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Anwaltshaftung Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung Tipps für die Nichtzulassungsbeschwerde und die Verfassungsbeschwerde Rechtsanwalt Dirk Wüstenberg, Offenbach a.M. Nicht immer lassen die Berufungsgerichte bei einer Rechts- sache von grundsätzlicher Bedeutung die Revision zu. Über Gründe und Motive mögen Anwältinnen und Anwälte gerne spekulieren, viel wichtiger ist es dann, die Nichtzulassungs- beschwerde handwerklich so vorzubereiten, dass sie zulässig und begründet ist. Wenn der Weg zur Revision nach einer Verwerfung der Berufung als unbegründet wegen des Nicht- erreichens des Beschwerdewerts von 20.000 Euro versperrt ist, bleibt die Verfassungsbeschwerde möglich. Auch wenn Anwältinnen und Anwälte aus den Instanzen aufgrund des Zwangs zur Einschaltung eines BGH-Anwalts keine Nicht- zulassungsbeschwerden zum BGH einlegen können, sind Grundkenntnisse der Nichtzulassungsbeschwerde für Pro- zessanwälte wichtig. Zum einen können sie so die Erfolgsaus- sichten der Beauftragung eines BGH-Anwalts vorab klären. Zum anderen kann die Verfassungsbeschwerde – wenn der Weg zum BGH versperrt ist – ohne Anwaltszwang von jeder Person eingelegt werden. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG be- gründet das Recht einer Partei eines Zivilgerichtsverfahrens auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Das Berufungs- gericht kann dieses Recht durch einen Zurückweisungs- beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO oder durch die Nichtzulas- sung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO verletzen, so dass es den Zugang zur Berufungs- beziehungsweise Revisions- instanz unzumutbar einschränkt. Dem Beschwerten bleibt dann nur das Recht, die Nichtzulassungsbeschwerde bezie- hungsweise die Verfassungsbeschwerde zu erheben. Weil die meisten der eingereichten Beschwerden schon wegen nicht hinreichender Darlegung der Sach- und Rechtslage zurück- gewiesen werden, stellt sich die Frage, was die Anwälte hand- werklich falsch machen, nachdem sich die Berufungsrichter falsch entschieden hatten. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, worauf es formell ankommt. I. Einleitung Nach § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO ist die Revision zuzulassen, wenn erstens die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder zweitens die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisi- onsgerichts erfordert. Hat das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen, kann beim Revisionsgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung zulässig erhoben werden, sofern das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat (§ 26 Nr. 8 S. 2 EGZPO) oder sofern das Berufungsgericht die Berufung als unbegründet zurückgewiesen hat und der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 Euro übersteigt (§ 26 Nr. 8 S. 2, S. 1 EGZPO). In den Fällen, in denen die Berufung zulässig ist und der Streitwert im Berufungsverfahren nicht über 20.000 Euro liegt, hängt die Zulässigkeit der Revision also stets von der Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht ab; der Beschwer- wert für das Revisionsverfahren kann dann nicht erreicht wer- den. Beschwer ist die Differenz des Begehrens zwischen dem Begehren nach dem Berufungsurteil und dem Antrag im be- absichtigten Revisionsverfahren. Beschwerwert ist der Wert des Beschwerdegegenstands, um den sich der Beschwerde- führer mittels Revision verbessern möchte, das heißt, der (Be- schwer-)Wert für das Revisionsverfahren, der Rechtsmittel- streitwert im Revisionsverfahren (§ 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO). 1 Im Fall des Beschwerwerts von nicht über 20.000 Euro ver- bleibt der unterlegenen Partei allein die Möglichkeit der Erhe- bung der Verfassungsbeschwerde. Aus der Tatsache, dass in der Verfassungsbeschwerdebegründung die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO dargelegt werden müssen, ergibt sich eine zweiteilige Prüfung und Anwaltspflicht. Zu beachten ist, dass die zu überschreitende Revisions- schwelle von 20.000 Euro nach § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO nur bis 30. Juni 2018 gilt. Im Falle einer Nichtverlängerung also dann stets der Weg zur Nichtzulassungsbeschwerde eröffnet wird. In den vergangenen 15 Jahren hat der Gesetzgeber immer da- für gesorgt, dass diese als Übergangsrecht bezeichnete Son- derregelung rechtzeitig vor Ablauf verlängert wurde. II. Grundsätzliche Bedeutung BGH und BVerfG definieren den Begriff so: „Einer Rechts- sache kommt grundsätzliche Bedeutung zu, wenn die Sache eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage auf- wirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der All- gemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Hand- habung des Rechts berührt.“ 2 Der BGH fügt in diese Definiti- on noch das Wort „entscheidungsfähige [Rechtsfrage]“ ein 3 und vermengt damit den Zulassungsgrund „grundsätzliche Bedeutung“ der Rechtssache nach § 543 ZPO mit der Ent- scheidungserheblichkeit der Rechtsfrage nach § 545 Abs. 1 ZPO. Im Ergebnis wirkt sich diese Vermengung nicht aus, weil beide Punkte Voraussetzung der Begründetheit der Be- schwerde sind. Gelegentlich nimmt der BGH sogar noch die Erfolgsaussichten der Revision in die Definition auf. 4 Doch diese darf erst in dem dem Beschwerdeverfahren gegebenen- falls nachfolgenden Revisionsverfahren geprüft werden. 1. Klärungsfähigkeit Klärungsfähigkeit bedeutet die Möglichkeit, dass das Revisi- onsgericht die Rechtsfrage beantworten wird. 5 Die Frage muss einer Rechtsmaterie zugehören, über welche das Revisi- Aufsätze 140 AnwBl Online 2018 Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung, Wüstenberg 1 Vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2002 – V ZR 148/02, NJW 2002, 2721 = MDR 2002, 1331. 2 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, NJW 2009, 572 = DVBl 2009, 41 Rn. 19; BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 16; OLG Frankfurt/ Main, Urt. v. 30.9.2014 – 14 U 201/13, GRUR-RR 2015, 308 = WRP 2015, 115 Rn. 41. 3 BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = NJW 2003, 1943 = MDR 2003, 822; BGH, Urt. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = NJW 2003, 65 = MDR 2003, 104. 4 Z.B. BGH, Urt. v. 18.7.2003 – V ZR 187/02, NJW 2003, 3205 = MDR 2004, 48. 5 Vgl. BSG, Beschl. v. 16.2.2011 – B 7 AL 156/10 B, JurionRS 2011, 13661: „dass das an- gestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt“.

