeuristisch funktionalisierten Gegenständen einer enttabuisierten, homogen sichtbar werdenden Welt. Allegorien und textuelle Verweise haben diese Aufgabe zu übernehmen. Das mathematisch-technische wird zu einem ethisch-pädagogischen Re-ferenzsystem: Bilder haben die Bildung von Geschmack und Geist zu ermöglichen, die Mechanik der Sinne zu verfeinern, die Koordi-nation von Sinnen und Bewußtsein zu perfektionieren sowie auf die stetige Spiegelung der funktionalen Wohlgeordnetheit der Empfin-dungen in der Selbstbetrachtung des Subjekts zu achten. Das Ge-schmacksurteil hat nach Kant1 ohne Reiz und Rührung zu sein. Kant bestimmt die Nobilität der Kunst als konzeptuelle Reinheit der Zeichnung: Einschreibung des Geistes unter minimalsten Zuge-ständnissen an empirische Eigenreize. Hinter die Zeichnung hat die Farbe zu treten. Universale Schönheit gilt als Form, die Sinnenreize sind abzuwehren. Ästhetik wird generell konstituiert als klassizisti-sche Bändigung des Bildes durch die Sphäre der Bedeutungen. Das Bild als Denkmodell gelingender Reflexions-Schematisierungen hat

1 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 13, 14.

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seine Wahrheit in der Abwehr der Sinne1. Das Bild muß immer als Textkorpus gelesen werden. Allegorie nicht allein innerhalb der Lektüre, sondern im Spiegel einer idealen Persönlichkeitsentwick-lung - so setzt sich das identifizierende Sehen nicht nur im Selbst fest, sondern verpflichtet dieses auf die Gefolgschaft in der Zeit. Der Bildungsroman ist das tableau vivant bändigender Allegorese und führt in Entwicklung durch, was topographisch als Identität des Selbst apriorisch feststeht: der trotz aller Gebrechlichkeiten, Risse und Gefährdungen letztlich souveräne Durchgang durch die Wider-stände der Selbstbildung. Die linear geformte Zeit markiert den Raum des Bildes, die verflüssigte Form des Selbst die sequentielle Anordnung der Bildungsgeschichte des Subjektes. Die mathemati-sche Registratur von Schnittpunkten auf einer topologischen Ober-fläche, der Schnitt durch die Sehpyramide, als dessen analoge Kon-struktion das Bild verstanden werden kann, gibt die Welt beliebig und grenzenlos frei. Die Bildungsgeschichte des Subjekts ordnet deren lockende Mannigfaltigkeit. Noch die Datenfläche des »Cyber-space« reizt für den in das Data-Processing eingetauchten Menschen die zentralperspektivische Fläche eines vorgespielten homologen, stetigen und unbegrenzten Raumes mit dem Versprechen aus, die Lockungen des Mannigfaltigen zurückzuholen. Ohne mathema-tisch-technisches und ethisch-pädagogisches Referenzsysem kein Computer und kein »Cyberspace«.

(2). Paul Gauguin schreibt im Februar 1888 an seine Frau Mette: »In mir gibt es zwei Naturen: Den wilden Indianer und den Empfindsa-men. Der Empfindsame hat weichen müssen, damit der Indianer festen Schrittes geradeaus marschieren kann«2. Die Empfindung der eigenen Besonderheit oder Ausgesondertheit begleitet nicht allein ein (Euvre, sondern auch syntaktische und semantische Verfahrens-weisen. Gestaltungsmittel werden durch Gauguin symbolisch be-setzt: Die Gerade drückt Unendliches aus, Linien seien »edel«, die Kurve begrenze die Schöpfung. Gauguin beruft sich auf seinen Instinkt, eine primäre Wildheit. Asketische Rückbesinnung auf Ar-

1 Zur Disziplinierung der Sinne bei Schelling, Dilthey, Meier auf diesem Hintergrund siehe Wolfgang Welsch, Traditionelle und moderne Ästhetik in ihrem Verhältnis zur Praxis der Kunst. Überlegungen zur Funktion des Philosophen an Kunsthoch-schulen, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. XXVIII , 1983/2, bes. S. 275.

2 Zit. nach Gundolf Winter, Paul Gauguin. Jakobs Kampf mit dem Engel, Frankfurt a.M. 1992, S. 31.

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chaisches erzeugt ein Formideal gegen das zivilisatorische Pathos des prädominanten Sehens, wie es gerade beim Impressionismus zu einer entschiedenen Ausprägung kommt. Es geht um den »Seelengrund«, nicht um Auge oder die Wissenschaft vom Sehen. Das Edle sei einfach. Die Suche nach »formes rudimentaires« wird zwar gegen die Absicht Gauguins im einmal besetzten Territorium zur Aufhebung der Unschuld führen, aber vorerst gehe es um die unverbrauchte Einbildungskraft, die nur vor oder außerhalb der Zivilisation zu finden sei. »La terre, c'est notre animalite«. Gauguin wil l hinter die Pferde des Parthenon zurück, »jusqu'au dada de mon enfance«1. Mi t Schopenhauer glaubt Gauguin, daß in jedem Lebewesen, jedem Ding der Natur das Wesen, dessen Erscheinung die Welt ist, ganz und ungeteilt gegenwärtig sei. Die Malerei müsse sich am Vorbild der Musik orientieren und nicht deskriptiv, sondern suggestiv wirken. Das expressiv-surreale Bezugssystem - wobei »surreal« hier weder Stil noch Verfahren meint, sondern die konvulsivische Schönheit einer belebten Natur, die in allen ihren Zeichen als Schrift, Spur und Gestus zum Vorschein kommt - wird, wie der Fall Gauguin zeigt, von den Künstlern selber aktiv mitgeschaffen. Sein Kern ist figurativ und konzeptuell zugleich: Erzeugung einer Tradition durch ihre Aktualisierung aus einem entschieden gegenwärtigen Blick. Die Gottähnlichkeit des Künstlers rückt mit Gauguin in einen Zeichen-zusammenhang ein, der die Erwartung der Übersteigerung, die Ent-hüllung des Außergewöhnlichen als einprägsamen Faktor des Kunstwerks berechenbar macht. Gauguin strebt solches konzeptuell an. 1888 schreibt er an Schuffenecker: »Die Kunst ist eine Abstrak-tion: Ziehen Sie sie aus der Natur heraus, während Sie von ihr träumen, das ist der einzige Weg, zu Gott aufzusteigen und es unserem göttlichen Meister gleich zu tun: zu erschaffen«2. Kunst wird dabei wieder symbolisches Medium eines Übersinnlichen. Die operative Voraussetzung, überhaupt etwas auf einer Fläche abzubil-den, wird hier durch ein zweites System überlagert, das nicht mit dem Realismus bricht, sondern dessen Regeln verändert, um auto-nome und individuelle Ausdrücke aufzunehmen. Gauguin geht es bereits um eine derart gesteigerte Erfahrung, daß diese durch Kunst-werke gar nicht mehr befriedigt, sondern nur noch indiziert werden

1 Paul Gauguin, Avant et Apres, Paris 1903, zit. nach Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg 1956, S. 29; vgl. außerdem Werner Hofmann, Die Grundlagen der modernen Kunst, Stuttgart, 1987, 3. Aufl., S. 199.

2 Zit. nach Hofmann, Die Grundlagen der modernen Kunst, a. a. O., S. 204.

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kann. Die ästhetische Semiose wird zur Propädeutik für synästhe-tisch intensivierte, im Surrealismus dann bis zur Leidenschaftlichkeit des amoralisch Enthemmten und Entbundenen gesteigerte Empfin-dungen. Das Kunstwerk wird ein Kraftwerk, in dessen Energieflüsse sich Weltrhythmus und die Suggestivität des Bedeuteten mit dem Ziel der Erringung einer universalen Erinnerungskunst einschrei-ben.

