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Ulrich Enderwitz

Reichtum und ReligionDer religiöse Kult

Ça ira

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Werkverzeichnis

REICHTUM UND RELIGIONVier Bücher in sieben Bänden

Buch 1: Der Mythos vom Heros (1990)Buch 2: Der religiöse Kult (1991)Buch 3: Die Herrschaft des Wesens

Band 1: Das Heil im Nichts (1996)Band 2: Die Polis (1998)Band 3: Der Konkurs der alten Welt (2001)Band 4: Die Krise des Reichtums (2005)

KONSUM, TERROR UND GESELLSCHAFTSKRITIK (2004)Eine tour d’horizon

HERRSCHAFT, WERT, MARKT (2004)Zur Genese des kommerziellen Systems

DIE SEXUALISIERUNG DER GESCHLECHTER (1999)Eine Übung in negativer Anthropologie

DER KONSUMENT ALS IDEOLOGE (1994)200 Jahre deutsche Intelligenz

ANTISEMITISMUS UND VOLKSSTAAT (1998)Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung

DIE MEDIEN UND IHRE INFORMATIONEin Traktat (1996)

TOTALE REKLAME (1986)Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft

DIE REPUBLIK FRISST IHRE KINDER (1986)Hochschulreform und Studetenbewegungin der Bundesrepublik Deutschland

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ulrich Enderwitz:Reichtum und Religion [vier Bücher in sieben Bänden] / UlrichEnderwitz. - Freiburg i. Breisgau: Ça iraDer religiöse KultISBN: 3-924627-27-4

c© Ça ira, Freiburg i. Breisgau, 1991Postfach 27379002 FreiburgSatz: MK Druck BerlinUmschlaggestaltung: HoyerdesignDruck: Schwarzdruck Berlin

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

. Totenkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

. Theokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

. Opferkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

. Auferstehungsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Exkurs: Schamanismus oder die Auferstehung des Fleisches . . . . . 232

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Vorbemerkung

Dies ist der zweite Teil einer vierteilig angelegten Studie über den Zusam-menhang von Reichtumbildung und Religion. Der erste Teil behandeltedie soziale Identitätskrise, in die sich die frühe menschliche Gesellschaftdurch die Entstehung von Reichtum gestürzt sieht. Der Mythos in seinerGrundform als Heroologie wurde als eine politische Strategie interpre-tiert, durch die in einem ingeniösen Zirkel der zentrale Krisenfaktor,das durch die Reichtumbildung als ontologische Alternative heraufbe-schworene andere Subjekt, in einen am Ende sogar noch sich selber ausder Welt schaffenden heroischen Krisenbewältiger verwandelt wird. DieVereitelung jener zyklisch wiederholten Krisenbewältigung durch dieüberhandnehmende Produktivität der Stammesgemeinschaft erzwingtden Übergang von der Politik des heroologischen Mythos zur Prozedurder opferkultlichen Religion, die das zentrale Thema dieses zweiten Teilsist.

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. Totenkult

Dank der wachsenden Produktivität des Stammes wird das Fest zu einer demArbeitsleben unabschließbar parallelen festen Einrichtung, womit der sekundäreGewinn des Festes, die in regelmäßigen Abständen erreichte Vernichtung desReichtums und Befreiung vom Heros, ein für allemal verloren geht.

Aus dem in der habituellen Gestalt des anderen Seins ex improviso desReichtums mythologisch kurzgeschlossenen Zirkel einer Problemlösungdurch das uminterpretierte Problem selbst, aus der in der traditionellenFigur des neuen Anfangs ad hoc des Überflusses heroologisch eingeschlif-fenen Wiederholung einer Krisenbewältigung durch die umfunktionierteKrise als solche scheint kein Entkommen möglich. Tatsächlich gäbe esauch keinen Ausweg aus dem Wiederholungsprozeß, bliebe der ihn aus-lösende Umstand sich gleich, der ihn treibende Faktor konstant. Genaudas aber ist nicht der Fall. Jener gesellschaftliche Reichtum nämlich, derdas Problem des unbedingt anderen Seins für die Stammessubjekte her-aufbeschwört und um den sich deshalb auch alle Problemlösung wesent-lich dreht, jener gemeinschaftliche Überfluß, der dem Stamm die Krisedes absolut neuen Anfangs beschert und auf den sich alle Krisenbewälti-gung deshalb auch zwangsläufig richtet, setzt ungeachtet der zirkulärenZäsur, der er verfällt, sein quantitatives Wachstum unaufhaltsam fort,nimmt trotz des repetitiven Rückschlags, den er erleidet, an mengenmäßi-gem Umfang fortlaufend zu. Und zwar wächst er deshalb unaufhaltsaman, weil der als Quell der Reichtumsbildung fungierende Arbeitsprozeßdes Stammes, der ja immer aufs neue in Gang kommt, mit seiner selbst-tätigen Tendenz zur progressiven Perfektionierung der ihn stiftendenfunktionellen Differenzierung und zur unaufhörlichen Intensivierung derihn bildenden kooperativen Komplexität zunehmend an Effektivität und

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Erzeugungskraft gewinnt. Jedesmal, wenn im schließlichen Resultat dervon den Stammessubjekten inaugurierten mythologischen Uminterpreta-tionsveranstaltung der Reichtum durch eben das problematische Subjektzugrunde gerichtet ist, das er selber heraufbeschworen hat, der Überflußeben der krisenhaften Instanz zum Opfer gefallen ist, die er selber akuthat werden lassen, können die in statu quo ante restaurierten und nämlichzur einfachen Sichselbstgleichheit einer reichtumlosen Selbsterhaltungs-absicht zurückgekehrten Stammessubjekte ihren auf nichts als auf dieeigene Subsistenz gemünzten früheren Arbeitsprozeß wiederaufnehmen.Aber sooft sie das tun, sooft sie ihre in reiner Reproduktionsabsicht be-triebene Produktion abermals organisieren, sooft werden die im arbeits-teiligen Charakter ihrer Arbeit beschlossenen produktivitätssteigerndenTendenzen, die dem kooperativen System ihrer Produktion innewohnen-den wachstumsfördernden Impulse wieder wirksam und führen, allereinfachen Reproduktion zum Hohn, nicht bloß zu neuerlichem Reich-tum, sondern zur Hervorbringung von Reichtum in immer vergrößerterMenge, zur Erzeugung von Überfluß in stets vermehrtem Umfang. Jenerim System von Arbeitsteilung und Produktionsgemeinschaft angelegtewachstumsfördernd-prduktivitätssteigernde Mechanismus, der bereitsverantwortlich ist für den Übergang von reinen Subsistenzmitteln inschieren Reichtum, den Umschlag von einfachen Reproduktionsgütern ingediegenen Überfluß, behält seine Wirksamkeit auch auf der Ebene derüberflußerzeugung selbst und sorgt dafür, daß der als restriktiver Bann-kreis um den Überfluß geschlagene mythologische Zirkel ebensowohl dieGestalt einer Spirale annimmt, daß der in einer ständigen Niederschla-gung des Reichtums resultierende heroologische Wiederholungsprozeßebensowohl den Charakter einer fortwährend erweiterten Reproduktionan den Tag legt, kurz, daß das als qualitative Stagnation ersichtlicheAuf-der-Stelle-Treten im Verhältnis der Stammessubjekte zum Reichtumeine als quantitative Progression begreifliche Stufenleiter in den demReichtum eigenen Proportionen nicht nur nicht ausschließt, sondern gera-dezu zwangsläufig impliziert. Und wie jener Mechanismus bereits einmalzu einem hinter der Maske mengenmäßiger Zunahme verborgenen quali-tativen Sprung, eben zum Übergang von Subsistenzmitteln in Reichtum,geführt hat, so treibt er nun auch den kraft seiner entstandenen Reichtumselbst unter dem Deckmantel bloßen quantitativen Wachstums einer

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abermaligen qualitativen Veränderung, einem erneuten wesentlichenWechsel in Funktion und Bedeutung entgegen.

Zwar hat anfangs, was jener Mechanismus bewirkt, noch keineswegsdas Ansehen einer qualitativen Veränderung der Situation und vielmehrbloß den Anschein einer wachsenden Erschwerung der vom anderenSubjekt in gewohnter Manier erfüllten mythologischen Problemlösungs-aufgabe und einer zunehmenden Beanspruchung der nach altem Mustervon ihm ausgeübten heroologischen Konflikbewältigungsfunktion. Indem Maß, wie kraft jenes Mechanismus die Menge des produziertenReichtums größer wird, wird es für das andere Subjekt schwieriger, ingewohnter kursorisch-festlicher Manier dieser Reichtumsmenge Herrzu werden, bereitet es ihm größere Anstrengung, nach altem proteisch-verschwenderischem Muster diesen umfangreichen Überfluß aus derWelt zu schaffen. Die in der Konsequenz seiner archaisch-kursorischenReaffirmationstätigkeit und paradigmatisch-proteischen Reproduktions-leistung jenem anderen Subjekt in Form des Festes übertragene ver-schwenderische Beseitigung des Reichtums und extinktive Vergeudungdes Überflusses nimmt also für alle daran Beteiligten, speziell aber fürden mit der Aufgabe betrauten Hauptbetroffenen selbst, einen immeranspruchsvolleren, kräftezehrenderen, aufreibenderen Charakter an undgewinnt damit objektiv zunehmend gewaltsame, exzessive, orgiastischeZüge. Und zwar wird die Festveranstaltung ausschweifender im Sinnenicht etwa nur ihrer qualitativen Intensivierung, sondern auch und vorallem ihrer quantitativen Extensivierung. Je umfangreicher der Überflußwird, um so weniger läßt sich auch bei angestrengtester Verschwen-dung verhindern, daß die Beseitigung des Reichtums mehr und mehrDauer beansprucht, daß also der Zeitpunkt des Festes zum festlichenZeitraum, der ereignishafte Augenblick zum begebnishaften Vorgangexpandiert. Immer länger braucht der Herr des Festes, der Heros, um inaufopferungsvoll angestrengtester Verschwendungssucht mit dem ange-häuften Reichtum fertig zu werden, immer mehr Zeit kostet es ihn, imselbstzerstörerisch orgiastischen Konsumtaumel mit dem angesammeltenÜberfluß zu Rande zu kommen. In der Tat tritt früher oder später derZeitpunkt ein, wo ein einziges Fest gar nicht mehr genügt, des Reich-tums Herr zu werden, ein Festtermin allein gar nicht mehr ausreicht, denÜberfluß aus der Welt zu schaffen. Es kommt der Punkt, wo physische

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Erschöpfung, die Begrenztheit ihrer Aufnahmefähigkeit und Vertilgungs-kraft den Heros und seine Helfer zwingen, Erholungs- und Ruhepauseneinzulegen, um mit frischem Mut und neuer Wut den Faden des Fes-tes wiederaufzunehmen, die prolongierte Orgie fortsetzen zu können.Aus dem einen Fest wird so eine Reihe von Festen, aus dem festlichenEreignis, dem als Festtag fixierten Zeitpunkt eine Kette festlicher Bege-benheiten, eine über Tage, Wochen sich erstreckende Festperiode.

Mit dieser quantitativ bedingten Verwandlung aus einem einmaligenEreignis in eine Abfolge von Geschehnissen, aus einem punktuellen Vor-fall in einen seriellen Vorgang, beginnt das Fest des Heros seine Stellungund Bedeutung qualitativ zu verändern: Es wird aus einer zwischen-zeitlichen Unterbrechung des Stammeslebens zu dessen fortdauernderBegleiterscheinung, aus einer die Stammesroutine ebenso flüchtig er-schütternden wie fix akzentuierenden Zäsur zu einer sie ebenso kontra-punktisch untermalenden wie kontrafaktisch parallelisierenden Aktion.In dem Maß, wie die Festfolge sich verlängert, wird es den Stammessub-jekten immer unmöglicher, in eigener Person die dem anderen Subjektzugemutete mythologische Fasson zu wahren, von sich aus in dem ihmoktroyierten heroologischen Rahmen zu bleiben und also in der aus kom-plizenhafter Tischgenossenteilhabe und schadenfroher Zuschauerdistanzgemischten Rolle des Chors, die sie sich selber zugedacht haben, biszum Ende des Festes auszuharren, will heißen: bis zur restlosen Vertil-gung des Reichtums und zur darin einbegriffenen Verflüchtigung desmythologischen Vertilgers selbst, bis zur völligen Verschwendung desÜberflusses und zum daraus folgenden Verschwinden des heroologi-schen Verschwenders als solchen dabeizusein. Den saisonalen Anfor-derungen ihrer Arbeitsprozesse unterworfen und angewiesen auf dienatürlichen Gegebenheiten ihres Produktionszusammenhangs, sehensich die Stammessubjekte gezwungen, den nicht enden wollenden Fest-lichkeiten vorzeitig den Rücken zu kehren, um sich wieder den für dieeigene Subsistenz erforderlichen Arbeiten und produktiven Tätigkeitenzuzuwenden. Den Produktionsbedingungen sich fügend, verlassen siedas Fest, das nicht aufhören will, und überlassen es dem Herrn des Festes,mit der ihm überantworteten Reichtumsfülle auf seine besondere Artkursorisch andauernden Genusses alleine zu Rande zu kommen und aufseine charakteristische Weise proteisch fortlaufenden Wohllebens selberfertig zu werden. Alleine muß er des Reichtums Herr werden, selber den

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Überfluß bewältigen – was nicht heißen soll, daß die Stammessubjektenicht bereit wären, den einen oder anderen aus ihrer Mitte bei ihm alsFestgenossen zurückzulassen, ihm als orgiastischen Helfershelfer an dieSeite zu stellen. Schließlich liegt die Beseitigung des Überflusses in ihremureigenen Interesse, und sie haben allen nur denkbaren Grund, demHeros bei seiner orgiastischen Aufräumarbeit unter die Arme zu grei-fen. Aber wie viele Konsorten sie ihm aus ihrer Mitte auch zugestehen,wie viele ihresgleichen sie auch an ihn delegieren mögen, nichts ändertsich dadurch an der einschneidenden Tatsache, daß die Wege des demFest als seinem privaten Vergnügen frönenden Heros einerseits und deswährenddessen der Arbeit als allen gemeinsamer Aufgabe dienendenStammes andererseits sich zu trennen beginnen und daß, was vorher inder Komplexität und wiederkehrenden Dramatik einer Arbeitsprozeßund festlichen Augenblick synthetisierenden Handlungsfolge systema-tisch vereint war und historiologisch zusammenhing, jetzt vielmehr indie Komplementarität und andauernde Epik einer heroisches Wohllebenund Arbeitsleben des Stammes synchronisierenden Parallelaktion topischzerfällt und soziologisch auseinandertritt.

Und indem so aber die zuvor in einer einheitlich zirkulären Bewegungbegriffenen beiden Momente der Arbeit und des Festes, des kontinuierli-chen Prozesses und der diskreten Zäsur, dank der prozeßbedingten Aus-dehnung der Zäsur und der durch die Ausdehnung der Zäsur bedingtenvorzeitigen Wiederaufnahme des Prozesses auseinanderzufallen und zueinem Verhältnis der Parallelität und Gleichzeitigkeit sich gegeneinanderzu verselbständigen beginnen, tut eben dies Auseinanderfallen ein üb-riges, die Parallelisierung der beiden Momente vollends durchzusetzen,wird eben diese Verselbständigung zum treibenden Motor einer Komplet-tierung der Synchronizität von Arbeit und Fest. Vorzeitig zurück an ihrefür die Reproduktion des Stammes unentbehrliche Produktion kehren dieStammessubjekte ja nur, um auf Grund der arbeitsteiligen Effektivität undkooperativen Produktivität ihrer Arbeit immer noch weiteren Überflußzu schaffen, mithin aber jene Schwierigkeiten immer noch zu vergrößern,jene Probleme immer weiter zu verschärfen, die mit der festlichen Bewäl-tigung des hervorgebrachten Überflusses der Herr des Festes ja bereits hatund die schuld sind an der im vorzeitigen Rückzug der Stammessubjektevom Fest manifesten zunehmenden Überschneidung und Gleichzeitigkeit

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von Festperiode und Arbeitszeit, von heroischem Vollbringen und Stam-mesroutine. Jedesmal, wenn die Stammessubjekte dem Fest den Rückenkehren, den Fortgang und Abschluß der Festlichkeiten dem Heros undseinem ausgewählten Kreis von Festgenossen überlassen und sich selberwieder an die Arbeit machen, sorgen sie tendenziell dafür, daß in derKonsequenz ihres Tuns der Heros beim nächsten Mal noch später mitdem Überfluß fertig wird und dementsprechend sie selber noch früherden Heros im Stich lassen, noch vorzeitiger vom Fest Abschied nehmenmüssen. Was als kleine Verlängerung des festlichen Augenblicks, alskleine Verzögerung beim Wechsel vom festlichen Ausnahmezustandzum Arbeitsalltag begonnen hat, wächst sich so allmählich zu einer inunabsehbarer Parallelität fortlaufenden Dauererscheinung aus, zur festenEinrichtung einer den Alltag des Arbeitslebens als permanenter Festtagbegleitenden eigenen Lebensform. Unvermeidlich kommt der Punkt, andem alle Hoffnung unwiederbringlich schwindet, daß der Heros mit derihm überlassenen Reichtumsmenge noch jemals wieder zu Rande kommt,und an dem deshalb die ursprüngliche, zwischen die Arbeitsprozesse ein-geschaltete, episodisch begrenzte, generelle Verschwendungsaktion allerunter Führung des Heros endgültig in eine neben den Arbeitsprozessenherlaufende, episch unbegrenzte, spezielle Genußtätigkeit des Heros imBunde mit wenigen übergeht, der kurze Festtaumel des ganzen Stammesim Gefolge des Heros unwiederbringlich in das dauernde Wohlleben desHeros und seines engsten Gefolges sich transformiert. Und mag selbst imKontext des natürlichen Rhythmus des Arbeitsprozesses, des zirkulärenCharakters der Produktion, die Gewohnheit einer allgemeinen Festzeitsich erhalten, eine zwischenzeitliche Teilhabe des Stammes am Genuß desHeros in Übung bleiben – sowenig diese habituelle Festzeit hiernach mehrist als eine vorübergehende Ausdehnung des fortlaufenden Wohllebensder wenigen auf die vielen, sowenig kann sie noch ihre vorherige Auf-gabe einer alles neu machenden vollständigen Reichtumserledigung undÜberflußbeseitigung wahrnehmen, mithin ihre frühere Funktion einerimmer wieder von vorne anzufangen ermöglichenden entscheidendenVerlaufszäsur und entschiedenen Prozeßreduktion erfüllen.

In der Tat ist damit der Punkt erreicht, an dem die aus arbeitsteiligerEffektivität und kooperativer Produktivität konsequierende quantitativeVermehrung des Überflusses in einer qualitativen Veränderung der gan-zen mythologisch inszenierten Situation, einer maßstäblichen Neuord-nung der gesamten heroologisch eingespielten Konstellation resultiert.

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Indem dank der Tätigkeit der Stammessubjekte der dem Heros überlas-sene Reichtum zu einem unverwüstlich festen Bestandteil der Stammes-szene wird und das dem Heros aufgetragene festliche Verschwenden zueiner unverbrüchlich ständigen Begleiterscheinung des Stammeslebensavanciert, verliert das mythologische Verfahren augenscheinlich seineihm oben attestierte ingeniös-effektive Krisenbewältigungskapazität.Genauer gesagt büßt es das ein, was im Blick auf seine allgemeine Ab-wehrstrategie, sein Krisenmanagement überhaupt, als ein sekundärerErfolg und zusätzlicher Gewinn bezeichnet wurde: jene beschriebeneLeistung nämlich einer Problemlösung nicht bloß mit Mitteln, sondernzuletzt auch auf Kosten des Problems selbst, einer Krisenbewältigungnicht bloß dank funktionaler Inanspruchnahme, sondern schließlich mehrnoch kraft realer Selbstpreisgabe der Krise als solcher – jene dem kri-tisch neuen Subjekt eingegebene Determination also, in der Konsequenzseiner ihm mythologisch aufgegebenen stammesbezogenen Reaffirma-tionstätigkeit sich selber mitsamt dem Reichtum, der es ins Leben ruft,aus der Welt zu schaffen, im Vollzug seiner ihm heroologisch vorge-gebenen stammesspezifischen Rekonstruktionsarbeit sich selber nebstdem Überfluß, der es in Szene setzt, aus dem Felde zu schlagen. Odervielmehr geht nicht eigentlich die diese sekundäre Leistung betreffen-de Determination, sondern bloß die Fähigkeit dazu verloren. Nach wievor ist der Heros im Kreis seiner Festgenossen nach Kräften bemüht,in der besagten festlich-verschwenderischen Weise mit dem Reichtumzu Rande zu kommen und sich mithin die eigene Existenzgrundlage zuverschlagen. Weil er indes der Reichtumsmenge nicht mehr Herr wird,das überflußquantum nicht mehr zu bewältigen vermag, verliert er dieFähigkeit zur Durchsetzung dieser seiner fortdauernden Determination,will heißen zur Herstellung jenes periodisch wiederkehrenden früherenZustands, der ihm ermöglichte, in der Bodenlosigkeit des selbstevoziertenNichts an Reichtum zu versinken, im Vakuum des selbstverschuldetenMangels an Überfluß zu verschwinden. Ein und derselbe kursorischeÜberschwang und orgiastische Eifer, der ihn zuvor dazu brachte, sichdurch Erledigung des Reichtums seine eigene Grube zu graben, dientihm nun, da der Nachschub allzu reichlich und unaufhörlich fließt, zunichts anderem mehr als dazu, sich im gemachten Nest des Reichtumsimmer breiter zu machen, an das vom Überfluß gewährte Wohllebenimmer detaillierter zu gewöhnen. Und ein und derselbe Mechanismus,

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der zuvor in regelmäßigen Abständen den Stammessubjekten zur Wieder-herstellung eines problemlos sichselbstgleichen Daseins verhalf, verliertsomit angesichts der Reichtumsfülle die reiterative Kraft und restaurativeWirkung und bescheidet sich damit, das als solches gelöste Problem denStammessubjekten als ein gelöstes dauerhaft vorzuführen, die als solchebewältigte Krise ihnen als die bewältigte permanent vor Augen zu halten.

Wohlgemerkt, bloß die sekundäre Leistung, der zusätzliche Gewinnbei der Krisenbewältigung, geht verloren, keineswegs aber ihre primäreFunktion und ihr hauptsächlicher Erfolg. Daß im Gegenteil dieser haupt-sächliche Erfolg voll erhalten bleibt, dafür ist gerade die die sekundäreLeistung durchkreuzende Kontinuierlichkeit des mythologischen Fes-tes, die den zusätzlichen Gewinn vereitelnde Permanenz des heroischenWohllebens der beste Beweis. Die primäre Funktion der mythologischenProblemlösung besteht ja darin, das ex improviso des Reichtums er-scheinende andere Subjekt seiner das reichtumbezogene Stammesdaseinder Irrealität überführenden Unbedingtheit eines in integrum restituier-ten anteriorischen Seins zu entkleiden, es seiner die überflußorientierteStammesperspektive als Phantasma decouvrierenden Absolutheit einesin pristinum reduzierten apriorischen Anfangs zu berauben und es ineinen topisch relativen Zusammenhang mit eben diesem, von Irrealisie-rung bedrohten, reichtumbezogenen Stammesdasein zu bringen, es in einsystematisch bestimmtes Verhältnis zu dieser, der Gefahr der Phantasma-gorisierung ausgesetzten, überflußorientierten Stammesperspektive zusetzen. Kann es einen besseren Beweis für den Erfolg der solchermaßenprimären Absicht, eine zuverlässigere Garantie für das Gelingen desdergestalt hauptsächlichen Vorhabens geben als diese im Anschluß anseine kursorische Reaffirmation des Stammesprozesses das andere Sub-jekt dauerhaft okkupierende Beschäftigung mit dem Reichtum, diese zumAbschluß seiner proteischen Rekapitulation der Stammesorganisation esunverbrüchlich gefangennehmende Fixierung an den Überfluß? Wenndas andere Subjekt im Anschluß an seine mythologische Reaffirmati-on des Stammesprozesses sich dauerhaft auf den Reichtum als auf daszur festen Einrichtung konsumtiven Genusses entfaltete Produkt desProzesses einläßt, wenn es sich zum Abschluß seiner heroologischenRekapitulation der Stammesorganisation unabsehbar auf den Überflußals auf die zum unverbrüchlichen Statusquo verschwenderischen Wohlle-bens avancierte Frucht der Organisation einstellt, so ist damit dauerhaft

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die ursprünglich von ihm ausgehende Gefahr einer ex anteriori unbeding-ten Irrealisierung der Stammessphäre gebannt. Mag indes diese mit derEntfaltung des Reichtums zur Dauererscheinung und der Erhebung desFestes zur festen Einrichtung einhergehende unverbrüchliche Sicherstel-lung der primären Funktion objektiv noch so vorteilhaft sein – über denzugleich damit einhergehenden Verlust jener sekundären Leistung desMythos die Stammessubjekte hinwegzutrösten vermag sie schwerlich!Zu sehr gewöhnt haben sich die Stammessubjekte an jene sekundäreLeistung, daß das andere Subjekt in der Konsequenz seiner mythologischproblemlösenden Hinwendung auf den Reichtum sich durch Beseitigungdes letzteren selber aus dem Weg räumt, zu sehr ans Herz gewachsen istihnen jener zusätzliche Gewinn, daß es im Effekt seiner heroologisch kri-senbewältigenden Einstellung auf den Überfluß sich durch Aufzehrungdes letzteren selber aus der Welt schafft, als daß die Abschaffung jenerLeistung ihnen nicht als ein schmerzlicher Verlust erscheinen müßte. Wiesehr nämlich auch die Priorität, die die Stammessubjekte kraft mytholo-gischer Uminterpretationsveranstaltung dem anderen Subjekt in bezugauf den Reichtum zugestehen, das Privileg, das sie ihm dank heroolo-gischer Revisionsverhandlung in Ansehung des Überflusses einräumen,im Vergleich mit der die ganze Stammessphäre unbedingt revozierendenanteriorischen Indifferenz, der die gesamte Stammesperspektive absolutannullierenden apriorischen Negativität, die es andernfalls an den Taglegt, das verschwindend geringere Übel ist – ein Übel bleibt dies demanderen Subjekt eingeräumte Privileg doch allemal, ein Unlust erregen-des Verhältnis, das per modum jener beschriebenen sekundären Leistungabgetan und erledigt zu finden, die Stammessubjekte unvermeidlich mitBefriedigung erfüllen muß. Wie sehr auch dies, daß die Stammessubjektejenem anderen Subjekt im Zuge seiner heroologischen Umfunktionierungden erzeugten Überfluß als sein Eigen überlassen müssen, im Vergleichmit der radikalen Bedrohung, die ohne solche Umfunktionierung dasandere Subjekt für das ganze reichtumbezogene Stammesleben bedeutet,ein unwesentliches Manko und vernachlässigenswertes Ärgernis darstellt– es bleibt nichtsdestoweniger ein Ärgernis, das in der beschriebenenund ebenso bei- wie zwangsläufigen Weise aus dem Weg geräumt bezie-hungsweise aus der Welt geschafft zu sehen, ihnen eine durch nichts zuersetzende Genugtuung bereiten muß.

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Durch den Verlust des sekundären Gewinns des Festes wird der primäre Erfolgder mythologischen Veranstaltung, die festliche Einbindung des anderen Sub-jekts in die gesellschaftliche Reichtumsperspektive, für die Stammessubjekte zuetwas so unverbrüchlich Verbürgtem, daß sie die Gefahr, die dadurch gebanntwird, überhaupt aus den Augen verlieren und anfangen, den Preis, den sie fürdie Integration des anderen Subjekts zahlen müssen: das diesem zugestandenePrivileg auf den Reichtum, als sinnlose Konzession und unerträgliche Last zuempfinden.

Tatsächlich aber und schlimmer noch verhält es sich so, daß die demanderen Subjekt eingeräumte Priorität auf den Reichtum ein Ärgernisfür die Stammessubjekte nicht einfach nur bleibt, sondern mit dem Ver-lust jener sekundären Leistung, mit dem Verschwinden jenes aus demFest zu ziehenden zusätzlichen Gewinns eigentlich erst richtig wird.Jene sekundäre Leistung einer festlich rückhaltlosen Verschwendungdes Reichtums und orgiastisch restlosen Konsumtion des Überflussesist es ja, die, indem sie mit der Reichtumsbildung immer wieder vonvorne anzufangen und neu einzusetzen nötigt, auch immer wieder die eximproviso des Reichtums im anderen Subjekt Gestalt werdende schreck-liche Gefahr provoziert, deren Bewältigung und Überwindung der demanderen Subjekt unter mythologischen Bedingungen zugestandene Prio-ritätsanspruch auf den Reichtum erst einmal und vor allem dient. Jenesekundäre Leistung ist es, mit anderen Worten, die dafür sorgt, daß beiden Stammessubjekten das Bewußtsein der von seiten des anderen Sub-jekts ursprünglich zu gewärtigenden unbedingten Irrealisierung erhalten,die Anschauung der von ihm her uranfänglich zu befürchtenden absolu-ten Phantasmagorisierung lebendig bleibt, die zu verhindern, die primäreund in der Tat entscheidende Funktion des Mythos ist. Kommt kraftder durch die Effektivität der Arbeit heraufbeschworenen Kontinuitätdes Überflusses jene sekundäre Leistung zum Erliegen, so bedeutet dasnolens volens zugleich das Aufhören der periodischen Wiederkehr dieserursprünglich vom anderen Subjekt ausgehenden Irrealisierungsgefahr,das Ende der ständigen Wiederholung dieser uranfänglich von ihm aus-strahlenden Phantasmagorisierungsdrohung. Indem das Schwelgen desanderen Subjekts im Reichtum zu einer dem Stammesprozeß parallelen,unabsehbaren Dauererscheinung, sein Leben im Überfluß zu einer demStammesdasein komplementären, unverbrüchlich festen Einrichtung

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wird, verwandelt sich die im anderen Subjekt gelegene uranfänglicheBedrohung aus einer ständig wiederkehrenden, mythologisch zu meis-ternden Herausforderung in ein unwiederbringlich erledigtes, historischbestandenes Abenteuer, aus einer ein ums andere Mal sich wiederholen-den, heroologisch zu behebenden Not in eine ein für allemal bewältigte,archaisch vergangene Krise. Das heißt aber, diese ursprünglich immer neuauftretende Gefahr tritt zusammen mit dem mythologischen Verfahren,das ihr zu begegnen bestimmt war, unaufhaltsam in den Hintergrundeiner zunehmend ferneren Vergangenheit zurück, diese uranfänglichimmer wieder akute Bedrohung verliert und verbirgt sich mitsamt demheroologischen Vorgehen, das sie zu bannen diente, unwiderruflich imDämmer eines weiter und weiter zurückweichenden historischen Hori-zonts.

Und wie die ursprüngliche Gefahr selbst als gewesenes Datum imSchoße der Vergangenheit verschwindet beziehungsweise als erledigtesFaktum im Horizont der Geschichte verschwimmt, so schwindet auch beiden Stammessubjekten das zuvor periodisch erneuerte Bewußtsein vonihr, verblaßt bei ihnen die vorher in Abständen aufgefrischte Erinnerungan sie. Damit aber büßen die Stammessubjekte eben den Vergleichsmaß-stab ein, der allein geeignet war, ihnen das unliebsame Ergebnis ihrermythologischen Gegenmaßnahmen, die Abtretung des Reichtums näm-lich an das Priorität beanspruchende andere Subjekt, als eine dennochakzeptable Lösung vor Augen zu führen, gehen sie eben des Urteilskri-teriums verlustig, das allein dazu angetan war, ihnen die bittere Folgeihrer heroologischen Abwehrstrategie, den Verlust des Überflusses al-so an das andere Subjekt, als eine nichtsdestoweniger vertretbare Aus-kunft deutlich werden zu lassen. Indem die ursprüngliche Gefahr zu-sammen mit dem ihr zu begegnen bestimmten mythologischen Verfahrenaus ihrem Bewußtsein schwindet und ihrem Gedächtnis entfällt, sehensich die Stammessubjekte im ein für allemal bleibenden Resultat desmythologisch-heroologischen Prozesses einem Zustand ausgeliefert, den– ärgerlich, wie er ihnen vorkommt, und abträglich wie er ihnen ist – nurüberhaupt jene dem Bewußtsein entschwindende Gefahr ihnen als Aus-kunft hat plausibel, jene dem Gedächtnis entfallende Bedrohung ihnenals Ausweg hat akzeptabel erscheinen lassen können und der nun aber,da der Vergleichsmaßstab jener Gefahr wegfällt, ihnen zunehmend als eindurchaus nicht einzusehender Mißstand sich darstellt, mehr und mehr

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zum schlechterdings unverständlichen Stein des Anstoßes für sie wird.Seinem in der ursprünglichen Verfassung und uranfänglichen Haltungdes anderen Subjekts bestehenden guten Grund oder vielmehr bösenAnlaß durch wachsende zeitliche Ferne entzogen und in zunehmende his-torische Distanz entrückt, legt der dem anderen Subjekt im Blick auf denReichtum zugestandene Vorrang alle Bedeutung eines relativ vorzuzie-henden Ärgernisses und kriteriell kleineren Übels ab und nimmt für dieStammessubjekte immer stärker die Züge einer in ihrer vermeintlichenGrundlosigkeit unverwindbaren Beschwernis an, wächst sich unaufhalt-sam zu einer in ihrer offenbaren Unsinnigkeit unerträglichen Belastungaus.

In doppelter Hinsicht also bringt in bezug auf den dem anderen Subjektübertragenen Genuß des gesellschaftlichen Reichtums der Verlust der mitdem Übertragungsvorgang vorher verbundenen sekundären Leistungeiner am Ende festlichen Verschwendung und orgiastischen Verflüchti-gung des Übertragenen für die Stammessubjekte eine unverwindbareZuspitzung des Verhältnisses mit sich. Nicht nur beraubt das Aufhörendieser sekundären Leistung die Stammessubjekte der unschätzbarenEntlastung, sich in regelmäßigen Abständen vom objektiv aufreizendenAnblick und von der definitiv abstoßenden Anschauung des statt ih-rer im Reichtum schwelgenden, an ihrer Stelle im Überfluß lebendenanderen Subjekts erlöst zu finden, es nimmt ihnen mehr noch die unver-zichtbare Rechtfertigung durch jenes in ebenso regelmäßigen Abständenwiederkehrende Kriterium wirklicher Bedrohung, von dem her beurteilt,der objektiv aufreizende Anblick des zugunsten des anderen Subjektsihrer Verfügung entrissenen Reichtums in der Tat den Charakter einesvergleichsweise reizvollen Prospekts gewinnt, die definitiv abstoßendeAussicht des zum Nutzen des anderen Subjekts ihrem Nießbrauch entzo-genen Überflusses die Züge eines relativ willkommenen Auswegs hervor-kehrt. Indem das Ergebnis ihrer als solche dem Gedächtnis entgleitendenmythologischen Interpretationsveranstaltung, das reichtumfixierte Tunund überflußokkupierte Treiben des anderen Subjekts, die Gestalt einerebenso prolongierten und zur Kontinuität gebrachten wie isolierten undaus dem Kontext gerissenen Faktizität annimmt, verlieren die Stammes-subjekte ineins die Möglichkeit, dies Ergebnis als in quantitativer Hinsichtvergleichsweise temporäre Erscheinung über sich ergehen, und die Fä-higkeit, es als in qualitativer Rücksicht relativ kleineres Übel sich gefallen

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zu lassen. Statt dessen drängt sich ihnen dies reichtumbefangene Tunund überflußbesessene Treiben des anderen Subjekts mit der penetrantenGegenwärtigkeit einer ihr Dasein unabsehbar beschwerenden, perma-nenten Beeinträchtigung und mit der provokativen Widerwärtigkeit einerihre Entfaltung uneinsehbar belastenden, absoluten Benachteiligung auf.Was Wunder, daß die Stammessubjekte dies permanent gegenwärtigeTun mit fortlaufend tieferer Erbitterung beobachten und mit zunehmendunversöhnlicherem Ressentiment bedenken? Konfrontiert mit einer Prio-rität auf den Reichtum, deren Ende unabsehbar geworden ist, und miteinem Privileg auf den Überfluß, dessen Sinn sie nicht mehr einzuse-hen vermögen, können sie gar nicht anders, als in dem solch Privilegausübenden anderen Subjekt ein immer unausstehlicheres Widerfahrniszu erblicken und eine immer unerträglichere Provokation zu erkennen.Weil das im Reichtum schwelgende andere Subjekt als Begründung fürseine dauernde Priorität auf den Reichtum nichts weiter geltend machenkann als eben das bestehende Faktum der Priorität selbst, können sichnun auch die Stammessubjekte nicht mehr mit der Rolle des anderenSubjekts arrangieren, mit seiner Existenz abfinden. Je länger vielmehrdas jeden Grunds beraubte Faktum andauert, je weiter die um allen Sinngebrachte Gewohnheit sich fortsetzt, um so stärker wird ihr Wunsch, diesihnen unbegründeterweise das Werk ihrer Hände verschlagende brutaleFaktum los und dieser ihnen unnützerweise die Früchte ihrer Arbeitvorenthaltenden schlechten Gewohnheit ledig zu sein. Aufs äußerstestrapaziert durch die in ihrer Unabsehbarkeit schlechterdings nicht mehrzu verwindende Zurücksetzung, die ihnen mit der Priorität des ande-ren Subjekts widerfährt, fiebern die der Vorgeschichte solcher Prioritätschon ungewärtigen Stammessubjekte unter dem wachsenden Druckihres heimlichen Ressentiments dem Tag entgegen, an dem das ande-re Subjekt das Zeitliche segnet, leben sie auf die Stunde hin, die ihmsein Ableben bringt. Darauf nämlich, daß das andere Subjekt, wenn esschon nicht mehr mit mythologischen Mitteln aus der Welt zu schaffenist, doch aber irgendwann auf natürliche Weise seinen Abgang nimmtund, wie man will, den Weg allen Fleisches geht, den Tod erleidet, ver-scheidet – darauf jedenfalls dürfen die Stammessubjekte zuversichtlichhoffen, darauf immerhin bleibt ihnen ungeduldig zu warten. Und siehoffen auf diese natürliche Beseitigung der mit Mitteln mythologischerKunst nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Provokation, die das eine

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grundlos feste Priorität behauptende andere Subjekt verkörpert, um soinbrünstiger, warten darauf um so inständiger, als sie in ihrer entste-hungsgeschichtlichen Unbedarftheit sich davon nicht weniger erhoffenals eine vollständige Vergütung des durch jene grundlose Priorität ihnenbislang zugefügten Schadens, will heißen, nichts geringeres sich verspre-chen als eine vollkommene Reparation des dank eines sinnlosen Privilegsihnen bis dahin vorenthaltenen gesellschaftlichen Reichtums. Ist erst dasandere Subjekt mit seinem durch nichts gerechtfertigten Privileg mit Todeabgegangen, so wird, hoffen sie, das Werk ihrer Hände an sie als eigentli-che Eigentümer unverzüglich zurückfallen, wird, meinen sie, die Fruchtihrer Arbeit ihnen als den natürlichen Nutznießern uneingeschränktgehören.

So hoffen die Stammessubjekte, bis der erhoffte Augenblick endlicheintritt, sich der erwartete Todesfall endlich ereignet. Vielleicht haben sieauch nicht einfach nur gehofft, sondern ein wenig nachgeholfen, nichteinfach nur zugewartet, sondern ein bißchen zugelangt. Vielleicht habensie unter dem wachsenden Druck ihrer Unzufriedenheit, in der zuneh-menden Anspannung ihres Ressentiments dem anderen Subjekt zumAbgang Beine gemacht. Aber ob es beim Tode des anderen Subjektsmit natürlichen Mitteln zugegangen ist oder nicht, ob das andere Sub-jekt völlig aus eigenen Stücken das Zeitliche gesegnet hat oder nicht,spielt angesichts des Ausmaßes der Unzufriedenheit der Stammessub-jekte tatsächlich gar keine Rolle. Selbst wenn die Stammessubjekte nichtbeim Ableben des anderen Subjekts Hand angelegt haben, entsprichtdieser Tod doch so haargenau ihrem sehnlichsten Streben, daß er garnicht verfehlen kann, sich ihnen als eine in praxi nichts als ihre eigeneAbsicht ausführende Konsequenz, eine de facto nichts als ihren eige-nen Willen vollziehende Handlung vorzustellen. Indem der Tod desanderen Subjekts, egal ob auf natürliche oder widernatürliche Weise,eintritt, ist er so oder so für die Stammessubjekte eine als Befreiung voneiner unvorstellbaren Last, als Erlösung von einem unerträglichen Übellange schon intendierte Tat nach ihrem Geschmack. Durch den Exitusdes anderen Subjekts schließlich der Zurücksetzung, die letzteres siekraft unbegründeter Priorität hat erdulden lassen, ledig, schicken sichdie Stammessubjekte sogleich an, das Werk ihrer Hände, den Reichtum,endlich selber und ungestört zu genießen, wenden sie sich ohne Zögern

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den Früchten ihrer Arbeit, dem Überfluß, zu, um sich zu guter Letzt ineigener Person und ungehindert daran zu erfreuen.

Die Hoffnung der Stammessubjekte allerdings, nach dem leiblichen Verscheidendes permanenten Festierers den Reichtum wieder in Besitz nehmen zu können,erweist sich als eitel, weil ex improviso des herrenlos gewordenen Reichtums derVerschiedene erneut als anderes Subjekt in Erscheinung tritt, zugleich aber durchdie bloß reminiszierend-remonstrative Form seines Auftretens garantiert, daß dasmit ihm über die Stammessphäre verhängte vernichtende Urteil die Bedeutungeines jeder mythologischen Uminterpretation entzogenen, von aller Revisionausgeschlossenen Bescheids annimmt.

Indes, den Reichtum ungestört zu genießen, bleibt den Stammessubjek-ten versagt. Kaum nämlich hat das andere Subjekt den Stammessubjektendurch sein Ableben das im Reichtum sich erschließende Feld geräumtund die als Überfluß sich eröffnende Bahn freigemacht, da präsentiertsich dieses geräumte Feld auch schon wieder als das aus eigenen Stückendie Stammessubjekte kategorisch vielmehr ausschließende Hoheitsge-biet einer anderen Macht, führt sich diese freigemachte Bahn als die auseigenem Antrieb die Stammessubjekte peremptorisch vielmehr abschnei-dende via regia eines neuen Herrn auf. Wie könnte das auch anders sein?Warum wohl sollte der stammesproduzierte Reichtum seine vorherigefatale Neigung, ex improviso seines Bestehens das Stammesdasein vorden Kopf zu stoßen und einem abstrakt anderen Sein zum Erscheinenzu verhelfen, inzwischen aufgegeben, der stammeserzeugte Überflußseine frühere unselige Gewohnheit, ad hoc seines Vorhandenseins demStammesprozeß in die Parade zu fahren und einen unvermittelt neuenAnfang in Szene zu setzen, mittlerweile abgelegt haben? So gewiß viel-mehr das, was den Stammessubjekten jetzt zur Disposition steht, dieserbloß um das Resultat seiner vormaligen Konstitutionstätigkeit gebrachte,stammesproduzierte Reichtum von zuvor ist, so gewiß läßt von diesemReichtum sich vorhersehen, daß er nichts Eiligeres zu tun hat, als ebenjene auf die Präsenz eines anderen Seins gemünzte konstitutive Tätigkeitwiederaufzunehmen, eben jene auf die Evidenz eines neuen Anfangsgezielte initiative Leistung erneut zu erbringen. Weil es der identischgleiche Überfluß ist, den das Ableben des anderen Subjekts den Stam-messubjekten zurückerstattet, so steht nun tatsächlich auch gar nichts

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anderes zu erwarten, als daß dieser Überfluß die unverändert selbe, aufdie Konstitution von Anderssein bezügliche Eigenschaft wie vorher anden Tag legt, die identisch gleiche, zur Initiation von Neuanfänglichkeitverhaltene Funktion wie früher unter Beweis stellt.

Allerdings ist, was der Reichtum hiernach einmal mehr konstituiert,nicht einfach jenes andere Sein in seiner vorherigen unmittelbaren Gegen-wärtigkeit, seiner früheren lebendigen Anschaulichkeit. Voraussetzungfür diese wiederkehrend direkte Präsenz jenes ex improviso des Reich-tums anderen Seins, diese wiederholt frische Evidenz jenes ad hoc desÜberflusses neuen Anfangs ist ja, daß in der Folge seiner restlosen Kon-sumtion im Fest der Reichtum selber jeweils frisch aus der Stammesarbeitentsteht, daß er im Anschluß an seine spurlos orgiastische Verschwen-dung ein ums andere Mal neu aus dem Stammesprozeß hervorgeht. Nurinsofern im Resultat des heroologisch-orgiastisch geschaffenen absolutenMangels an Überfluß der stammesproduzierte Reichtum selbst in erinne-rungsloser Wiederkehr frisch aufs Tapet kommt und in zusammenhanglo-ser Wiederholung neu auf den Plan tritt, ist er imstande, jenes andere Sein,das er aus sich heraus konstituiert, in der entsprechend repetierten Gestalterinnerungsloser Gegenwärtigkeit zur Erscheinung zu bringen, jenenNeuanfang, den er von sich aus initiiert, im vergleichbar reproduziertenZustand zusammenhangloser Anschaulichkeit in Szene zu setzen. Vonsolch erinnerungsloser Wiederkehr des Reichtums aber kann längst keineRede mehr sein, kann ebensowenig die Rede mehr sein wie von einerrestlosen Verschwendung des Reichtums im mythologischen Fest, einemspurlosen Verschwinden des Überflusses im heroologischen Konsum.Was vielmehr kraft der wachsenden Arbeitsleistung der Stammessubjektesich inzwischen hergestellt hat, ist die durch keine mythologisch-festlicheAnstrengung mehr zu unterbrechende Kontinuität des damit zur Dau-ererscheinung avancierten stammesproduzierten Reichtums, die durchkeine heroologisch-orgiastische Verausgabung mehr zu untergrabendePermanenz des damit als feste Einrichtung installierten stammeserzeug-ten Überflusses. Und dieser unverbrüchlichen Kontinuität trägt jetztder Reichtum natürlich auch in seiner aufs andere Sein bezüglichen,wiederaufgenommenen Konstitutionstätigkeit Rechnung. Sowenig derReichtum selbst erinnerungslos frisch aufs Tapet kommt, sowenig kannjenes andere Sein, das er ex improviso erscheinen läßt, einfach frisch

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gegenwärtig sein, jener Neuanfang, den er ad hoc in Szene setzt, kur-zerhand neu zum Leben erwachen. Wohl läßt ex improviso seiner selbstder Reichtum jenes andere Sein wieder erscheinen, aber er läßt es inder Form erscheinen, in der er dank eigener Kontinuität sich an es erin-nert, läßt es in der Figur auftreten, die er kraft eigener Permanenz mitihm verbindet. Und weil das, woran der Reichtum sich dank eigenerKontinuität erinnert und was er kraft eigener Permanenz assoziiert, dasleibliche Ableben jenes anderen Seins, der zeitliche Abgang jenes Neu-anfangs ist, so ist nun also, was der Reichtum konstituiert, jenes andereSein nicht in der Gestalt direkter Lebendigkeit, sondern in der Formobliquer Verschiedenheit, ist, was er initiiert, jener Neuanfang nicht imTempus evokativer Gegenwärtigkeit, sondern im Modus unwiderrufli-cher Vergangenheit. Indem durch die Reaktivierung seiner vorherigenInitiationsleistung der Überfluß jenem anderen Sein zu abermaliger An-wesenheit verhilft, jenen Neuanfang sich erneut wiedereinfinden läßt,präsentiert sich jenes andere Sein zugleich doch im Gewahrsam seineskontinuierlich erinnerten Verscheidens, inauguriert sich jener neue An-fang unter der Einschränkung seines permanent assoziierten Exitus undwird deshalb nur als unerreichbar Abwesendes anwesend, findet sichbloß als unwiederbringlich Verlorenes wieder ein. Das heißt aber, ausdem konstitutiven Vorweis ist ein destitutiver Nachweis, aus dem initia-tiven Vorstellen ein rekollektives Festhalten geworden. Statt, wie früher,ohne Rücksicht aufs Stammesdasein jenes andere Sein als Identität suigeneris zu zitieren und phänomenale Wirklichkeit werden zu lassen,beschränkt sich der Reichtum jetzt vielmehr darauf, im Angesicht desStammesdaseins jenes andere Sein in seiner ganzen Verschiedenheit zurezitieren und residuale Geltung bewahren zu lassen. Statt, wie vorher,unter Mißachtung des ganzen Stammesprozesses einen Neuanfang als dieschiere Gegenwart zu monstrieren und in seinem leibhaftigen Anspruchunter Beweis zu stellen, bescheidet sich jetzt der Überfluß vielmehr damit,jenen Neuanfang als den schlechthin vergangenen im Sinn zu behal-ten, um in seinem Namen gegen den Stammesprozeß und alle aus ihmresultierenden Ansprüche remonstrativ Verwahrung einzulegen.

Damit hat der Reichtum eine regelrechte Konversion gleichermaßenseiner konstitutiven Funktion und seiner initiativen Leistung durchge-macht. Aus dem inszenatorischen, das andere Sein in seiner vollen Le-bendigkeit monstrierenden Erscheinungsort ist eine reflektorische, es

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in seiner ganzen Verschiedenheit demonstrierende Gedenkstätte, ausdem den Neuanfang zur Anwesenheit beschwörenden, aus sich her-ausgehenden Medium ein ihn in Abwesenheit reminiszierendes, in sichgekehrtes Memento geworden. Indem er kraft kontinuierlicher Erinne-rung eine Konstitutionstätigkeit aufnimmt, die jenes andere Sein nichtmehr als präsentes vorzustellen bezweckt, sondern ihm nurmehr alsRezentem nachzusinnen erlaubt, eine Initiationsleistung erbringt, diejenen Neuanfang nicht mehr als den identischen widerzufinden dient,sondern ihm nurmehr als dem Verlorenen nachzuspüren taugt, nimmtder gesellschaftliche Reichtum die Züge einer jenem anderen Sein inall seiner Verschiedenheit gewidmeten einzigen großen Reminiszenzan, bildet er den Charakter eines jenem Neuanfang in seiner ganzenVergangenheit geweihten umfassenden Gedächtnisses aus. Und mit demsolcherart zur Reminiszenz verhaltenen, zum Gedächtnis ausgebildetenÜberfluß finden sich die Stammessubjekte konfrontiert! Ihm sehen sie sichausgesetzt, und mit ihm, so mag auf den ersten Blick scheinen, müßtensie sich eigentlich abfinden können! Schließlich scheint ein Reichtum, derseine wiederaufgenommene Konstitutionstätigkeit darauf beschränkt,jenes anderen Seins ins Gesicht der Stammessubjekte hinein eingedenk zubleiben, besser zu ertragen als einer, bei dem diese Konstitutionstätigkeitdarauf zielt, jenes anderen Seins ohne Rücksicht auf das Stammesdaseinansichtig zu werden, scheint ein Überfluß, dessen neuerlich erbrach-te Initiationsleistung der Absicht dient, jenen Neuanfang gleichzeitigmit dem Stammesprozeß im Sinn zu behalten, leichter zu verkraftenals einer, bei dem diese Initiationsleistung den Zweck verfolgt, jenenNeuanfang gleichgültig gegen den Stammesprozeß zur Vorstellung zubringen. Warum sollten die Stammessubjekte denn nicht imstande sein,den Reichtum unter Inkaufnahme seines – auf Verschiedenes gemünzten– marginalen Reminiszierens dennoch vergleichweise unbeschwert zugenießen, im Überfluß unter Absehung von seinem – auf Vergangenes fi-xierten – residualen Gedächtnis dennoch relativ ungestört zu schwelgen?So fragen kann indes nur, wem die oben ausgeforschte schreckenerregendspekulative Natur jenes in seiner ganzen Verschiedenheit vom Reichtumreminiszierend festgehaltenen Seins, die schwindelerzeugend innovativeEigenschaft jenes in all seiner Vergangenheit den Überfluß zum Eingeden-ken verhaltenden Neuanfangs schon wieder aus dem Blickfeld geratenist.

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Als diese spekulative Natur des reichtumentsprungen anderen Subjektshat sich ja erwiesen, daß seine unbedingte Konstitution ex improvisodes Reichtums nur dann überhaupt einen Sinn gewinnt, wenn man sieals restitutio in integrum eines ursprünglichen Seins im anteriorischenVorhinein allen Stammesdaseins sich vorstellt, daß seine absolute Initia-tion ad hoc des Überflusses einzig und allein dann eine Logik beweist,wenn man sie als reductio in pristinum eines unranfänglichen Anfangsim apriorischen Voraus jeden Stammesprozesses begreift. Das heißt, eshat sich ergeben, daß das unvermittelt disjunktive Auftreten eines neuenAnfangs nur dann einen einsehbaren Sinn erhält, wenn es in Wahrheiteinfache Wiederherstellung eines als ursprüngliches Ponens unbedingtenAnterius, in Wirklichkeit bloße Wiedereinführung eines als uranfängli-ches Präsens absoluten Prius ist, an dem gemessen und von dem herbeurteilt, die ganze Stammessphäre die irrealen Züge eines im Resultat,eben im Reichtum, sich selber widerlegenden und als nutzlos erweisen-den vorübergehenden Irrwegs annimmt, die gesamte Stammesgeschichteden illusionären Charakter einer in letzter Instanz, eben im Überfluß,sich selber ad absurdum führenden und für gegenstandslos erklärendenzwischenzeitlichen Abschweifung hervorkehrt. Und als Reaktion aufdiese – von seiten eines einfach nur restituierten ursprünglichen Ponens– der ganzen Stammesposition drohende Degradierung zur Abschwei-fung oder pauschale Irrealisierung, als Gegenmaßnahme gegen diese– von einem kurzerhand repristinierten uranfänglichen Präsens her –dem Stammesprozeß blühende Entlarvung als Fehlleistung oder totalePhantasmagorisierung geben sich die mythologischen Bemühungen derStammessubjekte zu erkennen. Das heißt, es ist deutlich geworden, daßdie ganze mit mythologischen Mitteln erzielte Umcharakterisierung jenesreichtumentsprungen anderen Subjekts, seine gesamte, auf heroologi-schem Wege erreichte Umfunktionierung, wesentlich nur dem Zweckdient, es seiner die Stammessphäre überhaupt als irreal denunzierendenrestituierten Ursprünglichkeit, seiner die Stammesgeschichte insgesamtals Halluzination decouvrierenden repristinierten Uranfänglichkeit zuentreißen und, wie in eine als archaische Vorfahrenrolle definierte Be-ziehung zum stammesproduzierten Reichtum zu setzen, in ein als kur-sorische Vorbildfunktion bestimmtes Verhältnis zum stammeserzeugtenÜberfluß zu bringen, so denn aus einem unbedingten Revokator desStammesdaseins in dessen bedingten Reaffirmator umzumünzen, aus

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einem absoluten Eliminierer des Stammesprozesses in dessen relativenSanktionierer zu verwandeln.

Aus dieser im Sinne einer archaisch-paradigmatischen Reaffirmationdes Stammesdaseins wohlverstandenen systematischen Bindung an denÜberfluß, die dessen kontinuierliches Wachstum schließlich zur unauf-hebbar festen Einrichtung hat werden lassen, hat sich jenes andere Subjektnun aber durch sein fleischliches Ableben, seinen zeitlichen Abgang au-genscheinlich wieder gelöst. Indem es zeitlich vergeht, begibt es sich derihm mit mythologischen Mitteln induzierten Angewiesenheit auf denReichtum und zieht sich aus der reichtumbestimmten Stammessphäreüberhaupt zurück, befreit es sich aus der ihm auf heroologische Weiseoktroyierten Abhängigkeit vom überfluß und geht, der überflußorien-tierten Stammesperspektive insgesamt ledig, seiner Wege. Es zieht sichzurück und könnte mit seinem Auszug aus der Stammessphäre für dieStammessubjekte verschwunden sein, würde es durch die auf es gerichte-ten Rezitationen des Reichtums nicht wieder aufs Tapet gebracht, durchdie an es sich haltenden Remonstrationen des Überflusses nicht erneutins Spiel gebracht. Kaum daß das im Reichtum lebende andere Subjektaus dem Leben geschieden ist, ruft in Wiederaufnahme seiner früherenKonstitutionstätigkeit der Reichtum das Verschiedene rezitativ zurückund erklärt sich zu einer nur und ausschließlich ihm sich widmenden ein-zigen großen Reminiszenz, beschwört in der Neuauflage seiner einstigenInitiationsleistung der Überfluß das Abwesende remonstrativ herauf undverwandelt sich in ein ganz und gar seinem Gedächtnis sich weihendesrückhaltloses Memento. Wohlgemerkt, als Verschiedenes faßt er das ande-re Subjekt in die Reminiszenz, als die er selbst figuriert, als Abwesendesruft er es in das Gedächtnis, als das er selber firmiert. Was sonst aberbeinhaltet diese Verschiedenheit des anderen Subjekts, wenn nicht seinenkraft fleischlichen Ablebens vollzogenen Rücktritt vom Reichtum undAustritt aus der reichtumbezogenen Stammesdimension, mithin seinenRegreß in eben die ursprünglich behauptete, unbedingt anteriorischeStellung, aus der nichts als seine mit mythologischen Mitteln erwirkteVerwicklung in den stammesförmigen Reichtumbezug es vertrieben hat?Was sonst bedeutet diese Abwesenheit des anderen Subjekts, wenn nichtseine dank zeitlichen Abgangs vollbrachte Lösung vom Überfluß undBefreiung aus der überflußgebundenen Stammesperspektive, mithin sei-nen Rekurs auf eben die uranfänglich eingenommene, absolut apriorische

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Haltung, die nichts als seine auf heroologischem Wege durchgesetztesystematische Integration in die stammespezifische Überflußbindung ihmverschlagen hat? So wahr das endliche Verscheiden des anderen Subjektssynonym ist mit einem irreversiblen Ausscheiden aus der im reichtum-bezogenen Stammesdasein ihm zugeschanzten topischen Position undsystematischen Funktion, so wahr müssen die Stammessubjekte darin dieRückkehr in jenes ex improviso des Reichtums unbedingt restituierte undnur mit mythologischer List und Tücke in ein reichtumsspezifisches Da-sein umcharakterisierte ursprünglich anteriorische Sein, in jenen ad hocdes Überflusses absolut repristinierten und bloß mit heroologischer Raf-finesse in ein überflußrelatives Beginnen umfunktionierten uranfänglichapriorischen Anfang erkennen.

Keineswegs also haben die Stammessubjekte den mindesten Vorteilvon der verschiedenen Art und Vergangenheitsform, in der in Wieder-aufnahme seiner früheren konstitutiven Tätigkeit der Reichtum ihnenjenes andere Subjekt jetzt vorstellt und vielmehr vorenthält. Auch wennder Reichtum auf Grund seiner eigenen kontinuierlichen Erinnerung undassoziativen Bestimmtheit jenes andere Subjekt nicht mehr in die leben-dige Anschauung zitieren, sondern nurmehr aus dem schematischenGedächtnis rezitieren, nicht mehr monstrativ inszenieren, sondern nur-mehr remonstrativ reminiszieren kann, bleibt das, was er solchermaßenin Abwesenheit heraufbeschwört und als ein Verschiedenes ins Treffenführt, jenes andere Sein in seiner ganzen, aller Beziehung auf den Reich-tum baren, ursprünglichen Indifferenz und uranfänglichen Negativität.Und in dieser die gesamte stammesspezifische Überflußperspektive alsIllusion entlarvenden ex anteriori revokativen Indifferenz und a priorieliminativen Negativität läßt sich jenes andere Subjekt für die Stammes-subjekte ja nun keineswegs deshalb leichter ertragen, weil der Reichtumdarauf verzichtet, es ihnen in seiner Identität vor Augen zu stellen, undsich damit begnügt, es ihnen als das Verschiedene in den Sinn zu rufen.Das genaue Gegenteil ist vielmehr der Fall! Solange nämlich der Reich-tum jenes à fonds perdu des Stammesdaseins restituierte andere Seinden Stammessubjekten noch leibhaftig vor Augen treten, der Überflußjenen à temps perdu des Stammesprozesses repristinierten neuen Anfangihnen noch hier und jetzt präsent werden läßt, tut er ihnen immerhinden Gefallen, daß er das andere Sein den Irrealisierungsbescheid, den esfür die gesamte Stammessphäre bedeutet, in eigener Gestalt erteilen, daß

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er den Neuanfang das Halluzinationsverdikt, das er über die gesamteStammesperspektive verhängt, höchstpersönlich überbringen läßt und er-öffnet ihnen damit die Möglichkeit zu der geschilderten mythologischenUmfunktionierung des in eigener Gestalt Erscheinenden und persönlichAnwesenden. Auch wenn das ex improviso des Reichtums erscheinen-de andere Subjekt nur erscheint, um ex anteriori seiner ontologischenDifferenz das ganze reichtumproduzierende Stammesdasein mitsamtdem produzierten Reichtum selbst für revoziert zu erklären, figuriertes in actu seines Erscheinens in verfänglich kontagiöser Nähe zu dem,was es zu revozieren gekommen ist, und liefert so den Stammessub-jekten die Handhabe zu jenem gezielt mythologischen Mißverständnisseiner topischen Stellung, dem es nur zu rasch selber erliegt und durchdas es sich aus dem änigmatischen Unterminierer und bösen Feind derStammessphäre in ihren paradigmatischen Begründer, ihren Architektenverwandelt. Auch wenn der ad hoc des Überflusses auftretende Neu-anfang nur auftritt, um a priori seines historiologischen Prinzips dengesamten überflußerzeugenden Stammesprozeß mitsamt dem erzeugtenÜberfluß selbst als nichtig zu erweisen, posiert er im Augenblick sei-nes Auftretens in gefährlich infektiöser Gleichzeitigkeit mit dem, waser zu eliminieren sich anschickt, und bietet so den Stammessubjektendie Chance zu jener gekonnt heroologischen Fehlinterpretation seinersystematischen Bedeutung, der er nur zu bald selber auf den Leim gehtund dank deren er aus dem hermetischen Eskamotierer und Weltenrichterder Stammesperspektive in ihren luziferischen Erhalter, ihren Demiurgensich verkehrt.

Nun aber, da der Überfluß jenen Neuanfang bloß noch als ein unwi-derruflich Verschiedenes reminisziert, als ein unwiederbringlich Vergan-genes rezitiert, ist es aus mit solch verfänglicher Nähe und aller an siegeknüpften Möglichkeit zum mythologischen Mißverständnis, vorbei mitsolch gefährlicher Gleichzeitigkeit und jeder an sie gebundenen heroolo-gischen Fehlinterpretationsgelegenheit. Indem der Reichtum jenes andereSubjekt den Stammessubjekten nurmehr als uneinholbar Verschiedenes inden Sinn kommen läßt, es ihnen bloß noch als unerreichbar Abwesendesins Gedächtnis ruft, stellt er es ihnen als ein Sein vor, das nach seinem ineigener Gestalt der Stammessphäre überbrachten revokativen Bescheid inder anteriorischen Wirklichkeit, die es leibhaftig zum Erscheinen bringtund kraft deren es seinen Bescheid erteilt, wieder verschwunden ist,

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während die Stammessphäre selbst in der irrealen Verfassung, in die seinBescheid sie gestürzt hat, zurückbleibt, bringt er es ihnen mithin als einenAnfang zu Bewußtsein, das nach seinem in eigener Person der Stam-mesperspektive verkündeten vernichtenden Urteil in den apriorischenGeltungsbereich, den es persönlich vorführt und auf Grund dessen es seinVerdikt verhängt, sich wieder absentiert hat, indes die Stammesperspekti-ve als solche in dem entwerteten Zustand, in den sein Verdikt sie versetzthat, sich selbst überlassen bleibt. Das heißt, der Überfluß demonstriertjenes neue Subjekt dadurch, daß er es bloß in Abwesenheit rezitiert, alseinen Anfang, der mit dem historiologischen Schicksal, mit dem er adhoc seines Auftretens den Stammessubjekten winkte, ernst gemacht hatund unter Preisgabe der als phantasmagorisch entlarvten Immanenz derStammesperspektive in die Transzendenz seiner angestammt uranfäng-lichen Gegenwart ausgerückt ist. Entschwunden in die als ontologischesJenseits ausgemachte unbedingte Verschiedenheit seiner anteriorischenSeinsfülle, wird folglich jenes andere Sein vom Reichtum nurmehr re-miniszenzhaft aufgebracht, um die Stammessubjekte daran zu erinnern,daß der ursprünglich vernichtende Bescheid, den es in eigener Gestaltgegen sie ergehen ließ und durch den es ihre ganze Sphäre für leerenSchein und von Grund auf irreal erklärte, inzwischen unwiderrufliche,durch keine mythologischen Gegenvorstellungen mehr aufzulösendeRealität geworden ist. Entrückt in die als historiologische Transzendenzbestimmte absolute Absenz seiner apriorischen Selbstentfaltung, wirdjener neue Anfang bloß noch rezitativ angeführt, um den Stammessub-jekten vor Augen zu halten, daß das uranfänglich unendliche Urteil,das er höchstpersönlich über sie fällte und durch das er ihre gesamtePerspektive als Fehlentwicklung und von Beginn an falsche Setzungentlarvte, mittlerweile unanfechtbare, durch keine heroologische Revisi-onsbemühung mehr aufzuhebende Gesetzeskraft erlangt hat. Währendder Reichtum jenes andere und neue Subjekt dadurch, daß er es leibhaftigidentifizierte und anschaulich präsentierte, vorher noch als bei all seinerkategorischen Sentenzhaftigkeit interpretierbar, als bei all seiner fatalenVerdikthaftigkeit revisionsfähig aufführte, dient es ihm jetzt, da er esnurmehr als in sein anteriorisches Jenseits Verschiedenes reminisziert undals in seine apriorische Transzendenz Vergangenes rezitiert, allein nochdazu, den Stammessubjekten vor Augen zu rücken, daß sie dem Spruch,der ihre ganze Sphäre mit Entwirklichung bedrohte, dem Schicksal, dasihre gesamte Perspektive mit Entwertung konfrontierte, unrevidierbarerlegen und ein für allemal verfallen sind.

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Da die Stammessubjekte das jeder Revision entzogene vernichtende Verdikt desverschiedenen und in seiner Verschiedenheit vom Reichtum reminiszierten ande-ren Subjekts nicht akzeptieren können, verräumlichen sie diese Verschiedenheitzum jenseitigen Totenreich und suchen zwischen ihm und dem Diesseits durchReichtumgaben eine topische Kontinuität herzustellen. Als Bindeglied taugt derReichtum indes nicht, weil er als Eigentum des Verstorbenen ständig im Jenseitsverschwindet, während die Produktivität des Stammes für ebenso beständigenNachschub sorgt, so daß das Ganze in eine fruchtlos-unabschließbare Reichtum-vernichtungsaktion, einen ebenso sinnlosen wie katabolischen Dauertransferausufert.

Kraft Reminiszenz des in sein anteriorisches Jenseits entschwundenenanderen Seins, mittels Rezitation des in seine apriorische Transzendenzentrückten neuen Anfangs zeigt der Reichtum die Stammessubjekte ei-nem Urteil verfallen, das in all seiner unendlichen Unaufhebbarkeit undvernichtenden Unwiderruflichkeit ausschließlich er, der Reichtum selber,für sie verkörpert. In dem Maß, wie der Reichtum durch seinen Wechselvom sinnenfälligen Präsentieren zum sinnbeschwerenden Reminiszieren,vom leibhaftig reproduktiven Monstrieren zum gespenstisch rezitativenRemonstrieren, eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses derStammessubjekte zu jenem aus ihm heraus anderen Sein bewirkt, wandeltsich natürlich auch seine eigene Stellung gegenüber den Stammessub-jekten, die Bedeutung, die er selbst für sie hat. Nicht, daß er nicht auchvorher angesichts dessen, was er ex improviso seiner Restitutionstätigkeitin aller Gegenwärtigkeit in Szene setzt, sich selber in der von unbedingterSelbstverleugnung geprägten Stellung einer wie projektiver Schein vomdefinitiven Sein gleichermaßen ontisch getrennten Ebene und gnostischtrennenden Wand erwiese, sich selber in der von absoluter Selbstver-neinung bestimmten Bedeutung einer wie simulatorische Kulisse vonkategorischer Wirklichkeit gleichermaßen sphärisch ausgeschlossenenGrenze und generisch ausschließenden Schranke darböte! Nicht, daßer nicht auch zuvor schon in actu dessen, was er als wahren Anfangerscheinen läßt, den Stammessubjekten als die in Unwirklichkeit beste-hende Falle sich zeigte, in die ihr ab ovo falsches Tun sie gelockt hat,ihnen als das aus Phantasmagorie gewirkte Bockshorn sich vorstellte, indas ihr ab initio verfehltes Beginnen sie gejagt hat! Aber weil dort derReichtum das, wodurch er sich als ausweglose Falle enthüllt, ja immer

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noch leibhaftig erscheinen und gegenwärtig hervortreten läßt, gewinnt erjene oben beschriebene topisch verfängliche Affinität zum ex improvisoErscheinenden und systematisch gefährliche Synchronie mit dem ad hocAuftretenden, die ihm selber, all seiner selbstverleugnenden Irrealisie-rung und selbstverneinenden Entwertung zum Trotz, doch wieder einenAnklang von aufschließend-konstitutiver Wirklichkeit verschafft, einenAnschein von einsetzend-initiativer Geltung verleiht und die in der Tatden empiriologischen Anhalt und chronologischen Vorwand bietet für diegeschilderte mythologische Umcharakterisierung des Erscheinenden ineine einzig und allein die Realität des Reichtums bezeugende archaischeReaffirmationsinstanz und paradigmatische Garantiemacht. So wahr derÜberfluß jenen in absoluter Negativität uranfänglichen Anfang, durchdessen Repristination er sich selber gegenstandslos werden läßt, dortimmerhin noch gegenwärtig zur Anschauung bringt, so wahr behälter für die Stammessubjekte diese zweideutige Verfassung einer bei al-ler kategorialen Selbstentkräftung dennoch phänomenaliter an den Tagsich legenden evokativen Kraft und gibt eben damit den Stammessub-jekten die Handhabe, ihn, den an sich doch dem Irrealis Verfallenen,vielmehr zum realen Bezugspunkt einer die komplette Reaffirmation derStammessphäre besorgenden mythologischen Uminterpretation jenesrestituiert ursprünglichen Seins zu erklären, in ihm, dem eigentlich dochvon Entwertung Ereilten, vielmehr den geltenden Bestimmungsgrundeiner die adrette Rehabilitation der Stammesperspektive bewirkendenheroologischen Revision jenes repristiniert uranfänglichen Anfangs zugewahren.

Jetzt hingegen kann in Ansehung der Konstitutionstätigkeit des Reich-tums von solch evokativer Kraft und positiver Bedeutung keine Redemehr sein. Weit entfernt davon, jenes andere Sein in autokratisch eige-ner, zur Epiphanie des Identischen sich verklärender Gestalt monstrativzum Vorschein kommen zu lassen, beschränkt sich der Reichtum viel-mehr darauf, es am idiosynkratisch eigenen, zur Mangelerscheinung desVerschiedenen sich erklärenden Leibe remonstrativ zum Ausdruck zubringen. Weit entfernt davon, jenen neuen Anfang per actum eines vonihm persönlich vollbrachten Selbstvorweises den Stammessubjekten alsimmer neu Gegenwärtiges vor Augen zu stellen, begnügt er sich vielmehrdamit, es ihnen per modum einer Verlustanzeige, die er, der Überfluß

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selbst, verkörpert, als ein für allemal Vergangenes ins Gedächtnis zu ru-fen. Statt in selbstverleugnender Diesseitigkeit das Tor zu einem Jenseitsaufzustoßen, dessen Licht auf ihn selber zurückstrahlt und ihn in seinenGlanz mit einschließt, gibt er sich damit zufrieden, in selbstverlorenerInnerweltlichkeit vom früheren Lichte jenes Jenseits, das er als solchesabsolut von sich ausschließt, nichts als einen irrisierenden Abglanz undphosphoreszierenden Widerschein festzuhalten. Statt camera obscura,die in zauberkräftiger Immanenz eine ebenbildliche Erscheinung derTranszendenz heraufbeschwört und vor ihre perspektivlosen Schran-ken zitiert, ist er finsterer Kerker, der in höhlenhafter Insichgekehrtheiteinen gespenstischen Reflex des nach seinem Erscheinen unwiederbring-lich Entschwundenen zurückbehält und an seine fensterlosen Wändemalt. Damit ist den Stammessubjekten jede Möglichkeit genommen, mitmythologischen Mitteln den seiner Nichtigkeit überführten haltlosenSchein ihres Daseins in eine von Sein erfüllte haltgebend existentielleErscheinung umzucharakterisieren, auf heroologischem Wege ihr von derWirklichkeit getrenntes, wahrheitsloses Verlies in ein die Wirklichkeit ein-bindendes, wohl verwahrtes Gehäuse umzufunktionieren. Konfrontiertmit Reichtumsmauern, die nichts weiter mehr im Schild führen als die re-miniszenzhafte Erinnerung an eben das Sein, das sie selber ein für allemalausschließen, gefangen in einer Überflußkulisse, die nichts sonst mehrim Sinn hat als die remonstrative Vorstellung eben des Anfangs, den sieselber auf immer und ewig verstellt, finden sie sich unwiderruflich jenemVerdikt ontologisch unbedingter Scheinhaftigkeit und Irrealität verfallen,das sie bis dahin um alles in der Welt und mit allen mythologisch ver-fügbaren Mitteln abzuwenden bemüht waren, sehen sie sich endgültigjenem Schicksal historiologisch absoluter Vereitelung und Ungültigkeitausgeliefert, dem sie zuvor um jeden Preis und auf jede heroologischerdenkliche Weise zu entrinnen strebten.

Mag aber das über sie verhängte Verdikt noch so unwiderruflich sein– annehmen können sie es um nichts in der Welt. Wie sollten sie aucheine Situation akzeptieren können, in der eben das, was sie vom ex an-teriori jenseitigen Sein ausschließt und zu bleibender Scheinhaftigkeitverurteilt, zugleich auch dasjenige ist, was die Erinnerung an jenes aus-geschlossene Sein permanent wachhält und zum Stachel im Fleisch ihrerScheinexistenz werden läßt? Wie sollten sie eine Konstellation ertragen

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können, bei der das, was ihnen den a priori transzendenten Anfang ver-stellt und sie als dauerhaft ungültig disqualifiziert, zugleich dasjenige ist,was ihnen diesen verstellten Anfang ununterbrochen vorhält und ihrementwerteten Dasein zum Vorwurf seiner Ungültigkeit macht? Wollen sienicht auf Dauer die Höllenpein einer Irrealisierung leiden, bei der dieins unwiederbringliche Jenseits entrückte Wirklichkeit ihnen zugleich alsstetig rezitierte Reprobation vor Augen steht und als ständig reminis-ziertes Ressentiment den Sinn beschwert, so müssen sie die durch dasVerscheiden des anderen Subjekts zwischen ihnen und ihm aufgerisseneontologische Kluft, ihrer Sein von Schein trennenden Unüberbrückbarkeitungeachtet, dennoch zu überbrücken streben, müssen sie den durch denTod des anderen Subjekts zwischen ihnen und ihm aufgetretenen histo-riologischen Sprung, seiner Wirkliches von Unwirklichem scheidendenUnheilbarkeit zum Trotz, dennoch zu heilen trachten. Wie aber sollen siediese Kluft überwinden, da doch das Ableben des anderen Subjekts siegerade unüberwindbar und eine mit den alten mythologischen Mittelnoperierende Einbindung des letzteren in den Daseinszusammenhangdes Stammes absolut undurchführbar hat werden lassen? Wie sollensie diesen Sprung kitten, da doch das Sterben des anderen Subjekts ihnvielmehr irreparabel gemacht hat und eine auf die alte heroologischeWeise exekutierte Einordnung des letzteren ins funktionale Kontinuumdes Stammes ganz unmöglich geworden ist?

Wie indes das Verscheiden des anderen Subjekts als solches jede Aus-sicht auf eine Überwindung der ontologischen Kluft nach altem mytholo-gischem Muster kategorisch vereitelt und jede Möglichkeit einer Heilungdes Gattungssprungs in der früheren heroologischen Form perempto-risch unterbindet, so eröffnen nun die mit dem Verscheiden gewöhnlichverknüpften Begleitumstände und mit dem Exitus empirisch assoziiertenFolgeerscheinungen den verzweifelt nach einem Ausweg aus Scheinhaf-tigkeit und Irrealität Ausschau haltenden Stammessubjekten die willkom-mene Chance, die nach altem Muster unüberwindbare Kluft zwischenSein und Schein nach einem neuen Schema doch noch zu überbrücken,den in der früheren Form unheilbaren Sprung zwischen Real und Irrealauf eine andere Art und Weise dennoch zu kitten. Aus Gründen nämlich,die wir nicht kennen und die von einer Vergesellschaftung der bei höhe-ren Säugetierarten beobachtbaren Praxis der einzelnen Tiere, sich zum

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Sterben zu verbergen, über das Bedürfnis, verräterische Spuren zu beseiti-gen, bis zum Anspruch einer symbolischen Rückkehr in den mütterlichenSchoß der Natur reichen mögen, huldigen die Menschen seit frühestenZeiten und mit Sicherheit schon lange vor aller Überflußproduktion demBrauch, ihre Toten nicht frei liegenzulassen, sondern sie mit Steinen zubedecken oder in der Erde zu versenken. Dieser empirische Brauch einerden Verstorbenen durch ihre Stammesgenossen zuteil werdenden Bei-setzung oder Beerdigung erlaubt nun den Stammessubjekten, der durchdas Verscheiden des anderen Subjekts mythologisch unüberwindbargewordenen ontologischen Kluft eine räumliche Bedeutung zu verleihen,dem durch den Exitus des anderen Subjekts als heroologisch unheilbarerwiesenen historiologischen Sprung eine topische Auslegung zu geben.Aus dem anteriorischen Jenseits, das nicht von dieser Welt ist, wird einans Diesseits räumlich anschließender unterweltlicher Bezirk, aus derapriorischen Transzendenz, die eine die Immanenz gnostisch ersetzendeAlternative darstellt, ein die oberirdische Immanenz topisch ergänzen-des unterirdisches Totenreich. Eine solch räumlich-topische Fassung derJenseitigkeit des anderen Subjekts ermöglicht den Stammessubjekten nunnicht etwa die Wiederaufnahme ihrer alten, mythologisch-archaischenRevisionspraxis, die Wiederanwendung ihrer früheren, heroologisch-paradigmatischen Integrationstechnik. Sowenig die Stammessubjektedas andere Subjekt wieder zum Leben erwecken, es wieder leibhaftigerscheinen lassen können, sowenig können sie es auch aus seinem wieimmer verräumlicht gedachten Jenseits ins reichtumbezogene Diesseitsder Stammessphäre zurückholen, es aus seiner wie sehr auch topischvorgestellten Transzendenz in die überflußbestimmte Immanenz derStammesperspektive zurückversetzen.

