Reimer DerMalerMax Schulze-Söldein Wüster Marsch ein · Schulze-Söldeinder Wüster Marsch-ein...

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Schulze-Sölde in der Wüster Marsch - ein agrarromantisches „edelkommunisti- sches" Siedlungsex- periment auf dem „Lindenhof" in Kleve (1920) 1 Reimer Möller Der Maler Max 1.Einleitung Eine leicht fluktuierende Gruppe von ungefähr zehn jüngeren Frauen und Männern aus der westfälischen Künstlerszene kaufte 1 920 im Dorf Kleve in der Wüster Marsch eine kleine Landstelle und gründete eine - heute würde man sagen: Wohngemeinschaft. Dieses Unternehmen war den damaligen Lokalbehörden äußerst verdächtig, weshalb sie es streng beobachteten und allerlei Er- mittlungen anstellten. Daraus erwuchs im Landratsamt des Krei- ses Steinburg in Itzehoe eine Polizeiakte mit dem Titel: „Kom- munistensiedlung im Amtsbezirk Krummendiek", die heute im Landesarchiv in Schleswig verwahrt wird. 2 Historische Wohnge- meinschaften fand ich in den frühen achziger Jahren interessant, weil ich seinerzeit am Batardeau in Glückstadt selbst in einer solchen lebte. Die erste Durchsicht der Akte weckte Assoziationen an Hein- rich Vogeler und Worpswede und deshalb notierte ich die aufge- führten Namen, um eventuell mehr über die „Alternativen" aus der Frühphase der Weimarer Republik in Erfahrung zu bringen. Ich wurde damals nicht fündig und die Karteikarte kam in die Ablage - für 10 Jahre. Bei Umzugsvorbereitungen an meinem neuen Wohnort Soest/Westfalen kam sie mir Ostern 1 992 wieder unter die Augen und nun hatte ein Name für mich Klang bekom- men: Max Schulze-Sölde. In dem von mir geleiteten Soester Burghofmuseum hängt sein Ölbild „Das brennende Soest", das den Anblick festhält, den die Stadt nach dem verheerenden Bom- benangriff vom 5./6. Dezember 1944 bot. Die zweite Quelle dieser Darstellung ist Max Schulze-Söldes selbstironisch zurückblickende Autobiographie aus dem Jahre 1930. 3 Die Möglichkeit, anhand dieser gedruckten Selbstdarstel- lung und der Akte die private und die Behördenperspektive auf das Klever Geschehen synoptisch miteinander zu vergleichen, ist reizvoll. 1 Der Artikel beruht auf einem Vortrag zum „Sleswicker Mahl" des Soester Heimat- und Geschichtsvereins am 12.1.1994 und wurde leicht verändert aus der Soester Zeitschrift 1995 über- nommen. 2 Schleswig-Holsteinisches Landesar- chiv in Schleswig, Abt. 320 Steinburg, Nr. 246. 3 Max Schulze-Sölde. Ein Mensch in seiner Zeit, Flarchheim 1930. 4 Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Von der Antike bis zur Ge- genwart, begr. von Ulrich Thieme und Felix Becker, Bd. 29/30, hrsg. von Hans Vollmer, Leipzig 1982,S. 337. 2. Max Schulze- Soldes Werdegang (1887-1919) Max Schulze-Sölde kam 1887 in Dortmund als Sohn des in Hamm amtierenden Generalstaatsanwalts zur Welt, studierte Ju- ra in Köln und München und wechselte nach dem Referendarex- amen 1910 für drei Jahre zur Kunstakademie Düsseldorf. 4 Dort ließ er sich hauptsächlich von Eduard von Gebhard, einem reli- giösenMaler, ausbilden. 5 Aus Interesse am Impressionismus reiste er 1914 nach Frank- reich, wurde vom Kriegsausbruch überrascht und als Zivilinter- nierter für die Dauer des Krieges auf Korsika festgehalten. Dort hatte er die Möglichkeit zu künstlerischer Arbeit und somit war die 4 1 /2 jährige, von Kubisten und Expressionisten bestimmte Zeit der Gefangenschaft für ihn produktiv. 1919 stellte er im Dortmunder Kunstsalon May aus. Der Kritik war das eine kurze Erwähnung mit zwiespältigem Lob wert: „Der Sohn des höchsten juristischen Beamten Westfalens, der zuerst so wunderschöne, an Gebhardt und die heilige Akademie erinnernde Dinge macht, dann plötzlich in Paris im Cafe du Do- me und dann in Toulon bei Friesz immer unverständlicher wird, bis er dann endlich während seiner Gefangenschaft in Corsika, Dinge zeichnet, die die Dortmunder an seinem gesunden Men- schenverstand zweifeln lassen! Scherz bei Seite. Die in Ajaccio 5 Zu v. Gebhardt vgl. Erik Thomson, Eduard von Gebhardt, Leben und Werk. Aus dem Nachlaß bearb. von Günter Krüger, Lüneburg 1991 (Schrif- tenreihe Nordost-Archiv, H. 16). Schleswig-Holstein heute 125

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  • Schulze-Söldein derWüster Marsch -einagrarromantisches„edelkommunisti-sches" Siedlungsex-periment auf dem„Lindenhof" in Kleve(1920)1

    Reimer MöllerDer Maler Max

    1.Einleitung

    Eine leicht fluktuierende Gruppe von ungefähr zehn jüngerenFrauen undMännern aus der westfälischen Künstlerszene kaufte1 920 imDorf Kleve inder Wüster Marsch eine kleine Landstelleund gründete eine- heute würde man sagen:Wohngemeinschaft.Dieses Unternehmen warden damaligen Lokalbehördenäußerstverdächtig, weshalb sie es streng beobachteten und allerlei Er-mittlungen anstellten.Daraus erwuchs im Landratsamt desKrei-ses Steinburg in Itzehoe eine Polizeiaktemit dem Titel: „Kom-munistensiedlung im Amtsbezirk Krummendiek", die heute imLandesarchiv in Schleswig verwahrt wird.2 Historische Wohnge-meinschaften fandich inden frühen achzigerJahren interessant,weil ich seinerzeit am Batardeau in Glückstadt selbst in einersolchen lebte.

    Die erste Durchsicht der Akte weckte Assoziationen an Hein-rich Vogeler und Worpswede und deshalbnotierte ich die aufge-führten Namen, um eventuell mehr über die „Alternativen" ausder Frühphase der Weimarer Republik in Erfahrung zu bringen.Ich wurde damals nicht fündig und die Karteikarte kam in dieAblage - für 10 Jahre. Bei Umzugsvorbereitungen an meinemneuen Wohnort Soest/Westfalen kam siemir Ostern 1992 wiederunterdie Augenund nunhatte ein Name für mich Klangbekom-men: Max Schulze-Sölde.In dem von mir geleiteten SoesterBurghofmuseum hängt sein Ölbild „Das brennende Soest", dasdenAnblick festhält,den die Stadt nach dem verheerenden Bom-benangriff vom 5./6. Dezember 1944 bot.