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Revision: Die grundsätzlicheBedeutung der Rechtssacheals HerausforderungTipps für die Nichtzulassungsbeschwerdeund die VerfassungsbeschwerdeRechtsanwalt Dirk Wüstenberg, Offenbach a.M.

Nicht immer lassen die Berufungsgerichte bei einer Rechts-sache von grundsätzlicher Bedeutung die Revision zu. ÜberGründe und Motive mögen Anwältinnen und Anwälte gernespekulieren, viel wichtiger ist es dann, die Nichtzulassungs-beschwerde handwerklich so vorzubereiten, dass sie zulässigund begründet ist. Wenn der Weg zur Revision nach einerVerwerfung der Berufung als unbegründet wegen des Nicht-erreichens des Beschwerdewerts von 20.000 Euro versperrtist, bleibt die Verfassungsbeschwerde möglich. Auch wennAnwältinnen und Anwälte aus den Instanzen aufgrund desZwangs zur Einschaltung eines BGH-Anwalts keine Nicht-zulassungsbeschwerden zum BGH einlegen können, sindGrundkenntnisse der Nichtzulassungsbeschwerde für Pro-zessanwälte wichtig. Zum einen können sie so die Erfolgsaus-sichten der Beauftragung eines BGH-Anwalts vorab klären.Zum anderen kann die Verfassungsbeschwerde – wenn derWeg zum BGH versperrt ist – ohne Anwaltszwang von jederPerson eingelegt werden.

Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG be-gründet das Recht einer Partei eines Zivilgerichtsverfahrensauf Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Das Berufungs-gericht kann dieses Recht durch einen Zurückweisungs-beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO oder durch die Nichtzulas-sung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO verletzen, so dasses den Zugang zur Berufungs- beziehungsweise Revisions-instanz unzumutbar einschränkt. Dem Beschwerten bleibtdann nur das Recht, die Nichtzulassungsbeschwerde bezie-hungsweise die Verfassungsbeschwerde zu erheben. Weil diemeisten der eingereichten Beschwerden schon wegen nichthinreichender Darlegung der Sach- und Rechtslage zurück-gewiesen werden, stellt sich die Frage, was die Anwälte hand-werklich falsch machen, nachdem sich die Berufungsrichterfalsch entschieden hatten. In diesem Beitrag wird aufgezeigt,worauf es formell ankommt.