Wohl aber gibt die topische Fassung der Jenseitigkeit des anderen Sub-jekts den Stammessubjekten Gelegenheit zu dem umgekehrten Bemühen,dem Verschiedenen den Reichtum in sein Jenseits hinterherzuschicken,um auf diese Weise das letztere selbst eine dem reichtumbezogenen Dies-seits konforme Fasson gewinnen zu lassen, dem Entschwundenen denÜberfluß in seine Transzendenz hinein nachzureichen, um damit dieüberflußbestimmte Immanenz in letzterer selbst ihre als Kontinuität aus-gewiesene Entsprechung finden zu lassen. Mag schon das Ableben desanderen Subjekts jede Hoffnung vereiteln, auf dem früheren heroolo-gischen Weg das Jenseits des Andersseins auf das Diesseits des Stam-mesdaseins strukturell einschränken, die Transzendenz des Neuanfangs

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in die Immanenz des Stammeskontinuums funktionell zurücknehmenzu können – was die räumlich-topischen Implikationen der dem Totentraditionell zuteil werdenden Beisetzung und Beerdigung immerhin aus-sichtsreich erscheinen lassen, ist ihr gegenläufiger Versuch, durch eineVerschiebung des das Diesseits begrenzenden Reichtums ins räumlichverstandene Jenseits eine materielle Ausdehnung des ersteren auf letzte-res zu erwirken, durch eine Übermittlung des die Immanenz definieren-den Überflusses an die topisch gefaßte Transzendenz eine substantielleFortsetzung der ersteren in die letztere hinein zu erreichen. Indem dieStammessubjekte dem Verschiedenen sein Hab und Gut mit ins Grabgeben, den Verstorbenen zusammen mit seinen irdischen Besitztümernaus der Welt scheiden lassen, richten sie das Jenseits, in das er sich ab-setzt, als unterweltliche Wohnstatt ein, statten sie die Transzendenz, indie er entschwindet, als unterirdisches Domizil aus und verwandeln sodies Jenseits in eine an der irdischen Sphäre des Stammes nach wie vorpartizipierende weitere Art von Diesseits, verkehren diese Transzendenzin eine mit der Innerweltlichkeit des Stammes noch immer kommuni-zierende, fernere Form der Immanenz. Indem durch Opfergaben an denToten, durch Beigaben für sein Grab, die Stammessubjekte unter derErde nicht weniger als über ihr gesellschaftlichen Reichtum etablieren,lassen sie aus der Trennwand ein Bindeglied, aus dem ausschließendenFaktor ein integrierendes Moment werden und stellen auf räumlicherBasis genug Zusammenhang her, um die zwischen Diesseits und Jenseitsaufgerissene ontologische Kluft doch noch zu überbrücken, den zwischenImmanenz und Transzendenz aufgetretenen historiologischen Sprungwieder zu kitten. Als ein am zentralen Aspekt des diesseitigen Stam-mesdaseins, am Reichtum, partizipierendes hört das jenseitige Sein desVerstorbenen auf, dies diesseitige Dasein der Stammessubjekte mit demVorwurf unbedingter Scheinhaftigkeit zu traktieren, und konzediert ihmvielmehr einen dem eigenen ontologisch vergleichbaren Status. Als einevon der wesentlichen Bestimmung der immanenten Stammessphäre, vomÜberfluß, eingenommene legt die transzendente Wirklichkeit des Totenihre Tendenz ab, diese immanente Sphäre des Stammes mit dem Schicksalabsoluter Irrealität zu konfrontieren, und vindiziert ihr im Gegenteil eineder eigenen historiologisch entsprechende Konstitution.

Allerdings ergibt sich bei dieser räumlichen Überbrückung der ontolo-gischen Kluft zwischen diesseitigem Schein und jenseitigem Sein durch

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das Bindeglied Reichtum das ebenso gravierende wie zwangsläufigeDilemma, daß nach räumlich-topischer Lage der Dinge für die Stam-messubjekte die Herstellung der Verbindung gleichbedeutend mit derpersönlichen Trennung vom Bindeglied ist. Wenn die Stammessubjekteden das Jenseits vom Diesseits scheidenden Reichtum vielmehr zu einemvom Diesseits ins Jenseits reichenden Bindeglied, den die Transzendenzvon der Immanenz ausschließenden Überfluß vielmehr zum beide ein-schließenden Integrationsfaktor werden lassen, so ist dies ja gleichsinnigdamit, daß sie über das Verscheiden des anderen Subjekts hinaus dessenalten Prioritätsanspruch auf den Reichtum reaffirmieren, in seinen Exitushinein sein gewohnt privilegiertes Verhältnis zum Überfluß aufrechter-halten. So wahr die Stammessubjekte dem anderen Subjekt aus freienStücken in die topisch verstandene Transzendenz, in die es entwichen,gemeinschaftlichen überfluß hinterherschicken, so wahr erkennen sie esdamit in der alten Position und früheren Funktion eines Vorrecht be-anspruchenden Eigentümers und Nutznießers des Überflusses an. Undzwar als – seiner alten Stellung entsprechend – Gebieter über den ganzenReichtum und nicht etwa nur über ein ihm nach Gutdünken zuzumes-sendes Reichtumsquantum bestätigen sie den Verschiedenen, als – seinerfrüheren Funktion gemäß – Eigentümer des gesamten Überflusses undkeineswegs bloß eines ihm nach Gusto zu überlassenden Teils davon,halten sie den Toten fest! So gesehen, hat der gesellschaftliche Reichtumim Diesseits des ihn produzierenden Stammesdaseins gar nichts mehr zusuchen, in der Immanenz der ihn erzeugenden Stammessphäre überhauptnichts mehr verloren, und gehört vielmehr als ganzer in das unterirdischeJenseits, das er in räumliche Kontiuität zum oberirdischen Dasein zusetzen dient, fällt insgesamt an die unterweltliche Transzendenz, dieer in topische Konkordanz mit der innerweltlichen Sphäre zu bringenbestimmt ist. Muß aber in der Konsequenz der ihm übertragenen Bin-degliedfunktion, im Vollzug der ihm abgeforderten Integrationsleistungder Reichtum als ganzer in die Grube fahren und zum unterweltlichenThesaurus werden, der Überfluß insgesamt ins Totenreich wechseln undals plutonischer Schatz enden, wie soll er dann noch seine verbindendeFunktion ausüben, seine Integrationsaufgabe erfüllen können? Wennunter den gegebenen Bedingungen der dem Verstorbenen attestiertenfrüheren Priorität die Ausdehnung des Reichtums auf ein als Unterwelträumlich vorgestelltes Jenseits im Prinzip gleichbedeutend ist mit einer

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vollständigen Entfernung des Reichtums aus dem Diesseits des Stammes-daseins, wenn im herrschenden Kontext des dem Toten reservierten altenPrivilegs die Fortsetzung des Überflusses in eine als Totenreich topischverstandene Transzendenz hinein de jure auf eine totale Entbindung derimmanenten Stammessphäre vom Überfluß hinausläuft, dann liegt dasProblem eines Bindeglieds, das nicht verbindet, weil es nur die bestehen-de Trennung nachvollzieht, das Dilemma eines Integrationsfaktors, dernichts integriert, weil er nur die dissoziierten Seiten wechselt, auf derHand.

Wäre indes bloß dies das Dilemma, die Stammessubjekte hätten wenigMühe, mit ihm sich abzufinden, in ihm sich einzurichten! Wechseltenämlich der Reichtum als ganzer in das unterirdische Jenseits über, gingeer wirklich in toto in die unterweltliche Transzendenz ein, es entfielemit der Möglichkeit zugleich ja auch jede Notwendigkeit, ihn als Binde-glied zwischen diesseitigem Dasein und jenseitigem Sein mit Beschlagzu belegen, erledigte sich mit der Gelegenheit, ihn als Integrationsfaktorzwischen immanentem Kontinuum und transzendentem Initium in An-spruch zu nehmen, ebensowohl auch alle zu solcher Inanspruchnahmezwingende Verlegenheit. In der Tat stellte sich so die haargenau selbeSituation wieder her, wie sie vormals im Zuge der die mythologische Um-charakterisierung des anderen Seins beschließenden festlich-kursorischenVerschwendung des Reichtums und orgiastisch-proteischen Vergeudungdes Überflusses einzutreten pflegte. Wie dort das als Herr des Festmahlspräsente andere Subjekt dadurch, daß es den Reichtum orgiastisch ver-zehrte, sich selber den Boden entzog und sich mit eigener Hand zurGegenstandslosigkeit verurteilte, so würde auch hier dies inzwischen alsHerr des Grabmals absente andere Subjekt dadurch, daß es den Reich-tum plutonisch verschlänge, den Überfluß als Thesaurus verschwindenließe, sich selber um jedes diesseitige Realfundament bringen und allseiner immanenten Objektivität berauben. Mit dem Reichtum nämlichverschwände ja nicht allein das das andere Sein seiner unbedingt ante-riorischen Jenseitigkeit zu entreißen und ans diesseitige Stammesdaseinanzuschließen bestimmte Bindemittel, verflüchtigte sich nicht bloß derden neuen Anfang aus seiner absolut apriorischen Transzendenz zurück-zuholen und in den immanenten Stammesprozeß einzugliedern gedachteIntegrationsfaktor, sondern erledigte sich ebensosehr die Scheidelinie, die

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das andere Sein in solch exklusiver Jenseitigkeit überhaupt erst vorstel-lig werden läßt, entfiele zugleich auch die Trennwand, die dem neuenAnfang überhaupt nur zu solch disjunktiver Transzendenz verhilft. Er,der gesellschaftliche Reichtum, ist es schließlich, der ad infinitum seinerEntfaltung jenes inzwischen verschiedene und in die Grube gefahreneSubjekt in seiner ganzen ontologischen Jenseitigkeit reminiszierend fest-hält und in all seiner historiologischen Transzendenz remonstrativ imGedächtnis bewahrt, geradeso, wie er es einst ex improviso seines Entste-hens präsent werden und Gestalt gewinnen ließ. Und er also ist es, dereben dadurch die Stammessubjekte hier wie dort zwingt, ihn in Reaktionauf diese seine restitutive Verjenseitigungsfunktion und Transzendenz-neigung in ein Vehikel zur Überbrückung der zwischen Diesseits undJenseits durch ihn aufgerissenen Kluft umzufunktionieren beziehungs-weise als Mittel zur Heilung des zwischen Immanenz und Transzendenzmit ihm aufgetretenen Sprungs in die Pflicht zu nehmen. Räumte, wieeinst das orgiastische Fest, so jetzt das plutonische Grab mit diesem Reich-tum auf, bedeutete das zwar den Verlust des die ontologische Differenz zuüberwinden bestimmten Einheitsstifters und die historiologische Krank-heit zu kurieren gedachten Heilmittels; aber mit dem Einheitsstifter gingeineins auch der die Einheitsstiftung allererst nötig machende Zwietracht-säer verloren, mit dem Heilmittel verlöre sich gleichzeitig auch das dieKrankheit überhaupt erst erregende Gift. In dem Maß, wie der Reichtumim räumlich vorgestellten Jenseits des verschiedenen anderen Seins alsplutonischer Schatz versänke, der Überfluß in der topisch verstandenenTranszendenz des vergangenen neuen Anfangs als Thesaurus verschwän-de, büßte auch das Jenseits selbst jenen das Diesseits disqualifizierendenexklusiven Charakter ein, den ihm ja allererst der als ontologische Kri-se zwischen Sein und Schein ostentativ scheidende Reichtum verleiht,legte die Transzendenz selbst jene die Immanenz entwertende disjunk-tive Identität ab, die sie überhaupt nur dem als historiologische TropeWirkliches von Unwirklichem remonstrativ trennenden Überfluß ver-dankt. Zugleich vom Reichtum und vom ontologischen Schrecken jenesAndersseins befreit, das nichts sonst als der Reichtum reminiszierendfesthält, ineins dispensiert vom Überfluß und vom historiologischenTrauma jenes Neuanfangs, den einzig und allein der Überfluß assozia-tiv im Gedächtnis bewahrt, fänden sich die Stammessubjekte plötzlichin die subsistentielle Einfachheit und existentielle Sichselbstgleichheit

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zurückversetzt, die vormals der Mechanismus mythologisch-festlicherVerschwendung ihrem Zusammenhang neu zu sichern pflegte und dieaber die produktivkräftige Verwandlung des Reichtums in eine Dauerer-scheinung, die wachstumsträchtige Erhebung des Überflusses zur festenEinrichtung ihnen lange schon aus dem Blickfeld hat geraten lassen.

Keineswegs also müßten die Stammessubjekte das Versinken des Bin-deglieds Reichtum im plutonisch verstandenen Jenseits der Unterwelt alsverzweiflungsvolles Dilemma empfinden. So sehr zwar jene plutonischeBeisetzung und thesaurische Beseitigung des Reichtums im Blick aufdie angestrebte potentielle Verknüpfung des ontologisch Getrennten alskrasses Scheitern erschiene, so sehr erwiese sie sich sub specie der mitihr erreichten aktuellen Behebung der ontologischen Trennung selbstals im Gegenteil durchschlagender Erfolg. Das wahre Problem bestehtvielmehr darin, daß es zu jenem plutonischen Versinken des BindegliedsReichtum, zu jenem thesaurischen Verschwinden des IntegrationsfaktorsÜberfluß nicht wirklich kommt, weil dank der auf Grund arbeitsteiligerKooperation zunehmenden Arbeitsleistung und wachsenden Produktiv-kraft des Stammes immer mehr gesellschaftlicher Reichtum nachwächst.Auch beim besten Willen und bei äußerster Kraftanstrengung könnendie Stammessubjekte den Reichtum gar nicht so rasch unter die Erdebringen, wie sie ihn hervorbringen, können sie den Überfluß gar nichtso schnell aus der Welt schaffen, wie sie ihn in die Welt setzen. Währendsie mit der einen Hand Reichtum ins unterirdische Jenseits versenken,erzeugen sie mit der arbeitsteilig anderen Hand im irdischen Diesseitsimmer mehr Reichtum; während sie dort fortlaufend Überfluß in derTranszendenz des Totenreichs verschwinden lassen, lassen sie hier inkooperativer Gegenläufigkeit jede Menge weiteren Überfluß in der Im-manenz des Stammesdaseins entstehen. Dieser neugeschaffene Reichtumreißt die ontologische Kluft zwischen Diesseits und Jenseits ständig wie-der auf, stellt die historiologische Trennung zwischen Immanenz undTranszendenz immer aufs neue her und nötigt damit die Stammessub-jekte, ihn für eine Bindegliedfunktion in Anspruch zu nehmen, die zuerfüllen er doch ebensowenig taugt wie der vor ihm in die Grube gefah-rene Überfluß und die er aber durch sein als pauschale Problemlösungbegreifliches persönliches Verschwinden kurzerhand überflüssig machen,durch seinen als Radikalkur erkennbaren eigenen Untergang überhauptgegenstandslos werden lassen könnte, stünde nicht jeweils schon wieder

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weiterer Überfluß ins Haus. Weil der Reichtum ein ins räumliche Jen-seits der Unterwelt verschwundenes anderes Sein reminisziert, einen zurtopischen Transzendenz des Totenreichs verschiedenen neuen Anfangremonstrativ zur Geltung bringt, finden sich die Stammessubjekte ineinen Reichtumübereignungsvorgang und Überflußübertragungsprozeßverstrickt, der nur zum Schein der Wiederanbindung des Jenseitigen ansDiesseits, der Wiedereinbindung des Transzendenten in die Immanenzdient und der in Wahrheit auf den Versuch hinausläuft, nach dem Mustereiner Tilgung des Anstoßes durch Entfernung des Steins, einer Erledigungdes Delikts durch Beseitigung des corpus mittels einer Evakuierung desÜberflusses selbst in das Jenseits, das er remonstrativ zur Geltung bringt,das Problem aus der Welt und die Krise insgesamt sich vom Halse zuschaffen. Weil aber ständig weiterer Reichtum anfällt, wächst sich dieseBeseitigungs- und Erledigungsprozedur zu einem ebenso unabschließ-baren wie unaufhaltsamen absurden Wettstreit zwischen der Kraft desStammes zu produzieren und seiner Kapazität zu eliminieren, zwischenzielstrebigem Herstellen und eilfertigem Wegschaffen des Hergestell-ten, zwischen routiniertem Erzeugen und ritualisiertem Vernichten desErzeugten aus.

Angesichts des Dauertransfers von Reichtum ins Jenseits beginnen die Stam-messubjekte die Zeit, da der plutonische Tote noch als ihr Feste feiernder Herrunter ihnen weilte, zurückzusehnen. Der Versuch, diese frühere Situation wie-derherzustellen, schlägt indes fehl. Zwar gelingt es, durch die Etablierung eineslebenden Stellvertreters des Toten dem Reichtum eine neue Diesseitszentrierungzu geben, aber weil bei seinem eigenen Tod der Stellvertreter jeweils selber zumHerrn des Totenreichs avanciert und, dieses Ende antizipierend, bereits zu Leb-zeiten anfängt, seine künftige Heimstatt mit Reichtum auszustatten, schlägtder Stabilisierungsversuch schließlich in eine verstärkte Jenseitsverfallenheit desReichtums um.

Gänzlich anders, als erhofft, hat sich mithin nach dem Tode des anderenSubjekts die Situation für die Stammessubjekte entwickelt. Sie, die zuLebzeiten des anderen Subjekts dank der Erhebung seines Reichtumbe-zugs zur Dauererscheinung, der Verwandlung seiner Bindung an denÜberfluß in eine feste Einrichtung, für seinen Prioritätsanspruch auf

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den Reichtum keinen vernünftigen Grund mehr zu erkennnen, seinerPrivilegierung zum Überfluß keinen sachlichen Sinn mehr abzugewinnenvermochten und die sich deshalb vom Ableben des anderen Subjektsnichts geringeres versprachen als den ungehinderten Zugang zu einemihnen widerrechtlich entzogenen Reichtum, die freie Verfügung übereinen ihnen willkürlich vorenthaltenen Überfluß – sie also finden sichnun, da das andere Subjekt mit Tode abgegangen ist, plötzlich unsanft aufden Boden der anteriorisch-apriorischen Tatsachen heruntergeholt undnämlich vom reminiszierenden Reichtum selbst, vom remonstrierendenÜberfluß als solchem in die Realität jener ursprünglich unbedingtenIndifferenz und uranfänglich absoluten Negativität des anderen Sub-jekts zurückversetzt, die sie vormals zwang, im heroologisch bedingtenReflex das andere Subjekt um jeden Preis, auch um den der ihm zugestan-denen Privilegierung zum Überfluß, mit dem andernfalls von völligerIrrealisierung bedrohten Stammesprozeß historisch-chronologisch zuvermitteln und in den ansonsten mit totaler Entwertung konfrontiertenStammeszusammenhang systematisch-topisch zu integrieren. Indem derReichtum das verschiedene Subjekt den Stammessubjekten in der ganzenfrüheren Negativität eines das Stammesdasein ex anteriori revozierendenunbedingt anderen Seins und a priori disqualifizierenden absolut neuenAnfangs ins Gedächtnis ruft, läßt er ihnen auch wieder voll und ganzdie Notwendigkeit erkennbar werden, das andere Subjekt seiner verhee-rend exklusiven Jenseitigkeit zu entreißen und nach altem Muster insreichtumbezogene Stammesdasein hereinzuholen, es seiner vernichtenddisjunktiven Transzendenz zu entkleiden und in gewohnter Weise inder überflußbestimmten Stammessphäre zu engagieren. Exakt jene demanderen Subjekt eingeräumte Priorität auf den Reichtum, die ihnen zuLebzeiten des anderen Subjekts noch ebenso ärgerlich wie unbegründetvorkam, wird ihnen nun plötzlich wieder als zwangsläufige Konsequenzder Abwehr einer gegen die Stammesrealität als solche sich richtendenIrrealisierungsgefahr, als unvermeidlicher Preis für die Beseitigung einerauf das Stammesleben schlechthin zielenden Entwertungsdrohung inihrer vollen Bedeutung erkennbar. Indes, den guten Sinn und die strikteNotwendigkeit für eine abermalige Übertragung des Reichtums auf dasVorrang beanspruchende andere Subjekt einzusehen, ist eines; ein ande-res ist, für solchen Transfer auch wieder einen gangbaren Weg zu finden.

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Dies in der Tat erweist sich als schier unlösbares Problem. Wie zu Lebzei-ten des anderen Subjekts der vorhandenen Wirklichkeit seiner Integrationin die Stammesdimension die fehlende Einsicht der Stammessubjekte inderen Notwendigkeit entsprach, so entspricht nunmehr der vorhandenenEinsicht der Stammessubjekte in die Notwendigkeit solcher Integrationdie zu letzterer fehlende Möglichkeit. Schuld daran ist die durch den Todbesiegelte Verschiedenheit des vom Überfluß ins Gedächtnis Gerufenen,durch die dessen ontologische Differenz zu einer Kluft sich vertieft, diekeine Reichtumsintervention mehr zu schließen vermag, sein historiologi-scher Sprung sich zu einem Riß erweitert, den kein Brückenschlag mittelsÜberfluß mehr zu bewältigen imstande ist. Zwar gelingt den Stammes-subjekten, dies ontologisch klaffende Jenseits, in das hinein das andereSubjekt sich unerreichbar verloren hat, als Unterwelt räumlich zu fassenund als Totenreich topisch zu orten und von daher denn auch die formelleVoraussetzung für die Abtretung des Reichtums, die rein technische Basisfür die Überlassung des Überflusses ans andere Subjekt zu schaffen.Aber weil infolge seiner Abtretung der Reichtum auf die Seite jenes –ungeachtet aller unterirdisch-räumlichen Vorstellung – unerreichbarenJenseits fällt, in das er hinüberwechselt, um in ihm als plutonischer Schatzzu verschwinden, als thesaurus absconditus sich zu verlieren, erweist ersich als materiell außerstande, der ihm zugedachten Bindefunktion zugenügen, und legt von eben der Kluft, die er eigentlich schließen soll,immer nur Zeugnis ab, zeigt er sich unfähig, die ihm gestellte Integra-tionsaufgabe zu erfüllen, und bestätigt stets nur eben den Riß, den erkitten soll. Und weil sie zugleich immer mehr Reichtum schaffen, könnendie Stammessubjekte aus jenem Verschwinden des Reichtums in derplutonischen Unterwelt, seinem Verlust ans thesaurische Totenreich auchnicht den erwünschten Vorteil einer pauschalen Lösung des Konfliktsdurch Erledigung des Konfliktstoffs ziehen, sondern müssen im endlosfrustrierenden Geschäft der Anbindung eines Jenseits, das sich das Bin-deglied umstandslos einverleibt, und Integration einer Transzendenz,die den Integrationsfaktor kurzerhand verschlingt, frustrierend endlosfortfahren.

Was Wunder, daß da den Stammessubjekten die Zeiten, als das andereSubjekt noch am Leben und durch seinen zum Dauerzustand erhobenenfestlichen Reichtumgenuß ersichtlich ans Stammesdasein gebunden, als

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es noch leibhaftig präsent und durch sein zur festen Einrichtung ge-wordenes orgiastisches Schwelgen im überfluß anschaulich in die Stam-messphäre eingegliedert war, plötzlich im rosigsten Licht erscheint. Undwas Wunder, daß sie mehr noch auf die Idee verfallen, durch eine Wie-derherstellung der Institution des in aller Lebendigkeit seine Prioritätauf den Reichtum beanspruchenden anderen Subjekts, durch eine Neu-besetzung der Rolle des in voller Präsenz sein Privileg zum Überflußwahrnehmenden Herrn des Festes jene früheren Zeiten wiedererstehenzu lassen, um auf diese Weise den Reichtum von seiner plutonisch unauf-haltsamen Katabole ins Jenseits, seiner thesaurisch schwergewichtigen,transzendenten Sturzbahn abzubringen. Indem sie die Position im Dies-seits, die das andere Subjekt durch sein Verscheiden geräumt hat, miteiner leibhaftig neuen Figur besetzen, unternehmen sie den Versuch,dem Reichtum jene verbindliche Zentrierung aufs Diesseits zurückzuge-ben, die der Verschiedene ihm verschlagen hat, den Überfluß als jenenintegrierenden Bestandteil der Immanenz wiederaufzurichten, als dender Tote ihn ausgehebelt hat. Desillusioniert durch das Erlebnis einesReichtums, der als jenseitige Macht reminiszierend beschwört, was ihnals diesseitige Gewalt gerade erst freigelassen hat, klug geworden durchdie Erfahrung mit einem Überfluß, der als transzendenten Fluchtpunktremonstrativ festhält, was er als immanenten Bezugspunkt kaum erstlosgeworden ist, streben die Stammessubjekte in statum quo ante zurück,streben sie die Wiedereinrichtung jenes früheren Gewaltverhältnisses,die Wiederherstellung jenes gehabten Bezugssystems an, das sie zwarauch den Reichtum kostet, ihnen dafür aber eine ihr Verhältnis zumanderen Subjekt betreffende verbindliche Koexistenzform und integraleSicherheitsleistung gewährt und ihnen also erspart, in der beschriebe-nen Weise eines jeder Bindekraft ermangelnden fruchtlos-dissoziativenDauertransfers ins Jenseits, einer aller Integrationsleistung baren sinnlos-abortiven Endlosüberweisung an die Transzendenz Reichtum unter dieErde zu bringen. Eben die exklusive Bindung des Überflusses an einenin der Immanenz erscheinenden privilegierten Herrn des Festes, die sievorher nicht rasch genug abgebrochen, nicht früh genug aufgelöst sehenkonnten, knüpfen sie jetzt eigenhändig wieder an, um den absurd to-tenkultlichen Konsequenzen zu entrinnen, die der entwendete Reichtumdurch seine unversehens reminiszierende Wendung zum Jenseits, der

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entbundene Überfluß durch seine unvermittelt remonstrative Bindung andie Transzendenz heraufbeschwört.

Indes, den Status quo ante im vollen Sinn wiedereinzurichten, ist denStammessubjekten tatsächlich gar nicht möglich. Mögen sie die im Dies-seits vakante Stelle des anderen Subjekts auch noch so entschlossen miteiner lebendigen Gestalt neu besetzen, seine in der Immanenz obsole-te Rolle auch noch so entschieden wieder mit einer leibhaftigen Figurausfüllen, von der reminiszierenden Kehrtwendung zu dem ins Jen-seits Verschiedenen, der remonstrativ gegenläufigen Bindung an denzur Transzendenz Entschwundenen läßt sich der Reichtum deshalb nochlange nicht abbringen. Sowenig der mit Tode abgegangene orgiastischeHeros sich aus dem Jenseits, in das er verschieden ist, wieder ins Diesseitszurückbringen läßt, sowenig läßt sich auch der mit remonstrativ ganzerSeele an die Transzendenz fixierte Überfluß dem Transzendenten, an daser fixiert ist, einfach wieder abspenstig machen und einem an dessenStelle in der Immanenz sich bietenden Ersatz erneut zuwenden. Wäh-rend er mit reminiszierender Anhänglichkeit dem verstorbenen Herrn inseiner jenseitigen Verschiedenheit nachsinnt, in remonstrativer Verbun-denheit dem vergangenen Heros in seiner transzendenten Abwesenheitnachspürt, zeigt er sich denkbar unbereit, einer als Ersatz für den Ver-schiedenen im Diesseits eingesetzten anderen Figur zuzufallen, einer alsAlternative zum Abwesenden in der Immanenz dingfest gemachten neu-en Person sich auszuliefern. Was der Reichtum äußerstenfalls geneigt istmitzumachen, ist die Anerkennung jener von den Stammessubjekten imDiesseits eingesetzten anderen Figur in der Eigenschaft nicht eines Ersatz-mannes, sondern eines Prokuristen des Verschiedenen, die Realisierungjener von den Stammessubjekten in der Immanenz dingfest gemachtenneuen Gestalt in der Rolle nicht einer Alternative zum Abwesenden,sondern eines Platzhalters für ihn. Nicht also zwar anstelle, immerhinaber als Stellvertreter des Verschiedenen, nicht zwar als Nachfolger, wohlaber als Sachwalter des Abwesenden, darf das andere Subjekt, mit demdie Stammessubjekte die im Diesseits vakante Stelle des Verschiedenenneu besetzen, die in der Immanenz obsolete Rolle des Abwesenden re-aktivieren, Anspruch auf den Reichtum erheben. Einem Subjekt, das nurbeansprucht, den Reichtum stellvertretend für den Verschiedenen entge-genzunehmen und zu verwalten, den Überfluß treuhänderisch für den

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Abwesenden in Besitz zu nehmen und zu verwahren, kann der Reich-tum in Einklang mit seiner reminiszierenden Anhänglichkeit an denVerschiedenen sich ausliefern und ohne Beeinträchtigung seiner remons-trativen Bindung an den Abwesenden sich übergeben. Liefert aber derReichtum jener als Prokurist des Verschiedenen im Diesseits etabliertenneuen Figur sich aus und übergibt sich ihr zu treuen Händen, so gibter seinen fluchtpünktlich direkten Kurs aufs Jenseits auf und gewinntwieder eine relative Zentrierung aufs Diesseits, legt er seine katabolischunmittelbare Neigung zur Transzendenz ab und fühlt sich in der Imma-nenz quasi wieder zu Hause. Statt ihn unmittelbar nach seiner Produktionunter die Erde bringen zu müssen, können die Stammessubjekte denReichtum dem auf Erden präsenten Statthalter des Unterirdischen, demunter den Lebenden weilenden Vertreter des Toten darbringen. Wenndieser das ihm anvertraute plutonische Gut dazu nutzt, ein seiner Stel-lung als Platzhalter angemessenes Leben im Reichtum zu führen, kanndas den Stammessubjekten nur recht sein: Er verleiht damit der in ihmgestaltgewordenen erneuten Zentrierung des Reichtums aufs Diesseitsdes Stammesdaseins, dem in seiner Person figurierenden neuerlichenHeimischwerden des Überflusses in der Immanenz der Stammessphä-re einen über die eigentumsrechtlich-formale Evidenz hinausgehendensinnenfällig-materialen Ausdruck. Dabei muß die Stammessubjekte nichtweiter bekümmern, daß diese Rezentrierung des Reichtums aufs Dies-seits unter einem in der Statthalterschaft des lebendig anderen Subjektsausgemachten Vorbehalt steht und also Provisorium bleibt. Solange daslebendig andere Subjekt die ihm zugewiesene Stellung hält, der leibhaftigneue Herr die ihm angewiesene Rolle spielt, bleibt jener am Reichtumhaftende Eigentumsvorbehalt eine Formalie, bleibt das Provisorium inder Verfügung über den Überfluß eine irrelevante Einschränkung undkönnen sich die Stammessubjekte in der Tat darauf verlassen, daß ih-nen gelungen ist, mit dem vergleichsweise annehmbaren Beelzebub deralten, im Diesseits wieder eingeführten persönlichen Priorität auf denReichtum und herrschaftlichen Privilegierung zu ihm den schlechter-dings inakzeptablen Teufel der neuen katabolischen Jenseitsverfallenheitund thesaurischen Transzendenzbesessenheit des Reichtums wenn schonnicht ausgetrieben, so immerhin neutralisiert und wenn auch nicht ausdem Felde geschlagen, so jedenfalls in seine Schranken gewiesen zuhaben.

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Genau dies aber, daß der leibhaftige Statthalter des Verschiedenendauerhaft die ihm zugewiesene Stellung hält, erweist sich schließlich alsvergebliche Hoffnung. Zwar bezieht der Statthalter die ihm zugewiese-ne Stellung, aber nicht etwa, um sie auf Dauer zu halten, sondern imGegenteil, um sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zugunstendessen, dessen Platz er hält, zu räumen. Zwar übernimmt der Stellver-treter die ihm angewiesene Rolle, aber nicht, um sie ad infinitum zuspielen, sondern um sie nur allzu rasch zugunsten dessen, den er dar-stellt, aufzugeben. Die Notwendigkeit hierfür liegt auf der Hand. Es istseine eigene Sterblichkeit, die Endlichkeit seines eigenen Daseins, die denStatthalter bald dazu bringt, seine Rolle in der Immanenz aufzugeben.Indem er selber mit Tode abgeht, gibt er seine Funktion im Diesseits aufund macht sich daran, seine diesseitige Prokura eben dem jenseitigenSubjekt, von dem er sie hat, zurückzugeben, schickt sich an, vor ebendem transzendenten Herrn, dessen Belange er in der Immanenz vertrat,Rechenschaft abzulegen. Rückgabe der Prokura und Rechenschaftslegungaber bedeutet vor allem, daß er dem Subjekt im Jenseits den gesellschaft-lichen Reichtum überbringt, den er an seiner Statt mit Beschlag belegtund verwahrt hat, daß er dem Herrn in der Transzendenz den Überflußzukommen läßt, den er stellvertretend für ihn in Besitz genommen undverwaltet hat. Jenen Überfluß, den er als Majordomus des Verstorbenengesammelt, als Sachwalter des Toten gehortet hat, macht er sich, kaumdaß er selber tot ist, auf, seinem plutonischen Herrn und thesaurischenEigner zu überbringen. Mit allem Prunk und Pomp solchen Reichtumswird er zu Grabe getragen, fährt er in die Grube, um vor den zu treten,dem der Reichtum in Wahrheit zusteht, um dem die Ehre zu geben,dem der Überfluß in Wirklichkeit gehört. Eben die als Auslieferung andie Unterwelt räumlich vorgestellte Verjenseitigung des Reichtums, dieer zu Lebzeiten zu verhindern dient, setzt so der Statthalter des Ver-schiedenen durch sein eigenes Verscheiden am bitteren Ende selber insWerk; eben der Überführung des Überflusses in eine als Totenreich to-pisch verstandene Transzendenz, der sich leibhaftig entgegenzustemmenseine Aufgabe ist, bricht er durch seinen eigenen Tod höchstpersönlichBahn. So sehr dieses schließliche Scheitern ihrer Bemühungen, den Reich-tum am Übergang ins Jenseits zu hindern, die Stammessubjekte auchkränken mag – angesichts eines kraft ihrer eigenen Arbeit fortlaufendnachwachsenden Reichtums sind sie durchaus bereit, statt des mitsamt

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seinem Reichtum Verschiedenen einen immer neuen Statthalter einzuset-zen, anstelle des nebst seinem Überfluß Verschwundenen einen jeweilsweiteren Stellvertreter zu berufen und sich mit dieser generationsweisewiederholten Lösung des Problems einer Arretierung des Reichtums imDiesseits und Konsolidierung des Überflusses in der Immanenz abzufin-den. Wie ihnen indes bald deutlich wird, läßt sich das in der Sterblichkeitund Todesverfallenheit des Stellvertreters beschlossene finale Scheiternihrer den Reichtum betreffenden Arretierungs- und Konsolidierungsbe-mühungen auf einen bloß marginalen Mißerfolg, einen bloß partiellenDefekt in einer, aufs Ganze gesehen, funktionierenden Strategie nichteinschränken. Rasch nämlich zeigt sich, daß für den Stellvertreter seinAbgang in die Transzendenz des Totenreichs weit mehr und in der Tatetwas ganz anderes ist als ein auf die Rückgabe der Prokura an den totenHerrn und Rechenschaftslegung vor ihm gemünzter einfacher Boten-und Huldigungsgang. Schließlich ist, was der Stellvertreter mit seinemstygischen Abgang vollbringt, partout nichts anderes als das, was vor-mals der tote Herr selber vollzogen hat. Und schließlich ist, was er durchdiesen Übergang erreicht, exakt die gleiche Stellung und Fasson, die dertote Herr als solcher einnimmt. So gesehen muß sich dem Stellvertetersein Wechsel ins Jenseits der Unterwelt als eine ebenso vollgültige wievollständige imitatio domini darstellen. So wahr im Augenblick seineseigenen Todes der Stellvertreter dem Herrn, den er im Diesseits vertretenhat, ins Jenseits folgt und so wahr er dabei nolens volens dessen topischenStandort bezieht und systematischen Status erhält, so wahr nimmt fürihn, was er tut, die Bedeutung einer regelrechten Identifizierung undveritablen Vereinigung mit dem Toten an.

Erweist sich damit denn aber dem Stellvertreter als eigentlicher Sinnseines Übergehens in die Transzendenz die Einnahme der Position desverschiedenen Heros selbst und Annahme des dem toten Herrn als sol-chem eigenen Status, so muß ihm dies natürlich seine Statthalterschaft imDiesseits in einem ganz und gar anderen Licht erscheinen lassen. Für denVertreter und Verwalter, dem sein Dasein im Diesseits nurmehr als Vor-stufe zum eigenen künftigen Sein im Jenseits erscheint, dem sein Leben inder Immanenz bloß noch als Vorbereitung der eigenen späteren Existenzin der Transzendenz gilt, legt das, was er im Diesseits tut, den Charaktereines unter Vorbehalt eigenständigen Projekts ab und nimmt statt dessen

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die Züge eines ganz und gar auf das Sein im Jenseits bezogenen Vorge-hens und strikt auf die transzendente Existenz gerichteten Verfahrensan. Das heißt, jenes Horten von Überfluß, mit dem der Stellvertreterzu Lebzeiten befaßt ist, hört auf, eine vorläufig ganz ans Diesseits sichhaltende und erst zum Schluß ins Jenseits sich wendende, eine vorder-hand vollständig auf die Immanenz gemünzte und erst nach der Zeitzur Transzendenz konvertierte Beschäftigung zu sein, und wird zu einervon Anfang an mit dem Gedanken ans Jenseits durchtränkten, einerprinzipiell von der Aussicht auf die Transzendenz besessenen Aktivität.Und dabei bleibt dieser Gedanke ans Jenseits, von dem der Statthaltererfüllt und vielmehr besessen ist, keineswegs bloß eine das Horten vonÜberfluß theoretisch begleitende Reflexion und innerlich definierendePerspektive, sondern nimmt die Gestalt einer jene Sammeltätigkeit undSchatzbildung praktisch bestimmenden Resolution und äußerlich dis-ponierenden Initiative an. Als einer, der auf Erden in Wahrheit nur denInteressen seines eigenen, zukünftig unterirdischen Seins dient, der imLeben in Wirklichkeit bloß das Geschäft seiner eigenen, totenweltlichspäteren Existenz besorgt, richtet der Statthalter seinen Sinn mehr undmehr auf dieses sein zukünftiges Sein, widmet sich der Stellvertretermit zunehmendem Alter immer ausschließlicher der Vorbereitung aufseine spätere Existenz. Zum einen fängt er an, Reichtum wesentlich imBlick auf dessen spätere Überführung an den transzendenten Wohnort,mithin unter dem Gesichtspunkt seiner Eignung als plutonischer Schatz,seiner Brauchbarkeit als totenweltlicher Hort produzieren zu lassen, zumanderen macht er sich daran, den transzendenten Wohnort selbst fürseine künftige Ankunft und die Aufnahme des gesammelten Reichtumsvorweg herrichten, für seinen späteren Aufenthalt und die Unterbrin-gung des gehorteten Überflusses im voraus ausbauen zu lassen. DasGrab, das ihn zukünftig aufnehmen soll, läßt er im relativen Jenseitseiner vom Bereich der Lebenden geographisch getrennten Region alsjede diesseitige Heimstatt übertrumpfende festgebaute Schatzkammeraus der Erde stampfen, die Grube, die ihn späterhin bergen soll, in dersichtbarlichen Transzendenz einer von der Welt des Stammes topologischabgeschiedenen Sphäre als jeden irdischen Wohnsitz in den Schattenstellendes monumental angelegtes Mausoleum aufführen. In der Kon-sequenz solcher mittels der Arbeitsleistung des Stammes getroffenenumfänglichen Vorbereitungen auf die transzendente Existenz verändert

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aber der Stellvertreter ebenso gründlich seine eigene Stellung und Funk-tion im Diesseits wie die spezifische Natur und Beschaffenheit des aufdiese Stellung und Funktion bezüglichen Reichtums. Nicht nur verleiht ermit jenen Vorbereitungen seiner Selbstprojektion auf den Verschiedenen,seiner Identifikation mit dem Toten unmißverständlich Ausdruck undverliert mit ihnen allen selbständig diesseitigen Halt, gibt mit ihnen alleeigensinnig immanente Rücksicht preis, um am Ende nichts weiter mehrzu sein als ein in Selbstverleugnung vergehender Verweser pro cura desjenseitigen Seins, das er in Wahrheit sein will, ein in Selbstauflösungbegriffener Konkursverwalter pro domo der transzendenten Existenz,die seine Wirklichkeit ausmachen soll – er beraubt mit jenen Veranstal-tungen auch den Reichtum selbst jeder diesseitigen Bedeutung und allenimmanenten Gewichts und transformiert ihn in eine gar nicht mehr ernst-lich im Diesseits erscheinende, unmittelbar jenseitige Seinsbestimmung,übersetzt ihn in ein als immanentes gar nicht mehr eigentlich firmie-rendes, originär transzendentes Existential. Indem er sich mit allen ihmzur Verfügung stehenden Kräften des Stammes der Aufgabe verschreibt,sein künftiges Sein im unterweltlichen Jenseits vorsorglich zu etablieren,sich mit allen seiner Disposition unterstellten Stammessubjekten demGeschäft widmet, seine spätere Existenz im transzendenten Totenreichantizipatorisch zu begründen, erspart er dem Reichtum alle diesseitigeBeschaffenheit und immanente Bestimmtheit und setzt gesellschaftlicheProduktivkraft umstandslos in plutonischen Bestand um, metamorphi-siert gemeinschaftliche Arbeitsleistung unvermittelt in den Thesaurus desToten.

Findet demnach der Reichtum, den der Statthalter hervorbringen läßt,seine unmittelbare Vergegenständlichung in dem prunkvollen Schatz-haus, das diesen mitsamt seinen übrigen Schätzen in einem räumlichverstandenen Jenseits künftig aufnehmen und beherbergen soll, nimmtder Überfluß direkt die Gestalt des monumentalen Palastes an, der die-sem nebst seinen sonstigen Gütern in topisch gewendeter Transzendenzspäterhin eine Heimstatt bieten und das gewohnte Leben sichern soll, sobeschreibt er auf Veranlassung des Statthalters nicht nur permanent ebendie katabolische Bahn, von der dessen Dasein ihn gerade abhalten, führtnicht nur unaufhörlich eben die abgründige Bewegung aus, die dessenPräsenz gerade unterbinden sollte – er beschreibt darüber hinaus seinekatabolische Bahn mit nie dagewesener, unvergleichlicher Zielstrebigkeit,

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führt seine abgründige Bewegung mit nie gekannter, unübertrefflicherEffektivität aus. Wie anders denn als beispiellos zielstrebig in der Katabo-le, als unübertrefflich abgründig in der Zielstrebigkeit muß erscheinen,daß dank der ins räumliche Jenseits, nach Westen, über den Fluß, an denRand der Wüste verschobenen Bautätigkeit des Stammes der ad usummortui bestimmte Reichtum nicht einmal mehr pro forma im DiesseitsStation macht, sondern unverweilt die Gußform und Materialität seinerjenseitigen Bestimmung anzieht, daß dank des ins Niemandsland außer-halb der menschlichen Wohnstätten, ins Land der Schakale, verlagertenWerkens und Schaffens der Stammessubjekte der pro domo defunctigeschöpfte Überfluß nicht einmal nominell mehr in der Immanenz Ein-kehr hält, sondern ohne Verzug sich als transzendentes Gut in Stellungbringt? So gesehen, hat die Einsetzung eines Stellvertreters des Totendas genaue Gegenteil dessen bewirkt, was mit ihr erreicht werden sollte:Weit entfernt davon, den vom Drang ins Jenseits befallenen Reichtum imDiesseits zu stabilisieren, den im Verlangen nach der Transzendenz sichverzehrenden Überfluß in der Immanenz festzuhalten, hat sie vielmehram Ende nur dazu geführt, die katabolisch-plutonische Verjenseitigungs-bahn des Reichtums bis an den Rand einer Einebnung der Position desDiesseits zu perfektionieren, die weltflüchtig-theasaurische Transzen-denzbewegung des Überflusses bis ins Extrem einer Wegrationalisierungder Rolle der Immanenz zu automatisieren. Hat insofern also der Stell-vertreter, weil er, unter dem Eindruck seiner eigenen Hinfälligkeit derSuggestion des reminiszierenden Reichtums und Faszination des re-monstrierenden Überflusses erliegend, sich rückhaltlos mit dem Totenin seiner topischen Transzendenz identifiziert, die Jenseitssverfallenheitdes Reichtums, die er beheben sollte, vielmehr nur zu perfektionieren,nur zu komplettieren vermocht, so könnte doch in anderer Hinsicht seineDazwischenkunft eine entschiedene Besserung der früheren Situationund Bewältigung alter Schwierigkeiten bewirkt zu haben scheinen. Eskönnte scheinen, als gelinge ihm mit seiner den Reichtum auf direktemWege ins räumliche Jenseits expedierenden totenkultlichen Bautätigkeit,seinen den Überfluß umstandslos in topische Transzendenz umsetzendenfuneralischen Investitionen, wenn schon das perfekte Gegenteil der ge-planten Arretierung des Reichtums im Diesseits, so immerhin eine klarersichtliche Verknüpfung des Jenseits mit dem Diesseits, eine sinnenfälligüberzeugende Einbeziehung der Transzendenz in die Immanenz. Denn

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während zuvor der Reichtum beim Wechsel vom Diesseits ins Jenseitsspurlos in der abgründigen Bleibe versank, restlos in der unterirdischenKammer verschwand, scheint er nun, da er dazu dient, aus eigenemBestand der abgründigen Bleibe selbst eine wahrnehmbare Identität undGestalt zu verleihen und nämlich die unterirdische Kammer als solchein sichtbarlicher Realität zu errichten, das Jenseits eine für das Diesseitsakzeptable Fassung gewinnen zu lassen. Das heißt der Reichtum scheint,indem er der Heimstatt des Verschiedenen die Gestalthaftigkeit eines amjenseitigen Ufer des Diesseits erscheinenden Mausoleums verleiht, demAufenthaltsort des Toten die Anschaulichkeit eines aus transzendenterFerne in die Immanenz hineinragenden Monuments nachweist, jene Rolleeines das Jenseits ans Diesseits anschließenden Bindeglieds, eines dieTranszendenz an die Immanenz zurückverweisenden Integrationsfaktors,der er zuvor nicht gewachsen war, jetzt zu erfüllen. Der Schein einergelungenen Anbindung des Jenseits ans Diesseits trügt indes! Wenn auchder Reichtum bei der Überführung ins Jenseits nicht mehr spurlos unter-geht, sondern die bleibende Gestalt einer vom Diesseits her wahrnehm-baren jenseitigen Seinsbestimmung annimmt, der Überfluß beim Wechselin die Transzendenz nicht mehr restlos verschwindet, sondern die festeBedeutung einer aus der Immanenz heraus erkennbaren transzendentenLebensform gewinnt, ist diese Seinsbestimmung, in der der Verschiedenedemnach dem Diesseits erscheint, alles andere als ein ihn in relative Kon-tinuität mit dem Stammesdasein zurückzubringen geeignetes Existential.So wahr vielmehr der Überfluß sich unmittelbar als Bestimmung desSeins im Jenseits installiert, so wahr fällt er einfach nur von einem Ex-trem ins andere, wechselt partout nur die Seite und kehrt das funktionellgleiche abstoßende Äußere, das er hier aus dem Diesseits dem Jenseitszuwendet, dort vom Jenseits her dem Diesseits zu, präsentiert die analogabweisende Fasson, die er hier von der Immanenz her der Transzendenzdarbietet, dort von der Transzendenz her der Immanenz. Zwar schließt inseiner neuen Bestimmung der Reichtum den Verschiedenen nicht mehrunerreichbar aus, verweist den Toten nicht mehr in unüberbrückbareFerne, tut ihn nicht mehr in unaufhebbare Acht, dafür aber schließt er ihnuneinholbar ein, umgibt ihn mit undurchdringlichen Schranken, schlägtihn in unauflöslichen Bann. Wenn der Reichtum dort die ausgrenzendeWand vorstellt, die dadurch, daß sie das Stammesdasein peremptorisch

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vom Verschiedenen abschneidet, dem Stammeszusammenhang katego-risch den Zugang zum Toten verwehrt, das Diesseits zum Jenseits wieden drinnen eingekerkerten Schein zum draußen freigesetzten Sein sichverhalten läßt, so stellt er hier umgekehrt die einfriedende Mauer dar,die dadurch, daß sie ebenso peremptorisch den Verschiedenen gegen dasStammesdasein abkapselt, ebenso kategorisch den Toten vor dem Zugriffdes Stammeszusammenhangs verwahrt, die Immanenz zur Transzen-denz im Verhältnis von preisgegeben außerweltlicher Unwirklichkeit zuinnerweltlich geborgener Wirklichkeit erscheinen läßt. Jedenfalls zeigtsich in seiner jenseitigen Bestimmtheit einer den Toten einschließendenMauer der Reichtum gerade so trennkräftig und disruptiv wie in seinerdiesseitigen Beschaffenheit einer den Verschiedenen ausschließendenWand und ist er jetzt, da er die Unterwelt als nekropole Schatzkammer zuelaborieren, das Totenreich als sarkophages Mausoleum herauszustellendient, um kein Jota tauglicher für die ihm zugedachte Bindegliedfunktionund Integrationsaufgabe als früher, da er als plutonischer Schatz im Grabversank, als Thesaurus des Toten im Abgrund verschwand.

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. Theokratie

Die schließliche Befreiung des Reichtums von der totenkultlichen Jenseitsverfal-lenheit ist Folge der Bildung stratifizierter Gesellschaften, die ihrerseits Resultatder wachsenden Reichtumsunterschiede zwischen armen, nomadischen und rei-chen, agrarischen Stämmen ist. In keiner genealogischen Abhängigkeit von denTotenkulten der eroberten Stammesregionen mehr befangen und konfrontiert miteiner Vielzahl solcher Kulte, kann der als neuer Statthalter sich etablierende no-madische Eroberer die plutonisch-chthonischen Herren der Kulte der Anonymi-tät und Pluralität ätherisch-olympischer Götter überführen und damit sich selbervon allem katabolischen Nachfolgedruck und Wiederholungszwang ihnen gegen-über emanzipieren.

Mitnichten hat also die Einsetzung eines Statthalters für den Verschie-denen die erhoffte Befreiung der Stammessubjekte vom Fluch der plu-tonischen Katabole und thesaurischen Abgründigkeit des Überflusseszur Folge gehabt. Nicht nur läßt schließlich der Statthalter den Reichtumperfekter, weil direkter als zuvor, eben die katabolische Bahn wiederbeschreiben, von der er ihn doch gerade abhalten sollte, läßt am Endeder Stellvertreter den Überfluß effektiver, weil automatischer denn je,die abgründige Bewegung neu ausführen, an der er ihn gerade hindernsollte; darüber hinaus leistet der neue Modus dieser vom Statthalteraus eigenem Antrieb perfekter wieder aufgenommenen Verjenseitigungdes Reichtums im Blick auf eine mögliche Anbindung des Jenseits ansDiesseits geradeso wenig wie jedes frühere Verfahren. Verantwortlich fürdas umfassende Debakel des im Statthalter Gestalt gewordenen Strebensnach einer Rezentrierung des Reichtums im Diesseits ist die Projektionauf den Verschiedenen und Identifikation mit dem Toten, zu der derStatthalter angesichts der eigenen Vergänglichkeit sich hinreißen läßt, ist

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mithin dies, daß er im Verschiedenen sein eigenes künftiges Selbst, imToten seine eigene spätere Identität erkennt und in seiner gegenwärti-gen Gestalt deshalb nur die Vorform dessen, was er selber erst wird, inseiner jetzigen Person bloß die Vorbereitung auf das, was er noch garnicht eigentlich ist, gewahrt. Weil seine eigene jenseitige Perspektiveden Stellvertreter im Toten, den er vertritt, nicht bloß den Grund zuder Annahme finden läßt, daß er auf Erden in Wahrheit gar nichts ver-loren hat, sondern mehr noch die feste Überzeugung gewinnen läßt,daß er in Wirklichkeit gar nicht von dieser Welt ist, kann er mit demReichtum, der ihm auf Erden zufällt, nicht anders verfahren als in dergeschilderten, unmittelbar jenseitsbezogenen, unmittelbar auf die Er-fordernisse seines künftigen unterweltlichen Seins gemünzten Weise.Damit er anders verfahren könnte und, mindestens für die Dauer seinesinnerweltlichen Lebens, imstande wäre, den Reichtum in der von denStammessubjekten gewünschten Form in der Immanenz festzuhalten,müßte erst einmal die Basis für jene Projektion des Statthalters auf denVerschiedenen verschwinden und nämlich die alles entscheidende Tatsa-che entfallen, daß in vollständiger Parallelität und vielmehr Synonymitätder Tote war, was der Stellvertreter ist, und ist, was dieser sein wird.Mit allen geschilderten Auswirkungen auf den Reichtum in einer nichtsowohl förmlichen imitatio dei als vielmehr wirklichen repetitio rei sichmit dem Toten identifizieren muß der Stellvertreter ja allein deshalb, weilder Tote haargenau das, was als Herrscher über den Überfluß der Stell-vertreter an seiner Stelle darstellt, zu Lebzeiten in eigener Person einmaldargestellt hat, und weil eben darum auch umgekehrt das, was der Totejetzt als Herr der Unterwelt ist, haargenau das ist, was der Stellvertreterin eigener Person später vorstellen wird. Um eine auf das Dasein imDiesseits gemünzte Selbständigkeit gewinnen und ein in der Immanenzverhaltenes Eigenleben führen zu können, müßte der Stellvertreter ersteinmal diese ihn mit Haut und Haar zum jenseitigen Sein disponierendeEbenbildlichkeit mit dem Verschiedenen, diese ihn mit Leib und Seelezur transzendenten Existenz bestimmende Gleichsinnigkeit mit demToten loswerden. Wie aber könnte das geschehen, da ja mit jeder weiterenStatthaltergeneration, mit jeder ablebensbedingt neuen Person im Stell-vertreteramt, die hypothekarische Last dieser Ebenbildlichkeit nur immergrößer, die bindende Verpflichtung dieser Gleichsinnigkeit nur immer

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unentrinnbarer zu werden verspricht? Je mehr Statthalter schon aufein-ander gefolgt sind, um so unwiderstehlicher wird der Nachfolgedruck,um so unabweislicher der Wiederholungszwang, zumal nun die Iden-tifikation mit der im Toten zusammengefaßten Reihe oder verdichtetenFolge von Vorläufern nicht mehr nur Konsequenz der abstrakten Tatsacheist, daß der Verschiedene dem Statthalter als Herr des Reichtums insJenseits vorangegangen, der Tote dem Stellvertreter als Überflußeignerin die Transzendenz vorausgeeilt ist, sondern mehr noch dem konkretenUmstand Rechnung trägt, daß er dabei auf die gleiche, fundamentaljenseitsbezogene Art wie der Statthalter mit dem Reichtum umgegangenist, in derselben, radikal transzendenzbestimmten Weise wie der Stellver-treter über den Überfluß verfügt hat. Woher sollte angesichts der zu demeinen Herrn der Unterwelt komprimierten langen Reihe von Toten, diezu Lebzeiten alle auf dieselbe Weise wie er, ihr Ebenbild und Nachfolger,den Reichtum unmittelbar in eine jenseitige Seinsbestimmung umgesetzthaben, der jeweils jüngste Statthalter die Kraft nehmen oder die Freiheitschöpfen, dem Reichtum eine eigene diesseitige Fasson zurückzuge-ben? Durch die Aussicht auf seinen eigenen Tod an einen Verschiedenengebunden, der bis ins Detail der Überflußverwendung hinein ihn zurebenbildlichen Nachfolge und gleichförmigen Wiederholung verhält, ister augenscheinlich bar jeder Möglichkeit, von sich aus einen Dispens vonder Verpflichtung zur Nachfolge zu erwirken und eine Befreiung vomWiederholungszwang durchzusetzen.

Indes, wozu dem Stellvertreter aus eigenen Stücken die Möglichkeitfehlt, dazu erhält er nun überraschend aus äußerem Anlaß und aus ande-ren Umständen die Gelegenheit. Dieser äußere Anlaß ist das ebensosehrin der Logik der Überflußentwicklung gelegene wie die Grenzen der bis-herigen Betrachtung sprengende Entstehen großer Reichtumsunterschie-de zwischen den verschiedenen Stämmen und gravierender Abstufungenin der Menge ihres jeweiligen Überflusses. Und demgemäß sind die an-deren Umstände Folge der politischen Rivalitäten und kriegerischenAuseinandersetzungen, die wegen dieser Unterschiede im Reichtumzwischen den Stämmen entbrennen, sowie der Umwälzung im Verhältnisder Stämme zueinander, der mehr oder minder gewaltsamen Umordnungoder vielmehr Neubestimmung ihrer wechselseitigen Beziehungen, inder jene Auseinandersetzungen resultieren. Je nach klimatischen Verhält-nissen, Fruchtbarkeit des Bodens, Wasserreichtum, Vielzahl und Menge

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der Bodenschätze, Gelegenheit der sächlichen Produktionsbedingun-gen, Zahl der Arbeitskräfte und Stand der handwerklichen Fertigkeitengeht die Reichtumsbildung in den einzelnen geographisch verschiede-nen Regionen unterschiedlich rasch vor sich mit dem Ergebnis, daß dieSchere in Besitzstand und Vermögen der regional verschiedenen Stämmezunehmend weiter auseinanderklafft, das kulturelle Gefälle zwischen,geographisch gesehen, den Besiedlern der kargen Bergregionen und denBewohnern der fetten Flußtäler zunehmend größer wird. Die Folge sindÜberfälle und Raubzüge, die, anfangs vereinzelt und bei Gelegenheit,allmählich aber häufiger und habituell, die armen gegen die reichenStämme unternehmen, Beutezüge, die in dem Maß, wie sie zur Gewohn-heit und regelmäßigen Veranstaltung werden, zum wichtigen Faktorin der Reproduktionstätigkeit der armen Stämme und zu einem we-sentlichen Bestandteil ihrer Ökonomie avancieren. Das wiederum hatzur Konsequenz, daß die armen Stämme einen erheblichen Teil ihrerArbeitsleistung und Produktivkraft an die Vorbereitung und erfolgreicheDurchführung jener Kriegszüge wenden, das heißt ein beträchtliches Maßihrer Energie in die Ausbildung kriegerischer Tüchtigkeit und militär-technischer Fertigkeiten stecken. Die reichen Stämme setzen dem keineentsprechenden militärischen Anstrengungen entgegen und beschrän-ken ihre diesbezüglichen Bemühungen auf mehr oder minder effektiveAbwehrmaßnahmen – zu Anfang, weil die Überfälle zu sporadisch sindund zu wenig Schaden anrichten, um den Aufbau eines an allen Punktenwirksamen Verteidigungssystems zu rechtfertigen, und später dann, alsdie Raubzüge gewohnheits- und regelmäßig stattfinden, weil die Produk-tivkraft der reichen Stämme inzwischen so groß ist, daß, zieht man eineKosten/Nutzen-Bilanz, die Arbeit, die zur Erhaltung des bestehendenReichtums aufgewendet und ins Kriegshandwerk gesteckt werden müß-te, immer noch besser und nutzbringender angewandt ist, wenn sie stattdessen unter Inkaufnahme der regelmäßigen Reichtumsverluste in dieproduktiven Tätigkeiten gesteckt und zur Erzeugung neuen Reichtumsverwendet wird.

Kommt es damit nun bereits zu einer stillschweigenden und de fac-to funktionierenden “Arbeitsteilung” zwischen agrarisch-städtischen,Reichtum produzierenden und nomadisch-kriegerischen, Reichtum ap-propriierenden Stämmen, so führt der hierbei den Strategien beider Seiten

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beschiedene relative Erfolg dazu, daß diese sich in der einmal eingeschla-genen Richtung immer weiter spezialisieren, bis irgendwann der Punkterreicht ist, an dem die Überführung der de facto herrschenden Funktio-nenteilung in eine von beiden Seiten akzeptierte und also auch de jurebestehende Einrichtung sich geradezu aufdrängt. Der langen Raubmär-sche und beschwerlichen Beutezüge müde, beschließen die nomadisch-kriegerischen Stämme, das letzte Hindernis, das der vollen Realisierungihrer parasitären Gemeinschaft mit den agrarisch-städtischen Stämmennoch im Wege steht, eben die räumliche Trennung, zu beseitigen, stei-gen von ihren Bergen herab und siedeln, ohne bei ihrem Umzug aufnennenswerten Widerstand zu stoßen, dorthin über, wo sie tatsächlichlängst ihre ökonomische Basis haben, nämlich in die von den reichenStämmen bewohnten und bewirtschafteten fruchtbaren Flußregionen. Sieunterwerfen die reichen Stämme, okkupieren ihr Gebiet, machen sichzu Herren über ihre agrarisch-städtischen Kulturen und verwandeln sodie Schmarotzerbeziehung, die sie bislang in Form einer räuberischenPraxis den reichen Stämmen ebenso unordentlich wie äußerlich oktroy-iert haben, in ein von den reichen Stämmen selbst getragenes, ebensoordentliches wie internes Ausbeutungsverhältnis. Zugleich hört dieses alsder Regelfall institutionalisierte Ausbeutungsverhältnis auf, die wegenihrer einseitigen Begünstigung der Bergstämme als solche erkennbareeindeutige Schmarotzerbeziehung von vorher zu sein, und nimmt dieZüge einer Art von wechselseitiger Zweckgemeinschaft oder Symbiosean. Weil nämlich die Gemeinschaft neuen Musters gleich mehrfach undin getrennten, häufig aneinander angrenzenden Regionen entsteht, undweil die frühere Bergheimat der in die Flußtäler Eingefallenen sich raschwieder mit kriegerisch-räuberischen Stämmen der alten Provenienz auf-füllt, sehen sich die entstandenen Gemeinschaften teils von wehrhaftenNachbarn mit Expansionsgelüsten bedrängt, teils durch angriffslustigeRäuber mit Okkupationsneigung bedroht und weisen nun ihren neuenHerren die deren Herkunft und Ausbildung angemessene Aufgabe einerAbwehr beziehungsweise Beseitigung dieser zweifachen Gefahr von au-ßen zu. Als Gegenleistung für das Privileg, sich den Überfluß, den die inder neu entstandenen Gemeinschaft zur arbeitenden Schicht degradiertenreichen Stämme produzieren, im Angesicht der letzteren ungehindertund anerkanntermaßen aneignen zu dürfen, müssen die als kriegerischeOberschicht etablierten armen Eroberer jenen äußeren Gefahren die Stirn

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bieten und dafür Sorge tragen, daß der mit der neuen Gemeinschaft ein-getretene Status quo sei’s erhalten und gesichert bleibt, sei’s gar bekräftigtund ausgebaut wird. Auch wenn diese Gefahren, denen die kriegerischenOberschichten zu wehren berufen sind, eigentlich Bedrohungen sind, dieteils nur die Oberschichten selber betreffen, teils überhaupt erst durchderen Anwesenheit heraufbeschworen werden und Aktualität gewinnen,und auch also, wenn hier in einer Art von sich selber exekutierender Pro-phetie das Abwehrmittel eben das Problem strukturell allererst ins Spielbringt, das es anschließend funktionell zu bewältigen dient, bleibt doch,was die kriegerischen Oberschichten tun, eine im Sinne der Aufrechter-haltung des gesamtgesellschaftlichen Status quo – eines Status quo, derja wesentlich durch die Anwesenheit der letzteren selbst definiert ist –als erwünscht und nützlich angesehene Funktion; von daher zeigt sichdie frühere einseitige Schmarotzerbeziehung in eine von allen Beteilig-ten als solche anerkannte wechselseitige Zweckgemeinschaft überführt.Als derart erhaltenswert erweist sich dabei der mit der Etablierung derfremden Eroberer erreichte Status quo, daß dort, wo er durch eine erfolg-reiche Invasion oder Okkupation verletzt oder in Frage gestellt wird, diebetreffenden Gemeinschaften nichts Eiligeres zu tun haben, als ihn mitHilfe der Invasoren beziehungsweise Okkupatoren wiederherzustellenund nach gehabtem Muster zu organisieren, so daß, was theoretischGelegenheit sein könnte, zum früheren Zustand der Autochthonie undbodenständigen Herrschaft zurückzukehren, praktisch immer nur Anlaßwird, in Form einer bloßen Auswechslung fremder Eliten die Haltbarkeitund den Bestand des neuen, der ursprünglichen Gemeinschaft von außenoktroyierten Herrschaftsverhältnisses zu bekräftigen.

Was aber macht das neue Herrschaftsverhältnis und den mit ihm er-reichten gesellschaftlichen Status quo für die Beteiligten derart erhal-tenswert? Es ist die innerweltliche Wendung, die im Hinblick auf denUmgang mit gesellschaftlichem Reichtum dieses neue Verhältnis ermög-licht, der Ausweg, den es aus eben der totenkultlichen Sackgasse eröffnet,in die die frühere Herrschaft mit ihrem Verhalten zum Reichtum sichverrennt. Dadurch nämlich, daß ein fremdbürtiger Eroberer und selbst-herrlicher Sieger den bis dahin als Herr des Reichtums fungierendenautochthonen Stellvertreter des Toten mit kriegerischer Gewalt aus seinerStellung verdrängt und ohne alle pompes funèbres in seiner Funkti-on ersetzt, wird jener weltflüchtig-totenkultliche Bann gebrochen, jener

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katabolisch-chthonische Zwang suspendiert, der des Stellvertreters Bezie-hung zum Reichtum bis dahin beherrscht und ihn daran gehindert hat,die ihm eigentlich zugedachte Aufgabe einer Arretierung des Reichtumsim Diesseits und Stabilisierung des Überflusses in der Immanenz zuerfüllen. Der ihm zugedachten Aufgabe zu genügen vermochte ja derbisherige Statthalter des Toten deshalb nicht, weil der Tote, an dessenStatt er den Überfluß verwaltete, ihm als sein eigenes Vorbild im Leben,sein einstiger Vorgänger auf Erden vor Augen stand, als dessen perso-nales Ebenbild im Tode, dessen künftiger Nachfolger unter der Erde erdementsprechend sich selber wahrnehmen mußte. Sowenig der bisherigeStellvertreter in dem Toten, dessen Stelle er vertrat, anderes erkennenkonnte als die zur personalen Einheit verdichtete lange Reihe derer, dieihm sein Leben vorgelebt hatten und ihm auf Erden vorausgegangenwaren, sowenig blieb ihm anderes übrig, als dem vom Verschiedenenausgehenden Nachfolgedruck nachzugeben und sich im Leben bereits mitallen ihm zu Gebote stehenden Kräften auf das Sein des Verschiedenenals seine dermaleinst eigene Existenz im Jenseits zu projizieren, sich aufErden schon mit seinem ganzen verfügbaren Vermögen mit der Identitätdes Toten als seiner künftig eigenen transzendenten Sichselbstgleichheitzu identifizieren. Das heißt, es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als beider Wahrnehmung seines ökonomischen Privilegs und Ausübung seinerpolitischen Gerechtsame so zu verfahren, wie er verfuhr: nämlich denReichtum, den er als Statthalter in Anspruch nahm, unmittelbar in einejenseitige Seinsbestimmung umzusetzen, dem Überfluß, den er stellver-tretend mit Beschlag belegte, direkt zur Gußform eines transzendentenExistentials zu verhelfen. Den Reichtum unter den Bedingungen dessolchermaßen bestehenden katabolischen Nachfolgedrucks und chtho-nischen Wiederholungszwangs als diesseitige Bestimmtheit verteidigenzu wollen, hätte für den Stellvertreter bedeutet, Zeugnis gegen seinegewisseste Überzeugung abzulegen und seinem todsichersten Interessezuwiderzuhandeln. Wer hätte so viel Selbstverleugnung, um nicht zusagen Selbstentfremdung, von ihm erwarten, geschweige denn verlangenkönnen?

Eben jenem chthonischen Wiederholungszwang macht nun aber derWechsel vom autochthonen Statthalter und grundständigen Herrn zumfremdstämmigen Besetzer und autonomen Herrscher definitiv ein Ende.Weder in specie seines unmittelbaren Vorgängers, für dessen Beseitigung

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er gegebenenfalls eigenhändig Sorge getragen hat, noch in genere derzu personaler Einheit verdichteten Reihe von mittelbaren Vorgängern,um deren Repräsentation er nun auf jeden Fall höchstpersönlich sichkümmert, findet der neue Herr des Reichtums und Verwalter des Über-flusses Grund und Gelegenheit, an jenes Verhältnis von verpflichtendemVorgängertum und verbindlicher Nachfolgerschaft wiederanzuknüpfen,das die frühere Herrschaft in Bann schlug und in ihrem ganzen Ver-halten determinierte. Schließlich zerstört der neue Herrscher dadurch,daß er seinen unmittelbaren Vorgänger, statt ihn nach einem natürlicherlittenen Tod mit allem Pomp und Aufwand zu Grabe zu tragen undins Jenseits vorauszuschicken, vielmehr eigenhändig von der Erde tilgtbeziehungsweise mitten im Leben verdrängt, exakt das zentrale Glied,das nötig wäre, um ihn mit der Kette seiner mittelbaren Vorgänger zu-sammenzuschließen und auf deren unterweltliche Existenz projektivabzubilden beziehungsweise zur Identifikation und Teilhabe mit ihrerForm totenkultlichen Überlebens zu bestimmen. Und schließlich bringt ermit der Zerstörung dieses entscheidenden Glieds in der Kette die letztereja auch um eben die figürliche Komplexion und anschauliche Gestalt, dieerforderlich wäre, um sie für ihn, den Fremdbürtigen, den mit ihr keinegenealogische Kontinuität beziehungsweise lebensgeschichtliche Tradi-tion verbindet, überhaupt erst die spezifisch menschliche Identität desin die Unterwelt gefahrenen persönlichen Vorgängers und ins Totenreichübergewechselten paradigmatischen Artgenossen gewinnen zu lassen.So wie er, der von draußen Eingedrungene, in der Stammesheimat seineeigenen Vorgänger hat und von Haus aus in einer anderen Nachfolgesteht, so tritt ihm nun jene Reihe von Vorgängern, auf die der neu errun-gene Reichtum ihn verpflichtet und zu deren Stellvertreter der kürzlichappropriierte Überfluß ihn erklärt, in der Gesichtslosigkeit und Anony-mität einer jeden persönlichen Bezugs ermangelnden abstrakten Instanzex improviso des erworbenen Reichtums, einer aller artspezifischen Ver-bindung entkleideten diskreten Funktion de profundis des appropriiertenÜberflusses entgegen. Aller stammesgeschichtlichen Kontinuität mit demfremden Eroberer entbehrend und durch die im Zuge der Eroberungzwangsläufige Zerstörung des einzig möglichen Verbindungsglieds mitihm zu völliger Anonymität ihm gegenüber verurteilt, nimmt jene Kettevon Vorgängern, an deren Statt der Eroberer nun als Herr des Reichtums

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firmiert, die Züge einer von jedem menschlichen Subjektcharakter entblö-ßten jenseitigen Reichtumsmacht, einer um jede artgemäße Personalitätgebrachten transzendenten Herrschaft über den Überfluß an.

Hinzu kommt, daß jene aus der Kontinuität mit dem Diesseits ausge-gliederte und in ein unverbundenes Jenseits abgesetzte Vorgängerfolgenicht bloß der Gesichtslosigkeit verfällt und in Anonymität sich verliert,sondern zugleich auch zur Pluralität sich auflöst und in Vieldeutigkeitversinkt. Weil nämlich die Gründung der neuen Zweckgemeinschaftenzwischen nomadisch-kriegerischen und agrarisch-städtischen Stämmen,die zwar nicht völlig gleichzeitig, wohl aber ungefähr gleichsinnig inverschiedenen Flußregionen und fruchtbaren Gebieten der Alten Welt vorsich geht und zu den ersten Großreichen der menschlichen Geschichteführt, normalerweise die Eroberung und Vereinigung einer ganzen Reihevon agrarisch-städtischen Stammesgemeinschaften, die in der betreffen-den Region siedeln, sei’s zur Voraussetzung, sei’s zur Folge hat, findensich die nomadisch-kriegerischen Eroberer ex improviso des ihnen in dieHände fallenden Reichtums nicht nur mit einer, sondern gleich mit meh-reren anonymisierten Folgen von Vorgängern konfrontiert, die das allergenealogischen Verbindung mit dem Diesseits beraubte Jenseits, die jederlebensgeschichtlichen Kontinuität mit der Immanenz bare Transzendenzmit einer Vielzahl von abstrakten Mächten und diskreten Herrschaftenbevölkern. So viele verschiedene Stätten autochthon-eigenständiger Herr-schaft die neuen Fremdherrscher erobern und so viele lokale Zentrenagrarisch-städtischen Reichtums sie im Zuge ihrer Reichsgründungenokkupieren, so viele jenseitige Mächte und transzendente Herrschaftenbringt der neuerworbene Reichtum reminiszierend in Anschlag, um fort-an ihnen, seinen neugekürten Verwesern, die also Aufgebotenen in derGesichtslosigkeit von Gestalten, mit denen sie keinerlei lebensgeschicht-liche Wirklichkeit mehr verbindet, und in der Vieldeutigkeit von Wesen,die ihnen alles, bloß keine genealogische Konsequenz mehr signalisieren,ebenso topisch entrückt vom Leibe wie systematisch präsent vor Augenzu halten.

Wie sollte zwischen den Eroberern und den dergestalt anonymisiertenund pluralisierten jenseitigen Herren des Reichtums ein nach altem Mus-ter konzipiertes Verhältnis von Vorgängerschaft und Nachfolgertum sichnoch herstellen können? Jener Anonymisierung und Pluralisierung derjenseitigen Macht fällt ja eben das augenscheinlich zum Opfer, was als

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die entscheidende Voraussetzung für allen auf ihren Statthalter auf Erdenausgeübten Zwang zur Nachfolge erscheint: daß nämlich die jenseitigeMacht zuvor selber als Herr des Reichtums auf Erden gewandelt ist, dietranszendente Herrschaft selber vordem als Überflußeigner im Lebengeweilt hat, daß sie mithin in ihrer jenseitigen Form als ein aus dem Le-ben Geschiedener erinnerlich, in ihrer transzendenten Fassung als Totererkennbar bleibt. Nur solange kraft lebensgeschichtlicher Kontinuitätdie jenseitige Macht als diejenige erinnerlich bleibt, die, wie einerseitsdie Gegenwart ihres Statthalters auf Erden selber zur Vergangenheit, soandererseits dessen eigene Zukunft zur Gegenwart hat, und nur sofernalso dank genealogischer Konsequenz die transzendente Herrschaft alsder aus dem Diesseits ins Jenseits fortgegangene, aus der Immanenz indie Transzendenz übergewechselte Artgenosse erkenbar bleibt, kann siefür ihren Stellvertreter im Leben jene Vorgängerrolle spielen und jene vor-bildliche Funktion übernehmen, die diesen veranlaßt, sich perspektivischauf sie zu projizieren, antizipatorisch mit ihr zu identifizieren, und dieihn dadurch zwingt, sich auf Erden bereits nach den Forderungen seinerprojektiert künftigen, unterirdischen Existenz zu richten, sich im Lebenbereits um die Bedürfnisse seiner antizipiert späteren, totenkultlichenIdentität zu kümmern. Indem nun mit dem Einbruch der fremdbürtigneuen Herren jene lebensgeschichtliche Kontinuität und Verbindungzerreißt, jene genealogische Konsequenz und Kette abbricht, hört die jen-seitige Macht uno actu ihrer Anonymisierung und Pluralisierung auf, fürihren Stellvertreter im Leben jene Rolle des als seinesgleichen ins Jenseitsvorangegangenen Verschiedenen, des in die Transzendenz übergewech-selten toten Artgenossen zu spielen. Verschieden ist für den Statthalterdie jenseitige Macht jetzt nicht mehr in der Konsequenz eines von ihm hergesehenen prospektiven Anderswerdens, sondern in der Logik eines ihmgegenüber erscheinenden distinktiven Andersseins, aus dem Leben istfür den Stellvertreter die transzendente Herrschaft nicht mehr im Resultateines ihn potentiell einschließenden dynamischen Sphärenwechsels, son-dern im Prinzip eines ihn aktuell ausschließenden topischen Gegensatzesder Sphären. Was dort noch die jenseitige Macht ihrem Statthalter auf Er-den als seine existentiell eigene Möglichkeit mittelbar vorführt, das stelltsie ihm hier als eine prinzipiell andere Wirklichkeit unmittelbar entgegen,wo mit der transzendenten Herrschaft ihr Stellvertreter im Leben zuvornoch die einholbar künftige Identität seiner selbst im Blick hat, da hat er

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jetzt nurmehr die zu seinem gegenwärtigen Dasein uneinholbar ewigeAlternative vor Augen.

Tatsächlich ist durch das Zerreißen der genealogischen Verbindung unddurch den Abbruch der lebensgeschichtlichen Kontinuität die jenseitigeMacht um alle der Erde verhafteten, chthonischen Qualitäten gebrachtund jeglicher aufs Leben rückbezüglichen, totenkultlichen Relevanz be-raubt. Aus dem durch empirische Befreiung vom Los der Sterblichkeitsich etablierenden plutonischen Fürsten wird der kraft dogmatischerFreiheit vom Los der Sterblichen existierende olympische Gott, aus derdurch historische Entfernung von der Welt Gestalt annehmenden unter-irdischen Macht wird die in systematischer Ferne zur Welt in Erschei-nung tretende unirdische Instanz. Durch die Anonymisierung und Plu-ralisierung des in ihnen weilenden wahren Herrn des Reichtums allerbiographisch-chthonischen Beziehung und genealogisch-totenkultlichenBedeutung entkleidet, legen Jenseits und Transzendenz jeden Zug einervom Diesseits sich herleitenden Wirklichkeit und mit der Immanenzvermittelten Befindlichkeit ab und nehmen den Charakter statt dessendes in falscher Unmittelbarkeit unvordenklich Bestehenden und der inunhinterfragbarer Faktizität natürlichen Gegebenheit an. Wie sollte wohlvon einem Jenseits, das sich in limitativer Unbedingtheit dergestalt zurnaturgegebenen Sphäre der Unsterblichen verselbständigt, von einerTranszendenz, die sich im unendlichen Urteil solcherart zur seit jeherbestehenden Götterwelt absondert, für den Statthalter auf Erden nochein zu Imitationsanstrengungen herausfordernder Projektionszwang, einzum Versuch der Nachfolge motivierender Identifikationsdruck ausgehenkönnen? So himmelweit die Unsterblichkeit der anonymisiert jenseitigenMacht und die Göttlichkeit der pluralisiert transzendenten Herrschaftentfernt davon sind, noch länger als biographische Konsequenz einesqua Abschied vom Diesseits vorangegangenen Akts des Sterbens undals genealogisches Resultat eines qua Ausscheiden aus der Immanenzvorausgesetzten Todesfalls zu erscheinen, so denkbar fern liegt es nunauch dem Statthalter auf Erden, sich mit allen für sein diesseitiges Daseindaraus entstehenden Folgen noch länger an der Existenz der jenseitigenMacht das Beispiel seines eigenen künftigen Seins nach dem Tode be-ziehungsweise die Verschiedenheit der transzendenten Herrschaft zumVorbild für seine eigene spätere Identität zu nehmen.

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Befreit vom chthonisch-totenkultlichen Nachfolgedruck, kann der neue Herr alstheokratischer Statthalter der Götter fest im Diesseits Fuß fassen und mit demReichtum nach irdischem Gutdünken schalten und walten. Sowenig die Götterdem Priesterkönig zu seinen Lebzeiten ins Handwerk pfuschen, sosehr stehensie im Falle seines Todes bereit, durch ihren formalen Eigentumstitel auf denReichtum jedem Wiederaufleben des früheren Totenkults zu wehren. Außer imSonderfall Ägypten, wo die Umstände der Staatsbildung den Herrscher zu einemKompromiß zwischen totenkultlichem Wiederholungszwang und götterkultlicherEmanzipation nötigen, scheint so die theokratische Herrschaft für eine dauerhafteZentrierung des Reichtums im Diesseits wie geschaffen.

Damit ist dank äußerer historischer Fügung jener plutonisch-schatz-bildnerische Wiederholungszwang und chthonisch-totenkultliche Nach-folgedruck plötzlich verschwunden, dem aus inneren genealogischenGründen der Statthalter auf Erden sich partout nicht zu entziehen ver-mochte und der ihn bislang daran hinderte, der an sich ihm übertragenenAufgabe einer Arretierung des Reichtums im Diesseits und Stabilisierungdes Überflusses in der Immanenz in der gewünschten Weise zu genügen.Frei von der Hypothek, einen ins Jenseits Verschiedenen zum nachfol-geheischenden Vorgänger, einen transzendenten Toten zum zukunfts-trächtigen Vorbild zu haben, kann der neue, fremdbürtige Stellvertreternun endlich bei der Verwahrung und Verwaltung des Reichtums jeneungehinderte Diesseitigkeit an den Tag legen, die der alte, autochthoneÜberflußverwalter nolens volens seiner Projektion auf den verschiedenenVorgänger und Identifizierung mit dem toten Paradigma zum Opferbrachte. Bei prinzipieller Anerkennung des Rechtsanspruchs der im Jen-seits weilenden wahren Herren des Reichtums und formeller Bestätigungihres Eigentumsvorbehalts kann jetzt ihr Statthalter auf Erden, ohne vonihrer in die generische Verschiedenheit entrückten jenseitigen Existenzsich noch länger stören lassen zu müssen, mit dem Reichtum schalten undwalten, wie es seinem diesseitigen Dasein frommt, kann ihr Stellverteterim Leben, ohne auf ihre zu limitativer Absolutheit erhobene transzen-dente Verfassung noch im mindesten Rücksicht nehmen zu müssen, mitdem Überfluß tun und lassen, was ihn in seiner immanenten Befindlich-keit gut dünkt. Sowenig die zu unsterblichen Göttern anonymisiertenund pluralisierten jenseitigen Mächte ihm noch etwas sub specie seinereigenen sterblichen Natur Wesentliches zu bedeuten vermögen, noch

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etwas in specie seines eigenen menschlichen Schicksals Erhebliches zusagen haben, sowenig können sie ihren Statthalter noch davon abhaltenbeziehungsweise abbringen, seine auf die Arretierung des Reichtumsim Diesseits gemünzte Funktion im Leben zu erfüllen. Auf geradezuparadoxe Weise gewinnt so der Statthalter eben dadurch, daß er allegenealogische Affinität zum wahren Herrn des Reichtums, alle artge-nossenschaftliche Identität mit dem wirklichen Überflußeigner verliertund sich dem letzteren gegenüber auf die Stellung eines strikt offiziellenVertreters beschränkt, mit der Rolle eines rein professionellen Funktionärsbescheidet, eine ganz unerhörte Macht über den gesellschaftlichen Reich-tum. In dem Maß, wie die Anonymisierung des plutonisch-chthonischenToten zu ätherischen Unsterblichen, seine Pluralisierung zu olympischenGottheiten den Statthalter auf Erden aller Beziehung zum Jenseits undtranszendenten Bewandtnis beraubt, verleiht sie seinem Bestehen imDiesseits ein völlig anderes Gewicht und eine ganz neue Befugnis. Weiles die eigene Aussicht auf eine künftige Existenz im Jenseits war, dieden Stellvertreter dazu bestimmte, seinen diesseitigen Umgang mit demReichtum den Forderungen der jenseitigen Macht zu unterwerfen und anden Bedürfnissen der transzendenten Herrschaft auszurichten, bedeutetder in der Anonymisierung und Pluralisierung der letzteren beschlosse-ne Verlust jener Aussicht für ihn zugleich den Gewinn einer in seinemdiesseitigen Umgang mit dem Reichtum neuen Eigenständigkeit undanderen Selbstbezüglichkeit. Indem er die unsterblichen Wesen vorbe-haltlos als die wirklichen Überflußeigner anerkennt, sich ihnen gegenüberrückhaltlos zu seiner Statthalterfunktion bekennt, tut er dadurch ihremHerrschaftsanspruch und Eigentumsvorbehalt in aller Form Genüge undnimmt ihnen jede Möglichkeit, auf dem alten, quasi direkten Weg seinerprojektiven Selbstabbildung auf sie realen Einfluß auf ihr diesseitiges Habund Gut zu nehmen und in der früheren, gewissermaßen persönlichenWeise seiner antizipatorischen Identifikation mit ihnen materialiter Handauf ihren immanenten Besitz zu legen.