Zwar ist Vincent van Gogh in fast allem ein Gegenspieler zu Gauguin - man muß sich das Dreieck Cezanne, van Gogh, Gauguin als ein äußerst konfliktreiches nicht auf der psychischen, sondern der ästhetisch-künstlerischen Ebene vorstellen -, aber dennoch gibt es eine innere Einheit des expressiv-surrealen Bezugssystems: die Ab-lehnung der Zivilisation, welche das Hervorbrechen des Wundersa-men aus dem Alltäglichen verhindert. Für van Gogh ist die gesamte Wirklichkeit Zeichen für das Jenseitige, ein Hinter-den-Dingen-Lie-gendes. Was man Sujet nennt, ist ihm letztlich gleichgültig. Alles kann als solches dienen. Entscheidend ist bloß, was der Künstler selber setzt. Der Künstler entwickelt neue Codes, die er in die bestehende Kommunikation einzig mit dem Risiko einführen kann, nicht verstanden zu werden. Der Künstler rechnet allerdings gar nicht mehr mit dem Code so eingerichteter Kommunikation. Er verlegt sich von Anfang an auf die Ebene der Meta-Kommunikation: mittels Regelverletzungen, deren Absicht der Künstler spätestens dann erkennt, wenn er die soziale Ortlosigkeit seiner Werke erfährt, kommuniziert er auf einem zweiten Niveau seine Kommunikations-Absenz auf der ersten Ebene. Der Künstler, so sieht die Lage aus seiner Sicht aus, verweigert die Kommunikation, um »wahrhaftig« sein zu können. Die Verschiebung auf eine zweite Ebene setzt voraus, daß Kunst ein Spezial-Diskurs geworden ist. Der neue Kom-munikationstyp ist weniger ästhetisch als vielmehr religiös: Kunst als Essenz des Lebens, die expressiv geformt wird. Der Kult des Individuums und die Gier nach ästhetischer Offenbarung eines nur der Kunst zugänglichen Wesens der Dinge ist der Kern des expres-siv-surrealen Bezugssystems. Es belegt, daß solche Kontextualitäten nicht nur von außen gefordert, sondern auch im Innern geschaffen werden können. Künstler-Selbstbilder gerinnen mit der Zeit zu Publikumserwartungen an identifizierbare Rollen. So wird das Un-berechenbare wieder kalkulierbar, das Außergewöhnliche zum Nor-malmaß der Erwartung, das Irritierende zum Gewohnten. Das pri-märe Bezugssystem erscheint bei van Gogh noch als intra-psychi-sche Orientierung. Seine Reflexivität wird später zu Attitüden kon-

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ventionalisiert und im Maße sozialer Wirkung von sich selber entla-stet. Bei van Gogh liegt die Einheit von Bezugssystem und bildneri-schem Schaffen offen. Emphatisch gesteigerte Affektlagen reaktivie-ren eine romantische Empfindung, die der Künstler sich selber induziert, ohne sich nach außen zu stilisieren. Van Gogh, froh, nicht malen gelernt zu haben, benutzt seine Brüchigkeit, Schwäche und Krankheiten als Weg der Wiedergeburt der Kunst: Je kranker, desto stärker empfindet er sich als wahrer Schöpfer. Das über die Differenz von Gesundheit und Pathologie hinaus gesteigerte Selbstempfinden des kreierenden Künstlers wird schon zu Lebzeiten der wesentlichen Protagonisten zu einem Stereotyp. Sozial tritt es als Kippfigur der Selbstverklärung auf: als symmetrisch argumentierende Pathologi-sierung. Der Künstler gilt sozial genau als der, als der er sich selber empfindet: krank, vereinsamt, zu nichts nütze, absonderlich, nicht-integrierbar. Die soziale Marginalisierung ist in diesem Bezugssy-stem Bedingung und notwendige Durchgangsphase zur Entwick-lung formbestimmender Autonomie je individueller Bildsprachlich-keit. Kunst wird als Kunst und nicht als Säkularisationsfigur religiös aufgeladen: Die Epiphanie des Schrecklichen wird zur künstlerisch ausgereizten Überhöhung der Kunst. Religiöse Erregung ist, was das Wesen der Dinge in ihren Erscheinungen zugänglich macht. Von der Ekstase des Heiligen bis hin zur Befreiung der Seele aus der Materie im Surrealismus - mit dem überleitenden Kronzeugen Antonin Artaud und seiner mit van Gogh symbiotisch sich verbindenden Krypto-Autobiographie Selbstmord van Goghs durch die Gesell-schaft - gilt programmatisch, das Typische im Besonderen, das Sym-bolische im Zufälligen aufzusuchen. Spurensuche, Wunderblock und die Techniken der Verschiebung und Überlagerung werden wenig später durch psychoanalytisches Schreiben zugänglich ge-macht. Vorerst bestehen sie noch als suggestive Figuren einer ästhe-tischen Praxis, die ihre Bilder als neue Kontexte denkt und entwirft.

Auch Cezanne versteht das Leben der Kunst als Leben Gottes. Das entspricht nicht mehr ungebrochen der neuzeitlichen Selbststi-lisierung des Künstlers zum »divinus artifex«, sondern unterstellt, das Leben Gottes komme nicht mehr in der Schöpfung, sondern zuallererst in der Kunst zur Erscheinung. Der Künstler ist nicht mehr bloß gottähnlicher Schöpfer oder Medium onto-theologischer Entwicklung. Er ist Entwerfer einer Welt, deren Gesetzlichkeit sich ihm in den Formbestimmungen seiner individuellen Bilderpraxis und -reflexion zeigt. Die Schönheit parallel zur Natur ist Selbst-schöpfung der eigenen Sicht auf die Wirklichkeit, zu der die Existenz

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der Bilder in einem tiefen Sinne rechnet. Die Leinwand ist zwar analog gesetzt zur Topographie der Schöpfung, der Malvorgang jedoch spielt sich unmittelbar im ästhetischen Experimentiersaal Gottes ab1. Die Bildform ist genetische Entfaltung ihrer absoluten und unbedingten Eigenheiten. Diese sehen und herausarbeiten zu können, wird zeitgenössisch als Privileg der wahren, sich selber durchsichtig werdenden Kunst empfunden. »Poussin auf Grund der Natur erneuert«, gibt das Stichwort. Die ontologische Bestimmung der Malerei ist es, Genealogie selbstbegründeter ästhetischer Erfah-rung zu sein. Weltentstehung und Bildentstehung sollen zur Dek-kung, mindestens aber übereinkommen. Die Konfiguration der Ma-lerei wird zum vorrangigen Gegenstand des Kunstprozesses. Sein Verfahren, nicht seine Gegenständlichkeit nimmt die gesamte Welt-wirklichkeit als dynamische Schöpfung des Absoluten in sich auf. Kunst wird in ihrem eigenen Bild - Jahrzehnte bevor dies auch programmatisch einer neuen Rollenkonzeption für den propagier-ten Ausgriff aufs ganze Leben zugerechnet werden wird - zur ästhetischen Kirche überhöht. Das wirre Chaos der Natur, ihre Flüchtigkeit und Alogik werden auf der Leinwand zur Vernunft gebracht, kategorisiert, für eine Teilhabe an der Modalität der Ideen aufbereitet2.

Trotz gravierender Divergenzen zu Gauguin und van Gogh - der erstere gilt Cezanne nicht als Maler, da er nur Chinoiserien gemacht habe, der letztere zwinge Natur zur Expression um jeden Preis und bezahle die Literarisierung der Malerei mit einem schwer erträgli-chen Grimassieren der Dinge -, und trotz heterogener Ikonogra-phien, Motive und Malstile stellt das Gründer-Dreigestirn der klas-sisch-modernen Malerei eine Einheit dar. Das Prinzip Subjektivität erlaubt, Erkenntniskraft generell den Bildern zu überschreiben. Empfinden und Sehen werden archaisiert, zuweilen bewußt primi-tiviert. Kunst zielt auf eine visuell als Form, nicht als thematische Gegenständlichkeit ausgearbeitete Zivilisationskritik. Ein symboli-scher Kulturkampf wird mit den Mitteln des Bildes geführt. Die über alles Maß gesteigerte Sensibilität verschreibt sich dem Kult der Ver-langsamung. Der Künstler flieht die Stadt. Sein Außenseitertum öffnet ihm den Weg zu einer Religiosität der Kunst. Rücksichtslos gegen externe Erwartungen, bestimmt er sich selbst kompromißlos.

1 Vgl. im folgenden Max Raphael, Kunstwerk und Naturvorlage, in: ders., Wie will ein Kunstwerk gesehen sein?, Frankfurt a. M./ Paris 1984, S. 1 lff .

2 Vgl. dazu Hofmann, Die Grundlagen der modernen Kunst, a. a. O., S. 222ff.

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Das Bild kann beliebige subjektive Symbolbezüge enthalten. Es soll als autonome Form zusammengedacht werden mit der Unmittelbar-keit der Erscheinungen. Ein spezifischer Erkenntnisanspruch for-muliert eine ästhetische und künstlerische Theorie in Gestalt des praktischen Prozesses. Die Kunst wird im bildnerischen Prozeß unvermeidlich theoretisch.

