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Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur Reinhold Popp, Bernd Rieken, Brigitte Sindelar Zukunftsforschung und Psychodynamik Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht Band 21

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Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur

Reinhold Popp, Bernd Rieken, Brigitte Sindelar Zukunftsforschung und Psychodynamik Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht

Band 2121

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Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur

Schriftenreihe der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien

Herausgegeben von Bernd Rieken

Band 21

Die Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien ist die erste akademische Lehr-stätte, an der die Ausbildung zum Psychotherapeuten integraler Bestandteil eines eigenen wissenschaftlichen Studiums ist. Durch das Studium der Psychotherapie-wissenschaft (PTW) wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Psychotherapie eine hoch professionelle Tätigkeit ist, die – wie andere hoch professionelle Tätig-keiten auch – neben einer praktischen Ausbildung eines eigenen akademischen Studiums bedarf. Das hat zur Konsequenz, dass die wissenschaftliche Beschäfti-gung mit ihr nicht mehr ausschließlich den Nachbardisziplinen Psychia trie und Klinische Psychologie mit ihrer nomologischen Orientierung obliegt, sodass die PTW als eigene Disziplin an Konturen gewinnen kann.

Vor diesem Hintergrund wird die Titelwahl der wissenschaftlichen Reihe trans-parent: Es soll nicht nur die Kluft, welche zwischen Psychotherapieforschung und Profession besteht, verringert, sondern auch berücksichtigt werden, dass man der Komplexität des Gegenstands am ehesten dann gerecht wird, wenn neben den üblichen Zugängen der Human- und Naturwissenschaften auch Methoden und/oder Fragestellungen aus dem Bereich der Kultur-, Sozial- und Geisteswissen-schaften Berücksichtigung finden.

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Reinhold Popp, Bernd Rieken, Brigitte Sindelar

Zukunftsforschung und Psychodynamik

Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht

mit Gastbeiträgen von

Julia S. Grundnig Nils Guse

Tassilo Niemetz

Waxmann 2017Münster • New York

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur, Band 21

ISSN 2192–2233 Print-ISBN 978-3-8309-3656-5 E-Book-ISBN 978-3-8309-8656-0

© Waxmann Verlag GmbH, Münster 2017 Steinfurter Straße 555, 48159 Münster

www.waxmann.com [email protected]

Umschlaggestaltung: Anne Breitenbach, Münster Titelbild: © cocoparisienne – pixabay.com Satz: Sven Solterbeck, Münster Druck: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706

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Vorwort

Die Sigmund-Freud-Universität (SFU) ist die größte Privatuniversität Öster-reichs. Das Angebot umfasst das Studium der Psychotherapiewissenschaft, der Psychologie, der Humanmedizin und der Rechtswissenschaften. Über den Haupt-sitz in Wien hinaus ist die SFU an zwei Standorten in Österreich (Bregenz und Linz) sowie in mehreren Hauptstädten wichtiger europäischer Länder (Berlin, Ljubljana, Milano, Paris) vertreten.

Die SFU bietet als erste Universität im kontinentaleuropäischen Raum ein Vollstudium (Bakkalaureat, Magisterium, Doktorat) für „Psychotherapiewissen-schaft“ an. Sowohl in der Lehre als auch in der Forschung dieses Fachbereichs spielen psychodynamische Konzepte eine wesentliche Rolle.

Die Lehre und die Forschung im SFU-Fachbereich „Psychologie“ stellen in ihrer betont sozialwissenschaftlichen und ganzheitlich-praxisbezogenen Ausrich-tung eine zukunftsweisende Alternative zur vorwiegend naturwissenschaftlichen und praxisfernen Orientierung vieler vergleichbarer universitärer Angebote dar.

Als junge und dynamische Hochschule ist die Sigmund-Freud-Privatuniver-sität sehr stark an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit psychologisch und psychotherapiewissenschaftlich relevanten Zukunftsfragen interessiert.

Im Hinblick auf dieses vorausschauende Erkenntnisinteresse wurde der Zu-kunftswissenschaftler, Psychologe und Psychotherapeut Univ.-Prof. Dr. Reinhold Popp Anfang 2016 als Gastprofessor für interdisziplinäre Zukunftsforschung und Psychotherapiewissenschaft eingeladen. Das erste Forschungs- und Publikations-projekt von Prof. Popp bezog sich auf die Verknüpfung seiner zukunftsbezogenen Forschungsaktivitäten am Institut Futur der renommierten Freien Universität Berlin mit den psychotherapiewissenschaftlichen und ethnologisch-kulturwis-senschaftlichen Forschungsergebnissen des Leiters des Doktoratsprogramms an der SFU, Univ.-Prof. DDr. Bernd Rieken, sowie mit den psychologischen und psychotherapiewissenschaftlichen Forschungsergebnissen der Vizerektorin für Forschung an der SFU, Univ.-Prof.in Dr. in Brigitte Sindelar.

Darüber hinaus wurden eine Dissertandin und zwei Dissertanden eingeladen, ihre explizit zukunftsbezogenen Forschungsschwerpunkte in Form von Gastbei-trägen zusammenzufassen:

• Julia S. Grundnig, B.Sc., M.Sc., ist als Forschungsassistentin am „Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement (IZZ)“ der SFU tätig und ver-fasst ihre Dissertationsschrift im Doktoratsprogramm der SFU.

• Dipl.-Kfm. Univ. Nils Guse, BA. Pth., arbeitet ebenfalls als Forschungsassistent am IZZ und dissertiert an der SFU.

• Tassilo Niemetz, B.Sc., M.Sc., betreibt sein Dissertationsprojekt am Institut für Psychologie der Leopold Franzens-Universität Innsbruck.

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Im vorliegenden Buch, das in einer Schriftenreihe der SFU erscheint, werden also Ergebnisse von zukunftsorientierten Forschungsprozessen aus drei Universitäten (Freie Universität Berlin, Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Universität Innsbruck) kombiniert.

Als Rektor der SFU bedanke ich mich sehr herzlich bei den oben genannten Autorinnen und Autoren, denen ein beeindruckendes wissenschaftliches Werk mit Alleinstellungscharakter gelungen ist: Das Buch „Zukunftsforschung & Psycho-dynamik“ ist nämlich die bislang einzige Publikation im deutschsprachigen Raum, in der die Grundlagen und Grundfragen der psychologischen und psychothera-piewissenschaftlichen Zukunftsforschung systematisch analysiert werden. Damit wurde eine unverzichtbare Basis für den wichtigen akademischen Diskurs der Zukunftsforschung mit der Psychologie und der Psychotherapiewissenschaft ge-schaffen; ein Diskurs, an dem sich die SFU in den kommenden Jahren engagiert beteiligen wird!

Wien, Juni 2017Univ.-Prof. Dr. Alfred PritzRektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1 Zukunftsdenken zwischen Zukunftsangst und Zuversicht . . . . . . . . . . 111.2 Psychodynamik – Soziodynamik – Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . . 111.3 Animation zur verstärkten wissenschaftlichen Reflexion und

Diskussion über den subjektiven Faktor in der Zukunftsforschung . . . 12

2. Vorausschauende Forschung und der subjektive Faktor. Beiträge der Psychologie und Psychotherapiewissenschaft zur Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.1 Zukunftsdiskurs Nr. 1: Zukunftsangst, Risiko, Resilienz und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.2 Zukunftsdiskurs Nr. 2: Sozialer Wandel, Trends und die psychosozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2.3 Zukunftsdiskurs Nr. 3: Technikvorausschau, Technikfolgenforschung und psychosoziale Technikfolgen . . . . . . . . . 50

2.4 Zukunftsdiskurs Nr. 4: Innovation, strategische Planung und Zukunftsmanagement – im Spannungsfeld zwischen Individuen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2.5 Zukunftsdiskurs Nr. 5: Lebensqualität im Spannungsfeld zwischen bio-psycho-sozialen und öko-sozio-kulturellen Einflussfaktoren . . . . 60

2.6 Zukunftsdiskurs Nr. 6: Zukunftsdenken in Alternativen – Teleologie, Fiktion, Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

2.7 Zukunftsdiskurs Nr. 7: Zukunftsdenken in der Entwicklungspsychologie, der Pädagogischen Psychologie und der psychosozialen Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

2.8 Zukunftsdiskurs Nr. 8: Diagnostik und Prognostik . . . . . . . . . . . . . . . . 942.9 Zukunftsdiskurs Nr. 9: Zukunft der Psychotherapie, der

Psychotherapieforschung sowie der psychotherapiewissenschaftlichen Qualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . 104

2.10 Zukunftsdiskurs Nr. 10: Zeiterleben und individuelle Zeitperspektive. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft . . . . . . . . . . . 124

2.11 Zukunftsdiskurs Nr. 11: Zukunftsdominanz und Identitätsentwicklung. Eine individuelle Herausforderung zwischen Selbstverwirklichung und Orientierungsverlust . . . . . . . . . 139

2.12 Zukunftsdiskurs Nr. 12: Zukunftsdenken und Zukunftsforschung aus der Sicht der Kritischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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3. Zukunftsdenken – ein menschheitsgeschichtliches Langzeitprojekt mit offenem Ausgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

3.1 Frühgeschichtliche Konzepte des Zukunftsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . 1703.2 Zukunftsdenken im antiken Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1723.3 Zukunftsdenken im Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1743.4 Zukunftsdenken in der mittelalterlichen Scholastik . . . . . . . . . . . . . . 1763.5 Neuzeit: Zukunftsdenken in einer wissenschaftlich

geordneten schönen neuen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1773.6 Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht: ethnologisch-

kulturgeschichtliche und psychodynamische Aspekte . . . . . . . . . . . . 181

4. Vom Zukunftsdenken zur Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1964.1 Was Zukunftsforschung kann – und was nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1964.2 Frühe Forderungen nach einer „Zukunftswissenschaft“ . . . . . . . . . . . 1974.3 Ist der Gegenstand der Zukunftsforschung „die Zukunft“?