    Die zweite Quelle dieser Darstellung ist Max Schulze-Söldesselbstironisch zurückblickende Autobiographie aus dem Jahre1930.3 DieMöglichkeit,anhand dieser gedruckten Selbstdarstel-lung und der Akte die private und die Behördenperspektive aufdasKlever Geschehensynoptischmiteinander zu vergleichen, istreizvoll.

    1 Der Artikel beruht auf einem Vortragzum „Sleswicker Mahl" des SoesterHeimat- und Geschichtsvereins am12.1.1994 und wurde leicht verändertaus der Soester Zeitschrift 1995 über-nommen.2 Schleswig-Holsteinisches Landesar-chiv in Schleswig, Abt. 320 Steinburg,Nr. 246.3 Max Schulze-Sölde. Ein Mensch inseiner Zeit, Flarchheim 1930.4 Allgemeines Lexikon der bildendenKünstler. Von der Antike bis zur Ge-genwart,begr. von Ulrich Thieme undFelix Becker, Bd. 29/30, hrsg. vonHans Vollmer, Leipzig 1982,S. 337.

    2.Max Schulze-Soldes Werdegang(1887-1919)

    Max Schulze-Sölde kam 1887 in Dortmund als Sohn des inHamm amtierendenGeneralstaatsanwalts zur Welt, studierte Ju-ra inKölnundMünchen und wechselte nach demReferendarex-amen 1910 für drei Jahre zur Kunstakademie Düsseldorf. 4 Dortließ er sich hauptsächlich von Eduard von Gebhard, einem reli-giösenMaler, ausbilden.5

    Aus Interesseam Impressionismus reiste er 1914nach Frank-reich, wurde vom Kriegsausbruch überrascht undals Zivilinter-nierter für die Dauer des Krieges auf Korsika festgehalten. Dorthatte erdie Möglichkeitzu künstlerischer Arbeit und somit wardie 4 1 /2jährige, von Kubisten und Expressionisten bestimmteZeit derGefangenschaft für ihn produktiv.

    1919stellte er imDortmunderKunstsalon May aus. DerKritikwar daseine kurze Erwähnungmit zwiespältigem Lob wert:

    „DerSohn deshöchsten juristischenBeamten Westfalens, derzuerst so wunderschöne,an Gebhardt unddie heilige Akademieerinnernde Dingemacht, dann plötzlichinParis im Cafe duDo-me unddann in Toulon beiFriesz immer unverständlicher wird,bis er dann endlich während seiner Gefangenschaft in Corsika,Dinge zeichnet, die die Dortmunder an seinem gesunden Men-schenverstand zweifeln lassen!Scherz bei Seite. Die in Ajaccio

    5 Zu v. Gebhardt vgl. Erik Thomson,Eduard von Gebhardt, Leben undWerk. Aus dem Nachlaß bearb. vonGünter Krüger, Lüneburg 1991 (Schrif-tenreihe Nordost-Archiv,H. 16).

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  • undjetzthierentstandenen Blätter zeigenzwar einenstarkenPi-cassoeinfluß, scheinen aber eine vollkommen selbständige Wei-terentwicklung zu versprechen. Sie sind voller künstlerischerWahrhaftigkeit. "6

    Eine weitere Ausstellung seiner Zeichnungen in Hagenbrach-te ihnmit dem einflußreichen Düsseldorfer Kunsthändler AlfredFlechtheim zusammen.7 Wen dieser prominente Förderer derkünstlerischen Moderne in seine Obhut nahm, brauchte sich umdie weitere Karriere keine Sorgen zu machen. Vertraglichsicher-te sichFlechtheim Schulze-Söldes weitere Arbeiten und räumteihmimGegenzugein regelmäßiges monatliches Fixumein.8

    Schulze-Söldenahmeinen weiteren wichtigenGönnerfür sichein, denIndustriellenKarl Ernst Osthaus.9 Er hatte seine großenmateriellenMöglichkeitenverwendet,umin Hagenkunstpflege-rische Akzente zu setzen. Seiner Initiative waren mehr als 30Bauwerke moderner Architekten zu verdanken,u.a.das Gebäudefür das von ihm gegründete Folkwang-Museum unddie Künst-lerkolonie „am Stirnband".10 Dort stellte er Max Schulze-Sölde1919 ein Atelier zur Verfügung. Hier ergaben sich Kontakte zunational und regional prominenten Künstlern, u.a. Heinrich Vo-geler,Christian Rohlfs undEberhardViegener."

    Bedeutsam war die Begegnung mit dem Schriftsteller HugoHertwig, der am 31.März 1891 inSaalfeld als Sohndes Stadt-baurats von Remscheid zu Welt kam. Er hatte sich am 1. Mai1911inJena als Studentder Rechte immatrikuliert,im Sommer-semester 1912 zu den Fächern Philologie und Kameralwissen-schaft gewechselt und nach Abbruch des Studiums ohne Ab-schluß alsBüroarbeiter bei der Stadtverwaltung Itzehoe gearbei-tet.12 1914 war er als Kriegsfreiwilliger mit dem örtlichenFeld-Artillerie-Regiment Nr. 9 in den Ersten Weltkrieg gezo-gen.13 Seine angebliche Beteiligung an einem Matrosen-Auf-stand 1918/1919 inSchwerin und seine anschließende Flucht ha-ben sichnicht verifizieren lassen.14IndenMonaten derRevoluti-on werden ihm außerdem noch politische Aktivitäten in BremenundDüsseldorf zugeschrieben.

    In Schulze-Soldes Autobiographie wird Hertwig recht drama-tisch eingeführt: ,Jn seinen schwarzen Mantel gehüllt, magerundknochig, vonfast so großer Gestalt wie ich selber, standderMann vormir. Aufden hochgezogenenSchultern, die entfernt anein Totengerippe erinnerten, saß ein übergroßer Kopf, hart,straff, asketisch, derMund zu einem schmalen Strich zusammen-gezogen, das Kinn, der Unterkiefer und die Backenknochenscharf hervorspringend, darüber wie ein Dach die mächtigeStirn. Augen sah man nicht; sie lagen tief in den Höhlen;aberman fühlte den erbarmungslosenBlick hinter den großen Bril-lengläsern. EinRaubtier!Ein Tiger!".„Er spielte mitdenSeelender ihm Verfallenen wie ein grausames Raubtier. Als ob er einRitterBlaubartgewesen war, so sehr hingendie Frauen von ihmab...."15

    Er lebte mit zwei Gefährtinnen zusammen undMax Schulze-Söldeließ die drei in seine Behausung einziehen. Seine Bezie-hung zu dem dominanten Schriftsteller - die Akzentuierung derZitate läßt es ahnen- war ambivalent und spannungsgeladen.