(3). Von da an wird Expressivität bis hinunter in beliebige Tiefen des Leidens zu einem erfolgreichen, kontextbestimmenden Modell von »Kunst«. Das geht so weit, daß Kunst nicht allein extern funktiona-lisiert, sondern zuweilen in ihrem Begründungszusammenhang sel-ber als solche Strategie instrumentiert wird. Die problematische Inszenierung der »art brut« belegt, daß Authentizität und Ursprüng-lichkeit des Subjekts zu einer Codierungsregel der Kontextanpas-sung von Kunst geworden sind. Jean Dubuffets Plädoyer für Wahn-sinn und Heterogeneitat bekräftigt ungewollt eine Negationsinstanz seiner Thesen. Die kulturelle Leitsemantik, die er bekämpfen will , macht seine Aussagen selbstwidersprüchlich: Nur ein Europäer kann sagen, das abendländische Denken sei durch die Sucht nach Kohärenz verdorben. Selbst »art brut« wird zu einer Bestätigung der operativen Kraft der Bezugssysteme: Die Kunst der Geisteskranken kann ohne vorbereitende Beobachtung des expressiv-surrealen Be-zugssystems gar nicht wahrgenommen werden. Daß Kunstwerke erst aus diesem zweiten Blick heraus entstehen, bedeutet, daß Ex-pressivität notwendigerweise Selbstbeobachtung erzwingt. Der Übergang von der Expressivität im Sinne der religiösen Kontextua-lisierung von Kunst zur Selbstbeobachtung ihrer Bezüge - Ge-schichte des Wahns, Suggestivität des Unmittelbaren, Introspektivi-tät der Bildwelten als Erregungsgeschichte der Seele etc. - läßt nicht nur ein neues Bezugssystem sichtbar werden. Die Bezugssysteme folgen nicht linear aufeinander, sondern führen über Umschich-tungsenergien zu neuen Verbindungen aller schon bestehenden Sy-steme, zur Neuordnung ihrer Bezüge, zur Neu-Interpretation ihrer Gewichtungen. So wie die surreale Referenz die expressive fortsetzt, diese zugleich überlagert und verformt, so das konzeptuell-semioti-sche das surreale Referenzsystem. Das konzeptuell-semiotische, das expressiv-surreale und das mathematisch-technische Referenzsy-stem werden alle ins spätere techno-imaginäre einfließen, wenn auch einige ihrer Bestimmungsmomente in den Subtext abgesenkt werden und die Plausibilität des Erlebnis-Aprioris, die Syntax surrealer Bilder und die Suche nach Expressivität nurmehr in der Gestalt einer

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offensichtlich außerkünstlerischen Persönlichkeitskonzeption er-scheinen können. Lucio Fontana schreibt 1946 im manifesto bianco: »Wir wenden uns an die Materie und an ihre Entwicklung, die schöpferischen Quellen der Existenz. Wir üben aus, was der Mensch an Natürlichem und Wahrem besitzt... Unsere Absicht ist es, das ganze Leben des Menschen, das, an die Funktion seiner natürlichen Bedingung geknüpft, eine echte Offenbarung des Seins darstellt, in einer Synthese zu vereinigen... Empfindung war alles beim primiti-ven Menschen. Empfindung angesichts der unbekannten Natur, musikalische Empfindung, rhythmische Empfindung. Unsere Ab-sicht ist es, diese usprüngliche Gegebenheit des Menschen zur Ent-wicklung zu bringen«.1 Bloß ist dieser Mensch nicht mehr der Künst-ler, sondern der Betrachter, die Kunst nicht mehr das ganze Leben, sondern das Werk, das Natürliche nicht mehr das Wahre, sondern die Empfindung einer Zeichenspur. Das Kunstwerk wird zur stoff-lich arrangierten Vorgabe einer Bewegung unablässig auf verschie-denen Niveaus generierter Lektüren. In diesem Kontext ist Kunst definierbar als Prozeß und Methode der Generierung von Unwahr-scheinlichkeit, d. h. von Asymmetrie, Abweichung und Ungleichge-wichtsstrukturen mit dem Grenzwert des Umschlagens von totaler Information in vollkommene Redundanz: weißes Rauschen. Bilder unter anderem von Lucio Fontana, Piero Manzoni, Ernst Wilhelm Nay, Wols, Emil Schumacher und schon Alberto Giacometti belegen diesen Zusammenhang ebenso wie seinen surrealistischen Hinter-grund. Das Begriffsproblem von Informationstheorie und informa-tionstheoretischer Ästhetik löst sich auf durch die Differenzierung eines mathematisch-physikalischen von einem kommunikativ-prag-matischen Informationsbegriff: Nur für letzteren gilt, daß ein nicht zu geringer Anteil an Redundanz die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Information darstellt. Im semiotisch-konzeptuellen Referenzsystem, das wie die früheren Systeme auch eine Binnen-Or-ganisation des Kunstwerks darstellt, entwickelt durch das reflexiv gesteigerte Bewußtsein des Künstlers, hat jede Form ihre ästhetische Gültigkeit darin, unter vielen Perspektiven gesehen werden zu kön-nen. Trivial gilt zwar immer schon, daß ein Bild nur im Akt der Betrachtung realisiert wird. Aber erst das konzeptuell-semiotische Referenzsystem impliziert ein präzisiertes Verständnis des »offenen Kunstwerks«. In ihm geht es um die Einführung von poetischen Bedeutungen, die Teil der vorgegebenen, entworfenen Paritur sind,

1 Zit*. nach Glozer (Hg.), Westkunst, a. a. O., S. 194

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aber erst durch Interpreten oder Rezipienten realisiert werden. Der seit langem etablierte Bezug zur Musikalität bekommt hier einen neuen Sinn, der nicht mehr die harmonikale Kosmologie oder die prozessuale Ordnung meint, sondern den Einbezug kompositori-scher Sequenzen, welche eine bewußte Aussparung des komposito-rischen Willens artikulieren. In diesem Sinne lassen sich auch Gemäl-de als Partituren ansprechen. Das produzierte Material, die Offen-heit des Informationszuwachses im Hinblick auf die Virtualität möglicher Ordnungen1 folgt nicht den vorab gesetzten Effekten der Kunst, sondern entsteht erst durch einen Bruch mit gesetzten Wahr-scheinlichkeiten (Stilen, Codes, Rhetoriken, Attitüden, ästhetischen Valeurs etc). Ästhetische Information entsteht als diese Differenz, als Überhang noch nicht codierter Signifikanten; ästhetische Innovation als signifikative Unwahrscheinlichkeit kollidiert tendenziell mit den etablierten Bedingungen der Kommunikation, d. h. dem codierten Regelwissen des Rezipienten. »...diese neuen Musikwerke hingegen bestehen nicht aus einer abgeschlossenen und definiten Botschaft, nicht aus einer eindeutig organisierten Form, sondern bieten die Möglichkeit für mehrere, der Initiative des Interpreten anvertraute Organisationsformen; sie präsentieren sich folglich nicht als ge-schlossene Kunstwerke, die nur in einer einzigen gegebenen Rich-tung ausgeführt und aufgefaßt werden wollen, sondern als »offene« Kunstwerke, die vom Interpreten im gleichen Augenblick, in dem er sie vermittelt, erst vollendet werden«2.

Für die bildende Kunst im Umkreis der »arte informale« läßt sich diese Aussage zuspitzen: Wie in der Musik der Interpret zum Kom-ponisten/ Produzenten wird, so wird der Rezipient vor den Bildern zum Interpreten und zum Regisseur/ Arrangeur, bisweilen gar zum Komponisten. Das Bild selber kann gelten als die Summe der durch seine formale Organisation ermöglichten Interpretationen; es ist die Meta-Ordnung seiner Interpretierbarkeit, womit seine narrativen Strukturen sich auf das Arrangement der primären Bezeichnungen (Relation von Signifikaten und Materialien: eben das Informelle) verschieben; die offene Struktur ist die ästhetische Informalie inner-halb einer Transformation der künstlerischen Kommunikation in das Lektüre-Vermögen, das als Kunstwerk organisiert wird. Das offene Kunstwerk kann also nur das indeterminierte sein: »Offenes Kunstwerk als Vorschlag eines »Feldes« interpretativer Möglichkei-

1 Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S. 168ff. 2 A. a. O, S. 28f.

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ten, als Konfiguration von mit substanzieller Indeterminiertheit begabten Reizen«1. Der Blick muß in die Struktur eindringen, und entsprechend muß die Struktur abwesend sein, weil sie durch den Blick konstituiert wird: »offenes Kunstwerk in vollem Wortsinn (...), weil die Zeichen als Konstellationen komponiert sind, bei denen die strukturelle Relation nicht von Anfang an in eindeutiger Weise festgelegt ist, bei denen die Mehrdeutigkeit des Zeichens nicht zu einer ausschließlichen Bestätigung der Unterscheidung zwischen Form und Hintergrund zurückgeführt, sondern der Hintergrund selbst zum Bildsujet wird (das Sujet des Bildes wird der Hintergrund als Möglichkeit beständiger Metamorphose)«2. Das Kunstwerk wird zur »epistemologischen Metapher«3. »Arte informale« ist kein »infor-meller« Stil, nicht gekennzeichnet durch die Stoff-Vehemenz der 50er Jahre, sondern durch ein Herausarbeiten von Diskontinuität und Ambivalenz, die Ablehnung von Kausalität und Eindeutigkeit. »Ein offenes Kunstwerk stellt sich der Aufgabe, uns ein Bil d von der Diskontinuität zu geben: es erzählt sie nicht, es ist sie«4. Eine mehr-wertige Logik beinhaltet, daß zur epistemologischen Metapher »Kunst« auch das System visueller Handlungen gerechnet werden kann, welches Kunst durch Irritationen umbildet. Kunst und außer-künstlerische ästhetische Handlungen beziehen sich auf eine durch Dekontextualisierung und Kontext-Anreicherung geschärfte Diffe-renzierung innerhalb alltagskultureller Dramaturgien, denen - gera-de in den 50er Jahren - Kunstformen als Ausdrucksformen einer Mentalität angehören.