Ja, aber … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1974.4 Historische Wurzeln der empiristisch-sozialtechnologischen

Zukunftsforschung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1984.5 Europäischer Kontrapunkt: Zukunftsforschung als

empirisch-hermeneutische Wissenschaft des Wandels . . . . . . . . . . . . 1984.6 Heute ist die Zukunftsforschung eine weltweit

verbreitete Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1994.7 Disziplinäre und interdisziplinäre Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . . 2004.8 Psychologische und psychotherapiewissenschaftliche

Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

5. Wissenschaftstheoretische Grundlagen der psychologischen und psychotherapiewissenschaftlichen Zukunftsforschung . . . . . . 204

5.1 Zukunftsdenken in den konkurrierenden Wissenschaftskonzepten der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

5.2 Psychologische bzw. psychotherapiewissenschaftliche Zukunftsforschung mit Hilfe des empiristischen Erkenntnisweges . . . 204

5.3 Psychologische bzw. psychotherapiewissenschaftliche Zukunftsforschung mit Hilfe des kritisch-hermeneutischen Erkenntnisweges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

5.4 Psychologische bzw. psychotherapiewissenschaftliche Zukunftsforschung mit Hilfe des konstruktivistischen Erkenntnisweges: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . 219

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6. Psychologische bzw. psychotherapiewissenschaftliche Zukunftsforschung in der Objektivismusfalle. Plädoyer für Bescheidenheit, Selbstkritik und das menschliche Maß . . . . . . 225

6.1 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 1: Wissenschaftsgeschichte. Jedes wissenschaftliche Konzept ist ein Kind seiner Zeit . . . . . . . . . . . 225

6.2 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 2: Wo Menschen sind, da „menschelt“ es. Ernüchternde Einblicke in die Niederungen des Forschungsalltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

6.3 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 3: „Anything goes“. Paul Feyerabends Plädoyer für weniger Dogmatismus und mehr Kreativität in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

6.4 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 4: Theorien ermöglichen die Orientierung und weisen den Weg zum Ziel – Methoden sind der Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

6.5 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 5: Alle Verfahren der Forschung sind Verfeinerungen von Alltagsoperationen . . . . . . . . . . . 228

6.6 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 6: Empirie ist nicht gleich Empirismus! Plädoyer für Methodenpluralismus . . . . . . . . . . . 229

6.7 Weg aus der Objektivismusfalle Nr. 7: Jedes Wissenschaftskonzept hat eigene Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . 234

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

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1. Einleitung

„Natürlich interessiert mich die Zukunft. Ich will doch schließlich den Rest meines Lebens in ihr verbringen.“ (Mark Twain)

1.1 Zukunftsdenken zwischen Zukunftsangst und Zuversicht

Seit jeher ist die Zukunft eine Projektionsfläche für die Ängste, Hoffnungen und Pläne der Menschen. Zur Reduktion der Ängste, zur Bekräftigung der Hoffnun-gen und zur Optimierung der Planungskompetenz wurde in der Menschheitsge-schichte eine beachtliche Menge von Ideen, Konzepten, Strategien, Ritualen und Methoden entwickelt.

Bei der Vorausschau, Vorsorge und Lebensplanung im Alltag geht es um das kreative Ausloten zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten einerseits und um die (selbst-)kritische Einschätzung von Ressourcen und Kompetenzen für die Zu-kunftsgestaltung andererseits. Auf der Basis von plausiblen zukunftsbezogenen Annahmen (Prognosen) werden die kurz-, mittel- und langfristig wirksamen Entscheidungen für die Bildungslaufbahn sowie für das persönliche Berufs- und Familienleben getroffen, werden die Konzepte der Kindererziehung entworfen, die Wohnwelten geplant und gestaltet, Hobbies gepflegt sowie die finanziellen Rahmenbedingungen geschaffen. Die konkreten Zukunftspläne beziehen sich da-bei vor allem auf die Rolle des jeweiligen Individuums im zukünftigen Spiel des Lebens. Dabei stehen drei Fragen im Vordergrund: Was bleibt? Was kommt? Was geht? Die im Spannungsfeld zwischen Zuversicht und Zukunftsangst konstruierten Antworten auf diese Zukunftsfragen bilden die Grundlage für die individuellen Zukunftspläne. (Sinngemäß gelten diese Überlegungen auch für die institutionelle Zukunftsplanung.) Viele gegenwärtige Entscheidungen und Handlungen gehen von derartigen Meinungen über die Welt von morgen und übermorgen aus.

Die Zukunft ist also eines der wichtigsten Phänomene der Gegenwart und die Gegenwart ist die Realisierung eines von mehreren Zukunftsszenarien der Vergangenheit. (Die nicht realisierten Szenarien geraten meist in Vergessenheit.)

1.2 Psychodynamik – Soziodynamik – Zukunftsforschung

Bei der Analyse der Grundlagen und Grundfragen der psychologischen und psychotherapiewissenschaftlichen Zukunftsforschung sind den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches vier Aspekte besonders wichtig:

• die Betonung eines dynamischen Verständnisses psychischer Prozesse – mit besonderer Berücksichtigung unbewusster Vorgänge,

• die enge Verknüpfung zwischen der Psychodynamik der Individuen und der Soziodynamik in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik,

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• das Verständnis der Zukunftsforschung1 als Wissenschaft des Wandels • und die damit verbundene Berücksichtigung des engen Zusammenhangs zwi-

schen Herkunft und Zukunft.

In diesem Sinne basiert die wissenschaftliche Argumentation auf einer theorie-geleiteten Verknüpfung von psychodynamischen (psychoanalytisch-individu-alpsychologischen) und soziodynamischen (kulturhistorischen und empirisch-hermeneutischen) Konzepten der Psychotherapiewissenschaft, der Psychologie und der Zukunftsforschung.

Dies gilt jedenfalls für die – jeweils namentlich gekennzeichneten – Beiträge von Reinhold Popp, Bernd Rieken und Brigitte Sindelar sowie für den Gastbeitrag von Nils Guse (Kapitel 2, Zukunftsdiskurs Nr. 11).

Der Gastbeitrag von Julia Grundnig (Kapitel 2, Zukunftsdiskurs Nr. 10) ori-entiert sich vor allem an kognitiv-sozialwissenschaftlichen Konzepten der Psycho-logie, die sich jedoch mit den o. g. psychodynamischen und soziodynamischen Konzepten gut kombinieren lassen.

Eine Sonderstellung nimmt der Gastbeitrag von Tassilo Niemetz ein, der die psychologische Zukunftsforschung – im Sinne der so genannten Kritischen Psy-chologie – konsequent vom historischen Materialismus ableitet. Obwohl dieser Beitrag mit der dominanten theoretischen Orientierung des vorliegenden Buches nur begrenzt kompatibel ist, wurde er im Kapitel 2 als Zukunftsdiskurs Nr. 12 in-tegriert, um auf die Vielfalt der für die Zukunftsforschung relevanten psychologi-schen Theorieentwürfe hinzuweisen.

1.3 Animation zur verstärkten wissenschaftlichen Reflexion und Diskussion über den subjektiven Faktor in der Zukunftsforschung

Trotz der großen Bedeutung der individuellen Auseinandersetzung mit Zukunfts-fragen dominieren in den Projekten und Publikationen der Zukunftsforschung Analysen und Prognosen zu technischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Zukünften. Psychologische und psychotherapiewissenschaftliche Zu-kunftsforschung hat dagegen Seltenheitswert.

Die vorliegende Publikation animiert zur Intensivierung vorausschauender wissenschaftlicher Diskurse – auch in der Psychologie und der Psychotherapiewis-senschaft. Jene Leserinnen und Leser, die sich selbst im Bereich der zukunftsbe-zogenen Forschung engagieren (oder engagieren wollen), werden sich über die

1 Die im vorliegenden Buch präsentierten Überlegungen zur Geschichte des Zukunfts-denkens und zu den Grundlagen und Grundfragen der Zukunftsforschung basie-ren z. T. auf Texten der 2016 im LIT-Verlag erschienenen Publikation von R. Popp („Zukunftswissenschaft und Zukunftsforschung. Grundlagen und Grundfragen. Eine Skizze“). Diese Publikation wurde im Rahmen der Grundlagenforschung des Instituts Futur der Freien Universität konzipiert.

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vielen vertiefenden Fußnoten sowie über das umfangreiche Literaturverzeichnis freuen. Denn unsere bibliograpfische Vorarbeit erleichtert die Suche nach weiter-führenden Publikationen.

Das vorliegende Buch ermöglicht ein flexibles Leseverhalten. Der Aufbau des Buches ist nämlich so konzipiert, dass der Leser bzw. die Leserin die Lektüre bei jedem der folgenden Kapitel bzw. im großen Kapitel 2 bei jedem der 12 Zu-kunftsdiskurse starten kann. Der Übergang zu anderen Textstellen wird durch viele Querverweise sowie durch ein ausführliches Register mit einer Vielzahl von Schlüsselbegriffen unterstützt.