I. Einleitung

Nach § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO ist die Revision zuzulassen, wennerstens die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oderzweitens die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einereinheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisi-onsgerichts erfordert. Hat das Berufungsgericht die Revisionnicht zugelassen, kann beim Revisionsgericht die Beschwerdegegen die Nichtzulassung zulässig erhoben werden, soferndas Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfenhat (§ 26 Nr. 8 S. 2 EGZPO) oder sofern das Berufungsgerichtdie Berufung als unbegründet zurückgewiesen hat und der

Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer20.000 Euro übersteigt (§ 26 Nr. 8 S. 2, S. 1 EGZPO). In denFällen, in denen die Berufung zulässig ist und der Streitwertim Berufungsverfahren nicht über 20.000 Euro liegt, hängtdie Zulässigkeit der Revision also stets von der Zulassungder Revision durch das Berufungsgericht ab; der Beschwer-wert für das Revisionsverfahren kann dann nicht erreicht wer-den.

Beschwer ist die Differenz des Begehrens zwischen demBegehren nach dem Berufungsurteil und dem Antrag im be-absichtigten Revisionsverfahren. Beschwerwert ist der Wertdes Beschwerdegegenstands, um den sich der Beschwerde-führer mittels Revision verbessern möchte, das heißt, der (Be-schwer-)Wert für das Revisionsverfahren, der Rechtsmittel-streitwert im Revisionsverfahren (§ 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO).1

Im Fall des Beschwerwerts von nicht über 20.000 Euro ver-bleibt der unterlegenen Partei allein die Möglichkeit der Erhe-bung der Verfassungsbeschwerde. Aus der Tatsache, dass inder Verfassungsbeschwerdebegründung die Voraussetzungendes § 543 Abs. 2 ZPO dargelegt werden müssen, ergibt sicheine zweiteilige Prüfung und Anwaltspflicht.

Zu beachten ist, dass die zu überschreitende Revisions-schwelle von 20.000 Euro nach § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO nur bis30. Juni 2018 gilt. Im Falle einer Nichtverlängerung also dannstets der Weg zur Nichtzulassungsbeschwerde eröffnet wird.In den vergangenen 15 Jahren hat der Gesetzgeber immer da-für gesorgt, dass diese als Übergangsrecht bezeichnete Son-derregelung rechtzeitig vor Ablauf verlängert wurde.

II. Grundsätzliche Bedeutung

BGH und BVerfG definieren den Begriff so: „Einer Rechts-sache kommt grundsätzliche Bedeutung zu, wenn die Sacheeine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage auf-wirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fällestellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der All-gemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Hand-habung des Rechts berührt.“2 Der BGH fügt in diese Definiti-on noch das Wort „entscheidungsfähige [Rechtsfrage]“ ein3

und vermengt damit den Zulassungsgrund „grundsätzlicheBedeutung“ der Rechtssache nach § 543 ZPO mit der Ent-scheidungserheblichkeit der Rechtsfrage nach § 545 Abs. 1ZPO. Im Ergebnis wirkt sich diese Vermengung nicht aus,weil beide Punkte Voraussetzung der Begründetheit der Be-schwerde sind. Gelegentlich nimmt der BGH sogar noch dieErfolgsaussichten der Revision in die Definition auf.4 Dochdiese darf erst in dem dem Beschwerdeverfahren gegebenen-falls nachfolgenden Revisionsverfahren geprüft werden.

1. Klärungsfähigkeit

Klärungsfähigkeit bedeutet die Möglichkeit, dass das Revisi-onsgericht die Rechtsfrage beantworten wird.5 Die Fragemuss einer Rechtsmaterie zugehören, über welche das Revisi-

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140 AnwBl Online 2018 Revision: Die grundsätzl iche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung, Wüstenberg

1 Vgl. BGH, Beschl. v. 27.6.2002 – V ZR 148/02, NJW 2002, 2721 = MDR 2002, 1331.

2 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, NJW 2009, 572 = DVBl 2009, 41 Rn. 19;BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 16; OLG Frankfurt/Main, Urt. v. 30.9.2014 – 14 U 201/13, GRUR-RR 2015, 308 = WRP 2015, 115 Rn. 41.