Das semiotisch-konzeptuclle Referenzsystem ist die entscheiden-de Transformation sowohl der philosophischen Ästhet ikbetrachtun-gen wie auch der schönen Künste. Es handelt sich dabei keineswegs um eine bloße Methode, sondern um ein reflexives Semiotisch-Wcr-den der Kunst selbst, eine auf zunehmende Komplexität zielende, zeichenbewußte Steigerung ihrer Ziele und Mittel , Absichten und Darstellungsformen. Kunst kann weder auf intrapsychische Schöp-fungszustände noch externe Wahrnehmungseffekte reduziert wer-den. Das Kunstwerk als dynamischer Prozeß und semantische Geste impliziert, daß die »ästhetischen Objekte«, die Werke der Kunst,

1 A.a .O., S. 154. 2 A.a. O., S. 159. 3 Vgl. a. a. O, S. 160ff. 4 Vgl. a.a.O., S. 165.

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ihren Standort im Bewußtsein des Kollektivs haben1. Die Autono-mie des ästhetischen Zeichens der Kunst dominiert die außerkünst-lerischen Zeichen. Die semiotische Wendung hindert die Theorie der Kunst daran, Kunst als bloß formale Konstruktionen zu betrachten. Der Gesamtkontext des Ästhetischen ist eine der wesentlichen Kom-ponenten des autonomen künstlerischen Prozesses. Kunst ist nach Mukafovsky kommunikatives und autonomes Zeichen. Ihre spezi-fische Autonomie konstituiert eine spezifische Art von Kommuni-kation. Die Vermittlung von Urheber und Kollektiv, Darstellung und Repräsentation, Form und Kommunikation vollzieht sich mit-tels Autonomie der Zeichen. Diese impliziert dreierlei: 1. das mate-rielle Werk (als Bedeutung eines sinnlichen Symbols), 2. das ästheti-sche Objekt (der Gesamthorizont von Symbohsicrungen und Men-talitäten, sozialen Phänomenen, Kollektivbewußtscin), 3. Bezeich-nung eines Sach-Verhältnisses zwischen Thema, ästhetischem Ge-genstand und künstlerisch-poetischem Code. Die Repräsentation des Realen äußert sich im konzeptucll-semiotischen Referenzsystem als bewußte Intentionalität. Diese ist nicht an ein Subjekt oder die Absicht eines Individuums gebunden, sondern an kulturelle Pro-blemlagen. Alle, nicht bloß die intrinsisch-psychischen Rahmenbe-dingungen gehören zur Intentionalität2. »Historische Gegenstände (lassen) sich erklären, indem man sie als Lösungen von Problemen in Situationen behandelt und indem man eine rationale Beziehung zwischen diesen drei Elementen rekonstruiert«3. »Intention ist also kein rekonstruierter historischer Bewußtseinszustand, sondern eine Beziehung zwischen dem Objekt und seinen Rahmenbedingun-gen«4. Der Funktionszusammenhang bestimmt sich, wie schon bei Jacob Burckhardt und später Horst W Janson, als Kunstgeschichte nach Aufgaben. Ob angewandte Gestaltung oder freie Kunst: Als spezifisch ästhetischer Diskurs ist künstlerische Kommunikation integriert in einen symbolischen Funktionalismus auf dem Hinter-grund einer differenztheoretischen Auffassung von Sprache und symbolischem Handeln. Es gibt keine chronologisch-linearen Ein-flüsse, sondern die Konstruktion von Jetzt-Bezüglichkeiten5. Tradi-

1 Vgl. Mukafovsky, Kapitel aus der Ästhetik, a. a. O., S. 139ff. 2 Vgl. die grundlegende Studie von Michael Baxandall, Ursachen der Bilder. Über

das historische Erklären von Kunst, Berlin 1990 (Originaltitel: Patterns of Inten-tion).

3 A.a. O, S. 71. 4 A. a. O, S. 82. 5 Vgl. a. a. O., S. 88ff.

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REFERENZSYSTEME VON BILDERN UND BILDTHEORIEN 339

tion ist eine Differenzierung von Affinitätswahrnehmung in einer präsentischen Problemsituation1. An die Stelle von Stil und der Behauptung der Repräsentationen und Referenzen treten »erschlie-ßende Kritik« und »Ostensivität der kritischen Sprache«2. Die Osten-sivität ist metareflexiv: Die Konstitution des Kunstwerkes durch Kunsttheorie erweist als einflußreich auch Metaphorologie und Rhetorik, die zum gegenständlichen Entwurf einer Kunsttheorie führen. Die Perspektive eines solchen Begriffs der Intentionalität ist auch brauchbar für das techno-imaginäre Referenzsystem und seine jeweils neu modellierende Integration früherer Bezugssysteme3. Baxandall faßt die Komplexität der ästhetischen Konstruktion ent-sprechend als je subjektive, je situative, je problembezogene Erzeu-gung und Modifizierung kultureller Kommunikation mit spezifi-schen Mitteln im Begriff des >rroc« (deutsch: Tauschhandel, auch Markt) zusammen; Kultur ist definierbar als problemstrukturieren-de Unterscheidungsfähigkeit. Es geht um Thematisierungcn im ho-rizontalen Feld des gleichwertig Gewöhnlichen, nicht um die Auf-rechterhaltung einer geschmackstheorctisch fixierten kulturellen Pyramide.

Die Organisation der Sinne und das Techno-Imaginäre - eine me-dientheoretische Perspektive

Methodisch beansprucht jedes visuelle Paradigma epochale Priori-tät. Über längere geschichtliche Zeiträume hinweg überlagern sich die verschiedenen Modelle. Im Prinzip kann zu jeder Zeit auf irgend-ein Modell zurückgegriffen werden. Für neuzeitliche Kunst tritt gleichberechtigt neben die faktualen Bestimmungen des Werks - voll entfaltete Technik, kompositorische Eleganz, Harmonie der Teile, Souveränität der Farbgebung, kurz die virtuose Handhabung von »concinnitas« und »Kontur« - die strategische Inanspruchnahme

1 Vgl. a.a.O., S.102ff. 2 Vgl. a.a.O., S.34ff., 71. 3 Deren Schematisierung ist nicht passiv. Wie in der Kognitionspsychologie Jean

Piagets werden auch hier auf jeder höheren und komplexeren Stufe des Erkennt-nisvermögens die früheren Schemata nicht einfach integriert, sondern im Zuge der Integration verändert und neu konstruiert: Assimilation und Akkomodation sind komplexitätssteigernde Konstruktionen, die ihre Wahrheiten in der dynamischen Balance durch die späteren Errungenschaften, nicht in ihrer Vorprägung durch das Frühere haben.

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einer Künstlerrolle, die sogar eine Mythologie sozialer Suggestivität im Hinblick auf supranaturale Begabungen, auf Genie und Exklusi-vität, behaupten kann. Aus demselben Grund führen Stilbezeich-nungen, wenn sie bloß maßstäblich im Hinblick auf adäquaten Zeitausdruck und auf Temporalisierung ausgerichtet sind und nicht die strukturellen Komponenten eines sich selber differenzierenden Systems reflektieren, in die Irre: »Expressivität« ist kein Stil, sondern ein quer-epochales Paradigma, in dem historisch aus dem Blick des Späteren die Kernstruktur des Früheren ersehen wird, beispielsweise aus dem Expressionismus des 20. Jahrhunderts Grünewald und El Greco. Von den visuellen Realitätsmodellierungen hängen verschie-dene Kategorien und Konnotationen künstlerischer Arbeit ab, die sich mittels Konzepten und Rollen-Kalkülen, keineswegs bloß als Singularitäten zu behaupten trachtet. Visuelle Realitäts-Behaup-tungs-Modelle müssen immer im Hinblick auf konzeptuelle Mög-lichkeiten künstlerischer Arbeit bedacht werden. Das Panorama der Stile und die Grammatik der Modelle bieten jedem Künstler die Möglichkeit, in signifikant durch die sozialen und zeitlichen U m-stände suggerierter Wahl sich irgendeiner Hauptkomponente eines Systems zu bedienen, beispielsweise Illusionskünstler oder psychog-raphischer, psycho-mystagogischer Expressionist, Machtstratege oder selbstquahfizierter Moralist zu werden. Zusammenfassend nenne ich nochmals die hauptsächlichen Modelle in ihrer histori-schen Abfolge seit dem Mittelalter:

- den zeichentheoretischen Symbolismus: der Künstler verweist durch einen auf Mittelstatus beschränkten Kunstbegriff auf einen außerkünstlerischen Inhalt;