Alle Autorinnen und Autoren dieses Buches bemühten sich um eine gedie-gene Balance zwischen einer gendersensiblen Textgestaltung und einer guten Lesbarkeit. In diesem Sinne wurden von Reinhold Popp, Bernd Rieken und Bri-gitte Sindelar sowie von Julia Grundnig und Nils Guse Varianten wie Schrägstrich (z. B. Student/innen) oder Binnen-I (z. B. (StudentInnen) vermieden und – sofern eine geschlechtsneutrale Formulierung (z. B. Studierende) nicht sinnvoll erschien – die Benennung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Form (z. B. Stu-dentinnen und Studenten) bevorzugt. Der Gastautor Tassilo Niemetz bevorzugte die Variante des „Gendersterns“ (z. B. Student*in), um die Vielfalt der Genderent-würfe zu betonen.

Berlin und Wien, Juni 2017Reinhold Popp, Bernd Rieken, Brigitte Sindelar

Dank

Die vorliegende Publikation wurde von der Sigmund-Freud-Privatuniversität gefördert.

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2. Vorausschauende Forschung und der subjektive Faktor. Beiträge der Psychologie und Psychotherapiewissenschaft zur Zukunftsforschung(Reinhold Popp)

„Das Thema ‚Zukunft‘ hat es in sich. Je tiefer man in das Thema eindringt, desto mehr gerät man in eigene Tiefenschichten, an den vitalen Kern des eigenen Daseins, und wird sich dessen bewusst, dass sich Furcht und Hoffnung in ihrem Wechselspiel nur begrenzt vom Geist steuern lassen.“ (Oliver Radkau 2017, S. 440)

Zukunftsforschung ist überwiegend Auftragsforschung. (Ausführliche Informa-tionen dazu finden sich im Kapitel 4: „Vom Zukunftsdenken zur Zukunftsfor-schung“.) Die meisten Zukunftsstudien werden von Wirtschaftsunternehmen, von größeren Institutionen der Zivilgesellschaft und von der Politik im Hinblick auf strategische Ziele nachgefragt und finanziert. Deshalb sind wissenschaftliche Veröffentlichungen zu technischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und politischen Zukunftsfragen stark überrepräsentiert. Im Vergleich mit diesen Fragestellungen ist die psychologische und psychotherapiewissenschaftliche Di-mension der Zukunftsforschung unterentwickelt. Diesen Befund unterstützt auch Kraus (2003, S. 35), der sich in diesem Zusammenhang u. a. auf Bowie (1993) und Hinz (2000) bezieht.

Unter den älteren Publikationen zu dieser Thematik sind vor allem zu nen-nen: Fraisse 1985, Kastenbaum 1961, Melges 1990, Nuttin 1985, Schneider 1987.

Das bereits 1890 (!) unter dem Titel „Zur Psychologie der Zukunft“ erschie-nene Buch des naturalistischen Schriftstellers Karl Bleibtreu ist jedoch kein wis-senschaftliches Werk.

Einige neuere Publikationen zum Thema „Psychologie und Zukunft“:• In jüngerer Zeit fasste der Sammelband „Psychologie und Zukunft“ (Möller/

Strauß/Jürgensen 2000) mehrere Beiträge aus der Perspektive der kognitiven Psychologie (z. B. Brandtstädter 2000, Fiedler 2000, Schaal/Gollwitzer 2000, Schulz-Hardt/Frey 2000, Stern/Koerber 2000, Zwingmann/Murken 2000) zusammen.

• In dem o. g. Sammelband finden sich auch einzelne Beiträge aus sozial-kon-struktivistischer Perspektive (u. a. Weber 2000). Ein weiterer sozial-konstruk-tivistisch orientierter Beitrag wurde von Kraus (2003) im Journal für Psycho-logie veröffentlicht.

• Mit der Bedeutung von Erwartungen, Phantasien und Tagträumen sowie mit der psychologischen Debatte um Optimismus versus Realismus beschäftigen sich einige Publikationen von Gabriele Oettingen, u. a. das umfangreiche Werk „Psychologie des Zukunftsdenkens“ (1997) sowie ein zusammenfassen-der Beitrag (2000) und in jüngerer Zeit „Psychologie des Gelingens“ (2015).

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• 2016 wurde von Seligman/Railton/Baumeister/Sripada ein Grundlagenwerk zum Zukunftsdenken aus der Sicht der positiven Psychologie vorgelegt: „Homo prospectus“.

• Im Zukunftsdiskurs Nr. 10 (Punkt 2.10) finden sich einige Hinweise auf psy-chologisch fundierte Literatur zur Zeitperspektive – und in diesem Zusam-menhang auch explizit zur Zukunftsperspektive.

• In den folgenden zwölf Zukunftsdiskursen finden sich auch mehrere Hinwei-se auf Publikationen, die sich implizit mit vorausschauenden Aspekten der Psychologie bzw. der Psychotherapiewissenschaft beschäftigen (z. B. mit In-novation, Entwicklung, Strategie, Wandel, Planung, Technikfolgen, Fiktion, Teleologie, Prognosen, Sehnsüchten, Wünschen, Utopie u. ä.)

In der psychologischen bzw. psychotherapiewissenschaftlichen Zukunftsforschung geht es um die Analyse der gegenwärtig konstruierten individuellen Zukunfts-bilder und Zukunftsplanungen sowie um die damit verbundenen psychodyna-mischen Aspekte. Diese (bewussten und unbewussten) Zukunftskonstruktionen lassen sich auf dem Hintergrund der lebensgeschichtlich entwickelten Wahrneh-mungs-, Deutungs- und Handlungsmuster erklären bzw. verstehen.

In diesem Hauptkapitel (Kapitel 2) werden – ohne Anspruch auf Vollständig-keit – zwölf Diskursstränge skizziert, die sich für die Entwicklung einer psycholo-gischen bzw. psychotherapiewissenschaftlichen Zukunftsforschung sehr gut eignen.

2.1 Zukunftsdiskurs Nr. 1: Zukunftsangst, Risiko, Resilienz und Vertrauen

„Die Angst lässt sich, wenn man an sich arbeitet, in Sorge verwandeln; und die Sorge ist eine Quelle der Vorsorge – und der Fürsorge.“ (Oliver Radkau 2017, S. 439)

2.1.1 „Zukunftsangst“ – ein interdisziplinäres Thema (Reinhold Popp)

Das Thema „Angst“ wird in unterschiedlichen Disziplinen diskutiert, wobei der spezifische Aspekt der Zukunftsangst nur selten explizit angesprochen wird.

• Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung findet sich in Koch 2013.• Eine philosophische Behandlung des Themas „Angst“ findet sich u. a. bei Bal-

zereit 2010; Markl 1998; Oeser 2015.• Eine interessante theologisch fundierte Aufforderung zur „Entängstigung“

stammt von Zulehner 2016. • In der Soziologie wird Angst vor allem mit Fragen des sozialen Abstiegs ver-

knüpft, z. B.: Bax 2016; Bude 2016; Dehne 2017; Piper 2012; Schüle 2012; Stras-ser 2013.

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• Die Kulturgeschichte erinnert an die seit jeher bedeutsame Wirkmacht kollek-tiver Ängste z. B.: Böhme 2003 und 2013; Delumeau 1985; Radkau 2017; Rieken 2009.

• In den Neurowissenschaften stehen die vielfältigen biologischen und hirnphy-siologischen Aspekte von Ängsten im Vordergrund. Weit über die Frage der Zukunftsangst hinaus könnten die Neurobiologie (z. B.: Hüther 2014) sowie die Neuropsychologie (z. B. Bauer 2009; Benetka/Guttmann 2006; Raben-stein 2016) interessante Beiträge zur Zukunftsforschung leisten. Nicht nur in manchen Zeitgeistmedien wird jedoch die Erklärungskraft der Neurowissen-schaften häufig stark überschätzt. (Ausführlicher dazu: Hasler 2012; Werbik/Benetka 2016.)

• Die Sozialpsychologie setzt sich vor allem mit Ängsten in Verbindung mit Iden-tität unter bedrohlichen gesellschaftlichen Bedingungen (z. B. Migration, Glo-balisierung, …) auseinander. Vertiefend dazu u. a.: Baring 2011; Egner 1994; Fromm 2014; Lahartinger/Wechselberger 2012; Strenger 2016.

• In der klinischen Psychologie und der Psychotherapiewissenschaft wird über „Angst“ vor allem in zwei Kontexten reflektiert:• Der dominante klinisch-psychologische und psychotherapiewissenschaft-

liche Diskurs über „Angst“ bezieht sich auf Ängste im Zusammenhang mit den vielfältigen Ausprägungsformen von Angststörungen, Phobien u. ä. (sys-tematisch dazu aus einer kognitiv-behavioristischen Perspektive: Krohne 2010.)

• Im psychodynamischen bzw. psychoanalytischen Diskurs wird vor allem der Zusammenhang zwischen Ängsten und individuellen Bewältigungsstrategi-en analysiert, z. B.: Beland 2014; Bohleber 2015; Fabian 2013; Rieken 2015a und 2015d; Riemann 2013.