    6 Das Kunstblatt 3(1919), ohne Seiten-angabe. Der MalerOthon Friesz standden Fauves nahe.7 Vgl. die Erwähnungen in: JostHer-mandund Frank Trommler, Die Kulturder Weimarer Republik, München1988,S. 47 und398.s Silvia Puchert, Rede zur Ausstel-lungseröffnung in der Galerie Take,mschr. Mskr. 1990.Für die Fotokopiedanke ich Frau Puchert, der TochtervonSchulze-Sölde.9 Zu Osthaus und der HagenerKünstlerszene vgl. Werner Gerber, Ha-gener Boheme. Menschenum Osthaus,hrsg. Vom Hagener Heimatbund, Ha-gen 1990.10 Vgl. das Kapitel: „Das 'Stirnband.Die Gartenvorstadt an der Donnerkuh-le", in: Nie. Tummers, Der HagenerImpuls. Das Werk von J.L.M. Lauwe-riks und sein Einfluß auf Architekturund Formgebung um 1910 (Holländi-sche Originalausgabe 1968), Hagen1972 (Hagener Beiträge zur Geschich-te und Landeskunde - Große Reihe,Heft 15),S. 35ff.11 Heinrich Vogeler, Werden. Erinne-rungen. MitLebenszeugnissen aus denJahren 1923-1942, hrsg. von JoachimPriewe undPaul Gerhard Wenzlaff, Fi-scherhude 1989; Walter Scheidig,Christian Rohlfs. Dresden 1965; Chri-stian Rohlfs, Oevre-Katalog derGemälde, hrsg. von Paul Vogt, Reck-linghausen 1978 und Bernhard Kerber,Der Maler Eberhard Viegner, Soest1982 (Künstler in Soest, Bd. 2); Aus-stellungskatalog: Eberhard Viegener1890-1967, hrsg. von Birgit Schulte,Soest o.J. 1990.12 Gerber, Boheme, S. 47.13 Ebenda, S. 76 und Vermerk desEinwohner-Meldeamts Itzehoe vom6.7.1920, in: LASAbt. 320 Steinburg,Nr. 256.14 Schreiben des Historischen Mu-seums Schwerin an mich vom29.3.1993.15 Schulze-Sölde,Mensch, S. 40.

    Abbildung linke Seite: Max Schulze-Sölde(20erJahre).

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  • 3. Programmatik undFinanzierung desSiedlungsunterneh-mens

    Hertwig gelang es,Max Schulze-Sölde für sein Weltbild einzu-nehmen: Angesichts der desolaten politischen, wirtschaftlichenund sozialen Lage in Deutschland gäbe es wichtigeres zu tunalsBilder zu malen. Der Kapitalismus habe Systemfehler. AlleRe-formversuche bewirkten nur eine Gnadenfrist und verlängertenseinen Todeskampf. Man müsse radikal aufs Ganze gehen undeine völligneue Form undOrdnungder Gesellschaftaufbauen-und zwar vomBoden aus.

    Es müsse eine Völkerwanderung einsetzen von der Stadtzurück auf die Scholle. Diese müsse in Gemeinwirtschaft bear-beitet werden undnicht inPrivateigentum. Man solle die Groß-städteeinfach abbrechenundmit den so gewonnenenBaustoffenDorfgemeinschaften im entvölkertenOstenaufbauen.Man solleaufhören,indenFabriken lauter überflüssige Dinge herzustellen,für die durch schamlose Reklame das Bedürfnis erst künstlichhergestellt werden müsse. Man solle sich von dem Schnellig-keitswahn befreien, der keinem mehr Zeit lasse zum Nachden-ken. Der Glaube an die Erlösungdurch Technik sei Schwindel.Man solle nicht denken,daß derMensch mit Automobilen,Flug-zeugen, Grammophonen oder Radioapparaten ins Paradieszurückkomme, sondern daß diese Erfindungen im Gegenteil sei-ne Lage immer verzwickter, ungesunder und gottloser gestalte-ten. Man solle sich zu einem einfachen, schlichten Leben ent-schließen ohne Luxus,aber dafür - inFreiheit.16

    Um den Wandel zum besseren auf die Bahn zu bringen, trugsich Hertwigmit der Idee, selbst einen Landbetrieb aufzubauen,der Keimzelle der neuen Ordnung werden solle. Im Frühjahr1920 solle das Unternehmen beginnen, und zwar in der GegendvonItzehoe.

    Im Februar 1920 hatten Hertwig und seine Begleiterinnensich in Itzehoeeingemietet. Mitihmlebten jetzt dreiFrauen:Ma-ria Reps, eine entfernte Verwandte. Sie hatte sich als Dienst-mädchen bei einerkleinbürgerlichen Familie Itzehoes verdingt.17LinaVolquardsen war Itzehoerin und stammte aus einemArbei-terhaushalt. Sie war die „Vernünftige, Lebensnahe". Über diedritte Frau teilt Schulze-Sölde in seiner Autobiographie mit, sieheiße „Käthe", sei von Hertwig schwanger undarbeite als Pfle-gerin ineinemKinderheim.18 Sie seiGräfinundaus ihremgräfli-chen Elternhause ausgerissen. Die Polizeiakte bestätigt die An-gaben. Sie hieß Katharina Emma Gräfin Swertz-Spork, war inStettin geboren und österreichischeStaatsangehörige.Sie war -in der Tat - „ihren Eltern durchgegangen" und hatte sich imApril 1920 in derHamburger Diakonissenanstalt 'Jerusalem' amMoorkamp ärztlich behandeln lassen,„weil sie in anderen Um-ständen war".

    Daß ein Siedlungsunternehmen finanziert sein will, warauchHugo Hertwigklar. Gräfin Swertz-SporksFamilienkontakt warnicht völlig gerissen. Brieflich hatte sie „ihrenEltern vorge-schwindelt, daß Hertwig sie heiraten werde. Die Eltern warengutgläubig darauf hereingefallen und hatten, froh, auf dieseWeise die „Schande" ihrer Tochter ausder Welt geschafft zu se-hen, versprochen, „einige Geldmittel zum Ankauf einesKottens" beizusteuern.19 Die ItzehoerPolizeikonnte ermitteln,

    " Ebenda,S. 62f.17 Ebenda,S.69.18 Ebenda,S.70." Ebenda,S.77

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  • daß Käthe monatliche Überweisungen von 300 Mark von zuHause erhielt.

    Hertwig forderteMax Schulze-Söldeauf, gleichfalls Geldmit-tel flüssig zu machen.20 Dazu wandte er sich an seinen Vater, derein Sparbuch verwahrte, auf das er über Jahre erhebliche Sum-men zur Absicherung seines Sohnes eingezahlt hatte.21 „Ineinemlangen Briefe", heißt es in der Autobiographie, „unter Anwen-dung listigster Überredungskünste undunterberückender Schil-derungunseres Bauernhofes, suchte ich ihmklarzu machen, daßman in diesen ungewissenZeitläuften der wirtschaftlichen Unsi-cherheit undder Geldentwertungnichts Besseres tun könne,alsseineBarmittel in Grundbesitz anzulegen.Dieser anundfür sichsehr vernünftige Gedanke leuchtete meinem klugen Vater auchdurchaus ein, so daß er sich ohne Sträuben bereit erklärte, mirdas Sparkassenbuchzuschicken."22

    Als weitere Finanzquelle hatte Max Schulze-Sölde seineFreundin ausersehen, eine Klavierlehrerin in Dortmund, die inden Memoiren „Sybille" genannt wird. Erlud sie in einemBriefzur Beteiligung einund erläuterte ihr,die „Siedlung beruheaufdem Gedankendes Kommunismus unddes Opfers. Sie müsse al-so, wenn siemitmachen wolle,alles hingeben, wassieanmateri-ellen Werten besäße". 22. Damit hatte er es auf ihrenKonzert-Flü-gel abgesehen.Als Klavierlehrerin hätte sie ihre Existenzgrund-lage weggegeben und konnte sich zum Verkauf nichtentschließen.