So gesehen, gewinnt der Statthalter gerade dadurch, daß er alle Am-bitionen auf Teilhabe an der jenseitigen Macht, alle Aspirationen aufEinsetzung in die transzendente Herrschaft aufgibt, in der diesseitigenStatthalterschaft, auf die er sich beschränkt, eine, wenn man so paradoxformulieren darf, relative Absolutheit und partielle Totalität. Er ist Bevoll-mächtigter, auf den seine Vollmachtgeber, die Unsterblichen, nach dem

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formalen Akt seiner Bevollmächtigung keinerlei materialen Einfluß mehrhaben, ist Autorisierter, in Ansehung dessen die göttlichen Autoritätenkeine über das prinzipale Fakt der ihm erteilten Befugnis hinausreichendereale Handhabe mehr besitzen. Während die Unsterblichen sich in dieanonyme Ferne ihres ebenso formalen wie unverbrüchlichen Herrschafts-anspruchs absetzen, die Götter in den pluralischen Hintergrund ihresebenso obsoleten wie prinzipalen Eigentumsvorbehalts zurücktreten,hält und befestigt ihr Statthalter als in aller Form eingesetzter theokrati-scher Verweser die Stellung ihrer im Reichtum bestehenden diesseitigenDomäne, behauptet und bestellt er als mit voller Prokura ausgestatte-ter Priesterkönig das Feld ihres als Überfluß firmierenden immanentenEigentums. In ihrer alle biographischen Hoffnungen vereitelnden, unwi-derruflich topischen Abwesenheit und alle genealogischen Aspirationenzunichte machenden, unüberbrückbar systematischen Verschiedenheitlassen die wahren Herren des Reichtums ihren Stellvertreter als einenRepräsentanten, einen Regenten zurück, der ihre Macht auf Erden voll-ständig monopolisiert, ihren Willen im Leben zur Gänze personifiziertund der kraft dieser ihm übertragenen theokratisch uneingeschränktenRegentschaft, kraft dieser ihm verliehenen priesterköniglich absolutenVollmacht den Reichtum an eben das Diesseits bindet, das sein eige-nes ausschließliches Zuhause ist, den Überfluß in eben der Immanenzfesthält, in die er selber mit Leib und Seele hineingehört.

Sosehr diese von jeder Aspiration auf ein in biographischer Konse-quenz unsterbliches Sein freie theokratische Prokura zwar offenbar dazutaugt, zu Lebzeiten des Priesterkönigs dem gesellschaftlichen Reichtumeine effektiv immanente Zentrierung zu gewährleisten, sosehr scheint sieallerdings auch geeignet, im Augenblick des Todes des Priesterkönigsfrühere, den Reichtum betreffende Irrealisierungsängste und Entwer-tungstraumata neu zu schüren. Gerade weil der theokratisch-priesterlicheHerrscher bei aller formalen Unterwerfung unter die Macht der Uns-terblichen und offizialen Abhängigkeit vom Willen der Götter eine soungestörte materiale Prokura und uneingeschränkte reale Vollmacht überden Überfluß besitzt und gerade weil er also bei aller prinzipiellen Bot-mäßigkeit gegenüber dem Jenseits und konstitutionellen Transzendenz-hörigkeit das Diesseits residentiell so ganz und gar okkupiert und dieImmanenz institutionell so völlig beherrscht, droht sein Tod die frühereBedeutung einer das Diesseits als solches irrealisierenden unendlichen

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Indifferenzbekundung wieder anzunehmen, die alten Züge eines dieImmanenz in toto entwertenden Akts absoluter Negativität neu her-vorzukehren. Indem er, der kraft theokratischer Repräsentativität diemateriale Stellung des irdischen Diesseits gegen alle formalen Ansprüchedes olympischen Jenseits behauptende, kraft priesterlicher Personalitätdie reale Sache der Immanenz gegen alle kategorialen Vorbehalte der gött-lichen Transzendenz vertretende Herr und König mit Tode abgeht, drohtseine Abwendung vom reichtumhaltigen Diesseits, dies Ausscheidenaus der überflußerfüllten Immanenz die frühere Bedeutung eines vomReichtum selbst reminiszierend vorgestellten unendlichen Urteils überdie Realität des Diesseits wieder anzunehmen, die alte Pointierung einesvom Überfluß selber remonstrativ kommentierten absoluten Verdiktsüber den Wert der Immanenz zurückzugewinnen. So, wie der theokra-tische Herr de facto die alte Funktion eines grundlegend konstitutivenSeins und eines haltgebend initiativen Prinzips für die von Überflußerfüllte Immanenz als solche übernimmt, droht sein Verscheiden diefatale Bedeutung eines dem Diesseits das Sein entziehenden und damites als solches des Scheins überführenden ontologischen Sprungs in einunbedingtes Jenseits, die schicksalhafte Pointe eines der Immanenz dasPrinzip verschlagenden und also sie als ganze für grundlos erklärendenhistoriologischen Ausbruchs in absolute Transzendenz neu hervorzukeh-ren. Was Wunder, wenn auf die also erneuerte Gefahr einer wie zwischenSchein und Sein indifferentistisch aufreißenden ontologischen Kluft, eineswie zwischen Illusion und Wirklichkeit negativistisch durchschlagen-den historiologischen Sprungs die Gesellschaft mit dem altbewährtenRezept, wenn schon nicht Heilmittel, einer chthonisch-plutonischen Iden-tifizierung des Verschiedenen und totenkultlichen Integration des Totenregiert? Was Wunder, wenn sie den verschiedenen Theokraten dadurchaus seiner unbedingten Indifferenz heraus- und in eine spezifische Diffe-renz zu ihrer eigenen Sphäre zurückzubringen, den toten Priesterkönigdadurch seiner absoluten Negativität zu entreißen und eines bestimmtnegativen Verhältnisses zu ihrer eigenen Welt zu überführen sucht, daßsie in altbewährter Manier teils sein Jenseits als unterirdische Domäneräumlich an ihr oberirdisches Diesseits anzuschließen bestrebt ist, teilsalle Anstrengungen unternimmt, ihn, den Unterirdischen selbst, durchdie Übertragung von Reichtum nicht bloß in relativer Kontinuität zuseinem vorherigen, oberirdischen Dasein erscheinen, sondern mehr noch

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in suggestiver Identität mit seiner früheren, innerweltlichen Identität sichbehaupten zu lassen?

Wenn so aber die Gesellschaft ihren im Namen anonymer Unsterblichertheokratisch über die Sterblichen herrschenden Herrn, ihren als Repräsen-tant einer Vielzahl von Göttern allmächtig auf Erden regierenden Königmit seinem Tod die alte Gefahr einer fundamentalen Entwirklichungund Entwertung dessen, wovon er sich abkehrt, heraufbeschwören siehtund wenn sie in alter Weise dieser Gefahr dadurch zu begegnen sichbemüht, daß sie dem Verschiedenen durch seine feierliche Bestattungin einem als Schatzkammer ausgestatteten Grab, seine pompöse Bei-setzung in einem als Schatzhaus aufgeführten Mausoleum eben das,wovon er sich abgekehrt hat, als sein bleibendes Hab und Gut, sein fort-gesetztes Existential und Bedürfnis nachreicht, läuft sie dann nicht diekaum geringer zu veranschlagende Gefahr, die Tradition des früherenchthonisch-plutonischen Hüters des Reichtums wiederzuerwecken undden Kult des alten katabolisch-thesaurischen Horters von Überfluß neuzu beleben? Geht die Gesellschaft, wenn sie das vom toten Priesterkö-nig angenommene transzendente Sein, um es daran zu hindern, seinedrohende Bedeutung historiologisch absoluter Negativität zu entfalten,als eine an die Immanenz des weltlichen Daseins topisch anschließendeunterweltliche Residenz des Toten dingfest macht, nicht in der Tat das,nach früheren Erfahrungen zu schließen, unkontrollierbare Risiko ein,um der Erreichung einer unerreichbaren Kontinuität zwischen Diesseitsund Jenseits oder der Erhaltung einer unhaltbaren Identität zwischenImmanenz und Transzendenz willen dem alten totenkultlichen Zwangs-mechanismus eines katabolisch unaufhörlichen Transfers des im Diesseitsgeschaffenen Reichtums an seinen im Jenseits weilenden plutonisch wah-ren Herrn, einer fluchtpünktlich fortlaufenden Übereignung des von derImmanenz erzeugten Überflusses an seinen in der Transzendenz thronen-den chthonisch wirklichen Eigner wieder in Kraft zu setzen? Und falls siediesem totenkultlichen Zwangsmechanismus durch die Einsetzung einesdie Stellung auf Erden zu halten bestimmten Statthalters des Verschie-denen, eines dem Leben die Stange zu halten gedachten Stellvertetersdes Toten zu begegnen versucht, setzt sie den letzteren dann nicht wohloder übel jenem alten unwiderstehlichen Nachfolgedruck aus, der, stattdie vorgesehene diesseitige Reaffirmation des Reichtums zuzulassen,vielmehr einzig und allein zu dem geschilderten Resultat führt, daß der

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Reichtum in statu nascendi bereits in die Gußform seiner jenseitigenBestimmtheit gebracht wird, der Überfluß quasi spontan und automatischdie Gestalt eines für die Transzendenz gemachten Existentials annimmt?

Indes, daß dies geschieht und daß also der alte, mit der Einsetzungeines Repräsentanten des Toten zum genealogischen Selbstvollzug auto-matisierte Totenkult neu in Kraft tritt, dagegen stehen und davor schüt-zen jetzt die Unsterblichen mit ihrem in aller Anonymität nominalenBesitzanspruch auf den Reichtum, ihrem in aller Pluralität formalen Ei-gentumsvorbehalt in Sachen Überfluß. Sie in ihrer unsterblichen Existenzverhindern, daß der verstorbene Priesterkönig an die alte chthonisch-plutonische Position eines Fürsten der Unterwelt wiederanknüpfen undden Reichtum als sein Eigen mit Beschlag belegen kann. Wie zu seinenLebzeiten er, der von allem Nachfolgedruck befreite hohepriesterlichbevollmächtigte Statthalter, sie, die zu Unsterblichen anonymisiertenVerschiedenen, zu Göttern pluralisierten Toten in die Schranken einesnurmehr formalen Anspruchs und nominalen Titels auf den Reichtumweist, so halten nun umgekehrt sie kraft dieses formalen Anspruchsihn in Schach, da er im Tode Anstalten macht, in die alte, unterweltlichreale Stellung eines jenseitigen Herrn des Reichtums zurückzufallen.So dringlich es der Gesellschaft erscheinen muß, den toten theokrati-schen Herrn mit allem Pomp und Reichtum zu Grabe zu tragen und ineine aus lauter Überfluß gewirkte letzte Ruhestätte zu betten, um dasMenetekel einer das ganze immanente Leben entwertenden absolutenNegativität, das er im Augenblick seines Todes an die Wand malt, abzu-wenden und ihn als Unterirdischen in räumlich relativierter Differenzzum irdischen Dasein zu verhalten, ihn als Bewohner des Totenreichsauf eine topisch bestimmte Negation zur Welt der Lebenden zu vereidi-gen, so getrost kann die Gesellschaft, kaum daß sie ihn solcherart durchpompös-funebren Reichtum relativiert hat, dem also Beigesetzten, alsoin der Gruft Verstauten unter Berufung auf den Besitzanspruch der Un-sterblichen allen weiteren Reichtum vorenthalten, um diesen zur Gänzestattdessen dem neuen Bevollmächtigten der wahren Herren des Reich-tums, dem neuen Prokuristen der eigentlichen Eigner des Überflusses,nämlich dem als Stellverteter der Götter jetzt auf Erden waltenden, imLeben schaltenden nächsten Priesterkönig zuzuwenden. Was die Götterbrauchen, ist ein Repräsentant, der dafür sorgt, daß ihr jenseitig nomi-naler Anspruch auf den Reichtum im Diesseits reale Geltung gewinnt,

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ihr transzendent formales Anrecht auf den Überfluß in der Immanenzseinen materialen Ausdruck findet; was sie hingegen nicht brauchen,ist ein Konkurrent, der ihnen im Jenseits selbst diesen ihren nominalenAnspruch auf den Reichtum streitig macht, um ihn als reale Forderungnach chthonisch-plutonischer Verjenseitigung des Reichtums zu reak-tualisieren, der sie in der Transzendenz als solcher dieses ihres formalenAnrechts auf den Überfluß beraubt, um es als materialen Titel auf eineden Überfluß ereilende katabolisch-thesaurische Transzendenzbewe-gung erneut in Kraft zu setzen. Sobald deshalb der Repräsentant derGötter nach seinem Tode Anstalten macht, sich in deren totenkultlichenKonkurrenten zu verwandeln, ist es die Rücksicht auf die letzteren undihren wohlverstandenen nominalen Anspruch auf den Reichtum, was esder Gesellschaft erlaubt, dem Aspiranten das plutonisch goldenbödigeHandwerk zu legen und die thesaurisch geschmeideglänzende Karriereabzuschneiden. Allen Titels auf eine weitere Versorgung mit Überflußberaubt, findet sich der fürstliche Tote in der undurchdringlichen Abge-schlossenheit seiner großartig letzten Ruhestätte sich selbst überlassen,in der unverletzlichen Abgeschiedenheit seiner pompös ewigen Bleibekaltgestellt und hat bestenfalls noch die Möglichkeit, seiner lethalen Iso-lation und fatalen Einschließung dadurch zu entrinnen, daß er sich unterPreisgabe jeglicher material-thesaurischen Aspiration auf Überfluß derebenso amorph-ätherischen wie anonym-pluralischen Schar seiner einsti-gen Patrone und jetzigen Widersacher, der mit einem nurmehr nominalenAnspruch auf den Reichtum abgefundenen Götter, beigesellt.

Sich ungeachtet der Intervention der Götter halbwegs eigenständig zubehaupten und gegenüber den letzteren als ein chthonisch-plutonischerFürst relativ zu etablieren gelingt dem toten theokratischen Herrn nur un-ter der besonderen, im geographisch geschlossenen Raum des Nildeltasoffenbar gegebenen Bedingung, daß sich die Bildung der als symbioti-sche Gemeinschaft neuen, stratifizierten Gesellschaft nicht sowohl kraftInvasion von außen, als vielmehr mittels Expansion von innen vollzieht,daß also diese neue, durch das Prinzip einer Vergesellschaftung differen-ter Gruppen bestimmte Gemeinschaftsform nicht sowohl in der Weisezustande kommt, daß arme, fremdbürtige Stämme von draußen ein-dringen und die ortsansässigen, reichen Stämme unterwerfen, sondernvielmehr auf die Art, daß ortsansässige, aber durch ihre periphere Lageund relativ ungünstigere Lebensbedingungen benachteiligte und weniger

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reiche Stämme ihr Gebiet mit Gewalt ausdehnen und die angrenzendenbeziehungsweise umliegenden reicheren Stämme unterjochen. Weil indiesem letzteren Fall die Eroberer nicht eigentlich die politische Sphäreund den ökonomischen Lebensraum wechseln, kommt es hier auch nichtzu jener andernfalls unausweichlichen radikalen Zäsur, die einerseitsdie Eindringlinge zwingt, ihre als chthonische Vorgänger genealogischeigenen Toten draußen in der Heimat zurückzulassen, und ihnen an-dererseits erlaubt, die als plutonische Fürsten am Ort vorgefundenen,biographisch fremden Toten zu unvermittelt jenseitigen Mächten undabstrakt transzendenten Instanzen, eben zu unsterblichen Göttern, zuanonymisieren und zu pluralisieren. Während hier, in diesem besonde-ren Fall, die Eroberer einerseits zwar durch den handgreiflichen Bruchder genealogischen Kontinuität, den sie in den okkupierten Stämmenbewirken, deren fürstliche Tote allen von ihnen ausgeübten unterwelt-lichen Nachfolgedrucks entkleiden und zur Anonymität überweltlichentrückter Unsterblicher, zur Pluralität olympisch unverbindlicher Göt-ter bestimmen, behalten sie andererseits aber auch ihre durch keinenradikalen Szenen- und Sphärenwechsel unterbrochenen stammeseige-nen Beziehungen zur Unterwelt, ihre durch keinen generischen Sprungim Reichtum außer Kraft gesetzten autogenen totenkultlichen Bindun-gen bei und setzen sie mitten in das durch die abstrakt transzendenteExistenz einer Götterpluralität definierte neue Milieu hinein fort. DasErgebnis dieser für den ägyptischen Sonderfall charakteristischen to-tenkultlichen Kontinuität beim diskontinuierlichen Übergang von denalten, autochthon-chthonischen Gemeinschaften zur neuen, stratifiziert-symbiotischen Gesellschaft ist ein prekärer Kompromiß zwischen denmaterialen Verjenseitigungsforderungen, die von seiner genealogisch ei-genen Reihe von Toten an den Pharao gestellt werden, und den formalen,rein diesseitigen Repräsentationsansprüchen, mit denen ihn die Mengeder zu Gottheiten anonymisierten Toten der unterworfenen Stämme underoberten Regionen konfrontiert – ein Kompromiß, der den Pharao selbstchangieren läßt zwischen der Bedeutung eines mit seinem Sinnen undTrachten strikt aufs Jenseits gerichteten Gasts auf Erden und künftigenHerrschers im Totenreich und der Rolle eines mit seinem Tun und Lassenfest im Diesseits verankerten Stellvertreters auf Erden und theokratischbevollmächtigten Herrn über die Lebenden – ein Kompromiß, der, un-geachtet seiner prekären Natur, immerhin haltbar genug war, um auch

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eine Phase reiner, zum Anschluß an die Entwicklung in der übrigen Welteinladender Fremdherrschaft wie die Hyksos-Zeit zu überdauern.

Ohne solchen Kompromiß verläuft die Entwicklung in der übrigenWelt. Während im ägyptischen Ausnahmefall die durch die Reichsgrün-dung zu Göttern aufgehobenen Toten der unterworfenen Stämme underoberten Territorien ihre Wirksamkeit darin erschöpfen, als weltlich-säkulares Gegengewicht gegen die fortdauernde totenkultliche Orientie-rung und unterweltliche Fixierung des Herrschers selbst diese in ihreröffentlichen Bedeutung nach Möglichkeit zu beschneiden und auf dieRolle eines bei aller existentiellen Dringlichkeit von den weltlichen Auf-gaben klar unterscheidbaren persönlichen Anliegens des Pharao, einerbei aller zeremoniellen Wichtigkeit mit den Staatsgeschäften als solchenunverwechselbaren herrscherlichen Privatsache einzuschränken, räumenüberall sonst jene zu Göttern entmischten Toten gründlich und kom-promißlos mit den totenkultlichen Aktivitäten auf. Nicht nur entbindensie ihren Statthalter auf Erden von allem transzendenzfixierten Wieder-holungszwang und stellen ihm, dem jeglicher chthonisch-plutonischerAmbitionen baren irdischen Repräsentanten, das Diesseits mit all seinemReichtum zur priesterköniglich uneingeschränkten Verfügung, überlas-sen ihm, dem sämtlicher thesaurisch-unterweltlicher Aspirationen le-digen weltlichen Intendanten, die Immanenz mitsamt ihrem Überflußzum theokratisch freien Gebrauch – sie sorgen mehr noch dafür, daßdie katabolische Dynamik, die der Priesterkönig durch sein Verscheidenneu zu entfesseln droht, nicht zur Entfaltung kommt und im Gestusdes Leichenbegängnisses steckenbleibt, im Pomp des Bestattungsritualssich erschöpft, daß also dem jeweils nächsten weltlichen Repräsentan-ten der Götter der Reichtum, den sie in seine Hand gegeben haben, inungeschmälert diesseitiger Bedeutung erhalten, als unbestritten imma-nente Realität verfügbar bleibt. Das einzige, was der theokratische Herrden Göttern für diese zweifache Wohltat der Befreiung von ihrer eige-nen chthonisch-abgründigen Vergangenheit und des Schutzes vor derverfänglich-plutonischen Zudringlichkeit seines unmittelbaren Vorgän-gers schuldet, ist die Anerkennung ihres nominalen Anspruchs auf denReichtum, die Bestätigung ihres formalen Anrechts auf den Überfluß, istdies, daß er die Herrschaft auf Erden als namentlicher Prokurist der inihnen firmierenden wahren Herren des Reichtums zu übernehmen, die

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weltliche Regierung als förmlicher Repräsentant der in ihnen subsistie-renden eigentlichen Eigner des säkularen Überflusses anzutreten einwil-ligt. Ist er dazu bereit und begleicht er diese Schuld gegen die Götter, sohat er fortan freie Hand und kann mit dem Reichtum, den jene ihm gege-ben, verfahren, wie es ihn gutdünkt, tun und lassen, was ihm gefällt. Sounbeschränkt durch alle realiter reziproke Verpflichtung gegenüber denÜberirdischen ist die ihm auf Erden verliehene Prokura und so frei vonjeder den Göttern geschuldeten materialiter resultativen Rechenschaft,daß angesichts dessen seine Anerkennung des nominalen Anspruchs derGötter auf den Reichtum zu einer nichtssagend nominellen Beteuerungverblaßt, zu einer bedeutungslos formellen Geste verkommt, zu einerFormalie und Floskel, deren Los es ist, daß sie von eben der Faktizität, diesie de jure in Kraft setzt und sanktioniert, selber de facto entkräftet und inihrer Bedeutung minimisiert, von eben der Evidenz, die systematisch ihrWerk ist und durch sie Geltung erhält, empirisch zum unerheblichen Ko-rollar erklärt und in ihrer Stellung marginalisiert wird. Derart ungestörtist die dem Priesterkönig auf Erden verliehene Prokura, daß im Rückblickvon ihr her auch und sogar der Akt ihrer Verleihung selbst alle konstitu-tive Notwendigkeit einbüßt und sich als der überflüsssige Formalismuseiner bloßen Affirmation dessen, was ohnehin der Fall ist, enthüllt; derartungeteilt ist die dem theokratischen Herrn im Leben erteilte Vollmacht,daß unter ihrem Eindruck rückwirkend sogar das Fakt ihrer Erteilungals solches bar jeder maßgebenden Bedeutung erscheint und sich als dieentbehrliche Zutat einer reinen Status-quo-Sanktionierung zu erkennengibt.

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Die dem Priesterkönig verliehene Vollmacht tendiert dazu, kraft ihrer empirischüberwältigenden Präsenz die Götter mitsamt ihrem nominalen Eigentumsan-spruch in Vergessenheit geraten zu lassen und damit den ersteren in jene Positiongrund- und legitimationsloser Machtausübung zurückzubringen, die ihm schoneinmal die Mißgunst und die Todeswünsche der Gemeinschaft zuzog. Weil sichdie Gemeinschaft zugleich aber erinnert, daß diese Situation Ausgangspunkt desnach dem tatsächlichen Tod des Herrn raumgreifenden Totenkults war, schrecktsie vor deren Wiederholung zurück und sinnt auf ein Mittel, dem theokratischenHerrn seine Legitimation zu erhalten.

Eben dies indes, daß jene Prokura materialiter bedingungslos genugist, um den Akt ihrer nominalen Gewährung zur nichtssagenden Floskelzu erklären, führt am Ende zu der Situation, daß die Gesellschaft dieüberflüssig nominellen Geber solcher bedingungslosen Prokura über-haupt aus dem Auge verliert und sich mit dem Anblick einer mangelsunsterblicher Urheber nurmehr in der eigenen Faktizität gründendenherrscherlichen Macht über den Reichtum konfrontiert sieht, sich demEindruck einer mangels göttlicher Stifter quasi naturgegeben erschei-nenden autokratischen Verfügung über den Überfluß ausgesetzt findet.Dergestalt prädominant ist die dem Priesterkönig verliehene irdischeMacht und weltliche Befugnis, daß sie schließlich der Gesellschaft al-le Gedanken an ihre pro nomine überirdischen Urheber austreibt, jedeErinnerung an ihre pro forma göttlichen Stifter verschlägt und sich derallgemeinen Vorstellung als das datum nudum einer aller Legitimationüberhobenen selbstherrlich-existentialen Gewalt präsentiert, sich im öf-fentlichen Bewußtsein als das factum brutum einer von Natur gegebeneneigenmächtig-totalen Herrschaft etabliert. Und damit findet sich dennaber die theokratische Gesellschaft in einer Lage vergleichbar derjenigenwieder, in die vormals das mit Priorität auf den Reichtum verseheneandere Subjekt mythologisch-heroischer Provenienz die Stammesgemein-schaft versetzte, als dank wachsender Produktivität der Arbeit und ent-sprechend sich mehrendem Reichtum sein privilegiertes Leben im Über-fluß zur festen Einrichtung, zum festlich unverbrüchlichen Status quowurde. Mit jener – dem Wachstum der Stammesproduktion gedankten– Verwandlung des heroischen Wohllebens in eine unabsehbare Dauer-funktion ging damals zwar ein unbestreitbarer Gewinn an Sicherheit fürsStammesleben und Berechenbarkeit in der Stammesentwicklung einher.

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Gleichzeitig allerdings verloren ging mit ihr nicht bloß die Fähigkeit desanderen Subjekts, durch festlich-orgiastisches Aufräumen mit dem Reich-tum sich selber in Abständen aus der Welt zu schaffen und so die Stam-messubjekte von Zeit zu Zeit seiner bedrückend-provokativen Gegenwartzu entheben, sondern mehr noch und vor allem die in solcher Selbstauf-hebung beschlossene Gelegenheit für die Stammessubjekte, im Zuge derNeubildung des Reichtums jenes dem Reichtum entspringende andereSubjekt in der Ursprünglichkeit seiner die ganze Stammesdimension mitEntwirklichung bedrohenden unbedingten Indifferenz erneut zu erle-ben, in der Uranfänglichkeit seiner die gesamte Stammesperspektive mitEntwertung konfrontierenden absoluten Negativität abermals sich vorAugen zu stellen und damit des guten Grunds für die mit mythologischenMitteln dem anderen Subjekt eingeräumte Priorität auf den Reichtum an-sichtig, der wahren Notwendigkeit für das ihm auf heroologischem Wegübertragene Privileg auf den Überfluß inne zu werden. Sooft das andereSubjekt dadurch, daß es dem Überfluß orgiastisch den Garaus machte,sich selber den Boden entzog, sooft verschaffte es den Stammessubjek-ten die Möglichkeit, es ex improviso des neuproduzierten Reichtums ineiner Bedeutung zu erleben, die ihnen seine mythologisch inszenierteErhebung zum auserwählten Herrn des Reichtums, seinen heroologischdurchgesetzten Aufstieg zum privilegierten Eigner des Überflusses alsdas mit Abstand kleinere Übel akzeptabel werden und in der Tat als eineglückliche Errettung aus höchster Not und Gefahr willkommen sein ließ.Indem aber mit der Verwandlung des mythologisch-festlichen Reichtums-genusses in eine ständige Einrichtung die Gelegenheit zur Begegnungmit jener vom anderen Subjekt ursprünglich drohenden unbedingtenIndifferenz und abstrakten Negativität sich unwiederbringlich verlor,nahm die dem anderen Subjekt eingeräumte herrschaftliche Priorität aufden Reichtum für die Stammessubjekte ebenso unaufhaltsam wie suk-zessive ein anderes Aussehen an. Seines im traumatischen Widerfahrnisjener Indifferenzdrohung bestehenden guten Grunds beraubt und seinerim unendlichen Schrecken jener Negativerfahrung vorliegenden wah-ren Notwendigkeit entkleidet, hörte dies herrschaftlich-eignerschaftlicheVor- und Nießrecht des anderen Subjekts auf, den Stammessubjektenals das verhältnismäßig kleinere Übel akzeptabel zu sein, und kehrteallmählich für sie die Züge einer nach Maßgabe seiner Grundlosigkeit

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unbegreiflichen Zumutung und mangels jeder Notwendigkeit unerträgli-chen Belastung hervor. In dem Maß, wie die institutionelle Beständigkeitund funktionelle Stetigkeit, die der Reichtum dank Stammesproduktivitätentwickelte, das andere Subjekt ein für allemal davor schützte, in jeneursprüngliche Bedrohlichkeit zurückzufallen, die die Stammessubjektegezwungen waren, ihm mit den mythologischen Mitteln einer kraft ar-chaischer Vorfahrlichkeit bevorzugten Existenz im Reichtum und einesdank kursorischer Vorbildlichkeit privilegierten Lebens im Überfluß ab-zukaufen, gewann in den Augen der Stammessubjekte die Beschwernisan Gewicht, die jene ständig bevorzugte Reichtumexistenz des anderenSubjekts für sie, die dabei ständig benachteiligten wirklichen Produzen-ten des Reichtums, bedeutete, fiel ihnen das Ärgernis auf die Seele, dasjenes stetig bevorrechtigte Leben des anderen Subjekts im Überfluß fürsie, die dadurch stets um ihr Recht gebrachten eigentlichen Erzeugerdes Überflusses, darstellte. Mit zunehmender Erbitterung und wachsen-dem Ressentiment blickten die Stammessubjekte auf jenes im Reichtumschwelgende andere Subjekt, das auf ihre Kosten eine Vorrangstellungbehauptete, für die sie keinerlei Grund mehr zu erkennen vermochten,das zu ihren Lasten eine Vorzugsposition einnahm, deren Notwendigkeitihnen partout nicht mehr einsichtig war. Und mit wachsender Ungeduldund zunehmender Aggressivität warteten sie deshalb auch darauf – odertrugen eigenhändig Sorge dafür –, daß der Tod dem anderen Subjektseine Vorrangstellung entriß, damit der Reichtum endlich als herrenlosgewordenes Gut und freigesetzte Habe an seine wirklichen Erzeugerzurückfallen konnte.

Mit der im Prinzip gleichen hoffnungsvollen Mißgunst und erwar-tungsvollen Feindseligkeit wie vormals die Stammesgemeinschaft demin unerschöpflichem Reichtum fest etablierten, in unversieglichem Über-fluß dauerhaft eingelebten anderen Subjekt tritt nun also die als Sym-biose von Stammesgemeinschaften neu entstandene Gesellschaft ihremmit unverbrüchlich schrankenloser Vollmacht bei der Verwaltung desReichtums ausgestatteten theokratischen Herrn gegenüber. Und sie hatdazu den im Prinzip gleichen Anlaß wie jene: die Verflüchtigung jedereinsehbaren Notwendigkeit für die mit solcher Vollmacht dem theo-kratischen Herrn konzedierte Vorzugsposition. War es vormals ein alsFortgang der Produktivität beschreibbarer arbeitstechnisch-ökonomischer

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Fortschritt, der den Stammessubjekten den für das Privileg des ande-ren Subjekts vorhandenen guten Grund aus dem Blickfeld rückte, soist es nunmehr ein als Entwicklung in der Sozietät selbst erscheinendermilitärtechnisch-soziologischer Fortschritt, durch den der neu entstande-nen Gesellschaft die für die Vollmacht ihres theokratischen Herrn geltendzu machende einsehbare Notwendigkeit aus den Augen gerät. Solangedie jenseitige Macht, als deren Statthalter der auf Erden wandelnde Herrdes Reichtums firmiert, noch ein realiter Anspruch auf den Reichtumerhebender chthonisch-unterirdischer Verschiedener ist, liegt dieser gu-te Grund für die dem Statthalter eingeräumte Handlungsmacht überden Reichtum auf der Hand. Weil der mit Reichtumsmitteln vor demirrevoziblen Abgang in unbedingte Indifferenz bewahrte und in ein unter-irdisches Jenseits eingewiesene Verschiedene, der mit Hilfe von Überflußvom irreparablen Ausstieg in absolute Negativität abgehaltene und ineine unterweltliche Transzendenz gebannte Tote in der direkten Konse-quenz dieser seiner schattenweltlichen Einweisung und totenkultlichenEinbindung die fatale Eigenschaft entwickelt, als der im Jenseits weilen-de wahre Herr des Reichtums diesen zum plutonischen Existential zuerklären und als thesaurisches Regal mit Beschlag zu belegen, ist derVersuch, durch die Gegeneinrichtung eines irdischen Statthalters desVerschiedenen und durch die solchem Statthalter eingeräumte Machtüber den Reichtum dem von chthonisch-jenseitiger Schwindsucht befal-lenen, von katabolisch-transzendenter Fallsucht überkommenen letztereneine diesseitige Bedeutung und immanente Zentrierung zurückzugeben,in seiner Notwendigkeit einsehbar. Daß wegen des unwiderstehlichenZwangs zur lebensgeschichtlichen Projektion auf den chthonischen Herr-scher, wegen der übermächtigen Verführung zur genealogischen Iden-tifizierung mit dem plutonischen Fürsten der irdische Statthalter dieserFunktion einer Arretierung des Reichtums im Diesseits erst einmal garnicht zu genügen vermag und vielmehr selber einer jenseitsorientier-ten chthonisch-plutonischen Perspektive verfällt, widerlegt dabei nichtetwa die faktische Notwendigkeit jener reichtumarretierenden Statthalter-schaft auf Erden, sondern beweist nur die Schwierigkeit ihrer praktischenDurchsetzung, spricht also keineswegs dagegen, daß der Statthalter allenim chthonischen Jenseits bestehenden guten Grund hat, sich als Herr desReichtums im Diesseits aufzuführen, sondern zeugt einzig und alleindavon, wie schwer oder vielmehr unmöglich es ihm wird, angesichts

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der Anziehungskraft, die dieser im chthonisch-jenseitigen Anspruch aufden Reichtum bestehende gute Grund als solcher auf ihn ausübt, sein indiesem guten Grund begründetes diesseitig-irdisches Interesse überhauptfestzuhalten.

Nun aber hat die militärisch-soziologischem Fortschritt entsprunge-ne und als Symbiose zwischen armen und reichen Stämmen etablierteneue Gesellschaftsordnung die im Jenseits weilenden wahren Herrendes Reichtums um jede sterblich-persönliche Anziehungskraft auf denirdischen Statthalter, um alle tödlich-singularische Faszination für denweltlichen Stellvertreter gebracht und sich in die Gesichtslosigkeit undAnonymität ätherischer Unsterblicher, in die Unverbindlichkeit und Plu-ralität olympischer Götter zurückziehen lassen. Entbunden von jedemaus der Transzendenz auf ihn einwirkenden lebensgeschichtlichen Wie-derholungszwang kann jetzt endlich der Statthalter die ihm eigentlichzugeteilte Aufgabe einer Arretierung des Reichtums im Diesseits erfül-len. Mit der ganzen Resolution des von den Göttern mit aller weltlichenVollmacht auf sich gestellten theokratischen Herrn kann er endlich derihm auf Erden aufgetragenen Verwaltung des Reichtums eine uneinge-schränkt diesseitige Bedeutung geben, ohne daß ihn die zu ätherischenUnsterblichen anonymisierten jenseitig wahren Herren des Reichtumsvon diesem Geschäft einer weltlich orientierten Überflußverwendung,das er als theokratischer Herr betreibt, irgend abhalten könnten. So sehrindes die zur Anonymität von Unsterblichen verblaßte jenseitige Macht,die zur Pluralität von Göttern entrückte transzendente Herrschaft, ihrVermögen verliert, den Priesterkönig in der Ausübung seines irdischenAmts zu stören und von der Verfolgung seines weltlichen Geschäftsabzulenken, so sehr büßt sie zugleich auch die Fähigkeit ein, für sei-ne priesterkönigliche Amtsausübung den guten Grund zu liefern undseiner theokratischen Geschäftigkeit die einsehbare Notwendigkeit zuverleihen. Indem es der prokuristischen Reichtumpflege des Priesterkö-nigs gelingt, das Interesse des Diesseits gegenüber dem Anspruch desJenseits effektiv zum Tragen zu bringen, geht ja offenbar der jenseitigeAnspruch aller empirischen Realität und materialen Evidenz verlustig,die er im jenseitsfixierten Tun des autochthonen Statthalters bis dahinnoch hatte. Durch keinerlei genealogische Affinität mehr substantiiert,verliert sich das Anrecht der transzendenten Herrschaft auf den Über-fluß zu einem rein nominalen Besitztitel, dessen reale Ausfüllung und

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materiale Wahrnehmung ganz und gar der Prokura des Priesterkönigsobliegt. Was mithin vom plutonisch-transzendenten Zugriff auf den Über-fluß übrig bleibt, ist eine Möglichkeit, deren Wirklichkeit umfangsgleichmit dem prokuristisch-diesseitigen Tun des Priesterkönigs ist, eine Vir-tualität, deren Aktualität im bevollmächtigt-immanenten Treiben destheokratischen Herrn aufgeht, ist ein Ansichsein, dessen formale Aner-kennung durch den Priesterkönig gleichbedeutend ist mit der Selbstbestä-tigung des letzteren in seinem qua Überflußpflege realen Fürsichsein, eineHerrlichkeit, deren nominale Anrufung durch den theokratischen Herrnde facto übereinstimmt mit einer Berufung des letzteren auf seine quaÜberflußverwaltung materiale Selbstherrlichkeit. So aber uno actu derpriesterköniglichen Anerkennung ebensowohl seines bedeutungslosenFormalismus überführt und in seinem nichtssagenden Nominalismusaufgedeckt, gerät jener nominale Titel auf den Überfluß mitsamt seinengöttlichen Trägern hinter der überwältigenden Empirie der vom Pries-terkönig realiter ausgeübten Macht und Verfügung über den Reichtumschließlich der Gesellschaft aus dem Blickfeld, schwindet ihr aus demGedächtnis. Konfrontiert mit einer Prokura, die so unbeschränkt durchalle realiter reziproke Verpflichtung gegenüber den unsterblichen Ver-leihern, so frei von jeder den göttlichen Bevollmächtigern geschuldetenresultativen Rechenschaftslegung ist, daß in der Tat die Anerkennungdes Anspruchs der letzteren jeglichen empirischen Sinn einbüßt undzur gegenstandslos leeren Geste verkommt beziehungsweise auf einenAkt schierer priesterköniglicher Selbstermächtigung hinausläuft, ver-liert die Gesellschaft die Stellvertretungsfunktion des theokratischenHerrn überhaupt aus dem Auge und nimmt in seiner Macht über dengesellschaftlichen Reichtum am Ende nichts mehr wahr als – wie obenformuliert – das datum nudum einer aller Legitimation überhobenenselbstherrlich-existentialen Gewalt, das factum brutum einer von Naturgegebenen eigenmächtig-totalen Herrschaft.

Und angesichts solcher nach Maßgabe ihrer Statusquo-Faktizität undNaturgegebenheit grundlosen Verfügung des theokratischen Herrn überden Überfluß wird diese Gesellschaft von den gleichen gemischten Ge-fühlen hoffnungsträchtiger Mißgunst und erwartungsschwerer Feind-seligkeit befallen, wie sie vormals der Stammesgemeinschaft das zurrücksichtslos stetigen Institution gewordene Reichtumsprärogativ desanderen Subjekts einflößte. Ihr, die keiner einsehbaren Notwendigkeit für

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die Abtretung des Reichtums an den seine nominelle Statthalterschafthinter reeller Selbstherrlichkeit verschwinden lassenden Priesterkönigmehr ansichtig ist, will dessen Prokura über den Reichtum nun geradesowie einst der Stammesgemeinschaft das Prärogativ des anderen Subjektsals Ausdruck einer sie, die tatsächliche Produzentin des Reichtums, umdie Früchte ihrer Arbeit bringenden grundlosen Usurpation erscheinen.Ganz ebenso wie damals der mythologischen Stammesgemeinschaft dieals zweckfrei feste Einrichtung etablierte Reichtumexistenz des ande-ren Subjekts, sein als sinnferne Dauerfunktion installiertes Leben imÜberfluß, stellt sich jetzt auch ihr, der aus der Stammesgemeinschaftneu entstandenen theokratischen Gesellschaft, die als grundlose Na-turgegebenheit sich ihr präsentierende Macht des Priesterkönigs überden Reichtum als ein Beschwernis und Ärgernis dar, in dem sie nichtsmehr als einen Beweis ihrer eigenen, usurpativ-mutwilligen Diskriminie-rung und expropriativ-skandalösen Benachteiligung zu sehen vermag.Und ganz genauso wie vormals für jene müssen sich jetzt auch für siean den Gedanken einer egal ob passiv erlebten Erledigung oder aktivbewirkten Beseitigung dieses Ärgernisses hochfliegende Hoffnungenknüpfen und verspricht sie sich davon nichts geringeres als eine ihr,der diskriminierten Produzentin, sich eröffnende ungehinderte Existenzim freigesetzten Reichtum, ein ihr, der expropriierten Erzeugerin, blü-hendes unbeschwertes Leben im ad libitum verfügbaren Überfluß. Weilin völliger Parallelität zu dem, was damals der Stammesgemeinschaftmit dem Prärogativ des anderen Subjekts widerfuhr, die Gesellschaft inder theokratischen Vollmacht nichts mehr zu erblicken vermag als eine– dem fehlenden guten Grund nach zu urteilen – willkürlich gesetzteWidrigkeit, die ihr die Aneignung ihres mit eigener Hand produziertenReichtums verwehrt, ein – dem Mangel an einsehbarer Notwendigkeitzufolge – zufällig aufgetauchtes Hindernis, das sie vom Genuß ihresselbsterzeugten Überflusses abhält, kann sie wie jene gar nicht umhin,mit dem Gedanken an ein Verschwinden jener grundlosen Widrigkeitdie Hoffnung auf einen ihr selber dadurch sich bietenden ungehindertenZugang zum Reichtum und Umgang mit dem Überfluß zu verbinden.

Anders allerdings als einst bei der mythologischen Gemeinschaft undim wesentlichen Unterschied zu damals gehen bei der theokratischenGesellschaft diese durch die Situation zwangsläufig geweckten mißgüns-tigen Hoffnungen ebenso zwangsläufig einher mit der Erinnerung an eine

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ihre Eitelkeit bezeugende Erfahrung – der Erinnerung an die schrecklicheErfahrung nämlich, die vormals die mythologische Gemeinschaft machenmußte, als es zu guter Letzt zur erhofften Erledigung jenes widrigenBeschwernisses wirklich kam und das von ihr sei’s bloß mit passiverMißgunst beobachtete, sei’s mehr noch mit aktiver Feindseligkeit be-dachte andere Subjekt seine grundlos bevorzugte Existenz im Reichtumfahrenließ und mit Tode abging. Weit entfernt davon, daß damals dervon seinem Usurpator befreite Reichtum sich den Stammessubjekten alsihr natürliches Hab und Gut zu eigen gegeben hätte, verwandelte er sichvielmehr – jenem ursprünglich ex improviso seiner selbst erschienenenUsurpator unverbrüchlich ergeben und über den Tod hinaus treu – vorden Augen der mythologischen Gemeinschaft in ein reminiszierendesMahnmal des Verschiedenen, ein remonstratives Memento des Toten, dasden letzteren an die unbedingte Indifferenz einer das Stammesdiesseitsmitsamt dem ganzen Reichtum als in toto irrealisiert zurücklassendenursprünglichen Jenseitigkeit verloren zeigte und das auf diese Weisedie Stammesgemeinschaft zu dem als Totenkult geschilderten Versuchzwang, mit dem Reichtum als Bindeglied und Integrationsfaktor sol-che verheerend anteriorische Jenseitigkeit des Verschiedenen ihrer allesentwertenden Negativität zu entkleiden und in eine als unterirdisch-chthonischer Bereich firmierende spezifische Differenz zum irdischenDiesseits, eine als totenweltlich-plutonische Sphäre subsistierende be-stimmte Negation zur weltlichen Immanenz zurückzuversetzen. Stattüber den Reichtum endlich, wie erhofft, ungehindert und im eigenen Sin-ne verfügen zu können, mußten die Stammessubjekte ihn vielmehr sofortwieder drangeben, um mit seinen Mitteln dem als der wahre Herr desReichtums in Gewahrsam genommenen Verschiedenen den Heimgang inein ontologisch dem Stammesdasein entzogenes anteriorisches Sein zuverbauen und die goldenen Fesseln einer ans irdische Diesseits räumlichangrenzenden unterirdisch-jenseitigen, plutonischen Existenz anzulegen,ihm die Rückkehr in einen modallogisch dem Stammesprozeß entrück-ten apriorischen Anfang zu verwehren und den fürstlichen Aufenthalteiner an die weltliche Immanenz topisch anschließenden totenkultlich-transzendenten, thesaurischen Residenz anzuweisen. Statt des Reich-tums, den sie hervorbrachten, sich endlich nach Belieben bedienen zukönnen, mußten die Stammessubjekte ihn vielmehr ebenso fruchtlos wie

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ausnahmslos und ebenso unabsehbar wie unaufhörlich zur Identifizie-rung und Integration jenes Toten verwenden, von dessen Tod sie sichdoch gerade einen ungehindert eigenen Umgang mit dem Reichtum undeinen ungestört persönlichen Gebrauch des Überflusses versprachen.

Und diese gleiche sterbensbittere Erfahrung einer wegen der reminis-zierenden Kraft, die der Reichtum im Gewahrsam des Verschiedenen anden Tag legt, chthonisch-katabolisch entfremdeten Reichtumsverwaltungund totenkultlich verkehrten Überflußverwendung droht nun erneut –droht jetzt der neuentstandenen Gesellschaft von ihrem eine materialiterbedingungslose Verfügung über den Überfluß behauptenden theokrati-schen Herrn, sobald dieser der sei’s heimlichen Mißgunst, sei’s offenenFeindseligkeit, mit der die Gesellschaft ihm sei’s abwartend gegenüber-steht, sei’s zupackend begegnet, weicht und aus dem Leben scheidet.So wahr die allem Anschein nach willkürlich-usurpatorische Macht undungerechtfertigt-expropriative Verfügung über den Reichtum, die derseine nominellen Prokurageber hinter der Realität seiner Machtausübungaus dem Blickfeld rückende Priesterkönig behauptet, in der theokrati-schen Gesellschaft die gleichen mißgünstigen Hoffnungen erregt, mitdenen weiland der Anblick der allem Anschein nach unbegründeten Prä-rogative des anderen Subjekts die mythologische Stammesgemeinschafterfüllte, so wahr steht der theokratischen Gesellschaft das gleiche böseErwachen aus all ihren Hoffnungen bevor, das bereits der mythologischenStammesgemeinschaft beschieden war. Indes steht ihr dieses bittere Endeihrer Hoffnungen nicht nur bevor, sondern eben dank der Tatsache, daßes sich dabei um eine bloße Wiederholung dessen handelt, was bereitsder mythologischen Stammesgemeinschaft beschieden war, weiß undantizipiert sie auch, was ihr bevorsteht. Und dieses Wissen, diese An-tizipation des Kommenden erzeugt in der theokratischen Gesellschaftnotwendig einen gegenläufigen Affekt angstvoller Unlust und panischerAbwehr, der der Emotion hoffnungsvoller Mißgunst und erwartunss-schwangerer Feindseligkeit, mit der das Gegenwärtige sie erfüllt, ineinsden Prozeß und den Garaus macht. Kaum daß die theokratische Ge-sellschaft, provoziert durch die, wie ihr scheinen will, ungerechtfertigteVerfügungsgewalt ihres priesterköniglichen Herrn, auf dessen endlicheEntfernung oder auch schließliche Beseitigung zu hoffen und von einerungehindert eigenen Existenz im Reichtum zu träumen beginnt, läßt sie

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die simultan sich einstellende Erinnerung an das, was unter den glei-chen Umständen der Stammesgemeinschaft widerfuhr, die Erinnerungnämlich daran, daß dort die erhoffte eigene Existenz im Reichtum derchthonisch-katabolischen Konfiskation des Reichtums durch den ins Jen-seits Verschiedenen zum Opfer fiel, aus ihren Träumereien auch schonwieder aufschrecken und auf nichts weiter mehr aus sein als auf dieAbwendung jenes das irdische Diesseits in eine Maschine zur Befrie-digung der Bedürfnisse des chthonischen Jenseits umfunktionierendenKonfiskationsverfahrens, auf nichts sonst mehr bedacht sein als auf dieVermeidung jenes die empirische Immanenz in einen Zuliefererbetrieb fürdie plutonische Transzendenz pervertierenden Requisitionsvorgang. Imerinnerungsträchtig vollen Bewußtsein ihrer Bedrohung durch eine allerVoraussicht nach haargenaue Wiederholung jenes chthonisch-katabolischbitteren Endes, das in der gleichen Situation die mythologische Stam-mesgemeinschaft ereilte, läßt die theokratische Gesellschaft alle in ebendieser Voraussicht als eitel entlarvten Hoffnungen fahren und sucht alleinnoch nach einem Ausweg, jenem bitteren Ende eines zur jenseitsorientiertbodenlosen Reichtumskatabole verurteilten Lebens für den Toten zuentrinnen.

Das Mittel, dem Priesterkönig seine Legitimation zu erhalten, findet die theokra-tische Gesellschaft im Opfer, darin, daß sie dem Priesterkönig eine in Reichtums-gaben sich manifestierende materiale Anerkennung des formalen Eigentumsan-spruchs der Götter abnötigt. Dabei benutzt sie als Druckmittel ihre zum Neid derGötter hypostasierte Mißgunst gegen ihn, die sie ihm warnend vorhält und mitder sie ihm Angst vor seiner eigenen, zur Hybris erklärten Machtfülle einjagt.

Wo sonst aber soll sie diesen Ausweg auftun, wenn nicht bei denen,die als die Geber seiner Vollmacht immerhin ja eine nominelle Dominanzund formelle Kontrolle über den Priesterkönig in Anspruch nehmenkönnen und die nur leider dessen realiter unbedingte irdische Machtaus-übung ihr, der Gesellschaft, hat aus den Augen geraten und aus demGedächtnis schwinden lassen – bei den ätherischen Unsterblichen näm-lich, den olympischen Göttern. In der Tat ist es die formell verpflich-tende transzendente Existenz der letzteren, die, wie oben ausgeführt,den zu Lebzeiten mit unbedingter irdischer Prokura über den Reich-tum ausgestatteten theokratischen Herrn im Todesfall daran hindert,

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seiner im Diesseits bedingungslosen Macht über den Reichtum kraft derDrohung, sie in jenseitig unbedingte Indifferenz gegen die gesamte Reich-tumsphäre, in transzendent absolute Negativität gegenüber der ganzenWelt des Überflussses umschlagen zu lassen, erneut die aus Stammesge-meinschaftszeiten erinnerliche Bedeutung eines aus dem unterweltlichenJenseits heraus sich realisierenden chthonisch-plutonischen Anspruchszu verschaffen. Als selber der Unterwelt entstammende, dem Totenreichentstiegene und aber dank militärtechnisch-soziologischen Fortschrittszur Anonymität und Pluralität einer ätherischen Jenseitigkeit entrücktewahre Herren des Reichtums sind sie es, die Götter, die, wie sie einerseitsanonym und vielgestaltig den alten Totenkult, dem sie selber entsprin-gen, als unwiederbringlich Vergangenes ad acta legen, so andererseitsjeder beim Verscheiden ihres priesterköniglichen Statthalters auf Erdenmöglichen unveränderten Neuauflage des alten Totenkults entgegen-stehen. Sie, die wahren Eigner des Überflusses, sind es, die durch ihrenauf den Reichtum gemünzten nominalen Besitzanspruch und formalenEigentumsvorbehalt der theokratischen Gesellschaft beim Abgang desPriesterkönigs gestatten, den Verschiedenen mit den pompes funèbreseines Leichenbegängnisses abzufertigen, den Toten mit dem verschwen-derischen Aufwand eines Totenmahls abzuspeisen und ihn hiernachvor die in Wirklichkeit ebenso egale, wie dem Schein nach kruzifika-torische Alternative zu stellen, ob er lieber in seinem Grab zur letztenRuhe gebettet und ewigem Vergessen überantwortet sein oder aber allentotenkultlichen Konnotationen entsagen und Aufnahme in die Anony-mität und Pluralität der ätherisch-olympischen Sphäre finden will. Undoffenbar ist es ja auch nichts sonst als das Verschwinden dieser jenseitigwahren Herren des Reichtums aus dem Gesichtskreis priesterköniglicherMachtausübung, ist es also nichts weiter als eben der Umstand, daßhinter der realiter unbedingten Prokura ihres Statthalters auf Erden sie,die Unsterblichen, der Wahrnehmung der theokratischen Gesellschaftkurzerhand entschwinden, was den Priesterkönig in jene Position einer invölliger Naturgegebenheit willkürlich-usurpatorischen Macht über denReichtum und in voller Selbstherrlichkeit unlegitimiert-expropriativenVerfügung über den Überfluß versetzt, die die Gesellschaft situativ zwarund im Zeichen einer suggestiven Empirie mit der mißgünstigen Hoff-nung auf einen nach dem Tode des Usurpators ungehinderten Zugriff auf

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den Überfluß erfüllen, objektiv aber und im Kriterium der historischen Er-fahrung mit dem schicksalsschweren Schreckensbild einer durch solchenTodesfall zwangsläufig vielmehr heraufbeschworenen unverändertenWiederauflage des alten, aus Stammesgemeinschaftszeiten erinnerlichenTotenkults konfrontieren muß. So gewiß es die ätherische Existenz dieserpro nomine wahren Herren des Reichtums, die olympische Anwesenheitdieser pro forma wirklichen Überflußeigner ist, was der Gesellschaftdie Handhabe gibt, dem theokratischen Überflußverweser nach seinemTode alles von einem transzendenten Totenreich her behauptete fortge-setzte Anrecht auf den diesseitigen Überfluß zu verweisen, so gewiß istes umgekehrt die durch die materiale Verfügungsgewalt des theokra-tischen Herrn herbeigeführte Abwesenheit dieser olympisch-formalenÜberflußeigner, die – allen dadurch in der Gesellschaft erregten Vorstel-lungen vom unnotwendig-usurpatorischen Charakter des priesterkö-niglichen Machthabers zum Trotz und allen zu Lebheiten des letzterendeshalb in ihr erweckten Hoffnungen auf ein mit seinem Tode ihr sel-ber möglich werdendes ungestörtes Sein im Reichtum zum Tort – demverschiedenen Reichtumsverwalter vielmehr die Gelegenheit verschafft,jenen jenseitig-chthonischen Aspruch auf den diesseitigen Reichtum mitdem alten katabolisch-thesaurischen Nachdruck erneut zur Geltung zubringen.

Was liegt unter solchen Umständen für die Gesellschaft näher, als sichzur Verhinderung jener vom priesterköniglichen Postmortem drohen-den Wiederauflage der früheren unheilig-heiligen Katabole, zur Verhü-tung jener im theokratischen Todesfall zu gewärtigenden Neuausgabedes alten abgründigen Totenkults um eine Rückführung dieser aus demBlickfeld geratenen ätherisch-wahren Reichtumbesitzer in die Präsenzpriesterköniglicher Machtausübung, eine Wiedereingliederung dieserdem Gedächtnis entfallenen olympisch-wirklichen Überflußeigner indie Observanz theokratischer Verfügungsgewalt zu bemühen? Konfron-tiert mit dem bitteren Ende eines mangels Besitzanspruchs durch dieUnsterblichen vom verschiedenen Priesterkönig abermals geltend ge-machten chthonisch-plutonischen Anspruchs auf den Reichtum, besinntsich die Gesellschaft auf eben diese Unsterblichen und ihren nomina-len Besitzanspruch als auf das einzige Mittel, solchem bitteren Ende zuwehren. Gegen alle von der Realität der irdischen Machtausübung desPriesterkönigs, von der Materialität der weltlichen Verfügungsgewalt

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des theokratischen Herrn ausgehende suggestive Amnesie entschließtsich die Gesellschaft, aufgeschreckt durch die erinnernde Vorwegnahmedes der Amnesie auf dem Fuße folgenden bösen Erwachens, zur Ana-mnesis und richtet ihren Sinn auf diese ätherischen Unsterblichen, derenin jenseitiger Existenz unvermittelte Gegenwart und unverbrüchlicheAnwesenheit sie behauptet und deren neuerlich erklärte Anerkennungin ihrer Rolle als prokuraverleihend wahre Herren des Reichtums sie,die Fürsprecherin dieser Unsterblichen, vom Priesterkönig fordert, derenabermals ausgesprochene Bestätigung in ihrer Eigenschaft als vollmacht-gebend wirkliche Überflußeigner sie, die Sachwalterin dieser Götter, vomtheokratischen Herrn verlangt.

Die Gesellschaft weiß indes, daß es, um die Götter zur dauerhaft jensei-tigen Gegenwart im Wahrnehmungsbereich priesterköniglich diesseitigerMachtausübung über den Reichtum, zur bleibend transzendenten An-wesenheit in der Observanz theokratisch immanenter Verfügungsgewaltüber den Überfluß zu bewegen, mehr braucht als eine einfache Wieder-holung jener nominellen Anerkennung, die der Priesterkönig ihnen alsden wahren Reichtumbesitzern vorher gezollt hat. Will die Gesellschaftdie ätherischen Unsterblichen als transzendent präsente Instanz ernsthaftzurückgewinnen, um mit ihrer Hilfe den weltlichen Überflußverweserteils zu Lebzeiten vor gesellschaftlichem Neid und Groll zu bewahren,teils nach seinem Tode vom drohenden Rückfall ins frühere totenkultlicheUnwesen abzuhalten, so muß sie den letzteren dazu bringen, daß er mehrtut, als den ersteren bloß ihren alten, unverbindlich nominalen Besitz-anspruch auf den Reichtum wieder zu konzedieren. Diesen Anspruchhat der Priesterkönig den Göttern ja auch niemals bestritten. Daß siedie pro nomine wahren Herren des Reichtums, die pro titulo wirklichenÜberflußeigner seien, hat er niemals in Abrede gestellt. Aber was mitsolch nomineller Anerkennung ihres Besitzanspruchs passiert, ist, daßdiese angesichts der von Verpflichtung freien realen Machtfülle und ma-terialen Verfügungsgewalt der dem Priesterkönig verliehenen Prokuraüber den Reichtum dem Nominalismus einer einfachen Reaffirmationdessen, was auf Erden der Fall ist, verfällt und sich als flatus voci, alsnichtssagende Floskel, enthüllt, daß sie zum Formalismus einer schierenSanktionierung des weltlichen Statusquo verkommt und als leere Ges-te, als bedeutungslose Formalie, dasteht. Und was in der Konsequenzdieser Nominalisierung des priesterköniglichen Anerkennungsakts zur

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entbehrlichen Floskel, dieser Formalisierung der theokratischen Bestäti-gungsprozedur zur überflüssigen Formalie geschieht, ist, daß mit all denbedrohlichen Implikationen, um deren Bewältigung beziehungsweiseVerhinderung die Gesellschaft sich nun als Fürsprecherin der Götterbemüht, jener Besitzanspruch mitsamt den nominell als wahre Herrendes Reichtums anerkannten Unsterblichen, die ihn erheben, hinter derRealität der Machtausübung des irdischen Reichtumsverwalters der theo-kratischen Gesellschaft überhaupt aus dem Blickfeld gerät. Warum solltewohl eine Wiederholung der gleichen formellen Bestätigungsprozedurerfolgreicher sein als vorher und nämlich mehr erbringen als nur nocheinmal teils die Entlarvung der Bestätigung selbst als gegenstandsloserGeste und sinnloser Formalie, teils damit die Überführung der formaliterals Geber der Vollmacht des theokratischen Herrn Bestätigten in realiterdurch die priesterkönigliche Machtfülle Ausgeschlossene, materialiterhinter der theokratischen Verfügungsgewalt Verschwundene?

Will also die theokratische Gesellschaft mehr erreichen als bloß eineWiederholung dieses Ergebnisses einer haltlosen Eskamotierung desformalen Eigentumsvorbehalts der Götter durch die reale Eigenmachtund materiale Selbstherrlichkeit des Priesterkönigs und will sie vielmehrjenem Eigentumstitel mitsamt seinen göttlichen Trägern selbst eine inactu aller irdischen Machtausübung handgreiflich dauernde Geltungverschaffen und eine in specie jeder weltlichen Verfügungsgewalt sin-nenfällig bleibende Bedeutung sichern, so muß sie den Priesterkönigdazu bringen, daß er jenes Anrecht der Götter in einer Form Bestätigungfinden läßt, die es an realer Relevanz mit dem Modus der priesterkö-niglich eigenen Macht über den Reichtum aufnehmen, sich in bezug aufmateriale Evidenz dem Duktus der vom theokratischen Herrn selbstbehaupteten Verfügung über den Überfluß an die Seite stellen kann.Wenn die theokratische Gesellschaft erreichen möchte, daß in irdischenReichtumsdingen die ins Jenseits entrückten Unsterblichen eine bei allerJenseitigkeit sich als unverbrüchlich diesseitig bewährende herrschaftli-che Insistenz behaupten, so muß sie dafür sorgen, daß der Priesterkönigdiesen von ihm als wahre Herren des Reichtums anerkannnten Götternkraft Anerkennungsakt einen Zugang zum Reichtum eröffnet, dessenempirische Realität und materiale Faktizität hinter der des priesterkö-niglichen Umgangs mit dem Reichtum nicht zurücksteht und der ebendeshalb auch nicht Gefahr läuft, unter dem Eindruck des letzteren zu

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nichts zu verschwinden und in Vergessenheit zu fallen. Nicht also bloßden ganzen Reichtum, den gesamten Überfluß formell und symbolisch,sondern ihn pars pro toto reell und empirisch muß der theokratische Herrseinen unsterblichen Auftraggebern und göttlichen Vollmachtverleihernzuerkennen und offerieren. Und nicht bloß pro nomine und andächtigspirituell, sondern per officium und sinnenfällig-institutionell muß erdurch dieses Zugeständnis, diese Offerte, dieses Opfer, die Götter als diewirklichen Überflußeigner Gegenwart und Geltung gewinnen lassen.

Bleibt allerdings die Frage, wie die Gesellschaft den Priesterkönig zudiesem realen Zugeständnis, dieser materialen Offerte, diesem handgreif-lich-sinnenfälligen Opfer bringen und wie sie den theokratischen Herrnnämlich dazu bewegen kann, die Abwesenheit der durch eine bloß for-melle Bestätigung in Vergessenheit gestürzten wirklichen Überflußeignerals eine nicht nur für sie, die theokratische Gesellschaft, sondern auchund gerade für ihn, den Theokraten selbst, bedrohliche Defizienz wahr-zunehmen. In der Tat vermag ja der Priesterkönig in jener chthonisch-plutonischen Resurrektion, die das Verschwinden der Unsterblichen ihmals Postmortem verheißt, eine Gefahr für die eigene Person unmittelbargar nicht zu erkennen. Jene im Todesfall zu gewärtigende unveränderteWiederauflage des alten Totenkults, die für die theokratische Gesellschaftnichts geringeres darstellt als die furchtbare Bedrohung einer ad infinitumkatabolisch entfremdeten Reichtumproduktion und pro nihilo thesau-risch selbstvergessenen Überflußerzeugung, beinhaltet ja für ihn, denTheokraten selbst, unmittelbar nur den der Selbstherrlichkeit förderlichenProspekt und die der persönlichen Eitelkeit schmeichelnde Perspektiveeines bis hinein in die jenseitige Verschiedenheit durchgesetzten herr-schaftlichen Seins im Reichtum. Mag deshalb die Gesellschaft den Pries-terkönig noch so sehr vor jenem aus der Verdrängung der Unsterblichenund ihres Anspruchs auf den Reichtum konsequierenden chthonisch-plutonischen Prospekt warnen, mag sie ihm jenen Prospekt noch so sehrals die Frucht einer die Domäne der wahren Herren des Reichtums ver-letzenden frevelhaften Anmaßung, als die Ausgeburt eines gegen dieGerechtsame der wirklichen Überflußeigner sich vergehenden sträflichenBegehrens vorhalten, mag sie ihm die plutonisch-jenseitige Macht überden Reichtum, der er kraft irdischer Eigenmächtigkeit entgegenstrebt,noch so sehr als das chthonische Vexierbild eines den Unsterblichen ent-rissenen und entgegen seiner Bestimmung sterblichem Streben dienstbar

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gemachten ätherischen Privilegs, als den katabolischen Wechselbalg einesden Göttern gestohlenen und im Widerspruch zu seinem Wesen durchMenschensinn entstellten olympischen Titels, mithin als Ausdruck be-denkenlosesten Übermuts, als Zeichen unbesonnenster Hybris verweisen– die Lust, es mit jener in Abwesenheit der Götter ihm sich eröffnendenAussicht auf eine plutonische Quasi-Unsterblichkeit, eine thesaurischeigene Art Göttlichkeit, zu versuchen, können ihm solche Vorhaltun-gen und Verweise allein schwerlich vergällen. Damit dem Priesterkönigdiese hybride Lust, sich das Verschwinden der Unsterblichen zur post-mortem eigenen Immortalisierung dienen zu lassen, diese übermütigeBereitschaft, sich die Abwesenheit der Götter zur plutonisch persönlichenVergöttlichung zunutze zu machen, vergeht, muß vielmehr die theokra-tische Gesellschaft den anderen mit der Absenz der Götter verknüpftenEffekt ins Spiel bringen, daß solche Absenz neben der glänzenden Aus-sicht, die sie dem Priesterkönig eröffnet, auch eine bedrohliche Mißgunstihm gegenüber wachruft und eine gefährliche Feindseligkeit gegen ihn er-regt. Sie muß ihm, mit anderen Worten, klar machen, daß jene köstlichenAussichten im Jenseits, die ihm die Abwesenheit der Götter erschließt,einhergehen mit einer bedrohlichen Erschütterung seiner Stellung imDiesseits und daß er in der Tat Gefahr läuft, das in Aussicht genommenezeitlos chthonische Sein mit einem vorzeitigen Ende seines irdischenDaseins zu bezahlen, die wahrgenommene Chance einer wundersamposthumen Existenz mit einem gewaltsamen Abbruch seines derzeitigenLebens zu büßen.

Dieser zweite Aspekt, den die Absenz der Götter hervorkehrt: daßsie dem Priesterkönig nämlich nicht nur jene totenkultliche Perspekti-ve eröffnet, sondern ihn zugleich auch durch die Feindseligkeit, die siegegen seinen lebensweltlichen Status erweckt, früher, als ihm lieb seinkann, in jene totenkultliche Perspektive hineinzustoßen und mit ihr zuvermählen droht – dieser zweite Aspekt ist in der Tat dazu angetan, denPriesterkönig die Lust an der letzteren verlieren und statt dessen Interessean der ihm von der theokratischen Gesellschaft zugedachten Aufgabeeiner konzessionswillig realen Raffirmation oder opferfreudig materialenRepräsentation der abwesenden Götter selbst gewinnen zu lassen. Magdie Aussicht auf ein plutonisch-ewiges Leben im Totenreich noch so sehrseiner Eitelkeit schmeicheln und ihm noch so verlockend erscheinen –sich um solcher Aussichten willen die irdische Existenz verkürzen und

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den Faden des weltlichen Lebens vorzeitig abschneiden zu lassen, ist erdeshalb noch lange nicht geneigt. Vielmehr läßt sich darauf rechnen, daßer angesichts solcher mit der totenkultlichen Aussicht einhergehenden le-bensweltlichen Bedrohung bereit ist, den Warnungen der theokratischenGesellschaft, die ihm das Verlangen nach chthonischer Unsterblichkeit alsstrafwürdige Hybris, als frevelhaften Übermut verweist, Gehör zu schen-ken und im Zuge einer opferfreudig materialen Besinnung auf die Götterdie totenkultliche Aussicht auf permanent jenseitige Macht und Fülledranzugeben, nur um hier die lebensweltliche Bedrohung durch virulentdiesseitige Mißgunst und Feindseligkeit loszuwerden. Fragt sich bloß,auf welche Weise die theokratische Gesellschaft dem Priesterkönig dieselebensgefährliche Mißgunst, die in Abwesenheit der Götter gegen ihnwach wird, nahebringen soll. Schließlich ist, wovon sie ihn in Kenntnissetzen muß, tatsächlich ja ihr höchsteigener Animus und Affekt, ist, wo-vor sie ihn warnen muß, in Wirklichkeit nur die Bedrohung und Gefahr,die von ihr selber, ihrer höchstpersönlichen Einstellung ihm gegenüberausgeht. Niemand sonst als sie ist es ja, die unter dem Eindruck des mitden Unsterblichen verschwundenen guten Grunds für seine Vollmachtüber den Reichtum eben die hoffnungsträchtige Animosität gegen denPriesterkönig entwickelt, die sie ihm jetzt als die unvermeidliche Impli-kation seines Aufräumens mit den Unsterblichen und Verzichts auf dieGötter vor Augen rücken und durch deren Vorweis sie ihn von seinerhybriden Selbstherrlickeit abbringen, von seinem gottlosen Übermutheilen möchte. Kann die theokratische Gesellschaft dem Priesterkönigihre Feindseligkeit wirklich offen zur Kenntnis bringen, als den ihr ei-genen Animus tatsächlich in aller Ehrlichkeit eingestehen? Riskiert sienicht, wenn sie das tut, einen Vertrauensverlust in den Beziehungen desPriesterkönigs zu ihr, eine Entfremdung, die der Umstand, daß kraftder neuerlichen Anwesenheit der vollmachtgebenden Götter sie, dieGesellschaft, unter die Botmäßigkeit des Priesterkönigs zurückkehrt, indie frühere Untertänigkeit ihm gegenüber zurückversetzt wird, vielleichtzwar überspielen, niemals aber vergessen lassen kann? Läuft sie nicht,wenn sie also verfährt, Gefahr, durch ihre Eröffnungen sein Verhältniszu ihr derart zu belasten, daß, allem äußeren Anschein einer durch dieRehabilitation der Unsterblichen ermöglichten Restauration der altenOrdnung zum Trotz, der Schaden in der Tat irreparabel und nämlich aneine Wiederherstellung der alten, durch ebenso arglose Treue auf der

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einen wie bedenkenlosen Glauben an diese Treue auf der anderen Seitebestimmten Herr-Knecht-Beziehung gar nicht mehr zu denken ist?

Und kann sie, recht besehen, auch nur sich selbst gegenüber zu diesemAffekt sich bekennen? Zerstört sie nicht, wenn sie das tut, unwieder-bringlich ihr eigenes Äquilibrium und begibt sich auf ewig in eine zurobjektiven Schizophrenie geratende Konfrontation mit eben der durchdie Abwesenheit der Götter heraufbeschworenen mißgünstig animiertenExistenz und feindselig alterierten Verfassung, von der sie doch geradenichts mehr wissen und kraft der dem Priesterkönig abverlangten erneu-ten Anwesenheit der Götter partout befreit sein will? Setzt sie nicht, wennsie, um ihrer Forderung nach materialer Wiedereinsetzung der Götterbeim Priesterkönig Gehör zu verschaffen, mit dieser widrigenfalls gefähr-lich alterierten Verfassung ihrer selbst Politik macht – setzt sie dann nichtwie schon einerseits das mit der Kenntnis dieser Seite ihrer Persönlichkeitersichtlich unvereinbare alte priesterkönigliche Vertrauensverhältnis zuihr, so auch andererseits ihr eigenes, sich im Schutz der Götter von dieserSeite ihrer Persönlichkeit zu befreien und in der früheren, unzweideu-tigen Fassung wiederherzustellen bemühtes Selbstverhältnis aufs Spiel?Wie soll der Priesterkönig jemals in Frieden mit einer Gesellschaft lebenkönnen, von der er weiß, daß nur die Anwesenheit der Götter sie zwingt,in Gehorsam ihm gegenüber zu verharren, und sie hindert, in Mißgunstgegen ihn auszubrechen? Und wie soll die Gesellschaft jemals in Eintrachtmit sich selber leben können, wenn sie sich solche Eintracht durch dasEingeständnis hat erkaufen müssen, daß dieses ihr Selbst nur in Anwe-senheit der Götter es selbst ist und sich in deren Abwesenheit vielmehrin einen Unruhestifter erster Güte und Zwietrachtsäer vor dem Herrnverwandelt?

Ein hoher Preis also, den die theokratische Gesellschaft zahlen muß,wenn sie gezwungen ist, die Rückkehr des Priesterkönigs unter die Ober-hoheit der Unsterblichen durch das nach außen offene Eingeständnisund nach innen erklärte Bewußtsein einer widrigenfalls von ihrer, derGesellschaft, eigenen Korporation oder gar Hand ihm, dem Priesterkönig,entgegenschlagenden existenzbedrohenden Feindseligkeit zu erkaufen!So sehr ihr auf diesem Weg einer reflexiv ebenso wie kommunikativerstatteten Selbstanzeige gelingen mag, den Priesterkönig zu einer realenAnerkennung der Unsterblichen als der wahren Herren des Reichtums,

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mithin aber zu einer Wiederherstellung der alten, vor jedem chthonisch-plutonisch bösen Erwachen Schutz gewährenden Ordnung zu bewegen– dadurch, daß sie, um dies zu erreichen, bereit sein muß, aus ihremHerzen keine Mördergrube zu machen und sich zu eben dem Affektöffentlich zu bekennen, den mitsamt seinen bösen Folgen und seinembitteren Nachspiel sie doch gerade verhüten will, führt sie in die wieder-hergestellte Ordnung ein Bewußtsein der permanenten Doppelbödigkeitoder latenten Ambivalenz ein, das die Beziehungen des Priesterkönigs zuihr wie auch ihr Selbstverhältnis irreparabel unterminieren muß. Zwar,um das Schlimmste, den Rückfall nämlich in einen neuen Totenkult, zuverhindern, kann der theokratischen Gesellschaft kein Preis zu hoch seinund wird sie also auch notfalls solche Selbstanzeige in Kauf nehmen.Aber falls sich ihr eine Alternative bietet, die ihr die Selbstanzeige er-spart, während sie beim Priesterkönig den gleichen Effekt wie die letztereerzielt, wird sie diesem alternativen Verfahren selbstverständlich denVorzug geben. Diese Verfahrensalternative, die sie in der Tat findet, be-steht darin, daß sie ihre Animosität gegen den Priesterkönig zu einembloß integrierenden Bestandteil und rein faktorellen Moment eben despriesterköniglichen Verhältnisses zu den Göttern funktionalisiert, dessenVerlust jenen Animus auf den Plan ruft und dessen Rückgewinnungihn wieder zum Verschwinden bringen soll. Das heißt, die theokratischeGesellschaft entzieht sich der Selbstanzeige dadurch, daß sie den ihreigenen Affekt von seiner gesellschaftlichen Basis und Subjektgrundlageabstrahiert, um ihn nurmehr als abhängigen Ausdruck eines fehlendenVerhältnisses des Priesterkönigs zu den Unsterblichen wahrzunehmen,ihn bloß noch als variable Funktion des Herausfallens der Götter aus derpriesterköniglichen Observanz zu begreifen. Indem so aber die Mißgunstvon ihrem qua theokratische Gesellschaft eigentlichen Träger abgelöstund als strikt relative Funktion jener göttlichen Mächte aufgefaßt wird,deren Verschwinden sie heraufbeschwört und deren Wiederkehr von ihrheilen soll, verwandelt sie sich in ein freiflottierendes Quantum Animo-sität, das mangels eigenem Subjekt sich den göttlichen Mächten selbstassoziiert, um fortan als deren eigene, durch reine Entfernung erregteGemütsstimmung und durch schiere Abwesenheit ins Leben gerufeneGeistesverfassung in Erscheinung zu treten. Als Animus, der sich perdefinitionem des Verschwindens der Unsterblichen aus der priesterkönig-lichen Observanz automatisch entwickelt, als Affekt, der sich in absentia

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der vom theokratischen Herrn verdrängten Götter spontan einstellt, suchtund findet jene von ihrer Subjektgrundlage abgelöste Mißgunst in denabwesenden Göttern selbst ihren neuen subjektiven Grund und nimmtals der vielberufene Neid der Unsterblichen, der sprichwörtliche Grollder Götter Gestalt an.

Eben dies allerdings, wie jene in den Neid distanter Unsterblicherüberführte Animosität tatsächlich Gestalt annehmen soll, bleibt ein Pro-blem. Daß die theokratische Gesellschaft ihre eigene Mißgunst gegen dendie Götter vernachlässigenden Priesterkönig in einen reinen Funktions-ausdruck und eine bloße Zustandsbestimmung der vom Priesterkönigvernachlässigten Götter selbst transformiert, hat nämlich neben demunbestreitbaren Vorteil, daß sie sich dadurch die Selbstanzeige, die Auf-deckung ihres zur Mördergrube verkniffenen Herzens erspart, auch denebenso unbezweifelbaren Nachteil, daß sie damit jenen Affekt all seinerempirischen Evidenz und Überzeugungskraft beraubt. Als das den Uns-terblichen nach Maßgabe ihrer Verdrängung nachgesagte Ressentiment,die den Göttern im Zeichen ihrer Mißachtung zugeschriebene Ranküneverflüchtigt sich jener Affekt zu einer gestaltlosen Gefahr und unbe-stimmten Bedrohung, die, auch wenn sie den Priesterkönig mit vagerFurcht erfüllen mag, doch kaum geeignet ist, ihm den Eindruck einer le-bensgefährlichen und eben darum auf sofortige Maßnahmen dringendenAggressivität zu vermitteln. Um die Gefahr von dieser Gestaltlosigkeitund Unbestimmtheit zu befreien und ihr in den Augen des Priesterkö-nigs Virulenz zu verleihen, muß die theokratische Gesellschaft ihr aufsynthetischem Wege etwas von jener empirischen Sinnenfälligkeit undpraktischen Eindrücklichkeit nachweisen, die sie natürlicherweise hätte,wenn sie ihr, der Gesellschaft, als die ihr eigene Mißgunst ins Gesichtgeschrieben stünde und als ihre höchsterpsönliche Feindseligkeit vonder Stirn abzulesen wäre. Die theokratische Gesellschaft erbringt diesenNachweis der Sinnenfälligkeit des den Unsterblichen nachgesagten Res-sentiments, indem sie Zeichen des Ressentiments in der Physiognomiedes Kosmos entdeckt, seine Äußerungen auf dem Antlitz der natürli-chen und kultürlichen Umwelt ausfindig macht. Keine außergewöhnlicheHimmelserscheinung, keine Unregelmäßigkeit im Ablauf der Jahreszei-ten, kein Erdbeben, Hagelsturm oder Unwetter, keine Flut- und Dürreka-tastrophe, keine Erkrankung des Viehs, keine Mißgeburt, keine Aggressi-onshandlung der Nachbarn, kein Vertragsbruch der Verbündeten, keine

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schlechte Nachricht von draußen, kein Stolpern des priesterköniglichenHerrn auf der Treppe, kein Todesfall in seiner Familie, kein Sprachlapsusbei der Verkündigung eines Befehls, kein Haar in seiner Suppe – keinEreignis, das nicht der theokratischen Gesellschaft dazu diente, es demvon seiner realen Vollmacht über den Reichtum zur Hybris einsamerGröße verführten, von seiner materialen Verfügungsgewalt über denÜberfluß zum Übermut selbstherrlichen Bestehens disponierten Priester-könig als redenden Beweis für den animosen Affekt der als die wahrenHerren des Reichtums hinter solch einsamer Größe zum Verschwindengebrachten Unsterblichen warnend vorzuhalten, als schlagenden Belegfür das aggressive Ressentiment der als die wirklichen Überflußeignerdurch solch selbstherrliches Bestehen verdrängten Götter verweisenddarzubieten. Indem so aber der Priesterkönig sich mit dem Neid derdistanzierten Unsterblichen in der Form von tausenderlei natürlichenund kultürlichen An- und Vorzeichen, von zahllosen unheilvollen Omenund schicksalsschweren Orakeln sinnenfällig konfrontiert und spürbarbedrängt findet, kann er gar nicht umhin, die virulente Bedrohlichkeitjenes von allen Palastwänden abzulesenden Neids der Unsterblichen alsgegeben zu akzeptieren, die imminente Gefährlichkeit jenes in jedemBlätterrauschen vernehmlichen göttlichen Grolls sich als ein Faktum zuHerzen zu nehmen und demnach, um die Gefahr abzuwenden, der ihmvon der theokratischen Gesellschaft dringend empfohlenen Prozedureiner nicht bloß nominalen, sondern realen Anerkennung des Anspruchsder Götter, als die wirklichen Überflußeigner zu gelten, endlich Folge zuleisten. Umgeben von tausendfachen Zeichen des tiefen Unmuts, mit demdie Unsterblichen ihre Enteignung durch die überwältigende Realität derpriesterköniglichen Macht über den Reichtum erfüllt, und konfrontiertmit unzähligen Beweisen des rasenden Zorns, den in den Göttern ihreEntrechtung durch die erdrückende Materialität der priesterköniglichenVerfügung über den Überfluß erregt, entschließt sich der Priesterkönig,die Beleidigten durch einen Akt der realen Anerkennung ihres vernach-lässigten Anspruchs auf den Reichtum zu besänftigen, die Zürnendendurch eine materiale Bestätigung ihres mißachteten Titels auf den Über-fluß zu versöhnen, kurz, er entschließt sich, ihnen ein Opfer zu bringen.