2.1.2 Angst beeinflusst nicht nur das Denken im Alltag, sondern auch die Theorien und Methoden der Wissenschaft

Die Reflexion des Einflusses von Angst auf die Forschung wird in der wissen-schaftstheoretischen Literatur weitgehend ausgeblendet. Gerade für zukunftsbe-zogene Forschungsfragen, die sich ja mit den prinzipiell angsterregenden Unge-wissheiten des zukünftigen individuellen und sozialen Lebens sowie mit angst-abwehrenden Zukunftsplanungen beschäftigen, wäre jedoch die Reflexion des Zusammenhangs zwischen den eigenen Ängsten der Forscher und der Auswahl der Forschungsfragen und Forschungsmethoden außerordentlich spannend. In diesem Zusammenhang weist Jürgen Habermas (vor allem in seinem Buch „Er-kenntnis und Interesse“, 1973) zu Recht mehrmals darauf hin, dass die Psychoana-lyse die einzige Wissenschaft ist, die der Selbstreflexion eine zentrale forschungs-methodische Bedeutung zuschreibt. Sinngemäß gelten diese Überlegungen auch für die Deutung der Prognosen bzw. Szenarien der Zukunftsforscherinnen und

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-forscher vor dem Hintergrund ihrer angstabwehrenden Projektionen. Für die Zukunftsforschung wäre die stärkere Auseinandersetzung mit dem Theoriekon-zept der Psychoanalyse durchaus produktiv. Denn im psychoanalytischen The-oriegebäude spielt die psychische Dynamik zwischen Angst und Angstabwehr eine zentrale Rolle. Bereits 1938 (hier zit. nach Ansbacher/Ansbacher 1982, S. 197) betrachtete der Begründer der freien Psychoanalyse bzw. Individualpsychologie, Alfred Adler, den Wissenschaftsbetrieb der damaligen Zeit aus psychodynami-scher Sicht: „Wissenschaftler, die Angst haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren oder von der Kritik angegriffen zu werden, messen nur solchen Tatsa-chen Bedeutung bei, die sich physikalisch in Laboratorien bestätigen lassen und die in Zahlen niedergelegt und auf Zahlen zurückgeführt werden können. Ma-thematische Regeln geben ihnen das Gefühl des Schutzes, und sie werden reizbar, wenn sie ohne solche Symbole sind. …“

Auf den psychodynamischen Zusammenhang zwischen Angst und Forschungs-methode wies auch der berühmte Schriftsteller („Wie eine Träne im Ozean“) und Individualpsychologe Manès Sperber (1978, S. 83) im Rahmen seiner Berliner Vorle-sungen (von 1933) mit einem fiktiven „Gleichnis“ hin: „Man stelle sich vor, ein Mann leidet unter der Angst, überfallen zu werden. Er lässt sich nun ein isoliert gelegenes Haus bauen, das mit allen erforderlichen Befestigungen versehen ist. Überdies dingt er sich eine tatkräftige Leibwache, die er bis an die Zähne bewaffnet. Er hält sich in einem Raume auf, den niemand betreten oder verlassen kann, wenn er es nicht will. Dieser Mann liegt nun seelenruhig auf seiner Couch, raucht Zigaretten und liest mit Begeisterung Kriminalromane. Der Experimentalpsychologe würde natürlich keinerlei Angst an ihm entdecken können. Der deutende Psychologe schließt aus dem Maß seiner Sicherung auf das Maß seiner Angst. Sicherung und Angst sind direkt proportional. Und wenn dieser Mann noch so heftig versicherte, er habe keine Angst – was er subjektiv behaupten könnte –, so fiele das nicht im geringsten ins Gewicht. Wir wiederholen also unser oberstes Prinzip: Ohne Zusammenhangsbetrachtung und außerhalb dieser gibt es kein Verständnis für das Seelenleben.“

Im psychoanalytisch-individualpsychologischen Konzept Alfred Adlers spielt übrigens die Analyse der Zukunftsorientierung eines Menschen eine zentrale Rolle. (Adler spricht dabei von „Teleologie“ bzw. „Finalität“. Ausführlicher dazu unter Punkt 2.6.2, Zukunftsdiskurs Nr. 6.)

Ein spannender Klassiker der psychoanalytischen Sicht des Zusammenhangs zwischen Angst und Methode in der Sozialforschung stammt von Georges De-vereux (1984). Devereux reflektiert die Auswirkungen der unbewussten innerpsy-chischen Vorgänge des Forschers bzw. der Forscherin auf die Konstruktion des Forschungsprozesses und die Wahl der Forschungsmethode. Dabei richtet er sein Augenmerk auf die Ängste, die sich beim Forscher bzw. der Forscherin einstellen, wenn er bzw. sie dem für die Sozialwissenschaften typischen „Forschungsobjekt“, nämlich dem Menschen in seinen sozialen und kulturellen Beziehungen – und

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damit ein Stück weit immer auch sich selbst – begegnet. Der Bedeutungsverlust dieses subjektiven Faktors in der modernen Wissenschaft und die zwanghafte Herstellung von quasi objektiven Forschungssettings betrachtet Devereux als neu-rotischen Versuch der Angstabwehr. Aus der Sicht der psychoanalytischen For-schungslogik liegt wohl der Verdacht nahe, dass auch in der Zukunftsforschung versucht wird, die mit der Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen verbundene Zukunftsangst durch neurotische Scheinsicherheiten abzuwehren.

2.1.3 Zukunftsangst, Risiko und psychodynamische Bewältigungsstrategien2 (Bernd Rieken)

Der überwiegende Teil der zukunftsbezogenen Forschung zum Thema „Risiko“ be-zieht sich auf technische, ökologische, ökonomische und sicherheitspolitische Ge-fahrenpotenziale. (Siehe dazu ausführlich: Renn 2009 und 2014; Renn u. a. 2007.)

Aus tiefenpsychologischer und psychotherapiewissenschaftlicher Sicht geht es hingegen vor allem um die Verknüpfung des Angst- bzw. Risiko-Diskurses mit psychodynamischen Bewältigungsstrategien.

Beginnen wir mit etwas Literarischem: Im fünften Akt des zweiten Teils von Goethes Faust treten „vier graue Weiber“ auf: Mangel, Schuld, Not und Sorge (Goethe 1993, S. 343). Sie wollen allzumal in das Haus des Protagonisten, doch Mangel, Schuld und Not scheitern bei dem Versuch, die Tür zu öffnen, denn: „Drin wohnet ein Reicher, wir mögen nicht ’nein“ (ebd., Vers 11387). Allein die Sorge vermag durchs Schlüsselloch einzudringen und stellt sich Faust mit den folgenden Worten vor:

„Würde mich kein Ohr vernehmen,Müsst‘ es doch im Herzen dröhnen;In verwandelter GestaltÜb‘ ich grimmige Gewalt.Auf den Pfaden, auf der Welle,Ewig ängstlicher Geselle,stets gefunden, nie gesucht,So geschmeichelt wie verflucht. –Hast du die Sorge nie gekannt?“ (ebd., Verse 11424–11432)

2 Der Text zu Punkt 2.1.3 ist mit geringen Abweichungen publiziert worden unter: Rie-ken, B. (2017). „Hast du die Sorge nie gekannt?“ – Tiefenpsychologische Zugänge zur Bedeutung der Angst: Theoretische Überlegungen und qualitative Interviewauswer-tung. In: Magdeburger Journal zur Sicherheitsforschung, 13, S. 725–741. http://www.sicherheitsforschung-magdeburg.de/publikationen/journal.htm

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Materielle Sicherheit vermag „Mangel“ und „Not“ wohl zu vertreiben, unter Um-ständen auch ein schlechtes Gewissen, nämlich die „Schuld“ – doch die Sorge dringt durch alle Türen ein und plagt die Menschen. Sie übt eine „grimmige Ge-walt“ aus, weil sie jener „Geselle“ ist, welcher uns auf ewig ängstigt, daher „stets gefunden, nie gesucht“ ist.

Die Dichtersprache rüttelt an Tiefenstrukturen, denn sie kündet von dem, was vor der Entdeckung des Objektivitätspostulats die Aufgabe der Wissenschaft war, nämlich von der Wahrheit zu künden (Daston/Galison 2007). Auch wenn man sie im Zeitalter der Dekonstruktion gemeinhin nur noch in Anführungszeichen setzt, macht das Goethe-Zitat auf anschauliche Weise deutlich, dass Sorgen und Ängste stete Begleiter der menschlichen Existenz sind. Die an der Naturwissen-schaft geschulten Disziplinen können mit diesen Begriffen indes nicht viel anfan-gen, sie sprechen lieber vom „Risiko“ als von Sorgen und Ängsten, weil sich jenes angeblich besser messen und „objektiv“ erfassen lasse.

2.1.3.1 Zur Risiko-Diskussion in der Wissenschaft

So werden Risiken als Konstrukte definiert, „anhand derer zukünftige Ereignisse mit negativen Konsequenzen für wertgeschätzte ‚Objekte‘ – Leben Gesundheit, Vermögen – abgeschätzt und in entsprechende Handlungsstrategien umgesetzt werden können“ (Zwick/Renn 2008, S.  77). Unbewusste oder halb bewusste zählebige Ahnungen, wie sie typisch für die Angst sind, werden dergestalt zur Quantité négligeable, um einer rationalen „Abschätzung“ Platz zu machen (das Folgende nach Rieken 2010a, S. 141–145). In dieses Bild fügt sich die Behauptung ein, dass der Ingenieur Chauncey Starr „der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Risikowahrnehmung den ersten Impuls gegeben hatte“, indem er „nach einer einfachen Formel [suchte], anhand derer sich die Akzeptanz für Risiken rechne-risch ermitteln lässt“ (Zwick/Renn 2008, S. 79).