3 BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = NJW 2003, 1943 = MDR2003, 822; BGH, Urt. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = NJW 2003, 65 = MDR2003, 104.

4 Z.B. BGH, Urt. v. 18.7.2003 – V ZR 187/02, NJW 2003, 3205 = MDR 2004, 48.

5 Vgl. BSG, Beschl. v. 16.2.2011 – B 7 AL 156/10 B, JurionRS 2011, 13661: „dass das an-gestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt“.

Page 2: Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der …...AA nn ww aa ll tt ss hh aa ff tt uu nn gg Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung Tipps für die

onsgericht (noch) zu entscheiden hat (im Ergebnis § 545Abs. 1 ZPO). Zu diesen Materien zählen die Vorschriften desBundes einschließlich des Grundgesetzes, nicht jedoch dieVorschriften, welche allein vom Berufungsgericht anzuwen-den sind (545 Abs. 2 ZPO).6 Das BVerfG subsumiert im Ver-fassungsbeschwerdeverfahren kurz: „Die entscheidungs-erhebliche Rechtsfrage war klärungsfähig, da sie die Aus-legung des § … BGB, also Bundesrecht und damit revisiblesRecht im Sinne des § 545 Abs. 1 ZPO betrifft.“7

2. Klärungsbedürftigkeit

„Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beant-wortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auf-fassungen vertreten werden und die noch nicht oder nichthinreichend höchstrichterlich geklärt sind. Dementsprechendkann auch eine Rechtsfrage, die in der Vorinstanz nicht gese-hen worden ist und nicht Gegenstand eines Meinungsstreitsist, klärungsbedürftig sein. Umgekehrt vermag nicht jede Ge-genstimme Klärungsbedarf zu begründen.“8 Es kommt alsonicht auf die Anzahl/Quantität der Stimmen an, sondern aufdie Qualität der Gegenargumentation. Auch die Frage, wer ar-gumentiert, ist ohne Einfluss. „Hat der Bundesgerichtshofeine Rechtsfrage bereits geklärt, kann sich weiterer Klärungs-bedarf ergeben, wenn nicht nur einzelne Instanzgerichte oderLiteraturstimmen der Auffassung des Bundesgerichtshofsweiterhin widersprechen oder wenn neue Argumente insFeld geführt werden, die den Bundesgerichtshof zu einerÜberprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten“9 DerBGH hat also nicht per se immer Recht, sondern die Möglich-keit, seine frühere Entscheidung zu hinterfragen. Die Aus-sagen des BVerfG zur Klärungsbedürftigkeit lassen sich zu-sammenstellen:

Sachverhalt: Der BGH hat die Rechtsfragebereits entschieden.

Der BGH hat die Rechtsfragenoch nicht entschieden.

Klärungs-bedürftigkeit:

Es wird seit der BGH-Ent-scheidung ein neues Argumentvorgebracht, welches denBGH dazu veranlassen kann,seine Ansicht zu überprüfen[Beispiele: Seit der letztenBGH-Entscheidung gab esz.B. eine Entscheidung desBVerfG, z.B. eine Gesetzes-änderung, z.B. einen Mei-nungsstreit mit Kritik an derBGH-Entscheidung].

Die Richtigkeit der Beantwor-tung der Rechtsfrage durchdas Berufungsgericht ist – beifehlendem Meinungsstreit –zweifelhaft [Beispiele: unklarerZweck der in Rede stehendenVorschrift, unklarer Umfangdes Anwendungsbereichsoder systematisches Verhältnisder Vorschrift] oder – bei Mei-nungsstreit – strittig [abwei-chende Auffassung mindes-tens einer plausiblen Stimmein Rechtsprechung und/oderLiteratur].

Unbeachtlich: Umstand, ob das neue Argument in der Vorinstanz gesehenworden ist.

Umstand, ob die Rechtsfrage Gegenstand eines Meinungs-streits ist.

Klärungsbedürftig heißt, verkürzt ausgedrückt, dass die ernst-hafte Möglichkeit besteht, dass das Revisionsgericht andersentscheiden wird als das Berufungsgericht.