- die visuelle Illusion: der Künstler täuscht über den faktualcn Zuschnitt der Kunst gerade mittels bestimmter technisch ermöglich-ter Übersteigerungen hinweg; Kunst soll natürlicher scheinen als Natur, die Poetik der Illusion den Rezipienten nicht nur täuschen, sondern ihn zuweilen der Mittel der Unterscheidung berauben; Kunst als fotonaturalistisches Offenbarungstheater;

- die Instrumentalisierung (neologistische Codierung), respektive willkürlich e Besetzung (Recodierung) der überlieferten ästhetischen Formen und Zeichen durch subjektiv freigesetzte Motive: der Künstler unterwirft Ikonographie, Motivi k und geschichtliche Äs-thetik einem Zugriff, den er seit der Romantik zunehmend aus der exklusiv marginalisierten Sicht auf das Reale (der Natur, der Welt, der Gesellschaft) begründet;

- die Technisierung der Bildproduktion: der Künstler transfor-

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miert neue Produktionstechnologien von Bildern in genuin künstle-rische Prozesse; zur Debatte steht in der Technikgesellschaft grund-sätzlich das Verhältnis von künstlerischen und außerkünstlerischen Handhabungen des Technischen, welche Dualität sich soziologisch in die komplementäre ästhetische Kampfrhetorik von Kitsch versus Avantgarde ausformt;

- ästhetische Innovation als Dekontextualisierung und Kontext-verschiebung: der Künstler entwickelt neue Werke durch Re-Codie-rung nicht nur von Codes, sondern von Rhetoriken, die zugleich Interventionen in die technische Massen-Bild-Produktion darstel-len, beispielsweise nicht die Sequenz, sondern die Kinematographie und ihren Diskurs verzeichnen (bei Kluge und Godard). Der Kunst kann alles Arbeitsmaterial und -gegenständ werden.

Es ist möglich, daß ästhetische Gegenwärtigkeit mit formaler Regression verbunden wird, wenn z. B. in virtuellen Realitäten und technischen Simulationsräumen ein surrealer Ausstattungsstil nur dazu dient, dem Individuum ein gesteigertes Erleben zu ermögli-chen, womit ein Rücktransport der expressionistischen Avantgarde in die technisierte Massenkultur notwendig verbunden ist. Solche Wirklichkeitsumgestaltung ist aber auch eine wesentliche utopische Hoffnung neuzeitlicher Kunst.

Eine medientheoretische Perspektive auf die Kunst bedarf keiner neo-theologischen Feier des Techno-Imaginären oder eines neuen Paradigmas, sondern einer geschärften Selbstreflexion des semioti-schen Prozesses der modernen Kunst. Moderne Kunst besteht -mindestens in ihren klassisch-europäischen Konturen bis an die Schwelle von, sachlich, Fluxus und »nouveau realisme« und, zeitlich, der 60er Jahre - in der Darstellung des Nicht-Darstellbaren, dem Sichtbarmachen des Nicht-Sichtbaren. Das Kunstwerk wird zu ei-nem Moment im Erfahrungsprozeß der Kunst, welche die »Bildlo-sigkeit des Absoluten«1 erfährt. Das Werk kann nicht länger als Anschauungsgegenstand oder Medium von Repräsentation gelten. Es wird zu einem Ausdruck problematisierender Erfahrungen, die im Hin-und-Her zwischen Betrachter und Bild, welches nicht mit seinem stofflichen Äquivalent, dem Kunstwerk und Bild als Zei-chenträger zusammenfällt, das, was Aussage werden oder als solche soll anerkannt werden können, erst im Hinblick auf den Abzug der Signifikate aus den Signifikanten entwickeln. Das Scheitern der Dar-stellung des Absoluten wird nicht allein zur anstoßenden Bewegung

1 Georg Picht, Kunst und Mythos, Stuttgart 1987, 2. Aufl., S. 74.

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des Betrachters im Hinblick auf das Bild, sondern zu dessen imma-nenter Dynamik, die dem Bild einen Betrachter sucht, der seine Aussage vollendet. Diese Vollendung der Aussage aus dem Blick eines Betrachters, den das Bild selber dem Auge leiht, ist das Orga-nisationsprinzip der modernen bildnerischen Syntax. Der zunächst restlose - später im Namen einer revolutionären Ästhetik der Macht aus dem Blick der bildnerischen Universalgrammatik wieder rück-gängig gemachte - Bruch mit der Bildallegorese, den Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst aus Nietzsches Übermenschen, dem individuellen und transzendenzlosen Entwurf des Menschen aus sich selbst, durch das singulare innere Reich des einzelnen Künstler-genius begründet hat, führt nicht allein zum Primat von Bildsyntax und Expressivität, sondern zu einer Analogisierung aller Künste mit dem musikalischen Prozeß1. Die Geistigkeit, der innere Klang der Musik, sind Abstraktionsleistungen, die mit dem Medium kom-positorischer Notation zu tun haben. Die »allographischen« Künste verfügen über ein allgemeines Notationssystem, welche das Werk als Gegenstand seiner sinnlichen Rezeption vom »autographischen« Akt seiner primären, gestaltsetzenden Hervorbringung trennt2. Die autographische Malerei lehnt sich an die allographische Musik des-halb an, weil die Trennung der Aisthesis als einer selbstbezüglichen, prozeßorientierten und explikativen Wahrnehmung3 von der syn-

1 Vgl. Karin von Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1980; Helga de la Motte-Haber, Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerie zur Klangskulptur, Laaber 1990; Jörg Zimmermann, Kleine Paradigmatik des bildnerischen Schaffensprozesses im frühen 20. Jahrhundert, in: Hermann Danuser/ Günter Katzenberger (Hg.), Vom Einfall zum Kunstwerk. Der Kompositionsprozeß in der Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1993, S. 343ff.; zur »ecriture« als dem Schnittpunkt des Konvergierens von Malerei und Musik Theo-dor W. Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei (1965), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1978, S. 628ff.

2 Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheone, Frankfurt a. M. 1973.

3 Vgl. Martin Seel, Zur ästhetischen Praxis der Kunst, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1993, Berlin S. 31f. Seels Exphkationskategorien sind nicht hinrei-chend, aber sie sind für die Differenzierung von Ästhetik und Aisthetik notwendig und einleuchtend (vgl. auch die Ausführungen Seels in diesem Band). Den kunst-theoretischen Kredit seiner Unterscheidungen setzt Seel allerdings aufs Spiel, wenn er Kunst in Aisthetik als deren Sonderfall aufgehen läßt. Die Behauptung, man könne das Wirkliche so anschauen, als sei es Kunst, folgt dem Modell abstrakter individueller Selbst-Stimulierung und überspringt die alle solche Aussagen über-haupt erst möglich machende mediale Differenz. Der Grund dafür ist leicht zu sehen, versteht Seel unter Kunst wie auch unter dem Realen, sofern es aisthetisch zugänglich ist, intuitiv etwas Harmonisches und Schönes, das einer medientheore-

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taktischen Autonomie des Kunstwerks die folgenreiche Trennung der Zeichen von den Bedeutungen sowohl am Material des Kunst-werks wie am Modell seiner Analysierbarkeit durch eine bis zur Willkürlichkeit frei werdende Rezeption festschreibt. Die Musikali-tät und damit die Aufspaltung in eine Autographie der inneren Konfiguration - deren Technik Kandinsky als Bildtypus und Zei-chenverfahren unter dem Titel der »Improvisation« beschrieben hat1

- und eine Allographie der syntaktischen Rezeption aufgesprengter, entzogener, verweigerter und unsichtbar gemachter Signifikanten belegt das prototypisch musikalische Verfahren der modernen Kunst und eine wirklich innovative Paradigmatik der bildenden Kunst als, entgegen Lessing2, nicht mehr Raum-, sondern Zeitkunst3. In direk-ter Zeitgenossenschaft zur konzeptuellen Erneuerung des expressio-nistischen Formimpulses, der vehement auf diese Aufspaltung hin-gearbeitet hatte, notierte Ernst Bloch in Geist der Utopie hellsichtig: »... das rein Malerische, das wiedergefunden zu haben den unklaren Stolz vieler Impressionisten bildete, tritt vor dem Zwang zur Aussa-ge notwendig zurück«4. Die Entkoppelung von Zeichen und Bedeu-tung, Syntax und Aussage, bildnerischer Universalgrammatik und Repräsentation resultiert aus der Intensivierung einer Farbgebung, welche nunmehr im Dienst eines apodiktischen Subjekts steht. Die Farbe wird dramatisiert. Analog dazu wird die Bilderzählung eine dramatische Erzählung. Dramaturgie wie Paradigmatik der Bilder verschieben sich auf Musikalität. Der Raum wird verzeitlicht, Be-deutung entspringt dem Prozeß des Sich-Einlassens auf die Gehalte des Kunstwerkes, nicht mehr der Topographie der Motive, Ikono-graphien und Symbole5. Der Ton wird innerlich, der Klang der Bilder entwirft sich als Zeitreise in die Gespanntheit einer aufbrechenwol-lenden Seele. Kontemplation ist den Bildern nicht mehr angemessen. »Wenn aber das, was der Ton sagt, von uns stammt, sofern wir uns

tischen Differenzierung zwischen dem Realen, Symbolischen und Imaginären nicht bedarf.