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. Opferkult

Um sich der zum Groll der Götter hypostasierten Mißgunst der theokratischenGesellschaft zu entziehen, bringt der Priesterkönig den Göttern als den wahrenHerren des Reichtums Opfer dar. Der als Opfer dargebrachte Reichtum abersetzt sich in unverhoffter Dynamik über die Funktion eines bloß repräsentativenAndenkens an die Götter hinweg und wird zu ihrem leibhaftigen Erscheinungs-ort. Er kann dies, weil er nicht in das zu seiner Aufnahme ohnehin ungeeigneteolympische Jenseits überwechselt, sondern entsprechend der ihm zugedachten Re-präsentationsaufgabe im Moment der Übergabe in ostentativer Zurschaustellungverharrt.

So ist es der theokratischen Gesellschaft schließlich gelungen, den Herr-scher von Göttergnaden dazu zu bewegen, unter die Botmäßigkeit derals Verleiher seiner Vollmacht figurierenden transzendenten Götter zu-rückzukehren und Abschied von jener der Umfänglichkeit seiner Prokuraentspringenden hybriden Selbstmächtigkeit zu nehmen, die, wie sie zumeinen in der Gesellschaft mißgünstige Hoffnungen auf eine beim Abgangdes Selbstherrlichen mögliche Wiedergewinnung des Reichtums erregt,so die Gesellschaft zum anderen aber auch mit der als bitteres Endeerinnerlichen Tatsache einer für den Todesfall vielmehr zu gewärtigendenWiederaufnahme der früheren am Reichtum exekutierten plutonischenKatabole bedroht, mit der als böses Erwachen ersichtlichen Erfahrungeiner vom Abgegangenen vielmehr zu befürchtenden Neuauflage desalten, mittels Überfluß bestrittenen Totenkults schreckt. Eingeschüchtertdurch jene lebensgefährliche Mißgunst, die aus einem ihr selber eigenenAffekt die theokratische Gesellschaft in eine direkte Funktion der durchihre Entfernung von aller realen Macht über den Reichtum pikierten Uns-terblichen verwandelt, in einen unmittelbaren Ausdruck der durch ihren

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Ausschluß von aller materialen Verfügung über den Überfluß enragiertenGötter überführt, und die sie als dieses Ressentiment der vernachlässigtenUnsterblichen in unzähligen schicksalsschweren äußeren Omen eineimminente Gefährlichkeit unter Beweis stellen läßt – eingschüchtert alsodurch solch erdrückende Beweise göttlichen Grolls, gibt der Priesterkönigdem Drängen der theokratischen Gesellschaft endlich nach und sucht,um die Zürnenden zu versöhnen, deren vernachlässigten hoheitlichenAnspruch auf den Reichtum durch einen realen Zuwendungs- und Über-tragungsakt, der an Realität der eigenen priesterköniglichen Macht überden Reichtum die Stange halten kann, coram populo zu befriedigen undfür jedermann erkennbar zu reaffirmieren. In der Absicht, den jenseitigwahren Herren des Reichtums eine empirisch tragende Basis zu ver-schaffen, die der realen Appropriation des Reichtums durch ihn, denStatthalter auf Erden, standzuhalten vermag, wählt der Priesterkönigparadigmatischen Reichtum, exemplarischen Überfluß aus, den er denjenseitigen Herren parte pro toto dessen, was er ihnen schuldet, osten-tativ übergibt und als Teil des Ganzen, das ihnen zusteht, demonstrativzur Verfügung stellt. Er gibt ein Stück von dem Reichtum, den er alsProkurist verwaltet, frei, grenzt einen Teil des Überflusses, über den ermit Vollmacht gebietet, aus, um an diesem Stück Reichtum den ansonstenlatenten und vom Vergessen bedrohten Besitzanspruch der Unsterblichenmanifest, an diesem Teil Überfluß den im übrigen obliquen und der Ver-drängung ausgesetzten Eigentumsvorbehalt der Götter greifbar werdenzu lassen. Er nimmt an einem exemplarischen Stück Reichtum sich selberzurück und verleiht damit dem Besitzprärogativ der Unsterblichen, daser als Statthalter ebensosehr verdeckt wie verwaltet, eine in der Gestaltdieses Stücks Reichtum direkt erscheinende Realität, verschafft dem Ei-gentumstitel der Götter, den er als Stellvertreter ebensosehr verstelltwie vertritt, eine in der Leibhaftigkeit dieses Teils Überfluß unverstelltzutage tretende Materialität. Indem er etwas von dem Gut, das er fürsie verwaltet, den Göttern hier und jetzt zum Präsent macht und alsTribut überreicht, läßt er sie aus in toto dessen, was er für sie verwaltet,absentierten zu in parte dessen, was er ihnen darbringt, repräsentiertenwahren Herren des Reichtums, aus in genere dessen, worüber er stattihrer verfügt, deprivierten zu in specie dessen, was er ihnen verehrt, attri-buierten wirklichen Überflußeignern werden. Dadurch, daß er ein Stück

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Reichtum als unmittelbaren Besitz der Unsterblichen betrachtet und öf-fentlich zur Schau stellt, verleiht der Priesterkönig ihrem Besitzanspruchhinlängliche Realität, um nicht nur die priesterkönigliche Anerkennungdieses Anspruchs allem Verdacht eines vergänglichen Nominalismus zuentziehen und jeden Vorwurfs eines vergeßlichen Formalismus zu enthe-ben, sondern um vor allem die Unsterblichen selbst in diesem realisiertenAnspruch oder unmittelbaren Besitz eine als Anwesen ständige Reprä-sentanz auf Erden, ein als Andenken bleibendes Attribut im Diesseitsgewinnen zu lassen.

Und damit hat nun eigentlich die theokratische Gesellschaft das er-reicht, was sie wollte. Sie hat den Priesterkönig unter die Botmäßigkeitseiner Prokuraverleiher zurückgebracht, ihn der Observanz seiner Voll-machtgeber neu unterstellt, und so sich selber gleichermaßen von derVersuchung, ihm zu Lebzeiten mit der Animosität und Aggressivitäthoffnungsschwangerer Emanzipation zu begegnen, befreit, wie vor derGefahr, ihm nach seinem Ende mit der Kompulsivität und Regressivitättotenkultlicher Devotion zu erliegen, bewahrt. Mit seiner in der Offer-te des Reichtumspräsents und Überflußtributs, im Opfer, vollzogenenrealen Anerkennung der Macht der Unsterblichen treibt der Priesterkö-nig unter dem von allen akzeptierten funktionellen Alibi einer Besänfti-gung göttlichen Grolls der theokratischen Gesellschaft jene hoffnungs-geschwellte Feindseligkeit aus, die sie in Reaktion auf die Verdrängungdes formellen Eigentumstitels der Götter durch die Materialität pries-terköniglicher Verfügungsgewalt über den Reichtum gegen den hierbeials grundloser Machthaber sich enthüllenden Priesterkönig ausbildetund die sie doch gleich wieder loswerden will, weil sie sicher sein kann,sie beim Verscheiden des Machthabers mit einer Neuauflage der frühe-ren reichtumverschlingend-katabolischen Hingabe an den Verschiede-nen büßen, mit einem Wiederaufleben des alten überflußverzehrend-thesaurischen Kults um den Toten bezahlen zu müssen. Indem als Opferder Reichtum in seinem repräsentativ-realen Bezug zu den Unsterblichensinnenfällig wahrnehmbar, der Überfluß in seiner attributiv-materialenZugehörigkeit zu den Göttern unmittelbar erkennbar wird, erhält diepriesterkönigliche Verfügung über den Überfluß durch diese attributiveBesinnung auf die Götter und ihr Anrecht eben die Legitimität zurück, die

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nötig ist, um ihr den Animosität erweckenden Anschein einer willkürlich-usurpatorischen Reichtumsbesitzergreifung zu nehmen, sie vom Aggres-sivität erregenden Charakter einer selbstherrlich-expropriativen Über-flußaneignung zu befreien. Angesichts der qua Reichtumofferte öffentlichgeleisteten hochheiligen Erklärung des Priesterkönigs, daß seine Machtüber den Reichtum in toto nichts als eine Prokura ist, die er als irdischerStatthalter der in parte jener Offerte repräsentierten jenseitig wahrenHerren des Reichtums, als weltlicher Stellvertreter der in specie jenesOpfers attribuierten transzendent wirklichen Überflußeigner wahrnimmt,angesichts dieses vom Priesterkönig coram populo abgelegten sakrifizi-ellen Zeugnisses kann die theokratische Gesellschaft allen mißgünstigenHoffnungen, die durch die grundlose Willkür des vermeintlichen Usurpa-tors in ihr wach wurden, Valet sagen und in dem aus Ernüchterung undErleichterung gemischten Bewußtsein, daß sie zugleich mit der animosenHoffnung die dubiose Bedrohung einer schließlichen Neuauflage desalten Totenkults los ist, sich mit dem wiederhergestellten Status quo einervon den Unsterblichen autorisierten priesterköniglichen Machtausübungüber den Reichtum, einer von den Göttern sanktionierten theokratischenVerfügungsgewalt über den Überfluß zufriedengeben.

Oder vielmehr könnte sie sich zufriedengeben – träte da nicht eineunverhoffte Komplikation ein, die aus der Opfersituation als solcherentsteht und die im offerierten Reichtum selbst ihren Grund hat. Unver-hofft nämlich kehrt der seinen wahren Herren zum Präsent gemachteund als Tribut dargebrachte Reichtum eine Dynamik hervor, mit der erdie ihm übertragene Rolle als reales Repräsentationsorgan der Unsterbli-chen und ihres Besitzanspruchs auf den Reichtum qualitativ durchbricht.Statt nämlich, wie vorgesehen, seine jenseitig wahren Herren bloß zurepräsentieren und das heißt per medium seiner eigenen Realität zurDarstellung zu bringen, läßt der als Offerte dargebrachte Reichtum sievielmehr unmittelbar zur Erscheinung kommen und im Diesseits persön-liche Präsenz gewinnen. Statt, wie geplant, seine transzendent wirklichenEigner bloß attributiv zu vertreten und das heißt in effigie seiner eige-nen Materialität unter Beweis zu stellen, läßt der als Opfer dargebrachteÜberfluß sie vielmehr leibhaftig auftreten und selber inmitten der Im-manenz Gestalt annehmen. Jenes repräsentative Anwesen im Diesseits,das der Priesterkönig den im Jenseits weilenden wahren Reichtumbe-sitzern zuweist, damit es als partielle Realisierung ihres Anspruchs auf

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den Reichtum die über den Reichtum im ganzen ausgeübte priesterkö-nigliche Macht vor aller Augen als ein statthalterisches Tun autorisiert,entpuppt sich im Augenblick seiner Zuweisung vielmehr als ein genera-tiver Erscheinungsort, der in maßlos überschwenglicher Auslegung derihm übertragenen Autorisierungsfunktion nichts geringeres vollbringt,als die jenseitigen Autoritäten höchstpersönlich auf den Plan zu rufenund dem staunenden Publikum vorzuführen. Jenes attributive Anden-ken, das der Priesterkönig den in der Transzendenz sich aufhaltendenwirklichen Überflußeignern zueignet, damit es als die in specie wahr-nehmbare Materialisierung ihres Anrechts auf den Überfluß die überden Überfluß in genere behauptete priesterkönigliche Verfügungsge-walt in aller Bewußtsein als ein stellvertretendes Wirken sanktioniert,verwandelt sich im Akt solcher Zueignung vielmehr in einen epipha-nischen Schauplatz, der in geradezu dysfunktionaler Übertreibung derihm anvertrauten Bevollmächtigungsfunktion nicht weniger leistet, alsdie transzendenten Vollmachtgeber in leibhaftiger Gestalt zu inszenierenund der mystifizierten Menge darzubieten. Jenes Stück Reichtum also,das als das exemplarisch exhibierte Attribut der Götter der Priesterkönigverwenden möchte, um seine eigene Verwaltung des Reichtums als einessentiell statthalterisches Tun anschaulich zu begründen, entfaltet imVollzug solcher Begründungsfunktion plötzlich eine konstitutive Be-deutung und initiative Kraft, die aus dem die Macht des Jenseits überdas Diesseits repräsentativ darstellenden Demonstrationsobjekt eine diejenseitige Macht mitten im Diesseits präsentativ vorstellende Monstranz,aus dem die Herrschaft des Transzendenten über die Immanenz objektivanführenden Beweismittel ein die transzendente Herrschaft als Subjektin die Immanenz einführendes Offenbarungsmedium werden läßt. Ausdem opus regis, dem im genitivus subjectivus wohlverstandenen Werkdes Priesterkönigs, das dem letzteren nur dazu dienen soll, den gutenGrund für seine statthalterische Macht über den Reichtum der theokra-tischen Gesellschaft symbolisch vorzuhalten, wird unvermittelt ein opusdei, ein im genitivus objectivus zu begreifendes Gotteswerk, das vonsich aus alles daransetzt, der Gesellschaft diesen guten Grund empirischvorzuführen. Aus dem als Darbringung, als Sakrifizium funktionierendenTestimonium des Priesterkönigs, das der letztere nur ablegt, um dertheokratischen Gesellschaft die jenseitig anwesenden Urheber seiner stell-vertretenden Verfügung über den Überfluß in effigie zu bezeugen, wird

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im Nu der Opferhandlung ein als Altar, als Sakrosanktum firmierendesTabernakel, das sich aus Eigenem unverhofft dazu aufwirft, der Gesell-schaft diese Urheber selbst als im Diesseits Daseiende in leibhaftigerGestalt zu zeigen.

Verantwortlich für diese unverhoffte Verwandlung der Reichtumofferteaus einem repräsentativen Objekt in einen generativen Ort, diese mys-teriöse Entfaltung des Überflußopfers aus einem Demonstrationsmittelin ein Offenbarungsmedium ist die exponierte Stellung, die der seinenjenseitig wahren Herren zum Tribut gebrachte Reichtum im Momentder Darbringung einnimmt. Verantwortlich ist, mit anderen Worten, derUmstand, daß der Priesterkönig mit seinem Tribut an die Unsterblichendiesseitigen Reichtum aus der Hand gibt und freisetzt, ohne ihn gleichnach dem Muster der früheren chthonisch-plutonischen Katabole demJenseits zu übergeben und in dessen räumlich-separate Sphäre oder Fas-sung überwechseln zu lassen, daß er mit seinem Präsent an die Götterimmanenten Überfluß aus seiner Verfügung entläßt und zur Dispositionstellt, ohne ihn deshalb nach Art des alten totenkultlichen Verfahrens andie Transzendenz zu expedieren und in deren topisch-differente Formund Gestalt zu übersetzen. So wahr der Priesterkönig sich bei seiner Of-ferte an die Unsterblichen von exemplarischen Stücken seines Reichtumstrennt, um diese ihren jenseitig wahren Herren zu überlassen, so wahrverzichtet er doch zugleich auf jeden Versuch, das Offerierte den jenseitigwahren Herren in ihr Jenseits hinein zu übergeben, in ihre Transzendenzhinein zuzustellen, und beschränkt sich vielmehr darauf, es als dies denUnsterblichen überlassene Stück Reichtum inmitten des Diesseits osten-tativ zur Schau zu stellen. Anders zu verfahren widerspräche ja auchoffenkundig der Funktion des qua Opfer dargebrachten Reichtums. Dierichtet sich für den Priesterkönig ja keineswegs mehr chthonisch-generelldarauf, zur Verhinderung einer radikalen Entwirklichung des irdischenDaseins durch fürstliches Verscheiden, zur Abwehr einer totalen Entwer-tung des weltlichen Lebens durch herrschaftlichen Tod, mit Hilfe vonReichtum eine als unterirdische Sphäre und unterweltliches Reich topischbstimmte Transzendenz zu schaffen, um den Verschiedenen als den inWahrheit identischen Herrn des Reichtums kontinuieren zu können.Und ebenso wenig mehr zielt sie für ihn pharaonisch-speziell darauf ab,unter dem Nachfolgedruck von ins Jenseits eingegangenen Vorgängerneinen realen Anspruch des Jenseits auf den Reichtum einzulösen, um

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auf diesem Weg Anstalten für ein inskünftig eigenes jenseitiges Sein imReichtum zu treffen. Vielmehr findet für den Priesterkönig der als Opferdargebrachte Überfluß seine nurmehr politisch-gesellschaftliche Aufga-be darin, zur Verhinderung des obliterativen Verschwindens, mit demdie Machtfülle seiner irdischen Prokura die mittlerweile zu ätherischenUnsterblichen anonymisierten Jenseitigen bedroht, zur Vermeidung desamnestischen Vergessens, in das die Verfügungsgewalt seiner weltli-chen Verwaltung die inzwischen zu olympischen Göttern pluralisiertenTranszendenten stürzt, deren formalen Titel auf den Überfluß in allerÖffentlichkeit und material als solchen zu reaffirmieren, um auf dieseWeise der priesterköniglich diesseitigen Macht über den Reichtum ihrensie als statthalterisches Tun autorisierenden guten Grund zu erhalten, diepriesterköniglich immanente Verfügung über den Überfluß ihrer sie alsstellvertretendes Wirken legitimierenden einsehbaren Notwendigkeit zuversichern. Wie könnte der zum Opfer gebrachte Reichtum diese ihmzugewiesene Aufgabe, in repräsentativ eigener Gestalt Zeugnis von derAnwesenheit der jenseitigen Unsterblichen abzulegen, um damit zu ver-hüten, daß in Abwesenheit jener jenseitig wahren Herren des Reichtumsihr Statthalter auf Erden zum unbedingten Machthaber avanciert, andem zum fatalen Schluß ein neuer Totenkult sich entzünden kann – wiekönnte wohl der Reichtum diese Aufgabe besser erfüllen als so, wie er estut: indem er nämlich seinen jenseitig wahren Herren zwar rückhaltloszur Verfügung gestellt, von diesen indes nicht in jenseitige Verwahrunggenommen, nicht zur Transzendenz heimgesucht wird, so daß er – wiebestellt und nicht abgeholt, um es salopp zu sagen – als ein im Diesseitsstehengelassenes Anwesen der Unsterblichen deren nominalen Eigen-tumsanspruch repräsentativ verkörpern und also vor aller Augen realiterbezeugen, als ein in der Immanenz liegengelassenes Andenken der Götterderen formalen Besitztitel attributiv vertreten und also für aller Bewußt-sein materialiter darstellen kann. Eine konsequente Überführung desden Unsterblichen zum Präsent gemachten Reichtums in deren eigenejenseitige Sphäre käme demgegenüber ja offenbar einer Durchkreuzungdieser der Reichtumofferte zugewiesenen Repräsentationsaufgabe gleich,weil dadurch das Offerierte aus dem diesseitigen Blickfeld verschwändeund selber in eben das Jenseits sich absentierte, von dem es doch geradedem Diesseits eine greifbar repräsentative Vorstellung hätte darbieten,das Geopferte aus dem immanenten Gesichtskreis desertierte und selber

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zu eben der Transzendenz sich dementierte, von der es doch gerade derImmanenz ein haltbar attributives Bewußtsein hätte vermitteln sollen.

Im übrigen steht, daß es zu solch einer konsequenten Überweisungdes offerierten Reichtums an seine jenseitigen Besitzer kommt oder über-haupt kommen kann, auch gar nicht befürchten. Voraussetzung dafürwäre ja, daß dies Jenseits der unsterblichen Reichtumbesitzer noch einedem unterirdischen Grabkammerareal chthonisch-katabolischer Proveni-enz vergleichbare räumlich-wirkliche Bestimmtheit und Beschaffenheit,das heißt noch eine dem unterweltlichen Totenreich aus totenkultlicherZeit entsprechende topisch-empirische Lokalisierbarkeit und Erreich-barkeit aufwiese. Genau das aber ist nicht der Fall, da ja der als Befrei-ung vom chthonisch-katabolischen Wiederholungszwang beschriebeneÜbergang der jenseitigen Herren des Reichtums aus dem Charakter per-sonaler Verschiedenheit in die Kategorie anonymer Unsterblichkeit, ihrals Ablösung vom Totenkult geschilderter Wechsel aus einem singulärenTotenstatus in einen Zustand pluraler Göttlichkeit nicht zuletzt darinsich ausdrückt, daß das Jenseits selbst seine unterirdische Gebunden-heit abwirft und zu überirdischer Unbehaftbarkeit sich aufhebt, daß dieTranszendenz als solche die Fesseln konkreter Unterweltlichkeit sprengtund zur grenzenlos abstrakten Überweltlichkeit sich verflüchtigt. In demMaß, wie die jenseitig wahren Herren des Reichtums sich aus namhaftenGestorbenen zu anonymen Unsterblichen, aus toten Fürsten zur Scharder Götter entmaterialisieren, entrealisert sich auch der jenseitige Raumselbst und verwandelt sich aus einem vom Diesseits marginal abgesetztenchthonisch-komplementären Territorium in eine dem Diesseits diametralentgegengesetzte ätherisch-imaginäre Dimension, aus einem von derImmanenz definitiv abgegrenzten plutonisch-abortiven locus zu einemvon der Immanenz limitativ ausgegegrenzten olympisch-evasiven Topos.Wie sollte in das so um alle eigene räumliche Begrenzung gebrachteund in die unendliche Weite einer erdentzogen luftigen Dimension, indie unbestimmte Ferne einer weltüberhoben leeren Sphäre entlasseneJenseits irgendein Reichtumtransfer noch möglich sein? So gewiß dieseJenseitigkeit der ätherischen Unsterblichen nichts weiter mehr ist als eindurch seine Distanz zum Wohnort der Sterblichen abstraktiv entgrenztesutopisches Gefilde, eine durch ihre Differenz zum Lebensraum der Men-schen limitativ entschränkte himmlische Sphäre, so gewiß hört sie auf,eine für die effektive Annahme von Reichtum geeignete Adresse oder

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gar ein für dessen sukzessive Entgegennahme gerüsteter Empfangsort zusein.

Und mögen auch die Götter aus ihrer ätherischen Unbehaftbarkeit nochmannigfach herausragen und an diesem oder jenem räumlich angebbarenOrt auf Erden eine Position behaupten, mögen sie aus ihrer olympischenEntrücktheit noch allenthalben herausreichen und an dieser oder jenertopisch belegbaren Stelle in der Welt zu Hause zu sein beanspruchen,mögen sie auf diesem oder jenem Berg einen Wohnsitz, an diesem oderjenem Fels einen Standort, in dieser oder jener Grotte eine Bleibe, indiesem oder jenem Hain ein Heim, an dieser oder jener Quelle ein Lager,an diesem oder jenem Fluß eine Niederlassung haben – an der topi-schen Entmaterialisierung, die ihre Transzendenz als solche ereilt hat,ändert sich dadurch nicht das Geringste. So sehr vormals, zu Zeitendes als chthonisch-plutonische Observanz sich entfaltenden Totenkults,diese von den Unsterblichen nach wie vor in Anspruch genommenenirdischen Liegenschaften Zugangsstellen zu einem in räumlicher Kon-tinuität anschließenden unterirdischen Bezirk gewesen sein, diese vonden Göttern noch immer mit Beschlag belegten weltlichen Aufenthalteals Durchgangspforten zu einem in topischer Konsequenz sich eröffnen-den unterweltlichen Totenreich gegolten haben mögen – jetzt, da derunterirdische Bezirk sich zur erdentzogen luftigen Dimension anony-mer Unsterblicher verflüchtigt, das unterweltliche Totenreich sich zurweltüberhoben leeren Sphäre pluraler Götter aufgehoben hat, haben sieihre Bedeutung einer räumlich-direkten Übergangsstelle ins Jenseits,eines topisch-konkreten Verbindungspunkts mit der Transzendenz de-finitiv eingebüßt. Als irdische Dependancen ätherischer Unsterblicherihres chthonisch-plutonischen Hintergrunds beraubt, als weltliche Zweit-wohnsitze olympischer Götter ihrer totenkultlichen Perspektive entrissen,sind diese allenthalben verstreuten Kultstätten nun nicht mehr Durch-gangspunkte zu einem Jenseits, das mit der diskursiven Unentrinnbarkeiträumlicher Konintuität ans Diesseits anschließt, sondern murmehr An-haltspunkte für ein Jenseits, das selber aus dem räumlichen Kontinuumausgeschieden ist und deshalb höchstens noch in der intuitiven Unver-mitteltheit eben dieser Anhaltspunkte dem Diesseits diskontinuierlichaufstößt, sind sie nicht mehr Passierstellen in eine Transzendenz, die mitder nachvollziehbaren Fatalität topischer Konsequenz aus der Immanenzsich ergibt, sondern nurmehr Belegstellen für eine Transzendenz, die

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als solche aus dem topischen Kontext sich verflüchtigt hat und deshalbäußerstenfalls noch in der unberechenbaren Spontaneität eben dieserBelegstellen diskret in der Immanenz auftaucht. Statt Wegweiser, mitdenen das Diesseits ein Jenseits anzeigt, das gleich dahinter zuverlässigbereitliegt, in räumlicher Gestalt hervorzutreten und sich in topischerFaßlichkeit darzubieten, sind sie nurmehr Landmarken, die im Diesseitsauf ein Jenseits verweisen, das auf dem Fleck solchen Verweises unfehlbardarauf aus ist, sich zur gestaltlosen Weite aufzuheben, zur ätherischenUnbehaftbarkeit zu verlieren. Statt Brücken, durch die eine intentionaleVerbindug zwischen Immanenz und Transzendenz hergestellt wird, kraftderen diese jener in die Länge und Breite der gemeinsamen Achse alsspiegelbildliche Realität korrespondiert, sind sie nurmehr Brückenköpfe,die die residuale Verbundenheit der Immanenz mit einer Transzendenzbezeugen, die sich im übrigen auf der ganzen Linie der vormals gemein-samen Achse aus der Korrespondenz mit der Immanenz zurückgezogenund zur durchgängigen Leerstelle einer Region der Unsichtbaren eska-motiert hat.

Wie könnten wohl die solcherart zu erratischen Einsprengseln einesJenseits, das als solches alle kontinuierlich räumliche Gemeinschaft mitdem Diesseits aufgekündigt hat, abstrahierten, die dergestalt zu anako-luthischen Einlassungen einer Transzendenz, die selber allem kontext-lichen topischen Umgang mit der Immanenz abgeschworen hat, iso-lierten lokalen Kultstätten noch dazu taugen, die Durchführung einesräumlich-realen Reichtumtransfers zwischen Diesseits und Jenseits auf-rechtzuerhalten, die Abwicklung topisch-materialer Überflußtransaktio-nen zwischen Immanenz und Transzendenz sicherzustellen? Das einzige,wozu sie offenbar taugen, ist, die angemessene Bühne für eben jene,von allem realen Transfer weit entfernte, dramatische Funktion einerrepräsentativen Verkörperung jenseitiger Ansprüche zur Verfügung zustellen oder den passenden Rahmen für eben jene mit einer materialenTransaktion ganz unverwechselbare theatralische Aktion einer attributi-ven Versinnbildlichung transzendenter Anrechte abzugeben, worauf derPriesterkönig das von ihm den Unsterblichen gemachte Reichtumpräsentin der Tat ja beschränkt wissen will. Als im Diesseits stehengebliebene er-ratische Blöcke eines chthonischen Jenseits, das selber seine Erdenschwereabgestreift und sich restlos ätherisiert hat, als in der Immanenz verhalteneänigmatische Relikte einer plutonischen Transzendenz, die sich als solche

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in Luft aufgelöst und spurlos evakuiert hat, sind jene Kultstätten dienatürlichen Standorte und gegebenen Schauplätze für priesterköniglicheOpferhandlungen, deren Ziel nicht die eilfertige Expedition des den Uns-terlichen dargebrachten Reichtums ins Jenseits, sondern im Gegenteil nurseine anhaltende Exposition im Diesseits, nicht die sofortige Überstellungdes den Göttern geweihten Überflusses in die Transzendenz, sondernvielmehr bloß seine ständige Zurschaustellung in der Immanenz ist.

Die präsentative Kraft, die der als repräsentatives Anwesen der Götter zur Schaugestellte Reichtum erneut entfaltet, äußert sich epiphanischer als eingangs desTotenkults, wo sie durch die Erinnerung an den gerade erst vorgefallenen Toddes Herrn zur Reminiszenz zurückgenommen war. Indem die wahren Herren desReichtums leibhaftig in Erscheinung treten, wird das Legitimierungskalkül desPriesterkönigs, das auf ihre bloß repräsentative Anwesenheit baut, durchkreuzt.Aber schlimmer noch sind, was in Erscheinung tritt, nicht die Götter in ihrerjetzigen, anonym-pluralen Verfassung, sondern sie in der früheren personal-singularen Gestalt des anderen Subjekts mit aller ihm ursprünglich eigenenIndifferenz und Negativität.

Die jenseitigen Unsterblichen zeigen sich also der Absicht des Priester-königs durchaus geneigt, den ihnen zum Opfer gebrachten Reichtum inopere der Offerte zu arretieren und, allem sakrifiziellen Entäußerungs-und Darbringungspathos zum Trotz, für seine diesseitig-eigenen Legiti-mierungsbedürfnisse in Gebrauch zu nehmen. Sowenig es einerseits imSinne solcher priesterköniglichen Legitimierungsbedürfnisse liegt, daßder den Unsterblichen ausgesetzte Reichtum diesen tatsächlich ausge-liefert und damit definitiv aus dem Diesseits ausgeschieden wird, so-wenig sind andererseits auch die Götter selbst disponiert, auf einer alsaktuelle Aneignung durchgesetzten Verjenseitigung des Reichtums zubestehen. Nicht nur erweist sich nach seiner Verflüchtigung zur erd-entzogen luftigen Dimension und weltüberhoben leeren Sphäre jenerjenseitige Raum und transzendente Topos als gänzlich ungeeignet, denseinen ätherischen Bewohnern im Diesseits ausgesetzten Reichtum tat-sächlich auf- und wirklich entgegenzunehmen, er läßt im Resultat seinerVerflüchtigung aus aller räumlichen Kontinuität und topischen Kon-sequenz mehr noch im Diesseits diskontinuierlich versprengte Stellen,

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diskret verstreute Stätten zurück, die sich als Standorte für die vom Pries-terkönig gewünschte funktionelle Arretierung der Reichtumofferte imDiesseits, als Schauplätze für die von ihm angestrebte referentielle Sus-pendierung des Überflußopfers in der Immanenz geradezu anbieten.Dort also, an den als erratische Einsprengsel vom luftigen Jenseits demDiesseits hinterlassenen, als anakoluthische Einlassungen von der flüch-tigen Transzendenz der Immanenz vermachten früheren totenkultlichenStätten, kann der Priesterkönig sein Präsent an die wahren Herren desReichtums zur Disposition stellen und frei von aller Besorgnis, die letzte-ren könnten es wirklich an sich nehmen wollen, mit der Aufgabe einer aufdie priesterkönigliche Autorität im Diesseits gemünzten repräsentativenVerkörperung jenseitiger Ansprüche, einer auf die immanente Legitimitätder priesterköniglichen Macht abgestellten attributiven Versinnbildli-chung transzendenter Anrechte betrauen.

Indes, so sicher er sein kann, daß die Götter sein mit der Reichtumof-ferte als repräsentativer Veranstaltung aufgestelltes Kalkül nicht durch-kreuzen, so sehr hat er doch hierbei die Rechnung ohne den offeriertenReichtum selbst gemacht. Ihn nämlich, den am Kultort deponierten Reich-tum, an der Opferstätte exponierten Überfluß, versetzt diese suspendierteÜbergabe an die Götter in eine Lage, in die er vorzeiten, bei Gelegenheitseiner immer neuen Hervorbringung durch die Stammesgemeinschaft,regelmäßig geriet und in der er ein letztes Mal beim Tod des bereits alsfestliche Dauererscheinung etablierten, zur königlich festen Einrichtungavancierten anderen Subjekts, zu Anfang des Totenkults also, seitdemaber niemals mehr, sich befand: in die Situation des im Augenblick sei-ner Hervorbringung vom Hervorbringenden nicht mehr mit Beschlagbelegten, sich selbst überlassenen Besitzes, des im Akt seiner Erzeu-gung nicht mehr der Kontrolle des Erzeugers unterworfenen, auf sichgestellten Guts. Indem der Priesterkönig beim Opfer Reichtum aus derHand gibt, der nicht sofort im Jenseits verschwindet, nimmt jener Aktder Darbringung von Reichtum die gleiche Bedeutung wie vormals derAkt der Hervorbringung des Reichtums an und verhilft dem Reichtumzu einer seiner damaligen Freisetzung vergleichbaren Entbindung vonder Funktionalität, die der Darbringende mit ihm verknüpft. Und indieser momentanen funktionellen Ungebundenheit, dieser spontanendispositionellen Unabhängigkeit, in die seine arretierte Überlassung anseine wahren Herren ihn zurückversetzt, legt der Reichtum in Ansehung

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der letzteren einmal mehr den eigenmächtig-epiphanischen Konstituti-onstrieb von damals, den selbsttätig-inszenatorischen Initiationsdrangvon einst an den Tag. Das heißt er entfaltet die geschilderte konstitutiveKraft, ex improviso seiner Deposition am Kultort seine wahren Herrenpersönlich vorstellig werden zu lassen, erbringt die beschriebene initiati-ve Leistung, ad hoc seiner Exposition an der Opferstätte seine wirklichenEigner leibhaftig in Szene zu setzen. Weit entfernt davon, sich mit derihm vom Priesterkönig zugewiesenen Funktion eines diesseitig repräsen-tativen Anwesens jenseitig abwesender Unsterblicher zufriedenzugeben,nutzt vielmehr der Reichtum den der Übernahme jener Funktion voraus-gehenden Augenblick seiner Freigabe durch den Priesterkönig zu einerErneuerung seines früheren epiphanischen Improvisationstalents, einerReaktivierung seines einstigen inszenatorischen Präsentationspotentialsund stellt sich den jenseitig Abwesenden als evokativer Erscheinungsortfür eine unvermutete Einkehr im Diesseits, den zur Transzendenz Abge-dankten als monstrativer Schauplatz für eine unverhoffte Rückkehr in dieImmanenz zur Verfügung. Statt sich als diesseitig repräsentative Habeseiner jenseitig wahren Herren, als immanent attributives Gut seinertranszendent wirklichen Eigner damit zu begnügen, dem nominalenHerrschaftsanspruch der letzteren eine für aller Augen wahrnehmbare,sinnenfällige Realität zu verleihen, entfaltet der im Augenblick seinerDarbringung vom Dienst am Priesterkönig entbundene Reichtum viel-mehr seine ursprüngliche konstitutive Kraft und läßt seine wahren Her-ren persönlich an der Kultstätte auftauchen, um sich ihnen coram populozu Füßen zu legen, läßt seine wirklichen Eigner leibhaftig vor den Altartreten, um sich ihnen auf offener Szene hinzugeben.

Und diese seine initiative Dynamik entfaltet der Überfluß in aller ur-sprünglichen Frische und mit ganzer uranfänglicher Gewalt und alsoauthentischer und effektiver als damals, da das Ableben des als festlicheDauererscheinung etablierten, zur königlich festen Einrichtung avan-cierten anderen Subjekts sie ihm unverhofft noch einmal wiedergab. Danämlich, bei jenem unverhofft letzten Mal ihrer Wirksamkeit, war diekonstitutive Kraft gehemmt und abgelenkt durch das factum brutum desgerade erst eingetretenen Todes des anderen Subjekts und durch die kon-tinuierliche Erinnerung, die der Reichtum an diesen rezenten Todesfallhatte. Weil der Verschiedene gerade erst verschieden und aus dem reich-tumbezogenen Diesseits ins reichtumentzogene Jenseits verschwunden

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war, der Tote eben erst den Tod gefunden und aus der überflußgesetz-ten Immanenz zur überflußenthobenen Transzendenz sich absentierthatte, war es dem Reichtum auch bei noch so viel initiativer Dynamikunmöglich, diese vom anderen Subjekt ausgeführte Flucht- und Ab-setzbewegung einfach umzukehren und zur entgegengesetzten Motionaufzuheben. Er mußte sich deshalb dort unter Verzicht auf alle evokati-ve Anschauung und monstrierende Inszenierung des anderen Subjektsmit dessen reminiszierender Vorstellung und dem remonstrativen Ge-denken an es begnügen. Unter dem empirischen Eindruck und histori-schen Schock der vom anderen Subjekt vollzogenen fatalen Wendungund unumkehrbar letalen Richtung schlechterdings außerstande, seinealte epiphanisch-präsentative Wirkung zu entfalten, wurde er aus ei-nem inszenatorischen, das andere Subjekt in seiner vollen Lebendigkeitmonstrierenden Erscheinungsort zu einer reflektorischen, es in seinerganzen Verschiedenheit demonstrierenden Gedenkstätte, aus einem dasandere Subjekt zur Anwesenheit beschwörenden, aus sich herausgehen-den Momentum zu einem es in Abwesenheit reminiszierenden, in sichgekehrten Memento. Jetzt hingegen, da das andere Subjekt mit seinerAnonymisierung zum Kreis ätherischer Unsterblicher längst alle Zügedes vormals Verstorbenen und aus dem Diesseits Geschiedenen abgelegtund da zugleich sein jenseitiger Ort und transzendenter Aufenthalt jedenCharakter eines aus dem Diesseits historisch konsequierenden weltabge-schiedenen Bereichs, eines an die Immanenz empirisch anschließenden,definitiven Raums eingebüßt und die Form einer dem Diesseits systema-tisch korrespondierenden, weltüberhobenen Sphäre, eines die Immanenzquasi-logisch ausschließenden, limitativen Topos angenommen hat – jetztalso ist der Reichtum nicht mehr durch solch fixe Erinnerung an einedem epiphanischen Präsentationsvorhaben gegensinnig vorgegebeneempirische Absentierung des zu Präsentierenden, durch solch assoziativeRücksicht auf einen der szenischen Initiationsanstrengung kontradikto-risch vorausgesetzten historischen Exitus des zu Initiierenden gehemmt.Weil die in die Unerreichbarkeit einer weltüberhoben olympischen Resi-denz evakuierten Götter jedes als empirisch-prozessuale Verjenseitigungbeschreibbare Kontinuitätsverhältnis zum irdischen Diesseits aufgegebenhaben, setzen sie nun ihrer epiphanischen Einkehr ins Diesseits ex impro-viso der Reichtumofferte, ihrem szenischen Auftreten in der Immanenz

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ad hoc des Überflußopfers keinen von der Erinnerung an solch vorgän-gig gegensinnige Verjenseitigung genährten Widerstand mehr entgegen.Weit entfernt deshalb, daß der im Augenblick seiner Darbringung zuralten Konstitutionstätigkeit freigesetzte Reichtum sich mit der damals,eingangs des Totenkults, durch jenen Widerstand determinierten Rolleeiner jenseitsfixiert obsessiven Gedenkstätte und eines transzendenzhörigreminiszierenden Remonstrativums bescheiden müßte, kann er erneutden ungehemmten Impetus eines jenseitsversiert ostentativen Erschei-nungsmediums und transzendenzmächtig monstrativen Szenariums anden Tag legen.

Und mit dieser epiphanischen Kraft, die der am Kultort zur Dispositiongestellte Reichtum im Augenblick seiner Exposition entfaltet, stört er, wieunschwer einsehbar, nachhaltig das Kalkül, das der Priesterkönig mitdem Überflußopfer verbindet. Jenem priesterköniglichen Kalkül nach sollder den Göttern zum Tribut gebrachte Überfluß die Abwesenden als diewahren Herren des Reichtums repräsentativ gegenwärtig werden lassen,damit sie durch ihre in specie der Offerte repräsentative Anwesenheitund attributive Sinnbildlichkeit die vom Priesterkönig über den Reichtumin genere ausgeübte statthalterische Macht sanktionieren. Dank seinerim Freiraum des Kultorts wiedererlangten konstitutiven Kraft läßt indesder Reichtum seine wahren Herren nicht bloß repräsentativ gegenwärtig,sondern vielmehr höchstpersönlich präsent werden, nicht bloß attributivzur Vorstellung kommen, sondern vielmehr leibhaftig in Erscheinungtreten. Und damit erzielt er ja offenbar im Blick auf die ihm vom Priester-könig übertragene Legitimierungsfunktion eine Wirkung, die das genaueGegenteil dessen darstellt, was er eigentlich erreichen soll! Statt, wie ersoll, die statthalterische Macht des Priesterkönigs über den Reichtumdurch eine repräsentative Vergegenwärtigung der im Jenseits weilendenwahren Herren des Reichtums zu autorisieren, beraubt er dadurch, daßer die letzteren persönlich im Diesseits präsent werden und sich in Szenesetzen läßt, jene statthalterische Macht vielmehr aller Bedeutung, indemer sie nämlich mit der Alternative einer autoritativ direkten Machtaus-übung der persönlich anwesenden Herren selbst konfrontiert. Statt diestellvertretende priesterkönigliche Verfügung über den Überfluß durcheine attributive Versinnbildlichung der in die Transzendenz entrücktenwirklichen Eigner zu legitimieren, nimmt er dadurch, daß er die letzte-ren leibhaftig in der Immanenz erscheinen und vor dem Altar auftreten

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läßt, jener stellvertretenden priesterköniglichen Verfügung vielmehr je-de Berechtigung, indem er sie nämlich durch die Option einer infinitivunmittelbaren Verfügungsgewalt der leibhaftig erschienenen Eigner alssolcher ersetzt. Wo mittels Reichtumofferte der Priesterkönig bloß sichund die theokratische Gesellschaft der Autorität seiner ihm von denUnsterblichen über den Reichtum im ganzen verliehenen prokuristischenMacht versichern will, da rücken ihm kraft offeriertem Reichtum jeneUrheber seiner Macht selbst auf den Pelz, um offenbar in eigener Persondie Macht zu übernehmen und seiner Statthalterschaft damit ein Ende zumachen. Wo er im Effekt des Überflußopfers nur sich und die Gesellschaftvon der Legitimität der ihm durch die Götter über den Überfluß insge-samt übertragenen bevollmächtigten Verfügung überzeugen möchte, dakommen ihm ex improviso des geopferten Überflusses jene Lizenz- undVollmachtgeber als solche ins Gehege, um, wie es scheint, mit eigenerHand die Gewalt auszuüben und ihn als ihren Stellvertreter damit außerFunktion zu setzen.

So nachhaltig störend für das Kalkül des Priesterkönigs diese faktischeMachtübernahme durch die von der Reichtumofferte unversehens insDiesseits zitierten jenseitig wahren Herren des Reichtums indes ist undso fatal die Folgen dieser praktischen Zurücknahme der Verfügung durchdie unvermittelt in die Immanenz introduzierten transzendent wirkli-chen Eigner des Überflusses für des Priesterkönigs eigenes Ergehen undBestehen anmuten – seine volle katastrophische Bedeutung und seineneigentlichen Charakter einer die ganze theokratische Gesellschaft befal-lenden Kalamität erhält das Faktum dieser Machtergreifung erst durchden Modus, in dem die ergriffene Macht sich darstellt, die Qualität, die sieannimmt. Diese katastrophische Modalität der von den wahren Herrendes Reichtums bei ihrem Auftreten vor dem Altar reklamierten Machtund revozierten Verfügung folgt unmittelbar aus der Art und Weise, wiedie letzteren an der Opferstätte erscheinen. Das heißt, sie ist unmittelbareKonsequenz der Tatsache, daß jene ihr Erscheinen im Diesseits einerErneuerung der alten epiphanischen Konstitutionskraft des Reichtumsverdanken. Ex improviso der am Kultort suspendierten Offerte und adhoc des auf dem Altar arretierten Opfers erscheinen nämlich die wah-ren Herren des Reichtums nicht bloß mit der alten implosiven Gewaltund früheren disruptiven Evidenz, sondern treten vor allem in ihrerursprünglich-exklusiven Gestalt und ihrer uranfänglich disjunktiven

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Existenz auf. So wahr es die vom Reichtum entfaltete alte Initiations-dynamik ist, was die jenseitig wahren Herren des Reichtums auf dendiesseitigen Plan ruft, so wahr sind, was demnach auf der Bildflächeerscheint, jene Herren nicht als die mittlerweile im Jenseits Verwahrten,sondern sie in ihrer ursprünglich diesseitigen Wahrheit, jene Eigner nichtals die zu guter Letzt zur Transzendenz Entwirklichten, sondern sie in ih-rer uranfänglich immanenten Wirklichkeit. Ex improviso des am Kultortzur Disposition gestellten Reichtums erscheinen mit anderen Worten jenewahren Herren des Reichtums nicht als ätherisch-anonyme Unsterbliche– wie könnten sie auch?! – sondern als leibhaftig-personales Lebewesen,treten sie nicht als olympisch-plurale Götter auf – wie sollten sie wohl?!–, sondern als irdisch-singularer Mensch. Im unmittelbar-präsentativenKonstitutionsakt und abstrakt-monstrativen Initiationsmoment seinefrühere Dynamik entfaltend, springt der Reichtum hinter alle qua An-onymisierung und Pluralisierung vollzogene sphärische Ausgrenzung,die seinen wahren Herren durch die Theokratie zuteil wird, zurück undsetzt über alle qua Verjenseitigung effektuierte topische Einfriedung, dieihnen davor mittels Totenkult widerfahren ist, hinweg, um seine wahrenHerren in der alten Lebendigkeit des aus dem Hinterhalt des Reichtumsunvermittelt hervorbrechenden unbedingt anderen Subjekts, seine wirk-lichen Eigner in der früheren Leibhaftigkeit des aus dem hohlen Bauchdes Überflusses abstraktiv auftauchenden absolut neuen Individuumswiedererstehen zu lassen.

Legt aber kraft der monstrativen Leistung des Überflußopfers jenes ex-klusiv andere Subjekt und disjunktiv neue Individuum, als das der wahreHerr des Reichtums ursprünglich erscheint, das Inkognito ätherisch-jenseitiger Anonymität und Alibi olympisch-transzendenter Pluralität,das mittels totenkultlicher Identifizierung und theokratischer Distan-zierung der historische Prozeß ihm übergestreift und hinter dem er esversteckt hat, ab, um wieder die lebendige Personalität des hier und jetztunbedingten Andersseins, die leibhaftige Singularität der augenblicklichabsoluten Neuanfänglichkeit hervorzukehren, so gewinnt es damit auchund natürlich seine mit solch unbedingtem Anderssein notwendig ein-hergehende alte Indifferenz im Blick auf den Reichtum selbst zurück. Sowahr die unmittelbare Exklusivität oder Unbedingtheit, die abstrakte Dis-junktivität oder Absolutheit, mit der es ad hoc des Überflusses erscheint,

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jenes vermeintlich aus dem Reichtum resultierende andere Subjekt gera-deso wie damals als ein in Wahrheit bloß in integrum restituiertes Seinim Vorhinein aller Reichtumsentwicklung ausweist, jenes scheinbar ausdem Überfluß konsequierende neue Individuum genauso wie einst alseinen in Wirklichkeit nur in pristinum reduzierten Anfang im Voraus allerÜberflußbildung zu erkennen gibt, so wahr macht nun auch jenes andereSubjekt geradeso wie damals Miene, ex anteriori dieses seines restituiertursprünglichen Seins die ganze Reichtumproduktion mitsamt dem auf sieeingerichteten gesellschaftlichen Organismus als phänomenalen Irrtum,als eine von Grund auf abwegige und deshalb sinnvollerweise zuletztsich selber revozierende Orientierung bloßzustellen, schickt es genausowie einst sich an, a priori seiner repristiniert uranfänglichen Insistenz diegesamte Überflußerzeugung einschließlich der auf sie abgestellten ökono-mischen und politischen Institutionen als kapitale Illusion, als prinzipiellverfehltes und deshalb schließlich vernünftigerweise sich selber annul-lierendes Beginnen zu entlarven. Als eine Konsequenz, die dem, woraussie konsequiert, mit der unbedingten Indifferenz der in Wahrheit nur alssolche wiederhergestellten, eben in integrum restituierten, anteriorischencausa begegnet, als Resultat, das dem, woraus es resultiert, die absoluteNegativität des in Wirklichkeit nur in sich selber zurückgenommenen,eben in pristinum reduzierten, apriorischen Prinzips beweist, macht jenesbestimmte Humanum, in das die anonymen Unsterblichen sich ex impro-viso der Reichtumsofferte verwandeln, jenes singulare Individuum, zudem sich die pluralen Götter ad hoc des Überflußopfers verdichten, diegleichen Anstalten wie damals, dem ganzen auf die Hervorbringung vonReichtum zielenden historischen Prozeß die Wertlosigkeit eines am Endesich selber ad absurdum führenden illusionären Ab- und Irrwegs, dieUnwirklichkeit einer zuletzt sich selber für null und nichtig erklärendenhalluzinatorischen Fehlhandlung und Leerlaufreaktion zu attestieren.

Damals rief die Entwirklichung, mit der die a priori absolute Negati-vität des anderen Subjekts den reichtumorientierten historischen Prozeßund überflußzentrierten sozialen Organismus bedrohte, bei der betrof-fenen Stammesgemeinschaft solch namenlosen Schrecken hervor, daßdiese sich dazu getrieben sah, das andere Subjekt der geschilderten my-thologischen Umcharakterisierungsprozedur zu unterziehen, um es auseinem anteriorischen Verwerfer des reichtumbezogenen Stammesda-seins in dessen archaischen Begründer, aus einem apriorischen Vernich-ter der überflußbestimmten Stammessphäre in deren paradigmatischen

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Erhalter zu verkehren. Warum sollte wohl jetzt, da diese im anderenSubjekt gestaltgewordene Irrealisierungsdrohung am Ende aller sie zubannen gedachten und selbst vor Totenkult und Göttervehrung nichthaltmachenden mythologischen Abwehrbemühungen unvermutet wie-derkehrt und ex improviso der priesterköniglichen Opferhandlung neuersteht, der Schrecken geringer sein? Warum sollte wohl die mit jedemModus aufräumende, rein katastrophisch zu verstehende Modalität, diewegen dieser im anderen Subjekt verkörperten Irrealisierungsdrohungdessen Machtergreifung annimmt, die jeder Qualitas hohnsprechende,strikt ironisch zu fassende Qualität, die kraft dieser vom anderen Subjektausgehenden Disqualifizierungsgefahr dessen Zurücknahme der Verfü-gungsgewalt gewinnt, der mittlerweile an die Stelle der mythologischenStammesgemeinschaft getretenen theokratischen Gesellschaft und ihremPriesterkönig weniger entsetzlich sein als der Vorgängerin? Daß jenesleibhaftig empirische Subjekt und singular irdische Individuum, als dasdie anonym ätherischen Unsterblichen ex improviso der Reichtumofferteerscheinen, sich anschickt, als wahrer Herr des Reichtums die Macht überletzteren in die eigene Hand zu nehmen und damit der statthalterischenGewalt des Priesterkönigs die Autorität, seinem Stellvertreteramt die Le-gitimation zu entziehen, ist schon schlimm und mit Rücksicht auf die derOpferhandlung eigentlich übertragene Funktion verheerend genug! Daßaber jenes leibhaftig empirische Subjekt die Macht über den Reichtum nurergreift, um sie ex anteriori seines restituiert ursprünglichen Seins als einevon Grund auf sinn- und gegenstandslose Anmutung zu verwerfen, sie apriori seines repristiniert uranfänglichen Bestehens als eine von Anbeginnan abwegige und verfehlte Anmaßung für null und nichtig zu erklären,und daß es demnach seinem Statthalter auf Erden auf eben die radikaleWeise die Legitimation zu entziehen Anstalten macht, daß es dessenStatthalterschaft nachträglich als eine immer schon auf grundfalscherPrämisse basierende Konstruktion, sein Stellvertreteramt rückwirkend alseine seit jeher bodenlose Fiktion entlarvt – dies ist für die theokratischeOpfergemeinde eine geradeso unermeßliche Katastrophe wie für die my-thologische Stammesgemeinschaft und nötigt ihr ebenso nachdrücklicheAbwehranstrengungen ab wie der letzteren, treibt sie zu vergleichbarentschiedenen Bewältigungsbemühungen an. Jener schrecklichen Irrea-lisierungsdrohung zu begegnen, die das ex improviso des Reichtumserscheinende andere Subjekt über alles reichtumzentriert irdische Sinnen

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und Trachten verhängt und der sie jegliches überflußorientiert weltlicheTun und Treiben aussetzt, ist die als Opfergemeinde um den Priesterköniggescharte theokratische Gesellschaft nicht weniger existentiell interessiertals vormals die mythologische Stammesgemeinschaft.

Weil das andere Subjekt, das bei Gelegenheit der Opferhandlung neu erscheint, dietheokratische Gesellschaft mit der gleichen schrecklichen Irrealisierung bedrohtwie einst das aus Anlaß der Reichtumerzeugung erscheinende andere Subjekt dieStammesgemeinschaft, weigert sich die Opfergemeinde, das andere Subjekt alsdie singularisch wahre Identität der Götter anzuerkennen, erklärt es zu einem exnihilo auftauchenden sakrilegischen Störenfried und läßt den Priesterkönig es alsSühneopfer sakrifizieren. Daß dabei das Dargebrachte gleich mit über die Klingespringen muß, zeigt, daß sich Priesterkönig und Opfergemeinde insgeheim derHerkunft des anderen Subjekts ex improviso des Opferreichtums bewußt sind.

Um der von ihm ausgehenden Entwirklichungsdrohung und Entwer-tungsgefahr zu begegnen, braucht die theokratische Opfergemeinde jenesandere Subjekt aber nicht erst einer seiner heroologischen Umfunktionie-rung vergleichbaren Behandlung zu unterziehen – was angesichts der inder Zwischenzeit eingetretenen sozialen Differenzierung und der seitdemausgebildeten politischen Institutionen ohnehin ein Ding der Unmöglich-keit wäre. Vielmehr kann und muß sie bei ihren Bemühungen um eineAbwehr der Entwirklichungsdrohung und Entwertungsgefahr auf daszurückgreifen, was als letztes Ergebnis der vormaligen, von der Stam-mesgemeinschaft durchgesetzten mythologischen Umcharakterisierungdes anderen Subjekts den für ihr Verhältnis zum Reichtum maßgebendenAusgangs- und verbindlichen Bezugspunkt bildet: nämlich auf die alswahre Herren des Reichtums in ihrem ätherischen Jenseits weilendenanonymen Unsterblichen, die als wirkliche Überflußeigner ihre olympi-sche Transzendenz bewohnenden pluralen Götter. Auf sie, die Götter,wie sie aus der mythologischen Umfunktionierung des vormaligen an-deren Subjekts in den als heroischer Vorfahr figurierenden Herrn desReichtums, aus der Verwandlung dieser Heroenfunktion in eine stam-mesgemeinschaftlich feste Einrichtung und Dauererscheinung, aus dertotenkultlichen Fixierung des verstorbenen Herrn des Reichtums in derRolle des chthonisch-plutonischen Unterweltsfürsten und endlich aus

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dessen Anonymisierung und Pluralisierung im Zuge der die Stammes-gemeinschaften aufhebenden theokratischen Staatengründung hervor-gegangen sind – auf sie rekurriert und beruft sich die Opfergemeinde,um sie dem ex improviso der Reichtumofferte zurückgekehrten anderenSubjekt verweisend vorzuhalten. Sie, die bei aller Nominalität des Be-sitzanspruchs im unironisch positiven Sinn als die Herren des Reichtumsangenommenen ätherischen Unsterblichen, die bei aller Formalität des Ei-gentumstitels im unzweideutig affirmativen Verstand als Überflußeignervorausgesetzten olympischen Götter, erklärt die Opfergemeinde für dieLeidtragenden des im Erscheinen eines unbedingt anderen Subjekts resul-tierenden präsentativ-epiphanischen Geschehens am Darbringungsort,für diejenigen, zu deren Lasten das im Auftritt eines absolut neuen Indi-viduums kulminierende monstrativ-szenische Ereignis an der Opferstättegeht. Ihre – wie immer nominelle – Macht über den Reichtum sieht dieOpfergemeinde durch die von unbedingter Indifferenz gegenüber demReichtum getragene exklusiv-unvermittelte Eigenmächtigkeit des ande-ren Subjekts verletzt und in Frage gestellt, ihre – wie sehr auch formelle –Verfügung über den Überfluß durch die von absoluter Negativität gegenden Überfluß geprägte disjunktiv-abstrakte Selbstverordnung des neu-en Individuums mißachtet und zum Gespött gemacht. Und im Namendieses – wie immer formellen – Eigentumsvorbehalts der in der Transzen-denz verhaltenen olympischen Götter verwahrt sich die Opfergemeindegegen das andere Subjekt und die von seiner Eigenmacht her der reich-tumzentriert priesterköniglichen Gesellschaft drohende Irrealisierung,von seiner Selbstverordnung her der überflußorientiert theokratischenOrdnung blühenden Disqualifizierung.

Die zur Opfergemeinde zusammengeschlossene Abwehrfront aus Pries-terkönig und theokratischer Gesellschaft lehnt es mit anderen Worten ab,jenes ex improviso der Reichtumofferte erscheinende andere Subjekt alsdas zu akzeptieren, als was die monstrative Dynamik der Opferhand-lung es ihr partout suggerieren möchte: als die in voller Leibhaftigkeitdiesseitig wahre Gestalt der jenseitigen Reichtumbesitzer, die in allerLebendigkeit immanent wirkliche Identität der transzendenten Überfluß-eigner. Daß es sich bei dem am Kultort erscheinenden anderen Subjektum nichts weiter als um die in ihrer leibhaftigen Wahrheit präsentier-ten Unsterblichen selbst, um nichts sonst als um die ihrer singularenWirklichkeit überführten pluralen Götter in Person handele – diesen

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ex actu des Opfers ergehenden Bescheid weigert sich angesichts deralles irrealisierenden Indifferenz des Erscheinenden die Opfergemein-de zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn gelten zu lassen. Gegenihn und seine suggestive Evidenz, seinen negativen Sinn setzt sie ihreigenes positives Wissen und affirmatives Wollen: Dem situativen Au-genschein, der ihr in Gestalt des anderen Subjekts die Unsterblichen alsvon unbedingter Indifferenz erfüllte Reichtumverächter, als von absoluterNegativität geprägte Überflußverwerfer vorführen möchte, zum Trotzbeharrt sie darauf, daß es die unverzichtbar eigentliche Funktion desDarbringungsakts sei, die Unsterblichen als die in aller Form Anspruchauf den Reichtum erhebenden positiv wahren Herren zu bezeugen, dieGötter als die pro nomine et pro titulo ihr Anrecht auf den Überflußaufrechterhaltenden affirmativ wirklichen Eigner vorstellig werden zulassen. Gegen das Sein, als das sich aus eigener Kraft die Opferhandlungerweist, besteht die Gemeinde auf dem Soll, das nach priesterköniglichemWillen die Opferhandlung zu erfüllen hat, gegen alle empirische Evidenzdes Opfers als eines epiphanisch-präsentativen Ereignisses hält sie an derbegrifflichen Relevanz des Opfers als symbolisch-repräsentativer Veran-staltung fest. Und indem die Opfergemeinde so mittels des festgehaltenenBegriffs vom Opfer als einer die Götter repräsentativ bezeugenden undattributiv darstellenden Veranstaltung sich der verselbständigten Empiriedes Opfers als eines die Götter präsentativ vorführenden und monstra-tiv in Szene setzenden Ereignisses erwehrt, erhält nun natürlich jenesandere Subjekt ein fundamental alteriertes Ansehen. Seiner im empiri-schen Opferereignis bestehenden tatsächlichen Grundlage beraubt undstatt dessen einem als priesterkönigliche Opferveranstaltung unerfülltenbegrifflichen Soll konfrontiert, verwandelt es sich aus dem ex improvisoder Opfersituation erscheinenden lebendigen Original der Unsterblichenin deren in adversum des Opfervorgangs auftauchendes leibhaftigesVexierbild, aus der im Opfer sich manifestierenden persönlichen Identitätder Götter in deren das Opfer okkupierenden dämonischen Wechselbalg.Was sub specie der die jenseitigen Unsterblichen aus eigener Kraft epi-phanisch präsentierenden Opferempirie schlicht und einfach die zumdiesseitigen Individuum konkretisierte singulare Identität der ersteren,ihr in der Immanenz Gestalt annehmendes personales Selbst ist, dasverkehrt sich nach Maßgabe eines an den Unsterblichen als jenseitigen

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Mächten festhaltenden Opferbegriffs in deren aus dem Nichts auftau-chenden dramatischen Gegenspieler und aus dem Boden gestampftendämonischen Widersacher, der durch seine Dazwischenkunft das Opferder Diskreditierung und Fremdbestimmung unterwirft und es auf dieseWeise daran hindert, der ihm vom Priesterkönig zugewiesenen eigentli-chen Aufgabe einer repräsentativen Vergegenwärtigung der Jenseitigenzu genügen. Aus dem im Zuge des Opferprozesses höchstpersönlich aufden Plan tretenden Adressaten der Opfergaben, dem kraft epiphanischerOpferdynamik seine irdische Heimstatt okkupierenden Herrn des heili-gen Bezirks, läßt so die Verdrängung des im Opfer selbst bestehendenaktuellen Seins durch das vom Priesterkönig dem Opfer aufgegebenefunktionelle Soll einen gegen alle Opferprozedur sich eigenmächtig inSzene setzenden Tempelräuber, einen kraft dämonischer Eigendynamikdas göttliche Anwesen usurpierenden Schänder des heiligen Orts wer-den. Einfach nur dadurch, daß sie dem anderen Subjekt seine sakrifizielleGrundlage bestreitet, indem sie das Opfer in starr attributiver Fixierungauf eben die transzendenten Überflußeigner verhält, die in der Gestaltjenes anderen Subjekts das Opfer doch gerade als diesseitige Macht prä-sent werden und sich monstrieren zu lassen beansprucht, übersetzt dieOpfergemeinde das Erscheinen des anderen Subjekts aus einem der Op-ferhandlung entspringenden Offenbarungs- und Selbstwerdungsereignisin ein sie ereilendes Enteignungs- und Fremdbestimmungswiderfahrnis,kurz, aus einem das Sakrifiz krönenden Sakrament in ein es durchkreu-zendes Sakrileg.

Und gegenüber dem solcherart ausgemachten Sakrileg, gegenüber demräuberischen Übergriff auf göttliches Eigentum, dem Akt der Entweihunggeheiligten Guts, wofür sie das Erscheinen des anderen Subjekts an derOpferstätte erkennt, kann nun die Opfergemeinde zum eifernden Anwaltder gekränkten transzendenten Eigner, zum strafenden Verteidiger ihrerangegriffenen Souveränität und beleidigten Majestät, zum sühnendenSachwalter ihrer versehrten sakrifiziellen Ansprüche und ihrer verletztensakralen Rechte sich aufwerfen. Indem die interpretative Behandlung, diesie dem anderen Subjekt angedeihen läßt, die Opfergemeinde von derNotwendigkeit entbindet, in ihm das ex improviso der Opferhandlunggestaltgewordene lebendige Original der Unsterblichen, ihr manifestpersonales Selbst, zu gewahren, und indem diese interpretative Behand-lung ihr vielmehr die Möglichkeit eröffnet, es als den ex nihilo seines

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Auftauchens in die heilige Handlung einbrechenden leibhaftigen Vexier-spiegel und dämonischen Wechselbalg der Götter vorstellig werden zulassen, erhält sie Gelegenheit, mit ihm als mit einem unheiligen Stören-fried kurzen Prozeß zu machen, will heißen, es über die Klinge seinernefariösen Einmischung in die Opferhandlung, seines am Sakrifiz geüb-ten Sakrilegs springen zu lassen. Und eben das tut sie denn auch – oderläßt es vielmehr in einverständiger Anteilnahme die operis persona, denPriesterkönig, besorgen: Sie überläßt dem königlichen Opferer und seinenpriesterlichen Helfern die Aufgabe, durch die Zerstörung des Störers derheiligen Handlung diese wiederherzustellen, durch die Vernichtung desVerneiners der sakralen Ordnung diese neu zu befestigen. Angesporntund getragen von der choral geschlossenen Zustimmung der Opferge-meinde, bemächtigt sich der Priesterkönig mit seinen Helfern des alssakrilegischer Eindringling ausgemachten anderen Subjekts, um es zu tö-ten, es aus der Welt zu schaffen und damit den durch das Sakrileg solchenEindringens gekränkten sakrifiziellen Anspruch der als jenseitig wahreHerren des Reichtums festgehaltenen Unsterblichen neu zur Geltung zubringen, ergreift er mit seiner priesterlichen Gefolgschaft das als nefari-ösen Einmischer erkannte neue Subjekt, um es abzutun, es zu beseitigenund damit den als transzendent wirkliche Überflußeigner reaffirmiertenGöttern wieder zu ihrem durch das Nefas solcher Einmischung verletztensakralen Recht zu verhelfen. In der durch die interpretative Behandlung,die die Opfergemeinde dem anderen Subjekt widerfahren läßt, begrün-deten Überzeugung, daß dessen Auftreten am Altar nichts als eine dasÜberflußopfer an die Götter entweihende sakrilegische Transgressionoder nefariöse Invasion sei, bringt der Priesterkönig das andere Subjektcoram populo an der Opferstätte um, bringt er es vor aller Augen aufdem Altar zum Opfer, um mit dem Transgressor die Transgression zubeseitigen, mit dem Invasoren die Invasion zu beenden und so die denUnsterblichen zugefügte Unbill zu sühnen und das den Göttern angetaneUnrecht wiedergutzumachen. Um das Opfer als eine Darbringung anjenseitige Unsterbliche zu retten, setzt der Priesterkönig es in eben dieserEigenschaft eines Darbringungsakts aus und verwandelt es in ein blutigesStandgericht über denjenigen, der durch sein unvermitteltes Erscheinenden sakrifiziellen Zweck der Veranstaltung durchkreuzt, funktioniert esin eine Prozedur zur Hinrichtung dessen um, der durch sein unverhofftesAuftreten den sakralen Sinn der Aktion vereitelt. Das heißt, er verleiht der

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Opferhandlung jene messerscharfe Zuspitzung, gibt ihr jene blutrünstigeWendung, die den Darbringungs- und Weiheakt ins Schlacht- und Süh-neopfer verkehrt und die in der Tat einem Umschlag der Opferinitiativein ihr genaues Gegenteil, nämlich ihrer Überführung aus einem höchstpositiven, auf die Einsetzung und Heiligung göttlichen Guts gerichtetenBeginnen in ein rein negatives, auf die Befreiung und Reinigung vondämonischer Macht abgestelltes Unterfangen gleichkommt. Im Bemühen,mit dem Sakrileg und Nefas, als das sich das Erscheinen des anderen Sub-jekts an der Opferstätte kraft opfergemeindlicher Interpretation erwiesenhat, fertig zu werden, vindiziert der Priesterkönig dem Akt des Zum-Opfer-bringens jene diametral entgegengesetzte Bedeutung, die aus demwürdigen Sakrifizium, dem weihevollen Darbringen dessen, was denjenseitigen Herren des Reichtums konveniert und was die transzendentenÜberflußeigner als solche zur Geltung bringt, das blutige Sakrifizieren,das sühnende Wegschaffen dessen, was mit ihnen konkurriert und wassie als solche in Frage stellt, werden läßt – eine Bedeutung, über derenvöllige Gegenläufigkeit und tiefe Widersprüchlichkeit zum anfänglichenSinn des Opfers einzig und allein die lokale und prozessuale Einheit derOpferhandlung selbst und die darin beschlossene zwangsweise Asso-ziation der beiden kontradiktorischen, als weihevolles Sakrifiz und alssühneschweres Sakrifizieren, als heiliges opus und als blutige devotioaufeinanderfolgenden Handlungsphasen hinwegzutäuschen vermag.

Sosehr nun zwar das Opfer in seiner kontradiktorisch zweiten Bedeu-tung eines am anderen Subjekt exekutierten sakrifizierenden Strafgerichtsund reinigenden Sühneakts an sich nur dazu dient, sich selber in demdurch den sakrilegischen Einbruch eben jenes anderen Subjekts gestörten,anfänglich identischen Sinn einer an die transzendenten Götter gewen-deten sakrifiziellen Attribution und heiligenden Weihgabe wiederherzu-stellen, sowenig zeigt es sich doch in der praktischen Ausführung dazuangetan, seinen dergestalt restaurativen Zweck zu erfüllen. Was die zumSühneakt umfunktionierte Opferhandlung daran hindert, ihre auf dieWiederherstellung ihrer selbst als Darbringungsakt gerichtete restaurati-ve Zielsetzung Wirklichkeit werden zu lassen, ist die allzu umfassendeGeltung, die mit offenkundigem Einverständnis der Opfergemeinde derPriesterkönig der Sühneforderung verschafft. In der Tat beschränkt sichdas negativ-exekutive Tun, mit dem der Priesterkönig auf das Erscheinendes als sakrilegischer Transgressor erkannten anderen Subjekts reagiert,

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keineswegs nur auf dieses selbst, sondern erstreckt sich auch und durch-aus auf das, woran es sich mit seinem Auftreten vergreift. Nicht genugdamit, daß der Priesterkönig das ex improviso der Reichtumofferte ander heiligen Stätte erscheinende andere Subjekt als einen ex nihilo auftau-chenden Störer der sakrifiziellen Handlung zu zerstören unternimmt, alseinen in advertum der sakralen Ordnung okkurierenden Verneiner dersakralen Ordnung zu vernichten sich beeilt. Er richtet seinen zerstören-den Purifizierungseifer und seine vernichtende Sakrifizierungswut auchund ebensosehr gegen die an der heiligen Stätte dargebrachte materialeReichtumofferte selbst. Ihn nämlich, den als Tribut an die transzendentenGötter auf dem Altar deponierten Überfluß als solchen, sieht der Pries-terkönig durch den sakrilegischen Einbruch jenes leibhaftigen Vexierbildsder Unsterblichen ins Heiligtum entweiht und entwertet, sieht er durchdas nefariöse Aufkreuzen jenes dämonischen Wechselbalgs der Götter vordem Altar kontaminiert und desakriert. Und die Beseitigung dieses durchdie Transgression des anderen Subjekts entweihten Reichtumpräsents er-klärt er deshalb für ebensosehr im Sühneinteresse gelegen, für ebensosehrim Blick auf eine Wiedergutmachung erforderlich wie die Hinrichtungdes Transgressors. Indem so aber der Priesterkönig mit dem Ziel einervollständigen Sühne des sakrilegischen Vergehens des anderen Subjektsund umfassenden Behebung des durch den nefariösen Eindringling ange-richteten Schadens in sein Säuberungsprogramm die durch die Nähe desTransgressors angeblich kontaminierte Reichtumofferte einbezieht, machter sich des merkwürdigen Widerspruchs schuldig, daß er eben das mitdrangibt, eben das zugleich aufopfert, was seine Sühnehandlung docheigentlich zu retten und seine Sakrifizierungaktion zu erhalten bestimmtist. Weil er unter Berufung auf die kontagiöse Natur und infektiöse Ein-wirkung jenes anderen Subjekts mit dem sakrilegischen Störer auch daszerstört, woran dieser sein Sakrileg begeht, ist das, was er mit seinemSchlacht- und Sühneopfer erreicht, von einer als Wiederherstellung desvorherigen Weihe- und Darbringungsakts begreiflichen Wiedergutma-chung des Schadens denkbar weit entfernt. Was ihm dadurch, daß erderart pauschal mit der sakrilegischen Situation aufräumt, reinen Tischmit den nefariösen Umständen macht, wiederherzustellen oder vielmehrsich zu erhalten gelingt, ist nicht etwa die durch den Eindringling gestörteReichtumofferte in ihrer ungestört konkreten Wirklichkeit, nicht etwa das

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vom Tempelräuber entweihte Überflußopfer in seinem weihevoll origi-nalen Zustand, sondern höchstens und nur in abstracto die Möglichkeit,den Unsterblichen eine neue Offerte zu machen, den Göttern erneut einOpfer zu bringen.

Der Widerspruch zwischen dem mutmaßlich angestrebten Zweck unddem tatsächlich erzielten Effekt der priesterköniglichen Straf- und Süh-neaktion wirkt um so befremdlicher, als der Grund, den für seine Totali-sierung der Sühneaktion, für ihre Ausdehnung auf eben das, was durchsie eigentlich doch gerettet und bewahrt werden soll, der Priesterköniganführt – nämlich die vorgeblich heillose Kontaminierung und irrepara-ble Desakrierung des Überflußopfers durch den sakrilegischen Räuber –,offenkundig ein an den Haaren herbeigezogener Vorwand ist. Schließlichfindet das Vergehen, dessen der Eindringling sich schuldig macht, seinenpraktischen Ausdruck ja nicht darin, daß er das Reichtumpräsent aktiv ansich reißt, es positiv in Anspruch nimmt, sondern im genauen Gegenteilin der passivisch unbedingten Gleichgültigkeit, die er ihm bezeigt, inder indefinitiv absoluten Negativität, mit der er ihm begegnet. Wie solltewohl diese schiere Gleichgültigkeit des Untäters, außer auf unergründlichmagischem Weg, am Reichtumpräsent einen Schaden anrichten odereinen Abdruck hinterlassen, der im Sinn einer bleibenden Kontaminie-rung und irreparablen Desakrierung sich auswirkte und nicht zugleichmit der Beseitigung des Untäters beseitigt wäre? Wie sollte also die pries-terkönigliche Ausdehnung der Straf- und Sühneaktion auf den offeriertenReichtum selbst eine aus den Handlungen des Störers, dem Verhalten desFrevlers nachweislich sich ergebende Notwendigkeit sein? Indes, was ampriesterköniglichen Tun nach Maßgabe der durch die Opfergemeinde kul-tivierten Alibiversion vom anderen Subjekt als einem von draußen oderex nihilo auftauchenden indifferentistischen Eindringling fürwahr höchstmerkwürdig anmuten und als augenscheinliche Überreaktion befremdenmuß, das gewinnt mit Rücksicht auf die gegen jene Alibiversion geltendzu machende Tatsache, daß es in Wahrheit ja die sakrifizielle Handlungselber ist, aus der heraus der sie störende indifferentistische Eindringlingauftaucht, daß es die sakrale Anordnung als solche ist, ex improvisoderen der sie entweihende negativistische Einbrecher erscheint, einenebenso augenscheinlich guten Sinn. Wenn das, was das Auftauchen jenesanderen Subjekts epiphanisch verursacht, nichts sonst als der im Hei-ligtum den Göttern ausgesetzte Überflußtribut ist, so beweist es allen

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Verstand von der Welt, daß der Priesterkönig die Beseitigung des Ein-dringlings mit der Wegschaffung dieser Ursache seines Auftauchens undder Ausschaltung dieses Auslösers seines Erscheinens verknüpft. Stattden Priesterkönig einer pathologischen Überreaktion, eines irrationalenZwangsdenkens, einer magischen Mentalität, kurz, eines Verhaltens ohneSinn und Verstand zu zeihen, brauchen wir also sein Handeln nur alsBeweis dafür zu nehmen, daß er bei allem manifesten Reden und er-klärtem Bewußtsein von der Exnihilo-Ankunft des anderen Subjekts sichdoch eine latente Kenntnis und unbewußte Ahnung von der tatsächlichenHerkunft des anderen Subjekts ex improviso der Reichtumofferte bewahrthat, um zu sehen, daß seine mit dem Kontaminationsverdacht verfolgteStrategie durchaus Hand und Fuß hat. Wenn Kontaminierung nur einedurch die Verschleierung der wahren Darbringungsdynamik erzwungeneDeckadresse dafür ist, daß die Reichtumofferte an die Unsterblichen sichals ein unverhoffter Erscheinungsort jenes anderen Subjekts gründlichkompromittiert hat, wenn Desakrierung bloß ein durch die Verleugnungder wirklichen Opferlogik bedingter Ersatzausdruck dafür ist, daß dasÜberflußopfer an die Götter sich als ein spontaner Springpunkt jenesneuen Individuums unwiderruflich diskreditiert hat, so beweist die To-talisierung des priesterköniglichen Straf- und Sühnegerichts, zu dem derPriesterkönig die Opferhandlung umfunktioniert, in der Tat die ganzeZweckmäßigkeit eines Vorgehens, dessen präventiv-purgatorische Stra-tegie es ist, mit dem Störfaktor zugleich auch die Wurzel zu resezieren,der er entspringt, mit dem Wechselbalg ebensowohl auch den Schoß zueliminieren, der ihn gebiert.

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Wenn schon die Überführung des sakramentalen Darbringungs- in einen sakri-fiziellen Hinrichtungsakt einem Abbruch der Opferhandlung gleichkommt, bleibtdoch durch solchen Abbruch die Möglichkeit zu letzterer immerhin gewahrt. Undda der Priesterkönig hiernach wieder die alte Hybris hervorzukehren beginnt, istein abermaliger Opferversuch vorprogrammiert, dessen in der erneuten Epipha-nie des anderen Subjekts beschlossenes Scheitern nicht minder vorprogrammiertist. Daraus resultiert der Opferkult, eine unabschließbare Reihe scheiternder Op-ferversuche, deren Kurs durch das Lavieren zwischen der Scylla einer totenkult-trächtigen Autokratisierung des Priesterkönigs und der Charybdis des den Göt-tern im Opfer drohenden Offenbarungseids bestimmt ist.

Einsehbar gründlich räumen dergestalt also der Priesterkönig und diehinter ihm stehende Opfergemeinde mit dem sakrifiziellen Störer derheiligen Handlung, dem nefariösen Einbrecher in die sakrale Ordnungauf. Weil die Reichtumofferte an die Unsterblichen, die es durch dieSühneaktion zu retten gälte, das zugleich ist, was jenen dramatischen Ge-genspieler der Unsterblichen und dämonischen Widersacher der Götter,dessen Untat nach Sühne verlangt, präsent werden läßt, tun Priesterkönigund Opfergemeinde recht daran, den offerierten Reichtum unter der De-ckadresse des Kontaminierungsvorwurfs und Desakrierungsverdachts indie Sühneaktion mit einzubeziehen, um so mit dem aktuell vorliegendenÄrgernis gleich auch das zu ihm bereitliegende Potential loszuwerden. Sosinnvoll unter negativen Gesichtspunkten, das heißt unter dem Aspektder vom Opfer plötzlich ausgehenden nihilistischen Bedrohung, diesemörderisch-purifikatorische Wendung, die Priesterkönig und Opferge-meinde dem sakralen Darbringungsakt geben, aber auch sein mag, sobedauerlich bleibt sie in positiver Hinsicht, nämlich im Blick auf die mitdem Opfer eigentlich intendierte repräsentativ-reale Anerkennung derMacht der Unsterblichen und attributiv-materiale Bestätigung göttlicherSouveränität. In der Tat kommt in dieser Hinsicht die Verkehrung dessakramentalen Darbringungs- und Präsentationsakts in einen sakrifiziel-len Hinrichtungs- und Eliminationsprozeß einem veritablen Abbruch derheiligen Handlung gleich. Das, was die um den Priesterkönig gescharteOpfergemeinde ursprünglich mit der heiligen Handlung erreichen will:durch die repräsentative Anwesenheit der Götter der Gefahr einer Ver-selbständigung des Priesterkönigs zum katabolieverdächtig grundlosen

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Machthaber und totenkultträchtig legitimationslosen Usurpator entge-genzuwirken –, diese mit dem Opfer eigentlich verfolgte Absicht mußsie, kaum daß sie begonnen hat, sie in die Tat umzusetzen, auch schonwieder fahrenlassen. Weil das Reichtumpräsent, das sie den Priester-könig bringen läßt, um dessen drohender Überhebung zum hybridenSelbstherrscher und göttergleichen Monarchen zu wehren, ex improvisoder Darbringung die weit monströsere Gefahr einer Aktualisierung derunsterblichen Herren des Reichtums in der von unbedingter Indifferenzgeprägten Identität jenes anderen Subjekts heraufbeschwört, darf siebeim Versuch, diese neue, schrecklichere Gefahr aus der Welt zu schaffen,nicht zögern, das Reichtumpräsent mitsamt dem, was sie an sich mitihm vorhatte, dranzugeben. Um das in der epiphanischen Opferdynamikbeschlossene fundamentale Scheitern des Opfers – die in einer indiffe-rentistischen Entwirklichung des Reichtums resultierende Konversionder unsterblichen Herren des Reichtums zum unbedingt anderen Subjektund absolut neuen Individuum – zu verhindern, muß sie jeden Gedankenan ein funktionales Gelingen ihres eigentlichen Opfervorhabens – diedurch Rekurs auf die unsterblichen Herren des Reichtums ins Werk ge-setzte Wiederverankerung der statthalterischen Macht des Priesterkönigsüber den Reichtum – fahrenlassen und das als schieren Abbruch derOpferhandlung begreifliche blutgerichtlich-purifikatorische Liquidati-onsunternehmen, in das der Priesterkönig den heiligen Akt überführt,rückhaltos gutheißen.