Die beiden Zitate entstammen einem Beitrag aus dem Standardwerk zur geo-grafischen Katastrophenforschung, und wirft man einen Blick auf das Gesamtregis-ter, fällt auf, dass darin zwar eine Vielzahl von Komposita zu „Risiko“ vorhanden ist (Felgentreff/Glade 2008, S. 452 f.)3 aber jeglicher Verweis auf „Angst“ fehlt. Ähnlich verhält es sich mit der Soziologie, die ebenfalls den Begriff „Risiko“ bevorzugt – von einigen Ausnahmen abgesehen (Bude 2016; Dehne 2017) –, wenn es um den Umgang mit Gefahren geht (vgl. z. B. Beck 2007; Furedi 2007, S. 42). Und selbst in der Geschichtswissenschaft werde die Angst vernachlässigt, so der Mentalitäts-historiker Jean Delumeau in seiner wegweisenden Studie über kollektive Ängste in der europäischen Neuzeit (Delumeau 1985, Bd. 1, S. 15; vgl. dazu Rieken 2009, S. 323 f.). In der historischen Katastrophenforschung zu Sturmfluten wird sogar be-hauptet, dass die Angst vor dem Meer bereits um 1800 vollkommen verschwunden

3 Es sind 25 an der Zahl, von „Risikoakzeptanz“ bis „Risikowelt“.

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wäre und dass die Menschen, die an der Küste und auf den Inseln der südlichen Nordsee ansässig sind, seither furchtlos mit den Fluten lebten (das behauptet z. B. Manfred Jakubowski-Tiessen 1997, S. 134; ähnlich ders. 2003, S. 118). Das ist eine naive Vorstellung (siehe ausführlich Rieken 2005, S. 33 f., S. 273–286 und S. 338–341; Rieken 2007, S. 31–44), aber sie macht deutlich, dass die Wissenschaft, abgesehen von einigen psychologischen Fächern, in der Regel Schwierigkeiten damit hat, sich des Themas anzunehmen. Offensichtlich rührt es zu sehr an persönlichen Befind-lichkeiten und steht somit in einem Spannungsverhältnis zum westlich-patriar cha-lisch geprägten Verständnis wissenschaftlicher Forschung, das nach Sach lichkeit, Neutralität und Rationalität strebt (vgl. Rieken 2009, S. 324).

Das gilt auch für weite Bereiche der experimentellen Psychologie, soweit sie auf den Behaviorismus Bezug nimmt, also jene Richtung, die das Verhalten von Mensch und Tier mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden untersucht und es durch Reiz-Reaktionsbeziehungen systematisch beeinflussen will. So sollen Ängste in einer Verhaltenstherapie wegkonditioniert werden, und es gehe kei-nesfalls darum, „ihren Sinn und ihre Bedeutung bewusst zu machen, um sie zur Kraft zu machen, die auf Hellsichtigkeit gegenüber bedrohlichen Regungen drän-gen kann“ (Vinnai 1993/2005, S. 61).

Während das psychologische Studium ein rein theoretisches ist, muss man sich als Psychotherapeut oder Psychoanalytiker hingegen einer Lehrtherapie bzw. Lehranalyse unterziehen und wird so auf die Arbeit mit Angst erregenden The-men vorbereitet.

„Das ermöglicht ihm [= dem Therapeuten] normalerweise, das Bombardement, dem sein Unbewusstes durch das von seinen Patienten produzierte Material ausgesetzt ist, ohne übermäßige Angst zu ertragen und es zu untersuchen, ohne es verzerren zu müs-sen, um seine eigenen Ängste unter Kontrolle zu halten“,

schreibt George Devereux in seinem Standardwerk „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ (Devereux 1992, S. 109). Seine Hauptthese lautet, dass man demgegenüber in den meisten akademischen Fächern das Angst erregende Material, dem ein Forscher begegnet, „verdrängt oder seinen affektiven Inhalt und seine humane wie persönliche Relevanz leugnet“ (ebd.).

Das zeigt nicht zuletzt die akademische Risiko-Diskussion. Sie unterscheidet zwischen Risikoanalyse, welche die Frage beantwortet, was passieren kann, und Risikobewertung, die thematisiert, was passieren darf (Kienholz 2004, S. 250). Die Risikoanalysen „müssen mit wissenschaftlichen Methoden zu […] objektiv rich-tigen Aussagen führen“, auch wenn „die Analyseergebnisse in vielen Fällen mit Unsicherheiten behaftet sind“, heißt es dazu in einem Fachbeitrag (ebd.). Selbst-verständlich ist es sinnvoll, sich über das mögliche Gefahrenpotential Gedanken zu machen und geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, nur sollte man nicht der Illusion verfallen, das Risiko „objektiv“ messen zu können. Trotz des ein-schränkenden Verweises auf mögliche „Unsicherheiten“ wird nämlich Eindeu-

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tigkeit suggeriert, wenn es definiert wird als das mathematische „Produkt aus der Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses und dem Schadensausmaß, das bestimmt wird durch die Anzahl der Personen und die Sachwerte, die einem gefährlichen Ereignis zum Zeitpunkt seines tatsächlichen Eintretens ausgesetzt sind“ (Ammann 2004, S. 262).

Obwohl der Hinweis auf die Mathematik präzise Eindeutigkeit suggeriert, wird dazu ein unscharfer Begriff verwendet, nämlich „Häufigkeit“. Wenige Ge-genbeispiele genügen, um die Problematik dieses Ansatzes zu veranschaulichen:

• Das Schadensausmaß der Lawinenkatastrophe von Galtür, die im Februar 1999 ausgerechnet in der „grünen“, das heißt seit jeher als sicher geltenden, Zone zerstörerisch wirkte, konnte niemand vorhersehen.

• Die Höhe der Februar-Sturmflut 1962, bei der in Hamburg mehr als 300 Men-schen ertrunken sind, war ebenfalls jenseits des Vorhergesagten, weil eine Fernwelle aus dem Atlantik den Meeresspiegel zusätzlich in die Höhe trieb.

• Als Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahre 1190 während des dritten Kreuzzu-ges den Fluss Saleph überqueren wollte, wurde er vom Pferd geworfen und ertrank. Einige Kreuzritter kehrten daraufhin um, der Rest unter Führung seines Sohnes Friedrich V. zog weiter, doch dieser erkrankte nebst einem Großteil seiner Begleiter vor Akkon an Malaria, die übrigen Männer verließen unverrichteter Dinge das Heilige Land.

Daraus folgt: Man sollte „Wild Cards“ (Popp 2016, S. 63 f.), also unerwartete oder unvorhersehbare Ereignisse bzw. Konstellationen, die niemand vorhersehen kann, nicht unterschätzen, und daher sollte man vorsichtig sein, wenn man von „objektiver“ Risikoanalyse spricht. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive hat sich Hermann Lübbe mit diesen Fragen ausführlich befasst und kommt zu folgendem Ergebnis: Weil es sich bei Geschichten in der Regel um ein komplexes Gemenge aus intendierten Handlungen und nicht intendierten Widerfahrnissen und Folgelasten handele, könne man ihren Verlauf nicht auf eine allgemeine Ge-setzlichkeit reduzieren. Ferner seien keine Prognosen über den künftigen Verlauf der Geschichte möglich (Lübbe 2012).

Ist bereits die Risikoanalyse mit Unschärfen behaftet, so gilt das erst recht für die Risikobewertung. Diese zielt nämlich auf die potentiell Betroffenen ab und lässt sich nur „aufgrund ihrer Risikowahrnehmung und ihrer Abwägung zwischen den Nutzungsmöglichkeiten und den Risiken klären. Dabei spielen Lebensumstände, Lebenserfahrung und Wertesysteme eine entscheidende Rolle“ (Kienholz 2004, S. 250). Damit ist das weite Land der höchst subjektiven Urteile, Erfahrungen und Emotionen betreten, und trotzdem fordert die Wissenschaft, „die in der Regel vorhandene Lücke“ zwischen Risikoanalyse und -bewertung „mit geeigneten Maßnahmen zu überbrücken“, um zu einem „integralen Risi-komanagement“ zu gelangen, wobei „die gesetzten Ziele effektiv und effizient zu

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realisieren“ seien (Ammann 2004, S. 262 (eigene Hervorhebung, B.R.). Ob mit „geeigneten Maßnahmen“ zum Beispiel tief sitzende Ängste, die im Unbewuss-ten oder Halbbewussten versteckt sind, „effektiv und effizient“ verringert werden können, ist allerdings fraglich.

Andererseits: Auch wenn „integrales Risikomanagement“ als pragmatischer Zugang zu verstehen ist und eher an der Oberfläche bleibt, liegt ihm ein sinn-volles Anliegen zugrunde: Wir leben in einer hochkomplexen Gesellschaft, die kaum überschaubar ist und kaum verstanden wird, weswegen es notwendig ist, Spezialisten zu vertrauen, die von sich behaupten, mit hinreichendem Fachwis-sen ausgestattet zu sein. Ohne Vertrauen ist kein Sicherheitsgefühl möglich, und das Streben nach Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, denn es ist kaum auszuhalten, in ständiger Angst zu leben. Das hängt ursächlich mit dem Gefühl der Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit zusammen, das uns von früher Kindheit an begleitet und kompensatorisch nach Sicherungstendenzen drängt (Adler 1927/2007, S. 73). Man könnte einwenden, dass ein gegenläufiges Grundbedürfnis nach dem Neuen, Anderen, Unbekannten und Gefährlichen genauso besteht. Das ist richtig, und es ist hinlänglich bekannt, dass Sicherheit, die in einem Bereich gewonnen wurde, durch erhöhtes Risiko an anderer Stelle verloren geht, etwa riskanteres Fahrverhalten mit größeren Autos.4

Michael Balint unterscheidet in seinem Buch „Angstlust und Regression“ zwi schen jenen Menschen, die primär nach Schutz und Sicherheit streben („Ok-nophile“), und jenen, die immer aufs Neue Spannung und „Angstlust“ suchen („Philobaten“), etwa gefährliche Sportarten oder die Fahrt in einer atemrau-benden Achterbahn (Balint 1999). Aber auch diese Personen gehen in der Regel Wagnisse nur dann ein, wenn sie darauf setzen können, aus der ängstigenden Situation wieder heil herauszukommen, was bedeutet, dass bei ihnen ebenfalls Vertrauen und ein Bedürfnis nach Sicherheit im Hintergrund stehen.