1 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1911), Bern 1952, S. 142. 2 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerte und Poe-

sie, hg. v. Kurt Wölfel, Frankfurt a. M. 1988, S. 104ff. 3 Vgl. Picht, Kunst und Mythos, a. a. O, S. 267ff., 426ff. 4 Ernst Bloch, Geist der Utopie, (unveränderter Nachdruck der bearbeiteten Neu-

auflage der zweiten Fassung von 1923), Frankfurt a. M. 1964, S. 4L 5 Die frühen Arbeiten Walter Benjamins sind gänzlich vom Pathos prozessualer Er-

fahrung im Medium der Zeit getragen; die Vollendung des romantischen Kunst-werks in der Kriti k löst die Bilder aus dem Raum und rückt sie in den Vektor der Zeit einer angemessenen, kongenialen Rezeption ein.

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hineinlegen und mit diesem großen, makanthropischen Kehlkopf sprechen, so ist das nicht ein Traum, sondern ein fester Seelenring, dem nur deshalb nichts entspricht, weil ihm draußen nichts mehr entsprechen kann, und weil die Musik als innerlich utopische Kunst über alles empirisch zu Belegende im ganzen Umfang hinausliegt (...) Die Domestikentür bloßer Kontemplation ist gesprengt, und ein anderes als das allegorische Symbol erscheint, wie es menschen-fremd, zum mindesten halb außermenschlich war, das uns, wenn es gänzlich sichtbar geworden wäre, gleich dem ungemilderten Zeus erdrückt, verbrannt hätte, und dessen im Sichtbaren, uns Zugeneig-ten immer noch ungelöste transzendente Unfaßbarkeit gerade seinen Symbolcharakter konstituiert hatte«1. Diese Unfaßbarkeit ist das Konstitutionsprinzip moderner Kunst. Syntax und zugeschriebene Intentionalität treten bewußt auseinander. Zur Verdeutlichung ziehe ich ein klassisches Beispiel mit exemplarischer Abschlußkraft heran: Malewitsch.

Malewitsch encodiert seine Bilder nach etwa 1913 auf eine vierfa-che Weise. Sie gelten ihm als Beispiele einer neuen Naturanschauung, welche die Intensität einer energetischen Natur unverstellt, ohne jeden ikonischen Zeichengebrauch, zur Darstellung bringt: Die Na-tur wird im visuellen Energetismus der reinen Farben zu einer Metapher ihrer selbst. Die suprematistischen Gestaltungsprinzipien treten aus der Natur gerade deshalb direkt hervor, weil sie keine äußerliche Charakterisierung mehr intendieren, sondern Natur aus dem Kreationsprozeß des Bildes - einer Analogie, die über ihr Änalogon nicht mehr verfügen kann - hervorgehen lassen. Auf einer zweiten Ebene wird deshalb Kunst Weltschöpfung als Weltentwurf des Neuen. Das Paradigma der Nichtfigürlichkeit hatte man inner-halb der Kunst durchaus im Hinblick auf ein Abstrakterwerden der Welt und einen die Denaturierung der sichtbaren Natur vorantrei-benden Wissenschaftsbegriff verstanden. Auf einer dritten Ebene erarbeitet Malewitsch (wie alle seine Kollegen) einen Sozialrevolu-tionären, ästhetiktheoretischen Kontext, der die Bildelemente der Dezentrierung mit den anspruchsvollen Technikmetaphern des Flie-gens, der Radiophonik und dem Pathos einer historischen Selbst-überwindung der terrestrischen Bindung des Menschen auflädt. Auf einer vierten Encodierungsebene schließlich wird aber dieser neue symbolische Inhalt im Bild des Malers explizit von der Bildform und den Darstellungsmitteln abgekoppelt. Was dem Betrachter entge-

1 Bloch, Geist der Utopie, a. a. O., S. 206.

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gentritt, ist allein noch die Form einer zeitlichen Bewegung: Die Suspendierung des Raumes als Bedingung des Bildes formuliert die Repräsentation als reflexive Struktur der Beziehung des Betrachters zum Bild. Das Bild selber - Zeichenkonfiguration auf Bildträger -ist außerhalb dieser Transformationsbewegung in die Lektürezeit des Betrachters nicht mehr existent. Als so existierendes zeigt das Bild auch nicht mehr die Semantik einer künstlerischen Hoffnung. Im Hinblick auf Semantik zeigt es überhaupt nichts mehr. Der Zusammenhang zwischen Geistphilosophie, Sozialrevolution, äs-thetischer Emanzipation und dem Bild besteht exakt darin, nicht mehr als Organisation der bildnerischen Mittel zu wirken. Der Zusammenhang besteht in der Vergegenwärtigung der Tatsache, daß er zerrissen ist und dies immer bleiben wird. Diese Meta-Repräsen-tation wird das herausragende Merkmal der Kunst des 20. Jahrhun-derts in allen Bereichen werden. Sie besagt nichts anderes, als daß die Kunst ein semiotisches Meta-Explikationsverhältnis zu sich selber hat, einfacher gesagt: daß die Kunst sich selber endgültig und bewußt eine theoretische Anstrengung geworden ist1. Auf der entscheiden-den, vierten Ebene - der Encodierung als Reflexion des Zusammen-hangs der programmatisch postulierten neuen Inhaltlichkeit mit dem syntaktisch konfigurierten Zeichenmaterial - wird das Bild nur noch durch seine Begrenzung, die Kontextualität seines Diskurses, die Wahrnehmung seiner Rezipierbarkeit, durch den Rahmen also, be-stimmt. Die wahre, die eigentliche Bedeutung ist nicht mehr wahr-

1 Weshalb es falsch ist, Kunst als Kommunikationsträger zu betrachten, wie Niklas Luhmann dies tut. Zwar ist die kommunikative Erwartung an Kunst legitim, nicht aber die kunsttheoretische. Es zeigt sich sehr schnell, daß Kunstwerke eine Reihe von Eigenschaften haben, die geradezu darauf beruhen, nicht auf Kommunikation abzuzielen und erst recht nicht als Kommunikationsträger für die Vermittlung von wahrnehmenden und kommunizierenden Systemen zu dienen. Luhmanns Instru-mentalisierung der Kunst, die seiner systemtheoretischen Prämisse der Kunst als eines nach eigenen Reguherungsprinzipien autopoietisch funktionierenden Subsy-stems widerspricht - Luhmann spricht von »schön/ häßlich« oder von der Kom-munikation der Kunst, nicht aber von Praxis und Poiesis, d. h. von Deregulierung beispielsweise der Kommunikation - rührt wohl daher, daß Luhmann dasvertrack-te interne Verhältnis von Kunst und einer das Kunstwerk bestimmenden Kunst-theorie nicht ernstnimmt. Vgl. Niklas Luhmann, Weltkunst, in: Niklas Luhmann u. a. (Hg.), Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1991, S. 7-45; ders., Wahrnehmung und Kommunikation, a. a. O. Mittlerweile-der vorlie-gende Beitrag wurde bereits im November 1993 abgeschlossen - nimmt Luhmann, mindestens was die Kommunikative Instrumentalisierung von Kunst im Medium der Wahrnehmung angeht, eine leicht veränderte Position ein. Vgl. Niklas Luh-mann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 39ff.

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nehmbar. Das Bild zeigt das Bild selber als abwesendes. Das Bild ist nicht mehr das Kunstwerk. Bestand vordem das Kunstwerk in der Objektivierung des Sehens, so muß die nichtfigurative Kunst das Sehen nicht nur inszenieren, sondern Gesichtspunkte für das Sehen des Sehens entwickeln. Da die Bilder nicht mehr zeigen, was sie meinen, müssen sie ihre Bildlichkeit im Hinblick nicht nur auf das Bild, sondern auf das Zeigen der Bilder bestimmen. Selbstreflexion und Selbstreferentialität, von der zu reden aber immer nur Sinn macht im Hinblick auf verschiedene Kontexte, treten an die Stelle von Denotation und Repräsentation. Das Wirkliche ist, was das Bild im Hinblick auf sich selber inszeniert. Wirklichkeitserfahrung wird - auf einer zusätzlichen Ebene - im Medium des Bildnerischen dadurch radikalisiert, daß sich das Bild nicht allein dem Diskurs des Objektiven entzieht, sondern die Zeigbarkeit seines Bezugs auf Welt, Wirklichkeit u. ä. verweigert. Das Bild wird zum Vollzug seines Sich-der-Welt-Entziehens. Es läßt die Repräsentationen leerlaufen. Die Krise des Bildes wird zum paradigmatischen Bildtheoriemodell der Moderne: der stetigen, unhintergehbaren und ultimativen Ent-koppelung von Zeichen und Bedeutung1. Kunst repräsentiert nicht nur nicht mehr das Wirkliche, das Bild repräsentiert auch nicht mehr das Bild, sondern eine relationale Erfahrung in der Sukzessivität der Zeit. Die Intensivierung der Erfahrung sprengt den Reduktionismus des Kontemplativen. Malewitschs Acht rote Rechtecke (1915, Stede-lij k Museum Amsterdam) repräsentieren und symbolisieren nichts mehr außerhalb des durch ihre Syntax und die Konzeptualisierung des Titels angezeigten Elementarität des im Bild Sichtbaren. Gerade dadurch aber steht die Syntax nicht mehr für eine Semantik. Der Prozeß der Allegorese ist endgültig und folgenreich zerbrochen.