Wie entschieden der sakrifizielle Abbruch der Opferhandlung die Ver-wirklichung der ursprünglichen sakramentalen Opferintention aber auchvereiteln mag – ganz ohne Nutz und Frommen für die letztere bleibt eram Ende doch nicht! Was er, indem er die Wirklichkeit des ursprünglichenOpfervorhabens dranzugeben zwingt, immerhin zu erhalten dient, ist,wie schon gesagt, dessen Möglichkeit. Wenn der Abbruch der Opfer-handlung die Überführung der different gesetzten jenseitigen Herrendes Reichtums in die diesseitige Indifferenz jenes unbedingt anderenSubjekts, die Reduktion der positiv gegebenen transzendenten Überfluß-eigner auf die immanente Negativität jenes absolut neuen Individuumsverhindert, so ist die Verhinderungsleistung tatsächlich ja gleichbedeu-tend mit einer erfolgreichen Erhaltung der in eben diesen jenseitigenHerren des Reichtums bestehenden Grundbedingung für Opferhandlun-gen überhaupt und sakrale Darbringungsakte im allgemeinen. Indem die

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um den Priesterkönig gescharte Opfergemeinde durch den Abbruch dermittels Opfergabe intendierten repräsentativen Erhebung der Unsterbli-chen und attributiven Einsetzung der Götter die letzteren vor der ihnen eximproviso der Opfergabe hierbei vielmehr drohenden präsentativen Auf-hebung und monstrativen Entthronung bewahrt, bewahrt sie sie ja nichteinfach nur negativ vor, sondern ebensowohl auch positiv für etwas, hebtsie sie im Sinne künftiger Verfügbarkeit affirmativ auf für die Gelegenheitweiterer, mit unkompromittiert neuen Opfergaben zu unternehmenderRepräsentationsversuche. Dafür, daß die Opfergemeinde eine Aktualitätpreisgibt, mit der wegen ihrer fatalen Dynamik sie ohnehin im Blickauf die eigentliche Absicht einer Begründung der priesterköniglichenMacht nichts mehr anfangen kann, erhält sie sich eine Potentialität, diesie angesichts dieses unverändert bestehenden Begründungsdesideratsnur zu dringend braucht und die in der Tat nur darauf wartet, zum Zwe-cke der schließlichen Erfüllung des Desiderats abermals aktualisiert zuwerden. Denn dieses anfängliche und im Sinne der ursprünglichen Op-ferlogik eigentliche Problem einer durch das repräsentative Anwesen undattributive Zeugnis der Götter zu bewerkstelligenden Fundierung derstatthalterischen Macht des Priesterkönigs rückt nun, da die durch seinensakramentalen Bewältigungsversuch heraufbeschworene vordringlicheGefahr eines die Götter als solche ereilenden Offenbarungseids mittelsdes sakrifiziellen Abbruchs jenes Versuchs gebannt ist, als nach wie vorunbewältigtes wieder ins Blickfeld der Opfergemeinde und dringt aufLösung. Sowenig es dem Priesterkönig gelungen ist, den transzendentenÜberflußeignern mittels Opfergabe zu einer repräsentativen Anwesenheitzu verhelfen, und so sehr er sich vielmehr darauf hat kaprizieren müssen,sie durch die sakrifizielle Beseitigung der Opfergabe aus der ihnen eximproviso der letzteren drohenden Gefahr einer diesseitigen Überfüh-rung ins unbedingt andere Subjekt zu erretten und heil in ihr Jenseitszurückkehren, unversehrt wieder den Abstand ihrer Transzendenz ge-winnen zu lassen, so sicher macht nun aber auch er, der Priesterkönig,Miene, in Abwesenheit der Götter erneut die riskante Stellung eines jederRücksicht überhobenen willkürlich-usurpatorischen Machthabers überden Reichtum, die hybride Haltung eines jeder Legitimation entratendenselbstherrlich-appropriativen Verfügers über den Überfluß einzunehmen.

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Zwar vielleicht nicht sofort! Immerhin hat der zum sakrifiziellen Groß-reinemachen abgebrochene sakramentale Versuch, den göttlichen über-flußeignern im Opfer ein die Statthalterschaft des Priestekönigs zu auto-risieren geeignetes sinnenfälliges Anwesen zu errichten und greifbaresAndenken zu verschaffen, dies bewirkt, in den Köpfen der Opfergemein-de das Bewußtsein jener vom Priesterkönig im sakrifiziellen Bösen wie imsakramentalen Guten hofierten wahren Überflußeigner wieder lebendigwerden zu lassen. Und solange dies wiederbelebte Bewußtsein währt,solange diese durch die Opferhandlung geweckte Erinnerung an diezuerst als Adressaten eines sakramentalen Darbringungsakts und dannals Reklamanten einer sakrifiziellen Sühneaktion firmierenden Götter inden Köpfen der Gemeinde wach bleibt, wahrt nun auch der Priesterkönigfür die letzteren die erwünschte Fasson eines autorisierten Statthaltersauf Erden. Aber weil es ja nicht gelungen ist, das repräsentativ sichtbareAnwesen für die Götter tatsächlich zu errichten und ihnen das attribu-tiv bleibende Andenken zu verschaffen, hält dies abstrakte, ohne An-haltspunkt im Diesseits gelassene Bewußtsein von den jenseitig wahrenHerren des Reichtums nicht lange an, wird diese unbestimmte, jeder im-manenten Anschauungshilfe entratende Erinnerung an die transzendentwirklichen Überflußeigner allmählich blaß und verliert sich. Und indemsie verblaßt, kehrt der Priesterkönig abermals jene undurchdringlicheMaske integraler Macht über den Reichtum, jene blendende Fasson totalerVerfügung über den Überfluß hervor, hinter deren überwältigender Mate-rialität der Eigentumstitel der wirklichen Eigner überhaupt verschwindet,und bildet in Reaktion darauf die theokratische Gesellschaft gegen denhiermit als grundloser Machthaber figurierenden Priesterkönig abermalsjenen Affekt hoffnungsgeschwellter Mißgunst und erwartungsträchtigerFeindseligkeit aus, den sie gleichzeitig allen Grund hat zu unterdrücken,weil sie sicher sein kann, ihn beim Verscheiden des Machthabers mit einerNeuauflage der früheren reichtumverschlingend-katabolischen Hinga-be an den Verschiedenen büßen, beim Tode des Usurpators mit einemWiederaufleben des alten überflußverzehrend-thesaurischen Kults umden Toten bezahlen zu müssen. Wie aber soll sie ihn unterdrücken, wennnicht in der gehabten Weise: nämlich so, daß sie diesen ihren eigenenAffekt ins funktionelle Alibi eines wegen ihrer Vernachlässigung undHintansetzung in den Göttern selbst erregten Grolls übersetzt und denPriesterkönig mit der solcherart objektivierten Emotion konfrontiert, um

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ihn damit zu zwingen, die Erzürnten durch einen Akt der sinnenfällig-realen Anerkennung ihrer Macht zu versöhnen, kurz, ihnen ein Opfer zubringen? Wie soll die theokratische Gesellschaft ihres durch die priester-königliche Machtfülle geweckten Ressentiments und seiner möglichen,fatal totenkultlichen Folgen anders Herr werden als dadurch, daß sie sichabermals als Opfergemeinde konstituiert und den Priesterkönig einenerneuten Versuch unternehmen läßt, durch eine repräsentative Vergegen-wärtigung und attributive Versinnbildlichung der wahren Herren desReichtums seiner eigenen Verfügungsgewalt über den Überfluß den Cha-rakter einer gegründeten Statthalterschaft zu revindizieren? Und so kehrtdenn also die opfergemeindlich organisierte theokratische Gesellschaft,um ihr riskant ambivalentes Verhältnis zu dem kraft realer Machtpositionüber die Stränge seines Stellvertreteramts schlagenden Priesterkönigins reine zu bringen, zum Auskunftsmittel des sakramentalen Darbrin-gungsakts zurück und läßt den Priesterkönig eimal mehr sich darumbemühen, seinen unsterblichen Prokuraverleihern im Reichtumpräsenteine repräsentativ bleibende Anwesenheit zu sichern, seinen göttlichenVollmachtgebern im Überflußtribut eine attributiv sichtbare Observanzzu verschaffen.

Das Resultat dieses neuerlichen Versuchs läßt sich vorhersehen! Warumsollte er auch anders verlaufen als der vorhergehende? Warum sollteihm mehr Erfolg beschieden sein als jenem? Wie es die situativ gleichenBedingungen sind, die mit seiner Aussetzung von Reichtum am Kultortder Priesterkönig schafft, so läßt sich nun auch für das Unternehmender definitiv gleiche Ausgang erwarten. Indem der Priesterkönig einmalmehr Reichtum aus der Hand gibt und in funktioneller Ungebundenheit,in dispositioneller Unabhängigkeit an der Opferstätte ausstellt, aktivierter im freigegebenen Reichtum einmal mehr jenes frühere epiphanischeImprovisationstalent und inszenatorische Präsentationspotential, dasdiesen dazu bringt, alle im Blick auf seine transzendent wirklichen Eignergefaßten guten Vorsätze einer repräsentativen Veranschaulichung in denWind zu schlagen und sich statt dessen den jenseitig Abwesenden alsevokativer Erscheinungsort für eine unvermutete Einkehr im Diesseits,den zur Transzendenz Abgedankten als monstrativer Schauplatz für eineunverhoffte Rückkehr in die Immanenz zur Verfügung zu stellen. Einmalmehr kehrt er im Augenblick seiner sakramentalen Preisgabe jene alteKonstitutionsdynamik hervor, die ihn dazu treibt, seine wahren Herren

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des ätherischen Gewands anonymer Unsterblichkeit zu entkleiden und inder leibhaftigen Gestalt eines personalen Lebewesens zur Erscheinung zubringen, sie der olympischen Prätention pluraler Göttlichkeit zu entreißenund in der irdischen Identität eines singularen Menschen in Szene zusetzen. Einmal mehr konfrontiert die Opfergabe die entsetzte Opfer-gemeinde mit jenem ursprünglich anderen Subjekt, das in dem Maß,wie es die unsterblichen Herren des Reichtums ihrer von unbedingterIndifferenz gegenüber dem Reichtum geprägten exklusiv wahren Gestaltüberführt, wie es sie in ihrer von absoluter Negativität gegenüber demÜberfluß bestimmten disjunktiv wirklichen Existenz identifiziert, dieganze von der theokratischen Gesellschaft behauptete irdische Reichtum-sphäre einer vernichtenden Disqualifizierung ausliefert. Was bleibt dader um den Priesterkönig gescharten Opfergemeinde anderes übrig, alseinmal mehr jenen ex improviso der Opfergabe unverhofft emanierendenWahrheitszeugen, jenes vor dem Altar sich unliebsam präsentierendeEccehomo göttlicher Identität zum ex nihilo der heiligen Handlung auf-tauchenden sakrilegischen Einbrecher und in adversum der sakralenOrdnung okkurierenden Tempelräuber zu erklären und mit dem Ergebniseiner Überführung der eigentlich sakramentalen Opferfeier ins vielmehrsakrifizielle Schlachtfest dem gehabten, auf seine spurlose Beseitigung ab-gezielten peinlichen Strafgericht und reinlichen Sühneakt zu unterwerfen,unter Einschluß natürlich des durch das Auftreten des Frevlers rettungs-los kompromittierten Reichtumpräsents und unhaltbar diskreditiertenÜberflußtributs selbst?

Weil die Opferhandlung derselben epiphanischen Dynamik verfällt wievorher und dieselbe Gefahr eines in der Gestalt des anderen Subjekts überdie Welt des Reichtums als ganze verhängten Offenbarungseids herauf-beschwört, ist der Priesterkönig erneut gezwungen, den als sakrifiziellesGroßreinemachen beschriebenen Abbruch der Opferhandlung herbeizu-führen. Und weil es ihm mittels Abbruchs gelingt, die vom Opfer herauf-beschworene Drohung eines universalen Konkurses abzuwenden, rücktnun wieder die andere, im Priesterkönig selbst personifizierte und nachwie vor unbewältigte Gefahr ressentimenterregend-totenkultträchtigerÜbermacht und Hypbris in den Vordergrund und verlangt zu ihrer Be-wältigung nach einer als sakramentaler Darbringungsakt, als ostentativeTributleistung an die wahren Herren des Reichtums wohlverstandenen

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Opferhandlung. Die historische Konsequenz, die sich aus dieser dilem-matischen Situation ergibt, ist klar: es ist der Opferkult der theokratischenGesellschaften, jene ebenso unabschließbare wie unablässige Abfolgeoder ebenso zirkuläre wie sukzessive Anordnung von Opferhandlun-gen, die, weil sie immer wieder denselben präsentativ-epiphanischenGrunddefekt oder monstrativ-inszenatorischen Pferdefuß aufweisen,auch immer wieder demselben als schierer Abbruch des Unternehmensbeschreibbaren Schema einer Überführung des anfänglich sakramentalenDarbringungsakts in die schließlich sakrifizielle Sühneaktion verfallen.Es ist jene nicht enden wollende, ewig sich fortzeugende Reihe sakralerFehlversuche, mit denen wegen ihrer präsentativen Eigendynamik undmonstrativen Improvisationskraft der Priesterkönig das, was er erreichensoll, schlechterdings nicht erreichen kann und von denen er aber aucheben deshalb, weil er es nicht erreichen kann und weil jeder neue Versuchwieder als Fehlversuch endet, partout nicht ablassen kann. Wegstrebendvon der Scylla einer totenkultträchtigen Verdrängung der jenseitig wah-ren Herren des Reichtums durh ihren in seiner realen Machtfülle sichautokratisierenden Statthalter auf Erden, spornt bei jeder sich bieten-den Gelegenheit einer als Ausdruck göttlichen Neides interpretierbarenprekären Situation oder Kalamität die Opfergemeinde den Priesterkö-nig an, sich durch ein Opfer der autorisierenden Anwesenheit und dessanktionierenden Beistands der Jenseitigen zu versichern. Und jedesmaltreibt sie ihn damit der Charybdis der ex improviso des Opfers selbstden jenseitig wahren Herren des Reichtums blühenden konkurshaftenKonversion ins reichtumverachtend andere Subjekt entgegen. Um diesem– die ganze weltliche Überflußperspektive mit Entwertung bedrohen-den – konkurhsaften Strudel zu entrinnen, bricht der Priesterkönig inder beschriebenen blutrünstig sakrifiziellen Weise die Opferhandlungab und nimmt nolens volens wieder Kurs auf die gegenüberliegendeKlippe einer totenkultträchtigen Autokratisierung seiner selbst, bis derenwachsende Nähe die Opfergemeinde dazu zwingt, ihn beim ersten sichbietenden Anlaß zu einem neuerlichen Opferversuch anzustacheln. Undso entsteht jener ins Unendliche fortlaufende opferkultliche Zirkel, derdas Leben der theokratischen Gesellschaften rhythmisch untermalt undwie ein Herzschlag begleitet und der in dem Maß zum gewohnheitsmä-ßigen Balanceakt, zur äquilibristischen Routine wird, wie teils die alsOpferanlässe herhaltenden prekären Situationen sich im jahreszeitlichen

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Umlauf oder erfahrungsspektralen Umkreis wiederholen und den Cha-rakter rekurrierender Festpunkte annehmen, teils die Opferhandlungselbst in all ihrer zwischen Darbringung und Hinrichtung alternieren-den Zwieschlächtigkeit und Sprunghaftigkeit sich durch ihre ständigeReproduktion zur dramaturgischen Einheit einer zeremoniell geheiligtenProzedur verschleift.

Daß bei aller Routine, zu der es sich ausbildet, dies den jahreszeitli-chen Wechsel, den Ausbruch natürlicher Katastrophen, das Auftretenhistorischer Prüfungen skandierende Lavieren zwischen der Scylla ei-nes totenkultträchtigen Verschwindens der jenseitig wahren Herren desReichtums hinter der Machtfülle ihres priesterköniglichen Stellvertretersund der Charybdis ihres konkursverdächtigen Verschwindens in derindifferenten Identität des vom Opfer initiierten anderen Subjekts einvergleichsweise aufwendiges und objektiv lästiges Procedere ist, scheintdabei außer Frage. Angesichts der Menge von Reichtum, die für jene un-absehbare Folge sakrifizieller Fehlversuche drangegeben, der vielen Zeitund Initiative, die daran verschwendet, endlich der großen Kaltblütigkeitund Grausamkeit, die dazu aufgebracht werden muß, muß solch Lavierenden Eindruck einer Kreuzfahrt ohne Sinn und Verstand, einer Route insUngewisse und ohne jede Aussicht auf Ankunft in einem sicheren Hafenmachen. Dennoch behält die theokratische Gesellschaft unverdrossen die-sen opferkultlichen Pendelkurs bei. Und tatsächlich scheint er auch, rechtbesehen, gar nicht das Schlechteste, was ihr passieren kann. Schließlichgelingt ihr ja, wenn schon nicht durch das einzelne Opfer, so immerhindoch durch jene unablässige Reihe von Fehlversuchen, das, was sie min-destens will, zu erreichen: nämlich den Priesterkönig davor zu bewahren,sich zur ebenso totenkultträchtigen wie ressentimenterregenden Stellungeines der Götter entratenden, überheblichen Machthabers zu versteigen.Sowenig es ihr zwar glückt, mittels der Opferhandlung selbst ihr eigent-liches Ziel einer positiven Autorisierung und definitiven Legitimierungdes Priesterkönigs in der Funktion eines Statthalters der Unsterblichenund Stellververtreters der Götter in die Tat umzusetzen, so sehr hält siezugleich durch die unablässige Reihe opferkultlich neuer Versuche anihrem Anspruch darauf fest und schafft es allein dadurch, daß sie denPriesterkönig in diesen ständigen fruchtlosen Versuchen zur Realisierungihrer aufrechterhaltenen Option engagiert, ihn vor aller Überhebung undAutokratisierung sicherzustellen. Mag auch der Aufwand, den sie dafür

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betreiben muß, größer sein als geplant und vielleicht wünschenswert– der Aufwand an Gütern und Leistungen, den ein Rückfall in die to-tenkultliche Praxis bedeuten würde, wäre unvergleichlich viel größer,und insofern ist sie mit ihrer opferkultlichen Verhinderungsstrategie,solange diese Erfolg hat, immer noch gut bedient. Hinzu kommt, daßbei all ihrer systematischen Unablässigkeit und Unabschließbarkeit jeneals Opferkult sich entfaltende Reihe von sakramentalen Fehlversuchenja keineswegs als eine chronologisch kontinuierliche Folge sich darstellt,sondern jeweils unterbrochen wird von Zwischenphasen relativer Be-friedung und Ruhe. Weil, wie erwähnt, jeder im sakrifiziellen Abbruchendende Fehlversuch, wenn schon nicht die transzendent wirklichenÜberflußeigner zur repräsentativen Anwesenheit kommen und attri-butive Evidenz gewinnen läßt, so immerhin doch dazu dient, in denKöpfen der Beteiligten das Bewußtsein von ihnen wiederzubeleben unddie Erinnerung an sie aufzufrischen, können nun auch die dem Strudelder Charybdis, dem Konkurs des Opfers, Entronnenen so lange unbehel-ligt dahintreiben, wie diese Erinnerung währt, und müssen erst, wenndie Erinnerung verblaßt, der neuerlich nahenden Klippe der Scylla, derabermals drohenden Überhebung des Priesterkönigs, gewahr werden. So-wohl also, was seine Tauglichkeit zum Zweck betrifft, als auch, was seineErträglichkeit in der Durchführung angeht, scheint der Opferkult wirklichnicht das Schlimmste, was der theokratischen Gesellschaft widerfahrenkann. Und so gesehen ist es auch durchaus kein Wunder, wenn sie an deropferkultlichen Praxis festhält und sich auf unabsehbare Zeit häuslichin ihr einrichtet – mit dem in den Kulturen des zweiten vorchristlichenJahrtausends anschaulichen Ergebnis ihrer vollständigen Durchdrin-gung mit opferkultlichem Geist, ihrer regelrechten Verwandlung in eineGesellschaft, deren Haupt- und Staatsgeschäft eben das Opferbringen ist.

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Was der Opfergemeinde am Opferkult unverdaulich bleibt, ist das epiphanischeEreignis selbst, weil sie dabei vor der als anderes Subjekt erscheinenden Wahrheitder Götter die Augen verschließen und in pathologischer Unbelehrbarkeit gegenalle empirische Evidenz an ihrer dogmatischen Vorstellung von den Göttern alsjenseitigen Herren des Reichtums festhalten muß. Der Versuch, der epiphani-schen Identifizierung der Götter durch deren eponymische Charakterisierungzuvorzukommen, scheitert an der Dynamik der Epiphanie, die hinter der Maskeder Göttergestalten immer wieder das andere Subjekt zum Vorschein kommenläßt. Schließlich unterbindet die Opfergemeinde das Erscheinen des anderenSubjekts durch eine rituelle Manipulation: dadurch, daß sie den Priesterkönig dierituelle Beseitigung der Opfergaben überstürzen und somit für eine sakrifizielleBeseitigung des epiphanischen Mediums sorgen läßt.

Wie sehr aber auch immer die theokratische Gesellschaft sich an denOpferkult als an den zwischen Scylla und Charybdis äquilibristisch ver-haltenen modus procedendi ihrer politisch-religiösen Selbstbehauptunggewöhnen mag – mit einem bestimmten Moment daran, dem Augenblicknämlich des ex improviso der Reichtumofferte erscheinenden anderenSubjekts kann sie sich unmöglich abfinden! Und zwar kann sie sich mitdiesem Moment nicht etwa nur in dem praktisch-funktionellen Sinnenicht abfinden, daß sie, wie ja auch geschieht, dem anderen Subjekt seinErscheinen ex improviso des Reichtumpräsents und ad hoc des Überfluß-tributs bestreiten und es statt dessen eines Auftauchens ex nihilo zeihen,eines Einbrechens in adversum beschuldigen muß, sondern sie kannsich mit diesem Moment darüber hinaus in dem theoretisch-habituellenVerstand nicht zufriedengeben, daß sie vielmehr alles daransetzen muß,sein Eintreten bei der jeweils nächsten Gelegenheit zu verhindern undüberhaupt in alle Zukunft zu unterbinden, weil es ihr mit jedem weiterenMale schrecklicher, mit jedem neuerlichen Vorfallen unerträglicher wird.Zunehmend unerträglicher läßt das Erscheinen des anderen Subjektssein jedesmal wieder mit dem gleichen Nachdruck erhobener Anspruchwerden, epiphanisch-präsentativer Ausweis der wahren Natur der Uns-terblichen, inszenatorisch-monstrative Auskunft über das wirkliche Seinder Götter zu sein. Sooft der die jenseitigen Herren des Reichtums reprä-sentativ zu vergegenwärtigen bestimmte sakramentale Darbringungsaktex improviso des Dargebrachten vielmehr ein absolut anderes Subjektvor den Altar treten läßt, tut er mit allen Anzeichen eines verbindlich

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objektiven Bescheids der um den Priesterkönig versammelten Opferge-meinde kund, daß dies andere Subjekt nichts anderes als die sich dies-seitig präsentierende, leibhaftig wahre Existenz der jenseitigen Herren,dies neue Individuum nichts sonst als die sich immanent monstrierende,eigentümlich wirkliche Identität der transzendenten Eigner ist. Sooftdie Opferhandlung aus initiativ spontaner Dynamik ihre epiphanisch-inszenatorische Wirkung entfaltet, kommt, was sie hierbei zeitigt, ei-nem Offenbarungseid der in voller Leibhaftigkeit empirischen Wahrheitder ätherischen Unsterblichen, einem eidesstattlichen Bekenntnis der inaller Lebendigkeit kategorischen Wirklichkeit der olympischen Göttergleich. Jedesmal, da das Opfer über die ihm zugedachte Funktion einesattributiven Andenkens an die Götter sich hinwegsetzt, um vielmehrin deren präsentativen Erscheinungsort und monstrativen Schauplatzsich zu verwandeln, nimmt, was es tut, wieder die gleichen Züge einesempirisch ausgeführten kategorischen Urteils an, das den unbestimmtanonymen Unsterblichen im anderen Subjekt ihren personal bestimmtenCharakter nachweist, die abstrakt pluralen Götter im neuen Individuumihres singular konkreten Wesens überführt. Und weil dies aber bedeu-tet, daß die in der konditionellen Differenz ihres Jenseits als nominelleReichtumbesitzer verhaltenen vielgestaltigen Unsterblichen sich im Dies-seits vielmehr als immer derselbe, von unbedingter Indifferenz geprägte,entwirklichungsmächtig reale Reichtumverächter herausstellen, die inder relativen Positivität ihrer Transzendenz als formale Überflußeignergewahrten zahlreichen Götter sich in der Immanenz vielmehr als dereine identische, von absoluter Negativität erfüllte, entwertungssüchtigmateriale Reichtumverwerfer erweisen, muß jedesmal neu die um denPriesterkönig gescharte Opfergemeinde diese ex improviso des Opfers Er-eignis werdende epiphanische Identität der Götter in Abrede stellen undunter Berufung aufs eigene, bessere Wissen mit der im anderen Subjektgestaltgewordenen Epiphanie als mit einem offenbaren sakrilegischenWechselbalg und nefariösen Vexierbild der Götter den als sakrifizielleStraf- und Sühneaktion beschriebenen kurzen Prozeß machen.

Was sie damit aber tut, ist, daß sie gegen einen objektiven Bescheidihren kollektiven Begriff setzt, einem kategorischen Erscheinen ihr hy-pothetisches Meinen entgegenhält, die gestaltgewordene Identität derGötter mit einem vorgestellten Bild von ihnen aus dem Feld schlägt. Um

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die Götter von ihrer konkurshaft-definitiven Identifizierung als unbe-dingt indifferentes, reichtumentwirklichend anderes Subjekt zu rettenund in der unbestimmt distinktiven Stellung von pro nomine wahrenHerren des Reichtums sich zu erhalten, sperrt sich die Opfergemeindegegen alle opferkultliche Evidenz, weigert sich, die Empirie, die auskonstitutiv eigener Kraft das Opfer ihr offeriert, als solche zur Kennt-nis zu nehmen, und beharrt auf den vorgefaßten Bestimmungen undfixen Vorstellungen, die sie mit der als repräsentativ-attributiver Dar-bringungsakt konzipierten Opferhandlung verknüpft. Wie sollte diesegegen alle Erfahrung sich verschließende Abwehrhaltung, dieser zurPathologie einer Besserwisserei aus uneingestanden praktischen Gründenseine Zuflucht nehmende Verweigerungsgestus der Opfergemeinde nichtzu schaffen machen? Wie sollte ihr nicht zusetzen, daß sie jedesmal neuvor der manifestierten Wahrheit die Augen verschließen, jedesmal wiederdie offenbare, personal-singulare, menschliche Identität des Gottes mitdessen tradiertem, anonym-pluralem, göttlichem Alibi aus dem Feldschlagen muß? Ein ums andere Mal muß die Opfergemeinde, um denihre ganze Welt mit Entwirklichung bedrohenden Konkurs der Götterin der Identität des anderen Subjekts abzuwenden, pathologische Un-belehrbarkeit an den Tag legen und die in der Epiphanie des Opfersmit Händen zu greifende Erfahrung von der wahren Natur der Götterebenso kategorisch, wie diese sich darbietet, von sich weisen. Und einums andere Mal wird die Versuchung größer für sie, in Wahrnehmungihrer natürlichen Verstandesfunktion die verleugnete Erfahrung vielmehrzu machen, sich ohne Rücksicht auf die praktischen Folgen der empi-rischen Evidenz zu öffnen und ihre beharrlich gehegte Vorstellung vonden Göttern sich durch die ebenso beharrlich wiederkehrende Epiphaniedes Opfers ein für allemal verschlagen und ersetzen zu lassen. So gewißdie um den Priesterkönig gescharte Opfergemeinde für ihren nach Maß-gabe seines schieren Verleugnungsgestus pathologisch zu nennendenUmgang mit der ex improviso des Opfers erscheinenden Wahrheit derGötter keinen anderen Grund hat als das existentiell-praktische Interesse,ihr reichtumbestimmtes Dasein vor der Entwertung zu bewahren, sogewiß muß jedesmal neu und jedesmal mehr ihr Umspringen mit derempirischen Wahrheit die Bedeutung eines Autodafé für sie annehmen,das sie zwingt, um der Existenz willen den Verstand zu verlieren, um

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des kollektiv-praktischen Interesses willen ihr objektiv-theoretisches Ver-mögen preiszugeben. Ist es da verwunderlich, daß die Opfergemeindeein vitales und wachsendes Bedürfnis entwickelt, sich solch kompro-mittierende Situation zu ersparen, und zu diesem Ende alles daransetzt,jener um allen Verstand sie bringenden und zum quasi-pathologischenAbwehrmechanismus zwingenden Epiphanie der Götter ex improvisoder Opferhandlung, ihrem Gestaltwerden im opferentsprungen anderenSubjekt, entgegenzuwirken und vorzubauen?

Vorzubauen sucht die Opfergemeinde dem Erscheinen des anderenSubjekts in der Form einer präventiven Festlegung oder restriktiven Defi-nition der Götter: dadurch nämlich, daß sie eingangs der Opferhandlungden priesterköniglichen Opferer veranlaßt, der singularen Verkörperungund personalen Identifizierung, die den Göttern ex improviso der Op-fermonstranz bevorsteht, durch eine Singularisierung eigener Wahl, ei-ne Personifizierung besonderen Charakters zuvorzukommen und dasWasser abzugraben. Um die Götter davon abzuhalten, in der mit allerrepräsentativen Verwendung unvereinbaren Singularität eines unbedingtanderen Subjekts und von aller attributiven Verfügbarkeit ausgeschlos-senen Personalität eines absolut neuen Individuums zu erscheinen, be-schwört der Priesterkönig sie gleich zu Anfang des Opfers in einer derLogik des Darbringungsakts gemäßen alternativen Bestimmtheit, einem– sei’s durch die Anzeichen rachsüchtiger Abwesenheit, sei’s durch dieKennzeichen wohlgesinnter Anwesenheit definierten – Singular eigenerArt, einer – sei’s durch die Omen refutativer Abkehr, sei’s durch dieMerkmale attributiver Zuwendung charakterisierten – Person besondererPrägung. Er definiert sie vorweg durch das besondere Unheil und Übel,mit dem sie, die in Abwesenheit vernachlässigten wirklichen Überfluß-eigner, ihrem Unwillen Ausdruck verleihen, ihre Rachsucht bekunden.Er charakterisiert sie im voraus durch den spezifischen Tribut, mit demer sie zu versöhnen und zur repräsentativen Anwesenheit, zur attributi-ven Einkehr zu bewegen sucht. Er ruft sie an als den Blitzeschleudererund Zerstörer der Saaten, als Meererschütterer und Zertrümmerer derSchiffe, als den Mäusischen und Herrn des Ungeziefers, das die Fruchtvernichtet, als den Fernhintreffenden und Sender der Seuchen, als denwilden Eber und Speerzerbrecher, als den Listenreichen und Viehdieb,als den Wölfischen und Bringer des jähen Todes, als die Erweckerin des

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Kampfgetöses und Männermordende, als die Bärin und Herrin der rei-ßenden Tiere, als die Zauberkundige und in Wahnsinn Stürzende, alsdie Schmerzen Bringende und Töterin im Kindbett, als die ZwietrachtSäende und mit Blindheit Schlagende. Und er nennt sie beim Namenall der Dinge, die er ihnen darbringt, und der Tätigkeiten, denen dasDargebrachte entspringt, nennt sie den Herrn der feurigen Rosse, denfruchtbaren Stier, den Schiffelenker, den Schmied, den Ziegenfüßigen,den Jäger, den Beutemacher, den Weinlaubbekränzten, den Vermehrerder Herden, die Trägerin des schimmernden Geschmeides, die Herrindes schützenden Schilds, die Kunstfertige, die Kuhäugige, die Kornspen-derin, die Hirchkuh, die Herrin der Olive, die Weberin, die Spinnerinder Wolle, die Geburtshelferin, die Hüterin des Herds. Der Priesterkönigweist den anonym-pluralen Unsterblichen eben das Übel oder Mißge-schick, das den Groll der Abwesenden dokumentieren, beziehungsweiseeben das Gut oder Gelingen, das die Gunst der Anwesenden demons-trieren soll, als ein sie unterscheidbar definierendes singulares Merkmal,ein sie eigentümlich differenzierendes personales Kennzeichen zu. Ersingularisiert sie durch das Eponym der spezifischen Umstände, in denensie sich negativ oder positiv zur Geltung bringen, personifiziert sie imPseudonym des konkreten Sachverhalts, das ihrer Feindseligkeit oderGeneigtheit Ausdruck verleiht. Und auf diese Weise hofft er und hofftdie hinter ihm stehende Opfergemeinde verhindern zu können, daß dieGötter ex improviso des Opfers jene unbedingt andere Singularität ge-winnen und jene absolut neue Personalität annehmen, die wegen ihrerdie ganze Reichtumsphäre mit Entwirklichung konfrontierenden Ne-gativität die Opfergemeinde mehr als alles in der Welt fürchtet. In derErwartung, sie dadurch davon abhalten zu können, per medium desReichtumpräsents in der mit allem Reichtum a priori unvermitteltenIdentität eines unbedingt anderen Subjekts hervorzubrechen und permysterium des Überflußtributs in der gegen allen überfluß ex anterioriabstrakten Realität eines absolut neuen Individuums Gestalt anzuneh-men, assoziiert der Priesterkönig die Götter weitestmöglich mit demReichtumpräsent beziehungsweise dem, wogegen es steht und weistihnen die Beschaffenheit des letzteren als ihr principium individuatio-nis, ihren sie definierenden Charakter zu. Um sicherzustellen, daß dieOpfergaben die Götter wirklich nur attributiv zur Vorstellung bringenund nicht in deren präsentativen Erscheinungsort oder ihr monstratives

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Szenarium sich verwandeln, erklärt der Priesterkönig die Empirie derOpfergabe beziehungsweise die Phänomenologie dessen, was die Opfer-gabe zu bannen dient, zum Äußeren und Ausdruck der eben hiermit zumInneren und Inhalt sich singularisierenden göttlichen Macht, zur Ober-fläche und Leiblichkeit der eben hierdurch als Seele und Wesenheit sichpersonalisierenden Gottheit. Gegen das andere Subjekt, als das die Götterdem Reichtum epiphanisch entspringen und szenisch entsteigen, setzt erals präventives Bollwerk deren reichtumbedingt singulare Identität, führter als refutative Vorkehrung ihren überflußbestimmt personalen Habitusins Feld.

Indes, wie sehr der Priesterkönig und die um ihn gescharte Opferge-meinde sich auch immer bemühen mögen, die Götter vorweg an die Ketteeiner mit dem Repräsentativ der Reichtumofferte gegebenen singularenIdentifizierung zu legen, sie im voraus in den Gewahrsam einer im At-tribut des Überflußopfers bestehenden personalen Charakterisierung zunehmen – gegen die entfesselnde Macht der Opferhandlung selbst istkein Kraut gewachsen! Eben das Reichtumpräsent, das den jenseitigenUnsterblichen ihre – egal, ob als feindliche Natur, ob als freundliches We-sen firmierende – vorbeugende Identität verleiht, treibt ihnen in actu derOpferhandlung selbst diese präventive Identität unfehlbar auch wiederaus, indem es sie im epiphanisch wahren Singular des in unbedingterIndifferenz reichtumentsprungen anderen Subjekts präsentiert. Ein undderselbe Überflußtribut, der den transzendenten Göttern ihre – egal,ob als drohende Maske, ob als versöhnende Physiognomie figurierende– vorkehrende Personalität aufsetzt, reißt ihnen in objectu der Opfer-situation als solcher diese apotropäische persona unabwendbar auchwieder herunter, indem er sie in der szenisch wirklichen Person desin absoluter Negativität überflußenthoben neuen Individuums mons-triert. Im epiphanischen Aufbruch und inszenatorischen Übersprungwischt der Opferreichtum das, was mit seiner Hilfe Priesterkönig undOpfergemeinde den anonym pluralen Göttern an material-singularischerBeschaffenheit und real-persönlicher Bestimmtheit beilegen, beiseite undläßt ex improviso seiner Präsenz im Heiligtum, ad hoc seiner Monstranzauf dem Altar das als anderes Subjekt gestaltgewordene einfache Seinder Götter hervorbrechen, ihr als neues Individuum verkörpertes sich-selbstgleiches Wesen manifest werden. Wo die Reichtumofferte eben nochals verhaftendes Repräsentativ der identischen Wahrheit der Götter und

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als bindendes Attribut ihrer objektiven Wirklichkeit herhalten sollte, dastellt sie sich im nächsten Augenblick schon als ein die Verhafteten zuihrer wahren Identität entlassender Modus, ein die Gebundenen zu ihrerwirklichen Subjektnatur entbindendes Medium heraus und verkehrt sichso in ein der Indifferenz des unbedingt anderen Subjekts erliegendesRefutativ des eigenen repräsentativen Anspruchs, ein der Negatvitätdes absolut neuen Individuums zum Opfer fallendes Korrektiv der ei-genen attributiven Anmaßung. Und diese verheerende Widerlegung,die in Gestalt des anderen Subjekts der Opferreichtum der in ihn sel-ber gesetzten singularen Identität der Unsterblichen zuteil werden läßt,bedeutet für Priesterkönig und Opfergemeinde eine womöglich nochschlimmere Prüfung, als es das Erscheinen des anderen Subjekts ex im-proviso der Opferhandlung ohnehin schon darstellt. Indem nämlich diequa anderes Subjekt epiphanische Wahrheit der Götter sich als expliziteAntwort auf deren qua Opferreichtum attributivische Anrufung durchden Priesterkönig ergibt, ist der hiermit der Opfergemeinde erteilte ob-jektive Bescheid nicht mehr nur unerbetene empirische Einlösung einesBegriffs, auf dem als solchem die vom Einlösungsvorgang überraschteOpfergemeinde gegen alle Empirie notfalls bestehen kann, sondern viel-mehr unerwartete Konsequenz eines empirischen Einlösungsvorgangs,den niemand sonst als die Opfergemeinde selbst in die Wege geleitet unddessen prozessualer Dynamik sie quasi höchstpersönlich, will heißendurch ihr im Priesterkönig handelndes Subjekt, ihren Begriff von denGöttern überantwortet hat. Und weil demnach der per medium des Op-fers offenbarte Bescheid über die wahre Identität und wirkliche Personder Götter nurmehr konsequentes Korrektiv des zuvor vom Priesterkönigselbst über die singulare Natur und das personale Wesen der Göttererhobenen Befunds ist, beschränkt sich der empiriologische Verleug-nungsgestus und vielmehr pathologische Abwehrmechanismus, mit demdie um den Priesterkönig gescharte Opfergemeinde jenem objektivenBescheid wegen der ihn begleitenden indifferentistischen Disqualifizie-rungsdrohung begegnen muß, nicht mehr bloß darauf, Ausdruck eineserfahrungsfeindlichen Widerstands gegen eine ihr von fremder Seiteaufgezwungene unerwünschte Einsicht zu sein, sondern nimmt mehrnoch und vollends unerträglich die Züge eines selbstverräterischen Wi-derrufs des eigenen, frei erhobenen Erkenntnisanspruchs an, in dessenFolge jene unerwünschte Einsicht sich ergibt. Weil sie selber mit der

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singular-personalen Identifizierung der Götter den Anfang macht, die siein ihrer schließlichen, ex improviso der Opferhandlung resultierendenForm dann unter keinen Umständen akzeptieren kann, hat für die um denPriesterkönig gescharte Opfergemeinde ihr Bemühen, dies inakzeptableepiphanische Ergebnis nicht zur Kenntnis zu nehmen, nicht mehr nur dieBedeutung einer passivisch-obstruktiven Weigerung, ihre Verstandeskraftin Gebrauch zu nehmen und ihre empirische Lernfähigkeit unter Beweiszu stellen, sondern impliziert darüber hinaus und schlimmer noch dieaktivisch-destruktive Bereitschaft, ihre bereits in Gebrauch genommeneVerstandeskraft eigenhändig wieder außer Geltung zu setzen und ihreschon unter Beweis gestellte empirische Lernfähigkeit rückwirkend zudesavouieren.

So aber im Angesicht der als anderes Subjekt opferentsprungen singu-laren Identität der Götter den Verstand nicht bloß passiv außer Gebrauchlassen und empirische Unbelehrbarkeit an den Tag legen, sondern denVerstand mehr noch aktiv außer Kraft setzen und einen zuvor gezeigtenempirischen Lerneifer Lügen strafen zu müssen, geht am Ende übersMenschenmögliche und überfordert auch und entschieden das Vermögender um den Priesterkönig gescharten Opfergemeinde. Die letztere selbstist es, die den Priesterkönig eingangs der Opferhandlung dazu anhält,den Unsterblichen eine singulare Identifizierung im Repräsentativ derReichtumofferte angedeihen, den Göttern eine personale Charakterisie-rung durchs Attribut des Überflußopfers zuteil werden zu lassen. Wiesollte sie da garantieren können, daß die singulare Identität, deren kraftspontaner epiphanischer Dynamik die Reichtumofferte die Götter hier-nach überführt, sich ihr nicht – aller Schrecklichkeit und Unannehmbar-keit solchen Ergebnisses ungeachtet – als gezieltes Refutativ ihres eigenenBeginnens aufdrängt, als erzielte Einsicht kundtut, oder als konsequentesKorrektiv ihres eigenen Bemühens kenntlich macht, als gemachte Erfah-rung ins Bewußtsein senkt? Sie kann, mit anderen Worten, partout nichtdafür einstehen, daß sie nicht, der Konsequenz ihrer eigenen Initiativeerliegend, das ex improviso der Opferhandlung erscheinende andereSubjekt als die präsent singulare Wahrheit und manifest personale Wirk-lichkeit der Götter gelten läßt. Daraus indes folgt nur, daß sie mehr nochals bereits vorher alles daransetzen muß, dem Erscheinen des anderenSubjekts ex improviso der Opferhandlung vorzubeugen. Weil sie, die denPriesterkönig die Unsterblichen in specie dessen, was er ihnen darbringt,

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singulariter beschwören und personaliter anrufen läßt, nicht länger ga-rantieren kann, daß die singulare Personalität, in der ex improviso desOpfers die Götter statt dessen erscheinen, von ihr nicht als Beitrag zumThema akzeptiert und als Ausführung zur Sache zur Kenntnis genommenwird, kann sie wegen der gesellschaftlich-praktischen Entwirklichungs-implikationen und Entwertungsfolgen, die die Zurkenntnisnahme jenerex improviso des Opfers erscheinenden wahren Identität der Götter hätte,auch nicht mehr riskieren, es zu der opferdynamisch-epiphanischen Si-tuation überhaupt kommen zu lassen. Wie aber und mit welchen Mittelnsoll sie das Eintreten dieser Situation jetzt noch verhindern, da ja derUmstand, daß ihr die letztere bedrohlicher und kompromittierender dennje entgegentritt, eben bereits Resultat eines solchen, auf der ganzen Liniefehlgeschlagenen Verhinderungsversuchs ist? Schließlich ist Ziel der per-sonalen Charakterisierung der Götter, die im Attribut des Überflußopfersder Priesterkönig eingangs der Opferhandlung unternimmt, nichts sonstals die Antizipation und Prävention jenes singulariter anderen Subjekts,das ex improviso der Opferhandlung das Überflußopfer aus monstrativspontaner Dynamik in Szene zu setzen droht. Und schließlich ist daseinzige, was der Priesterkönig mit seiner Präventivmaßnahme erreicht,eine Verstärkung der suggestiven Unwiderstehlichkeit, mit der das eximproviso der Opferhandlung unbeirrt weiter in Erscheinung tretendeandere Subjekt sich der Opfergemeinde als die wahre Identität der Götteraufdrängt – mithin eine verschärfte Wiederkehr eben jenes das Erscheinendes anderen Subjekts betreffenden objektiven Vermeidungsbedürfnis-ses, das die Präventivmaßnahme doch gerade befriedigen sollte. Schlägtdemnach aber die vom Priesterkönig angewandte Verhinderungsstrategiederart fehl, daß er mit ihr sein Ziel, das Erscheinen des anderen Subjektszu unterbinden, nicht nur nicht erreicht, sondern dessen ungehindertkontinuiertem Erscheinen im Gegenteil nur zusätzliche Bedrohlichkeitund Sprengkraft verleiht, so ist verständlich, daß die um den Priesterkö-nig gescharte Opfergemeinde sich um weitere Präventivstrategien dieserArt gar nicht erst lange bemüht, sondern statt dessen nunmehr versucht,den gewünschten Verhütungseffekt durch eine taktische Manipulationder bereits vorhandenen und in der sakrifiziellen Prozedur des Opfersnämlich gegebenen Abwehrstrategie zu erzielen.

Der taktische Eingriff, mit dessen Hilfe sie den Priesterkönig dem Er-scheinen des anderen Subjekts ex improviso des sakramentalen Dar-bringungsakts zuvorkommen und einen Riegel vorschieben läßt, besteht

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dabei schlicht und einfach in einer Forcierung und überstürzten Exe-kution jenes umfassenden Großreinemachens, dem, wie geschildert, imZuge des als Sakrifizium zelebrierten Rituals das Dargebrachte selbstzum Opfer fällt. Jene sakrifizielle Aufräum- und Säuberungsaktion, derim unmittelbaren Anschluß an die Sakrifizierung des als sakrilegischerStörer der Opferhandlung ausgemachten anderen Subjekts der Priester-könig gleich auch die Opfergaben selbst unterwirft und die er unter demVorwand einer den letzteren durch ersteres angetanen Kontaminierungund Desakrierung durchführt, wurde oben als Ausdruck eines durchaussinnvollen Bemühens erkannt, mit dem anderen Subjekt gleich auchdas zu beseitigen, was diesem zu seinem Auftritt verhilft, und also mitdem erscheinenden Übel ebensowohl auch dessen epiphanische Wurzelauszurotten. Der Kontaminierungsverdacht ist mithin nur eine durch dieVerschleierung der wahren Darbringungsdynamik erzwungene Deck-adresse dafür, daß die Reichtumofferte an die Unsterblichen sich als einunverhoffter Erscheinungsort jenes anderen Subjekts gründlich kompro-mittiert hat, der Desakrierungsvorwurf bloß eine durch die Verleugnungder wirklichen Opferlogik bedingte Ersatzfigur dafür, daß das Über-flußopfer an die Götter sich als ein spontaner Springpunkt jenes neuenIndividuums unwiderruflich diskreditiert hat. Und dementsprechendläßt sich der Einschluß der Reichtumofferte in das Sakrifizierungsge-schehen als ein Versuch begreifen, mit dem Störfaktor gleich auch dasStörpotential, dem er entspringt, loszuwerden, mit dem Wechselbalgebensowohl auch den Schoß zu eliminieren, der ihn gebiert. Weil dasDargebrachte selbst es ist, das sich dem anderen Subjekt als inszenatori-sche Monstranz zur Verfügung stellt, wendet sich der Priesterkönig mitder gleichen rituellen Regelmäßigkeit und zeremoniellen Zuverlässigkeit,mit der er letzterem entgegentritt, auch gegen ersteres und unterwirftes der gleichen strafgerichtlichen Eliminierung, der gleichen sühneop-ferlichen Sakrifizierung. Als Ausdruck des hinter einem unbestimmtenKontaminierungsverdacht sich versteckenden heimlichen Bewußtseins,daß ohne das im Reichtumpräsent bestehende Sakrament auch das alsanderes Subjekt erscheinende Sakrileg sich nicht ereignete, ohne die imÜberflußtribut erbrachte Eidesleistung auch das als neues Individuumgestaltwerdende Nefas nicht vorkäme, wird das Aufräumen mit demersteren zu einem rituell garantierten Bestandteil und zeremoniell inte-grierenden Faktor des Abrechnens mit dem letzteren. Eben diese rituelle

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Zwangsläufigkeit und zeremonielle Stereotypie, mit der die vom Sakra-ment ins Sakrifiz überwechselnde Opferhandlung auch und gerade dieBeseitigung der Opfergaben betreibt, nutzt aber nun der Priesterkönigfür seine präventive Manipulation, indem er die Beseitigungsaktion ausder konsekutiven Stellung und reaktiven Bedeutung, die ihr mit Rück-sicht auf das Erscheinen des anderen Subjekts eigentlich eignet, entläßtund sie rein nur als fixes Element des Sakrifizierungsrituals selbst, alsnotwendiges Moment des Opferzeremoniells als solchen auffaßt. Statt zuwarten, bis der epiphanische Auftritt des als wahre Identität der Göttersich präsentierenden anderen Subjekts ex improviso der Reichtumoffertediese als offenbaren Erscheinungsort des zum sakrilegischen Wechselbalgerklärten Eindringlings kompromittiert und damit den Anlaß gibt, sieunter dem Vorwand des Kontaminierungsverdachts der rituell gleichenEliminierungsprozedur zu unterwerfen wie den Eindringling selbst, be-eilt sich der Priesterkönig, gestützt auf eben jene rituelle Routine derReichtumeliminierung, die Opfergaben ihrem sakrifiziellen Schicksalunverweilt zu überantworten und quasi im Automatismus zuzuführen.Kaum, daß er sie dargebracht, auf dem Altar deponiert hat, macht ersich auch schon in ebenso flagranter Verletzung der funktionell-logischenAbfolge wie rasanter Erfüllung des rituell-üblichen Programms daran, sieabzutun und vom Altar wieder herunterzubringen. Noch ehe die Zere-monie recht begonnen hat, ist sie dank dieser zwischen heiligem Eifer undunheiliger Hast changierenden Eilfertigkeit, mit der der Priesterkönigdas sakramentale Darbringen ins sakrifizielle Wegschaffen umschlagenläßt, auch schon wieder zuende, sind Stier, Lamm oder Federvieh ge-metzelt, Korn und Feldfrüchte verbrannt, Geschmeide und Spolien demTempelschatz einverleibt.

Und mit Hilfe dieser rituellen Forcierung der Aufräumaktion gelingt esdem Priesterkönig tatsächlich, in eklatanter Verkehrung allen dramatur-gischen Sinns eben das epiphanische Ereignis, das eigentlich intitiativerAnlaß für die erstere wäre, durch sie im Gegenteil präventiv auszuschlie-ßen. Indem er kraft Neuordnung der in der rituellen Routine verselbstän-digten und fix gewordenen kultischen Momente die sakramentale Dar-bringung der Opfergaben und ihre sakrifizielle Entfernung quasi bruch-und übergangslos aufeinanderfolgen läßt, schließt er die Lücke, die Er-scheinungsort des ex improviso der Opferhandlung anderen Subjektswäre und läßt so in der Tat, was eigentlich konsekutiv aus der Epiphanie

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hervorginge, dieser inhibitorisch vielmehr zuvorkommen. Noch ehe dieOpfergaben ihre mediale Eigenschaft haben zur Geltung bringen, ihrepräsentativ-monstrative Wirksamkeit haben entfalten können, liefert sieder Priesterkönig bereits dem rituell ausgemachten Schicksal aus, dasihnen im Zuge des Opferkults aus solcher Wirksamkeit routinemäßigerwächst, und schafft es mit Hilfe der solcherart vorweggenommenenFolgen der letzteren, diese selbst zu unterbinden und von der Entfaltungabzuhalten. Daß diese Unterdrückung der Epiphanie durch das als Ri-tualmoment vorgezogene Sakrifiz ihres in den sakramentalen Opfergabenbestehenden virutellen Auslösers, dieses Münchhausensche Unterbin-den der aus dem sakramentalen Teil der Opferhandlung resultierendenWirkung ersten durch die rituelle Präzipitation der als sakrifizieller Teilder Opferhandlung konsequierenden Wirkung zweiten Grades bestensfunktioniert und tatsächlich geeignet ist, die Opfergemeinde vor aller epi-phanischen Gefahr und als Offenbarungseid der Götter konkursiven Ent-hüllungsnot zu bewahren, steht außer Frage. Was Wunder also, daß dieOpfergemeinde diesen durch die rituelle Routinisierung der prozessualenMomente ermöglichten präzipitativen Eingriff in deren Abfolge, diese diezeremonielle Gleichschaltung der prozeduralen Elemente sich zunutzemachende präventive Manipulation an deren Anordnung als Patentre-zept für die Abwicklung sämtlicher Opferhandlungen übernimmt! Sogewiß die unverweilte Überführung der sakramentalen Darbringung derOpfergaben in ihre sakrifizielle Beseitigung eine wirksame Vorbeugunggegen das epiphanische Auftauchen des anderen Subjekts ex improvisoder Opfersituation darstellt und einen sicheren Schutz vor ihm gewährt,so gewiß avanciert die darin beschlossene kurzschlüssige Verlaufsformzum ebenso typischen wie auszeichnenden Merkmal des Opferbringensüberhaupt. Kein Opfer, das nicht fortan in dieser abbreviierten Form undkurzgeschlossenen Bewegung sich vollzöge, keine Opferhandlung, beider nicht dies bis zur schieren Absurdität Merkwürdige geschähe, daßReichtumpräsent und Überflußtribut nur auf den Altar kommen, um mitjener Heidenhast, die sogar noch in der – mit der Epiphanie mittlerweileversöhnten – Abendmahlsfeier der katholischen Messe fortlebt, wiedervom Tisch heruntergefegt zu werden.

Merkwürdig und bis zum Widersinn inkonsequent, bis zum Aberwitzungereimt muß dem unbeteiligten Beobachter diese von haltloser Über-stürzung geprägte Kurzschlußform, die das Opfer im Bemühen um die

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Verhinderung der Epiphanie typischerweise annimmt, in der Tat vor-kommmen. Schließlich ist ursprüngliches Ziel der als Darbringungsaktkonzipierten Opferhandlung, den abwesenden Unsterblichen im offerier-ten Reichtumpräsent ein repräsentativ bleibendes Anwesen zu errichten,den unsichtbaren Göttern im dargebrachten Überflußtribut ein attributivsichtbares Andenken zu stiften. Wie könnte da wohl ein Opferverfahren,bei dem der Priesterkönig das Anwesen nur errichtet, um es sogleichwieder in Brand zu setzen und in Rauch und Flammen aufgehen zulassen, bei dem er das Andenken nur stiftet, um es unverzüglich wiederzu zerstören und mit sakrifizieller Gründlichkeit aus der Welt zu schaffen,verfehlen, den unbeteiligten Zuschauer zu mystifizieren? Die Schar derunmittelbar Beteiligten allerdings, die Opfergemeinde, ist von solcherMystifizierung weit entfernt! Für sie hat der Irrwitz der zum Kurzschlußabbreviierten Opferhandlung nicht nur Methode, sondern mehr nocheinen diese Methode bestimmenden, denkbar guten Sinn. Sie weiß –“weiß” in jenem besinnungslos reaktiven, bewußtlos zielstrebigen Ver-stand des Nicht-wissen-wollens, den die Veränderungen, die sie an derOpfersituation vornimmt, durchgängig unter Beweis stellen –, was allesan inszenatorisch Unliebsamem und epiphanisch Schlimmstem dieseihre scheinbar widersinnige Forcierung der Opferhandlung unterbindet.Sie kennt – “kennt” in jener bedingungslos abweisenden, entschiedenwidersetzlichen Bedeutung des Nicht-zur-Kenntnis-nehmens, von derihre Interpretationen ebenso wie ihre Manipulationen des Geschehensunfehlbar zeugen – die konkursiven Fährnisse und repulsiven Schrecken,die ihr blühen, wenn sie das Opfer in der ihm eigenen präsentativen Dy-namik unverkürzt zum Zuge, in der ihm innewohnenden monstrativenLogik voll zur Entfaltung kommen läßt. Eben deshalb aber ist ihre Parti-zipation an der vom Priesterkönig zum regelrecht paradoxalen Ereigniskurzgeschlossenen Opferhandlung frei von allem Unverständnis undBewußtsein mystifizierender Sinnwidrigkeit und vielmehr erfüllt vomGefühl einer im Sinne gleichermaßen der objektiven Gefahrenabwehrund der subjektiven Unlustvermeidung gelungenen Prozedur. Und die-ses Gefühl prozeduralen Gelingens, mit dem sie den zur sakrifiziellenAufräumaktion kurzgeschlossenen sakramentalen Darbringungsakt be-gleitet, erfährt noch dadurch eine Verstärkung, daß sogar in ihrer paradoxabbreviierten Form die Opferhandlung ja nicht völlig in der negativ blo-ßen Abwendung von Gefahren, die sie selbst erst heraufbeschwört, sich

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erschöpft, sondern nach wie vor ein Moment jener positiven Funktionerfüllt, die wahrzunehmen sie von der um den Priesterkönig geschartenOpfergemeinde ursprünglich konzipiert ist: der Funktion nämlich, durchdie repräsentative Anwesenheit der Götter die Macht des Priesterkönigsin ihre Schranken zu weisen und den letzteren von aller selbstherrlich-heroischen Überhebung und totenkultträchtigen Hybris abzuhalten. Wasvom Opfervorgang in seiner zum offenkundigen Fehlversuch ausgeführ-ten kompletten Gestalt galt, das gilt auch und sogar noch von ihm inseiner den Fehlversuch im Kurzschluß kaschierenden abbreviierten Form:daß er, wenn er schon nicht die jenseitig wahren Herren des Reichtumszur repräsentativen Anwesenheit kommen zu lassen vermag, so immer-hin doch das Bewußtsein von ihnen ausreichend wiederzubeleben unddie Erinnerung an sie hinlänglich aufzufrischen dient, um so lange, wiediese Erinnerung währt, der Opfergemeinde vor allen hybriden Aspi-rationen des Priesterkönigs Schutz zu bieten. Während also die rituelleManipulation, die der Priesterkönig an der Opferhandlung vornimmt,seine überstürzte Überführung des sakramentalen Darbingungsakts indie sakrifizielle Aufräumaktion, der Opfergemeinde einerseits erspart,den Opfervorgang in die Länge und Breite der epiphanischen Evidenzals einen zum förmlichen Offenbarungseid der Götter geratenden be-drohlichen Fehlversuch miterleben und miterleiden zu müssen, erhältsie ihr andererseits den bescheidenen, residualen Erfolg, den auch undsogar noch in dieser Fehlversuchsform der Opfervorgang im Blick aufseine eigentliche Funktion einer Reglementierung der priesterköniglichenMacht erzielt. Was will die Opfergemeinde mehr? Was mehr kann sieunter den gegebenen Umständen verlangen.

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. Auferstehungsreligion

Der Opferkult in seiner abbreviierten Form, die das Erscheinen des anderenSubjekts zu unterbinden dient, wird von der um den Priesterkönig geschar-ten, die Opfergemeinde bildenden Oberschicht, nicht hingegen von der an diePeripherie der Opferstätte verbannten Unterschicht getragen. Im Rahmen der“Arbeitsteilung” der theokratischen Gesellschaft sieht sich letztere von erstererin die Rolle einer produktivkräftig fronenden Mehrheit gedrängt, die einen Reich-tum produziert, der, um nicht überhand zu nehmen, mehr und mehr die Zügelebensartlicher Apartheit und damit einen mitten im Diesseits sich entfaltendenquasi-totenkultlichen Charakter hervorkehrt. Daß dieser Charakter nicht wiebeim früheren Totenkult eine Kluft zu überbrücken, sondern sie im Gegenteilaufrechtzuerhalten dient, macht ihn der Unterschicht nur um so verhaßter.

Keinen Grund also hat die um den Priesterkönig gescharte Opferge-meinde, sich mit der geschilderten, zum paradoxen Kurzschluß abbrevi-ierten Form des Opfers nicht zufriedenzugeben. Allen Grund vielmehrhat sie, dieser ebensosehr der Erhaltung eines Rests von Funktion wieder Vermeidung des epiphanischen Konkurses dienlichen Fassung, dieder Opferkult dank ritueller Manipulation gewonnen hat, als der ver-gleichsweise annehmbarsten Lösung für das Problem der Opferdynamikdie Stange zu halten und Kontinuität zu verleihen. Daß dennoch Friedebeim Opferbringen nicht einkehren, Kontinuität des Opferkults sich nichteinstellen will, daran ist deshalb auch nicht die Opfergemeinde selbstschuld, sondern dafür sind verantwortlich die im äußeren Umkreis umdie Gemeinde halb distanziert, halb engagiert dem Opfer beiwohnendenGemeinen. Sie, die vom inneren Zirkel um die Opferstätte ausgeschlos-senen und an die Peripherie des Heiligtums verbannten kleinen Leute,

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empfinden das Verschwinden des epiphanischen Moments aus der Opfer-handlung nicht wie die herrschaftliche Gemeinde als eine willkommeneEntlastung, die man sich nur zu gern erhalten möchte, sondern erfahrenes im Gegenteil als einen herben Verlust, den sie partout nicht hinnehmenwollen. In der Choreographie der Opfersituation, in der sie bislang alsStatisten gedient und keinerlei aktive Rolle gespielt haben, geraten plötz-lich sie in Bewegung, setzen mit einem Mal sie die dramatischen Akzenteund sorgen dadurch für Unruhe, daß sie mit dem Ziel einer Bewahrungbeziehungsweise Wiederherstellung des verschwundenen epiphanischenMoments am Opfer initiativ werden.

Jene allgemeine Choreographie der Opfersituation, die Unterteilungder Szene in die ebenso zentral wie aktiv am Opfer teilhabende edleGemeinde auf der einen und das ebenso peripher wie passiv dem Op-fer beiwohnende gemeine Volk auf der anderen Seite, ist gleicherma-ßen historische Konsequenz und systematischer Ausdruck der sozia-len Schichtung, der die theokratische Gesellschaft ihr Entstehen ver-dankt. Sie ist, mit anderen Worten, Folge und Demonstration der Tatsa-che, daß die theokratische Gesellschaft einer gewaltsamen Vereinigungreicher, bäuerlich-friedlicher mit armen, kriegerisch-räuberischen Stäm-men entspringt. In dieser Zwangsverbindung fällt der unterworfenenbäuerlich-handwerklichen Schicht die Funktion zu, den gesellschaftli-chen Reichtum zu produzieren und ihn der herrschenden, räuberisch-kriegshandwerklichen Schicht als Gegenleistung für deren militärischenSchutz zu überlassen, wohingegen die letztere die Aufgabe hat, den ihrüberlassenen Reichtum zu genießen, in dem für sie bereitgestellten Über-fuß zu leben, und solch privilegierte Existenz eben damit zu honorieren,daß sie die Produzenten des Reichtums vor Bedrohungen schützt, diein der Hauptsache von ihr selbst und ihresgleichen ausgehen. Was sichdemnach mit der theokratischen Gesellschaft herstellt, ist ein als Schicht-modell artikuliertes gesellschaftsumfassendes Herr-Knecht-Verhältnis,das die frühere lose Schmarotzerbeziehung zwischen kriegerischen No-maden und landsässigen Agrariern in die förmliche Institution einesgeordneten Ausbeutungsmechanismus verwandelt und das kraft dieserInstitutionalisierung an die Stelle der alten – den armen, nomadischenebenso wie den reichen, bäuerlichen Stammesgemeinschaften eigenen –totenkultlich-autochthonen Herrschaften tritt. Vorzug und auszeichnendeLeistung des neuen Herrschaftsverhältnisses ist, wie oben geschildert, die

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Befreiung der Gesellschaft vom Totenkult, ist dies, daß der als Stifter dertheokratischen Gesellschaft und neuer Herr agierende erfolgreiche Er-oberer die Möglichkeit erhält, teils die bis dahin als singulare Macht undpersonales Wesen kultivierten – und das heißt mit allen Reichtummittelnkultisch verehrten – Toten der beteiligten Stämme zu anonym-pluralenGöttern zu entmächtigen und zu distanzieren, teils hierbei sich selber auseinem als Repräsentant eigener künftiger, kultischer Ansprüche figurie-renden Nachfolger des Stammestoten in einen als irdischer Prokurist, alsStatthalter auf Erden firmierenden priesterköniglichen Offizianten ebenjener distanzierten Götter zu verwandeln. Seinen Nachteil und ökono-mischen Preis hat das neue Herrschaftsverhältnis darin, daß es an dieStelle des alten, als Repräsentant des Toten figurierenden, autochthonenHerrn und seines bescheidenen Anhangs, seines vergleichsweise kleinenGefolges, eine ganze, um den neuen Herrn gescharte Gemeinde, eine ausder siegreichen Stammesgruppierung, dem Erobererstamm sich rekrutie-rende Oberschicht treten läßt, deren schichtspezifische Versorgung undstandesgemäße Ausstattung eine nicht nur absolut umfänglichere Über-flußproduktion erheischt, sondern auch relativ größere Reichtummengenverschlingt als aller totenkultliche Aufwand für die Residenz des Toten,alle Überflußexpedition ins Jenseits jemals zuvor.

In der Tat ist faktische Voraussetzung für die mit der theokratischen Ge-sellschaft als Stratifizierung eingeführte durchgängige “Arbeitsteilung”zwischen einer reichtumproduzierenden bäuerlich-handwerklichen Un-terschicht und einer den produzierten Reichtum konsumierenden aristo-kratisch-kriesghandwerklichen Oberschicht eine entsprechend gesteiger-te Produktivität der als unteres Stratum rekrutierten reichen Stämme, dasheißt deren Fähigkeit, ein gesellschaftliches Mehrprodukt zu erzeugen,das groß genug ist, um statt des eigenen autochthonen Herrn und seinesunmittelbaren Anhangs einen fremden Herrscher mit seinem ganzenStamm, eben die als oberes Stratum sich etablierende Erobererschar, zuerhalten und standesgemäß zu versorgen. Von dieser die Voraussetzungfür die Gründung der theokratischen Gesellschaft bildenden Produkti-vitätssteigerung zeugt, wie erwähnt, die schon vorher von den reichenStämmen der Ebene und des Schwemmlands an den Tag gelegte Bereit-schaft, sich einer lockeren, quasi informellen, mittels Überfall und Raubpraktizierten Ausbeutung durch die armen Stämme der Wüste und derBerge zu fügen. Der in solcher Bereitschaft sich bekundende Verzicht der

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reichen Stämme auf Gegenwehr ist Ausdruck ihres bewußtlosen Kalküls,daß die Arbeit, die zur Erhaltung des bestehenden Reichtums aufge-wendet und ins Kriegshandwerk gesteckt werden müßte, besser undnutzbringender angewandt ist, wenn sie statt dessen unter Inkaufnah-me der regelmäßigen Reichtumsverluste in die produktiven Tätigkeitengesteckt und zur Erzeugung neuen Reichtums verwendet wird – und in-sofern Beweis für den hohen, zu häufigen Tributleistungen und halbwegsregelmäßigen Abgaben durchaus bereits disponierenden Produktivi-tätsstand der reichen Stämme. Zugleich trägt dieser eine periodischeAusplünderung in Kauf nehmende Gewaltverzicht der reichen Stämmedadurch, daß er ihnen erlaubt, sich auf ihre produktiven Tätigkeiten zubeschränken und zu konzentrieren, seinerseits zu einer weiteren Erhö-hung ihrer Produktivkraft bei, so daß irgendwann der Punkt erreichtist, an dem das Mehrprodukt groß genug ist, um den armen Stämmennicht nur ein periodisches Zubrot, sondern einen dauernden Unterhaltzu bieten, und an dem durch Verwandlung der ambulanten Räuber instationäre Ausbeuter die theokratische Gesellschaft ins Leben tritt.

Ist demnach eine vergleichsweise hohe Produktivkraft der reichenStämme bereits Voraussetzung für die in der Stratifizierung der theokra-tischen Gesellschaft gestaltgewordene strikte “Arbeitsteilung” zwischender reichtumproduzierenden agrarisch-handwerklichen Unterschicht,die sich aus jenen reichen Stämmen rekrutiert, und der reichtumkon-sumierenden aristokratisch-kriegshandwerklichen Oberschicht, als diesich die Stammesgruppe der armen Eroberer etabliert, so wirkt sich nundie strikte Arbeitsteilung selbst noch einmal als ein wesentlich produk-tivitätssteigernder Faktor aus und läßt im unauflöslichen Zirkel einevermehrte Reichtumproduktion als Konsequenz wie als Kondition dergesellschaftlichen Neugründung erscheinen. Jener Mechanismus einerin der Reduktion und Konzentration auf die produktiven Tätigkeitenbeschlossenen Entfaltung der Produktivkraft, der bereits vor Gründungder stratifizierten Gesellschaft als die geheime Ratio der von den reichenStämmen gegenüber den räuberischen Ansprüchen ihrer armen Nach-barn bewiesenen Fügsamkeit am Werk ist, kommt auch nach vollzogenerGesellschaftsstiftung keineswegs zum Erliegen, sondern setzt sich imGegenteil in dem Maß noch verstärkt fort, wie nach der Stratifizierungder reichen Stämme zur Unterschicht deren Reduktion und Konzentra-tion auf die Arbeit aus einem halbwegs freiwillig geübten Tun, einem

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aus Eigeninteresse intendierten gewohnheitsmäßigen Verhalten zu einergänzlich von anderer Seite verfügten Haltung, einem vom Fremdinteressediktierten frondienstlichen Zwangsverhältnis wird und wie also in derKonsequenz der institutionalisierten Arbeitsteilung ihre Präokkupationmit der Produktion von Reichtum sich aus einer durch eigennützigeKalkulation ihnen aufgedrungenen habituellen Einstellung und Neigungin eine durch herrschaftliche Gewalt ihnen aufgezwungene existentielleFestlegung und Verpflichtung verwandelt. Weil die von der Oberschichtmit Gewalt durchgesetzte frondienstliche Verpflichtung der Unterschichtzur Arbeit auf die Ausschaltung aller anderen sonst etwa noch vorhande-nen, lebenspraktischen Rücksichten und lebenszyklischen Perspektivenund auf die uneingeschränkte Dominanz des einen herrschaftlich dekre-tierten Interesses an vermehrtem Reichtum hinausläuft, kann sie gar nichtumhin, sich sowohl qualitativ, nach dem Maß der in die Arbeit inves-tierten Kraft, als auch quantitativ, nach dem Umfang der an die Arbeitgewendeten Zeit, im Sinne einer ebenso nachdrücklichen wie anhalten-den Steigerung der Produktivität auszuwirken. Aber nicht nur nötigtdie im Rahmen der theokratischen Gesellschaft praktizierte “Arbeits-teilung” die Unterschicht zu einer nachdrücklich erhöhten Produktionvon Reichtum, sie ermöglicht auch und mehr noch der Oberschicht ei-ne nachhaltig verbesserte Appropriation des produzierten Reichtums.Ein und dasselbe direkte Gewalt- und definitive Kontrollverhältnis, indem die theokratische Gesellschaft agrarisch-reiche und kriegerisch-armeStämme zusammenschließt, ermächtigt nicht nur die zur Oberschichtavancierten letzteren zur frondienstlich-systematisierten Inanspruchnah-me der reichtumproduzierenden Arbeit der zur Unterschicht nivelliertenersteren, sondern erlaubt ihnen darüber hinaus auch eine herrschaftlich-totalisierte Inbesitznahme des von den ersteren produzierten Reichtums.Indem reiche und arme Stämme sich zur stratifizierten, “arbeitsteiligen”Funktionseinheit von reichtumproduzierenden Gemeinen und reich-tumkonsumierenden Edlen verbunden finden, werden die letzteren ausperiodisch einfallenden Räubern, die das jeweils gerade vorhandeneReichtumprodukt mitgehen heißen, zu kontinuierlich anwesenden Nutz-nießern, die Verfügung über die gesamte Reichtumproduktion erlangen,und verwandelt sich mithin ihr Zugriff aus einer improvisierten, denÜberfluß bei Gelegenheit und aufs Geratewohl entwendenden Konfis-kation in eine organisierte, ihn planmäßig und umfassend eintreibendeAppropriation.

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Die Folge dieses in der “Arbeitsteilung” der theokratischen Gesell-schaft implizierten Zugleich von Intensivierung der Reichtumerzeugungdurch die Unterschicht und Systematisierung der Aneignung des er-zeugten Reichtums durch die Oberschicht ist eine ebenso anhaltende wiesprunghafte Hebung des Lebensstandards der letzteren. Mit immer mehrReichtum versorgt, der ihr immer umfassender und uneingeschränkterzur Verfügung steht, führt die aus den Eroberern hervorgegangene undum den priesterköniglich neuen Herrn versammelte Aristokratie einLeben im Überfluß, schöpft sie aus dem Vollen. Tatsächlich aber droht sievon der Masse der landwirtschaftlichen und handwerklichen Güter, mitdenen die frondienstliche Arbeit sie eindeckt, zugeschüttet zu werden,läuft sie Gefahr, in der Hülle und Fülle der Lebensmittel, die ihr dankder Produktivkraft der Unterschicht zufließen, zu ertrinken. Schließ-lich ist, was die Oberschicht an Nahrungsmitteln und Gebrauchsgüternverzehren oder als Vorrat halten kann, ebensosehr durch ihr eigenesKonsumbedürfnis und Fassungsvermögen wie durch die Haltbarkeitbeziehungsweise Speicherfähigkeit der Dinge selbst beschränkt. Undschließlich steht die Möglichkeit einer Abfuhr des Überflusses durchtotenkultliche Verjenseitigung ja einer theokratischen Gesellschaft nichtmehr zur Disposition. Übersteigen deshalb die von der Unterschichtproduzierten Überschüsse dauerhaft das von der Oberschicht konsu-mierbare beziehungsweise speicherbare Quantum, so verwandelt sichentweder das Herrengut in nutzlosen Abfall oder aber es fließt zurück andie Unterschicht und untergräbt deren doch gerade auf die Abgabe allerfür die eigene unmittelbare Subsistenz nicht erforderlichen Überschüsseeingerichtete frondienstliche Moral und produktive Armut. Um dieserin der infinit quantitativen Anhäufung von Reichtum angelegten realabsurden Konsequenz beziehungsweise sozial riskanten Redundanz zubegegnen, bildet die Aristokratie qualitativ neue Komfort- und Luxus-bedürfnisse aus, entwickelt sie schichtspezifisch aparte Reichtumsvor-stellungen, die geeignet sind, überschüssige Produktivität abzuschöpfen,das Zuviel an Arbeitskraft zu binden. Die Abschöpfung der Produktivitätgeschieht dabei teils indirekt dadurch, daß große Quanten des produ-zierten herkömmlichen Reichtums auf dem Handelsweg gegen fremde,seltene, prestigeverleihende Güter, Spezereien, Mineralien, exotische Höl-zer, ausgetauscht, mithin für neue, symbolische, durch aristokratieinterneKonvention kreierte Formen von Reichtum drangegeben werden, teils

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auf direkte Weise und vornehmlich dadurch, daß Arbeitskräfte von derherkömmlichen Gütererzeugung abgezogen und für die Produktion vonoberschichtspezifischem Reichtum, für die Schaffung eines Ambiente ein-gesetzt werden, das einer aristokratieeigenen Lebensführung entspricht.So umgibt sich die Oberschicht mit einer umfänglichen Dienerschaft, läßtsich weiträumige, komfortable Paläste errichten, kostspielige Einrich-tungen und elegante Innendekors anfertigen, aufwendige Barken undrepräsentative Karossen zimmern, ausgedehnte, pflegeintensive Parksanlegen, durch eine opulente, erlese Küche beköstigen.

Und jene gesammelten Anstrengungen zur Kanalisierung der sprung-haft ansteigenden gesellschaftlichen Produktivität und Bewältigung desihr entspringenden Überflusses haben nun wiederum eine wachsendeKluft, eine objektive Entfremdung zwischen Ober- und Unterschicht zurFolge,die in dem Maß, wie sie die erstere und ihren Lebenswandel hinterder abweisenden Fassade des spezifischen Reichtums den Blicken derletzteren entzieht, diese selbst von aller Erfahrung solchen Lebens imÜberfluß fernhält und auf die Wahrnehmung des eigenen, von der Reich-tumproduktion zunehmend verschiedenen agrarisch-handwerklichenSubsistenzzusammenhangs einschränkt. So sehr sie, die Unterschicht esist, die die Paläste errichtet, die Dekors anfertigt, die Barken zimmert,die Parks anlegt, die Dienerschaft stellt, kurz, den Reichtum schafft, indem die Oberschicht sich einrichtet und ihr apartes Leben führt, ihrenspezifischen Luxus entfaltet, so sehr findet sie sich, kaum daß sie ihn insWerk gesetzt hat, von diesem spezifischen Reichtum ausgeschlossen, vorseine festgefügten Mauern verbannt und an ihre eigene, traditionelle Sub-sistenzsphäre, ihren eigenen, unspezifischen Lebensunterhalt, ihre eigene,unaufwendige Bedürfnisbefriedigung zurückverwiesen. Soweit sie nichtals Dienerschaft Aufnahme findet und zum integrierenden Bestandteilder aristokratischen Existenzweise wird, sieht sich die Unterschicht vondiesem durch ihrer eigenen Hände Arbeit errichteten und kunstreichgegen die Außenwelt abgeschirmten Bereich der Oberschicht definitivausgesperrt und erfährt ihn als eine ebenso unnahbar distante und un-durchdringlich aparte wie unausweichlich präsente und unübersehbarakute Realität, mit anderen Worten wie ein mitten im Diesseits etabliertesJenseits, eine inmitten der Immanenz raumgreifende Transzendenz. Inder Tat ist es der eigentümliche Effekt der Elaboration des Reichtumszum exklusiven Milieu und zur distinktiven Lebensart einer um den

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Priesterkönig gescharten Aristokratie, daß in dieser seiner neuen Fassungder Reichtum analoge Züge zum plutonisch-unterweltlichen Herrengutund thesaurisch-totenkultlichen Domizil von einst herauskehrt und daßinsofern die Kluft, die er zwischen den Schichten der theokratischenGesellschaft aufreißt und befestigt, Vergleichbarkeit gewinnt mit der beialler räumlichen Angrenzung unüberbrückbaren Distanz und bei allertopischen Zuordnung abweisenden Diskretheit, in der damals der reich-tumproduzierenden Welt der Lebenden das den Reichtum reklamierendeTotenreich entgegentrat. Was dort die zum chthonischen Hort, zum pluto-nischen Schatzhaus sich niederschlagende räumlich-topische Separationdes Reichtums bewirkte, das ist hier Folge der in luxuriösen Palästenund exotischen Gärten sich artikulierenden lebensartlich-spezifischenApartheit des Reichtums selbst. Weil der neuartige Überfluß, den dieUnterschicht hervorbringt, Bedürfnissen dient, die per definitionem ihreraristokratischen Bestimmtheit mit denen der Unterschicht ebenso wesent-lich unvermittelt wie qualitativ verschieden von ihnen sind und derenBefriedigung deshalb in der Entfaltung des Überflusses zu einer vom Sub-sistenzzusammenhang der Unterschicht abgehobenen, in sich geschlos-senen Totalität und medial verkapselten Sphäre resultiert, nimmt, was sodurch die Arbeit der Unterschicht als Milieu für die Oberschicht entsteht,zwangsläufig Züge eines auf dem Boden des Diesseits raumgreifendenJenseits, einer mitten in der Immanenz ausbrechenden Transzendenz an.