Die Klärungsbedürftigkeit ist nicht eine allen Zulassungs-gründen des § 543 Abs. 2 ZPO gemeinsame, gleichsam vor-gezogene Tatbestandsvoraussetzung, sondern die erste Teil-voraussetzung des Zulassungsgrundes „grundsätzliche Be-deutung“. Denn als gemeinsame Voraussetzung passt sienicht zum Zulassungsgrund „Sicherung einer einheitlichenRechtsprechung“ (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Var. 2 ZPO). Denngibt es in einem Fall bereits eine frühere Entscheidung desRevisionsgerichts (Tabelle linke Spalte), jedoch noch keine

unterschiedlichen Berufungsgerichtsentscheidungen und da-mit noch keine Uneinheitlichkeit, dann wäre die Definitionder Klärungsbedürftigkeit (hier: ein neues Argument) falsch.Allein die Klärungsfähigkeit stellt eine gemeinsame Tat-bestandsvoraussetzung aller Zulassungsgründe dar.

3. Vielzahl von Fällen

Die Rechtsfrage muss sich in einer Vielzahl von Fällen stellenkönnen.10 Das Berufungsgericht muss einen allgemeinenRechts- und Erfahrungssatz aufgestellt, das heißt seine Ent-scheidung nicht maßgeblich auf Umstände des Einzelfalls ge-stützt haben.11. Die Sachverhaltskonstellation darf keine au-ßergewöhnliche sein.12 Dies bedeutet in der Praxis, dass dieRechtsfrage als Leitsatz formuliert werden können muss.13 Al-lein dieser qualitative Gesichtspunkt zählt. Daraus, dass dieVielzahl quantitativ eine kleine oder eine große ist, kommtes nicht an. Die tatsächlichen Fallzahlen spielen bei der Leit-satzformulierung keine Rolle.14 Die Rechtsfrage darf sichnicht bloß in einem einzelnen Fall stellen.15

4. Qualitative Gewichtung der vom Berufungsgericht außerAcht gelassenen Argumentation

Die Rechtsfrage muss darüber hinaus bedeutsam im Sinne ei-ner qualitativen Gewichtung sein. Dem Gesetzgeber geht esum die Ernsthaftigkeit der rechtlichen Gegenargumente: „wirdauch bei vorliegender Rechtsprechung eine klärungsbedürfti-ge Rechtsfrage und damit die grundsätzliche Bedeutung derRechtssache anzunehmen sein, wenn entweder die Instanzge-richte dem Bundesgerichtshof weitgehend nicht folgen oderim Schrifttum ernst zu nehmende Bedenken gegen diehöchstrichterliche Rechtsprechung geäußert werden, um derGefahr einer Rechtserstarrung entgegenzuwirken.“16 Es gilteine Grundsatz-Ausnahme-Regelung: Hat der BGH dieRechtsfrage bereits entschieden, ist die Rechtsfrage grund-sätzlich geklärt und nicht mehr von Bedeutung. Ausnahms-weise ist sie es gleichwohl, wenn die Qualität der Gegenargu-mentation signifikant ist, so dass der BGH sich zu einer Än-derung seiner Rechtsprechung veranlasst sehen könnte.

Hat der BGH die Rechtsfrage hingegen noch nicht ent-schieden, ist die Rechtsfrage grundsätzlich von Bedeutungim Sinne des § 543 ZPO und ausnahmsweise dann nicht,wenn keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit der Beant-wortung der Rechtsfrage durch das Berufungsgericht verblei-ben – etwa weil es im Schrifttum nur eine Stimme gibt, wel-che zudem eine Begründung vermissen lässt.17 Die Entschei-dung, ob der Grundsatz oder ob die Ausnahme zum Tragenkommt, setzt eine Wertung voraus.18 Mit anderen Worten:Das vom Berufungsgericht außer Acht gelassene Gegenargu-

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6 BGH, Beschl. v. 22.1.2004 – V ZR 187/03, NJW 2004, 1458 – zu § 531 Abs. 2 ZPO.

7 BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 19; BVerfG,Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 23.

8 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 19.

9 BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 16 u. 22f.

10 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 22.

11 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 22.

12 BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 18.

13 BT-Drs. 14/4722, 104.

14 Traut, Der Zugang zur Revision in Zivilsachen, 2006, 124f.

15 I.E. BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = NJW 2003, 1943 = MDR2003, 822.

16 BT-Drs. 14/4722, 104.

17 BGH, Beschl. v. 6.3.2014 – I ZR 211/12, NJW-RR 2014, 354 = GRUR-RR 2014, 129.

18 Traut (Fn. 14), 128.

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Page 3: Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der …...AA nn ww aa ll tt ss hh aa ff tt uu nn gg Revision: Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung Tipps für die

ment darf nicht völlig abwegig sein, sondern muss ernst ge-nommen werden können.