Es ergibt sich aus der reflexiven und gestalterischen Leistung der

1 Das gilt nicht im gestaltpsychologischen, wohl aber im bildtheoretischen Sinne. Die Forschungen von Koehler, Wertheimer u. a. sind davon nicht berührt. Aller-dings eignen der Gestaltpsychologie im Bereich der Kunsttheorie gravierende Schwächen, deren hauptsächlichste ist, die Bildaussage aus generellen Organisa-tionsformen des visuellen Sinnes abzuleiten, um auch den devianten Bildkonfigu-rationen gleichförmige Aussagemuster überzustülpen, die im übrigen allesamt aus einer harmonikalistischen Ästhetik, aus einer spezifischen Bild- und Geschmacks-theorie und keineswegs aus einer unverstellt zugänglichen Biologie visueller Ko-gnition herrühren. Diesen schwer erträglichen Zwiespalt belegt die Ambivalenz der Bücher Rudolf Arnheims zwischen dem wissenschaftlichen Kunst und Sehen, Ber-lin/ New York 1978 und den ordnungs- und geschmackspolitischen Anwendungen in Die Dynamik der architektonischen Form, Köln 1980, und Die Macht der Mitte, Köln 1983.

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modernen Kunst, ihrer Praxis und ihren Konzepten eine medien-theoretisch fundierte Perspektive auf die Analyse des Techno-Ima-ginären unterhalb der Neuheitsversprechen. Kulturgeschichte läßt sich typisieren nach den Hierarchien, die der Gebrauch der Sinne unter diesen bildet. Als Medien können diejenigen Größen gelten, die einem gegebenen Gebrauch der Sinne modellierend entgegentre-ten, um andere Dominanzgefüge vorzuschlagen. Die jeweilige Mar-ginalisierung von Erfahrungen rechnet zu den natürlichen Mecha-nismen der Kultur- als Mediengeschichte. Medienwirklichkeit ist eine Konstruktion, die als intensiver Selbst-Anschluß an Fremdbild-angebote beschrieben werden kann. Medien erzeugen und bestim-men Bild-Metaphysiken, ihre Orte und Geltungen: Als Selektion von Haltungen und Sachverhalten repräsentieren sie Reduktionen des Fremden auf das Eigene. Letztbegründung durch Eliminierung von Alternativen markiert den theologischen Brennpunkt der Me-dien: Herrschaft über Zeit-Ressourcen, symboltheoretische Verwal-tung selbsterzeugten Mangels. Theoretisches wie methodologisches Fazit: Jede intersubjektiv realisierte und extern vergegenständlichte Symbolisierung, deren modellgebende Zeichensysteme von der En-codierung der Signifikanten jederzeit nach kommunikationstheore-tischen Regeln unterschieden werden können, ist ein »Medium«. Darstellung bedeutet die jederzeit mögliche Unterscheidung zwi-schen Dargestelltem, Darstellung, Darstellen und Projektions-Flä-che des Darstellens. Alltagsästhetik wie Kunst situieren sich inner-halb visueller Kultur und symbolischem Handeln. Bildtheorie und Bilder gehören immer untrennbar zu Kontexten. Ihre Referenzsy-steme belegen nicht allein diachron einen historischen Wandel von der Symbolik des Heiligen zur halluzinogenen Erlebnisimmanenz des Techno-Imaginären, sondern auch eine strukturell-synchrone Entwicklung, die zu verstehen erst gelingt, wenn die vordergründi-gen, vermeintlich Gegenständen ablesbaren Trennungen von Werk und Diskurs aus einer gesamtkulturellen Perspektive überwunden worden sind.

Die »neuen Medien« wären ohne die Kunst der Moderne und das neuzeitliche Paradigma des identifizierenden Sehens im orthogona-len, mathematischen Raum nicht entstanden. Vieles spricht dafür, Medientheorie von der Kunstgeschichte und Kunsttheorie der Mo-derne her zu entwickeln. Korrekturen werden gewiß nicht nur graduell anzubringen sein. Das so gewonnene kritische Potential muß aber dringlich aktiviert werden gegen die zahlreichen, nurmehr schwach verhüllten, kaum mehr verschämten krypto-theologischen

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Entgrenzungsvisionen der die Medienanalyse der Gegenwart domi-nierenden Positionen von der Mathematik über die Kunst und den radikalen Konstruktivismus bis hin zu den zunehmend ästhetikgie-rigen Naturwissenschaften. Die Beweislast ist nicht nur umzukeh-ren, sondern mindestens wieder den einfachen, wenn auch keines-wegs einfältigen Kriterien kritischer Rationalität zu unterziehen: Wer religiöse Erweckungs-Sehnsüchte theoretisch verkleidet, der möge sich direkt theologisch rechtfertigen, ohne daß die Tarnung mit »Medientheorie« schon als Nobilitierung von Gegenwartsfähigkeit und vermeintlicher in-trend-Partizipation gelten kann. Der möge auch überlegen, ob er wirklich freiwilli g zur Karikatur einer längst im Kitsch zerfallenen romantisch-expressiven Erweckungsrhetorik werden will . Der Kult des Individuums ist längst an seinen externen Bedingungen zerbrochen: Wo alle bloß noch »ego« und »endo« stammeln, hebt sich alle Rede auf, weil keiner mehr zuhören oder zusehen mag, der nicht auch ein »ego« ist. Als solches aber will er ja reden. Die Wiederbelebung des Solipsismus im »Cyberspace« ist ebenso real wie irgendeine Vortäuschung. In Wirklichkeit aber ist sein Konzept durch noch nicht erledigte semantische Bezüge und Bedingungen genährt, die im übrigen alles andere denn medientheo-retisch beispielhaft sind.

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DI E AUTOREN

Karlheinz Barck, geb. 1934, Studium der Romanistik, Promotion 1964, 1966-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter eines Forschungsbereichs am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin, seit 1992 Projektleiter im Zentrum für Literaturforschung Berlin. Buchveröffentlichungen: Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwi-schen Aufklärung und Moderne (1993); Herausgeber von: Surrealis-mus in Paris 1919-1939 (1986, 2. Aufl. 1990); Mitherausgeber von: Funktionen der Literatur (1975), Künstlerische Avantgarde (1979), Literarische Widerspiegelung (1981), Aisthesis. Wahrnehmung heu-te oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (1990), Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe (in Vorbereitung).

Gottfried Boehm, geb. 1942, Studium der Kunstgeschichte, Philoso-phie und Germanistik, Promotion 1968, Habilitation 1974, 1975 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bochum, 1979 an der Universität Gießen, seit 1986 an der Universität Basel. Buchver-öffentlichungen: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit (1969), Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance (1985), Paul Cezanne. Montagne Sainte-Victoire (1988); Herausgeber von: Konrad Fiedler. Schriften zur Kunst (1971,2. Aufl. 1991), Was ist ein Bild? (1994); Mitherausgeber von: Seminar: Philosophische Herme-neutik (1976), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften (1978), Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Die Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart (1995).

Hermann Danuser, geb. 1946, Studium von Oboe und Klavier, der Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik, Promotion 1973, Habilitation 1982, seit 1982 Professor für Musikwissenschaft in Hannover, seit 1988 in Freiburg i. Br., seit 1993 an der Humboldt-Universität Berlin, seit 1992 Koordinator der Paul Sacher Stiftung Basel. Buchveröffentlichungen: Musikalische Prosa (1975), Die Mu-sik des 20. Jahrhunderts (1986), Gustav Mahler: Das Lied von der Erde (1986), Gustav Mahler und seine Zeit (1991); Herausgeber von: Gattungen der Musik und ihre Klassiker (1988), Rezeptionsästhetik

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350 DIE AUTOREN

und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft (1991), Musi-kalische Interpretation (1992), Vom Einfall zum Kunstwerk. Der Komposit ionsprozeß in der Musik des 20. Jahrhunderts (1993), Igor Strawinsky: Trois pieces pour quatuor ä cordes (1994); seit 1986 Mitherausgeber der Zeitschrift »Musiktheorie«, seit 1994 der »Berli-ner Musik Studien«.