Damit endet die Analogie allerdings auch schon. Sosehr sich nämlichdas aparte Ganze der aristokratischen Lebensart und das separate Systemdes plutonischen Totenkults in der charakterologischen Wirkung ähnlichsein mögen, so unähnlich bleiben sich beide doch aber ihren ätiologi-schen Bedingungen nach. Wie oben ausgeführt, diente die räumlich-topische Separation des Reichtums im Totenkult dazu, eine unendlichschlimmere und fatalere Trennung, nämlich den im Todesfall drohen-den Abgang des Herrn des Reichtums in die unbedingte Indifferenzanteriorischer Verschiedenheit, seinen zu gewärtigenden Austritt in dieabsolute Negativität apriorischen Andersseins, zu verhindern. Um zuverhüten, daß kraft solcher Negativität der tote Herr des Reichtums denverheerenden Sinn einer die Welt der Lebenden als solche entwirkli-chenden Gegenmacht gewinnt, die vernichtende Bedeutung einer dieStammessphäre überhaupt entwertenden Revisionsinstanz annimmt,beeilte sich die Stammesgemeinschaft, jene ontologische Verschiedenheit,

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in die er sich abzusetzen drohte, als vielmehr das räumlich angrenzendeJenseits der Unterwelt zu lokalisieren, diesen unterirdisch-jenseitigenOrt und totenweltlich-transzendenten Topos mit Reichtum aus irdischerProduktion auszustaffieren und darin dem Toten als einem in relati-ver Kontinuität zu seiner früheren Position verhaltenen plutonischenFürsten einen bleibenden Aufenthalt und haltbar residentiellen Statuszuzuweisen. Auch wenn dieser Versuch der Arretierung des Toten ineinem räumlichen Jenseits insofern fehlschlug, als die Aufrechterhaltungjener relativen Kontinuität zwischen irdischem Diesseits und unterirdi-schem Jenseits einen sinnlos haltlosen Abfluß von Reichtum oder absurdkatabolischen Überflußtransfer aus der Welt der Lebenden ins Toten-reich nötig machte, und auch wenn deshalb die Stammesgemeinschaftverständlicherweise alles daransetzte, solch katabolischer Exzentrik undVerausgabung durch eine mittels irdischen Statthalters des Toten erwirkteRezentrierung im Diesseits zu entrinnen, war ihrem Motiv und Prinzipnach die totenkultliche Separation des Reichtums ein im Interesse allergelegenes Unterfangen. Als Ausdruck des Bemühens, der die ganze Stam-messphäre mit Disqualifizierung bedrohenden Negativität apriorischenAndersseins durch die Reduktion des Andersseins auf eine als topischeAlternative erkennbare Transzendenz zu begegnen, war die Verwendunggesellschaftlichen Reichtums zur Errichtung einer separaten plutonischenResidenz und eigenen mausoleischen Wohnstatt für den Toten ein allebetreffendes Anliegen, eine alle engagierende Aufgabe. Nicht so bei denPalästen für die um den Priesterkönig gescharte Aristokratie! Anders alsdie totenkultliche Separation des Reichtums in der Stammesgemeinschaftdient das lebensartliche Apartwerden des Reichtums in der theokrati-schen Gesellschaft nicht etwa der Verhütung, sondern im Gegenteil derBewahrung einer Kluft und Trennung. Und anders als die totenkultlicheVerhütung der Trennung liegt diese lebensartliche Bewahrung der Kluftnicht im Interesse der ganzen reichtumproduzierenden Gemeinschaft,sondern ist einzig und allein im Sinne einer Fraktion der Gesellschaft,nämlich der um den Priesterkönig gescharten aristokratischen Nutz-nießer des Reichtums. Was die Aristokratie mit dem totenkultanalogen,lebensartlichen Apartwerden des Reichtums abzuwenden sucht, ist diedurch den Zuwachs an Produktivkraft, den die stratifizierte Gesellschaftmit sich bringt, heraufbeschworene Gefahr eines Zuviel an traditionel-len Reichtümern, das entweder die Kategorie als solche kompromittiert

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und Reichtum zum Synonym für nutzlosen Abfall, Überfluß gleichbe-deutend mit überflüssig werden läßt, oder aber die Arbeitsmoral derUnterschicht unterminiert, indem die Reichtümer an ihre Produzentenzurückfließen und zur wohlfeilen Habe aller, zum Gemeingut werden.Um dieser Gefahr einer inflationären Redundanz zu wehren, entwickeltdie Aristokratie qualitativ neue Luxusbedürfnisse und spezifisch andereKomfortansprüche, die, um den Preis allerdings eines totenkultanalogenApartwerdens des Reichtums, geeignet sind, durch indirekte oder direk-te Abschöpfung von Produktivität den Reichtum als Maß und ihr, derAristokratie, die Verfügung über dies Maß zu erhalten. Das heißt also,es wird nicht wie bei der totenkultlichen Separation des Reichtums eineKluft zwischen diesseitigen Produzenten und jenseitigem Konsumentendes Reichtums in Kauf genommen, um eine ontologisch verheerendereTrennung und vernichtendere Verabschiedung des letzteren von denersteren zu verhindern und eben in Form des Totenkults dennoch eineArt von Zusammenhang zwischen beiden aufrechtzuerhalten. Vielmehrwird im Gegenteil um der Aufrechterhaltung einer als “Arbeitsteilung”bestehenden gesellschaftlichen Trennung willen deren Vertiefung zurtotenkultanalogen Kluft betrieben, wird mithin in Kauf genommen, daßbloß zum Zwecke der Wahrung des nach Position und Funktion ge-gebenen Unterschieds zwischen reichtumproduzierender Unterschichtund reichtumkonsumierender Oberschicht dieser Unterschied mittelszunehmender Apartheit des Reichtums mehr und mehr die Züge einerallen Zusammenhang zwischen den Schichten verleugnenden und dasnormale schichtspezifische Distinktiv zum totalen lebenssphärischenDisjunktiv entfaltenden unüberbrückbaren Verschiedenheit annimmt.

Wie sollte wohl diese Entwicklung die Zustimmung der Unterschichtfinden, sie zum Engagement bewegen, von ihnen als eigenes Anliegenwahrgenommen werden können? Ist nicht das, was der als Oberschichtetablierte kriegerische Eroberer und sein Stammesgefolge den als Unter-schicht rekrutierten reichen Stämmen anfänglich gebracht haben, geradedie Befreiung vom Joch einer ad infinitum jenseitsorientierten Reichtum-produktion, die Erlösung vom Zwang einer totenkultlich entfremdetenÜberflußerzeugung gewesen? Hat nicht eben darin die wesentliche Leis-tung der um den Priesterkönig gescharten Aristokratie bestanden, daßihr durch die Entmächtigung der als tote Herren des Reichtums ver-schiedenen Stammesfürsten zu anonym-ätherischen Unsterblichen und

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plural-olympischen Göttern gelungen ist, den gesellschaftlichen Reich-tum der Verfügungsgewalt des Diesseits zu revindizieren, ihn in denHänden der Lebenden neu zu zentrieren? Und muß von daher dies, daßes die Verfügungsgewalt des Priesterkönigs ist, der sich der ins Diesseitszurückgewendete Reichtum anheimgibt, daß es die Hände des priester-königlichen Gefolges sind, in denen sich der dem Leben zurückgegebe-ne Überfluß sammelt, der Unterschicht nicht zwangsläufig als der demPriesterkönig und seinem Stammesgefolge gewährte Lohn für die vonihnen vollbrachte Entmächtigung der plutonischen Toten zu olympischenGöttern und Befreiung der Menschen vom Wiederholungszwang einertotenkultlichen Katabole des Reichtums erscheinen? Muß die Bereitschaftder Unterschicht, für den Priesterkönig und sein ganzes Gefolge, eineganze eigene Schicht, zu fronen, nicht wesentlich an jene Entmächti-gungsleistung und also daran geknüpft sein, daß ihr fortan jedenfallserspart bleibt, endlos gesellschaftlichen Reichtum für ein den Reichtumthesaurisch-exklusiv entwendendes Jenseits zu produzieren? Wenn jetztdie um den Priesterkönig gescharte Aristokratie, um sich den Reichtumals den ihren zu erhalten, an diesem eben die totenkultliche Separati-on, vor der sie ihn bewahren soll, in der analogen Form lebensartlicherApartheit wieder hervortreten und zur hier und jetzt spezifischen Bestim-mung werden läßt, vergeht sie sich dann nicht augenscheinlich gegenden stillschweigenden Leistungsvertrag, auf dem die Schichtung und“Arbeitsteilung” der theokratischen Gesellschaft basiert? Streicht dieAristokratie dann nicht den Lohn ein, ohne die gebührende Leistung zuerbringen, oder schlimmer noch, während sie die Leistung, für die sie denLohn sich verdient hat, selber wieder zunichte macht und nämlich unterdem Deckmantel der definitiv-topischen Diesseitigkeit des Reichtumseine qualitativ-systematische Wiederherstellung des Moments von Jen-seitigkeit am Reichtum betreibt, in dessen Beseitigung doch gerade ihreLeistung bestand? Und fügt sie dann also nicht zur Fron, die sie von derUnterschicht fordert, noch den Hohn hinzu, daß sie die Fron für nichtsund wieder nichts fordert, nämlich für die Schaffung einer ihre Erzeugerempirisch abweisenden, ihre Schöpfer systematisch ausschließenden Weltdes totenkultähnlich aparten Reichtums, die von der früheren totenkultli-chen Separation des Reichtums, die sie erübrigen soll, am Ende nur diesunterscheidet, daß sie allen als Verhütung einer schlimmeren Trennungakzeptablen guten Grunds ermangelt?

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Das Ressentiment, das die Unterschicht gegen die totenkultanaloge aristokrati-sche Sphäre hegt, sieht sie in der Negativität des ex improviso des Opfers erschei-nenden anderen Subjekts zu objektiver Geltung gebracht, wobei die zwischenaristokratischer Reichtumsphäre und agrarischem Subsistenzbereich aufgerisseneKluft es ihr ermöglicht, jener an sich gegen die theokratische Gesellschaft intoto gerichteten Negativität die fälschliche Bedeutung einer ausschließlich aufdie aristokratische Lebensform gemünzten und positiv Partei für die agrarischeLebensweise ergreifenden Haltung zu geben. Dagegen, daß der Priesterkönigihren Herrn und Helden, statt ihn als die von Negativität erfüllte wahre Iden-tität der Götter anzuerkennen, vielmehr zum sakrilegischen Störer erklärt undsakrifiziert, ist die Unterschicht zwar machtlos; aber erstens hat sie die Genug-tuung, daß der Sakrifizierte auch Teile der verhaßten Reichtumsphäre mit inden Untergang reißt, und zweitens bleibt ihr der Triumph eines im Zuge derständigen Wiederholung des Opferversuchs ebenso ständigen Wiedererscheinensihres epiphanischen Herrn.

Keinen Anlaß also hat die reichtumproduzierende Unterschicht, derzu lebensartlicher Apartheit sich entfaltenden aristokratischen Sphäre,die sie hervorbringt, grün zu sein. Allen Grund hat sie vielmehr, diesemtotenkultartig angelegten Bereich, der mit seinen ummauerten Palästen,seinen umhegten Gärten, seinen von der Außenwelt abgeschirmten Vor-gängen inmitten des Diesseits Raum greift und eine ebenso exklusivewie penetrante Präsenz gewinnt, gegenüberzustehen. Nach vollbrach-tem Werk abgewiesen und ausgeschieden von der als totenkultähnlicheLebensform in sich kreisenden Reichtumsphäre der Edlen und an seineunmittelbare Subsistenzweise als an das non plus ultra diesseitiger Wirk-lichkeit zurückverwiesen, erfährt das gemeine Volk mit zunehmendemRessentiment teils den Unterhalt jener Reichtumsphäre als eine seinereigenen Subsistenzweise aufgehuckte sinnlos-sukkubische Belastung,teils jene Reichtumsphäre selbst als eine auf die diesseitige Wirklichkeitaufgenommene funktionslos-gespenstische Hypothek. Und es ist ge-nau dieses Ressentiment der Unterschicht gegen die zu lebensartlicherApartheit verkapselte Reichtumsphäre der Oberschicht, das im Opfereine unverhoffte Bestätigung findet und eine unplanmäßige Artikulationerfährt. Wie das Ressentiment der Unterschicht ist auch das Opfer der umden Priesterkönig gescharten Opfergemeinde Reaktion auf den Prospekteiner neuerlichen Verjenseitigung des Reichtums, eines Rückfalls in den

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Totenkult. Allerdings ist, was das Opfer abzuwehren dient, nicht sowohldie Verjenseitigung des Reichtums in der metaphorischen Bedeutungseiner Spezifizierung zur aristokratischen Lebensform, nicht sowohl sei-ne totenkultanaloge Entfaltung zu einer aparten Sphäre im Diesseits,sondern vielmehr die Gefahr einer Verjenseitigung des Reichtums imWortsinn, einer Wiederherstellung totenkultlicher Verhältnisse im vollenVerstand und ganzen Ausmaß der früheren räumlich-topischen Separa-tion des Reichtums. Diese Gefahr eines Rückfalls in den Totenkult sansphrase ergibt sich, wie oben ausgeführt, aus der materialiter schranken-losen Prokura des als Stellvertreter der Götter auf Erden fungierendenPriesterkönigs: In dem Maß, wie hinter der umfassenden priesterkö-niglichen Verfügungsgewalt über den Reichtum die Götter selbst, diezu ätherischer Anonymität und olympischer Pluralität verflüchtigtenjenseitig wahren Herren des Reichtums, in Vergessenheit zu geraten dro-hen, macht der Priesterkönig Miene, jene legitimationslos-diktatorischePosition und grundlos-dominante Funktion als diesseitiger Herr desReichtums zurückzugewinnen, die ihn im Todesfall dazu disponiert, zumAdressaten neuerlicher plutonisch-katabolischer Reichtumszuwendun-gen, kurz, zum Objekt eines neuen Totenkults zu werden. Und dieserGefahr sucht die theokratische Gesellschaft mittels Opfer zu begegnenund dadurch also zu wehren, daß sie den Priesterkönig antreibt, den jen-seitig wahren Herren des Reichtums coram populo Präsente zu machenund vor aller Augen Tribut zu zollen, um sie dem drohenden Verges-sen zu entreißen und ihnen eine attributiv haltbare Sinnenfälligkeit zuverleihen. Oder vielmehr ist es, wie nach den vorhergegangenen Aus-führungen zur gesellschaftlichen Stratifizierung unschwer einzusehen,nicht die theorkatische Gesellschaft als ganze, sondern wesentlich undprimär die Oberschicht, die sich darum bemüht, durch die repräsentativeAnwesenheit der jenseitig wahren Herren des Reichtums und durch dasattributive Andenken an sie den Priesterkönig auf die Stellung eines legi-timiert weltlichen Überflußverwalters zurückzustauchen und vor allemAusbruch in totenkultträchtige hybride Selbstmächtigkeit zu bewahren.Ihr, der vom Reichtum “arbeitsteilig” profitierenden, den Reichtum alsLebensform realisierenden Aristokratie, ist primär daran gelegen, denReichtum nicht wieder zur, wie man will, Konkurs- oder Dispositions-masse eines durch sein Ausscheiden aus dem Diesseits die Etablierungim Jenseits erzwingenden hybriden Selbstherrschers werden zu lassen.

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Und sie, die interessierte Aristokratie, schart sich deshalb als Opferge-meinde um den Priesterkönig und drängt ihn, durch handgreiflich-realeBeweise und sinnenfällig-materiale Zeichen seiner Anerkennung desnominalen Besitzanspruchs der Götter auf den Reichtum, kurz, durchOpfer, sich selber in der ebenso definierten wie autorisierten, der ebensobeschränkten wie bevollmächtigten Funktion eines irdischen Statthaltersder überirdisch wahren Herren des Reichtums sicherzustellen.

Die Unterschicht hingegen steht am Rande des Opfergeschehens undschaut von dort mit gemischten Gefühlen, einer unauflöslichen Mischungaus Interesse und Ressentiment, zu. Nicht, daß nicht auch sie interessiertdaran wäre, den Reichtum vor seiner Verwandlung in einen plutonisch-katabolischen Dispositionsfonds für seinen mit Tode abgegangenen an-maßlichen Prokuristen, seinen diesseitsflüchtigen hybriden Verwalter,kurz, vor neuerlicher totenkultträchtiger Entwendung und Verjenseiti-gung zu bewahren! Und nicht, daß nicht deshalb auch sie ein Interesseam Gelingen des Opfers hätte, ein Interesse daran, daß es gelingt, kraft re-präsentativen Anwesens der wahren Herren des Reichtums den letzterenselbst in der Bedeutung einer dem Priesterkönig zu treuen Statthalter-händen übergebenen definitiv diesseitigen Prokura zu garantieren! Aberweil das, was damit gewährleistet wird, die Diesseitigkeit des Reich-tums eben nur in seiner arikstokratisch-jenseitsförmigen Beschaffenheit,seiner lebensartlich-totenkultanalogen Apartheit ist, hält sich die Begeis-terung der Unterschicht in Grenzen und weicht vielmehr tiefem Unwillenüber die das Diesseits zerreißende Kluft, die im Zerfall der Immanenzresultierende Verschiedenheit zwischen dem Reichtum in seiner sphä-risch aparten Form und ihrer eigenen, auf sich selber zurückgeworfenenagrarisch-traditionellen Lebens- und Subsistenzweise. Mag das dem Op-fer peripher beiwohnende gemeine Volk formell am Gelingen des Opfersnoch so interessiert sein, reell kann es sich davon nichts weiter erwartenals eine Konsolidierung jener um den Priesterkönig organisierten eigenenWelt des Reichtums, eine Bestätigung jener um ihn gruppierten aristokra-tisch geschlossenen Gesellschaft, die es mit wachsendem Widerstrebenals einen seinem Dasein aufgehuckten Fremdkörper und Inkubus aushält.

Und genau diesem Widerstreben, von dem die Unterschicht erfülltist, verhilft nun aber das Opfer durch die überraschende Wendung, diees nimmt, zu einer unverhofften Artikulation und einem unerwarteten

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Fürsprecher. Entgegen seiner Bestimmung, die Götter zur repräsenta-tiven Anwesenheit zu bringen, entfaltet, wie ausgeführt, der als Opferdargebrachte Reichtum plötzlich seine alte Konstitutionskraft und läßtals generativer Erscheinungsort seine jenseitig wahren Herren in allerLeibhaftigkeit präsent, als epiphanischer Schauplatz seine transzendentwirklichen Eigner offenbar werden. Und zwar läßt er sie offenbar werdennicht in ihrer distant-jenseitigen Form als ätherisch-anonyme Unsterbli-che und olympisch-plurale Götter, sondern in der penetrant-diesseitigenGestalt des irdisch-singularen Indviduums, mithin als jenes unbedingtandere Subjekt von vormals, das wegen seiner fundamental perspekti-vendurchkreuzenden Bedeutung dazu zwang, es einer mythologischenUminterpretation, nämlich der beschriebenen folgenreichen Revisionzu unterwerfen, in deren totenkultlich vermittelter letzter Konsequenzes dann in die Anonymität eines ätherischen Jenseits sich verflüchtig-te und zur Pluralität olympischer Transzendenz sich auflöste. Indemdank Opfersituation der dargebrachte Reichtum seine einstige monstra-tive Dynamik erneut hervorkehrt, legt das ex improviso des Opfers vorden Altar tretende andere Subjekt jene ihm beigebrachte Form anonym-pluraler Transzendenz ab und erscheint in der früheren Selbigkeit desin integrum restituierten unbedingten Seins im Vorhinein aller Reich-tumsentwicklung, in der alten Identität des in pristinum reduziertenabsoluten Anfangs im Voraus aller Überflußbildung. Und mit der altenIdentität beweist es natürlich auch seine alte Negativität. Das heißt, esmacht wie vormals Miene, ex anteriori seines restituiert ursprünglichenSeins die ganze Reichtumproduktion mitsamt dem auf sie eingerichtetengesellschaftlichen Organismus als phänomenalen Irrtum, als eine vonGrund auf abwegige und deshalb sinnvollerweise zuletzt sich selberrevozierende Orienterung bloßzustellen, schickt genauso wie einst sichan, a priori seiner repristiniert uranfänglichen Insistenz die gesamte Über-flußerzeugung einschließlich der auf sie abgestellten ökonomischen undpolitischen Institutionen als kapitale Illusion, als prinzipiell verfehltesund deshalb schließlich vernünftigerweise sich selber annullierendesBeginnen zu entlarven.

Und exakt diese Negativität, mit der das andere Subjekt dem qua Op-fer ausgestellten gesellschaftlichen Reichtum, aus dem es epiphaniert,begegnet, übt auf die am Rande des Opfergeschehens postierte und von

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dorther mit gemischten Gefühlen zuschauende Unterschicht eine gera-dezu elektrisierende Wirkung und schier unwiderstehliche Faszinationaus. Zutiefst zerfallen, wie sie ja ist, mit der zu lebensartlicher Apartheitentfalteten aristokratischen Reichtumsphäre, kann die Unterschicht garnicht anders, als in dieser Negativität des anderen Subjekts eine Artiku-lation und Bestätigung ihres eigenen, gegen jene Sphäre der Oberschichtsich regenden Ressentiments zu gewahren. Eben das, was der um denPriesterkönig gescharten Opfergemeinde den tiefsten Schrecken bereitetund als nackte Bedrohung gilt – daß nämlich die ex improviso des Opfer-reichtums in singularischer Person hervortretenden wahren Herren desReichtums von letzterem nur Besitz ergreifen, um ihn mit der Indifferenzin integrum restituierter Ursprünglichkeit dem Schicksal unbedingterIrrealität zu überantworten –, eben das stellt für die peripher postierteUnterschicht die schiere Verheißung dar. Den ganzen unterdrückten Zornund heimlichen Haß, den sie gegen den totenreichanalogen Fremdkörperjener ebenso exklusiven wie disjunktiven Überflußsphäre der Oberschichtund gegen die abweisende Apartheit der darin beschlossenen aristokrati-schen Lebensform angesammelt hat, sieht die Unterschicht in dieser Ne-gativität, die, aus dem jenseitigen Hinterhalt hervorbrechend, sein eigenerund eigentlicher Herr dem Reichtum beweist, plötzlich zum Ausdruckgebracht und, wenn schon nicht vernehmbar zur Sprache kommen, so je-denfalls wahrnehmbar Gestalt annehmen. Wo sie gerade noch gegenüberder geschlossenen Front jenes im Diesseits sich breitmachenden aristokra-tischen Lebenskreises auf dem verlorenen Posten ihrer als Ressentimentversteckten Widerstandshaltung und in sich gekehrten Gegnerschaftstand, da erwächst der Unterschicht mitten aus dem opferkultlichenZentrum der angefeindeten Sphäre ein autoritativer Bundesgenosse, derin höchsteigener Person und in Gestalt der unbedingten Indifferenz, mitder er jener Sphäre begegnet, deren fundamentale Ablehnung öffentlichvertritt und coram populo sinnenfällig werden läßt.

Dabei bietet für die offenkundige Unwahrheit und Manipulation, derensich die Unterschicht insofern schuldig macht, als sie jene vom anderenSubjekt an den Tag gelegte Haltung absoluter Negativität entgegen ihremwirklichen Totalitätsanspruch bloß auf die aristokratische Reichtum-sphäre bezieht und nicht auch auf den der Reichtumsphäre zugrundeliegenden eigenen Subsistenzbereich gemünzt sieht, die Kluft, die sichzwischen beiden etabliert hat, eine quasi natürliche Handhabe. Weil es

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die Eigentümlichkeit der zu lebensartlicher Apartheit sich entfaltendenÜberflußsphäre des Priesterkönigs und seines Stammesgefolges ist, jenenagrarisch-handwerklichen Produktionszusammenhang der Unterschicht,aus dem sie selber hervorgeht, rückwirkend von sich auszuschließen undin die Schranken eines ihr ebenso gleichgültigen wie äußerlichen Natur-fundaments zu verweisen, braucht die Unterschicht diesen Ausschluß-und Relegationsbescheid nur zu akzeptieren, um die das reichtumbe-zügliche Dasein in toto betreffende Negativität des anderen Subjektsauf die in falscher Totalisierung den Reichtumbezug sich vorbehalten-de aristokratische Sphäre beschränkt und das eigene Leben als eine infalscher Naturalisierung vom Reichtumbezug abgekoppelte und mitihm partout nichts zu schaffen habende Subsistenzform sui generis vonsolcher Negativität dispensiert wahrnehmen zu können. So wahr dievom Priesterkönig und seinem Gefolge okkupierte Reichtumsphäre selbstsich in lebensartlicher Apartheit von ihrem produktiven Unterbau abhebtund als totenreichanalog geschlossenes System, als in sich kreisendeSphäre, von ihm partout nichts mehr wissen will, so wahr braucht dieUnterschicht diese aristokratische Perspektive nur zu übernehmen, umsich in ihrem faktischen Dasein bar allen Reichtumbezugs behauptenund mithin den eigenen Bereich von der die Reichtumorientierung alssolche ereilenden Negativität des opferentsprungen anderen Subjekts un-betroffen gewahren zu können. Und nicht bloß für via directa unbetroffenvon der Negativität des als die wahre Identität der Götter erscheinen-den anderen Subjekts, sondern mehr noch für modo obliquo durch sieintendiert kann am Ende die Unterschicht ihren von der Reichtumsphä-re ausgeschlossenen unmittelbaren Subsistenzbereich halten! Ein unddieselbe Strukturalisierungsbewegung, die zwischen der zur Lebens-form sich totalisierenden aristokratischen Reichtumsphäre und dem aufsformlose Leben sich reduzierenden Subsistenzbereich der Gemeinen einegesellschaftlich unüberbrückbare Kluft aufreißt und beide in ausschlie-ßender Opposition einander gegenübertreten läßt, ergreift auch das mitseiner Irrealisierungsdrohung an sich aufs ungeschiedene Ganze dertheokratischen Gesellschaft und ihrer Reichtumorientierung gehendeandere Subjekt selbst und läßt – jedenfalls in den Augen der Opfer derStrukturalisierung – dessen von Negativität erfüllte Stellungnahme wieeinerseits explizit auf die Existenz der vom Reichtum Umfangenen undim Überfluß Eingeschlossenen sich beziehen, so andererseits zu einer

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von Affirmation getragenen, impliziten Parteinahme für das Dasein derim diametralen Gegensatz dazu vom Reichtum Abgeschnittenen undaus dem Überfluß Ausgeschlossenen geraten. Weil das theokratischeDiesseits selbst der ihm bezeigten Indifferenz des anderen Subjekts sich inder wesentlichen Differenz eines seine bäuerlich-produktive Grundlagevon sich ausschließenden und in der falschen Totalität eines als Sphä-re eigener Provenienz sich behauptenden herrschaftlich-konsumtivenReichtumbezugs präsentiert, kann der Unterschicht jene Indifferenz nichtnur explizit auf diese Totalität gemünzt, sondern mehr noch als Negationdes Negativen implizit darauf berechnet scheinen, ihre, der Unterschicht,ausgeschlossene Position als das nach Abzug der falschen Totalität infundamentaler Sichselbstgleichheit subsistierende Positive zur Geltungzu bringen. Und so kommt es denn, daß der Unterschicht das als wahreIdentität der Götter opferentsprungen andere Subjekt als ihr Mann sichvorstellen, ihr Erlöser und Retter erscheinen kann, der uno actu des inseiner Negativität gestaltgewordenen Versprechens, sie von der Last jenerihr aufgehuckten totenkultanalog-reichtumzentrierten, aristokratischenExistenz zu befreien, ihr zugleich auch verheißt, sie in dem spezifischenCharakter, den sie unter jener Belastung angenommen hat, im Charakternämlich einer von allem Reichtumbezug emanzipierten, sichselbstgleicheinfachen Subsistenz, zu sich kommen und den Plan behaupten zu lassen.

Allerdings bleiben gleichermaßen dieses Vesprechen und diese Ver-heißung, die das ex improviso des Opfers inszenierte andere Subjekt fürdie Unterschicht darstellt, geknüpft daran, daß es mit Fug und Rechtals das in leibhaftiger Personalität erscheinende diesseitig wahre Seinder bis dahin zu ätherischer Anonymität absentierten jenseitigen Herrendes Reichtums, als das in lebendiger Singularität auftretende immanentwirkliche Selbst der bislang zu olympischer Pluralität distanzierten tran-szendenten Überflußeigner dasteht. Nur wenn das andere Subjekt eximproviso der Opfersituation sich wirklich als das leibhaftige Originalund lebendige Integral der jenseitigen Herren des Reichtums präsen-tieren und mithin tatsächlich beanspruchen kann, das innerste Wesenund personale Zentrum der vom Priesterkönig zur Begründung seinerstatthalterischen Macht auf Erden und prokuristischen Verfügung überden Reichtum aufgeführten göttlichen Seinsordnung manifest werden zulassen, kann die Negativität, die es dem in den Opfergaben vom Priester-könig zur Schau gestellten Reichtum bezeigt, die von der Unterschicht

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ersehnte Bedeutung eines der priesterköniglichen Machtbasis als solcherdie Autorität verschlagenden, autoritativen Entrealisierungsverdikts,eines der aristokratischen Reichtumsphäre als ganzer die Legitimitätentziehenden, verbindlichen Disqualifizierungsakts gewinnen. Nur wennes die Götter in eigener Person sind, die im opferentsprungen ande-ren Subjekt indifferentistisch kurzen Prozeß mit dem ihnen als wahrenEigentümern vom priesterköniglichen Prokuristen per exemplum derOpfergaben ausgelieferten gesellschaftlichen Reichtum machen, kanndieser kurze Prozeß die von der Unterschicht imaginierte Wirkung einerdie priesterkönigliche Reichtumsphäre ebenso fundamental untermi-nierenden wie die an sie geknüpfte aristokratische Lebensform radikalsabotierenden Haupt- und Staatsaktion entfalten. Genau in diesem Punktaber beeilen sich nun die Betroffenen, der Priesterkönig und die als Op-fergemeinde um ihn gescharte Oberschicht, Vorkehrungen zu treffen odervielmehr Abhilfe zu schaffen, indem sie, wie geschildert, sich weigern,das andere Subjekt als die ex improviso der Opferhandlung erscheinendeepiphanische Identität der Götter zu realisieren, um es statt dessen unterBerufung auf die sakramental vorausgesetzte jenseitige Beschaffenheitund transzendente Natur der letzteren als deren aus dem Nichts auf-tauchenden dämonischen Wechselbalg dingfest zu machen. Dadurch,daß die Opfergemeinde auf den als Adressaten des Opfers vorgestelltenjenseitigen Herren des Reichtums als solchen insistiert und sich wei-gert, das der monstrativen Dynamik der Opferhandlung entspringendeandere Subjekt als die leibhaftige Wahrheit und singulare Wirklichkeitjener transzendenten Überflußeigner zur Kenntnis zu nehmen, münztsie dessen Auftreten vor dem Altar aus einem der Opfersituation ent-sprechenden Offenbarungs- und Selbstwerdungsereignis in einen ihrwiderfahrenden Enteignungs- und Fremdbestimmungsakt, aus einemdas Sakrifizium krönenden Sakrament in ein es durchkreuzendes Sakri-leg um und verwandelt mithin den Auftretenden selbst in einen – stattals die reine Sichselbstgleichheit der Götter vielmehr als deren schiererWidersacher firmierenden – sakrilegischen Eindringling und nefariösenStörenfried. Und gegen das so als heilloser Einmischer und räuberischerVerbrecher erkannte andere Subjekt kann nun die Opfergemeinde denPriesterkönig das Schlachtmesser schwingen lassen. Gegenüber demsolcherart ausgemachten sakrilegischen Schänder des heiligen Orts unddämonischen Widersacher der Götter kann sie der Opferhandlung jene

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blutrünstige Wendung geben, die den Darbringungs- und Weiheakt insSchlacht- und Sühneopfer verkehrt und nämlich mit dem Ziel, durch dieZerstörung des Störers der heiligen Handlung diese wiederherzustellen,durch die Vernichtung des Verneiners der sakralen Ordnung diese neu zubefestigen, aus dem würdigen Sakrifizium, dem weihevollen Darbringendessen, was den jenseitigen Herren des Reichtums konveniert und wasdie transzendenten Überflußeigner als solche zur Geltung bringt, dasblutige Sakrifizieren, das sühnende Wegschaffen dessen, was mit ihnenkonkurriert und was sie als solche in Frage stellt, werden läßt.

Was bleibt dem gemeinen Volk in seiner peripheren Stellung und exote-rischen Ausschließung anderes übrig, als diesem Straf- und Sühnegericht,das der Priesterkönig über das andere Subjekt abhält, tatenlos beizuwoh-nen? Der Uminterpretation, der im Verein mit der als Opfergemeindefirmierenden Oberschicht der Priesterkönig das andere Subjekt unterwirftund kraft deren er es aus dem ex improviso des Opfers auftretendenwirklichen Selbst der Götter in ihren ex nihilo ins Opfer einbrechendensakrilegischen Wechselbalg verkehrt, um es anschließend über die Klingeeines sakrifizierenden Strafgerichts und reinigenden Sühneakts springenzu lassen und als Schlachtopfer abzutun – dieser in den Konsequenzenfür das andere Subjekt fatalen Uminterpretation hat die Unterschichtnichts entgegenzusetzen. Schließlich liegt es denkbar nahe, dem als Ma-jordomus der Götter auf Erden fungierenden Priesterkönig neben seineruneingeschränkten praktischen Prokura in Ansehung der diesseitigenBelange seiner jenseitigen Vollmachtgeber auch eine gleichermaßen un-eingeschränkte theoretische Kompetenz im Blick auf deren überirdischeBeschaffenheit und jenseitige Identität einzuräumen. Wer, wenn nichter, der mit den Überirdischen auf dem relativ vertrauten Fuße seinerirdischen Stellvertreterfunktion lebende Priesterkönig, er, der das Opferan die Götter darbringt, durch die Transaktion mit ihnen verkehrt, solldarüber entscheiden können, ob jenes ex improviso des Opferreichtumserscheinende andere Subjekt in all seiner der Darbringung bezeigtenIndifferenz die diesseitig authentische Verkörperung der jenseitig wahrenHerren des Reichtums ist oder nicht ist? Und mit welchem Recht oderauf welcher Grundlage soll deshalb sie, die ineins von allem wirklichenUmgang mit dem gesellschaftlichen Reichtum und von allem möglichenKontakt mit dessen göttlichen Eigentümern ausgeschlossene und an diePeripherie gleichermaßen der Reichtumsphäre und des Opfergeschehens

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verbannte Unterschicht dem Priesterkönig sich widersetzen, wenn er imVerein mit seinem priesterköniglichen Gefolge dem anderen Subjekt allenAnspruch, der ex improviso des Sakraments erscheinende leibhaftigeGott zu sein, bestreitet, in ihm den offenbaren Eindringling, den ma-nifesten Fremdkörper sieht und beschließt, es der beleidigten Majestätder Unsichtbaren und der versehrten Integrität der ihnen geweihtenÖrtlichkeit, Zeit und Handlung zum Opfer zu bringen. Mag ihr vomRessentiment gegen die aristokratische Reichtumsphäre beflügeltes Ge-fühl der Unterschicht noch so sehr sagen, daß es der Herr des Reichtumshöchstpersönlich ist, der da erscheint, um über die aristokratische Sphäreden Stab seiner eigentümlichen Indifferenz und herrlichen Negativitätzu brechen – solange das epiphanische Ereignis selbst sich im Rahmendes Opfergeschehens abspielt, bleiben die theoretische Würdigung undpraktische Behandlung des Ereignisses in der Kompetenz und Hand desOpferbringers, des bevollmächtigten Stellvertreters der Götter, ihres auchund nicht zuletzt gegen epiphanische Anwandlungen und präsentativeErscheinungen mit bannkräftiger Prokura versehenen Repräsentanten aufErden.

Machtlos muß die Unterschicht also zusehen, wie an der Spitze seinesaristokratischen Gefolges der Priesterkönig der unsichtbaren Natur derJenseitigen deren ex improviso der Opferhandlung sichtbar gewordeneIdentität als vielmehr ein Vexierbild sakrifiziert, als einen sakrilegischenWechselbalg aufopfert, wie er damit ihre gestaltgewordene politischeHoffnung vereitelt, den objektiven Träger ihrer sozialen Befreiungsphan-tasien im handgreiflichsten Sinne des Wortes abtut. Machtlos muß siezusehen, wie der Priesterkönig jene Opfererscheinung blutig auflöst,liquidiert, die der Opferdynamik als solcher entspringt und die ihr, derUnterschicht, gleichermaßen die Artikulation ihrer gegen die aristokra-tische Reichtumsphäre gesammelten Ressentiments und die Verheißungihrer möglichen Emanzipation von jener Sphäre bedeutet. So schmerzlichfür sie dieser opferbedingte Verlust ihres opferentsprungenen politi-schen Artikulationsorgans und sozialen Hoffnungsträgers aber auch ist,es bleibt ihr dabei die kleine Genugtuung, daß zusammen mit dem alsReichtumverächter abgeurteilten anderen Subjekt auch ein Stück desReichtums selbst, eben das qua Opfer Dargebrachte, über die Klinge desSakrifizierens springen muß. Wie oben erkannt, verdankt sich diese Tota-lisierung der priesterköniglichen Straf- und Sühneaktion, diese Pauscha-lisierung des Strafgerichts, zu dem der Priesterkönig die Opferhandlung

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umfunktioniert, der wie immer bewußtlosen Einsicht, daß es tatsäch-lich ja der den Unsterblichen zum Präsent gemachte Opferreichtum ist,ex improviso dessen das als Tempelräuber, als sakrilegischer Frevlerausgemachte andere Subjekt erscheint, weswegen es allen guten Sinnbeweist, den ersteren unter dem Vorwand seiner durch das Auftauchendes letzteren bewirkten Kontaminierung und Desakrierung in dessenAbfertigung und Beseitigung einzuschließen, um so mit dem Wechsel-balg gleich auch den Schoß zu eliminieren, der ihn gebiert. So sehr fürPriesterkönig und Opfergemeinde dieser Einschluß des Opferreichtumsin die am anderen Subjekt vollzogene Straf- und Sühneaktion bloß dieBedeutung eines nach Möglichkeit gründlichen Aufräumens mit dem alsStörung der heiligen Handlung realisierten epiphanischen Ereignis hat,so sehr nimmt ihn nun aber die Unterschicht für eine Demonstration derschier unwiderstehlichen Zerstörungsmacht und kaum zu bändigendenNegativität, die das andere Subjekt gegen die aristokratische Reichtum-sphäre entfaltet. Was der um den Priesterkönig gescharten Oberschicht alseine rituelle Präventivmaßnahme, eine gezielte Vorkehrung des Opferersgegen die Wiederkehr des Geopferten, gilt, das erscheint ihr, der an diePeripherie des Geschehens verbannten Unterschicht, als ein aktuellerVergeltungsakt, ein im Augenblick seines Untergangs spontaner Triumphdes Sakrifizierten über die Macht seines Sakrifizierers. Getröstet sieht sie,wie die Macht der Negativität, die das andere Subjekt dem Opferreichtumbezeigt, den Priesterkönig am Ende dazu bringt, diesen Opferreichtumderselben Zerstörung anheimfallen zu lassen, der er, eigentlich um ihnsich zu erhalten, das andere Subjekt überantwortet.

Trost aber schöpft die Unterschicht vollends und vor allem aus derTatsache, daß sie ihren opferentsprungenen Helden und Vorkämpfer,Anwalt und Fürsprecher nach seiner durch die Überführung der Opfer-handlung aus einem sakramentalen Darbringungs- in einen sakrifiziellenHinrichtungsakt erfolgten Beseitigung gar nicht lange missen muß, weilbereits die nächste Opferhandlung ihn ihr wiederbringt, er ex improvisoder nächsten Darbringung von Opfergaben an die Götter erneut auf denPlan tritt. Und diese nächste Opferhandlung kommt ebenso gewiß wiebald, da ja die durch das Auftauchen des anderen Subjekts erzwunge-ne Überführung des Darbringungs- in einen Sakrifizierungsakt einemAbbruch des Opfervorgangs und Scheiterns seiner ursprünglichen Auf-gabe einer durch das attributive Zeugnis der Götter zu bewerkstelligen-den Fundierung der statthalterischen Macht des Priesterkönigs über den

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Reichtum gleichkommt und da nun, nachdem die vordringliche Gefahreiner Entgleisung der Opferhandlung zum konkursiven Offenbarungseidder Götter mittels Abbruch gebannt ist, jene ursprüngliche Aufgabe alsunerfülltes Desiderat erneut in den Vordergrund und zum Zwecke ihrerendlichen Erledigung auf eine Wiederholung der Opferhandlung drängt.Kaum ist der Priesterkönig auf die beschriebene blutrünstig sakrifizielleWeise mit den unverhofft epiphanischen Folgen der letzten Opferhand-lung fertig geworden, da treibt ihn die Opfergemeinde schon – um dervon ihm her unverändert drohenden Gefahr totenkultträchtiger Hybriszu wehren – zu einem neuerlichen Versuch, durch ein Reichtumprä-sent an die wahren Herren des Reichtums deren die priesterköniglicheMacht ebensosehr disziplinierende wie sanktionierende repräsentativeAnwesenheit ins Werk zu setzen. Und kaum hat in dieser Absicht derPriesterkönig eine neue Opferhandlung begonnen, da entfaltet der denGöttern dargebrachte Opferreichtum wieder die ihm eigene epiphanisch-konstitutive Dynamik und läßt als singularisch wahre Identität der Götterdas andere Subjekt auf der Bildfläche erscheinen. Mit der auf den Stufendes Altars in leibhaftiger Gestalt erscheinenden Gottheit muß wegender unveränderten Negativität, die sie dem Dargebrachten beweist undwegen der darin implizierten ontologischen Entwirklichung, mit der siedie theokratische Gesellschaft bedroht, der Priesterkönig wiederum denbeschriebenen, als Straf- und Sühneaktion exekutierten, sakrifizierendkurzen Prozeß machen, und so entwickelt sich denn jene unablässigeAbfolge von Opferversuch und Abbruch des Opferversuchs, jene adinfinitum fortlaufende opferkultliche Routine, die, sowenig sie ihr er-klärtes Ziel einer definitiven Legitimierung des Priesterkönigs in derFunktion eines Statthalters der Götter erreicht, doch aber dadurch, daßsie ihn in solch ständigen fruchtlosen Versuchen zur Realisierung deraufrechterhaltenen Legitimierungsoption engagiert, auf wie immer auf-wendige Weise ihren Zweck erfüllt, ihn selber von aller Überhebungund Autokratisierung ab- und in der theokratischen Gesellschaft dasBewußtsein von den jenseitig wahren Herren des Reichtums und der mitihnen gegebenen göttlichen Machtordnung wachzuhalten.

Von dieser opferkultlichen Routine aber profitiert die Unterschicht indem nicht minder routinebestimmten Sinn, daß demnach ihr ex impro-viso des Opferreichtums erscheinender Held und Fürsprecher, kaumdaß er ihnen durch Abbruch des Opfers sakrifiziell entrissen worden

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ist, dank neuer Opferhandlung auch bereits wiederkehrt und ihnen sa-kramental zurückgegeben wird. Weil wegen der ungelösten Aufgabeeiner einschränkenden Sanktionierung der priesterköniglichen Macht dernächste Opferversuch jeweils schon ins Haus steht und weil kraft derpräsentativen Dynamik und monstrativen Dramatik des Opferreichtumsjeder neue Darbringungsversuch auch immer wieder das unversehensgleiche epiphanische Ergebnis zeitigt, müssen sie den Anblick des ande-ren Subjekts, ihres sakralen Herrn, nie lange enbehren. So machtlos undschmerzerfüllt sie gerade noch haben zusehen müssen, wie der Priester-könig den Opferentsprungenen zum Opfer bringt, den erscheinendenGott um der durch ihn kompromittierten und vom Offenbarungseidbedrohten Götter willen auf dem Altar hinschlachtet, so freudig undvoll Genugtuung können sie im nächsten Augenblick schon erleben,wie der Geopferte aus seinem Opfertod wiederersteht und in der altenLebendigkeit auf den Stufen des Altars erneut in Erscheinung tritt. Auchwenn er dort nur in Erscheinung tritt, um abermals vom Priesterkönigund der aristokratischen Opfergemeinde in Haft genommen und als einsakrilegisch diesseitiges Alter ego der jenseitigen Herren des Reichtumsderen beleidigter Majestät und vielmehr bedrohter Herrschaft aufge-opfert zu werden, ändert das nichts an dem Gefühl des Triumphs, mitdem – stärker noch als die reichtumzerstörende Macht, die er im Todebeweist – diese Wiederkehr ihres Helden die Unterschicht erfüllt. In-terpretiert als Beweis für seine biographische Nähe zu den Gemeinenund als Ausdruck seiner pathographischen Verbundenheit mit ihnen, istdiese mit Sicherheit resultierende Sakrifizierung und Ausstoßung desErscheinenden durch den Priesterkönig höchstens und nur geeignet,bei der Unterschicht das Gefühl des Triumphs über das mit gleicherSicherheit konsequierende Wiedererscheinen des Sakrifizierten noch zuakzentuieren und intensiver werden zu lassen. Weil der letzteren das, wasdas andere Subjekt von der Hand des Priesterkönigs erleidet, als Sinn-und Ebenbild der Unterdrückung und Ausschließung gilt, die sie selbervon ihren aristokratischen Herren erduldet, und weil insofern die tödlicheWendung, die sein opferkultliches Schicksal nimmt, von ihr ebensosehrals symbolischer Ausdruck wie als praktische Folge seiner Solidarität mitihren frondienstlich reprimierten Lebensverhältnissen begriffen wird, giltihr nun auch seine Resurrektion im folgenden Opferversuch nicht einfachbloß als ein Sieg, den ihr Vorkämpfer und Anwalt in objektiv eigener

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Sache über den scheinbar übermächtigen aristokratischen Gegner erringtund durch den er sich nämlich dessen tödlicher Verbannung und blutigerVerwerfung zu entziehen und als ihr Vorkämpfer und Anwalt wiederher-zustellen vermag, sondern als ein sie selber unmittelbar einbegreifenderErfolg, ein durchaus persönlicher Triumph, nämlich als Wahrzeichenund Unterpfand ihrer in seiner Gestalt subjektiv eigenen Behauptunggegen und Erhebung über das Joch der aristokratischen Lebensform.Was Wunder, daß in dieser doppelten Bedeutung eines offenbaren Zeug-nisses des erscheinenden wahren Herrn wider die Opfer bringendenfalschen Verwalter und eines manifesten Triumphs der im wahren Herrngestaltgewordenen Unterdrückten über ihre als die falschen Verwalterherrschenden Unterdrücker die opferkultlich regelmäßige Wiederkehrdes anderen Subjekts von der Unterschicht als eine ebenso trostreicheVerheißung wie segensreiche Erfahrung immer wieder freudig begrüßtwird?

Die der Unterbindung der Epiphanie dienende kurzschlüssige Kultform erfährtdie Unterschicht als herben Verlust, weil sie durch sie der Gegenwart ihres Herrnund Heilands dauerhaft beraubt wird. Sie reagiert darauf in der Weise, daß siejenen abbreviierten Opferkult als eine gegen die Wiederkehr des epiphanischenSubjekts gerichtete präventive Vorkehrung ignoriert und sie zielstrebig als eineum die Wegschaffung eines nach wie vor vorhandenen epiphanischen Subjektsbemühte repressive Nachstellung mißversteht. Die so aus dem opferkultlichenVerhalten des Priesterkönigs erschlossene fortdauernde Präsenz des anderenSubjekts verlegt die Unterschicht gemäß der positiven Implikation, die sie seinerNegativität unterstellt, von der aristokratischen Reichtumsphäre in ihren eigenenagrarischen Subsistenzbereich, wo sie den von der Opferstätte Vertriebenen seinenatürliche Zuflucht und Heimstatt finden läßt.

Indes, so segens- und trostreich die opferkultliche Epiphanie des an-deren Subjekts der Unterschicht vorkommt und so lieb und teuer sieihr deshalb ist, so verhaßt ist und bleibt sie dem Priesterkönig und derals Opfergemeinde um ihn gescharten Oberschicht. Jedesmal, wenn dasandere Subjekt ex improviso der Opferhandlung als das singular wahreSelbst der Götter erscheint und also leibhaftig präsent werden oder leben-dig da sein läßt, was das Opfer an sich nur repräsentativ zur Anwesenheit

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bringen oder attributiv zur Vorstellung kommen lassen soll, stürzt es diejenseitig wahren Herren des Reichtums abermals in den konkursivenOffenbarungseid seiner reichtumverachtend unbedingten Indifferenz.Und jedesmal zwingt es damit den Priesterkönig um der Bewahrung dertheokratischen Orientierung der Gesellschaft und der Erhaltung seiner ei-genen priesterköniglichen Stellung willen zu jenem Verleugnungsgestus,jener pathologischen Abwehrhaltung, die ihm erlaubt, in der ex improvi-so des Opferreichtums erscheinenden sakramentalen Sichselbstgleichheitder Götter deren ex nihilo auftauchenden sakrilegischen Wechselbalgzu erkennen und diesen einem opferkultlich eingeschliffenen, den Dar-bringungsakt in die Sühneaktion überführenden Liquidationsverfahrenzu unterwerfen, kurz, ihn zu sakrifizieren. Ist es angesichts der derge-stalt fundamentalen Unterminierung, mit der das andere Subjekt dieauf die jenseitig wahren Herren des Reichtums gestützte theokratischeOrdnung bedroht, und angesichts der empiriologischen Unbelehrbar-keit und intellektuellen Selbstverleugnung, zu der Priesterkönig undOpfergemeinde sich verstehen müssen, um das andere Subjekt seinerfundamental bedrohlichen Position berauben zu können, verwunderlich,daß sie mit seinem wiederholten Erscheinen ex improviso der Opfer-handlung sich partout nicht abzufinden vermögen und alles daransetzen,diese wiederkehrende Epiphanie zu unterbinden? Zwar, ihr Bemühen,jener qua anderes Subjekt verhaßten singularen Verkörperung und perso-nalen Identifizierung der Götter ex improviso des Opferreichtums durchderen Eponymisierung, will heißen durch eine an ihnen vorgenommeneSingularisierung eigener Wahl, eine an ihnen vollzogene Personifizierungbesonderen Charakters, zuvorzukommen, schlägt fehl und führt sogarzu einer Verschärfung der epiphanischen Situation insofern, als der inGestalt des anderen Subjekts ex improviso des Opfers unverändert er-gehende Bescheid über die wahre Identität der Götter sich demnach alsdirektes Refutativ und konsequentes Korrektiv des zuvor vom Priester-könig selbst über das personale Wesen der Götter erhobenen Befundspräsentiert. Mehr Erfolg aber ist anschließend ihrem Versuch beschieden,durch eine taktische Manipulation, einen präventiven Eingriff in dierituelle Abfolge der Opferhandlung das Kommen des anderen Subjektsim Ansatz bereits zu verhindern, seine Epiphanie im Keim zu ersticken.Indem, wie beschrieben, der Priesterkönig in ebenso flagranter Verlet-zung der funktionell logischen Konsequenz wie rasanter Erfüllung des

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rituell-üblichen Programms die Opfergaben, kaum daß er sie auf demAltar dargebracht hat, auch schon wieder hinmetzelt, abtut und vomAltar herunterexpediert und indem er also durch die rituelle Forcie-rung oder zeremonielle Automatisierung der sühnenden Aufräumaktiondas sakramentale Darbringen unmittelbar ins sakrifizielle Wegschaffenüberführt, kreiert er jene zum Kurzschluß abbreviierte Form des Opfers,in deren enthymematisch lückenloser Auslassung alle Epiphanie sichunwiederbringlich verliert.

Dies mit nicht weniger manipulativer List als zeremonieller Tückedurchgesetzte Verschwinden des epiphanischen Moments aus der Opfer-handlung, das dem Priesterkönig und seinem als Opfergemeinde firmie-renden aristokratischen Gefolge als eine hochwillkommene Entlastunggilt, die sie sich um jeden Preis und in alle Zukunft durch eine entspre-chend kurzschlüssige opferkultliche Routine zu erhalten streben, erfährtnun aber die Unterschicht als einen großen Abbruch und herben Verlust,der, je länger ihre durch ihn hervorgerufene Verlassenheit und Verzweif-lung währt, ihr nur um so unverkraftbarer vorkommen will. Was jenerrituelle Eingriff, jener zeremonielle Schachzug des Priesterkönigs ihrnimmt, ist der Trost ihrer Seele, ist ihr Herr und Heiland, ist das epipha-nisch andere Subjekt, das in der doppelten Eigenschaft eines Fürsprechersder Ausgestoßenen und Leidensgefährten der Geknechteten und nämlichgleichermaßen in ihrem Namen und in ihrer Gestalt jedesmal neu eximproviso der Opferhandlung wider die aristokratischen Herren undihre totenkultanalog exklusive Sphäre, ihre drückend aparte Lebens-form, in die Schranken tritt und Zeugnis ablegt. Was er ihr nimmt, istjener wiederkehrende Augenblick der Erhebung und Autonomisierung,der sie für die ansonsten fortlaufende Erniedrigung und Knechtschaftentschädigt, die sie, die reichtumproduzierende Unterschicht, von derdie Reichtumsphäre okkupierenden Oberschicht erduldet. Und was erihr dafür gibt, ist nicht Fisch noch Fleisch, ist eine Opferpraxis, die voneiner repräsentativen Wiederherstellung der Herrschaft der Götter ebensoweit wie von aller epiphanischen Verkündigung entfernt ist. Und dasaus gutem oder vielmehr in seinem bösen Sinn unschwer einsehbarenGrund: Schließlich wäre eine mittels der Darbringung von Opfergabenausführlich zelebrierte repräsentative Anrufung der jenseitig wahrenHerren des Reichtums ja aller Erfahrung nach gleichbedeutend mit einer

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erneuten Auslösung der die Angerufenen leibhaftig heraufbeschwö-renden monstrativ-präsentativen Eigendynamik des Opferreichtums,kurz, einer Wiederherstellung der von der Opfergemeinde gefürchtetenepiphanischen Situation, und ist, so gesehen, die Verhinderung dieserpräsentativen Dynamik des Opfers wesentlich daran geknüpft, daß esauch in jener repräsentativen Funktion unterbleibt. Eben dafür, daß esin jener Funktion unterbleibt, sorgt offenbar ja die mittels manipulati-vem Eingriff durchgesetzte und als opferkultliche Routine etablierte,kurschlüssig abbreviierte Form des Opfers, bei der um den Preis eineran Sinnlosigkeit grenzenden Widersprüchlichkeit seines sakrifiziellenVerhaltens der Priesterkönig die Opfergaben, kaum daß er sie dargebrachtund auf dem Altar deponiert hat, auch schon wieder zu beseitigen undvom Altar herunterzubringen unternimmt.

Und genau dieses paradox kurzschlüssige Verfahren, das um der Un-terbindung der repräsentativen Funktion des Opfers und der daran an-knüpfenden epiphanischen Dynamik willen der Priesterkönig einführtund zum sakrifiziellen Normalfall erhebt, nutzt nun aber die Unterschicht,indem sie es gänzlich anders versteht, als es gemeint ist, um daran ihreproportional zur Verzweiflung wachsende Unbereitschaft, sich mit demerlittenen Verlust abzufinden, ihren mit den Verlassenheitsgefühlen zu-nehmenden Widerstand gegen die Hinnahme des erfahrenen Abbruchsfestzumachen. Gemeint ist dies kurzgeschlossene Opferverfahren als einPräventionsmittel, eine Methode zu verhindern, daß das beim früherenOpferversuch als ein sakrilegischer Wechselbalg der Götter sakrifizierteandere Subjekt beim jeweils nächsten Opferversuch wiedererscheint.Von der Unterschicht verstanden aber wird es als eine Repressionsan-strengung, ein Bemühen, dafür zu sorgen, daß dem nach wie vor alsgegenwärtig gewahrten, noch immer als manifeste Bedrohung empfun-denen anderen Subjekt der Boden entzogen und der Garaus gemachtwird. Und zu dem solcherart zielstrebigen Mißverständnis der Unter-schicht bietet, was der Priesterkönig tut, ohne Frage ja auch die empi-rische Handhabe! Schließlich ist, was der Priesterkönig hier mit demOpferreichtum anfängt, um sicherzustellen, daß dieser gar nicht erst alsErscheinungsort für die qua anderes Subjekt wahre Identität der Götterzur Verfügung steht, der phänomenalen Verlaufs- und realen Exekutions-form nach ununterscheidbar von der Art und Weise, wie er dort mit demOpferreichtum umspringt, um dafür zu sorgen, daß dieser zusammen

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mit dem auf seiner Basis Erschienenen aus der Welt wieder verschwindet.Geradeso wie dort besteht auch hier, was der Priesterkönig mit demOpferreichtum anstellt, wesentlich nur darin, ihn zu zerstückeln, zu ver-brennen, zu zerstören, beseite zu schaffen, zu verbergen, zu vernichten.Ob diese in der einen oder in der anderen Form vollzogene Beseitigungdes Opferreichtums als krönender Abschluß einer sakrifiziellen Hin-richtung des bereits auf der Bildfläche erschienenen anderen Subjektsstattfindet oder als sakrifizielle Vorkehrung dagegen, daß das andereSubjekt überhaupt auf der Bildfläche erscheint, ist der priesterköniglichenBeseitigungsaktion als solcher, ihrem phänomenalen Habitus und em-pirischen Duktus, nicht abzumerken. Und von daher gesehen, kann dieUnterschicht dies empirisch gleiche Verfahren des Priesterkönigs in derTat geradeso gut als Fortsetzung der alten, mit der wirklichen Epiphanieaufzuräumen bestimmten sakrifiziellen Abschlußtechnik wahrnehmen,wie als Konsequenz der neuen, gegen die mögliche Epiphanie vorzu-beugen gedachten sakrifiziellen Kurzchlußtaktik begreifen. Da sie nunaber für ersteres sich entscheidet und also die opferkultlich routiniertepriesterkönigliche Beseitigung des Opferreichtums in Kontinuität mit derfrüheren, gegen die wirkliche Epiphanie gerichteten Straf- und Sühne-aktion, will heißen in der Bedeutung eines krönenden Abschlusses deralten sakrifiziellen Aufräumpraxis gewahrt, vindiziert sie dem priesterkö-niglichen Tun eine im Sinne ihres Aufbegehrens gegen den Verlust ihresepiphanischen Herrn unschwer nutzbare Symptomhandlungsqualitätoder negative Beweisträchtigkeit. Sosehr nämlich auch als einmaligesEreignis die Beseitigung des Opferreichtums im Anschluß an die Hin-richtung des sakrilegischen Störers eben das sein mag, was sie zu seinbeansprucht: krönender Abschluß einer erfolgreichen Aufräumaktion,sosehr tendiert sie als opferkultlich wiederholtes Ritual dazu, sich insförmliche Gegenteil ihrer selbst zu verkehren: in die ebenso fortlaufendewie heimliche Azeige eines in der Hauptsache, in der Entfernung des Stö-rers, mutmaßlichen Fehlschlags der Opferaktion. Weil der Priesterkönigden in der Beseitigung der Opfergaben bestehenden Schlußstrich unterdie sakrifizielle Sühne-und Reinigungshandlung, der als ein für allemalgezogener nichts als Besiegelung des erfolgreichen Fertigwerdens mitdem epiphanisch-sakrilegischen Zwischenfall wäre, wieder und wiederzu ziehen Anlaß findet, kann sich jener in einen Bekräftigungs- oderBeschwörungsakt verwandeln, der symptomatisch Lügen straft, was

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er thematisch kundtut, und nämlich verrät, daß eben der epiphanischeZwischenfall, der mit ihm erledigt sein soll, wieder und wieder der Erle-digung sich entzieht und als vielmehr nach wie vor unerledigtes Problemansteht. Je öfter nach der Interpretation, die die Unterschicht der prä-ventiven Opferroutine des Priesterkönigs angedeihen läßt, dieser durchResektion der Wurzel, der der sakrilegische Störenfried entsproß, durchElimination des Schoßes, der den epiphanischen Wechselbalg gebar, dieerfolgreiche Entfernung des letzteren noch einmal zu besiegeln und einweiteres Mal abschließend zu krönen unternimmt, um so unglaubwürdi-ger wird die angebliche Entfernung des Störenfrieds, und um so stärkerverkehrt sich der Besiegelungsakt aus einer förmlichen Erklärung finalenGelingens in eine verkappte Anzeige zentralen Scheiterns. Durch ihreeinfache Wiederholung legt mit anderen Worten die priesterköniglicheBeseitigung des Opferreichtums den Charakter einer die erfolgreicheExekution des anderen Subjekts unter Beweis stellenden abschließendenSühneaktion mehr und mehr ab und nimmt die Züge eines den Erfolg derExekution doch noch sicherzustellen bemühten nachträglichen Reparati-onsversuchs an, wobei offen bleibt, ob dieser Reparationsversuch eher inmagisch-beschwörender oder in praktisch-nachbessernder Absicht unter-nommen wird und ob er also bloß als ein repetitiv ausgewalztes Finale diein der Hauptsache mangelhafte Durchführung in Ersatzhandlungsmanierübertönen und vergessen machen oder ob er mehr noch im Sinne einerindirekten Erledigung des Problems als ostentativ reiterierte Wurzelre-sektion den unmittelbar nicht aus der Welt zu schaffenden Störenfriedhinlänglich als bodenlos erweisen soll, um ihn in dieser seiner erwiesenenGrundlosigkeit schließlich doch noch zum Verschwinden zu bringen.

Indem sie es in der Kontinuität der alten sakrifiziellen Handlung ver-hält, statt es als Ausdruck der neuen kurzschlüssigen Kultform zu ge-wahren, und es mithin als ein nach wie vor um die Wegschaffung desepiphanischen Subjekts bemühtes repressives Nachbessern interpretiert,statt es als nurmehr gegen die Wiederkehr des epiphanischen Subjektsgerichtetes präventives Vorkehren zu begreifen, verwandelt die Unter-schicht das priesterkönigliche Tun in ein symptomatisches Indiz, einindirektes Beweismittel dafür, daß, allem sakrifiziellen Zugriff zum Trotz,ihr Herr und Heiland gar nicht verschwunden, sondern nach wie vorpräsent ist, und daß also ihr Wunsch und Sehnen, seinen Verlust nichterleiden zu müssen, seine Gegenwart unverändert genießen zu können,

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wunderbarerweise in Erfüllung geht. Und in ihrer durch das priester-königliche Tun genährten frohen Überzeugung von der fortdauerndenPräsenz des epiphanisch anderen Subjekts läßt sich die Unterschichtauch nicht dadurch beirren, daß sie ja selber Zeuge der letzten blutigenSakrifizierung des anderen Subjekts war, mit der der alte Opferkult en-dete und nach der die neue, auf eine möglichst rasche Beseitigung derOpfergaben beschränkte, präventiv kurzgeschlossene Kultform begann,und daß sie insofern eigentlich auch über den historischen Gegenbe-weis gegen die angebliche, die Präsenz des anderen Subjekts betreffende,symptomatische Beweiskraft des in der neuen Kultform zelebriertenpriesterköniglichen Tuns verfügt. Je länger die in der Beseitigung desOpferreichtums sich erschöpfende neue Kultform währt und je weiterdas letzte blutige, am epiphanischen Subjekt vollzogene Sakrifizium indie Vergangenheit zurückweicht, um so mehr verblaßt die Erinnerungdaran und um so leichteres Spiel hat das aus Verzweiflung wachsendeBedürfnis der Unterschicht nach der trostreich dauernden Präsenz desepiphanischen Subjekts, sich über den in jenem Sakrifizium bestehen-den Gegenbeweis gegen diese ersehnte Präsenz hinwegzusetzen. Einund dieselbe auf die Beseitigung der Gaben beschränkte opferkultlicheWiederholungsprozedur, die, als repressive Maßnahme interpretiert, derUnterschicht den fortlaufenden Beweis dafür liefert, daß es mit ihremFürsprecher und Vorkämpfer keineswegs aus ist, verschafft zugleichdadurch, daß sie die in Gestalt der sakrifiziellen Hinrichtung des anderenSubjekts subsistierende empirisch direkte Widerlegung in immer größerezeitliche Ferne rückt, der Unterschicht freie Bahn, aus jenem indirektenBeweis die ihrer progressiven Sehnsucht und Glaubensbereitschaft ge-mäße Konsequenz zu ziehen und nämlich den erwünschten Fortbestanddes anderen Subjekts für eine zweifelsfrei ausgemachte Sache zu nehmen,seine heiß begehrte Gegenwart als etwas anzusehen, wovon man ebensogetrosten wie getrösteten Herzens ausgehen kann. Allerdings kann auchdie haltloseste Sehnsucht und die schrankenloseste Glaubenswut dasepiphanische Subjekt dort nicht wieder hinzaubern, von wo seine letzteHinrichtung es definitiv entfernt hat und von wo es dauerhaft fernzu-halten, die mit der neuen Kultform als kurzentschlossen präventiverStrategie verknüpfte eigentliche priesterkönigliche Absicht ist. Mag fürdie Unterschicht das priesterkönigliche Tun dank der Interpretation, diesie ihm angedeihen läßt, die bleibende Gegenwart des epiphanischen

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Subjekts noch so glaubhaft bezeugen, sein andauerndes Dasein noch soschlüssig beweisen – dort, wo es vorher sich antreffen ließ: mitten imHeiligtum, auf den Stufen des Altars, im Angesicht der Opfergaben,findet es sich jedenfalls nicht mehr! Mag die Unterschicht auch nochso indirekt versichert sein, daß ihr Herr und Heiland nach wie vor beiihr weilt, nach wie vor als ihr Helfer und Tröster, ihr Stab und Steckendie Stellung hält – in jener Position eines direkt vor dem Opferreichtumerscheinenden und ihm mit gesammelter Negativität konfrontativ be-gegnenden Protagonisten ex improviso der Opferhandlung, die er zuvorinnehatte, behauptet er sich jedenfalls nicht mehr! Wo aber, wenn dasandere Subjekt seinen opferkultlich bestimmten Platz auf der offenenSzene der priesterköniglichen Inszenierung hat räumen müssen, ausseiner protagonistischen Stellung im Angesicht der qua Opfer zur Schaugestellten aristokratischen Reichtumsphäre verdrängt ist, und wenn esdennoch gegenwärtig bleiben, dennoch da sein soll – wo eigentlich kannes dann stecken, wo überhaupt seinen Aufenthalt haben? Die Präsenzdes epiphanischen Subjekts indirekt bewiesen zu finden, sie durch daspriesterkönigliche Tun für logisch bewahrheitet zu halten, ist eines – et-was ganz anderes ist, sie direkt in Erfahrung zu bringen, sie kraft eigenerAnschauung empirisch wahrzunehmen!

Die Richtung indes, in der die von Sehnsucht und Glaubenswut erfüllteUnterschicht diese empirische Anschauung ihres bleibenden Herrn unddaseienden Heilands suchen muß, ist ihr unschwer erkennbar vorge-zeichnet. Wo anders soll das aus seiner exponierten Stellung vor demOpferaltar verdrängte epiphanische Subjekt stecken, wenn nicht im Um-kreis der nach Maßgabe ihrer äußerlich-peripheren Position ebenfallsaus dem Heiligtum verstoßenen und vom opferkultlichen Tanz um dasgoldene Kalb ausgeschlosssenen Unterschicht selbst, will heißen im Be-reich jener von der aristokratischen Reichtumsphäre abgeschnittenenbäuerlich-handwerklichen Subsistenz oder Selbstgenügsamkeit, der esnach dem interessierten Verständnis der Unterschicht ja auch kraft seinerder Reichtumsphäre bezeigten Indifferenz wenn schon nicht explizit dasWort redet, so jedenfalls doch implizit die Stange hält? Wo sonst kanndas epiphanische Subjekt, wenn es, von den Stufen des Altars vertriebenund seiner Präsenz in der Opferszene beraubt, dennoch gegenwärtigbleiben soll, solche Bleibe finden als auf dem Boden und im Rahmen jenesder Unterschicht eigenen unmittelbar subsistentiellen Daseins diesseits

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und außerhalb der reichtumbestimmt opfergemeindlichen Lebenssphäre,das es nach Ansicht der Unterschicht geradeso gewiß als das in funda-mentaler Sichselbstgleichheit subsistierende Positive geltend macht, wiees die letztere als das in falscher Totalität existierende Negative demirrealisierenden Durchblick seiner absoluten Indifferenz unterwirft? Zwarist, wie oben schon angemerkt, eben diese Überzeugung der Unterschicht,daß die Negativität, mit der das epiphanische Subjekt der qua Opfer-reichtum präsenten aristokratischen Lebensform begegnet, eine entspre-chende Positivität gegenüber ihrer eigenen, von der aristokratischenLebensform ausgeschlossenen Subsistenzweise impliziert und daß alsostillschweigendes Komplement der offenbaren Ablehnung, mit der dasandere Subjekt der aparten Reichtumsphäre der Oberschicht begegnet,eine entschiedene Parteinahme für den zugrunde liegenden Subsistenz-bereich der Unterschicht selbst ist, nichts als ein frommer – oder nachMaßgabe seiner leicht durchschaubaren eigennützigen Motivation viel-mehr unfrommer – Glaube, der der absoluten Negativität, die das eximproviso des Opferreichtums erscheinende andere Subjekt in Wahr-heit an den Tag legt, in keiner Weise gerecht wird und zu dem nichtsowohl die von Indifferenz erfüllte originale Natur des gegen die To-talität der theokratischen Gesellschaft hervorgekehrten Verhaltens desanderen Subjekts Anlaß gibt, als vielmehr nur die von Dichotomie undSelbstausschließung geprägte funktionale Struktur eben jener Totalität,gegen die das andere Subjekt seine Indifferenz hervorkehrt, die Mög-lichkeit bietet. Aber dieser ebenso realiter in schierem Wunschdenkengründende wie formaliter durch die dichotomische Struktur der gesell-schaftlichen Totalität ermöglichte fromme Glaube verwandelt sich nun,da zu dem allgemeinen Bedürfnis der Unterschicht nach gleichermaßenFreisprechung und Freisetzung ihres eigenen Lebensbereichs noch dasbesondere Verlangen nach der Erhaltung dessen, der ihr die Absoluti-on erteilt und die Emanzipation verheißt, verstärkend hinzukommt, ineine feste Überzeugung und vielmehr Gewißheit, die der verzweifeltenSuche nach dem aus dem priesterköniglichen Opferkult offensichtlichverschwundenen und doch aber durch die symptomatische Anzeige ebenjenes Opferkults als nach wie vor daseiend bezeugten epiphanischenSubjekt unmißverständlich die Richtung weist.

So gewiß für die Unterschicht das ex improviso des Opferreichtumserscheinende und als die wahre Identität der Götter im Heiligtum Stel-lung beziehende andere Subjekt ex negativo der Indifferenz, die es der

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im Opfer präsenten aristokratischen Reichtumsphäre bezeigt, die diffe-rente Position und alternative Sache des von der Reichtumsphäre ausge-schlossenen und zur Unmittelbarkeit eines Daseins eigener Provenienzverhaltenen agrarischen Subsistenzbereichs vertritt, so gewiß gewinntsein Verschwinden aus dem Heiligtum, das der Opferkult selbst, rechtinterpretiert, als zugleich eine Bleibeform ausweist, für die Unterschichtdie Bedeutung eines Rückzugs des anderen Subjekts auf eben jene vonihm vertretene subsistentielle Position, seines Fortgangs in eben jenenvon ihm protegierten agrarischen Bereich. Was, rein von der indifferent-negativistischen Frontstellung her betrachtet, die das ex improviso desOpferreichtums erscheinende andere Subjekt in der Opferhandlung be-zieht, auf ein ebenso passives wie abstraktes Verschwinden sich reduziertund nämlich nichts weiter signalisiert als die rücksichtslose Vertreibungund perspektivlose Verdrängung des anderen Subjekts aus dieser seinernegativistischen Frontstellung, das erhält auf Grund der dieser Frontstel-lung gegen das aristokratische Leben im Überfluß unterstellten aktivenParteinahme für das bäuerlich einfache Dasein der Unterschicht und dankder im opferkultlichen Tun des Priesterkönigs gewahrten symptomati-schen Anzeige einer alles Verschwinden Lügen strafenden bleibendenGegenwart des anderen Subjekts den Sinn eines ebenso initiativen wiekonkreten Vorgehens des letzteren, den Sinn, mit anderen Worten, einervon ihm aus freien Stücken vorgenommenen affirmativen Identifizierungmit dem, wofür es in Wahrheit optiert, und aus eigenem Antrieb vollzo-genen positiven Lokalisierung dort, wo es in Wirklichkeit hingehört. Ausder Negativität und Verhältnislosigkeit, in der es sich gegenüber demOpferreichtum und der darin exponierten Reichtumsphäre als ganzerbehauptet, läßt demnach das andere Subjekt sich nur entfernen, um in diePositivität und Sichselbstgleichheit jenes agrarischen Subsistenzbereichsüberzuwechseln, den es nach der mittlerweile felsenfesten Überzeugungder Unterschicht mit seiner der aristokratischen Reichtumsphäre bewie-senen Negativität eigentlich intendiert und als seinen natürlichen Grundund Boden in Anspruch nimmt. Kaum daß es in seiner qua Opfersitua-tion prekär ablehnenden Haltung gegenüber der Reichtumsphäre, diePriesterkönig und Opfergemeinde ihm als sein angestammtes Domini-um anweisen wollen, erschienen ist, räumt das andere Subjekt – nichtweniger aus eigenem Antrieb als unter dem äußeren Druck der an seinerablehnenden Haltung Anstoß nehmenden Opfergemeinde – auch schon

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wieder das Feld und richtet sich in eben dem reichtumfernen Bereich,eben dem bäuerlichen Dasein, dauerhaft ein, um dessentwillen und prodomo dessen es nach dem Verständnis der Unterschicht der ihm angewie-senen Reichtumsphäre seine ablehnende Haltung überhaupt nur beweist.Aus dem Opferzusammenhang verschwindend, tauscht das epiphanischeSubjekt die ihm qua sakraler Opferreichtum zugemutete Basis, der seineganze Indifferenz gilt, gegen eben die im profanen Lebensmittel bestehen-de Grundlage ein, der all sein hinter der Indifferenz verborgenes Sinnenund Trachten gehört, und münzt so das Relegationsverfahren, dem daspriesterkönigliche Tun es unterwirft, um es aus der einen, manifestenHälfte der theokratischen Gesellschaft, der von ihm diskreditierten ari-stokratischen Reichtumsphäre, definitiv zu entfernen und auszuscheiden,in einen Identifikationsvorgang um, den es aus eigener Kraft vollziehtund durch den es in der anderen, latenten Hälfte der theokratischenGesellschaft, dem von ihm propagierten agrarischen Subsistenzbereich,dauerhaft heimisch wird und eine indefinite Präsenz gewinnt.

Und genau diese Präsenz des epiphanischen Subjekts in dem als seinnatürlicher Aufenthalt von ihm erkorenen Bereich einer aus der Reich-tumsphäre ausgeschlossenen und zum Schein der Unmittelbarkeit insich verhaltenen Subsistenz, genau diese seine Präsenz im Bereich einesunterhalb und außerhalb der aristokratischen Lebensform, der es zu-gleich als Grundlage dient, sich selbstgenügsam behauptenden bäuerlich-handwerklichen Daseins, genau sie also ist es, wogegen nach der Über-zeugung der Unterschicht die in der neuen kurzschlüssigen Form desOpferkults fortlaufende priesterkönigliche Relegationstätigkeit sich rich-tet. Genau diese bleibende Präsenz, die das aus der konfrontativen Nega-tivität gegen eine qua Reichtum illusorische Basis in die sichselbstgleichePositivität einer als Lebensmittel wirklichen Grundlage übergewechselteepiphanische Subjekt im Kreise seiner bäuerlichen Gefolgschaft gewinntund im Schoße des ländlich einfachen Daseins, das es mit ihnen teilt,genießt, genau das ist es, was der Priesterkönig nach Ansicht der Un-terschicht wahrnimmt und worauf als auf den sonnenklaren Beweis fürdas Scheitern seiner sakrifiziellen Verdrängungsaktion er mit seinemals neuer, kurzschlüssiger Opferkult fortgesetzten Versuch einer sei’smagisch-beschwörenden, sei’s praktisch-nachbessernden Vollendung desBeseitigungsvorgangs reagiert. Wie aber? Nimmt denn, was demnach derPriesterkönig als in ihrem Dasein präsent gewahrt, auch die Unterschicht

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selber wahr? Ist dieses ihres epiphanischen Herrn im eigenen Haus, dernach ihrer Ansicht dem Priesterkönig ins Auge sticht, eigentlich auchsie selber ansichtig? Oder bleibt am Ende die Unterschicht wie in dergenerellen Frage der fortdauernden Existenz des epiphanischen Subjekts,so auch im speziellen Punkte seines nunmehrigen Aufenthalts abhängigvon der mutmaßlichen Wahrnehmung des Priesterkönigs, angewiesenauf das symptomatische Zeugnis, den interpretativ bedeutend gemach-ten Hinweis des priesterköniglichen Tuns? Schließlich ist bloß deshalb,weil ihr unwiderstehliches Bedürfnis, im epiphanischen Subjekt den exnegativo der Indifferenz, die er der aristokratischen Reichtumsphärebezeigt, für ihr eigenes subsistentielles Dasein Partei ergreifenden po-sitiven Heilsbringer zu gewahren, ihrer Suche nach ihm definitiv dieRichtung weist und ihr die feste Überzeugung eingibt, seinen neuenAufenthaltsort zu kennen, der Gesuchte dort noch nicht zur Erscheinunggebracht, am angegebenen Ort noch nicht sichtbar gemacht! Und schließ-lich steht solchem sichtbarlichen Erscheinen des anderen Subjekts in derPositivität des agrarischen Subsistenzbereichs, seinem anschaulichenAuftreten inmitten des der Unterschicht eigenen reichtumfern unmit-telbaren Daseins das haargenau gleiche Hindernis entgegen, das auchseiner bleibenden Existenz im Heiligtum, seiner fortdauernden Gegen-wart auf den Stufen des Opferaltars im Wege steht: die einfache Tatsachenämlich, daß der Priesterkönig die Vertreibung des anderen Subjektsaus dem Heiligtum in der Form eines Schlachtopfers, einer Hinrichtungvollzieht, seine Verdrängung aus dem Opferzusammenhang durch einensakrifiziellen Tötungs- und Zerstörungsakt vollbringt. Wie sollte wohldas epiphanische Subjekt, nachdem es auf den Stufen zum Altar oderauch auf dem Altar selbst ums Leben gebracht, ihm mit sakrifiziellerGründlichkeit der Garaus gemacht worden ist, bloß deshalb, weil es demdringenden Bedürfnis der Unterschicht entspricht, andernorts leibhaf-tig auftauchen, an anderer Stelle lebendig wieder dasein können? Magalso auch ihr wider den Stachel seines Verschwindens löckendes Bedürf-nis nach der bleibenden Gegenwart ihres opferreichtumentsprungenenFürsprechers die Unterschicht dazu bringen, das epiphanische Subjektals allem scheinbaren Verschwinden zum Trotz nach wie vor daseiendeMacht zu behaupten, und mag sogar auf Grund der den eigenen, agra-rischen Bereich betreffenden positiven Implikation und Wendung, diedie Unterschicht der vom epiphanischen Subjekt der aristokratischen

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Reichtumsphäre bezeigten Negativität beilegt, der jetzige Zufluchts- undAufenthaltsort des nach wie vor Daseienden ausgemacht scheinen – esam angegebenen Ort zu Gesicht bekommen, im eigenen Haus in leib-haftiger Gestalt sich vor Augen führen könnte sie doch wohl nur, wennsie ein übriges täte und ihr Bedürfnis und Sehnen in einer als subjek-tive Spielart zur objektiven Konstitutionstätigkeit des Opferreichtumssich gerierenden Weise initiativ, um nicht zu sagen produktiv werdenließe, wenn sie also ihrem brennenden Verlangen nach seinem Anblickeine empirieunabhängige, von objektiven Erfüllungsbedingungen eman-zipierte und aus ganz und gar innerer Verrücktheit und Verzücktheitgespeiste phantasmagorische Befriedigung zu verschaffen begänne, kurz,wenn sie anfinge, Gespenster zu sehen, zu halluzinieren. Solange siedies aber nicht tut, nicht ihre Sehnsucht nach dem Herrn im eigenenHaus zur halluzinatorischen Leerlaufreaktion ausschweifen läßt undvielmehr an einer empirischen Evidenz oder objektiven Präsenz ihresallem Verschwinden aus der aristokratischen Reichtumsphäre zum Trotzdennoch im agrarischen Subsistenzbereich dasein sollenden Heilsbrin-gers festhält, scheint sich die Unterschicht mit jenem ebenso abstraktenwie indirekten Beweismittel, jenem ebenso äußerlichen wie symptoma-tischen Indiz begnügen zu müssen, als das sich ihr das opferkultlicheVerhalten des Priesterkönigs darstellt oder das sie, genauer gesagt, indiesem Verhalten kraft der Interpretation, die sie ihm angedeihen läßt,erkennt. Sowenig ihrer sehnsuchtentsprungenen Gewißheit vom neuen,positiv subsistentiellen Präsens des aus seiner negativen Stellung imOpferzusammenhang verschwundenen epiphanischen Subjekts eine dermonstrativen Initiationsdynamik des Opferreichtums vergleichbare Prä-sentationskraft der Subsistenzmittel selbst zu Hilfe kommt, sowenig kanndie Unterschicht erwarten, daß diese Gewißheit in einer tatsächlichen An-schauung, einer leibhaftigen Erscheinung des im eigenen Haus PräsentenErfüllung findet, und sosehr scheint sie vielmehr zur Bekräftigung dieserGewißheit auf das ebenso ostentativ äußerliche wie reaktiv indirekteZeugnis der kultischen Abwehrhandlungen des Priesterkönigs und seinerOpfergemeinde angewiesen zu bleiben.