    20 Ebenda, S. 61.21 Ebenda,S. 77.22 Ebenda.25 Ebenda, S. 69.

    Abbildung oben: Maria Reps, späterverheirateteHertwig(1920).Abbildung links: Hugo Hertwig(1920).

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  • Die sogenannte Sybille förderte das Finanzierungsprogrammauf andere Weise. Während Schulze-Sölde schon in Nord-deutschland war, löstesie seinen Hagener Haushalt auf. In sei-nem Auftrag verkaufte sie alle vorhandenenBilder an den Kunst-handel undden gesamten Hausrat an einenTrödler.Sie besorgteauchseinepolizeiliche AbmeldungbeiderHagenerMeldebehör-de. In der Steinburger Polizeiakte ist die Abmeldebscheinigungabgeheftet. Die Unterschrift lautet: Elisabeth Härtung. Daß siemit der Memoirenfigur „Sybille" identisch ist,bestätigt derBlickins Adreßbuch der Stadt Dortmund 1919/1920: Unter der An-schrift „Ardeystraße 19/20" ist Elisabeth Härtung darin alsMusiklehrerin verzeichnet.

    4.LandwirtschaftlichePraxis, Beziehungenzum Dorf, sexuellesGebaren, reform-pädagogischeVersuche

    In Itzehoe sah sich die Siedlergruppe nach einer passendenLandstelleumundkonsultierteeinenGütermakler. „Unsererwarauch so eine richtige Schiebertype. Die Verschlagenheit lauertehinter seinen Fuchsaugen. Er hatte sogleich begriffen, was wirwollten und was wirnötighatten. 'GehnSie nach Kleve bei Wü-ster undfragen Sie nach dem Bauern X. Da werden Sie finden,was Sie suchen. *"24 Beim Bauern X.handelte es sich der KleverDorfchronik nach um den Landmann HinriehHuus.25

    ,jMit einem trockenen Stück Brot in der Tasche machten wiruns aufden Weg. Es war ein herrlicher Sonnentag; eine frischeBrise wehte von der See (gemeint ist die Elbe) undes gingsichleicht undfroh.

    Herb,groß undweit lag die Landschaft vor uns.Weiße Birken-stämme leuchteten in der Sonne. Rechts undlinks des Weges rag-ten die mächtigen Strohdächer der reichen Marschbauern ausden Hecken hervor, Windräder von unwahrscheinlicher Größeklapperten eintönigam Rande der vielen Kanäle — und über al-lemeinHimmelohne Grenzen."

    Bauer Huus verkaufte seine sechsfachigeKate mit einer 3 1/2ha großen Landstelle für 80.000 Mark. „Endlich war alles soweit. Das Siedeln konnte beginnen. Der Bauer hatte den Hofgeräumt, die Geldgeschäfte erledigten sich schneller als wir er-wartet hatten, ja es blieb uns sogar noch soviel übrig, daß wirdas Sparkassenbuchmeines Vaters als,Betriebskapital' aufeineBank inItzehoe einzahlenlassenkonnten."26

    Zunächst wurde das Anwesen expressionistisch ausgestaltet:„DieTüren des Hausesunddes Stalles sindmitblutrotenSkelett-Menschen bemalt, die blutrote Beile über ihren Häupternschwingen,mit erstochenenPferden undblauenHunden."21

    Im Hinblick auf die landwirtschaftliche Praxis beobachtetendie Dörfler,daß die Siedler „arbeiteten, was siekonnten, und sogut, wie sie es verstanden. Sie ... unterhielten drei Kühe, einPferdundmehrere Schweine."2

    *Zu Beginn hatten die Siedler keine Kontakte im Dorf und

    suchten sie auch nicht.29 Als erste traute sich die Dorfjugend,Fühlung aufzunehmen. Im Rückblick erinnert sich der KleverBahne Clausen: „DeKommunisten wiesen uns jaallens. Wenn wiJungs wedderbuten weern,müssen wiantreden,denn kreegen wiall een Zigarr". 30

    Es „kamen sehr bald Gäste, immer mehr Gäste. Es hatte sich

    24 Ebenda, S. 67.25 Erika Harbaum, Ziegelstein undKrone.Ein Beitrag zur Geschichte derGemeinde Kleve von Erikaund VolkerHarbaum, hrsg. von der GemeindeKleve,Büsum 1985, S.78.26 Schulze-Sölde,Mensch, S. 75.27 Harbaum, Ziegelstein,S. 77.28 Ebenda.29 Schreiben des Landrats des KreisesSteinburg an den Oberpräsidenten derProvinz Schleswig-Holstein vom25.6.1920, in: LASAbt. 320 Steinburg,Nr. 246.30 Bahne Clausens Erinnerungen anden Lindenhof, zit. nach Harbaum,Ziegelstein,S. 78.

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  • herumgesprochen unter den Eingeweihten im Lande, daß daoben im Holsteinischen eine Siedlung gelegt worden sei, die anRadikalismus nicht zu übertreffen sei, und so fühlte sich nachund nach alles, was an ,Edelkommunisten' aufder Suche nachder „neuen Welt" war, verpflichtet, unszu besichtigen."21

    Lebensreform hieß auch, daß das Verhältnis zwischen den Ge-schlechtern offener undunverkrampfter werden sollte.Den Ein-gesessenen machte das sexuelle Gebaren der Neuankömmlingegemischte Gefühle. Die „ItzehoerNachrichten" schrieben: ,J\/ursoviel weiß man, daß sie die Heilkraft der Sonne aufdie bloßeHaut sehr gern benützen, bis die Kühe der Weide verwundertdreinschautenunddieNachbarnBeschwerdeführten, ob derbeiuns noch nicht üblichen Nacktspaziergänge."*2 Dieses Auftretenwar auch Bahne Clausen im Gedächtnis geblieben: „De leepennackendober die Wischen, blots miteen Schilfgürtel um- as deNeegers." DieGedanken der Dorfbewohnerkreistenaber um ei-nennoch viel „schwerwiegenderen"Sachverhalt: „Daauch eineAnzahl jungerMädchen aufdem Hof lebte, liegt die Vermutungnahe, daß auch die weiblichenReize alsAllgemeingut betrachtetwurden."22

    Zur Lebensreform gehörteReformpädagogik. Selbstironischschilderte Max Schulze-Sölde, daß Hertwig sich mangels eige-ner Kinder entschlossen hatte, ein Pflegekind aus dem Pflege-heim anzunehmen, in dem Käthe gearbeitet hatte. „Schon dieArt, wie ... (Hertwig) ihn aus etwa vierzig Kindern ausgewählthatte, war wunderlich genug. Er hatte die ganze Kinderschar

    31 Schulze-Sölde,Mensch.32 Itzehoer Nachrichten vom26.11.1920, zit. nach Harbaum, Zie-gelstein, S. 77.33 Ebenda, S.91f.

    Max Schulze-Sölde (1947): „Heuern-te".