5. Zeitpunkt der Beurteilung

Das Revisionsgericht prüft die Sach- und Rechtslage für denZulassungsgrund nach dem Recht, welches zum Zeitpunktder letzten mündlichen Verhandlung des Revisionsgerichtsüber die Beschwerde gilt (allgemeiner Grundsatz des Rechts-mittelrechts).19 Ein etwaiger juristischer Meinungsstreit wieeine Kritik an der früheren BGH-Rechtsprechung muss des-halb nicht schon zum Zeitpunkt der Berufungsgerichtsent-scheidung bestanden haben. Hierzu korrelierend führt dasspätere Entfallen des Meinungsstreits und damit des Zulas-sungsgrundes zur Unbegründetheit der Beschwerde – grund-sätzlich. Eine Ausnahme gilt für diejenigen Beschwerdefälle,in denen der Zulassungsgrund nach dem Einlegen der Be-schwerde wegen zwischenzeitlicher Entscheidung des Revisi-onsgerichts in einem anderen Gerichtsverfahren oder wegenzwischenzeitlicher Gesetzesänderung entfallen ist. Derartigeaus Sicht des Beschwerdeführers außerhalb des Beschwerde-verfahrens liegenden Umstände dürfen wegen des Gebotsder Rechtsmittelklarheit und des Gebots der Messbarkeitund Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns dem Beschwerde-führer nicht zum Nachteil gereichen.20 Die Ausnahme wirktsich letztlich nur auf die Kostentragung im Beschwerdever-fahren aus.

Das Revisionsgericht prüft – streng genommen – nur denZulassungsgrund und nicht auch die Erfolgsaussichten dernoch nicht eingelegten Revision. Es beurteilt deshalb die vor-getragene Gegenargumentation (Meinungsstreit usw.) ausSicht des Berufungsgerichts (vgl. § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2S. 2 ZPO), nicht aus Sicht des Revisionsgerichts.21

6. Ergebnis

Die Rechtsfrage ist von grundsätzlicher Bedeutung, wenn dieAntwort auf diese eine Unklarheit in der Rechtsanwendungbeseitigen würde und als Leitsatz formuliert werden kann.Eine frühere BGH-Entscheidung zu dieser Rechtsfrage istein formelles Indiz gegen die Bedeutung, anderslautendeRechtsprechung und Literatur sind ein formelles Indiz fürdiese. Es kommt auf die qualitative Wertung der Gegenargu-mentation aus der Perspektive der Berufungsgerichte an.

III. Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage

Die Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung muss auch eineentscheidungserhebliche sein. Entscheidungserheblichkeitbedeutet, dass das Berufungsgericht nicht nur eine Rechts-norm nicht oder nicht richtig angewendet haben muss (§ 545Abs. 1 ZPO), sondern dass es, wenn es die in Rede stehendeRechtsfrage anders beantwortet hätte, auch ein anderes Ent-scheidungsergebnis hätte verkünden müssen (Tatbestands-merkmal „beruhen“). Der Rechtsanwendungsfehler musssich auf das Urteilsergebnis auswirken.

Das Revisionsgericht prüft die Sach- und Rechtslage fürdie Entscheidungserheblichkeit ebenfalls aus Sicht des Beru-fungsgerichts im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhand-lung des Revisionsgerichts. Nach § 543 Abs. 2 S. 2 ZPO ist dieBeurteilungsmacht des Revisionsgerichts zwar nur betreffenddas Bestehen eines Zulässigkeitsgrundes aufgehoben, dochbei konsequenter Anwendung dieser Sichtweise muss diesauch für die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit gelten.