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Zum Erscheinen könnte zwar die Unterschicht das in ihrem Bereich subsistie-rende andere Subjekt nur halluzinierend bringen, aber einen ebenso positivenwie indirekten Beweis für seine unsichtbare Gegenwart liefert ihr die rauschhaft-orgiastische Qualität, die unter seinem Einfluß die Subsistenzmittel annehmen.Die als Brot-und-Wein-Kult Gestalt gewinnende Verwandlungsmacht des un-sichtbar gegenwärtigen Herrn der Subsistenz verleiht dem Agrarbereich dieAutonomie einer reichtumanalog-festlichen Totalität, in der sich die Unterschichtvon der Reichtumsphäre imaginär emanzipiert findet. Aus der Perspektive dieserdas andere Subjekt bergenden Totalität nehmen sich die opferkultlichen Nach-stellungen des Priesterkönigs lächerlich fehlgeleitet aus, weswegen dieser seineOpferpraxis, deren durch die Unterschicht gegebene Interpretation er mangelsbesserer Einsicht in sein Tun akzeptieren muß, auf die Lebensbedingungen seinesdionysischen Gegners einzustellen versucht. Indes zeigt sich ihm, was er andionysischen Subsistenzmitteln zu sakrifizieren meint, stets schon unter derHand in den eigenen Reichtum verkehrt.

Ganz ohne Möglichkeit, ihren Heilsbringer in nähere und bestimmtereErfahrung zu bringen – und das heißt, sich von ihm ein anschaulicheres,sinnenfälligeres, wiewohl nach wie vor nur mittelbares, sinnbildlichesBild zu machen –, läßt ihre feste Überzeugung von seiner Gegenwart vorOrt des Subsistenzbereichs die Unterschicht am Ende aber doch nicht!Kann ihre Gewißheit ihr zwar nicht – oder nur in der Form halluzinato-rischer Selbstbefriedigung – das im eigenen Haus präsente epiphanischeSubjekt leibhaftig vor Augen stellen und lebendig sichtbar machen, sokann sie ihr doch aber immerhin das eigene Haus in der fundamentalneuen Qualität und total gewandelten Bedeutung vorstellig werden las-sen, in der die unsichtbare Gegenwart des epiphanischen Subjekts es zurErscheinung bringt. Unter dem Eindruck dieser als gewiß angenomme-nen unsichtbaren Gegenwart des anderen Subjekts gewahrt, subjektivgesprochen, die Unterschicht das eigene Haus, ihren in subsistentiellerUnmittelbarkeit von der aristokratischen Reichtumsphäre abgesetztenund in sich verhaltenen agrarischen Lebensbereich, mit intuitiv anderenund affirmativ neuen Augen oder erscheint ihr, objektiv ausgedrückt,dieser subsistentielle Lebensbereich in reflexiv anderem und illuminativneuem Licht. Erfüllt vom Geiste des in aller Verborgenheit präsentenSubjekts und gehüllt in den Widerschein seiner heimlichen Nähe, legendie Subsistenzmittel, von denen die Unterschicht zehrt, ihren nüchternen

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Charakter eines einfach nur nährenden Unterhalts, eines unmittelbar bloßlebenerhaltenden Auskommens ab und nehmen statt dessen die rausch-haften Züge eines den Akt des einfachen Nährens mit der Gewährunghöchster Befriedigung verknüpfenden, die auskömmliche Lebenshaltungmit der Erfahrung tiefster Lust durchtränkenden Erfüllungsmediumsan. Angesteckt vom affirmativen Elan und epiphanischen Feuer dessen,der sich gleichermaßen in ihnen verbirgt und geborgen weiß, kehren diesimplen Lebensmittel der Unterschicht einen pleromatischen Gehalt undorgiastischen Sinn heraus, der diejenigen, die davon zehren, in einenTaumel der Begeisterung, in schiere Trunkenheit versetzt. Unter demEinfluß der schrankenlosen Bevorzugung und rückhaltlosen Bejahung,die das unsichtbar gegenwärtige andere Subjekt ihr zuteil werden läßt,entfaltet sich die schlichte Kost des Landmanns, verklären sich Brot undWein zu Erscheinungen schierer Fülle, bedeutungsvollen Genußmitteln,durch die sich die Unterschicht zur schwärmerischen Teilhabe an solchunsichtbar affirmativer Präsenz des anderen Subjekts verhalten und viel-mehr hingerissen findet. Jenes den Anspruch abstraktiv-subsistentiellerSelbstgenügsamkeit in die Realität konkret-existentieller Sichselbstgleich-heit überführende verborgene Sein, das nach der festen Überzeugung derUnterschicht das epiphanische Subjekt im agrarischen Subsistenzbereichgewinnt, teilt sich dieser durch die Subsistenzmittel hindurch mit undverwandelt ihr eigenes Verhältnis zu den letzteren in eine zur enthusias-tischen Schau und zum orgiastischen Genuß ausschweifende positivePartizipationsbeziehung und aktive Identifizierungshandlung.

Das also ist die Verwandlungsmacht, die durch seine unsichtbare Ge-genwart im Subsistenzbereich das epiphanische Subjekt an den Sub-sistenzmitteln übt und kraft deren es diese in manifeste Zeugen, in beialler Mittelbarkeit schlagende Beweise seines allgegenwärtig affirma-tiven Bestehens ummünzt. Und wie nun aber das andere Subjekt sichder agrarischen Subsistenzmittel einerseits bedient, um der begeistertenUnterschicht die als gewiß von ihr angenommene bleibende Präsenzihres Vorkämpfers und Fürsprechers sinnenfällig werden zu lassen, soverleiht es andererseits eben hierdurch dem agrarischen Subsistenzbe-reich allererst den Sinn eines von der aristokratischen Reichtumsphärewahrhaft emanzipierten und dauerhaft absolvierten Reichs sui generis.Solange das andere Subjekt das ländlich einfache Leben, das im Schat-ten der aristokratischen Lebensform unmittelbar subsistentielle Dasein,

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für das es nach der Überzeugung der frondienstlich-geknechteten undlebensartlich-ausgeschlossenen Landbevölkerung optiert, noch nur erstex negativo seiner der aristokratischen Reichtumsphäre bezeigten In-differenz befürwortet, bleibt jenes ländlich unmittelbare Dasein nochbestimmt durch den Reichtum, von dem es als abstraktive AlternativeAbstand nimmt, bezogen auf das Maß der Fülle, das es kraft moderaterGegenstellung verwirft. Es bleibt das einfache Leben, dessen auszeich-nendes Charakteristikum Distanzierung – Abstinenz von Genuß undÜberfluß –, bleibt das nüchterne Auskommen, dessen wesentliches Merk-mal Ablehnung – Verzicht auf Völlerei und Übermaß – ist. Nun aber,da die enthusiasmierte Landbevölkerung das epiphanische Subjekt sichleibhaftig in ihre Subsistenzsphäre einlassen und kraft seiner heimlichenGegenwart die ganze Sphäre mit seinem positiven Geist durchdringenund in seinem affirmativen Sinn transformieren sieht, legt ihr Umgangmit den Subsistenzmitteln seinen bloß reichtumabstraktiven, von Enthal-tung und Nüchternheit geprägten Charakter ab und kehrt statt dessenan sich selber Genuß- und Erfüllungsbedeutung, kurz, reichtumanalogeZüge hervor. So wahr der als gewiß angenommene Eintritt des ande-ren Subjekts in die durch alle reichtumbezügliche Negativität hindurchvon ihm angeblich erstrebte selbstgenügsame Subsistenz der bäuerlich-handwerklichen Unterschicht die begeisternde Positivität der Herstellungeinfacher, im subsistentiellen Objekt der Begierde als pleromatischesReflexivum wirksamer Sichselbstgleichheit gewinnt, so wahr verändertsich dadurch auch das Subsistenzverhalten der Unterschicht selbst undwird aus einer nüchtern an sich haltenden Verwerfung des Lebens imReichtum zu einem lustvoll in sich ruhenden Gegenentwurf zum Lebenim Reichtum, aus einer durch Brot und Wein sich demonstrierenden ent-haltsamen Verneinung der anderen Sphäre zu einer in Brot und Wein sichrealisierenden genußreichen Bejahung des eigenen Daseins. Das heißt,unter dem Einfluß der an ihnen erscheinenden unsichtbaren Präsenzdes anderen Subjekts entwickeln die ländlich schlichten Subsistenzmitteleine in all ihrer Unmittelbarkeit lustbereitende Qualität und zur schierenSichselbstgleichheit Erfüllung gewährende Reflexivität, die der Unter-schicht erlaubt, sich mit der beschriebenen, zu Rausch und Sinnentaumelausschweifenden, zu enthusiastischer Raserei überbordenden Rückhalt-losigkeit in sie zu versenken, an sie zu verlieren, und die in dem Maß,wie sie dem ganzen agrarischen Subsistenzbereich eine dem Leben in

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Hülle und Fülle, das die aristokratische Reichtumsphäre verheißt, de-finitiv analoge pleromatisch unendliche Perspektive vindiziert, ihn ausseiner als reduktionistische Komplementarität sich darbietenden sys-tematischen Abhängigkeit von der Reichtumsphäre auslöst und in dieAutonomie einer als selbstbezügliche Totalität erscheinenden Sphäreganz eigener Art entläßt. Ausgeschlossen aus aller zur distinktiven Le-bensart totalisierten aparten Existenz im Reichtum und reduziert auf einim einfachen Subsistenzmittel perennierendes schmucklos-nüchternesÜberleben, schließt das Dasein der Unterschicht jenen exklusiven Gegen-satz und reduktiven Bezugspunkt der Reichtumexistenz seinerseits aus,indem es kraft der verwandlungsmächtig unsichtbaren Gegenwart desepiphanischen Subjekts die agrarische Subsistenz mit dem begeisterndenSinn und trunkenmachenden Elan einer von aller Fron emanzipierendenund von aller Heteronomie absolvierenden natürlichen Liberalität undkreatürlichen Selbständigkeit sich erfüllen sieht und mithin als einen derReichtumexistenz analogen, dem Leben im Überfluß kongenialen, kurz,zur aristokratischen Lebensform vollgültig alternativen Befriedigungszu-stand erfährt.

Auf merkwürdige Weise macht demnach, um sich ineins der im ei-genen Haus, dem agrarischen Subsistenzbereich, bleibenden Gegenwartund der das eigene Haus befreienden Funktion ihres ex improviso derpriesterköniglichen Opferhandlung auf den Plan getretenen epiphani-schen Herrn und Erlösers zu versichern, die Unterschicht Gebrauch vonalten, längst ad acta gelegten mythologisch-heroologischen Umcharakte-risierungs- und Umfunktionierungsstrategien. Offenbar unter dem Ein-druck einer der einstigen Aufgabenstellung vergleichbaren Anforde-rung, des Erfordernisses nämlich, das auf der Bildfläche erschieneneandere Subjekt der Negativität, die es im Blick auf gesellschaftlichesSein unmittelbar an den Tag legt, zu entreißen und in der Positivitätstatt dessen eines Gestalters und Erhalters gemeinschaftlichen Lebensnachzuweisen, greift sie mit ihrer durch die unsichtbare Präsenz desHeilbringers verwandelten enthusiastisch-pleromatischen Subsistenzer-fahrung, ihrem vom Geist des heimlichen Herrn im Hause zehrendeneucharistisch-orgiastischen Lebensmittelgenuß zurück auf das um denHerrn des Fests zentrierte festliche Teilhabemodell aus mythologischalten Zeiten. Allerdings liegen, aller formalen Ähnlichkeit der Aufgaben-stellung zum Trotz, den im mythologischen Fest und im dionysischen

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Rausch verwirklichten analogen Problemlösungen derart divergierendemateriale Ausgangsbedingungen zugrunde, daß sich mit Rücksicht aufsie die Analogie als vergleichsweise oberflächliche Parallele entlarvt.Während nämlich das mythologische Fest aus einer Situation hervorgeht,in der der kraft unendlicher Negativität ursprüngliche Krisenfaktor, dasex improviso des gemeinschaftlichen Reichtums erscheinende andereSubjekt, leibhaftig zugegen ist und in der die an ihm zu vollbringen-de Überführung der Negativität in affirmatives Verhalten sich auf einund dasselbe Objekt, eben den gemeinschaftlichen Reichtum, bezieht,entspringt der dionysische Rausch einer Ausgangslage, bei der die Ne-gativität und das durchzusetzende affirmative Verhalten des im anderenSubjekt bestehenden Krisenfaktors auf zwei verschiedene Objekte, zweieinander ausschließende Bereiche verteilt wird und bei der das längst dersakrifiziellen Schlachtung durch den Priesterkönig zum Opfer gefalleneandere Subjekt selbst leibhaftig gar nicht mehr präsent, sondern bloßnoch indirekt durch das präventive Opferverhalten des Priesterkönigs,das in eine repressive Maßnahme uminterpretiert wird, als gegenwärtigbezeugt, kurz, nurmehr in den Köpfen der Unterschicht, die, um sichihren Heiland zu erhalten, zu dieser Interpretation ihre Zuflucht nimmt,überhaupt vorhanden ist. Und während das mythologische Fest als dieam identischen Objekt der Krise und vom Krisenfaktor höchstpersönlichins Werk gesetzte Krisenbewältigung eine Zwischenlösung bleibt, einzum Intermezzo verhaltenes Mittel, dessen heimlicher Zweck es ist, durchdie schließliche Beseitigung des qua Reichtum kritischen Objekts und dasdarin beschlossene Gegenstandsloswerden des Krisenfaktors selbst denStatus quo ante einer als unmittelbares Stammesdasein einfachen Subsis-tenz wieder Wirklichkeit werden zu lassen, kann der dionysische Rauschin dem Maß prätendieren, eine vielmehr ebenso positive wie endgültigeKrisenlösung zu sein, wie es mit ihm der Unterschicht gelingt, teils kraftGegenstandswechsels das qua Reichtum kritische Objekt mitsamt derauf es bezogenen Negativität des anderen Subjekts gleich eingangs zubeseitigen und durch die zum ausschließlichen Inhalt der Affirmation desletzteren erhobene einfache Subsistenz als solche zu ersetzen, teils dankseiner Unsichtbarkeit das andere Subjekt selbst, den Krisenfaktor, allerGefahr eines den Gegenstandswechsel Lügen strafenden leibhaftigenBestehens auf seiner Negativität oder herrisch indifferenten Eigensinns zuentziehen und in der schier affirmativen Funktion eines die Unterschicht

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mit dem Enthusiasmus ihrer eigenen Subsistenz erfüllenden und so zwi-schen beiden eine pleromatische Synthesis wirkenden spiritus sanctussich unerschöpflich erschöpfen zu lassen.

Erkauft aber ist demnach diese im dionysischen Rausch realisierte Prä-tention einer perfekten Krisenbewältigung mit unverkennbar imaginärenMitteln. Stellt im Blick auf das Problem gesellschaftlichen Reichtums dasmythologische Fest noch eine nach Maßgabe der heroologischen Gastge-berrolle reale, wenngleich nur vorübergehende Lösung dar, so ist im Kri-terium der bloß imaginierten Präsenz des Gastgebers und der diesem inall seiner Negativität partout nur unterstellten affirmativen Orientierungauf den Subsistenzbereich der dionysische Rausch bei allem Anspruchauf Endgültigkeit Ausdruck einer ganz und gar irrealen Erledigung desProblems. Erzeugt mit Hilfe eines als gegenwärtig bloß imaginiertenanderen Subjekts und per medium einer diesem Subjekt in all seineruniversalen Negativität unterstellten unmittelbar positiven Orientierung,ist er nicht sowohl Resultat einer gesamtgesellschaftlichen Problemlö-sungsstrategie, sondern vielmehr Konsequenz einer schichtspezifischenWunscherfüllungsphantasie. Jene in Gestalt des anderen Subjekts reich-tumentsprungene kollektive Krise, die von der Stammesgemeinschaftmittels Heroologie noch in der Weise umfunktioniert wird, daß sie immythologischen Fest die wie immer vorübergehende Beseitigung desReichtums und damit Beendigung ihrer selbst ins Werk setzt, will heißen,sich als objektives Befriedigungsinstrument für den ganzen Stamm be-währt, interpretiert jetzt die Unterschicht der theokratischen Gesellschafteinbildungskräftig in dem Sinne um, daß sie in der unmittelbar affir-mativen Veranstaltung des dionysischen Rauschs nurmehr der jeglichenReichtumsbezug ausschließenden subsistentiellen Selbstbestätigung ebendieser Unterschicht dient, will heißen, sich in deren privatives Heilsmittelverkehrt.

Wie objektiv unwirklich und wie sehr mit Mitteln einer abstraktivsehnsüchtigen Einbildungskraft erschlichen diese mit dem anderen Sub-jekt als subsistentiellem Gott inszenierte rauschhafte Emanzipation derUnterschicht sich aber auch, aufs Ganze der reichtumbezüglichen Realitätder theokratischen Gesellschaft gesehen, ausnehmen mag, im Blick aufdas subsistentielle Dasein der Unterschicht selbst zeigt sie sich jedenfallsvon privativer Bestimmungskraft und verwandlungsmächtiger Wirk-samkeit. Für sie, die im Dienste der aristokratischen Reichtumsphäre

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Fronenden, stellt jener nach dem symptomatischen Zeugnis des priester-königlichen Tuns unsichtbar gegenwärtige und von ihrem sehnsuchtsvolleigenen Bedürfnis in den Agrarbereich überführte Jasager zu Brot undWein oder Heiland eines reichtumenthoben selbstgenügsamen Lebenseinen ebenso effektiven wie genuinen Aktivposten dar, der als die nichtzwar leibhaftige, wohl aber geistträchtige Verwandlungsmacht ihr ganzessubsistentielles Dasein mit enthusiastisch neuem Sinn erfüllt und mitorgiastisch neuer Freiheit durchdringt und den sie deshalb um nichts inder Welt mehr missen mögen. Den sie aber auch allem Anschein nachgar nicht mehr in Gefahr sind, missen zu müssen, weil er nämlich inder begeisternden Sichselbstgleichheit seiner mit der Unterschicht un-mittelbar geteilten affirmativen Subsistenz sicher aufgehoben und denopferkultlichen Nachstellungen des Priesterkönigs unerreichbar entzogenist!

In der Tat stellt sich sub specie der als unsichtbare Gegenwart rausch-haft agrarischen Insistenz, die im Moment ihrer eigenen, verwandeltenSubsistenzerfahrung, ihres eigenen, festlich exaltierten Brot- und Weinge-nusses die Unterschicht dem anderen Subjekt zuerkennt, jenes opferkult-liche Tun des Priesterkönigs, das sie als eine reaktive Anzeige eben dieserInsistenz des anderen Subjekts interpretiert und als symptomatischenBeweis für diese seine unsichtbar fortdauernde Gegenwart nimmt, als einwenig zweckmäßiges Unterfangen und mehr noch als ein reichlich lächer-liches Beginnen dar. Nach der Interpretation der Unterschicht konzipiert,um dem fortdauernden anderen Subjekt durch Zerstörung seiner imOpferreichtum bestehenden Basis in sei’s magisch-beschwörendem, sei’spraktisch-nachbesserndem Sinne endlich den Garaus zu machen, richtetsich der priesterkönigliche Opferkult gegen dies andere Subjekt in dessengewohnt paradoxer und vielmehr gefürchtet kontradiktorischer Eigen-schaft eines ebensosehr ex improviso der Reichtumbasis erscheinenden,wie in absoluter Negativität zu ihr sich verhaltenden Herrn des Reich-tums. Womit der Priesterkönig aber nach dem Gegenstandswechsel, dendie Unterschicht das andere Subjekt imaginär hat vollziehen lassen, jetztin Wahrheit zu tun hat, ist gar nicht mehr letzteres in der alten Eigenschafteines Herrn des Reichtums, sondern es in der gänzlich neuen Bedeutungeines Herrn des Lebensmittels, es also überführt aus seiner von Nega-tivität und indifferentem Widerspruch geprägten opferentsprungenenStellung vor dem aristokratischen Reichtum in ein von Positivität und

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emphatischer Sichselbstgleichheit getragenes erfüllungsträchtiges Seinin der agrarischen Subsistenz. Während mithin nach der sehnsuchtsvollfesten Gewißheit und einbildungskräftig überwältigenden Erfahrung derUnterschicht das andere Subjekt sich längst als der begeisternde Heldund rauschhafte Erlöser des bäuerlich-handwerklichen Daseins in dieUnmittelbarkeit des agrarischen Subsistenzbereichs abgesetzt und dortauf eine exklusiv neue, affirmativ eigene Grundlage gestellt hat, sucht esder Priesterkönig mittels seiner opferkultlichen Nachstellungen unver-ändert in der alten Position einer in beziehungsloser Negativität auf diearistokratische Reichtumsphäre bezogenen Opfererscheinung dingfestzu machen und zur Strecke zu bringen. Wie könnte dieses opferkult-lich bezeugte Festhalten des Priesterkönigs am anderen Subjekt als demin der starr unendlichen Indifferenz seines opfersituativen Erscheinensdie aristokratische Sphäre fixierenden Herrn des Reichtums verfehlen,auf die Unterschicht den Eindruck einer ans Lächerliche grenzendenDesorientierung zu machen? Ruft der Priesterkönig, wenn er dem epi-phanischen Störenfried mit dem alten Mittel einer sei’s beschwörenden,sei’s nachbessernden Opferreichtumvernichtung beizukommen sucht,diesen nicht bei einem Namen, den er längst abgelegt, ortet er ihn nichtan einer Stelle, die er längst geräumt, gemahnt er ihn nicht an Verbind-lichkeiten, denen er sich längst entzogen hat? Was geht es das in deragrarischen Subsistenz auf eine ebenso definitiv neue wie positiv eigeneGrundlage gestellte andere Subjekt an, wenn der Priesterkönig ihm mitsakrifizieller Unbelehrbarkeit den Opferreichtum als seine Basis nach wievor unterstellt, um sie ihm dann verschlagen zu können? Was braucht esdas im pleromatischen Rausch eines reichtumlos einfachen Lebens sicheraufgehobene andere Subjekt zu kümmern, wenn der Priesterkönig ihmin jener früheren, widerspruchsvoll reichtumbezüglichen Existenz denProzeß macht, in der es sich gar nicht mehr antreffen läßt? Triumphie-rend also und vom unbezwinglichen Enthusiasmus ihrer subsistentiellenWandlungserfahrung erfüllt, kann die der unsichtbaren Allgegenwart ih-res schichtspezifischen Herrn und Heilands im eigenen Haus versicherteUnterschicht zusehen, wie Priesterkönig und Opfergemeinde ihm in prin-zipiell verfehlter Orientierung, in geradezu unsinniger Verkennung derLage, und nämlich gleichermaßen am falschen Ort, in der falschen Identi-tät und mit den falschen Mitteln zu Leibe zu rücken und den Garaus zumachen bestrebt sind.

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Und dieses auftrumpfende Zuschauen der Unterschicht, dieser ihrvom triumphalen Bewußtsein der Unerreichbarkeit des anderen Subjektsgetragene abschätzige Blick auf Sinn und Nutzen der aristokratischenOpferhandlung zeigt nun aber Wirkung beim Priesterkönig selbst undseiner Opfergemeinde. Vor allem die Wirkung, daß Priesterkönig undOpfergemeinde die Interpretation, die das gemeine Volk dem sakrifi-ziellen Vollzug widerfahren läßt, allmählich übernehmen und daß siedabei ihr ursprünglich eigenes Verständnis von der Sache sich abkaufenund verschlagen lassen. Nicht, daß dieses dem Priesterkönig und seinerGemeinde eigene Verständnis des Opferakts je den Charakter einer expli-ziten Einsicht oder deutlich bekundeten Absicht erlangt hätte! Was derPriesterkönig mit seiner forcierten Kurzfassung des Opferakts, mit derwidersinnig kurzgeschlossenen Form, die er seiner Darbringung an diewahren Herren des Reichtums, die Götter, gibt, zu erreichen strebt, ist zuverhindern, daß ex improviso des den Göttern dargebrachten Reichtumsderen als absolut anderes Subjekt Gestalt annehmende wahre Identitäterscheint und sich in Szene setzt. Weil er wegen ihrer alles irrealisierendenNegativität von dieser opferreichtumgestifteten Epiphanie partout nichtswissen will, verhindert der Priesterkönig durch die unsinnig überstürz-te, paradox abbreviierte Form, die er mittels ritueller Manipulation derDarbringung an die Götter verleiht, daß jene Situation eintritt, in derer sie zur Kenntnis nehmen müßte. Und weil hierbei aber das, was derPriesterkönig im Sinn hat, wesentlich nur die präventive Vermeidungder Kenntnisnahme des ex improviso des Opfers drohenden anderenSubjekts, nichts mithin als der evasive Ausschluß seiner möglichen Wahr-nehmung ist, zeichnet sich folgerichtig das darauf gemünzte priesterkö-nigliche Tun durch eine im praktischen Eingriff in die Opferhandlungsich erschöpfende bewußtlose Zielstrebigkeit, eine im Eifer der Manipu-lation des Opferrituals sich selber verborgen bleibende besinnungsloseZweckmäßigkeit aus. Der Priesterkönig weiß, was er tut, aber er weiß esin jenem besinnungslos reaktiven Verstand, der seinem ausschließlich aufdie Prävention und Abwehr von Wissen gerichteten Tun entspricht. Erweiß, was er will, aber er weiß es in jener bewußtlos impulsiven Form, dieihm der Umstand, daß Inhalt seines Wollens gerade das Nichtwissen ist,auferlegt. Genau diese Bewußtlosigkeit seines kurzschlüssig sakrifiziellenHandelns aber läßt ihn nun anfällig werden gegen die dem letzterendurch die Unterschicht widerfahrende Uminterpretation. Weil er seine

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gegen die imminente Wiederkehr des anderen Subjekts ex improviso desOpfers gerichtete Prävention sich – der Verdrängungslogik, die er übt,gemäß – nicht klarmachen kann und mehr noch der eigenen Einsicht vor-enthalten muß, hat er der repressiven Bedeutung, deren die Unterschichtsein präventives Tun überführt, nichts entegenzusetzen. Vielmehr mußer mit der ganzen Anfälligkeit gegen Rationalisierungen, zu der ein Han-deln aus Gründen disponiert, die genau dieses Handeln zu verdrängendient, die Deutung, die seinem sakrifiziellen Tun die Unterschicht gibt,als Erklärung eines augenscheinlich erklärungsbedürftigen Verhaltens,als Sinngebung für ein andernfalls des Widersinns dringend verdächtigesPhänomen, kurz, als eine Aufklärung, die Licht in das Dunkel der ihm ei-genen Motivation und Geisteslage bringt, sich gefallen lassen. Indem dieUnterschicht aus dem sakrifiziellen Verhalten des Priesterkönigs den vonSehnsucht getragenen Schluß zieht, daß es Zeugnis ablege von der blei-benden Gegenwart des reichtumentsprungen anderen Subjekts und anihm selber das repressive Bemühen verkörpere, dies in die Subsistenz ent-wichene, unsichtbar gegenwärtige andere Subjekt sei’s in nachbessernderWeise, sei’s in beschwörender Form doch noch zu beseitigen, findet sichder Priesterkönig solcher Interpretation in dem Maße hilflos ausgeliefert,wie teils die behauptete subsistentielle Gegenwart des anderen Subjektsin der rauschhaften Existenz der Unterschicht eine überwältigende Em-pirie hervorkehrt, teils dem Priesterkönig die eigene wahre Ratio seinesVerhaltens, derzufolge es nämlich den vielmehr präventiven Versuchdarstellt, das sakrifiziell zum Verschwinden gebrachte andere Subjekt vonder epiphanischen Wiederkehr abzuhalten, als eine bewußt geltend zumachende, mit Sinn und Verstand vorzubringende Gegenversion partoutnicht zu Gebote steht. Von allen guten Geistern seines kurzschlüssigopferkultlichen Vorgehens nicht zwar verlassen, wohl aber im Dunkelnihrer selbstverleugnend unerklärten Wirkungsweise gelassen, läßt sichder Priesterkönig nolens volens die Erhellung und Aufklärung gefallen,die für sein unerklärtes Tun die Unterschicht mit ihrer enthusiastisch-orgiastischen Behauptung der unsichtbar subsistentiellen Gegenwart desanderen Subjekts bereithält.

Und wie er demnach sein sakrifizielles Tun sich als repressive Maß-nahme gegen jenes am Grunde des bäuerlich-handwerklichen Daseinsangeblich subsistierende andere Subjekt von der Unterschicht erklärenläßt, so übernimmt er natürlich auch die Einschätzung der Unterschicht

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von der Sachwidrigkeit und Ineffektivität seines sakrifiziellen Tuns, diemit dieser Erklärung notwendig einhergeht. So wahr Priesterkönig undOpfergemeinde mangels verfügbarer Alternativversion akzeptieren müs-sen, daß ihr ritueller Kult das Ziel verfolgt, einen aus der Sichtbarkeitseiner indifferenten Frontstellung gegenüber der Reichtumsphäre in dieVerborgenheit einer rauschhaften Einlassung in den Subsistenzbereichübergewechselten epiphanischen Störenfried als das provokativ andereSubjekt, das er so oder so ist, zu guter Letzt doch noch aus der Weltzu schaffen, so wahr müssen sie nun aber auch akzeptieren, daß ihreZielsetzung, dies allem aristokratischen Reichtumbezug entronnene undim Schoße eines agrarisch einfachen Lebensgenusses sicher aufgehobeneandere Subjekt mit Mitteln der alten opferkultlichen Reichtumzerstörungzur Strecke zu bringen, verfehlt und geradezu albern ist. Den von der Un-terschicht über die wahre Natur, eigentliche Bestimmung und wirklicheGegenwart ihres epiphanischen Gegners Aufgeklärten muß unmittelbareinsichtig scheinen, daß es ein Unfug ist, einem so anders, als angenom-men, beschaffenen, disponierten und situierten Gegner im altgewohntenRahmen und mit den vormals bewährten Strategien zu Leibe rückenzu wollen. Gleichzeitig muß aber das dem opferkultlichen Tun als seineRatio interpretativ nachgewiesene Unternehmen als solches, eben das Be-mühen, dem anderen Subjekt den Garaus zu machen, dem Priesterkönigund seiner Gemeinde ein dringendes Anliegen und überaus angebrach-tes Vorhaben scheinen. Schließlich steht in seiner von der Unterschichtbehaupteten neuen Bestimmung eines Herrn des subsistentiell einfachen,orgiastisch affirmativen Lebens das andere Subjekt kaum weniger querzu allen auf Bestand und Geltung des Seins im Reichtum gehenden ari-stokratischen Ansprüchen als in der alten, durchs Opfer beschworenenBedeutung eines kraft monstrativ-epiphanischer Opferhandlung vor seinEigentum gestellten und aber von unbedingter Indifferenz gegen es er-füllten Herrn des Reichtums. Was bei diesem Wechsel von der ostentativalten Bedeutung zur interpretativ neuen Bestimmung das andere Subjekteinerseits an modaler Kraft der Verneinung und ontologischer Pauscha-lität verliert, das gewinnt es andererseits an sozialer Widerstandskraftund schichtspezifischer Intentionalität. Indem das andere Subjekt sichaus der im Opferkult abstrakten Konfrontation mit der Reichtumsphärein eine als orgiastischer Rausch integrative Konkreszenz mit dem Sub-sistenzbereich übergewechselt zeigt, hört es zwar, entsprechend der bei

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aller Negativität positiven Wendung, die es hiermit vollzieht, auf, diereichtumbezogene theokratische Gesellschaft in genere mit Entwirkli-chung zu bedrohen, aber nur, um der aristokratischen Reichtumsphärein specie den Prozeß zu machen und im Verhältnis zu seinem eigenenreichtumanalog affirmativen Bestehen allen Sinn und Wert abzusprechen.Was Wunder, daß Priesterkönig und Opfergemeinde, die Repräsentan-ten und Nutznießer der durch die reichtumanalog orgiastische Totalitätdes agrarischen Bereichs um ihre Geltung gebrachten aristokratischenReichtumsphäre, an dieser durch das andere Subjekt als den Herrn desLebensmittels effektuierten sozialen Emanzipation der Unterschicht gera-deso Anstoß nehmen wie vorher an der durch das andere Subjekt als denHerrn des Überflussses indizierten modalen Disqualifikation der Gesamt-gesellschaft und ontologischen Revokation des gesellschaftlichen Seinskraft der ihm eigenen Existenz und daß sie geradeso wie vorher bestrebtsind, dem epiphanischen Störenfried das Handwerk zu legen? Und wasWunder, daß sie hierbei ihre Repressions- und Verdrängungsmaßnahmenauf jene, durch die Unterschicht interpretativ ihnen vermittelte neue,subsistentielle Bestimmung des Störenfrieds abzustellen bemüht sindund, statt ihn noch länger an einer Stelle, eben der Opferstätte, erwi-schen zu wollen, von der er sich längst absentiert hat, ihn vielmehr inden Schlupfwinkel, in dem er nunmehr präsent ist, eben in den Sub-sistenzbereich hinein, zu verfolgen unternehmen? Statt dem anderenSubjekt in unsinniger Verkennung seiner neuen, bäuerlich einfachen Basisund unmittelbar affirmativen Subsistenz noch weiter mit der ebensowirkungslosen wie obsoleten opferkultlichen Zerstörung von Reichtumbeikommen zu wollen, konzentriert demnach der durch die Interpre-tation der Unterschicht aufgeklärte Priesterkönig seine Nachstellungenauf jene neue Basis und sucht das andere Subjekt durch die sakrifizielleVernichtung seiner ins agrarische Lebensmittel gesetzten Positivität unddarin gesammelten Kraft zur Strecke zu bringen. Im Rahmen seines unoactu der Darbringung der Gaben auch schon wieder deren Beseitigungbetreibenden kurzschlüssigen Kults opfert er vorzugsweise Feldfrüchte,Vieh, Speis und Trank, Gefäße und Geräte des täglichen Gebrauchs – alles,was als natürliche Grundlage des orgiastischen Herrn des Lebensmit-tels, als Ausdruck und Verkörperung seiner unmittelbar subsistentiellenSichselbstgleichheit in Frage kommt. Statt an kunstreichen Artefakten,an Geschmeide und Rüstungen, an erlesenen Exemplaren seiner reichen

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Ernten und fetten Herden übt der Priesterkönig sein routiniert sakrifiziel-les Zerstörungswerk nun eher an simplen Gebrauchsdingen, an Brot undWein, an vegetabilischem Leben, an Fleisch und Blut der animalischenKreatur und hofft, durch diese intentionale Umstellung und gegenständ-liche Anpassung des Opferrituals jenes in die Subsistenz verschlagenensozialen Störenfrieds, als der das andere Subjekt jetzt figuriert, zu guterLetzt doch noch habhaft und zugleich ledig werden zu können.

Eben dieser Umstellungs- und Anpassungsversuch indes schlägtgründlich fehl und vervollständigt am Ende bloß den Triumph des epi-phanischen Herrn der Unterschicht über die opferkultlichen Nachstel-lungen und Ränke des Priesterkönigs. Mag nämlich der letztere jenenepiphanischen Störenfried und sozialen Widersacher noch so sehr in dieSchlupfwinkel seiner subsistentiellen Basis hinein verfolgen, um ihmdurch deren Zerstörung den Garaus zu machen – er tut es doch allemalaus der Sicht der Reichtumsphäre, in der er die Herrschaft übt, tut esmit der Einstellung und der Haltung eines von den wahren Eignern,den Göttern, bevollmächtigten Verwalters gesellschaftlichen Überflusses.In dem Augenblick deshalb, in dem er der agrarischen Subsistenzmit-tel sich bemächtigt, um sie und mit ihnen den auf ihrer Basis präsentsich behauptenden dionysischen Gegenspieler zu vernichten, zieht ersie unwillkürlich in den Bann seines als Reichtumsphäre bestimmtenDominiums, integriert sie der Überflußperspektive, unter der die Weltihm erscheint, und verkehrt, was Unterpfand fremder Erfahrung seinsollte, in den Ausweis gewohnten Besitzes, läßt aus dem vermeintlichenLebensmittel des anderen den tatsächlich eigenen Reichtum werden.Realisieren muß er bei seinen mitten in den dionysischen Subsistenzbe-reich hineingetragenen opferkultlichen Aktivitäten, daß Reichtum keineSache des gegenständlichen Bezugs und der empirischen Sphäre, son-dern eine Frage der gesellschaftlichen Stellung und der systematischenPerspektive ist und daß deshalb das in aller Realität zum Orgiasmusunmittelbarer Subsistenz entfesselte epiphanisch andere Subjekt vor denNachstellungen des in aller Objektivität an die Reichtumperspektivegeketteten Priesterkönigs zuverlässig geschützt ist. Was immer der Pries-terkönig an vermeintlich bloßem Lebensmittel in die Hand nimmt, umes sakrifiziell zu zerstören und so das andere Subjekt der Subsistenzbasiszu berauben – kraft seiner eigenen Stellung als Stellvertreter der Götterverwandelt sich ihm das zum Opfer gebrachte Lebensmittel unter der

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Hand in deren Eigentum, in schieren Reichtum, und vereitelt damit imAnsatz bereits all sein Bemühen, dem anderen Subjekt auf dessen wirk-lichem Grund und Boden, im Subsistenzbereich, beizukommen. Sosehrer bestrebt ist, zu den gegnerischen Stützpunkten vorzudringen, um siezu schleifen und als die Basis der subsistentiellen Macht des Gegnerssakrifiziell zu vernichten, sosehr verkehrt sich ihm, dem von dionysi-scher Unfaßbarkeit in seinem Wollen verwirrten eselsohrigen Midas, wasimmer er anfaßt, ins reichtümlich eigene Gold, erweist sich ihm kraftseiner priesterköniglichen Stellung und opferkultlichen Funktion jedesvermeintliche Element des vom Gegner besetzten Terrains als tatsächli-cher Bestandteil der von ihm selber behaupteten Domäne und vergreifter sich mithin, wo er den Gegner anzutreffen und fast auch zu fassenwähnt, stets wieder nur an dem, was diesem ebenso sphärisch fern undsystematisch nichtig wie ihm selber wert und teuer ist – kurz, er vergreiftsich, statt an Leib und Leben des anderen, stets wieder nur an seinemeigenen Hab und Gut. Und weil er so kraft der objektiven Befangenheitseiner priesterköniglichen Stellung ständig das Gegenteil dessen tut,was er will, weil er mit seinen sakrifiziellen Mitteln unablässig bloß ei-genen Reichtum zerstört, obwohl er unablässig bemüht ist und wähnt,die Subsistenz des anderen zu erwischen und zu vernichten, macht aufdie Unterschicht sein Verhalten nicht mehr nur den Eindruck, Ergebniseiner unsinnigen Verkennung, einer ignoranten Fehleinschätzung destatsächlichen gegnerischen Fundaments und Aufenthaltsorts zu sein,sondern drängt sich ihr dies Verhalten vielmehr als Resultat einer wahn-sinnigen Verwechslung auf, einer dementen Identifizierung der Basis desGegners mit der eigenen Position. Dieses demente Quidproquo, dem sieden Priesterkönig unfehlbar aufsitzen und worin sie seinen sakrifiziellenKriegszug gegen den dionysischen Helden lächerlich-kläglich endensieht, begreift die Unterschicht als Folge der reichtumanalog rauschhaf-ten Qualität, die der dionysische Held, das epiphanisch andere Subjekt,ihrem subsistentiellen Dasein verleiht: Deshalb also, weil die agrarischeBrot-und-Wein-Seligkeit, in der das andere Subjekt dem Priesterkönigsich präsentiert, kraft ihres pleromatisch-affirmativen Charakters den inperfekter Zweideutigkeit fremdartig-vertrauten Anschein eines dem Seinim Reichtum analogen Verhältnisses, einer Art Leben im Überfluß er-weckt, läßt sich der Priesterkönig dazu verführen, das neue Verhältnis aufdas alte Sein zu reduzieren, das fremdartig andere als das vertraut eigene

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dingfest zu machen, will heißen, den orgiastischen Rausch mit schwelge-rischer Ausschweifung zu verwechseln, die agrarischen Rauschmittel mitaristokratischem Reichtum zu vertauschen. So betrachtet, nimmt für dieUnterschicht jene permanent sakrifizielle Fehlleistung des Priesterkönigs,die Ausdruck einer objektiven, durch die systematische priesterkönigli-che Stellung bedingten Blindheit ist, vielmehr die Züge einer induzierten,durch die änigmatische Macht des epiphanischen Subjekts bewirkten Ver-blendung an. Vom Geiste seines reichtumanalogen Erfüllungszustandsin der Subsistenz ermächtigt, jagt demnach das andere Subjekt den ihmnachstellenden Priesterkönig ins silenische Bockshorn einer als sakri-fizielle Bestrafungsaktion vermeinten Selbstzerstörung und exekutiertan ihm den Triumph der Orgie über das Opfer: gestaltgeworden in derFigur des Lykurg, der, wähnend, den dionysischen Störenfried ergriffenzu haben und zum Opfer zu bringen, tatsächlich nur den eigenen Sohn,seinen kostbarsten Besitz, den Reichtum, in dem er sich selber identischbehauptet und kontinuiert, über die Klinge springen läßt.

Am Ende gelingt es dem Priesterkönig doch, seines dionysischen Gegners habhaftzu werden und ihn zu sakrifizieren. Als Beweis dafür gilt der Unterschichtdas jahreszeitliche Absterben der Natur. Dieses Absterben entlarvt eigentlichden unmittelbaren Subsistenzbereich als bloßen epiphänomenalen Schein derReichtumerzeugung und widerlegt also auch den in dieser Unmittelbarkeitgründenden dionysischen Herrn als Fiktion. Die Unterschicht aber hält anletzterem fest, behauptet das Absterben der Natur als Konsequenz seines realensakrifiziellen Todes und flüchtet sich damit vor der drohenden trostlosen Desillu-sionierung in kummervolle Trauer. Und diese Trauer ist noch nicht einmal dasletzte Wort, weil die Unterschicht mit dem gleichen Recht, mit dem sie im herbst-lichen Absterben der Vegetation den Beweis für den Tod ihres Herrn sieht, dieim Frühjahr neuerwachende Vegetation als Beweis für seine Wiederauferstehungnimmt.

Wie unerreichbar der priesterköniglichen Verfolgung entzogen undwie sehr im Schutz und Schoße seines ebenso reichtumanalogen wiereichtumüberhobenen Rauschs zum dithyrambischen Triumph über denad absurdum schierer Selbstzerstörung sich führenden Priesterkönig dis-poniert das epiphanische Subjekt aber auch erscheinen mag – irgendwann

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gelingt es dem Priesterkönig offenbar doch, seine immer wieder ins Leereder Vernichtung eigenen Reichtums laufenden Nachstellungen auf Er-folgskurs zu bringen, und schafft er es wider Erwarten doch noch, Handan den triumphaliter ungreifbaren Widersacher zu legen und ihm sakri-fiziell den Garaus zu machen. Daß dem Priesterkönig dieser unverhoffteErfolg schließlich doch noch beschieden ist, erweist sich der Unterschicht– im Einklang mit der wesentlich imaginären Natur ihres subsistentiellenHerrn und Heilands – auf indirektem Weg: modo obliquo nämlich desZerfalls und Untergangs des vom anderen Subjekt zum Aufenthaltsortund zur Wirkungsstätte erkorenen unmittelbaren Subsistenzbereichs. Wieihr enthusiastischer Genuß des als unmittelbar verfügbare Naturgege-benheit des Umwegs über die Reichtumsform enthobenen agrarischenLebensmittels der Unterschicht als indirekter Beweis, als Indiz, für diesichselbstgleich begeisternde heimliche Gegenwart des epiphanischenSubjekts gilt, so nimmt sie nun das Versiegen und Verschwinden jenesunmittelbaren Lebensmittels und den Verlust des sich daran entzün-denden Genusses als nicht minder indirekten Beweis dafür, daß es demPriesterkönig doch noch gelungen ist, seine lange genug fruchtlosenNachstellungen zum Erfolg zu führen, sich des epiphanischen Subjektszu bemächtigen und seiner heimlichen Gegenwart mit sakrifizieller Ge-walt ein Ende zu machen. Das Aufhören allen unter- und außerhalb derReichtumbildungsebene sich ereignenden agrarischen Lebens von derHand in den Mund, das Zugrundegehen aller bäuerlich unmittelbarenSubsistenz, das ja nichts anderes ist als Konsequenz des jahreszeitlichbedingten Absterbens der Vegetation, einer periodisch wiederkehrendenRuhephase der Natur, interpretiert mithin die Unterschicht als bei al-ler Obliquität unmißverständliches Zeichen des sakrifiziellen Triumphsdes Priesterkönigs über das andere Subjekt, das sich durch seine zumsiegestrunkenen Umzug verklärte Flucht in den Freiraum eben jenerbäuerlichen Subsistenz dem priesterköniglichen Strafgericht bis dahin zuentziehen vermochte. Tatsächlich aber ist dies naturzyklisch bestimmteAufhören der bäuerlich unmittelbaren Subsistenz nicht sowohl indirek-ter Beweis für den sakrifiziellen Untergang des in solch subsistentiellerUnmittelbarkeit seinen Freiraum behauptenden und seine Liberalienfeiernden anderen Subjekts, sondern vielmehr direkte Widerlegung derdem anderen Subjekt als seine Freistatt, seine Liberalität unterstelltensubsistentiellen Unmittelbarkeit als solcher. Und so betrachtet, ist dies

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jahreszeitlich bedingte Zum-Erliegen-Kommen der unmittelbaren Subsis-tenz eigentlich Widerlegung des ganzen, auf die angebliche Parteinahmedes anderen Subjekts für einen autarken Agrarbereich gegründeten en-thusiastischen Emanzipationsanspruchs der Unterschicht. Was, wie obengesehen, der Unterschicht ja überhaupt nur erlaubt, die Negativität, diedas opferentsprungene epiphanische Subjekt der priesterköniglichenReichtumsphäre beweist, in die Positivität eines Eintretens für ihr eigenesbäuerliches Dasein umzuimaginieren und also dort die explizite Ableh-nung aristokratischen Reichtums in hier eine implizite Affirmation desagrarischen Lebensmittels sich verkehren zu sehen, was ihr mit anderenWorten erlaubt, den Richter und Verwerfer der reichtumzentriert apartenExistenz der Oberschicht als den Heiland und Erlöser eines ihr eigenen,reichtumüberhobenen einfachen Lebens in Anspruch zu nehmen, istdie Tatsache, daß eben dies bäuerliche Dasein, wie einerseits aus derpriesterköniglichen Reichtumsphäre objektiv ausgeschlossen und vonaller aristokratischen Lebensart definitiv abgeschnitten, so andererseitsder Unmittelbarkeit eines reichtumentrückt selbstgenügsamen Bestehensüberführt, zur Eigenständigkeit einer agrarisch subsistentiellen Lebens-form in sich reflektiert erscheint. Nur weil das subsistentielle Dasein derUnterschicht in dem Maß, wie die Überflußexistenz der Oberschicht esvon sich abstößt und in die entmischte Äußerlichkeit eines mit der aristo-kratischen Lebensart unvermittelten bäuerlichen Vegetierens verbannt,sich seinerseits abzusetzen und in der unmittelbaren Selbstbeziehungeiner reichtumunabhängigen Selbstbescheidung zu behaupten, in einerBrot-und-Wein-Autarkie zu verhalten vermag, kann das in affirmativerWendung zu diesem Dasein seine Zuflucht nehmende epiphanische Sub-jekt Besitz von ihm ergreifen und ihm die enthusiastische Bedeutung undorgiastische Sichselbstgleichheit einer vollgültigen Analogie und ebendeshalb wirklichen Alternative zum Leben im Reichtum verleihen.

Genau jene für den Einzug des anderen Subjekts in den Agrarbereichund die orgiastische Emanzipationstätigkeit, die es dort entfaltet, grund-legende subsistentielle Autarkie des bäuerlichen Daseins aber erweistsich durch das naturzyklisch bedingte Versiegen der unmittelbaren Sub-sistenz als Schein. Oder vielmehr erweist es sich als ein bloßes Epiphäno-men, eine strikt in den Reichtumbildungsprozeß eingebundene, zeitlichbegrenzte Rand- und Begleiterscheinung, die geknüpft ist an eine be-stimmte Phase und Kondition des Prozesses: die Vegetationsphase oder

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fruchtbare Zeit des Jahres nämlich, in der das, was die reichtumbildendeArbeit vorbereitet, gepflanzt und besorgt hat, von der fruchttragendenNatur hervorgebracht, ausgebildet und gereift wird. Diese Phase eines dieFrüchte der Arbeit zeitigenden natürlichen Wachstums und Gedeihensist es, die dadurch, daß sie den agrarischen Raum mit einem Überflußebensowohl an wildwachsend herrenlosen wie an kultiviert herrschaft-lichen Produkten erfüllt und die Fülle mehr noch in der vorläufigengesellschaftlichen Unentschiedenheit einer zwischen agrarischem Le-bensmittel und aristokratischem Reichtum changierenden Feld-, Wald-und Wiesenunmittelbarkeit sich präsentieren läßt, will heißen, in dersinnenfällig blendenden Zweideutigkeit eines ebenso ad hoc zur Befrie-digung des täglichen Bedarfs der Arbeitenden tauglichen wie ultimo zurjährlichen Bereicherung der Herrschenden dienlichen Naturgegebenenzur Verfügung stellt, die also dadurch, daß sie die Früchte der Arbeit insolcher empirischen Ungeschiedenheit erhält, dem Schein einer unter Ab-straktion von aller Reichtumbildung möglichen einfachen Selbsterhaltungder Arbeitenden Vorschub leistet, die Illusion der Lebbarkeit einer derReichtumrücksicht enthobenen unmittelbar agrarischen Selbstversorgungnährt. Und indem diese fruchtbare Phase zuende geht, indem die Naturaufhört, mit vegetativer Freigebigkeit immer neue Lebensmittel wachsenzu lassen, und vielmehr abstirbt, nachdem sie Frucht getragen hat, stirbtmit ihr zugleich jener schöne Schein einer von aller Reichtumbildungs-rücksicht abgelösten naturverbunden unmittelbaren Subsistenz. In demMaß, wie die Natur sich zur Winterruhe bereitet und die Lebensmittelim Zuge ihrer organisierten Ernte und Einbringung als Reichtum in denSpeichern und Vorratshäusern des Priesterkönigs verschwinden, ohnedaß auf den Feldern und Weiden neue nachwachsen, erweist sich, daßauch und gerade die bäuerliche Subsistenz eine in letzter Instanz auf denReichtumbildungsprozeß bezogene, eine wesentlich auf die Verwandlungvon Lebensmittel in Reichtum angewiesene Daseinsform bleibt und daß,von daher gesehen, die vorhergehende Erfahrung einer nicht mit derRücksicht auf die Reichtumerzeugung vermittelten, einer ohne Rücksichtauf Reichtum unmittelbaren agrarischen Subsistenz bloß einen phäno-menalen Reflex und Abglanz der Reichtumerzeugung selbst, eine durchderen fruchtbare Phase miterzeugte und genährte chronische Täuschungdarstellt. Es zeigt sich, daß der in der fruchtbaren Zeit des Jahres bei der

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agrarischen Schicht entstandene Eindruck einer mit ihrem strukturell-sozialen Ausschluß aus der aristokratischen Reichtumsphäre unbedingtzusammenfallenden subsistentiell-realen Ablösung und Verselbständi-gung ihres bäuerlichen Daseins eine – wenn man so will natürliche –Illusion oder jedenfalls nichts weiter als eine flüchtige Impression, einkurzfristiger Anschein ist und daß auf lange Sicht oder aufs Ganze desJahreszyklus gesehen der Ausschluß der agrarischen Unterschicht ausder von ihr unterhaltenen aristokratischen Sphäre keineswegs auf ihresubsistentielle Selbständigkeit hinausläuft, daß er vielmehr im Normalfallmit ihrer fortwährenden ökonomischen Abhängigkeit von der Subsistenzdessen, wovon sie ausgeschlossen ist, eben dem frondienstlich erzeugtenReichtum, einhergeht. Sosehr die bäuerlich-handwerkliche Unterschichtder aristokratischen Lebensart fern und an die Peripherie der theokrati-schen Gesellschaft verbannt bleibt, sowenig gewinnt sie dadurch dochaber die Distanz und Libertät einer von der Beziehung auf Reichtumdauerhaft dispensierten unmittelbaren Subsistenz oder einfachen Selbst-versorgung und sosehr bleibt sie, abgesehen von jenem als schöner Scheinvorübergehenden Moment einer die Früchte ihrer Arbeit am Quellpunktnatürlicher Fruchtbarkeit verhaltenden pleromatischen Fülle, angewiesenauf die Vorräte der Oberschicht, die sie selber angehäuft, auf die pries-terköniglichen Kornkammern, die sie selber gefüllt hat, kurz, abhängigauch und gerade in ihrer eigenen Subsistenz von jener theokratischenReichtumsform, in deren Diensten ihr Dasein steht und um derentwillensie ihr Leben lang front.

Ist demnach aber, wie sich am Ende der fruchtbaren Zeit des agra-rischen Jahres herausstellt, die subsistentielle Unmittelbarkeit, in derwährend dieser Zeit die Unterschicht sich behauptet, bloß ein Epiphäno-men, eine vergängliche Begleiterscheinung der Reichtumproduktion alssolcher, genauer gesagt ein die Erzeugung der Lebensmittel als Reich-tum verhüllender augenblicklicher Reflex naturgegebenen Überflusses,ein die Vermittlung aller Subsistenz durch die Reichtumsform moment-haft umspielender Widerschein unvermittelter Fülle, so ist nun die imherbstlichen Absterben der Natur beschlossene Auflösung und vielmehrVerflüchtigung dieses Widerscheins offenbar gleichbedeutend mit derAufhebung und vielmehr Widerlegung des auf eben diesen Widerscheinseine begeisternde Gegenwart und befreiende Wirksamkeit gründendenepiphanischen Subjekts. Wenn jenes gegenüber der exklusiven Lebensart

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der Oberschicht in subsistentieller Eigenständigkeit, agrarischer Unab-hängigkeit sich behauptende bäuerlich-handwerkliche Dasein, auf dasals auf seinen in aller Negativität heimlich avisierten positiven Bezugs-punkt die Unterschicht das andere Subjekt verpflichtet, sich am Endedes Fruchtzyklus als ein durch die Reichtumerzeugung unwillkürlichmiterzeugtes Epiphänomen ineins herausstellt und verflüchtigt, dannverflüchtigt sich damit auch und natürlich das an solch epiphänome-nalem Schein seine bleibende Gegenwart gewinnende und in ihm seineorgiastisch emanzipatorische Wirksamkeit entfaltende andere Subjektselbst. Oder vielmehr erweist sich dieses der bäuerlich-handwerklichenUnterschicht ihre enthusiastisch-subsistentielle Freiheit von der Reich-tumsphäre bedeutende andere Subjekt geradeso sehr als von Anbeginnan ein Schein wie die agrarische Autarkie, auf deren Grund und in derenGewahrsam es solche Bedeutung hervorkehrt. Wie die subsistentielleUnmittelbarkeit, in der während der fruchtbaren Phase des landwirt-schaftlichen Arbeitsjahres die Unterschicht sich behauptet, am Ende derPhase sich als ausnehmende Täuschung enthüllt und der wirklichenNormalität einer strikt reichtumvermittelten Subsistenz Platz macht, soentlarvt sich nun auch die aus Verzweiflung und Sehnsucht von derUnterschicht auf eben diese subsistentielle Unmittelbarkeit gegründeteund sie als ein rauschhaft libertäres Selbstverhältnis begründende un-sichtbare Gegenwart des anderen Subjekts als eine bodenlose Fiktionund weicht dem grausam ernüchterten Bewußtsein der Tatsache, daß seitseiner letzten, der präventiven Routinisierung des Opfers vorausgegange-nen Sakrifizierung durch den Priesterkönig das andere Subjekt überhauptnicht mehr erschienen und aus aller – egal ob sichtbaren, ob unsichtbaren– Gegenwart definitiv verbannt ist.

Oder vielmehr könnte sich dies ernüchterte Bewußtsein bei der Unter-schicht einstellen, stünde nicht eben jene verzweiflungsvolle Sehnsucht,kraft deren sie das andere Subjekt als unsichtbar gegenwärtiges imagi-niert, dagegen. Jene aus Unterdrückung und Frondienst gespeiste Ver-zweiflung an ihrem deklassierten Dasein und Sehnsucht nach Erlösunghindern die Unterschicht daran, ihren epiphanischen Herrn als in der Ver-flüchtigung seiner existentiellen Basis sich selber verflüchtigende Fiktionwahrzunehmen, und drängen statt dessen dazu, diese Auflösung einerFiktion für den wirklichen Untergang des Fingierten zu nehmen. Ausschierer verzweiflungsvoller Unlust, sich solchermaßen enttäuschen und

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in die systematische Hoffnungslosigkeit eines strikte subsistentielle Ab-hängigkeit mit restriktivem sozialem Ausgeschlossensein verknüpfendenewig knechtischen Daseins hinabstoßen zu lassen, hält die Unterschichtan der Realität ihres in unsichtbarer Gegenwart imaginierten epiphani-schen Herrn fest und sieht diesen, wenn sie ihn denn schon am Ende derVegetationsperiode verlieren muß, jedenfalls nicht einfach nur figürlichsich auflösen und als Illusion verfliegen, sondern persönlich zugrundege-hen und als präsente Macht den Geist aufgeben. Oder vielmehr sieht siesein Zugrundgehen nicht, sondern erschließt seinen Untergang aus demAbsterben jener von ihm erfüllten und als seine orgiastische Basis firmie-renden unmittelbaren Subsistenz. Wie das Wachsen und Gedeihen desagrarischen Lebensmittels, die subsistentielle Unmittelbarkeit von Brotund Wein, der Unterschicht vorher als indirekter Beweis für die enthusi-asmierende Ankunft und unsichtbare Präsenz ihres epiphanischen Herrndiente, so gilt ihr nun umgekehrt das Hinfälligwerden der subsistentiellenUnmittelbarkeit und Absterben des quasi naturgegebenen Lebensmittelsals ein ebenso indirekter Beweis für den unsichtbaren Untergang unddeprimierenden Verlust dieses ihres epiphanischen Herrn. Damit aber,daß sie das Absterben der – quasi ohne Rücksicht auf den Reichtumlebensmittelspendenden – Natur, statt als augenscheinliche Widerlegungeines die Fiktion vom unsichtbar gegenwärtigen anderen Subjekt über-haupt nur ermöglichenden Scheins von subsistentieller Unmittelbarkeit,vielmehr als beweiskräftiges Indiz für das reale Zugrundegehen des aufder Basis dieses Scheins von Unmittelbarkeit fingierten anderen Subjektsselbst nimmt, stellt die Unterschicht das ganze Verhältnis auf den Kopf.Statt als Desillusionierungsvorgang, der die Prämisse einer reichtum-überhoben agrarischen Subsistenz als Täuschung entlarvt und auch undnatürlich die als regelrecht induktiver Schluß auf dieser Prämisse fußen-de Fiktion eines unsichtbar gegenwärtigen origastischen Herrn solcherSubsistenz betrifft, begreift die Unterschicht die Sache als einen Destrukti-onsprozeß, der jenen von ihr als Realinstanz festgehaltenen orgiastischenHerrn ereilt und in der Zerstörung auch und natürlich der von seinerunsichtbaren Gegenwart erfüllten und von seinem orgiastischen Geistegetragenen reichtumüberhoben angrarischen Subsistenz resultiert. Stattals rückwirkend totale Widerlegung eines von Anfang an Irrealen, als Aktder Zurücknahme einer auf irrigen Prämissen basierenden Illusion, faßtdie Unterschicht den aus der jahresendlichen Verflüchtigung bäuerlicher

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Autarkie konsequierenden Untergang des epiphanischen Subjekts alszentral sich auswirkende Unterminierung eines anfänglich Realen, alseinen Beseitigungsvorgang, der eben in dieser Verflüchtigung bäuerlicherAutarkie resultiert und seinen Ausdruck findet. Nicht, daß diese kausaleVerkehrung oder vielmehr modale Verdrehung, die aus der Entlarvungvon Schein die Zerstörung einer Erscheinung, aus dem veritablen Irrea-litätsnachweis einen regulären Realitätsverlust werden läßt, an dem imAbsterben der agrarischen Natur so oder so beschlossenen Untergangdes epiphanischen Subjekts etwas zu ändern vermöchte! Aber was dieUnterschicht damit immerhin erwirbt und was im Blick auf ihre kraftepiphanischen Subjekts gehegte Hoffnung auf Erlösung oder gewahr-te Emanzipationsperspektive keinen geringen Gewinn darstellt, ist dieMöglichkeit, jene Hoffnung im Gewahrsam einer fatalen Deprivation be-graben zu können, statt sie im Bewußtsein pauschaler Desillusionierungfahrenlassen zu müssen, und also den Verlust jener Perspektive mit einemGefühl abgründiger Trauer und tragischen Scheiterns kommentieren zukönnen, statt ihn mit einer Empfindung bodenloser Ernüchterung undironischer Vereitelung quittieren zu müssen.

Voraussetzung für diese Möglichkeit, den im Absterben der Naturbeschlossenen Untergang des epiphanischen Herrn einer orgiastisch un-mittelbaren Subsistenz aus einem Irrealitätsnachweis in einen Realvor-gang umzubiegen und also der an solch epiphanischen Herrn geknüpftenenthusiastischen Libertät wenn schon nicht den Status eines wirklichenSeins, so immerhin doch den Modus einer gewesenen Wirklichkeit zuerhalten, ist die Rückführung jenes Untergangs auf eine äußere und nachMaßgabe ihrer Äußerlichkeit objektive, will heißen, nicht in der kon-stitutiven Scheinhaftigkeit, dem fiktiven Charakter des Untergehendenselbst sich erschöpfende Ursache. Diese äußere Ursache für den Unter-gang ihres epiphanischen Herrn und Heilands setzt die Unterschicht,einfach genug, in die opferkultlichen Nachstellungen des Priesterkönigs.So begeistert die Unterschicht vorher das im Schoße ihres agrarischenDaseins sicher aufgehobene andere Subjekt über die priesterköniglichenVerfolgungen triumphieren und das priesterkönigliche Zerstörungswerkin nicht bloß unsinniger Verkennung, sondern mehr noch wahnsinnigerVerwechslung sich stets wieder nur gegen seinen eigenen Urheber kehrensieht, so bereitwillig sieht sie nun, da der jahreszeitlich bedingte Zusam-menbruch ihres in subsistentieller Unmittelbarkeit agrarischen Daseins

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ihr den Untergang des darin sichselbstgleich aufgehobenen und als un-sichtbar gegenwärtige Heilsmacht fröhliche Urständ feiernden anderenSubjekts signalisiert, diesen Untergang als Resultat eines schließlich dochnoch erzielten und ebenso unerklärten wie unverhofften Erfolgs jenerpriesterköniglichen Verfolgungen an. Um nicht in unendlicher Desillu-sionierung wahrnehmen zu müssen, wie beim Absterben der Natur diesubsistentielle Unmittelbarkeit des Agrarbereichs als epiphänomenalerSchein sich auflöst und wie das auf solcher Unmittelbarkeit basierendeSein des epiphanischen Subjekts sich zugleich mit der Auflösung desScheins als bodenlose Fiktion verflüchtigt, behauptet die Unterschicht dasim Absterben der Natur gestaltgewinnende Aufhören der subsistentiellenUnmittelbarkeit als prozessuale Folge des fatalen Untergangs und, kurzgesagt, realen Todes, den der priesterkönigliche Opferkult dem epiphani-schen Subjekt bereitet. Als ineins Folge und Ausdruck eines unsichtbarenGeschehens, bei dem das, was zuvor systematisch ausgeschlossen schien– die sakrifizielle Erledigung und Beseitigung des epiphanischen Gegen-spielers –, dem Priesterkönig empirisch doch irgendwie noch gelingt,zeugt das Absterben der Natur vom Triumph der reichtumbezogen ari-stokratischen Existenz über alles reichtumentzogen agrarische Dasein.Indem mit seinen sakrifiziellen Nachstellungen dem Priesterkönig zuböser Letzt glückt, das belebende Prinzip und befreiende Moment derUnterschicht, eben das im Schoße ihrer subsistentiellen Unmittelbarkeitzu begeisternder Sichselbstgleichheit aufgehobene epiphanische Subjekt,doch noch zur Strecke zu bringen, gibt mit diesem ihrem begeisterndenPrinzip die unmittelbare Subsistenz als solche den Geist auf, geht mit die-sem seinem lebenspendenden Zentrum das emanzipiert agrarische Da-sein überhaupt zugrunde und weicht die freigiebig natürliche Vegetationdem notdürftig bäuerlichen Vegetieren, macht das subsistentiell zufallen-de Lebensmittel dem residuell abfallenden Reichtum, die lebendige Kostaus dem Füllhorn der Natur der Überlebensration aus den Kornkam-mern der Herrschaft Platz. Durch die opferkultlichen Machenschaftendes Priesterkönigs ihres naturkräftigen Herrn und subsistenzmächtigenHeilands beraubt, findet sich die Unterschicht in direkter Konsequenzauch um das enthusiastisch natürliche Dasein und orgiastisch subsisten-tielle Bestehen gebracht, zu dem jener Herr und Heiland ihr verhalf, undsieht sich zurückgeworfen auf die Brosamen von dem durch sie selbergedeckten Tisch der Oberschicht, zurückversetzt in die Abhängigkeit von

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den Zuteilungen aus der durch ihre eigene Arbeit gefüllten Hand dertheokratischen Herrschaft.

Kummervoll und enttäuscht muß sie erleben, wie infolge der opfer-kultlichen Tötung ihres unsichtbar epiphanischen Erlösers und der re-sultierenden Zerstörung seines vegetativ sprießenden Lebens, seinesnaturhaften Wachsens und Gedeihens, die frondienstlich erzeugte Reich-tumsphäre ihre alte erdrückende Totalität und unentrinnbare Verbind-lichkeit wiedergewinnt und ihre, der Unterschicht, eigene Subsistenzals ein bloßes Abfallprodukt der Reichtumerzeugung und als ganz undgar marginale Funktion der Form des Reichtums auf jenes knechtischeAbhängigkeitsverhältnis reduziert, aus dem ihr epiphanischer Erlöser sieherauszuführen und von dem er sie durch die kraft seiner unsichtbarenPräsenz gestaltgewordene Sichselbstgleichheit einer reichtumüberhobenorgiastischen Brot-und-Wein-Autarkie zu emanzipieren versprach. Undnicht nur versprach, sondern auch wirklich emanzipierte – denn diesjedenfalls erwirkt die Unterschicht ja mit ihrer Rückführung des Abster-bens der Natur und des darin beschlossenen Zusammenbruchs aller agra-risch unmittelbaren Subsistenz auf das factum brutum einer dem Pries-terkönig doch noch geglückten sakrifiziellen Tötung jenes als unsichtbargegenwärtig angenommenen anderen Subjekts: daß das Aufhören solcherenthusiastisch erlebten subsistentiellen Unmittelbarkeit nicht gleich auchdie Bedeutung eines Akts durchschlagender Desillusionierung gewinntund nämlich die an jene subsistentielle Unmittelbarkeit gebundene Erfah-rung libertärer Entfesselung und orgiastischer Sichselbstgleichheit nichteinfach als eine auf einer Fiktion, eben der unsichtbaren Gegenwart desanderen Subjekts, basierende Illusion, als epiphänomenale Täuschung,entlarvt, sondern durchaus den realitätserfüllten Charakter behält, Endeeiner gelebten und nur durch die gewalttätig opferkultliche Interven-tion des Priesterkönigs abgebrochene Erfahrung zu sein. Kummervollund leiderfüllt, immerhin aber nicht unendlich trost- und hoffnungslos,enttäuscht und zutiefst verbittert, jedenfalls aber nicht desillusioniertund bis auf den Grund ernüchtert, kann dank der vom Priesterkönigan ihrem epiphanischen Herrn mutmaßlich begangenen opferkultlichenGewalttat die Unterschicht den Zusammenbruch ihres in reichtumüber-hoben rauschhafter Unabhängigkeit reichtumanalog agrarischen Eigen-lebens, statt ihn als rückwirkenden Offenbarungseid, als Zerstreuungeines bloßen Scheins von Befreiung akzeptieren zu müssen, vielmehr als

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effektives Vernichtungswerk, als Zerstörung eines biographisch wirkli-chen Zustands, einer empirisch erlebten Freiheit behaupten. Führt für dieUnterschicht schon daran kein Weg vorbei, daß das jahreszeitlich beding-te Zugrundegehen der natürlichen Basis ihrer agrarisch unmittelbarenSubsistenz den Verlust ihres in solch subsistentieller Unmittelbarkeitgründenden epiphanischen Erlösers mit all seiner orgiastischen Libertäteinschließt, so bleibt ihr dank der konsekutiven Neuordnung, der sieden Vorgang durch seine Rückkoppelung an den priesterköniglichenOpferkult unterzieht, doch immerhin erspart, jenen Verlust als Preisgabeeiner je schon schieren Fiktion wahrnehmen zu müssen, und kann sie ihnstatt dessen als die wie immer herbe Einbuße eines wirklich Gewesenensich zu Herzen nehmen und mit aller, ihrer initialen Sehnsucht nach demErlöser entsprechend tiefempfundenen, finalen Trauer beweinen.

Und dabei ist diese Trauer übers Verlorene noch nicht einmal das Endeder Affäre, ist ebensowenig die letzte Regung der Unterschicht, wie dieEinbuße, auf die sie sich bezieht, Endgültigkeit beanspruchen kann. Wienämlich die Unterschicht das naturkreisläufig bedingte Verschwindender unmittelbaren Subsistenz und ihres darin sich entfaltenden libertäreinfachen Daseins, statt es als direkten Beweis für den fiktiven Charakterihres in solch subsistentieller Unmittelbarkeit unsichtbar gegenwärtiggedachten epiphanischen Herrn und für die Irrealität des ganzen, mitseiner Hilfe getriebenen orgiastischen Brot-und-Wein-Kults aufzufassen,vielmehr als indirekten Ausweis, als Indiz und Ausdruck der opferkult-lich effektiven Tötung und folgenreich faktischen Beseitigung dieses alsRealität von ihr unbeirrt festgehaltenen epiphanischen Herrn nimmt, ge-radeso nimmt sie nun auch umgekehrt die nicht minder naturkreisläufigbedingte Wiederholung jenes Scheins von unmittelbarer Subsistenz, dieim Frühling zuverlässig sich ereignende Rückkehr einer im Spiegelreflexgesellschaftlicher Arbeit, im epiphänomenalen Resultat der Reichtum-produktion quasi naturwüchsig sich entfaltenden Fruchtbarkeit oderwie von selber fruchttragenden Vegetation und die Erneuerung ihresauf solcher Grundlage subsistierenden agrarisch libertären Daseins alsIndiz für das unverhoffte Wiederauftauchen ihres epiphanischen Herrn,als Ausdruck der wider alles Erwarten erneuerten unsichtbaren Präsenzihres als Liber, als berauschend dionysische Kraft ihr libertäres Daseinsichselbstgleich erfüllenden Erlösers. Wie sie das herbstliche Versiegen

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des Füllhorns der Natur, statt es als Evidenz für die Irrealität und Nich-tigkeit ihres auf solche natürliche Fülle gegründeten und im unsichtbargegenwärtigen anderen Subjekt gestaltgewordenen Emanzipationsan-spruchs zu begreifen, vielmehr als Konsequenz einer realen Opferungund Vernichtung dieses gestaltgewordenen Emanzipationsanspruchsdurch den Priesterkönig behauptet, so kann sie nun genauso gut dasfrühlingshaft neuerliche Fließen des Füllhorns als Beweis für eine nichtminder reale Zurücknahme des Opfers und leibhaftige Wiederkehr des imanderen Subjekts personifizierten Emanzipationsanspruchs behaupten.Weil, um aus dem das epiphanische Subjekt als fiktives ereilenden objek-tiven Desillusionierungsvorgang, den das Absterben der Natur eigentlichdarstellt, ein am epiphanischen Subjekt als wirklichem ansetzendes pries-terkönigliches Zerstörungswerk werden zu lassen, es nicht mehr brauchtals das verzweiflungsvoll sehnsüchtige Insistieren der Unterschicht ebenauf der ursprünglichen Realität des sie von Frondienst und Not zu erlösengedachten unsichtbar gegenwärtigen epiphanischen Herrn, genügt nunauch diese verzweiflungsvolle Sehnsucht nach dem Erlöser, damit fürdie Unterschicht das Wiedereintreten jener illusionsträchtigen Situati-on naturgegebener Fülle die Bedeutung einer Wiedergutmachung derZerstörung und Wiederherstellung ihres epiphanischen Herrn in seinerursprünglichen pleromatischen Realität gewinnt. Gibt ihr sehnsuchts-volles Bedürfnis, sich den Glauben an die Wirklichkeit ihres sie vomJoch der Reichtumsform zu erlösen gekommenen, unsichtbar gegen-wärtigen epiphanischen Herrn um jeden Preis zu erhalten und deshalbdas jahreszeitlich bedingte Zugrundegehen ihres diese unsichtbare Ge-genwart bezeugen sollenden agrarisch subsistentiellen Freiraums nichtetwa als Vorweis der naturkreisläufig offengelegten Irrealität des angeb-lich Gegenwärtigen, sondern vielmehr als Nachweis seines opferkultlichherbeigeführten realen Tods zu begreifen – gibt dieses ihr sehnsuchts-volles Bedürfnis der Unterschicht schon Lizenz, sich über das rätselhafteProblem hinwegzusetzen, wie es eigentlich kommen kann, daß die insystematischer Verwechslung systematisch ins Leere gehenden opfer-kultlichen Nachstellungen des Priesterkönigs ihr epiphanisches Opferplötzlich doch noch erwischen, so bringt sie die gleiche Sehnsuchtslogiknun auch dazu, die nicht minder jahreszeitlich bedingte Wiederherstel-lung jenes agrarisch subsistentiellen Freiraums kurzerhand als schlüssi-gen Beweis für die Rückkehr des epiphanischen Opfers in die frühere,

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als unsichtbare Präsenz sich behauptende Wirklichkeit zu erleben, underlaubt ihr dabei gar, von der par excellence mysteriösen Frage abzu-sehen, wie wohl die Überwindung des realen Todes des epiphanischenOpfers und seine Wiederauferstehung zur alten Herrlichkeit lebendigsubsistentieller Unmittelbarkeit oder rauschhaft vegetativer Sichselbst-gleichheit soll vor sich gehen können. Sowenig in der Lebensnot undErbärmlichkeit ihres geknechteten, fronenden Daseins die Unterschichtsich scheut, die Fiktion von der in unsichtbarer Gegenwart bleibendenWirklichkeit jenes nach Maßgabe seiner Negativität gegenüber der Reich-tumsphäre als ihr positiv eigener Vorkämpfer und Fürsprecher von ihrreklamierten anderen Subjekts zu kultivieren, sowenig sie Bedenkenträgt, diese Fiktion in der als Epiphänomen der Reichtumbindung natur-wüchsig erzeugten Illusion agrarisch subsistentieller Unmittelbarkeit ihrRealfundament und ihren objektiven Bezugspunkt finden, ihren befrei-ungsmächtigen Entfaltungsraum und erlösungsträchtigen Erfüllungsortgewinnen zu lassen, und sowenig sie hiernach Anstand nimmt, in dernaturkreisläufig determinierten Auflösung solcher subsistentiellen Un-mittelbarkeit die Konsequenz eines opferkultlich wirklichen Triumphsdes Priesterkönigs über seinen Widersacher, kurz, einen Anlaß zur Trauerund nicht etwa bloß den Beweis für den auf eine Illusion gegründetenfiktiven Charakter dieses Widersachers des Priesterkönigs, kurz, einenGrund zur Ernüchterung zu gewahren, sowenig scheut sie sich zu guterLetzt auch, die jahreszeitlich garantierte Wiederkehr der epiphänomenalunmittelbaren Subsistenz zum Zeichen einer wie immer mysteriösen,frühjährlichen Wiederauferstehung ihres im Herbst vom Priesterkönigzum Opfer gebrachten dionysischen Befreiers zu nehmen, statt darinbloß ein Wiederaufleben der für die Fiktion vom dionysischen Befreiergrundlegenden subsistentiellen Illusion zu sehen.

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In vollständiger Verkehrung der priesterköniglichen Absicht funktioniert die Un-terschicht den Opferkult nicht nur zu Lebzeiten ihres epiphanischen Herrn in einBeweismittel für dessen unsichtbar perennierende Gegenwart um, sondern läßtihn nach dem Tod ihres Herrn mehr noch als einen auf die Wiederkehr des Totengerichteten priesterköniglichen Wiedergutmachungsversuch erscheinen. Indemfür die Unterschicht ihr dionysischer Herr bei seinem Tod nicht etwa den Götternden Platz räumt, sondern diese vielmehr in ihrem eben dadurch unterweltlichgewendeten Jenseits ersetzt, unterminiert er vollends ihre kultische Stellungund etabliert sich als ausschließlicher Bezugspunkt des Reichtumopfers, dasnichts weiter mehr als im zyklischen Wechsel bald Ausdruck der ressentiment-geladenen Verfolgungswut des Priesterkönigs, bald Zeichen seines reueerfülltenReparationsverlangens ist.

Auf denkwürdige Weise gelingt es so der Unterschicht, mit ihremvon verzweiflungsvoller Sehnsucht getragenen Erlösungsglauben undWiederauferstehungskult die gegen das andere Subjekt sich verwahrendeopferkultliche Abwehrstrategie zu unterlaufen und umzufunktionieren.Jene präventiv abbreviierte, routiniert kurzschlüssige Opferhandlung, diePriesterkönig und Opfergemeinde dazu dient, das neuerliche Erscheinendes beim letzten Opferakt sakrifizierten und aus der Welt geschafftenanderen Subjekts ex improviso der Opfersituation fortan zu verhindern,interpretiert die Unterschicht dadurch, daß sie aus schierem Trost- undHeilsbedürfnis an der unsichtbar fortdauernden Gegenwart des Geop-ferten festhält, in ein gegen dies Überleben des Geopferten sich wenden-des repressives Unterfangen, eine gegen diese unsichtbare Präsenz ihresTrösters und Heilands sich richtende Verfolgungsmaßnahme um. DerOpferkult verkehrt sich damit aus einem Instrumentarium zur Verhinde-rung des Erscheinens des anderen Subjekts und Gewährleistung seineranhaltenden Absenz in ein Testimonium seiner heimlichen Insistenz undbleibenden Wirksamkeit. Einer Wirksamkeit, die ihren Entfaltungsraumund ihre Darstellungsebene in jenem agrarisch unmittelbaren Subsistenz-bereich behauptet, den der Reichtumbildungsprozeß der theokratischenGesellschaft als saisonale Begleiterscheinung seiner erfolgreichen Natur-bearbeitung hervortreibt. Indem sie von seiner epiphänomenalen Ver-fassung, seiner Rückbindung an den Arbeitsprozeß kurzerhand absieht,kann die Unterschicht diesen unmittelbar subsistentiellen Bereich als denGrund und Boden reklamieren, auf dem ihr unsichtbar gegenwärtiger

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epiphanischer Herr die fröhlichen Urständ seines aller Reichtumrücksichtüberhobenen, orgiastisch sichselbstgleichen Brot-und-Wein-Kults feiertund darin ihr, seiner Klientel, die ersehnte Befreiung aus knechtischerFron und Abhängigkeit, eine dem Leben im Reichtum analoge enthu-siastische Libertät jenseits der Reichtumsphäre erwirkt. Solche auf denSchein subsistentieller Unmittelbarkeit gegründete Libertät bleibt nunzwar ebenso begrenzt und vergänglich wie das jahreszeitlich bedingteEpiphänomen, das vegetative Füllhorn, aus dem der Schein resultiert.Aber auch das bringt dem Priesterkönig und seiner Gemeinde keineEntlastung vom Würgegriff der erlösungskultlich-emanzipatorischenUminterpretationstätigkeit der Unterschicht, da, wie gesagt, die letztereweder Anstand nimmt, das naturkreisläufige Absterben des Epiphäno-mens und Versiegen des Füllhorns als Beweis für den fatalen Erfolg derpriesterköniglichen Nachstellungen und nämlich als Konsequenz desopferkultlichen Todes ihres unsichtbaren Herrn zu betrauern, noch sichscheut, die nicht minder naturzyklische Rückkehr des Epiphänomensund Erneuerung des Füllhorns als Zeichen der Wiederauferstehung desGetöteten und Wiederherstellung seines aufs neue lebendigen Subsis-tierens zu feiern. Gleichermaßen indiziert durch die interpretativ in ihrintentionales Gegenteil gewendete Präventionsstrategie des priesterkö-niglichen Opferkults und substantiiert durch eine Begleiterscheinungeben des Reichtumbildungsprozesses, den es zugunsten seiner rausch-haft subsistentiellen Unmittelbarkeit als verbindliche Perspektive außerKraft zu setzen verspricht, nährt sich das mit dem spekulativen Mut derVerzweiflung von der Unterschicht als ihr unsichtbar gegenwärtiger Herrund Heiland festgehaltene andere Subjekt von strategischen Bedingungenund systematischen Erscheinungen, die es eigentlich ausschließen, undist mit derselben Gewißheit vorhanden wie diese in seinen Index um-funktionierten Bedingungen, beziehungsweise stellt sich mit derselbenZuverlässigkeit ein wie diese als sein fundamentum in re rekrutiertenErscheinungen. Quasi der gegen es sich verwahrenden Reichtumsphäremit verzweiflungsvoller List oder sehnsuchtsvoller Tücke von der Unter-schicht angehext und als ein förmlicher Sukkubus aufgesattelt, infiziert sodas andere Subjekt das religiöse System der theokratischen Gesellschaft,bemächtigt sich des sakramentalen Handelns und theologischen Vorstel-lens und gibt beidem, ohne daß Priesterkönig und Opfergemeinde recht

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wissen, wie ihnen geschieht, eine auf es gemünzte andere Richtung undvon ihm her bestimmte neue Bedeutung.