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  • versammeln lassen,ihnen eine TafelSchokolade vorgehaltenundsich für Peter entschieden, weil der am schnellsten und hem-mungslosesten aufden Köderlosgesprungen war. ... Er war einrichtigerRacker, dieser Junge, vonunbändigem Trotz und wilderLebendigkeit. Käthe hatte sich die Kindererziehung harmloservorgestellt; diese Aufgabe ging über ihre Kräfte.... Am liebstenhätte sie ihn wieder abgegeben, aber ihr Ehrgeiz duldete nicht,so schnell den Zusammenbruch ihrer pädagogischenKünste an-zumelden.... Als die Geschichte aber gar zu bunt wurde, schlug(Hertwig) vor, man solle den Jungen anbinden. Käthe griff die-sen Vorschlagbegierigauf, undsobekam Peter einen Gürtel um-geschnallt und wurde an einer langen Pferdeleine an eine derLinden gebunden, die vor dem Hause standen."24 Die Existenzdes Pflegekindes ist belegt. Der Steinburger Polizeiakte nachhieß „Peter" in Wirklichkeit Rudolf und stammte vom ItzehoerCoriansberg.

    Später - die angesprochenen siedlungsprogrammatischen In-tentionenlegtendas nahe- versuchte Schulze-Sölde,dieDorfbe-völkerung in seinem Sinne zu politisieren. „Einmal nahm ichauch an einer politischen Versammlung teil, erschien in einemblutroten Hemde, dasmirKätheaus einem Stück Inlett ihrerAus-steuer zurechtgeschneidert hatte, und suchte in leidenschaftli-chen Worten mein Feuer aufdieZuhörerzu übertragen. Aber dieschleswig-holsteinischen Bauernschädel waren hart, bedächtigund zäh..."25 Der Polizeibericht schildert den Auftritt mit weni-ger Emphase: „Ineiner kürzlich in Kleve abgehaltenen Wahlver-sammlung der Deutschnationalen hat ihr Führer (der Führer derSiedler)dieAnwesendenaufgefordert, derkommunistischen Par-teibeizutreten, von derer den ländlichen Zuhörerneine glänzen-de Zukunft versprach."26 Lakonisch heißt es weiter: „Erfolg hat-te er nicht."

    34 Schulze-Sölde,Mensch, S. 91f" Ebenda, S. 100.36 Schreiben des Landrats des KreisesSteinburg an den Oberpräsidenten derProvinz Schleswig-Holstein vom25.6.1920, in:LASAbt.320 Steinburg,Nr. 246.

    5. Die Klever„Edelkommunisten"in behördlicherSicht

    Die „Leute", schrieb Landrat Göppertin seinem ersten Bericht,„gehörenzur Intelligenz, anscheinend Süddeutsche, teils jüdi-scherRasse".21angeblich wollen sie noch weitere Gesinnungs-genossen zuziehen u. den Landbesitz nach ihrem kommunisti-schenRezeptbetreiben".29 ,Jchhabe den Eindruck,daß dieLeu-te eine größere kommunistische Siedlung, ähnlich wie inWorpswede einrichten wollen. ... Sie stehen in regembrieflichenu. telegraphischen Verkehr mit München, Leipzig u. Bremen.Geldüberweisungen kommen aus München. ... Nach einer vor-läufig unkontrollierten Mitteilung sollen nachts häufiger Auto-mobile die abgelegeneGegend, inderdie Leute wohnen,passie-ren. ... Amtsvorsteher u. Gendarm sind angewiesen,die Gesell-schaft unauffällig zu beobachten. Da das aber schwierig ist -Gemeinde- undAmtsvorsteher sind alte,für solcheAufgaben un-geeigneteLeute, der Gendarm wohnt weit entfernt-, ist es m.E.erwünscht, die Gesellschaft wenigstens eine Zeit lang durch ei-nen tüchtigen Kriminalbeamten etwa aus Altona beobachten ...u. ihren Postverkehr überwachen zu lassen."29 Manmuß sichklarmachen, was daausgesprochen wird.Der Landrat, immerhin einstudierter Jurist, versuchte die totale polizeiliche Überwachungherbeizuführen und war sogar entschlossen, von der Weimarer

    37 Vermerk des Landrats des KreisesSteinburg vom 18.6.1920, in:ebenda.38 Schreiben desLandrats des KreisesSteinburg an den Oberpräsidenten derProvinz Schleswig-Holstein vom25.6.1920,in: ebenda.-"' Ebenda.

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  • Reichsverfassung garantierte Grundrechte zu mißachten, zu de-nen das Postgeheimnis gehörte.Der Oberpräsident der ProvinzSchleswig-Holsteinin Kiel stellte klar: „Die UeberwachungdesPostverkehrs ist gesetzlich unzulässig. Die Annahme eines Kri-minalbeamten wirdanheimgestellt. Mittel könnendafür nichtzurVerfügung gestellt werden."40 Aus Geldmangel kam die Totalü-berwachung nicht zustande.

    Als besonders bedrohlich empfand es Landrat Göppert,daßSchulze-Söldein Kleve Verhandlungen über den Ankauf zweierweiterer Landstellenvonje5 ha aufgenommenunddafür 95.000- 110.000 Mark geboten hatte. Der Chef der Kreisverwaltungschrieb an denAmtsvorsteher von Krummendiek, denGutsbesit-zer Holst: „Einegesetzliche Handhabe, solche Käufe zu verhin-dern, besteht nicht. Ich brauche aber nicht zu betonen, daß dieAnsiedlung von Kommunisten in größerem Umfangfür die Ge-meinde, denBezirk undden Kreis außerordentlich unerfreulichist.... Es ist bedauerlich, daß sich im dortigen Bezirk Leute fin-den, die ohneRücksicht aufdieFolgen eines solchenVerkaufs le-diglich um des Gewinnes Willen ihr Grundstück an sobedenkli-che Personen verkaufen.

    Ichbitte, alles was in IhrenKräften steht zu tun, um derartigeVerkäufe zu verhindern undden Verkäufern dringend von demVerkaufan Kommunisten abzuraten. Die Einwohner von Kleveunddes benachbarten Bezirksmüßten sich von rechtswegensoli-darisch erklären,an diese Leute Grundstücke nicht zu verkaufen.... Die Einwirkung aufdie Verkäufer kann natürlich nur münd-lich und unter der Hand erfolgen. Auch die Gemeindevorsteherund angesehenen Einwohner Ihres Bezirks müssen veranlaßtwerden, gegen weitere Verkäufe in dem Bezirk Stellung zu neh-men und ihren persönlichenEinfluß zum Unterbleiben solcherVerkäufe geltendzu machend Aus demVerwaltungsdeutsch sindUntertöne von Alarmiertheit und verzweifelter Abwehr heraus-zuhören

    Die moralischen kommunalen Einwirkungen waren vergeb-lich,Max Schulze-Sölde brachte tatsächlich eine weitere Trans-aktion zustande und kaufte eine weiterekleineLandstelle mit ei-ner Schmiedewerkstatt.42

    4(1 Schreiben des Oberpräsidenten derProvinz Schleswig-Holstein an denLandrat des Kreises Steinburg vom2.7.1920, in:ebenda.41 Schreiben des Landrats an denAmtsvorsteher in Krummendiek vom6.8.1920, in: ebenda. Zeichensetzungnormalisiert. .42 Schulze-Sölde,Mensch, S. 99.