IV. Darlegung

Der Beschwerdeführer muss den Zulassungsgrund darlegen(§ 544 Abs. 2 S. 2 ZPO), das heißt benennen und zu dessenVoraussetzungen substantiiert vortragen.22 Das Revisions-gericht muss „in die Lage versetzt werden, allein anhand derLektüre der Beschwerdebegründung und des Berufungs-urteils die Voraussetzungen für die Zulassung zu prüfen. Essoll davon entlastet werden, die Voraussetzungen der Zulas-sung anhand der Akten ermitteln zu müssen“.23 Die bloße Be-hauptung, die Streitsache habe grundsätzliche Bedeutung(§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO)24, und der Hinweis „Hinzuzie-hung der Gerichtsakte X“ genügen nicht. Wer die Nichtzulas-sungsbeschwerde einlegt, verfolgt nicht bloß das Ziel, dassdas angefochtene Berufungsurteil um die Tenorziffer „DieRevision wird zugelassen.“ ergänzt wird. Sondern er legt sieein, um in einem weiteren Schritt die Revision zu erheben.Der Anwalt muss auf beide Schritte eingehen.

1. Umfang

Deshalb muss er mit Blick auf beide Vorschriften (§§ 543, 545ZPO) darlegen:• Erstens: Die Rechtsfrage mit Leitsatztauglichkeit und dendiesbezüglichen Sachverhalt in wenigen Sätzen.• Zweitens: Die Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage (revisi-bles Recht).• Drittens: Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssachemit Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage (neues Argumentbeziehungsweise Ungeklärtheit der Rechtsanwendung), Viel-zahl der Fälle und qualitativer Gewichtung der Gegenargu-mentation.• Viertens: Die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage.

Die Punkte Drittens und Viertens sind auf den Zeitpunktdes Einlegens der Beschwerde zu beziehen und später gege-benenfalls zu aktualisieren.

2. Beispielsfall

Ein Taxifahrer hält mit dem von ihm gefahrenen Taxi auf ei-nem Platz innerhalb seiner Betriebssitzgemeinde an, umdort auf potentielle Fahrgäste zu warten. Der Platz, auf wel-chem er mit dem Taxi verweilt, ist kein behördlich gekenn-zeichneter Taxistand im Sinne des § 41 StVO in Verbindungmit Anlage 2 Nr. 15 zu § 41 StVO, sondern der Vorplatz vor ei-nem Hotel. Das amtliche Straßenverkehrsschild „Taxistand“fehlt. Das Berufungsgericht verkündet Anfang 2017, dass die-ses Bereithalten des Taxis rechtswidrig war, und lässt die Revi-sion nicht zu.

Der Anwalt wird für seinen Mandanten vortragen:• Die Rechtsfrage heißt: Sind die Taxifahrer, die ihr Taxi in-nerhalb der Betriebssitzgemeinde bereithalten und damit ei-nen Beförderungsvertrag anbahnen (invitatio ad offerendum)nach § 47 Abs. 1 S. 1 PBefG verpflichtet, ihr Taxi zwecks Be-reithaltens nur auf behördlich zugelassenen (und behördlichgekennzeichneten) Taxihalteplätzen aufzustellen, also be-

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142 AnwBl Online 2018 Revision: Die grundsätzl iche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung, Wüstenberg

19 Seit BGH, Beschl. v. 8.9.2004 – V ZR 260/03, NJW 2005, 154 = MDR 2005, 104.

20 BGH, Beschl. v. 8.9.2004 – V ZR 260/03, NJW 2005, 154 = MDR 2005, 104.

21 In der Praxis offenbar nicht immer so; Fn. 4.

22 BGH, Beschl. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = NJW 2003, 65 = MDR 2003,104; BGH, Beschl. v. 1.7.2013 – IX ZR 226/12, Rn. 3.