Dieses ist ernst zu nehmen, und zwar für beide Seiten, Betroffene wie Spe-zialisten. Wissenschafter, die rein theoretisch arbeiten, haben den Vorteil, ihr Forschungsfeld mit größerer Distanz und „Objektivität“ zu betrachten, während professionell Tätige, sei es als Praktiker im Bereich des Risikomanagements, als Arzt oder Psychotherapeut, an ihre Sache glauben müssen. Hans Vaihinger, ein Vorläufer des Konstruktivismus in der Nachfolge Immanuel Kants, hat in sei-ner bahnbrechenden Habilitationsschrift „Die Philosophie des Als Ob“ plausi-bel gemacht, dass wir die Welt um uns herum zwar nicht objektiv zu erkennen vermögen, doch müssen wir „so tun, als ob“ wir es könnten, weil nur auf diese Weise Sicherheit im praktischen Handeln ermöglicht wird (Vaihinger 1911; vgl. dazu Rattner 1978; Rieken 1996). Wir halten uns dabei an „Fiktionen“, an Grund-annahmen über die Welt, die zwar unscharf sind, aber deren Brauchbarkeit sich

4 In der Wissenschaft als „Risikokompensation“ oder „Risikogesetz“ bekannt; vgl. Büt-zer 1991, S. 225; von Cube 2000.

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darin erweist, ob man mit ihnen in der Realität etwas Sinnvolles anfangen kann oder nicht. Das ist eine pragmatische, wirklichkeitsnahe Philosophie, und sie macht deutlich, dass es illusionär wäre, an „objektive“ Erkenntnis zu glauben. Wir können „so tun, als ob“ wir dazu imstande wären, aber wir schieben damit we-sentliche Bereiche beiseite oder erklären sie zu vernachlässigbaren Größen. Mit anderen Worten: Wir verdrängen Phänomene, und bis zu einem gewissen Grad ist das sinnvoll, denn dauernd an den Tod oder an mögliche Gefahren zu den-ken, schränkt die Lebensqualität ein. In der empirischen Psychologie spricht man in dem Zusammenhang vom „unrealistischen Optimismus“. Damit ist gemeint, dass die Mehrzahl der Menschen das Risiko, von negativen Ereignissen getroffen zu werden, in Bezug auf die eigene Person geringer einschätzt als in Bezug auf andere Personen (Weinstein 1980; Weinstein 1984; Weinstein/Klein 1996). Das ist ein typisches Beispiel für Verdrängung, die für die eigene Psychohygiene nicht ausschließlich negativ zu bewerten ist, sondern auch durchaus sinnvoll sein kann, und zwar vor allem dann, wenn man Zukunftsangst reduzieren möchte.

Wichtig ist dabei indes das Ausmaß der Verdrängung, denn diese verhält sich oftmals wie ein ungebetener Gast, welchen man zwar des Hauses verwiesen hat, der sich aber nicht vertreiben lässt und immer wieder an die Tür klopft: Er ist wohl aus dem Gesichtsfeld verschwunden, aber er rüttelt doch beständig an den Pforten des Bewusstseins. Deutlich zeigt sich das, wie bereits erwähnt, am Um-gang der Wissenschaft mit der Angst, die man unter anderem als groß angelegtes Unternehmen verstehen kann, welches die Welt sicherer machen möchte und dabei die Angst aus den Augen verliert. Diese rührt an eigenen Befindlichkeiten und steht in einem Spannungsverhältnis zum westlich-patriarchalisch gepräg-ten Wissenschaftsverständnis, das um Sachlichkeit, Neutralität und Rationali-tät bemüht ist. Mit anderen Worten: Die Brisanz des Gegenstandes führt unter Umständen dazu, der Verdrängung anheimzufallen (Rieken 2009). Wenn diese Vermutung richtig ist, dann werden Tiefenschichten der Persönlichkeit berührt, zu denen man einen Zugang am ehesten mithilfe der Tiefenpsychologie findet.

2.1.3.2 Angst und Unsicherheit als zentrale Elemente der Tiefenpsychologie

Schon bei Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, hat Angst einen hohen Stellenwert. Für ihn ist das Ich als Vermittler zwischen Es und Über-Ich nämlich primär eine schwache Instanz, weil es „die lächerliche Rolle des dummen August im Zirkus [spielt], der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeu-gung beibringen will, dass sich alle Veränderungen in der Manege nur infolge sei-nes Kommandos vollziehen“ (Freud 1914/1991, S. 97). Schwach sein bedeutet aber, sich klein zu fühlen gegen die mannigfachen vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen, welche aus dem Innenleben und der Außenwelt resultieren (Freud 1926/1991, S. 199). Diese Gefährdungen will man aus Gründen der Selbstwertre-

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gulation nicht wahrhaben und verdrängt sie, wehrt sie ab, wobei es nach Anna Freud drei Ursachen dafür gibt: Abwehr aus Über-Ich-Angst, aus Realangst, aus Angst gegenüber den Triebansprüchen (A. Freud 1984, S. 45–50). So liegt bereits beim Begründer der Psychoanalyse ein Schatten über der menschlichen Existenz (vgl. auch Freud 1916–17/1998; Freud 1933/1996; Freud 1930/1991), weil das Ich als gebrechlich angesehen wird und es mit vielfältigen Ängsten zu kämpfen hat, die es als Bedrohung erlebt.

Für Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, ist Unsicherheit ebenfalls ein konstitutives Merkmal, denn am Anfang eines jeden seelischen Le-bens stehe angesichts der „Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes […], die lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein“, ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl (Adler 1927/2007, S. 72). Aber genau dieses sei „die treibende Kraft, von der alle Bestrebungen des Kindes ausgehen und sich entwickeln, die ein Ziel erfordert, von dem das Kind alle Beruhigung und Sicherstellung seines Lebens für die Zukunft erwartet und die einen Weg einzuschlagen zwingt, der zur Erreichung dieses Zieles geeignet erscheint“ (ebd.). Adler bezeichnet das als Kompensation, Gefühle der Unsicher-heit sollen ausgeglichen werden durch ein Streben nach Sicherheit, nach Gleich-wertigkeit gegenüber anderen, nach Geltung oder Macht.

Es handelt sich bei der Individualpsychologie, wie bei allen tiefenpsychologi-schen Richtungen, um eine psychodynamische Theorie, womit gemeint ist, dass in den Regionen des Unbewussten antagonistische Kräfte in Bewegung sind, die dem Menschen das Leben schwermachen. Bei Freud ist es der Gegensatz zwischen Sexualtrieb und Moral, bei Adler zwischen unbewusstem Minderwertigkeitsge-fühl und dem Aggressionstrieb bzw. dem Streben nach Sicherheit oder Macht.

In der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie Michael Balints existiert ein ähnliches Gegensatzpaar, das er, wie bereits erwähnt, zwei Menschentypen zuordnet, den Oknophilen und den Philobaten. Während diese nahe Bindungen mieden und „freundliche Weiten“ liebten (Balint 1999. S.  64), wünschten jene enge Bande und zeigten eine Tendenz zum Anklammern nebst einer Furcht vor Leerräumen (ebd., S. 22; S. 28–36). Für beide Typen hat Sicherheit einen hohen Stellenwert, beim Oknophilen in direkter, beim Philobaten in indirekter Weise, denn dieser gibt sie auf in der Gewissheit, dass er wieder unversehrt landen oder ankommen wird. Wie jede Typologie sollte man allerdings auch diese cum grano salis nehmen, denn in der Regel kommen Mischformen mit unterschiedlichen Akzentuierungen vor. Von dem Individualpsychologen Erwin Wexberg stammt dazu das anschauliche Beispiel eines Kindes, das „sich in einer fremden Woh-nung nicht fürchtet, wohl aber zu Hause, wenn die Eltern ausgegangen sind. Denn die Angst am fremden Ort wäre sinnlos: Zu Hause aber bedeutet sie, an die Adresse der Eltern gerichtet: Ihr dürft nicht ohne mich ausgehen! Ihr habt bei mir zu bleiben“ (Wexberg 1987, S. 235). Die Angst als „charakteristische[r] Aus-druck“ des Minderwertigkeitsgefühls werde demnach „geflissentlich gesteigert

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und ausgebaut […], um aller Benefizien seiner Hilflosigkeit teilhaftig zu werden. Das Finale ist immer die ersehnte Anwesenheit der Eltern […], bei der Mutter geborgen [zu] sein, bedeutet Sicherung des Persönlichkeitsgefühls“ (ebd.). Die-se oknophile Anstrengung ist indes nur die eine Seite, denn dass dasselbe Kind „allein auf der Straße gar keine Angst vor den wirklichen Gefahren des Verkehrs hat, dass es auf dem Spielplatz und im Turnsaal sogar tollkühn und verwegen sein kann, ist weiter nicht erstaunlich: Auch bei diesen Gelegenheiten geht es um Sicherung und Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls; nur ist hier nicht Feigheit, sondern Tapferkeit das richtige Mittel zum Zweck“ (ebd., S.  235 f.), mithin die philobatische Seite.