    6.Das Ende desSiedlungsprojekts

    Der Anfangsschwung der Siedlungsenthusiasten verlief sichbald. Schon im Sommer konnte von „einerernstenArbeit... kei-neRede mehr sein. Jeder hatte mitsich selbst innerlich derartigzu schaffen, undunsere Kräfte waren durchdie ständigengeisti-gen Auseinandersetzungenzwischen den einzelnenSiedlungsge-nossen in einem Maße beansprucht, daß selbst die notwendig-sten Aufgaben des Tages vernachlässigt wurden, und das Viehwäre uns im Stalle verhungert, wenn ich mich nicht immer wie-der zusammengenommen hätte, und wenn nicht Johannes Aver-bach, Bildhauer undSiedlungsgenosse,ein so großer Tierfreundgewesen wäre."42

    Die geistigen Auseinandersetzungen und die persönlichenQuerelen sollen nicht imDetail geschildert werden.Der folgen-de Vorfall machte die Zerrüttung unüberbrückbar und veranlaßteSchulze-Sölde,aus Kleve abzureisen. 1920 wurde noch die Le- 43 Ebenda, S. 101

    133

  • bensmittelproduktion staatlich bewirtschaftet,und sämtliche er-molkene Milchhätte zurMeierei geliefert werdenmüssen. DieseVerpflichtung hatten die Siedler mißachtet, und als nominellerBetriebsinhaber hatte Max Schulze-Sölde dafür eine hohe Geld-strafe bekommen. Da das Geld nicht vorhanden war, die Strafeabzulösen,wollte erdie ersatzweise mehrtägigeHaftstrafe absit-zen. Hugo Hertwig nutzte diese Lage zu einem zweifelhaftenManöverzur BeschaffungvonGeldmitteln. Heimlich forderteerVater Schulze-Sölde brieflich auf,umgehendeine größere Sum-me zu schicken,um seinen Sohn vor dem Gefängnis zu bewah-ren. Dieser Vertrauensbruch war der letzteAuslöserfür Schulze-Sölde,aus dem Projekt auszuscheiden. Dem Melderegister zu-folge geschah das in denTagen um den 22. Juli 1920.

    Der alternative Betrieb lief noch weiter bis zum November.Das vordringlichste Problem war es, die neuerworbene Schmie-de in Betrieb zu nehmen. In lebensreformerischer Hinsicht solltesie die Möglichkeiteröffnen,das Proletariat in die Erneuerungder Gesellschaftsordnung einzubeziehen. Ironisch schreibtSchulze-Sölde,es sei schwieriggewesen, die nötigenArbeiter zufinden. ,Auf vielesBitten schickte uns schließlich HeinrichVoge-ler einen Original-Proletarier von seinem Barkenhofe. ... Wirwaren nicht wenig erstaunt, als unser Proletarier zum Arbeitennicht die geringste Lust bezeigte, sondern den ganzen Tag, dieHände lässigindieHosentaschenvergraben, spazierenging undunser ohnehin reichlich belastetes Konto beim Kolonialwaren-händler durch einen erheblichen Zigarettenverbrauch ver-größern half."44

    Ganz paßt dieseAkzentuierungnicht zur Aktenlage.Nach denMeldeunterlagen stießen im August 1920 der 40 Jahre alteInge-nieur Alexander Rosarn aus Worpswede und zwei Schmiede ausdemkleinen Werftdorf Wewelsfleth an der StörzumKlever Sied-lungsprojekt. Die Arbeitsmoral dieser drei Techniker hat MaxSchulze-Söldenicht mehr aus eigenerAnschauunggekannt, weiler, wie erwähnt, einen Monat zuvor aus dem Siedlungsprojektausgeschieden war. Einer der beiden Schmiede, Emil Zameitat,begann später eine kommunalpolitische Laufbahn, die ohne re-spektables Arbeits-undPrivatleben nicht möglichgewesenwäre;er wurdeVorsitzender der SPD inNortorfund des ReichsbannersinWüster. 45

    Die zwischenmenschlichen Spannungen unter den Aktivistenmüssen sich dramatisch zugespitzt haben. Johannes Averbachzog sich an einem Septembertagmit einemrostigenRevolver aufden Dachboden zurück und versuchte, seinem Leben mit einemSchuß ins Herz ein Ende zu machen.46 Der Selbstmordversuchschlug fehl, er wurde verletzt nach Wüster ins Krankenhaustransportiert. Dieser Eklat sprengte die Siedlergruppe. Der Lin-denhof wurde für 9.000 Mark verkauft; der Verlust belief sichmithin auf 71.000 Mark. -

    44 Schulze-Sölde,Mensch.43 Manfred Niendorf, Nortorf in derWüster Marsch,hrsg. vonderGemein-de Nortorf, 0.0. 1992, S. 179f. 1933warZameitat Häftling des Konzentrati-onslagers Glückstadt.46 Bericht des Landrats des KreisesSteinburg an den Oberpräsidenten derProvinz Schleswig-Holstein (Melde-stelle) vom 27.9.1920, in: LAS Abt.320 Steinburg Nr. 246.

    Johannes llmari Averbach.

    7.HistorischeEinordnung

    In Max Schulze-SöldesDenkweise kommen zeitbedingte Ten-denzen zumAusdruck,und insofernkannman aus seiner Selbst-darstellungetwas über dendamaligen Zuschnitt vonIntellektuel-lenin Deutschlandlernen.DenSchlüssel zurEinordnunghat der

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  • amerikanische Historiker Fritz Stern geliefert. Die beherrschen-deDenkströmungimdeutschen Bildungsbürgertum der Jahrhun-dertwende war der Vulgär-Idealismus.47 Politisch bekannten sichdie idealistisch Gestimmten zu hohen und erhebenden ZielenundNormen, hatten dieNeigung zumPrinzipiellen, zu Ersatzre-ligionen, zur weltanschaulichen Überhöhung von Positionen,d.h. in der Sphäre der Politik:zu politischen „Glaubensbekennt-nissen".

    Das vulgäre an dieser Geisteshaltung war die Abneigung,sich

    47 Thomas Nipperdey, Deutsche Ge-schichte 1866-1918, Bd. 1 Arbeitsweltund Bürgergeist, München 1990, 2.Aufl. S. 564f.

    Max Schulze-Sölde (1923/24?): „Ichklage an".