Diese Umdeutung, die das opferkultliche Tun und götterkultliche Be-wußtsein der Oberschicht durch den subsistentiell-orgiastischen Kulterfährt, den mit ihrem epiphanischen Fürsprecher und dionysischenHeilsbringer die Unterschicht treibt, schlägt sich zuerst und vor allemin der Neubewertung nieder, von der, wie geschildert, angesichts desals unsichtbar gegenwärtig angenommenen und im natürlichen Wachs-tum am Werk gewahrten dionysischen Heilsbringers das priesterkö-nigliche Sakrifizium als solches betroffen ist. Aus einer Handlung, diein ihrer kurzschlüssig abbreviierten Form neben der erklärten Absichteiner Repräsentation und Reaffirmation der göttlich wahren Herren desReichtums dem heimlichen Ziel dient, der in solchem Repräsentationsaktlauernden Gefahr einer plötzlichen, in Gestalt des anderen Subjekts sichereignenden, verheerend epiphanischen Präsenz und vernichtend szeni-schen Monstranz der Götter zuvorzukommen, wird dadurch, daß die Un-terschicht eben diese epiphanische Präsenz im Schoße ihres agrarischenDaseins gegeben und in dessen als enthusiastischer Brot-und-Wein-Kultzelebrierter subsistentieller Unmittelbarkeit sich entfalten sieht, eine Ak-tion, die unter Hintansetzung jeglicher die wahren Herren des Reichtumsbetreffender Repräsentationsabsicht einzig und allein den Zweck verfolgt,dem solcherart sich entfaltenden anderen Subjekt in seiner ansteckendorgiastischen Freiheit und mitreißend pleromatischen Herrlichkeit zuLeibe zu rücken und den Garaus zu machen. Aus einem nebenbei aufdie Verhinderung des möglichen Erscheinens des anderen Subjekts imTempelbezirk abgestellten, präventiven Vorhaben wird mithin durchdie sehnsuchtsvolle Fiktion der Unterschicht und ihre an dieser Fiktionfestgemachte enthusiastische Subsistenzerfahrung der priesterköniglicheOpferkult zu einem ausschließlich auf die Beseitigung der wirklichenErscheinung des anderen Subjekts im Agrarbereich gerichteten Unter-fangen. Und dieser Uminterpretation seines sakrifiziellen Tuns hat, wiegesagt, der Priesterkönig wegen der bewußtlos-beiläufigen Form seinereigentlich präventiven Absicht so ganz und gar nichts entgegenzuset-zen, daß er sie sich vielmehr zu eigen macht und ihr – trotz ständigen,die unsinnige Verkennung des Gegners in wahnsinniger Verwechslungkulminieren lassenden Scheiterns seiner Bemühungen – durch sein sakri-fizielles Tun Rechnung zu tragen bestrebt ist.

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Nachdrücklicher aber sogar noch und nämlich bis in die innerste Naturder eigentlichen Adressaten seines Kults, ins Wesen der Götter selbst, hin-ein findet der Priesterkönig sein kultisches Verlangen in dem Augenblickdurch die Epiphanie der Unterschicht umgedeutet, wo ihm laut Zeug-nis der herbstlich sterbenden Vegetation rätselhafterweise schließlichdoch gelingt, jenem epiphanisch anderen Subjekt der Unterschicht denTod zu geben und es mitsamt seinem subsistentiellen Freiraum, seinemreichtumenthobenen libertären Naturreich sich vom Halse zu schaffen.Zwar könnte an sich ja das aus dem sakrifiziellen Tod des epiphani-schen Subjekts erklärte Zugrundegehen der orgiastisch subsistentiellenUnmittelbarkeit des Agrarbereichs, insofern es gleichbedeutend ist miteiner Wiedereinsetzung der Reichtumsphäre in statum quo ante eineskonkurrenzlos gültigen Referenzpunkts und einer Wiederherstellungder Rücksicht auf die Reichtumsform als für die theokratische Gesell-schaft in toto verbindlicher Perspektive, in einer Normalisierung desOpferkults und also darin zu resultieren scheinen, daß das sakrifizielleTun des Priesterkönigs seine vor der Dazwischenkunft des dionysischenHerrn der Unterschicht gewohnte alte Bedeutung eines repräsentativenTributs an die absent wahren Herren des Reichtums, die Götter, und einerdurch die kurzschlüssige Form der Attribution gleichzeitig geleistetenpräventiven Bannung der Gefahr eines ex improviso des Opferakts prä-sentativen Erscheinens des anderen Subjekts zurückgewinnt. Was indesdieser vermeintlich naheliegenden Normalisierung des priesterkönigli-chen Opferkults, will heißen seiner Zurücknahme aus der Exzentrik einerum das Skandalon des orgiastischen Herrn der Subsistenz kreisendenVerfolgungs- und Repressionsmaßnahme und Wiedereingliederung indie gehabte götterkultliche Orientierung entgegensteht, ist einmal mehrdie Haltung der Unterschicht und die Interventionskraft, die sie entfaltet.Für die Unterschicht bedeutet der sakrifizielle Tod ihres Trösters undHeilands, bedeutet das konsequierende Zugrundgehen ihrer von ihmher entfalteten orgiastischen Autarkie ja alles andere als eine Rückkehrzur Normalität des in der Reichtumsphäre verhaltenen götterzentriertenOpferrituals des Priesterkönigs. Für sie ist dieser Tod ihres Herrn, istdies Zugrundegehen seiner Domäne teils Anlaß zu abgrundtiefer Trauerum den Getöteten und anhaltend heftigem Kummer um das Verlorene,teils Ansatzpunkt für die sehnsuchtsvoll spekulative Hoffnung auf dieResurrektion des Toten und für die trostreich zuversichtliche Erwartung

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einer mit solcher Wiederkunft einhergehenden Restitution des Verlore-nen. Weit entfernt davon, daß der präokkupierende Einfluß und allesin Bann schlagende Zauber, den auf die Unterschicht ihr libertärer Herrzu seinen Lebzeiten übt, mit seinem sakrifiziellen Tod erlöschen würde,verstärkt er sich eher noch und läßt sie, wie einerseits in abstraktiverTrauer um den Dahingeschiedenen versinken und in exklusiver Treueseinem Andenken leben, so andererseits mit intensiver Sehnsucht seinerWiederkunft harren und ihr ganzes Sinnen und Trachten auf den spekula-tiven Augenblick seiner Wiedereinsetzung richten. Für die Götter, die aufdem Boden der als konkurrenzlose Totalität retablierten Reichtumsphäreder priesterkönigliche Opferkult wie immer kurzschlüssig und kursorischals die wahren Herren des Reichtums erneut zur Geltung bringt, bleibtdie Unterschicht ebenso blind und taub wie vorher, als sie enthusiastischund berauscht vom Pleroma subsistentieller Unmittelbarkeit ihrem un-sichtbar gegenwärtigen, lebendigen Herrn noch auf seinem Umzug durchdie Wälder und Fluren seiner vom schönen Schein schierer Naturgege-benheit überstrahlten Gerechtsame folgen durfte. Jene absent wahrenHerren des Reichtums und distant wirklichen Überflußeigner, die umder Legitimierung seiner statthalterischen Macht willen der Priesterkönigdurchs präventiv abbreviierte Opfer zu repräsentieren und attributivvorstellig zu machen sucht, verschwinden hinter der Präokkupation derUnterschicht mit ihrem der Reichtumrücksicht erlegenen und aus demPräsens der ihm eigenen orgiastischen Unmittelbarkeit sakrifiziell ver-triebenen toten Herrn, werden verdrängt durch die Faszination, die dasder Reichtumsphäre und ihrem Geltungsanspruch zum Opfer gebrachteund aus dem Leben geschiedene, epiphanisch andere Subjekt der Unter-schicht nach wie vor und tatsächlich im Blick auf seine heimlich erwartetAuferstehung mehr denn je einflößt.

Und zwar verschwinden die Götter in einem ganz sinnenfälligen Sinnhinter dem getöteten Herrn der Subsistenz, werden auf geradezu topischeWeise von ihm verdrängt, dergestalt nämlich, daß die Absenz, in dersie sich aufhalten, die Distanz, in der sie verweilen, für die Unterschichtkoinzidiert mit dem Modus, dessen seine sakrifizielle Absentierung ihnüberführt, gleichbedeutend wird mit dem Topos, auf den er durch seineexistentielle Entfernung sich reduziert findet. Eben das ätherische Jenseitszur irdischen Reichtumsphäre, eben die olympische Transzendenz zum

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innerweltlich aristokratischen Überfluß, worin Priesterkönig und Opfer-gemeinde die göttlich wahren Herren des Reichtums orten und verwahrtfinden, füllt sich für die Unterschicht, die mit sehnsuchtsvoll ganzerSeele ihrem toten Herrn nachtrauert, mit dessen absentierter Gegenwartund kündet für sie, die partout nur den dahingeschiedenen Weinum-kränzten im leidgeprüften Sinn hat, von nichts anderem als von seinerdistanzierten Nähe. Für sie, die ganz hingegeben, ganz fixiert an ihren alssakrifizielles Opfer dahingeschiedenen subsistentiellen Erlöser ist, wirdjenes Jenseits der Unsterblichen zu einem nach Maßgabe seiner topischenVerschiedenheit vom reichtumzentrierten Diesseits geeigneten Domizildes mit Tode Abgegangenen, wird jene Transzendenz der Götter nachMaßgabe ihrer systematischen Verstelltheit durch die überflußdominier-te Immanenz zum gegebenen Asyl des aus dem Leben Verbannten. Esverwandelt sich für sie jenes ätherisch-überirdische Jenseits der Unsterb-lichen zurück in das alte chthonisch-unterirdische Abseits des Gestorbe-nen, kehrt für sie jene olympisch-überweltliche Transzendenz der Götterwieder als die frühere plutonisch-unterweltliche Insistenz des Toten. Alsein Aufenthalt, der in seiner Verschiedenheit nicht mehr die habituellentrückten und genügsam absenten pluralen Herren des Reichtums, son-dern bloß noch den sakrifiziell beseitigten und gewaltsam absentiertensingularen Herrn der Subsistenz birgt, legt jene Transzendenz alle Zügeätherischer Weite und sphärischer Überweltlichkeit ab und verengt sichwieder zum unterweltlichen Raum, zum Totenreich. Allerdings zu einemTotenreich, das nicht mehr wie früher Reichtum fordert, nicht mehr mitÜberfluß ausgestattet sein will, um nicht außer aller Kontinuität mit demirdischen Diesseits zu geraten und das heißt, der weltlichen Immanenzgegenüber die entrealisierend unbedingte Indifferenz und disqualifizie-rend absolute Negativität perfekt apriorischer Verschiedenheit an den Tagzu legen, sondern das vielmehr bloß nach der Beseitigung des Reichtumsverlangt, um sich als die jenseitige Verschiedenheit zurückzunehmenund seinen chthonischen Bewohner, das sakrifizierte andere Subjekt, inderselben, als subsistentielle Sichselbstgleichheit offenbaren, unbedingtenIndifferenz gegen den Reichtum, derselben, als orgiastische Selbstge-nügsamkeit manifesten, absoluten Negativität gegenüber dem Überfluß,in der es vor seiner Tötung da war, wiederauferstehen und erneut zurErscheinung kommen lassen zu können. Weil die reichtumbezüglich

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oder vielmehr reichtumunbezüglich unendliche Negativität des epipha-nisch anderen Subjekts, die einst der Stammesgemeinschaft in toto einunüberbietbarer Schrecken war, mittlerweile für die theokratische Gesell-schaft in parte, die Unterschicht, zu einem als subsistentielle Alternativeaffirmierten, einem ins Positive des orgiastischen Brot-und-Wein-Kultsgewendeten unverzichtbaren Gut und höchsten Glück geworden ist undweil deshalb die jenseitige Verschiedenheit von der Reichtumsphäre,in die der priesterkönigliche Hüter des Reichtums das andere Subjektsakrifiziell hinabstößt, ihre Schrecklichkeit keineswegs mehr aus derNegativität des anderen Subjekts als solcher, sondern bloß noch aus demVerlust an subsistentieller Positivität und affirmativer Sichselbstgleich-heit schöpft, den durch solch jenseitige Verschiedenheit die Negativitätdes anderen Subjekts erleidet, richtet sich nun auch das ganze Sinnenund Trachten der Unterschicht nicht etwa darauf, das andere Subjektin seinem Jenseits mit Reichtümern zu versorgen, um seine Negativi-tät Lügen strafen und es in topisch-systematischer Kontinuität mit derReichtumsperspektive behaupten zu können, sondern ausschließlichdarauf, es aus dem Jenseits ins Diesseits zurückkehren und hier seineNegativität die verlorene Positivität eines disjunktiv zur Reichtumsphäresich entfaltenden, unmittelbar subsistentiellen Daseins wiedergewinnenzu lassen.

Wie aber soll diese Wiederauferstehung des anderen Subjekts im Dies-seits und seine Wiederherstellung im Freiraum einer von affirmativerNegativität gegenüber der Reichtumsphäre erfüllten, orgiastischen Sub-sistenz möglich sein, wenn nicht auf Kosten eben jener Reichtumsphäreund ihr zum offenbaren Tort. So wahr nach Ansicht der Unterschicht diesakrifizielle Vertreibung des anderen Subjekts und winterliche Zerstörungseiner subsistentiellen Unmittelbarkeit dem priesterköniglichen Bemü-hen entspringt, der Reichtumsphäre wieder zu subsistenzumgreifenduneingeschränkter Geltung zu verhelfen und also die Form des aristokra-tischen Reichtums wieder die Totalität eines verbindlichen Bezugspunktsund durchgängigen Bestimmungsgrunds erlangen zu lassen, so wahrist nun auch in den Augen der Unterschicht die Rückkehr des anderenSubjekts und Retablierung seines Brot-und-Wein-Kults geknüpft an eineWiderlegung solch uneingeschränkten Geltungsanspruchs der Reichtum-sphäre und Zurückweisung der für die Form des Reichtums behauptetenTotalität. Alles, was jener Widerlegung der Reichtumsform dient und

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jener Zurückweisung der Totalität der Reichtumsphäre förderlich ist,wird deshalb von der Unterschicht als Gewinn verbucht und nämlichals ein Schritt auf die Wiederauferstehung ihres epiphanischen Herrnhin interpretiert. Und genau diese Interpretation widerfährt dem pries-terköniglichen Opferkult. Er, der in seiner kurzschlüssig abbreviiertenForm das Interesse an einer repräsentativen Anwesenheit der als wahreHerren des Reichtums behaupteten Götter mit dem Bedürfnis verbindet,das als Wechselbalg der Götter ex improviso des Reichtums erscheinendereichtumverwerfend andere Subjekt vom Heiligtum fernzuhalten, undder dieser doppelten Rücksicht gemäß im perfekten intentionalen Wider-streit die attributive Darbringung der Opfergaben mit deren präventiverBeseitigung koinzidieren läßt, wird von einer Unterschicht, die nichtsim Sinn hat als ihren durch die Totalisierung der Reichtumsphäre seinesirdisch konkreten Freiraums beraubten und in ein unterirdisch abstraktesJenseits verstoßenen epiphanischen Herrn, umstandslos als ein von Reueund Wiedergutmachungsabsicht diktierter Beitrag des Priesterkönigszur möglichen Resurrektion des Toten und Restitution des Verschie-denen in Anspruch genommen. Als ein Procedere, das allem rituellenAugenschein nach in der fortlaufenden Zerstörung und Beseitigung vonReichtum besteht, läßt sich von einer Unterschicht, der die Widerlegungdes durchgängigen Geltungsanspruchs der Reichtumsphäre als condi-tio sine qua non des Wiedererscheinens ihres epiphanischen Herrn gilt,das priesterkönigliche Opferhandeln ohne weiteres als ein auf solcheWiederkunft gerichtetes aufopferungsvolles Unterfangen und mithin alsBeweis für die reuevolle Bereitschaft des Priesterkönigs verstehen, das imsakrifiziellen Tod des anderen Subjekts bestehende Unheil, das er durchseine Bornierung auf den Reichtum heraufbeschworen hat, durch dessenexplizite Preisgabe und durch den darin implizierten Verzicht auf die fürdie Form des Reichtums beanspruchte generelle Geltung nach Kräften zusühnen und wiedergutzumachen.

Ein und dasselbe priesterkönigliche Opferritual, das zu Lebzeiten desepiphanischen Subjekts von der auf dessen orgiastische Subsistenz sichkaprizierenden Unterschicht als ein wie sehr auch unsinniger oder garwahnsinniger Versuch interpretiert werden konnte, ihrem geliebten Herrnund Erlöser durch Entzug der Existenzgrundlage den Garaus zu machen,läßt sich damit nun also nach der sakrifiziell erfolgten Verstoßung des

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epiphanischen Subjekts in ein chthonisch gefaßtes Jenseits zur Reich-tumsphäre von der auf der Wiederkehr des geliebten Toten aus solchchthonischem Jenseits insistierenden Unterschicht umgekehrt als ein vompriesterköniglichen Wiedergutmachungswillen zeugendes Bemühen wer-ten, durch Reichtumbeseitigung den für das diesseitige Dasein des epi-phanischen Subjekts nötigen Freiraum zu schaffen und so dem Toten denWeg zurück ins Leben zu eröffnen. Im Guten wie im Bösen, im Sinne einerreueerfüllten Reparationsabsicht wie im Verstand einer ressentiment-geladenen Verfolgungswut finden demnach, dank der sehnsuchtsvoll-einbildungskräftigen Interpretation der Unterschicht, Priesterkönig undOpfergemeinde ihr eigenes sakrifizielles Tun von seinem eigentlichenZiel abgelenkt, seiner repräsentativ auf die wahren Herren des Reichtumsgerichteten ursprünglichen Intention entrissen, und jenem ineins von Ne-gativität gegen den aristokratischen Reichtum beherrschten und von derPositivität einer unmittelbar agrarischen Subsistenz getragenen anderenSubjekt zugewandt, das die Unterschicht als ihren nicht mehr in bittererDisjunktion opfergabenentsprungenen, sondern statt dessen in schö-ner Sichselbstgleichheit feldfruchtentsprossenen epiphanischen Herrnund Erlöser reklamiert. Worüber der Priesterkönig als über die selbstbe-stimmte Handlung eines repräsentativen Präsents an die unsterblichenVerleiher seiner Autorität, eines attributiven Tributs an seine göttlichenVollmachtgeber noch relativ frei zu verfügen meint, das zeigt sich ihmkraft des Kults, den die Unterschicht mit dem agrarisch-subsistentiellgewendeten anderen Subjekt treibt, je schon in dessen Gravitations- undBedeutungsfeld übergewechselt und hier wie dort, im Tode des letzte-ren nicht weniger als zu seinen Lebzeiten, in ein unwillkürliches Zeug-nis seiner Wirkmächtigkeit und Bestimmungsgewalt verwandelt. Wäh-rend der Priesterkönig mit seinem kurzschlüssig abbreviierten Opferritu-al jenem ex improviso der Opfersituation drohenden anderen Subjektnoch präventiv zu begegnen und den Weg zum epiphanischen Auftrittzu verlegen bemüht ist, hat sich das letztere durch die Hintertür derverzweiflungsvoll-sehnsüchtigen Fiktion, in der es die Unterschicht kul-tiviert, längst wieder auf dem Schauplatz eingefunden und bestimmt inder aus triumphalem Siegeszug und fatalem Schicksalsschlag zusam-mengesetzten naturkreisläufigen Biographie, in der die Unterschicht esbehauptet, eben die ganze, eigentlich nur auf seine Prävention gemünzte,priesterkönigliche Opferhandlung.

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Um der Entwendung des Opferkults durch den dionysischen Herrn wehrenzu können, müßte der Priesterkönig Beelzebub mit dem Teufel austreiben undder Halbwahrheit eines die aristokratische Reichtumsphäre negierenden Herrnder agrarischen Subsistenz die volle Wahrheit des von Negativität gegen dietheokratische Gesellschaft als ganze erfüllten opferentsprungen anderen Subjektsentgegenhalten. Das aber wäre der Offenbarungseid für die priesterköniglichenPatrone, die Götter. Da indes empirisch der dionysische Herr die Götter nichtweniger außer Kraft setzt, als dies das epiphanische Subjekt ontologisch tut,und da zugleich jene Außerkraftsetzung der Götter Hand in Hand mit einerklassenkonfrontativen Spaltung der theokratischen Gesellschaft geht, entschließtsich die Oberschicht, der vollen Wahrheit, eben dem ex improviso des Opferserscheinenden vernichtend wahren Sein der Götter, ins Auge zu blicken undvollzieht so den Übergang vom Opferkult zur Wesensschau.

Der von der Unterschicht kraft ihrer Fiktion durchgesetzten Interpreta-tion seines Tuns hat der Priesterkönig im Todesfall des anderen Subjektsebenso wenig wie zu seinen Lebzeiten etwas entgegenzustellen: Wie er zuLebzeiten des epiphanischen Subjekts die Opferhandlung als ränkevollenAnschlag auf das Leben des Lebendigen akzeptieren muß, so muß er nachdessen Sakrifizierung und Tod die Opferhandlung als reuevollen Beitragzur Resurrektion des Toten gelten lassen. Was ihn dazu zwingt, ist hierwie dort die rituell abbreviierte, präzipitativ kurzgeschlossene, das Opferim unmittelbaren Anschluß an seine Darbringung auch schon wiederbeseitigende Form der Handlung, die deren als Tribut an die Götter aus-gegebenen offiziellen Zweck Lügen straft beziehungsweise ad absurdumführt und die in der Tat der Erklärung, die durch Rekurs auf das andereSubjekt die Unterschicht statt dessen hier wie dort anzubieten vermag,eine mangels alternativer Lesart unwiderstehliche Plausiblität verleiht.Um nämlich der epiphaniebezogenen Interpretation, die der überstürztenZerstörungswut seines sakrifiziellen Tuns die Unterschicht so oder soangedeihen läßt, mit einer alternativen Erklärung entgegentreten zu kön-nen, müßte ja der Priesterkönig auf das nicht minder epiphaniebezogenegeheime Motiv zu sprechen kommen, das er für diese kurzschlüssigselbstzerstörerische Form seines Tuns in Wahrheit hat: er müßte vonseiner in actu des Sakramentums stillschweigend verfolgten Absichtsprechen, das demonstrativ-repräsentative Opfer an die Götter mit ei-ner Prävention des ex improviso solchen Opfers drohenden monstrativ-präsentativen Erscheinens des anderen Subjekts zu verknüpfen. Er müßte

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mit anderen Worten den Beelzebub des von der Unterschicht seinemsakrifiziellen Tun als fiktiver Beweggrund unterstellten vegetationsent-sprossen dionysischen Gegenspielers der Götter mit dem Luzifer desseinem Tun als tatsächliches Bestimmungskriterium zugrunde liegendenopferentsprungen sakrilegischen Wechselbalgs der Götter austreiben. Dasheißt, er müßte genau jene für den Kult der Götter als der wahren Herrendes Reichtums vernichtende Erfahrung ins Feld führen, über die nichtnur kein Wort zu verlieren, sondern die überhaupt aller Wahrnehmungzu entziehen und von jedem Bewußtsein fernzuhalten, der ganze Sinnund Zweck jener kurzschlüssig abbreviierten Opferhandlung ist: dieErfahrung nämlich eines ex improviso der sakramentalen Darbringungden göttlichen Adressaten blühenden furchtbaren Offenbarungseids,einer die plural wahren Herren des Reichtums und anonym wirklichenüberflußeigner im Augenblick des Sakraments ereilenden rückhaltlosenEntlarvung in der singularen Gestalt und personalen Identität des vonunbedingter Indifferenz gegen den Reichtum erfüllten, von absoluterNegativität vor dem Überfluß getragenen anderen Subjekts. Um die vonseiten des Herrn der agrarischen Unterschicht seinen Göttern drohendeempiriologische Konkurrenz in der Bedeutung eines sein Opferhandelnbestimmenden Motivs widerlegen zu können, wäre also der Priesterköniggezwungen, den ontologischen Konkurs ins Auge zu fassen und mehrnoch zur Sprache zu bringen, der in actu der Opferepiphanie die Götterim eigenen Hause heimzusuchen tendiert und auf dessen Abwehr daspriesterköniglich sakrifizielle Handeln in Wahrheit gerichtet ist.

Welchen Nutzen sollte aber diese rückhaltlose Aufklärung der Situa-tion, diese die Erklärung der Unterschicht für sein sakrifizielles Tun alsScheinbegründung, als Rationalisierung entlarvende Aufdeckung seinerwahren Beweggründe dem Priesterkönig wohl bringen? Was sollte sieihm im Blick auf sein entscheidendes Interesse, sich sein Opferhandelnnicht durch die Unterschicht pervertieren und zu Diensten des Dionysoszweckentfremden zu lassen, sondern es als ein auf seine Patrone, diewahren Herren des Reichtums, die Götter, gemünztes Procedere sichzu erhalten, eigentlich frommen? Wohl hätte er durch solche Aufklä-rung sein sakrifizielles Handeln der von der Unterschicht gefordertenUmzentrierung auf deren epiphanische Fiktion entzogen und seineneigenen Göttern revindiziert, aber nur um den Preis, daß er dabei diese

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eigenen Götter als Fiktion entlarvt und nämlich in ihrer wahren Ge-stalt und wirklichen Identität als ex improviso des Opfers selbst erschei-nendes singular-personales Subjekt bloßgestellt hätte! Wohl wäre ihmdurch solche Aufklärung gelungen, die von der Unterschicht propagierteHalbwahrheit, daß sein Tun Reaktion auf die naturentsprossen wirklichePräsenz eines den Geltungsanspruch der Götter widerlegenden reich-tumverachtend anderen Subjekts sei, zurückzuweisen, aber nur um denPreis einer Aufdeckung der ganzen Wahrheit, daß sein Tun vielmehr Ab-wehr der als Selbstwiderlegung offenbaren, opferentsprungen möglichenPräsentation der Götter selbst als dies reichtumverachtend andere Sub-jekt ist. Genau die götterkultvernichtend autogene Epiphanieerfahrung,die der Priesterkönig bis dahin alles daransetzt, von der Opferhand-lung durch die beschriebene rituelle Abbreviatur des Darbringungsaktsfernzuhalten, müßte er jetzt ins Bewußtsein rufen und zur Sprache brin-gen, um die götterkultwiderlegend heterogene Epiphaniebehauptung,mit der die Unterschicht ihn bedrängt, aus dem Feld zu schlagen. Woaber wäre da der Gewinn? Hieße das nicht in der Tat, Schlimmes mitSchlimmerem zu bekämpfen, Beelzebub mit Luzifer auszutreiben? Undist angesichts dessen der Priesterkönig nicht besser beraten, die von derUnterschicht aufgebrachte Fiktion eines götterkultwiderlegenden Herrndes Brot-und-Wein-Kults als das geringere Übel in Kauf zu nehmen unddie dieser Fiktion entspringende Heteronomisierung seines Tuns mitGeduld zu ertragen? Hat nicht diese die Opferhandlung den Götternentreißende und in einen Beweis der eigenen epiphanischen Wirklichkeitumfunktionierende Fiktion der Unterschicht noch das vergleichsweiseAnnehmliche, daß sie bei aller Deprivation und Ausschließung, die sieihnen widerfahren läßt, die Götter als solche jedenfalls nicht in Fragestellt oder, positiv ausgedrückt, in ihrem Jenseits und vielmehr Abseitsbestehen und fortdauern läßt, wohingegen jeder Versuch, ihnen die Op-ferhandlung zu revindizieren, auf eine Aufdeckung des ihnen von Hausaus eigenen fiktiven Charakters und nämlich darauf hinausläuft, sie imepiphanischen Subjekt ex improviso des Opfers selbst mit ihrer höchstsin-gularisch wahren Gestalt und ihrer höchstpersönlich wirklichen Identitätzu konfrontieren? Eben diesen Unterschied indes, daß die Vereinnah-mung der priesterköniglichen Handlungen für den Epiphaniekult derUnterschicht immerhin doch die olympischen Herren des Reichtumsals solche ungeschoren lasse, während der Versuch, jene Handlungen

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dem Kult der Götter zurückzugewinnen, die letzteren in den Konkursund Offenbarungseid treibe, eben diesen vermeintlichen Vorzug, den dieeinfache Usurpation des Opfers durch den Herrn der Subsistenz vor derversuchten Rückerstattung des Opfers an die Herren des Reichtums hatund der dafür spricht, die Usurpation als geringeres Übel in Kauf zu neh-men – eben diesen behaupteten Vorteil macht tatsächlich die geschilderteTotalisierung des Herrn der Subsistenz zu einem im Todesfall nicht we-niger als zu Lebzeiten bestimmenden Bezugspunkt und dominierendenGegenstand des Interesses zunichte. Indem das Fiktivum der Unter-schicht, das naturentsprossen epiphanische Subjekt, nicht nur zu seinenLebzeiten die priesterköniglichen Opferhandlungen den Göttern ent-wendet und in einen verfolgungwütig negativen Beweis seiner eigenenLebendigkeit umfunktioniert, sondern darüber hinaus im Tode die aufseinen plutonisch-unterweltlichen Aufenthaltsort reduzierte olympisch-jenseitige Stelle der Götter einnimmt und das priesterkönigliche Tunin einen reueerfüllt selbstverleugnenden Akt der Vorbereitung seinereigenen epiphanischen Wiederkehr ummünzt, verdrängt es auf seineempiriologisch-naturzyklische Weise die wahren Herren des Reichtums,die Götter, nicht weniger nachdrücklich und schafft sie nicht wenigereffektiv aus der Welt, als dies auf seine ontologisch-identitätspraktischeArt das als die Wahrheit der Götter opferentsprungen andere Subjekt tut.Eine Epiphanie, die im Zuge ihres heterogenen, aus orgiastischem Auf-ruhr, Sakrifizierung und Resurrektion geschlossenen Zirkels den Götternnicht nur zu Lebzeiten die gesamte Schau stiehlt, sondern mehr noch imTode den angestammten Platz streitig macht, muß de facto die Götternicht weniger zugrunderichten und von der Bildfläche verschwindenlassen, als dies de jure einer Epiphanie gelingt, die sich als die autogeneOffenbarung der Götter selbst zu verstehen gibt.

Und in dem Maß, wie so der leichte Vorzug, den im Blick auf denErhalt der Götter als solcher das dionysische Subjekt sub conditione deragrarischen Subsistenz im Vergleich mit dem sakrilegischen Subjekt eximproviso des Opferreichtums vermeintlich aufweist – wie also dieserangebliche Vorteil sich als haarspalterische Nichtigkeit empirisch-faktischvertut, in eben dem Maß rückt der gravierende Nachteil in den Vorder-grund, den die dionysische Epiphanie gegenüber der sakrilegischen inanderer Hinsicht für Priesterkönig und Opfergemeinde hat. Die Ober-schicht sieht sich mit anderen Worten in aller, durch keine anderweitige

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Annehmlichkeit gemilderten Schroffheit der geschilderten Tatsache kon-frontiert, daß im Unterschied zum sakrilegischen Subjekt ex improvisodes aristokratischen Opfers das dionysische Konstrukt sub conditioneder agrarischen Subsistenz sich ja nicht darauf beschränkt, der reichtu-morientiert theokratischen Gesellschaft in genere seine disqualifizierendunbedingte Indifferenz zu bezeigen, sondern vielmehr durch die affir-mative Wendung, die es nimmt, durch die positive Identifizierung mitdem agrarischen Lebensbereich, die es vollzieht, sich in specie daraufversteift, diese seine Indifferenz gegen die von ihr, der Oberschicht, inlebensartlicher Apartheit eingenommene Reichtumsphäre beziehungs-weise in totenkultanaloger Separatheit wahrgenommene Überflußkulturzu richten. So wahr die von der Unterschicht behauptete Fiktion einesals orgiastischer Herr der Subsistenz fortlebenden beziehungsweise wie-derauferstehenden anderen Subjekts die überflußverwerfend absoluteNegativität, in der dieses andere Subjekt sich ursprünglich konstituiert,auf der Basis einer jahreszeitlich bedingten Illusion bäuerlicher Autarkiein ein Ausdrucksmittel und Erfüllungsorgan des von der Unterschichtgegen die Fron im Dienste der Oberschicht angesammelten Ressenti-ments und ihres Verlangens nach Befreiung von Frondienst verwandelt,so wahr läßt sie jene Negativität eine pointiert gegen die aristokratischeReichtumsphäre sich richtende sozialkritische Bedeutung gewinnen undmünzt sie um in eine das Schichtmodell der theokratischen Gesellschaftfundamental in Frage stellende gesellschaftsinterne Insubordinations-und Widerstandsfigur. Ausgehend von und Anstoß nehmend an derdichotomischen Klassenstruktur der theokratischen Gesellschaft führt diefronende Unterschicht das andere Subjekt in der fiktiven Gestalt einesHerrn des einfachen Lebens als förmlichen Sprengsatz in diese Strukturein und macht, indem sie seiner Negativität gegenüber dem Reichtumdie positive Seite eines sichselbstgleichen Insistierens auf der bloßenSubsistenz vindiziert und es so zum Parteigänger und Fürsprecher dervermeintlichen Selbstgenügsamkeit ihres agrarischen Daseins erklärt,mit seiner Hilfe der Oberschicht den Prozeß ihrer qua Leben im Über-fluß funktionalen Überflüssigkeit, qua Existenz in der Reichtumsphäresozialen Sinnlosigkeit.

Und angesichts solcher sozialen Sinnlosigkeit, mit der die ins sozial-kritisch Positive gewendete Negativität des epiphanischen Subjekts derUnterschicht ihr Leben im Überfluß bedroht, angesichts solcher auf sie als

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gesellschaftliche Klasse und Nutznießer des Reichtums gezielten totalenDysfunktionalisierung durch das von der Unterschicht zum subsistenti-ellen Heilsbringer erkorene andere Subjekt muß Priesterkönig und Op-fergemeine nun das Verhältnis zwischen diesem epiphanischen Subjektder Unterschicht und der hauseigenen, opferentsprungenen Epiphanie ineinem ganz anderen Licht sich präsentieren, muß ihnen tatsächlich dieFrage nach dem Sinn und Nutzen einer Austreibung Beelzebubs durchLuzifer ganz neu und vielmehr radikal revidiert sich darbieten. So gewißBeelzebub, die von der Unterschicht hochgehaltene naturentsprosse-ne Epiphanie die angeblich wahren Herren des Reichtums, die Götter,faktisch-empirisch um kein Jota weniger effektiv verdrängt und ersetzt,als dies kategorisch-systematisch Luzifer, die vom Priesterkönig herauf-beschworene opferentsprungene Epiphanie, tut, und so gewiß aber derdie Götter durch seine Figur substituierende Beelzebub im Unterschied zudem die Götter in seiner Person identifizierenden Luzifer darüber hinausauch noch jene reichtumverachtend absolute Negativität, die er wie letz-terer verkörpert, in ein prononciert gegen das aristokratische Leben imÜberfluß gewendetes sozialkritisches Instrument umfunktioniert, in eingesellschaftssprengendes, die Dichotomie der theokratischen Gesellschaftals solche exekutierendes Scheidemittel umbiegt, so gewiß muß es Pries-terkönig und Opfergemeinde opportun erscheinen, Beelzebub mit Luziferauszutreiben, muß es ihnen mit anderen Worten sinnvoll vorkommen,im Gegenzug gegen jene gesellschaftssprengend naturkultliche Fiktionder Unterschicht mit der gesellschaftsunterminierend opferkultlicheneigenen Wahrheit herauszurücken. Diese ex improviso des Opfers er-scheinende und die theokratische Gesellschaft in toto mit Entwirklichungbedrohende Wahrheit über das Sein der Götter als reichtumverachtendsingulares Subjekt und überflußverwerfend personale Identität: sie ist es,die bis dahin Priesterkönig und Opfergemeinde mit allen Mitteln zuerstder sakrifiziellen Blutrünstigkeit und dann der rituellen Kurzschlüssig-keit zu unterdrücken und vom Bewußtsein fernzuhalten bestrebt waren.Gezwungen, seinem hybrid-totenkultträchtigen Rückfall in eine allerProkura sich entschlagende absolute Verfügung über den Reichtum durcheine repräsentative Anerkennung der wahren Herren des Reichtums,eben durchs Opferbringen, zuvorzukommen, und aber ex improviso desgebrachten Opfers konfrontiert mit dem als singulariter wahre Gestalt

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und personaliter wirkliche Identität der Götter epiphanierenden negativi-tätserfüllt anderen Subjekt, setzt bis dahin der Priesterkönig alles daran,dies götterkultvernichtend andere Subjekt sich wieder aus den Augenzu schaffen, sei’s erst einmal repressiv in der Weise, daß er ihm seinenManifestationscharakter bestreitet und es als sakrilegischen Wechselbalgder Götter sakrifiziert, sei’s schließlich dann präventiv in der Form, daßer es durch eine überstürzte Abwicklung des Opferrituals selbst, eineforcierte Exekution der sakrifiziellen Handlung als solcher daran hindert,überhaupt in Erscheinung zu treten. Jetzt aber stellt sich heraus, daßdas aus Verzweiflung und Sehnsucht gemischte Erlösungsbedürfnis derfronenden Unterschicht ihm einen Strich durch die Rechnung seinerVerdrängungsstrategie gemacht hat und daß das einzige, was er mitletzterer erreicht hat, die Wiederkehr des Verdrängten in der fiktivenGestalt eines wider den Stachel der aristokratischen Reichtumsphärelöckenden orgiastisch affirmativen Herrn der agrarischen Subsistenzist. Was er dank seiner Abwehr- und Präventivmaßnahmen als den eximproviso des Opfers erscheinenden Offenbarungseid der Götter erfolg-reich aus der Welt schafft, das sieht er kraft der ebenso verzweiflungs-wie sehnsuchtsvoll illusionsgegründeten Fiktion der Unterschicht in derfruchtbarkeitskultlich-naturentsprossenen Erscheinung des Dionysoswiederkehren, der durch seine im Leben wie im Tode alles okkupierendeund ins Beweismittel seiner eigenen Biographie umfunktionierende Vor-dringlichkeit faktisch-empirisch die Götter nicht weniger entschieden inden Konkurs treibt, als dies kategorisch-systematisch die Opferepiphanietut, und der aber zum existentialkritisch-generellen Affront der Negativi-tät, mit der er der Reichtumorientierung der theokratischen Gesellschaftbegegnet, noch den Tort der sozialkritisch-speziellen Wendung hinzu-fügt, die er dieser Negativität gibt, indem er sie als angeblich positiveParteinahme für die agrarische Subsistenzweise der Unterschicht aufeine pointierte Stellungnahme gegen die aristokratische Lebensform derOberschicht reduziert.

Wie sollte wohl diese klassenkonfrontativ-gesellschaftssprengendeBedeutung, die in der von der Unterschicht evozierten wunscherfüllend-fiktiven Gestalt das epiphanische Subjekt annimmt, Priesterkönig undOpfergemeinde gleichgültig lassen können? Wie sollte sie nicht das Be-dürfnis bei ihnen wecken, gleichermaßen um des allgemeinen sozialenFriedens und um ihrer eigenen politisch-ökonomischen Stellung willen

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jenem von der Unterschicht in Szene gesetzten Propheten und vielmehrHeiland einer reichtumenthoben unmittelbaren Subsistenz das sozialkri-tische Handwerk zu legen? Mit ihrem eingeschliffenen götterkultlichenRitual und den gewohnten sakrifiziellen Mitteln aber sind sie offenkundigaußerstande dazu. Getragen vom verzweiflungsvollen Glauben und vonder sehnsuchtsvollen Einbildungskraft der Unterschicht, funktioniert,wie gesehen, das epiphanische Subjekt der agrarischen Subsistenz dengesamten priesterköniglichen Götterkult unwiderstehlich in einen Indi-zienprozeß um, in einen fortlaufenden Beweisgang für seine im Todewie zu Lebzeiten zyklisch zwingende Allgegenwart, seine biographischeÜbermacht. Zu solcher Umfunktionierung disponiert ist es kraft derhalben Wahrheit, die es verkörpert, kraft der wie sehr auch ins fälschlichPositive der einfachen Subsistenz gewendeten reichtumverachtendenNegativität, mit der es die angeblich wahren Herren des Reichtums, dieGötter, konfrontiert. Weil ihre den Göttern geweihten opferkultlichen Ver-anstaltungen einzig und allein dem Zweck dienen, sich die Wahrheit übererstere vom Leibe zu halten, haben Priesterkönig und Opfergemeindeder unvermuteten interpretativen Indienstnahme ihres sakrifiziellen Tunsfür jene in der Fiktion der Unterschicht gestaltgewordene halbe Wahrheitpartout nichts entgegenzusetzen. Sie haben der von der Unterschichtinbrünstig bezeugten halben Wahrheit – daß statt der anonym-pluralenolympischen Herren des Reichtums das singular-personale dionysischandere Subjekt funktionell erscheint und substantiell ist – nichts ent-gegenzusetzen, es sei denn die von ihnen selbst insgeheim erfahreneganze Wahrheit – daß das ex improviso ihres eigenen Tuns erscheinendesakrilegisch andere Subjekt nichts anderes ist als das substantiell wahreSein und die funktionell wirkliche Identität jener olympischen Herren desReichtums.

Sozial bedrängt und in ihrem Status als Sachwalterin und Nutznießerindes Reichtums fundamental bedroht durch die von der Unterschicht pro-pagierte Halbwahrheit eines kraft agrarischer Selbstgenügsamkeit oderorgiastischer Sichselbstgleichheit reichtumverachtend anderen Subjekts,greift die Oberschicht, um sich dieser Halbwahrheit zu erwehren, zumäußersten Mittel: zur vollen Wahrheit – zu der durchs Opfersakramentmonstrierten Wahrheit nämlich von der aller affirmativen Bezug- undpositiven Parteinahme baren absoluten Negativität, in der das reich-tumverachtend andere Subjekt ursprünglich sich behauptet. Um nicht

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immerzu der Dysfunktionalisierung und Diskriminierung ausgeliefertzu sein, der das von der Unterschicht zum sozialen Nothelfer erkoreneund in den Heiland einer reichtumüberhoben unmittelbaren Subsistenzumgebogene epiphanische Subjekt ihren als aristokratische Reichtum-sphäre ausgewiesenen gesellschaftlichen Bereich in specie unterwirft,stellt sich die Oberschicht der Irrealisierung, mit der dies epiphanischeSubjekt in der Wahrheit und Wirklichkeit seines nicht schon in die Fiktionder Unterschicht überführten, opfersituativ monstrierten Erscheinensdie theokratische Gesellschaft in toto und ihre Reichtumorientierung ingenere konfrontiert. Das heißt sie tut etwas, was noch niemand im Verlaufder reichtumbestimmten Entwicklung der menschlichen Gesellschaftvor ihr gewagt hat zu tun: Sie blickt dem Geschöpf des Reichtums, demex improviso des Überflusses erscheinenden anderen Subjekt in seinerganzen, die Reichtumorientierung ins Nichts irrweghafter Abseitigkeitstoßenden unbedingten Indifferenz, seiner ganzen, über die Überflußper-spektive den Stab halluzinatorischer Vergeblichkeit brechenden absolutenNegativität ins Auge. In historisch entscheidender Weise vollzieht dieOberschicht unter dem sozialen Druck, den die Unterschicht mit ihrerklassenspezifisch fiktiven Version vom Geschöpf des Reichtums auf sieausübt, einen fundamentalen Richtungswechsel und reißt, statt jenemBasilisken eine reichtumbezügliche Identifizierung abzuverlangen, stattjenem Schreckenshaupt die überflußverträglichen Masken sei’s des he-roischen Reichtumbildners, sei’s des plutonischen Reichtumhorters, sei’sdes olympischen Reichtumeigners aufzusetzen, ihm vielmehr die letztedieser Masken, eben die der in olympischer Jenseitigkeit wahren Herrendes Reichtums, herunter, um es in der Unverhohlenheit und Selbigkeit,in der es zuletzt ex improviso des sakramentalen Darbringungsakts sichoffenbart und als die hinter allem anonymen Vorwand und pluralenSchein perennierende singulare Wirklichkeit herausgestellt hat, zur Gel-tung zu bringen. Der Vorteil dieser die Götter demaskierenden und alsdas reichtumverachtend andere Subjekt ex improviso des Reichtumsrealisierenden diametralen Wendung der Oberschicht ist klar: mittelsihrer Anerkennung der opferbezeugt luziferischen wahren Identität undwirklichen Personalität der Götter schlägt die Oberschicht das von derUnterschicht in der Gestalt des Herrn der Subsistenz geltend gemach-te beelzebübische Vexierbild jener Identität aus dem Felde und ersetztdessen gesellschaftssprengend sozialkritische Stoßrichtung, seinen gegen

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die aristokratische Reichtumsphäre in specie gekehrten Impetus durcheine die theokratische Gesellschaft in genere ebensosehr aussparende wieumfassende unbedingte Indifferenz, eine die soziale Einheit und integraleKontinuität jener Gesellschaft tatsächlich gar nicht berührende absoluteNegativität. Nicht minder klar aber ist, wie gesagt, der Preis, den sie dafürbezahlen muß. Bezahlt wird die auf diesem Weg erreichte Erhaltung dersozialen Einheit und integralen Kontinuität der theokratischen Gesell-schaft mit einer die letztere im Kernpunkt ihrer Reichtumorientierung,im Brennpunkt ihrer Überflußerspektive ereilenden grundlegenden Ent-wirklichung und vollständigen Entwertung. Indem in Abwehr der vonder Unterschicht ins Spiel gebrachten dionysischen Epiphanie die aristo-kratische Oberschicht ihre eigene, dem sakramentalen Darbringungsaktentsprungene sakrilegische Epiphanieerfahrung geltend macht und alsdie wahre Identität der in ätherischer Anonymität jenseitigen Herrendes Reichtums das von unbedingter Indifferenz gegen den Reichtumbestimmte singularisch andere Subjekt ex improviso des Reichtums insAuge faßt, gewahrt sie als den unbedingt alternativen Bezugspunkt, denabsolut novellierten Fluchtpunkt der reichtumorientiert theokratischenGesellschaft jenes ursprünglich andere Sein aus mythologischer Zeit, dasex anteriori seiner in integrum restituierten jenseitigen Ursprünglichkeit,a priori seiner in pristinum reduzierten transzendenten Uranfänglichkeitgar nicht verfehlen kann, die gesamte reichtumbestimmte Entwicklungder theokratischen Gesellschaft zum historiologisch irrweghaften Abfallund ontologisch halluzinatorischen Schein zu erklären, und das eben we-gen der ontologischen Entwertung, der es sie aussetzt, die theokratischeGesellschaft – nicht anders als ihre stammesgemeinschaftlichen Vorgän-gerinnen! – allen als Selbstbehauptungsinteresse denkbar guten Grundhatte, hinter der von ihr als die olympischen Götter dingfest gemachtenMaske einer relativ reichtumbezüglichen Existenz zum Verschwindenzu bringen. Genau dieses von der Indifferenz einer ontologisch exklusi-ven Ursprünglichkeit geprägte, von der Negativität einer historiologischdisjunktiven Uranfänglichkeit erfüllte basiliskenhafte Schreckenshauptfaßt um der Abwendung seines von der agrarischen Unterschicht auf-gepflanzten, vexierbildlich mänadischen, gesellschaftssprengenden Ge-genstücks willen die aristokratische Oberschicht in den Blick, zu ihm alszu der erkannt offenbaren Wirklichkeit der Götter beschließt sie, sich zuverhalten.

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Aber kann sie das überhaupt? Ist nicht dies gerade das basilisken-haft Schreckliche, augenblicklich Vernichtende an jenem als das singularwahre Sein hinter dem Schein pluraler Herren des Reichtums ausge-machten anderen Subjekt, daß es jedes in den Tätigkeitsbedingungenund Wertbestimmungen des diesseitigen Daseins gründende Verhältniszu ihm kategorisch zurückweist und vielmehr indifferentistisch verwirft,daß es kraft der a priori historiologischen Disqualifizierung, der es daswesentlich reichtumproduzierende Kollektiv unterwirft, jedem im Rah-men dieser produktiven Orientierung unternommenen Versuch, sich mitihm ins Benehmen zu setzen, eine disjunktiv absolute Absage erteilt?Soll die Oberschicht sich mit jenem als die basiliskenhafte Wahrheit derGötter nunmehr wahrgenommenen, opferepiphanisch anderen Subjektetwa dadurch in relativen Einklang zurückzubringen suchen, daß sie ihmdurch ihren Protagonisten, den Priesterkönig, in der gewohnten WeiseOpfer darbringen läßt? Das einzige und äußerste, was sie damit errei-chen kann, ist, die schreckliche Wahrheit, die sie jetzt weiß und bekennt,ex improviso ihres sakramentalen Kontaktversuchs eigens noch einmalvorgeführt und bezeugt zu bekommen: die Wahrheit nämlich, daß dietheokratische Gesellschaft nicht anders als ihre stammesgemeinschaft-lichen Vorgängerinnen sich durch ihren organisierenden Prospekt, ihrbestimmendes Objekt, den Reichtum, an ein Subjekt verwiesen findet,das uno actu seiner Erhebung zum prospektiven Referenz- und objek-tiven Reflexionspunkt des Reichtumbildungsprozesses diese gesamte,im Reichtum bestehende Objektivität ad absurdum halluzinatorischerVergeblichkeit führt, diesen ganzen, qua Überflußperspektive sich ent-faltenden Prospekt in der Sackgasse fehlleistungshafter Überflüssigkeitenden läßt. Das heißt, die Oberschicht riskiert, mit ihren durch die Ge-wohnheiten eines Lebens im Reichtum bestimmten Verhaltensweisen nurnoch einmal bestätigt zu bekommen, daß sie im dynamischen Sinn einerals regelrecht ontologischer Sprung durchschlagenden Vereitelung sichzu jenem von absoluter Negativität erfüllten anderen Subjekt schlech-terdings nicht verhalten kann, weil es a priori seines ex improviso desReichtums restituierten Seins eben diesen Reichtum, der es als das wahreSein restituiert und der insofern der reichtumproduzierenden Gesell-schaft als die alleinige Basis eines möglichen Verhältnisses zu ihm sichunabweisbar aufdrängt, vielmehr für null und nichtig erklärt und alsirrelevanten Irrweg und Schein verwirft. Exakt jenes im anderen Subjekt

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gestaltgewordene kruzifikatorisch-paradoxale Zugleich von reichtumbe-dingter Realität und bedingungsloser Irrealisierung des Reichtums, vonunwillkürlicher Gesetztheit durch die generellen Lebensbedingungenund sprunghaft individueller Absetzung dieser Lebensbedingungen, vonobjektivem Bezogensein der Gesellschaft auf eine neue Identität undrevokativem Abbruch der Beziehung durch die neue Identität – genaujene als absolute Verhältnislosigkeit ontologisch vernichtende Rückwir-kung des ex improviso des gesellschaftlichen Daseins restituiert einenSeins auf das gesellschaftliche Dasein selbst war es ja, die eingangs derganzen Geschichte die Stammesgemeinschaften zwang, dem restituierteinen Sein die Maske des Heros aufzusetzen, will heißen, ihm mit Mit-teln einer mythologischen Umfunktionierung seine absolute Negativitätzu verschlagen und es in eine als bestimmte Negation nachweislicheVerhältnismäßigkeit zum Reichtum sich übersetzen zu lassen – eine Nö-tigung, die sich dann mit allen Konsequenzen eines ebenso unausgesetztwie modifiziert maskenbildnerischen Verhaltens bis hin zum Götterkultder theokratischen Gesellschaft selbst, bis hin zur Ersetzung des ontolo-gisch reichtumabweisenden einen Seins durch das Konstrukt olympischabwesender Herren des Reichtums, kontinuierte.

Und diese durchgängig maskenbildnerische Tätigkeit gibt nun alsodie Oberschicht der theokratischen Gesellschaft unter dem Eindruck derreichtumfeindlich-beelzebübischen, volksreligiös-baalskultlichen Gegen-version, mit der die Unterschicht ihr zu Leibe rückt, kurzerhand auf.Konfrontiert mit jener sozialkritisch-gegenkultlichen Halbwahrheit, zuderen Kreation ihre eigene opferkultliche Maskenbildnerei das fronendeVolk provoziert, läßt die Oberschicht kurzentschlossen die Masken fahrenund gibt der im anderen Subjekt als daseinskritisch ursprünglichem Sein,als geschichtsrevokativ absolutem Anfang bestehenden vollen Wahrheitdie Ehre, um mit ihr die gesellschaftskritisch pointierte, schichtspezifischdeterminierte Halbwahrheit der Unterschicht aus dem Felde zu schlagen.Wie dann aber – noch einmal gefragt – soll und kann die Oberschicht sichzu dieser unter dem Druck des falschen Zeugnisses, das die Unterschichtwider sie ablegt, offen eingestandenen Wahrheit selbst verhalten? Sicherist, daß sie die Wahrheit so, wie sie sich unmittelbar präsentiert – als einaus ihren, der Oberschicht, eigensten Lebensbedingungen, ihrer eigenstenDaseinsbestimmung, dem Reichtum, sich in integrum restituierendes,irrealisierend vernichtendes, gestaltgewordenes Verdikt über eben diese

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Lebensbedingungen und entqualifizierend absolutes, subjektgewordenesVeto gegen eben diese Daseinsbestimmung –, unter keinen Umständenakzeptieren, geschweige denn sich dazu verhalten kann! Und ebensosicher ist, daß sie der maskenbildnerischen Möglichkeit, diese vernich-tende Wahrheit durch eine mit mythologisch-heroologischen Mittelnihr dennoch vindizierte und bis in den Götterkult hinein kontinuierteherrschaftliche Beziehung auf den Reichtumprospekt und eigentümlicheEinbindung in die Überflußperspektive zu entschärfen und erträglichwerden zu lassen, sich angesichts des epiphaniekultlich-sozialkritischenMißbrauchs, den die Unterschicht mit der solcherart hinter der Maske re-lativer Reichtumverträglichkeit zum Verschwinden gebrachten Wahrheittreibt, unwiderruflich begeben hat. Was ihr unter diesen dilemmatischenUmständen als Ausweg bleibt, ist eine im Salto mortale durchgesetzteresultative Konversion zu und aktive Identifizierung mit der als totocoelo anderes Subjekt anerkannten vernichtenden Wahrheit, ist die Be-reitschaft, diese Wahrheit, um sie nicht weiterhin in der unerträglichenForm eines ex improviso des reichtümlich eigenen Daseins über dasletztere ausgesprochenen objektiven Vetos und verhängten absolutenVerdikts sich bieten lassen zu müssen, vielmehr aus freien Stücken sichzuzuziehen und als eine von ihr, der Oberschicht, selbst vertretene Ein-stellung und existentiell geteilte Bestimmung gegen das vormals eigeneDasein als gegen ein nunmehr durch sie selber fundamental in Fragegestelltes und nämlich von der ganzen Negativität der Wahrheit, ihrerganzen Irrealisierungskraft und Entqualifizierungsbedeutung betroffe-nes Fremdes zur Geltung zu bringen. Was ihr bleibt, ist ein mit demwahrhaftig anderen Subjekt vollzogener veritabler Rollentausch: So, wiebis dahin das andere Subjekt in seiner vernichtenden Wahrheit sich aufGrund der mythologisch-kultischen Manipulationen der Gesellschaftseiner Negativität hat entschlagen und bereitfinden müssen, auf dembei aller spezifischen Differenz und negativen Reserve gemeinsamenGrund und Boden der Reichtumrücksicht Fuß zu fassen, muß umgekehrtnun die Gesellschaft in persona der Oberschicht bereit sein, sich von dervernichtenden Wahrheit des anderen Subjekts ihre reichtumbezüglichePositivität verschlagen zu lassen und in der Fluchtlinie der jene Wahrheitbestimmenden Negativität als in einem ihr ganzes bisheriges Daseinsuspendierenden Existential Aufstellung zu nehmen. Was ihr also, umder unverkraftbaren Negativität jener aus der eigenen Objektivität sie

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ereilenden vernichtenden Wahrheit des anderen Subjekts zu entrinnen,bleibt, ist eine vollständige Umkehrung ihres bisherigen Verhaltens, eineförmliche Konversion. Was sie alloplastisch nicht mehr verändern, in einerelative Affirmation der reichtumzentriert eigenen Lebensbedingungenmythologisch-kultisch nicht mehr umfunktionieren kann, mit dem mußsie sich autoplastisch identifizieren, das muß sie in eigener Person gegendiese Lebensbedingungen vorbringen und geltend machen, um es als ob-jektives Schreckensbild sich aus den Augen zu schaffen und seinem sie inden ontologischen Offenbarungseid ihres eigenen Daseins verstrickendenrestitutiven Tribunal nicht mehr konfrontiert zu sein. Was der Oberschichtbleibt, ist die Ersetzung des religiösen Kults durch die Herrschaft desWesens.

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Exkurs: Schamanismus oder die Auferstehung des Fleisches

Eine eigentümliche Adaption und Nutzanwendung erfährt der widerden Stachel der Reichtumproduktion als verbindlicher gesellschaftli-cher Perspektive löckende bäuerlich-dionysische Subsistenzkult in denam Rande und im Umkreis der reichen theokratischen Gesellschaftenvornehmlich oder ausschließlich auf jägerischer Basis subsistierendenarmen Stammesgemeinschaften und dem von diesen unter dem Ein-fluß ihrer reichen Nachbarn ausgebildeten schamanischen Kult. Was inder theokratischen Gesellschaft dem von der bäuerlich-handwerklichenUnterschicht als fiktive Instanz hochgehaltenen Herrn des vegetativenLebens widerfährt, das ereilt ebensowohl als ein fiktives Schicksal denvon jenen Stammesgemeinschaften als reale Institution kultivierten Herrndes animalischen Lebens, den Schamanen: er findet sich seiner unmit-telbaren Macht als heilkräftiger Hüter des Lebens beraubt, stirbt einenrituellen Opfertod, fährt in ein unterweltliches Jenseits hinab und erstehtwieder auf, um – angetan mit den Insignien oder vielmehr gezeichnetvon den Spuren seines über den Tod errungenen Triumphs – sich erneutals der lebenspendende Heiler des Stammes zu etablieren. Daß dies nichtbloß eine formale Parallele ist, sondern daß durchaus eine materialeAnalogie vorliegt, erhellt aus der subsistentiellen Bedeutung, die dasSchicksal des schamanischen Heilers nicht weniger als das des dionysi-schen Heilbringers hat. Wie die Biographie des dionysischen Heilbringersdie naturkreisläufige Bahn beschreibt und vielmehr bestimmt, die dieSubsistenzbasis seiner bäuerlichen Verehrer, die Vegetation, durchläuft, sostellt auch der Werdegang des schamanischen Heilers den reproduktions-zyklischen Weg dar und vielmehr sicher, den das Subsistenzmittel seinerjägerischen Anhänger, das Beutetier, nimmt: wie das Jagdtier, von dem er

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und seine Stammesgenossen leben, wird auch der Schamane selbst im Zu-ge seines rituellen Opfertods zur Strecke gebracht, zerlegt und entbeint,um schließlich aus den Knochen wiederaufzuerstehen. Dies letztere, dieZergliederung und Skelettierung des schamanisch-jägerischen Opfers,könnte nun zwar auf den ersten Blick ein neues und eigenes, einem alsJagdzauber magischen Bemühen (was auch immer darunter sich ver-stehen ließe!) geschuldetes Element scheinen. Vielmehr komplettiert esaber genau die Analogie zum dionysischen Subsistenzkult in den theo-kratischen Gesellschaften, indem es mit dem Resultat der Zergliederung,dem Skelett und Knochen, ein Pendant zu eben der Perspektive undSphäre ins Spiel bringt, um die als um sein heteronomes Zentrum jenervegetative Subsistenzkult sich dreht: ein Gegenstück nämlich zur Sphäredes gesellschaftlichen Reichtums. Die Rücksicht auf den Reichtum, derZwang, die unmittelbare Subsistenz sich zu guter Letzt durch die Reich-tumform vermitteln lassen zu müssen: dies ist es, wie gesehen, was imdionysischen Kult den Herrn der Subsistenz mitsamt dem von ihm er-füllten reichtumüberhoben-selbstgenügsamen, agrarisch-einfachen Lebender Unterschicht heimsucht und zugrunde richtet. Und ganz entspre-chend ist es im schamanischen Kult die Rücksicht auf den Knochen, derZwang, sich der fleischlichen Subsistenz auf dem Umweg übers Gebeinversichern zu müssen, was dem Schamanen ebenso wie dem von ihmrepräsentierten Beutetier die Glieder löst und den Garaus macht. Indeshat diese Parallele zwischen der die Unmittelbarkeit des agrarischenSubsistenzmittels vernichtenden Kultivierung von Reichtum und einemdie Lebendigkeit des jägerischen Subsistenzmittels zerstörenden Kultum den Knochen doch wohl eher den Wert einer symbolischen Übertra-gungsbeziehung als die Geltung eines empirischen Entsprechungsver-hältnisses. Schließlich ist die agrargesellschaftliche Reichtumerzeugungder theokratischen Gemeinwesen ein wirkliches, durch die Existenz deraristokratischen Nutznießer des Reichtums ausgewiesenes Tun, im Blickauf das sich die von der Unterschicht in corpore des dionysischen Heil-bringers behauptete reichtumüberhoben selbstgenügsame, rauschhaftunmittelbare Subsistenz als eine ephemere Randerscheinung, ein amEnde des vegetativen Zyklus notwendig verfliegender schöner Scheinpräsentiert. Hingegen ist die jägergesellschaftliche Knochenprodukti-on der schamanistischen Stammesgemeinschaften ein der wirklichensozialen Funktion augenscheinlich entbehrendes Beginnen, das sich in

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einem der subsistentiellen Realität dieser Gemeinschaften aufgesetztensymbolisch-kultischen Handeln erschöpft. Was jene im Umkreis der theo-kratischen Zivilisationen ihr Leben fristenden Jäger-und-Sammler-Völkertatsächlich praktizieren, ist eine auf Beutetieren und Naturfrüchten ba-sierende und von jeder Reichtumerzeugung weit entfernte Subsistenz-wirtschaft; was sie demnach tun, wenn sie ihrer jägerisch-unmittelbaren,umweglos-subsistentiellen Fleischversorgung mittels Knochenkult eineder Reichtumrücksicht der theokratischen Gesellschaften vergleichba-re Dimension vindizieren, ist die symbolische Imitation oder kultischeSimulation eines Mechanismus, der ihrer stammesgemeinschaftlichenOrganisation und Reproduktion eigentlich fremd ist und von dessenAbwesenheit das Fehlen einer entsprechenden gesellschaftlichen Schich-tung, priesterköniglichen Einrichtung und götterkultlichen Religion jaauch deutlich genug zeugt.

Weshalb aber ahmen dann jene jägerisch-schamanistischen Gemein-schaften den reichtumorientierten Produktionszusammenhang der agra-risch-theokratischen Gesellschaften mittels Knochenkult überhaupt nach?Verantwortlich dafür ist ein grundlegender Mangel und vielmehr we-sentlicher Widerspruch in der Subsistenzform der jägerischen Gemein-schaften, der den letzteren gerade im Vergleich mit der Produktionsweiseihrer agrarischen Nachbarn schmerzhaft bewußt werden muß: das Miß-verhältnis nämlich, daß sie das Subsistenzmittel, auf dem ihre Existenzberuht und das ihnen als die fleischgewordene Positivität ihres Daseinslieb und teuer ist, ständig nur durch Konsumtion ausbeuten, zerstören,negieren, ohne durch eine korrespondierende kompensatorische Produk-tionstätigkeit für seine Erhaltung sorgen, es als solches reaffirmieren, eshegen und pflegen zu können. Arbeit, die spezifisch menschliche Formeines selbstbestimmt organisierten Stoffwechsels mit der Natur, erschöpftsich bei ihnen in der geübten Auffindung, Aneignung und Verwendungeines Naturgegebenen und hat nicht die in der agrarischen Gesellschaftausgebildete Gestalt eines direkten Einwirkens auf die gebende Naturselbst, will heißen einer aktiven Manipulation und systematischen Orga-nisation der natürlichen Entstehungsbedingungen der Subsistenzmittel.Dem als kreisläufiger Stoffwechsel, als konkreter Austausch mit der Naturerkennbaren kultivierenden Anbau der agrarischen Gesellschaften stehtdemnach bei den jägerischen Gruppen ein in einseitiger Selbstversor-gung, im abstrakten Nehmen von der Natur aufgehender, destruierender

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Raubbau gegenüber. Seinen sinnfällig-gegenständlichen Ausdruck findetdieser grundlegende Unterschied in der Beschaffenheit und Wirkmächtig-keit der jeweiligen Arbeitsweise in dem Umstand, daß im Normalfall dieSubsistenzmittel der agrarischen Gesellschaften erzeugte Akzidentien,“Abfallprodukte” einer kontinuierlicher Bearbeitung unterliegenden blei-benden Substanz sind, wohingegen bei den jägerischen Gemeinschaftendie Subsistenzmittel erlegte Exemplare, diskrete Teile der als Wildbestanddurch die Jagdarbeit verfolgten und zur Strecke gebrachten schwinden-den Substanz selbst sind.

Dies in der Arbeit des Verfolgens und Stellens, des Aufspürens undBereitstellens des Subsistenzmittels sich erschöpfende Zehren von derals solche nicht der Bearbeitung unterworfenen Natursubstanz gibt nunaber angesichts der als relative Naturbeherrschung in kontinuierlichsubstantieller Auf- und Anbauarbeit bestehenden Produktionsweise ihreragrarischen Nachbarn den jägerischen Gemeinschaften das Gefühl eineswesentlich heteronomen Daseins und Ausgeliefertseins an die Natur-macht und vermittelt ihnen gleichzeitig das für jenes Gefühl maßge-bende Bewußtsein, mit solcher Abhängigkeit von einer unkontrollierbarselbstmächtigen Natursubstanz nicht auf der Höhe der in Wirklichkeitder Gesellschaft durch Arbeit möglichen aktiven Einflußnahme auf dieNatur und produktiven Verfügung über die natürlichen Subsistenzbedin-gungen zu sein. So wahr die agrarischen Gesellschaften sich durch ihrekultivierend-akkumulative Produktionsweise den jägerischen Gemein-schaften als – wie immer durch Wechselfälle des Klimas, der Geogra-phie und des Ökosystems eingeschränkte – Herren ihres subsistentiellenSchicksals zu verstehen geben, so wahr vermitteln sie ihnen das vomMinderwertigkeitskomplex nicht eben weit entfernte Gefühl, mit ihrerdestruierend-exploitativen Arbeitsform Sklaven der Natur und Spiel-ball einer in dieser gestaltgewordenen heteronomen Schicksalsmachtzu sein. Und es ist dieses Minderwertigkeitsgefühl, dieses Bewußtseineiner vergleichsweise ohnmächtigen Abhängigkeit von der nach eigenemErmessen gebenden Natur, was den jägerischen Gesellschaften die scha-manische Simulation des agrarischen Sterbe- und Wiederauferstehungs-kults eingibt und sie dazu antreibt, im Knochenkult eine der Reichtums-rücksicht analoge Bestimmtheit ihrer Subsistenz zu kultivieren. Nicht,daß sich dadurch faktisch-empirisch an ihrem ebenso passiven wie ag-gressiven Zehren von der Substanz, an ihrer aufs Erlegen, Zerstören,

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Vernichten beschränkten Produktionsweise etwas änderte! Wohl abererhält psychologisch-ideologisch diese destruktive Produktionsweisedurch die Verknüpfung mit dem der Reichtumsrücksicht analogen scha-manischen Knochenkult ein anderes und erträglicheres Aussehen: Indemsie als solche zum integrierenden Bestandteil und vielmehr zur bloßenFolgeerscheinung einer im Wortsinn als Knochenarbeit bestimmten unddem agrarischen Eingreifen in die Natur vergleichbaren tiefschürfend-gründlichen, um nicht zu sagen einschneidend-wirklichen Behandlungder Natur avanciert, legt sie die Züge eines dem unmittelbar subsistenti-ellen Tun der Jäger als Naturverfallenheit zur Last zu legenden rücksicht-losen Zerstörens und kompensationslosen Raubbaus ab und verwandeltsich in die notwendige Implikation eines im Knochenreichtum resul-tierenden konstruktiven Vorhabens und objektiven Vollbringens. “Wirhaben dich von deinem Fleisch befreit”, sagen die Tungusen zum skelet-tierten Beutetier und implizieren die subsistentielle Fleischgewinnung alsbloßen Nebeneffekt des eigentlichen Zwecks einer substantiellen Kno-chenproduktion.

Das also bietet der in den agrarischen Gesellschaften grassierende Kultum den zugrunde gehenden dionysischen Herrn der Subsistenz undum die gleichzeitig mit ihm der Zerstörung anheimfallenden vegetativ-unmittelbaren Subsistenzmittel den jägerischen Gemeinschaften: ein Er-klärungs- und Rechtfertigungsmodell für die zerstörerische Gewalt undraubbauhafte Abstraktheit, in der ihre eigene Selbsterhaltung in der Na-tur, ihre subsistentielle Arbeit, sich erschöpft. Indem sie den in jenemagrargesellschaftlichen Kult als Ausschließungsverhältnis und tödlicherGegensatz konstruierten sozialen Konflikt zwischen bäuerlich unmittel-barer Subsistenzgewinnung und aristokratisch vermittelter Reichtum-bildung auf die jägerischen Lebensbedingungen übertragen und als denunter diesen Bedingungen virulenten Gegensatz zwischen Lust am leben-digen Fleisch und Zwang zum toten Knochen reproduzieren, gelingt esihnen, den an sich der Befriedigung ihrer Fleischeslust eingeschriebenenWiderspruch eines am Befriedigungsmittel geübten kompensationslo-sen Zerstörens und perspektivlosen Raubbaus “aufzulösen” und, wieeinerseits das Zerstören zur notwendigen Implikation jener als objektiveNaturbearbeitung sich gerierenden substantiellen Knochenproduktionzu erklären, so andererseits die Befriedigung des Bedürfnisses selbstaus einem durch sein zerstörerisches Mittel, den Raubbau an der Natur,

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diskreditierten zentralen Zweck der Veranstaltung in einen bloßen Ne-beneffekt, ein Abfallprodukt des durch seine Einbindung in den Naturbe-arbeitungsgestus des Knochenkults als produktives Tun gerechtfertigtenZerstörungswerks zu verwandeln. Aber nicht nur für eine Rechtferti-gung, sondern mehr noch für eine Wiedergutmachung, eine Reparationdes Zerstörungswerks sorgt der nach dem Vorbild der agrarischen Reich-tumsrücksicht als tödlich objektive Bestimmung in die jägerisch unmittel-bare Subsistenz eingeführte schamanische Knochenkult. Schließlich ist jaauch im agrarischen Vegetationskult das durch die Reichtumsrücksichtverschuldete Sterben des dionysischen Lebensspenders und Zugrundege-hen der von ihm erfüllten unmittelbaren Subsistenz mitnichten das letzteWort in der Sache, sondern vielmehr Auftakt und Ausgangspunkt füreine im naturzyklischen Wiedererwachen der Natur gewahrte Wieder-auferstehung des Getöteten und Wiederherstellung seiner rauschhaftenSphäre subsistentieller Unmittelbarkeit und Sichselbstgleichheit. WasWunder, daß in diesem resurrektiven Punkt der schamanische Kult demVorbild des dionysischen folgt und aus dem skelettierten Knochen dasFleisch in gehabter Lebendigkeit wieder hervorgehen läßt?

In einer vollständigen Imitation des agrarischen Sterbe- und Aufer-stehungszyklus nutzt also der schamanische Kult um den Tod und dieWiederverlebendigung des Fleisches seine der Reichtumsrücksicht ana-loge Fixierung ans Skelett nicht nur, um der abstrakt zerstörerischenjägerischen Produktionsweise einen sie als konstruktive Knochenarbeitrehabilitierenden substantiellen Zweck oder objektiven Grund nachzu-weisen, sondern er bringt dabei mehr noch diesen objektiven Grund derZerstörung als den spekulativen Umschlagspunkt einer alle Zerstörungzu widerrufen bestimmten Resurrektion des Fleisches oder Restitutiondes Lebendigen zur Geltung. Diese von der jägerisch-schamanischenSpielart des agrarisch-dionysischen Auferstehungskults behauptete re-sultative Wiedergewinnung des lebendigen Fleisches aus dem toten Kno-chen oder positive Wiederherstellung der unmittelbaren Subsistenz ausder auf Kosten der letzteren erarbeiteten Natursubstanz läßt nun aberdeutlich werden, wie sehr die agrarische Reichtumsrücksicht durch ih-re Überführung in den jägerischen Bereich und ihre knochenkultlicheVerwendung in der schamanischen Religion ihre strukturelle Bedeutungverändert und wie völlig sie sich nämlich aus einem die unmittelbareSubsistenz heimsuchenden negativen Bezugspunkt und existentiellen

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Ausschließungsgrund in einen affirmativen Reflexionspunkt und einfunktionelles Transportmittel für den subsistentiellen Prozeß verwandelt.Dort, im agrarischen Auferstehungskult der theokratischen Gesellschaf-ten, firmiert die Reichtumsrücksicht als das herrschende gesellschaftlicheVerhältnis, als die reale Entfremdungsperspektive, die einer fiktiven un-mittelbaren Subsistenz unüberwindliche Schranken setzt und am Endein der Tat den Garaus macht. Will diese unmittelbare Subsistenz mitsamtdem sie tragenden vegetativen Herrn und Heilsbringer wiedererstehen,so kann sie das nicht etwa aus dem spekulativen Abgrund eben jener alsEntfremdungsperspektive zwingenden Reichtumsrücksicht vollbringen,sondern sie muß es kraft einer der Reichtumsrücksicht entgegenwirken-den eigenen Substanz, dem zur Naturmacht hypostasierten Inbegriffeiner durch die Reichtumsrücksicht zu scheinbarer Spontaneität undSelbstmächtigkeit entfesselten Produktivität, durchsetzen. Nicht die denTammuz, Osiris oder Dionysos totenreichlich verschlingende Reichtums-rücksicht selbst ist es, die den Zugrundegegangenen wieder freiläßt undzutage fördert, sondern die als Ischtar, Isis oder Rhea zum schönen Scheineiner unabhängigen Naturmacht abgespaltene agrarische Produktivkraftmuß ins Totenreich hinabsteigen und den Getöteten wieder zum Lebenerwecken und freisetzen. In den jägerischen Gemeinschaften hingegenist die qua Fleischbeschaffung praktizierte unmittelbare Subsistenz diegesellschaftlich herrschende Realität, und die im schamanischen Kno-chenkult symbolisch übernommene Reichtumsrücksicht wird als fik-tive Entfremdungsperspektive eingeführt, um ein der subsistentiellenProduktionsform eigenes Ungenügen und Moment heteronomer Na-turverfallenheit gleichermaßen zu kompensieren und als integrierendenBestandteil einer vielmehr autonomen Naturbearbeitung zu rechtfertigen.Indem so die qua Knochenkult praktizierte Reichtumsrücksicht dazudient, einen der jägerischen Subsistenz immanenten Mangel zu behebenoder jedenfalls aus der letzteren selbst zu entfernen, übernimmt sie nolensvolens eine positiv vermittelnde Funktion oder gewinnt die Bedeutungeines konstruktiven Reflexivs. Sie ist nicht mehr die reale Schranke, dieeine fiktiv sichselbstgleiche Subsistenz ad absurdum einer unentrinnbarzerstörerischen Entfremdung führt, sondern sie ist die fiktive Entfrem-dungsperspektive, die eine real widersprüchliche, weil raubbauhaft zer-störerische Subsistenzweise von ihrem Widerspruch befreit und somitals eine sichselbstgleich geübte und unbedenklich genossene allererst

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ermöglicht. Was Wunder, daß die schamanischen Gemeinschaften dieseim Blick auf den inneren Widerspruch der jägerischen Subsistenz kon-struktive Bedeutung der knochenkultlichen Entfremdungsperspektivemit dem von den Agrargesellschaften übernommenen Motiv einer na-turzyklisch garantierten Wiederherstellung der unmittelbaren Subsistenzaus ihrer reichtümlichen Entfremdung assoziieren und im spekulativenKurzschluß das eine, die Reduktion auf den Knochen, zum Grund desanderen, der Wiederauferstehung des Fleisches, erklären?

Von solcher spekulativ kausalen Herleitung des im Fleische repro-duzierten Lebens aus einem per se produktiven knöchernen Tod zeugtschließlich der Schamane selbst. Anders als der agrarische Dionysosfiguriert der jägerische Schamane nicht nur als Herr der unmittelbarenSubsistenz und als blutiges Opfer der diese ereilenden fatalen Entfrem-dung, sondern er avanciert als Knochenmann, als Skeletträger, auch undgerade zum Herrn über die tödliche Entfremdungsperspektive selbst.Weil als schamanischer Knochenkult die Entfremdungsperspektive kei-ne der unmittelbaren Subsistenz bloß äußerlich zustoßende destruktiveSchranke, sondern eine sie substantiell vermittelnde objektive Bedingungist, gewinnt zwangsläufig auch der die Subsistenz als Herr und Opferparadigmatisch verkörpernde Schamane zu ihr ein affirmativ anderesVerhältnis: er erleidet sie nicht einfach als ein Widerfahrnis, durchläuftsie nicht bloß als herbes Schicksal, sondern projektiert und inszeniert sieals einen für seine zyklische Laufbahn grundlegenden Tiefpunkt undrichtungweisenden Umschlagsort. Er übernimmt und spielt neben seinerRolle als Herr der Subsistenz quasi auch den in den jägerischen Gemein-schaften mangels Klassengesellschaft und Staatsbildung funktionslosenPart des priesterköniglichen Reichtumverwalters, um hiernach als Kno-chenmann und Herr über die skeletthafte Natursubstanz teils sich selberzur heiligen Dreifaltigkeit des Täters, des Toten und des Triumphieren-den zu komplettieren, teils seiner Karriere den Automatismus eines ausAutodafé, Agonie und Phönix-aus-der-Asche oder vielmehr Fleisch-aus-dem-Knochen kombinierten Procedere zu verleihen.

Daß solch prozedurale Automatisierung des Sterbe- und Wiederau-ferstehungskults schon früh auf die agrarischen Gesellschaften zurück-wirkt und die Anhänger des dionysischen Vegetationskults fasziniert,das beweist deren als Anleihe beim Schamanismus unschwer erkennbareNeigung, den Tod des Herrn der Vegetation in wie immer durch die

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Feldfrucht, die für letzteren einsteht, modifizierter Form dem Sterbendes schamanischen Opfers nachzubilden und nämlich als ein Zerrissen-,Zerteilt-, Zerstampft-, Zermahlenwerden zur Anschauung zu bringen.Seine volle Wirksamkeit aber entfaltet diese zuerst durch den jägerischenSchamanismus kultivierte spekulative Vorstellung von einem dem Todeselbst entspringenden Leben, einem aus dem Knochen auferstehendenFleisch schließlich in der christlichen Heilsreligion und ihrem reliquien-kultlich ausgewalzten Glauben an den lebenspendenden heiligen Geistaus dem todbringenden Buchstaben des Gesetzes.

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