Lorenz Dittmann, geb. 1928, Studium der Kunstgeschichte, Klassi-schen Archäologie und Philosophie, Promotion 1955, Habil i tation 1967, seit 1977 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Saarbrücken. Buchveröffentlichungen: Die Farbe bei Grünewald (1955), Stil - Symbol - Struktur. Studien zu Kategorien der Kunst-geschichte (1967), Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendlän-dischen Malerei (1967); Mitherausgeber der »Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft«.

Ferdinand Fellmann, geb. 1939, Studium der Philosophie, Anglistik und Romanistik, Promotion 1967, Habilitation 1973,1980 Professor für Philosophie an der Universität Münster, seit 1993 Gründungs-professor an der Technischen Universität Chemnitz-Zwickau. Buchveröffentlichungen: Scholastik und kosmologischc Reform (1971, 2. Auf. 1988), Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Ge-schichte (1976), Phänomenologie und Expressionismus (1982), Ge-lebtc Philosophie in Deutschland (1983), Phänomenologie als ästhe-tische Theorie (1989), Symbolischer Pragmatismus. Hermeneut ik nach Dilthey (1991), Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung (1993); Herausgeber von: Geschichte der Phi loso-phie im 19. Jahrhundert (1996).

Hans Ulrich Gumbrecht, geb. 1948, Studium der Romanistik, deut-schen Philologie, Philosophie und Soziologie, Promot ion 1971, Ha-bilitation 1974, 1975 Professor an der Universität Bochum, 1983 an der Universität Siegen, seit 1990 an der Stanford University, 1983-1985 Vizepräsident der »Deutschen Vereinigung für romanische Phi-lologie«. Buchveröffentlichungen: La actual ciencia literaria alemana (1971), Eine Geschichte der spanischen Literatur (1986); Making Sense in Lif e and Literature(1992), In 1926 -An Essay on Historical Simultaneity (1996); Mitherausgeber von: Stil. Geschichten und Funk tionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements (1986), Materialien der Kommunikation (1988), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche (1991).

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DIE AUTOREN 35 I

Ernst Wolfgang Orth, geb. 1936, Studium der Germanistik, Ge-schichte, Psychologie, Philosophie, Promotion 1965, seit 1970 Pro-fessor für Philosophie an der Universität Trier. Buchveröffentlichun-gen: Bedeutung, Sinn, Gegenstand. Studien zur Sprachphilosophie Edmund Husserls und Richard Hönigswalds (1967), Von der Er-kenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1996); Herausgeber von: Ernst Cassirer. Geist und Leben (1993); Mitherausgeber von: Ernst Cassirer. Symbol, Technik, Sprache (1985), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1988); seit 1975 Herausge-ber der Phänomenologischen Forschungen; seit 1992 Mitherausge-ber der Reihe »Studien und Materialien zum Neukantianismus«.

Robert Kudielka, geb. 1945, Studium der Philosophie, Klassischen Philologie, Germanistik und Kunstwissenschaft, Promotion 1977, 1967-1977 freiberuflicher Kunstkritiker, seit 1978 Professor für Äs-thetik und Theorie der Kunst an der Hochschule der Künste Berlin. Buchveröffentlichungen: Urteil und Eros. Erörterungen zu Kants Kriti k der Urteilskraft (1977), Phillip King (1981), Bridget Riley (1992), Herman Bachmann. Letzte Bilder (1996), Farbe in der Ma-lerei (1998); Herausgeber von: Bridget Riley. Dialogues on Art (1995).

Jens Kulenkampff, geb. 1946, Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, Promotion 1973, 1984 Professor für Philoso-phie an der Universität Duisburg, seit 1996 an der Universität Erlan-gen. Buchveröffentlichungen: Kants Logik des ästhetischen Urteils (1978, 2. Aufl. 1994), David Hume (1989); Herausgeber von: Mate-rialien zu Kants »Kritik der Urteilskraft« (1974), David Hume: Abriß eines neuen Buches. Ein Traktat über die menschliche Natur (1980), David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1984), David Hume: Vom schwachen Trost der Philoso-phie (1990).

Heinz Paetzold, geb. 1941, Promotion 1972, Habilitation 1978, lehrt an der Universität Hamburg, seit 1992 Professor und Head of the Department of Theory an der Jan Van Eyck Akademie in Maastricht. Buchveröffentlichungen: Neomarxistische Ästhetik (1974), Ästhe-tik des deutschen Idealismus (1983), Ästhetik der neueren Moderne (1990), Profile der Ästhetik in der Postmoderne (1990), Ernst Cas-sirer zur Einführung (1993), Die Realität der symbolischen Formen

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(1994), The Discource of the Postmodern and Discourse of the Avant-Garde (1994), Ernst Cassirer-Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie (1995); Herausgeber von: Modelle für eine semiotische Rekonstruktion der Geschichte der Ästhetik (1987), seit 1995 Herausgeber von: »Issues in Contemporary Culture and Aesthetics«; Mitherausgeber von: Ornament und Geschichte (1996).

Hans Ulrich Reck, geb. 1953, Studium der Philosophie, Kunstge-schichte, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und des Kom-munikationsdesigns, Promotion 1989, Habilitation 1991, 1992 Pro-fessor für Kommunikationstheorie an der Hochschule für ange-wandte Kunst in Wien, seit 1995 Professor für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Buchveröffentlichungen: Zeichen. Zeit. Symbolzerfall / Philoso-phisch-poetische Streifzüge durch drei imaginäre Landschaften (1986), Grenzziehungen. Ästhetiken in aktuellen Kunsttheorien (1991); Herausgeber von: Kanalarbeit. Medienstrategien im Kultur-wandel (1988), seit 1991 Herausgeber mehrerer Einzelhefte der Zeit-schrift »Kunstforum international«; Mitherausgeber von: Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie (1986).

Birgit Recki, geb. 1954, Studium der Philosophie und Soziologie, Promotion 1984, Habilitation 1995, seit 1997 Professorin für Philo-sophie an der Universität Hamburg. Buchveröffentlichungen: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (1988), Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischen Gefühlen und praktischer Vernunft bei Kant (1997).

Claus-Artur Scheier, geb. 1942, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Promotionen in Medizin und Philosophie, Habi-litation 1979, seit 1982 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig. Buchveröffentlichungen: Die Selbstent-faltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philo-sophie. Von Descartes zu Hegel (1973), Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Architektonik des erschei-nenden Wissens (1980, 2. Aufl . 1986), Kierkegaards Ärgernis. Die Logik der Faktizität in den Philosophischen Bissen (1983), Nietz-sches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die Seele (1985),

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Wittgensteins Kristall. Ein Satzkommentar zur »Logisch-philoso-phischen Abhandlung« (1991); Herausgeber von: Friedrich Nietz-sche. Ecce auctor. Die Vorreden von 1886 (1990).

Karl-Heinz Schwabe, geb. 1940, Studium der Philosophie, Kunst-und Literaturgeschichte, Semiotik, Mathematik und Kybernetik, Promotion 1971, Habilitation 1981,1987-1995 Professor für Ästhe-tik an der Universität Leipzig, seit 1994 Forschungsarbeiten an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, seit 1993 Vizepräsident der »Deutschen Gesellschaft für Ästhetik«. Herausgeber von: Der gesel-lige Enthusiast. Edition ausgewählter Essays Shaftesburys (1990); Mitherausgeber von: Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zu Kants »Kritik der Urteilskraft« (1993).

Martin Seel, geb. 1954, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte, Promotion 1984, Habilitation 1990, 1992 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, seit 1995 an der Justus-Liebig Universität Gießen. Buchveröffentlichungen: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität (1985), Eine Ästhetik der Natur (1991), Versuch über die Form des Glücks (1995), Ethisch-ästhetische Studien (1996).

Wolf gang Welsch, geb. 1946, Studium der Philosophie, Kunstge-schichte, Psychologie und Archäologie, Promotion 1974, Habilita-tion 1982, 1988 Professor für Philosophie an der Universität Bam-berg, seit 1993 an der Universität Magdeburg, 1992 Max-Planck-Forschungspreis. Buchveröffentlichungen: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre (1987), Unsere postmoderne Moderne (1987, 4. Aufl . 1993), Postmoderne. Plurali-tat als ethischer und politischer Wert (1988), Ästhetisches Denken (1990, 4. Aufl. 1996), Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft (1995, 2. Aufl . 1996); Herausgeber von: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Post-moderne-Diskussion (1989, 2. Aufl . 1994), Die Aktualität des Äs-thetischen (1993); Mitherausgeber von: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Francois Lyotard (1991).

Lambert Wiesing, geb. 1963, Studium der Philosophie, Kunstge-schichte und Archäologie, Promotion 1989, Habilitation 1996, seit 1993 Vizepräsident der »Deutschen Gesellschaft für Ästhetik«, ver-trit t zur Zeit eine Professur für Theoretische Philosophie an der

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Universität Jena. Buchveröffentlichungen: Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetische Lebensformen (1991), Philosophische Ästhetik (1992), Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik (1997).

Bayerische Staatsbibliothek

München