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  • mit tatsächlichen Gegebenheitenzubefassen und Zielvorstellun-gen an der Realität auszurichten. Typisch ist eine ausgeprägteAbneigung gegen das Pragmatische, die Verachtung vonmateri-ellen Interessen,vonPolitik überhaupt. Zu dieser Geisteshaltunggehörtdie Kritik des Rationalismus undder Zivilisation,dieNei-gung zu Ganzheit, zu Gefühl, zu Seele, zum Antiintellektualis-mus. Kennzeichnend ist die Abneigung gegen die rationale undindividualisierte Gesellschaft,die Hochschätzungder verstehen-den Geisteswissenschaften und dieMißachtung der erklärendenSozialWissenschaften.

    Max Schulze-Söldeverstand sich 1920 als Kommunist. Sehrbefremdlich für einen kommunistischen Intellektuellen war dasfolgende Eingeständnis in seinen Memoiren: ,J3ei Marx war ichüber den erstenBand seines,Kapitals 'nicht hinausgekommen."Auf denzweitenBlick ist diesesEingeständnisnichtmehr so er-staunlich — es ist für einen Idealisten mit Abneigung gegen ge-sellschaftswissenschaftliche Analyse vielmehr konsequent. Daßdiese Einordnung richtig ist, bestätigte er mit seinen folgendenWorten: ,jVlein von Jugend auf dem abstrakten Denken abge-neigtes Gehirn vermochte sich die mathematischenGleichungenüber ,Profitrente' und ,Mehrwert' nicht einzuverleiben. ... Wardenn die Welt ein Rechenexempel? War wirklich das, was wir

    MaxSchulze-Sölde:„DasGefängnis".

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  • ,Geist' nannten, nichts anderes als ein Ergebnis der wirtschaftli-chen Verhältnisse? Mir wollte es so scheinen, als seien umge-kehrt diese jämmerlichen wirtschaftlichen Verhältnisse die Er-gebnisse unseres ,Ungeistes', unserer falsch gerichteten Ideen,unserer gottverlassenen Gedankenkonstruktionen,die den Ge-hirnen der Ingenieure, Chemiker undStatistiker entsproßten."4*Deutlich wird, daß sein Weltbild nur idealistisch-affektiv fun-diert war, rationale analytische Reflexion stand nicht dahinter.Die Wissenschaften,die dazuhätten beitragenkönnen,spracherherabsetzend an.

    Noch einmal zurück zuseinem politischen Progamm: Vorstel-lungen absolut naiver Weltfremdheit und ernstzunehmende Ge-sichtspunkte standen nebeneinander.ImEinklang mit einer brei-ten Strömungim Bildungsbürgertum hielt er der Industriegesell-schaft mit ihren Problemen das Gegenbild einer heilenurwüchsigen Agrargesellschaft entgegen.Das positive BildalterZustände war aber historisch falsch.Dazu zwei Gesichtspunkte:Aus den deutschen Ostprovinzen hatte wegenstruktureller Ar-beitslosigkeit ein starker Abwanderungsstrom eingesetzt. DieLandwirtschaft der Ostprovinzen konnte die Bevölkerungnichtmehr ernähren. Den Agrarromantikern war auch nicht klar, daßAgrargesellschaften regelmäßig von Mißernten heimgesuchtwurden,die Hungersnötenach sichzogen.Gegen dieseAnfällig-keit sind Industriegesellschaftendurch ihr weiträumiges und lei-stungsfähiges Transportsystem gefeit. Ohne diese Infrastrukturwäre übrigens auch der Wunschtraum unvorstellbar, man solledie Großstädte abbrechen und die Baumaterialien indie Ostpro-vinzen transportieren,um dort Dörferaufzubauen.

    Ernstzunehmen war seine Kritik an bestimmten Erscheinun-gen der Industriegesellschaft, beispielsweise an der sozialpolit-schen Problematik des Großstadtlebens, an naiver Technikgläu-bigkeit,an der Produktionüberflüssiger Dingeund an derRekla-me, die Bedürfnisse nach diesen überflüssigen Dingen erstkünstlich weckt.

    48 Schulze-Sölde,Mensch, S.132.

    8.Der weitereWerdegang derProtagonisten

    Hugo Hertwig zog von Kleve nach Itzehoe und weiter in einHaus inPrerow auf dem Darß undbefaßte sich weiter mit boden-reformerischen Ideen. 1930 ließ er sich am Schlachtensee in derMark Brandenburg niederund schrieb Roman-Biographien überÄrzte bzw. heilpflanzenkundliche und lebensreformerisch-ernährungsphysiologische Veröffentlichungen mit Titeln wiez.8.: „Wie werde ich100 Jahre alt?",„DasLiebesleben derMen-schen".Er starb am 12. April 1959 inBerlin. 49

    Nachseiner Rekonvaleszenz stellte Johannes Averbach 1921seinebekannteste Arbeit fertig:das Grabmal für K.E.Osthaus inMeran, das später auf den Hohenhof nach Hagen transponiertwordenist.50 1924heirateteer IngeHarnack. Aus der Ehegingenzwei Söhnehervor. In der NS-Zeit hatte er schwere Verfolgungzuerleiden; imDezember 1935 wurde er aus dem KZFuhlsbüt-telentlassen. 1936emigrierte er nachEnglandund gingdort mitIngeFraenkel eine zweite Eheein. Er starb am 7. Februar 1950inOxford an denFolgen eines Gehirnschlages.

    Max Schulze-Sölde arbeitete nach Episode in der Wüster

    49 Gerber, Boheme, S. 42, 73, 76 und93.50 Werner Gerber, Die zweihundert-achtundachzig Tagedes Bildhauers Jo-hannes Ilmari Averbach in Meran.DieGeschichte des Grabdenkmals für KarlErnst Osthaus, in: Hagener Heimatka-lender 1971, S. 63-66, Wiederabdruckin: derselbe: Hagener Boheme, S. 212--216 und derselbe. In memoriam KarlErnst Osthaus. DasGrabmal, in: Schin-ken für den Erzbischof. Beiträge auszwanzig Jahren aus Hagens Heimat-und Kirchengeschichte, aus PolitikundKultur. Hagen 1970,S. 258-266, Wie-derabdruck in: derselbe, HagenerBoheme,S. 202-210.

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  • Marsch als „Schlepper" aufder Zeche „Westende" inMeiderichbeiHarnborn undpaßte sich derdort inder Arbeiterbevölkerungvorherrschenden politischen Richtung an: Seine anarcho-syndi-kalistische Phase begann.5'EndeMärz 1921 führte er einen iso-lierten Streik seiner Zechenbelegschaft herbei, der schnell zu-sammenbrach und ihm die Kündigung einbrachte. Damit gingseine kurze Exkursionin die montaneproletarische Arbeits- undLebenswelt zuEnde.