Auch in anderen Richtungen der Tiefenpsychologie haben Angst und man-gelndes Vertrauen einen hohen Stellenwert für das Wohlergehen des Individu-ums. Bei Karen Horney, einer Vertreterin der Neopsychoanalyse, heißt es, das Grundübel sei „immer wieder ein Mangel an echter Liebe und Wärme“ (Horney 1979, S. 62); daraus entstünden Feindseligkeit und Angst, die „in heutigen Neu-rosen die wesentlichsten psychologischen Kräfte“ seien (ebd., S. 50). Und in der psychoanalytischen Ich-Psychologie Erik Eriksons steht am Anfang der menschli-chen Entwicklung die Dichotomie von „Vertrauen“ und „Urmisstrauen“ (Erikson 2005, S. 241), wobei „der früheste Beweis für das Vertrauen des Kindes zur Ge-sellschaft […] das Fehlen von Ernährungsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Spannungszuständen im Verdauungstrakt“ sei (ebd.). Das bedeutet allerdings nicht die Verleugnung eines skeptischen Blicks auf die Entwicklungsbedingun-gen der frühen Kindheit, denn „selbst unter günstigsten Umständen scheint diese Phase ein Gefühl innerer Spaltung und eine allumfassende Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies in das Seelenleben einzuführen […]. Gegen diese machtvolle Kombination des Gefühls, beraubt zu sein, gespalten zu sein und verlassen zu sein, muss sich das Urvertrauen ein ganzes Leben lang aufrechterhalten“ (ebd., S. 243 f.).

Die knappe Übersicht zur Tiefenpsychologie verdeutlicht, dass Angst und Un-sicherheit zentrale Stichworte zur Beschreibung der menschlichen Existenz sind. Das kann für die Zukunftsforschung Bedeutung haben, weil ihr die vorhande-nen Schnittmengen eine zusätzliche tiefenpsychologische Perspektive verleihen. So ist nach Egon Fabian die Angst vor dem Neuen „eine unmittelbare Form der Verlassenheitsangst. Alles Neue droht mit dem Unbekannten, dem Unsicheren, zwingt den Menschen, der unter Angst leidet, sich von Altem und Vertrautem zu trennen. Er weiß aber nicht, wohin der Weg nach der Trennung führt, lei-det unter der Unsicherheit, fühlt sich beängstigt und verlassen. Die Angst vor dem Neuen ist vielleicht die häufigste konkrete Manifestationsform der Angst überhaupt, wenn auch oft in verhüllter Form – etwa als Entscheidungsschwäche oder Ambivalenz, und ganz besonders in der Psychotherapie –, sie zeigt sich in konservativer, ängstlicher Lebensform und in vielen Gewohnheiten, Routinen, Alltagsritualen“ (Fabian 2013, S. 105).

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Die Zentrierung auf Emotionen wie der Angst, welche mit Gefühlen der Un-lust verbunden sind, hängt mit dem skeptizistischen Weltbild zusammen, das die psychodynamischen Schulen allzumal verbindet. Der Mensch wird als ein schwaches Wesen betrachtet, als ein „schwindliges Ding“, um es mit Shakespeare zu formulieren (Shakespeare 1979, S.  242); technizistisch inspirierte Machbar-keitsvorstellungen werden mit einem Fragezeichen versehen, doch bedeutet das andererseits keine Absage an ein gewisses individuelles Entwicklungspotential bzw. an psychodynamische Bewältigungsstrategien. Das zeigt sich deutlich an den weiteren Ausführungen Erik Eriksons, auf die im Folgenden eingegangen wird.

2.1.3.3 Ich-Identität, Ganzheit, Wirk- und Zielursache

Wenn das Kind nicht zu sehr von Misstrauen geplagt werde und sich das Urver-trauen einigermaßen entwickeln könne, dann entfalte sich allmählich das Gefühl, „dass das Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare Zukunft zu ma-chen lernt und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt“ (Erikson 1981, S.  17). Dieses Gefühl beruhe auf „der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (ebd., S. 18). Der Satz ist eine Umschreibung für den Begriff „Ich-Iden-tität“, welcher einen zentralen Stellenwert in den Arbeiten Eriksons hat und nicht nur von Nachbardisziplinen wie der Entwicklungspsychologie und Persönlich-keitspsychologie rezipiert worden ist, sondern auch außerhalb des Fachdiskurses wahrgenommen wird. Das ist kein Zufall, denn Ich-Identität impliziert etwas Ganzheitliches und greift damit ein grundlegendes Bedürfnis des postmoder-nen Menschen auf, der mit Brüchen, Diskontinuitäten und Fragmentierungen zurande kommen muss, die für das Leben in der gegenwärtigen Gesellschaft ty-pisch sind (siehe dazu auch unter Punkt 2.11, Zukunftsdiskurs Nr. 11).

Die Ganzheitlichkeit ist ferner eng verknüpft mit der Frage nach dem bewuss-ten bzw. unbewussten Sinn und Ziel der menschlichen Existenz. Jeder lebende Organismus, so Erwin Wexberg, unterscheide sich von unbelebter Materie da-durch, dass er eine geschlossene Einheit bilde. Während man von einem Haufen Steine die Hälfte wegnehmen könne, ohne dass sich, abgesehen von der Menge, etwas an der Tatsache ändere, immer noch einen Steinhaufen vor sich zu haben, lasse sich ein Organismus nicht einfach spalten, weil er unteilbar, eben „in-divi-duum“ sei; anderenfalls hätte man tote Materie. Dementsprechend könne man ein Haus genauso dann als eine Ansammlung toter Materie ansehen, wenn man es aus der Perspektive von jemandem betrachte, welcher keine Häuser kenne und sie ihm demzufolge gleichgültig seien, etwa einem Höhlenbewohner. Für diesen bedeute „der in Trümmer gelegte Bau auch nicht weniger und nichts anderes als das unversehrte Gebäude. Für uns Häuserbewohner aber hat das Haus einen

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Sinn, weil wir diesem Haufen unbelebter Materie einen Zweck gegeben haben. So hat für uns das Haus eine Art Leben, freilich ein Leben, das wir ihm verliehen ha-ben. Und weil es im Sinn dieser erborgten Lebendigkeit organisiert ist, erscheint es uns als ein Ganzes“ (Wexberg 1987, S. 12 f.).

Demnach sind Zweck, Sinn oder Intentionalität eng mit Ganzheit verknüpft, aber ähnlich wie das Unbewusste handelt es sich dabei um Phänomene, welche mit dem klassischen Begriffs- und Methodeninstrumentarium der nomotheti-schen Wissenschaft nur unzulänglich erfasst werden können. Das wird von ihren Vertretern auch gar nicht bestritten. So schreibt etwa Jürgen Bortz, einer ihrer prominentesten Protagonisten, dass „Untersuchungsideen mit […] philosophi-schen Inhalten“, etwa Fragen nach dem „Sinn des Lebens“, dergestalt nicht er-forschbar seien (Bortz 1984, S. 15).

Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist diese Sichtweise aufs engste mit der Mechanisierung des Weltbilds verbunden, die sich seit dem Beginn der Frühen Neuzeit zu entfalten begann (Dijksterhuis 2002). (Ausführlicher dazu siehe unter Punkt 3.6, „Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht: ethnologisch-kul-turgeschichtliche und psychodynamische Aspekte“.) Moderne Kausalitätsvorstel-lungen beschränken sich auf die Kausalursache. Sie wird prägnant definiert als ein „Gegenstand, dem ein anderer folgt“, um die berühmte Formulierung David Humes aufzugreifen (Hume 1993, S. 92). Weitaus umfänglicher war und ist in-des die aristotelische Ursachenlehre, die außer der Wirkursache – der heutigen Kausalursache – vor allem die Zielursache berücksichtigt. Für Aristoteles geht es nicht allein um die Frage, woher etwas kommt (Wirkursache), sondern auch, was man bezweckt bzw. erreichen will (Zielursache) (Aristoteles 1999, I, 3); sie ist also in die Zukunft gerichtet. Da in der antiken und mittelalterlichen Naturphi-losophie die Zielursache aber auch auf subhumane Bereiche angewendet wurde, gelangte man damit rasch in den Bereich der Metaphysik, weswegen man sich im Zuge der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung von ihr zu verabschieden begann. Und in der Tat ist es wenig sinnvoll, sich zum Beispiel zu fragen, zu wel-chem Zweck ein Flugzeug abgestürzt ist, sondern nur, warum das geschehen ist. Doch im Bereich des Menschlichen ist diese Frage überhaupt nicht absurd, denn „der Mensch vermag sich Zwecke zu setzen und zu handeln, um diese Zwecke zu erreichen. Sein Handeln wird oftmals erst verstehbar, wenn man um das Ziel weiß, das mit dem erstrebten Endzustand einer Handlung gegeben ist“, schreibt der Philosoph Gregor Schiemann (Schiemann 2003; vgl. auch Spaemann/Löw 1981). Das gilt aber nicht allein für selbst gesetzte Zwecke, sondern auch für Er-eignisse, die uns ohne unser Zutun betreffen, und zwar vor allem dann, wenn es sich um bedeutende Geschehnisse handelt. Auch diese wollen verstanden und in Bezug zum eigenen Leben gesetzt werden, denn die Menschen neigen dazu, „die ihnen begegnenden Phänomene in Sach- und Entwicklungszusammenhänge ein-zuordnen, um ihnen dadurch den Stachel der Bedrohlichkeit zu nehmen“ (Köller 2004, S.  837). Implizit folgt daraus, sowohl die Wirk- als auch die Zielursache

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zu berücksichtigen, wenn man die Dinge, welche um einen herum geschehen, verstehen möchte.

Das gilt insbesondere für das weite Feld der Zukunftsangst, vor allem wenn Menschen bereits existentiell erschüttert sind, sei es durch einen Unfall, einen Terroranschlag oder eine Katastrophe. Derartige Ereignisse bedeuten einen mas-siven Einschnitt in der persönlichen Biographie, wodurch oftmals Zweifel am Sinn der eigenen Existenz hervorgerufen werden. Ferner drohen sie den „roten Faden“ zu zerreißen, das kontinuierliche Element der Ich-Identität und der Le-bensgeschichte. Eine traumatisierende Erfahrung wird daher als ein Einschnitt erlebt, der diese zunächst zu etwas Isoliertem, zu einem Fremdkörper und zu etwas Unverstandenem macht.

Da Entsprechendes auch für schwere seelische Erkrankungen gilt, braucht es nicht zu überraschen, dass sich die Psychotherapiewissenschaft als neue Disziplin unter anderem genau mit diesen Fragen befasst und darum bemüht ist, zu einem umfassenderen Verständnis des Menschen zu gelangen, als es in der Psychiatrie und klinischen Psychologie der Fall ist, die sich überwiegend am naturwissen-schaftlichen Kausalitätsverständnis orientieren (Fischer 2008, S. 31–38; Pritz 1996; Rieken/Gelo 2015).

2.1.3.4 Beispiele aus der Geschichte …

Das Bedürfnis, die Geschehnisse, welche einem begegnen, „in Sach- und Ent-wicklungszusammenhänge einzuordnen“, lässt sich auch historisch belegen, denn desaströse Erfahrungen werden seit jeher interpretiert, das heißt es wird nach ih-rer Wirkursache gefragt genauso wie nach der Zielursache. Letzteres ist zunächst kaum nachzuvollziehen, denn wie soll man zerstörerischen und damit sinnlosen Ereignissen einen Sinn abgewinnen?

Ein sich durch die Jahrhunderte durchziehendes Deutungsmuster für Katas-trophen ist die Behauptung, es handele sich dabei um ein göttliches Strafgericht. Nachdem im Jänner 1219 eine verheerende Sturmflut das friesische Küstenland heimgesucht hatte, notierte ein Augenzeuge, der Prämonstratenserabt Emo van Wittewierum, Folgendes in seiner Chronik:

„Eine Sintflut ereignet sich auch wegen unserer Verbrechen […]. Diese und ähnliche Dinge schrieb er [= Emo] in seinen Aufzeichnungen nieder, um beständig die großen Taten Gottes, sowohl die wunderbaren als auch die Schrecken erregenden, zu betrach-ten. Aber [er macht das] auch für dich, o Leser, damit jedermann ermahnt werde, auf einem Felsen und in der Höhe ein Haus mit Verstand zu errichten und etwas Festes zu machen als Gebälk für sein Haus“ (Emo van Wittewierum, S.  118, Absätze 44 f.; deutsche Übersetzung des lateinischen Originals aus Rieken 2005, S. 150).

Gott bestraft die Menschen wirkkausal „wegen unserer Verbrechen“, aber er ver-folgt auch eine Absicht, denn der Mensch soll durch das erfahrene Leid dazu

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bewegt werden, „ein Haus mit Verstand zu errichten“, das heißt künftighin got-tesfürchtig zu leben – das ist die Zielursache.

Ein anderes Beispiel: Als anno 1637 das niederschlesische Freystadt (heute: Kożuchów, Polen) in Flammen aufging, verfasste der erst 21-jährige Dichter And-reas Gryphius einen Prosabericht über das Desaster. Wirkkausal erklärt er es aus dem Wohlstand der Stadt, welcher die Menschen sorglos und übermütig gemacht habe (Gryphius 2006, S. 14). „Aber der allein vorwissende GOTT hat durch die-se Rechnung einen trefflichen Strich gezogen, vnd vns fühlen lassen, daß sein eiserner Scepter vnnd Straff=Besen zwar langsamb, aber dennoch mit mehrer Hefftigkeit sich vber den Rücken der Verbrecher funden“ (ebd.). Am Ende sei-nes Berichtes, in Zusammenhang mit der Zerstörung bedeutender Bibliotheken, macht sich Gryphius Gedanken über die „Nichtigkeit vnd vergängligkeit jrdi-scher Dinge“ und erinnert die Leser daran, „wie eitel“ und „wie schädlich alles diß sey, worauff Menschlicher Verstandt seine Zuversicht gründet“ (ebd., S. 34). Das Vanitas-Motiv, der Hinweis auf die Eitelkeit irdischen Daseins, ist zwar typisch für die Barockzeit, weist aber im Zusammenhang mit dem Strafargument über die Epoche hinaus: Die Menschen sollen nicht an irdischen Dingen kleben, son-dern sich den „wahren“ Werten zuwenden, nämlich den Ideen der christlichen Weltanschauung – das ist die zielkausale Botschaft.

2.1.3.5 … und aus der Gegenwart

Die Beispiele könnten hundertfach vermehrt werden, allein die beiden erwähn-ten genügen bereits, um deutlich zu machen, dass es insbesondere in Zeiten der Unsicherheit und Not den Menschen dazu drängt, das Geschehene um sich herum zu begreifen. Nur ein weiterer Aspekt sei erwähnt: In landschaftlich expo-nierten Regionen, die immer wieder von Katastrophen heimgesucht wurden bzw. werden, findet man besonders häufig Erzählungen über das „zweite Gesicht“, also das Vermögen, in die Zukunft zu schauen, um dergestalt gewappnet zu sein ge-genüber den Unbilden der Natur (Rieken 2005, S. 259–265).

Der Wunsch, die Dinge um sich herum zu erklären und zu verstehen, ist kein Privileg vergangener Epochen, wie der Umgang mit dem anthropogenen Klima-wandel, der gleichsam milderen Variante einer Katastrophe, in der populären Wahrnehmung zeigt. Er erzeugt Unsicherheit, widersetzt sich dem oknophilen Bedürfnis nach stabilen Verhältnissen und schwebt wie eine bedrohliche Gewit-terwolke über dem Planeten. Die wirkkausale Erklärung ist bekannt, der Klima-wandel steht in Zusammenhang mit dem Anstieg des Kohlendioxidgehalts durch die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl oder Erdgas. Die daraus resultierende Erderwärmung wird verantwortlich gemacht für Klimaanomalien und eine tatsächliche oder vermeintliche Zunahme von Naturkatastrophen. In der öffentlichen Meinung wird dagegen oftmals zielkausal argumentiert, indem die Natur anthropomorphisiert und zur Rächerin für das wird, was man ihr antut.

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So lautet etwa ein Sachbuchtitel: „Die Erde schlägt zurück. Wie der Klimawandel unser Leben verändert“ (Hutter/Goris 2009). Katastrophen sind in dieser Lesart zwar keine Strafe Gottes mehr für unchristliches Verhalten, aber eine „Strafe“ der Natur für „sündiges“ Umweltverhalten, und sie sollen den Menschen fortan zu ei-nem verantwortungsbewussteren Leben animieren. Wirkkausal und intentional betrachtet handelt es sich also um die gleiche Argumentationsstruktur (Rieken 2010b).

2.1.3.6 Unbewusste Inhalte, Intentionalität sowie Aspekte einer ganzheitlichen Betrachtung in qualitativen Interviews

Im wissenschaftlichen Diskurs wird auf der Folie des mechanistischen Weltbilds vor allem das diskutiert, was „sichtbar“ vorhanden und beeinflussbar ist. Es wer-den Risikoanalysen erstellt, es werden Pläne zum Krisenmanagement entworfen und selbstverständlich auch konkrete bauliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergriffen, etwa Lawinenverbauungen oder Deicherhöhungen an Flüssen und an der Küste. All das ist sinnvoll und notwendig und soll keines-wegs infrage gestellt werden, doch der Wunsch, künftighin in Sicherheit zu leben, umfasst aus unserer Perspektive weitere Facetten, weil es auch um die Innenseite der betroffenen Individuen, die persönliche Beschäftigung mit dem Geschehen geht. Da die Auseinandersetzung insbesondere bei traumatisierenden Erfahrun-gen mitunter langwierig sein kann, ist es angemessen, erst im Nachhinein, nach einem längeren Zeitraum, in Erfahrung zu bringen, ob und inwieweit die Erleb-nisse bewältigt worden sind.

Im Jahre 1999 wurde der Tiroler Urlaubsort Galtür von einer bisher nie dage-wesenen Lawinenkatastrophe heimgesucht. Neun Jahre später habe ich (= Bernd Rieken, B. R.) Interviews mit Einheimischen geführt, in denen vor allem der Fra-ge nachgegangen wurde, inwieweit sie das Desaster verarbeitet haben (Rieken, 2010a; vgl. auch Rieken 2015a; Rieken 2015d). Entgegen anfänglicher Skepsis kam ich (B. R.) zu dem Ergebnis, dass die Bewohner mit dem Geschehen erstaunlich gut umgegangen sind, da sie eine hohe Resilienz zeigen, die vor allem mit menta-len Faktoren zusammenhängt. Zum einen verfügen sie über eine funktionierende Dorfgemeinschaft als soziales Netz, zum zweiten über eine tief verankerte Welt-anschauung, die ihnen Sinn vermittelt, die katholische Religion. Und drittens haben die Galtürer genau das getan, was ihnen jeder Psychotherapeut geraten hätte, nämlich über die dramatischen Erlebnisse so ausführlich zu sprechen, bis sie sich davon einigermaßen befreit fühlten – statt die Erlebnisse einfach „unter den Teppich zu kehren“, wie es leider allzu oft geschieht, wenn einzelne Personen oder Gemeinschaften von Katastrophen getroffen werden. Das ist auch deswegen interessant, weil der Katholizismus psychotherapeutischen Zugängen – also der Linderung von seelischem Leid mithilfe von Worten und einer positiven Bezie-hung zum Gesprächspartner – in der Regel mit Ressentiments begegnet.