    Die Teilnahme an einer jugendbewegtenPfingsttagung leiteteabrupt die nächste weltanschauliche Metamorphose ein: Schul-ze-Söldeentdeckte die Bibel undbetrachtete sich als wiederge-kehrter Christus.52 Von einem in charismatischer Qualität offen-bar überlegenen Mitstreiter wurdeer allerdings auf eine unterge-ordnetere Rolle verwiesen und stellte sich als wiedergekehrterApostel Johannesdar. 53

    1923 veranstaltete er mit Gleichgesinnten ein neues Sied-lungsunternehmen in Windrath bei Barmen. Auch dieser zweiteVersuchendeteals Mißerfolg.

    Danach entschloß er sich zu regulärem Broterwerb und ließsichalsHilfslehrer für Zeichnenan der privatenreformpädagogi-schen und agrarreformerischen Lietz-Schule in Haubinda-

    31 Ulrich Linse, Barfüßige Propheten.Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin1983, S. 133. Zu den politischen Ver-hältnissen in Harnborn vgl. ErhardLu-cas, Arbeiterradikalismus. Zwei For-men von Radikalismus in der deut-schen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M.1976; Heinrich August Winkler, Vonder Revolution zur Stabilisierung. Ar-beiter und Arbeiterbewegung in derWeimarer Republik 1918 bis 1924, 2.Aufl. Bonn 1985 (Geschichte der Ar-beiter und der Arbeiterbewegung inDeutschland seit dem Ende des 18.Jahrhunderts), S. 159-166.52 Linse, Propheten,S. 136.53 Ebenda,S. 139.

    MaxSchulze-Sölde:„Christuskopf.

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  • /Thüringen anstellen.54 In dieser Umgebung vollzog sich seinÜbergang ins völkisch-rechtsextremeLager. 1 927 beschäftigteersich mit Ernst Niekischs und Oswald Spenglers Schriften undwandelte sich zum christlichen Nationalbolschewisten.55

    ImSeptember 1930 kündigte er seine Zeichenlehrerstelle undwurde Mitarbeiter imUrquell-Verlag, indem auch seine in die-sem Jahr geschriebene Autobiographie erschien. Außerdemübernahm er die Leitung der Zeitschrift „Die Kommenden".1932 sind Kontakte zu Otto Straßers „Schwarzer Front" überlie-fert. Diese Gruppierung gehörtebis zur AbspaltungimJuni 1930der NSDAP an.

    Die agrarromantischen Ideen waren ein kontinuierliches Ele-ment inMax Schulze-SöldesDenken;er nahmKontakte zuneu-en reformerischen Siedlungsprojekten und zu den „Artamanen"auf. Aus dieser landwirtschaftliche Praxis vermittelnden Grup-pierung gingen später prominente Führungsfiguren der SS her-vor. 1931 trat Max Schulze-Sölde in die „Siedlung Grünhorst"bei Berlinein und wechselte nach einiger Zeit zur Obstbausied-lung „Eden"bei Oranienburg.

    Ende 1933 kehrte er nach Hamm zu seinen Eltern zurück.1934 hatte er eine bedeutsame Begegnung mit Eberhard Viege-

    54 Nipperdey, Deutsche Geschichte,Bd. I,S.818ff.Ss Linse, Propheten,S. 144.

    Max Schulze-Sölde: „Don QuicotteundSancho Pansa".

    139

  • ner, der ihm die Schönheit der Soester Bördelandschaft nahe-brachte und ihn anregte, wieder mit der Malerei zu beginnen.1938 baute er sich ein Haus in Günne amMöhnesee,das bis zuseinem TodseinLebensmittelpunkt blieb.

    Mit den Nationalsozialisten hatte er anfangs Probleme. Ver-mutlich wegenseiner Tätigkeit alsPublizist der gegenHitler auf-getretenen Straßer-Opposition wurde er von der Gestapo mehr-fach verhört.56 Seine Bilder wurden aus öffentlichenSammlun-genentfernt underals „entarteterKünstler" diffaminert.57

    1940 oder 1941 arrangierte er sich mit den Machthabern undtrat in die „Reichskammer der bildenden Künste" ein.58 Sicher-lichstand es im Zusammenhang mit diesem Schritt,daß 1 942derliterarisch ambitionierte Hitler-Jugend-Propagandist Erwin Syl-vanus einenlobendenBeitrag über ihn im „SoesterHeimatkalen-der" veröffentlichte.59

    1946 knüpfte Max Schulze-Sölde an alte Überzeugungen an.Er wurde Mitgründer und Bundesleiter des „St. Michaels-Bun-des" christlicher Sozialisten. Zugkraft entfaltete dieser Bundnicht. Für idealistische Utopisten war das im Verhältnis zur Wei-marer Republik skeptischere und nüchternere geistige Klima derNachkriegsjahre ungünstig. Außerdem ließ die erfolgreicheWirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik den Bedarf an Welt-verbesserungsideen schwinden. Schulze-Söldes politisch-mis-sionarischer Elan erlahmte aber wohl auch aufgrund fortschrei-tender persönlicherReifung: 1946 war er immerhin 59Jahre alt.Er starb 80jährig imAugust 1967.

    36 Silvia Puchert, Leserbrief im Spie-gel 9/1984, zit. nach Gerber. Boheme,5.71.37 Inderbekannten 1937 in Müncheneröffnetendiffamierenden Ausstellung„Entartete Kunst" war er nicht vertre-ten, wohlaber aufden späteren Statio-nen der noch bis 1941 als Wanderaus-stellung gezeigten Schau: ChristophZuschlag, Entartete Kunst. Ausstel-lungsstrategien im Nazi-Deutschland,Worms 1995 (Heidelberger kunstge-schichtliche Abhandlungen, Bd. 21).Ich danke Dr. Christoph Zuschlag,Kunsthistorisches Institut der Univer-sität Heidelberg, für seinen Hinweis.58 Linse, Propheten, S. 154.39 Erwin Sylvanus, Der Maler MaxSchulze-Sölde,in: Heimatkalender desKreises Soest 21(1942), S. 48-51.

    MaxSchulze-Sölde (60erJahre).

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    Schulze-Sölde in der Wüster Marsch – ein agrarromantisches „edelkommunistisches" Siedlungsexperiment auf dem „Lindenhof" in Kleve (1920)11.Einleitung2. Max Schulze-Soldes Werdegang (1887-1919)3. Programmatik und Finanzierung des Siedlungsunternehmens4. Landwirtschaftliche Praxis, Beziehungen zum Dorf, sexuelles Gebaren, reformpädagogische Versuche5. Die Klever „Edelkommunisten" in behördlicher Sicht6. Das Ende des Siedlungsprojekts7. Historische Einordnung8. Der weitere Werdegang der Protagonisten

    AbbildungenSchleswig-Holstein heuteAbbildung linke Seite: Max Schulze-Sölde (20er Jahre).Abbildung oben: Maria Reps, später verheiratete Hertwig (1920). Abbildung links: Hugo Hertwig (1920).Max Schulze-Sölde (1947): „Heuernte".Johannes llmari Averbach.Max Schulze-Sölde (1923/24?): „Ich klage an ".Max Schulze-Sölde: „Das Gefängnis".Max Schulze-Sölde: „ Christuskopf.Max Schulze-Sölde: „Don Quicotte und Sancho Pansa ".Max Schulze-Sölde (60er Jahre).