23 BGH, Beschl. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = NJW 2003, 65 = MDR 2003,104.

24 BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = NJW 2003, 1943 = MDR2003, 822.

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stimmte Orte der Vertragsanbahnung zu betreten bezie-hungsweise zu vermeiden? Darf das Taxi also nirgendwosonst bereitgehalten werden? In einem wettbewerbsrecht-lichen Verfahren stellt sich zudem noch die Rechtsfrage: Ge-setzt den Fall, dass die Rechtsfrage 1 zu bejahen ist, ist Zweckdes § 47 PBefG auch/sekundär ein wettbewerbsbezogener?Darf der Konkurrent also nach § 47 Abs. 1 S. 1 PBefG in Ver-bindung mit § 3a UWG wettbewerbsrechtlich gegen den Ver-letzer vorgehen (oder verbleibt es beim Ordnungswidrigkeits-recht)?• Klärungsfähigkeit besteht: Die Rechtsfragen können vomRevisionsgericht durch Auslegung des § 47 PBefG unter Be-achtung der allgemein anerkannten Auslegungskriterien be-antwortet werden. Sie ergeben sich aus materiellem Bundes-recht, sind jeweils revisibel.• Zur Klärungsbedürftigkeit: Die Rechtsfragen 1 und 2 sindvom BGH bisher noch nicht entschieden worden und stehenim Streit. Der BGH hat bisher nur zu einer abweichendenFallkonstellation25, nämlich zum Bereithalten eines Taxis au-ßerhalb der Betriebssitzgemeinde entschieden (das heißt zu§ 47 Abs. 2 PBefG).26 Die Rechtsfrage 1 ist im Jahre 2010 imRahmen des Bußgeldrechts vom OLG Hamburg bejaht wor-den.27 Die Rechtsfrage 2 ist im Jahre 2014 vom OLG Hamburgunter Hinweis auf eine Entscheidung des BVerwG aus demJahre 1980 als „umfassend geklärt“ eingestuft und bejaht wor-den.28 Das OLG Frankfurt/Main hat im Jahre 2016 die beidenRechtsfragen ohne nähere Begründung bejaht und in einerEntscheidung aus dem Jahre 2017 alle Rechtsfragen als „hin-reichend geklärt“ bezeichnet.29 Beide Rechtsauffassungenwurden bis 2015 nicht hinterfragt.30 In der im Jahre 2016 er-schienenen Literatur werden die beiden Rechtsfragen nun-mehr mit folgenden Begründungen in einen Meinungsstreitgebracht: Die Rechtsprechung aus der Zeit bis 1983/1984 seiwegen einer Gesetzesänderung im Jahre 1983 veraltet. DerGesetzgeber habe das in der Zeit vom 1.6.1961 bis 30.9.1983geltende Gebot/Verbot (§ 47 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 PBefG a.F.)1983 ersatzlos gestrichen. § 47 Abs. 1 PBefG n.F. enthalte le-diglich eine Definition, und der Ordnungswidrigkeitstat-bestand § 61 PBefG führe § 47 Abs. 1 PBefG nicht auf.31 DieLänder dürften dieses Entfallenlassen des Gebots/Verbotsnicht wieder einführen über § 47 Abs. 3 PBefG n.F. Dennder Ermächtigungsrahmen lasse nur Konkretisierungen derBundesregelung zu (Tatbestandsmerkmale „Umfang“, „auf“und „Einzelheiten“).32 Das generelle Gebot/Verbot auf Lan-desebene würde wegen Überschreitung des Ermächtigungs-rahmens des § 47 Abs. 3 S. 1 PBefG nichtig sein.33

Auch die Rechtsfrage 2 müsse verneint werden. § 47Abs. 1, Abs. 3 PBefG verfolge keinen wettbewerblichenSchutzzweck im Sinne des § 3a UWG, sondern diene alleinder Befriedigung des Interesse der Allgemeinheit an öffent-licher Nachfrage nach Taxen, das heißt verfolge nicht auchden Zweck, „Verstöße“ gegen die Legaldefinition des Taxiver-kehrs wettbewerbsrechtlich sanktionieren zu lassen.34 Auf dieaus der Zeit vor der Änderung des UWG 2004 stammendeRechtsprechung und Literatur könne nicht abgestellt werden.Andere Stimmen im fachwissenschaftlichen Schrifttumkonnten sich zu dieser neuen Rechtsauffassung bisher man-gels Zeit noch nicht äußern.35

Die Rechtsfragen betreffen eine Vielzahl von Fällen. Inganz Deutschland können immer wieder gegen Taxiunter-nehmer oder -fahrer Bußgeldbescheide sowie wettbewerbs-rechtliche Verurteilungen wegen vermeintlich rechtswidrigenBereithaltens erlassen beziehungsweise verkündet werden.

Das Bereithalten von Taxen ist eine typische, keine außer-gewöhnliche Handlung im Taxiverkehr. Diese Art von Ver-tragsanbahnung wird täglich zigmal in einer unbestimmtenAnzahl praktiziert. Potentiell betroffen sind alle Taxiunter-nehmer und Taxifahrer in Deutschland.

Zur qualitativen Wertung der Rechtsfrage: Die Gegenargu-mentation stützt sich formell jeweils auf eine Gesetzesände-rung (PBefG 1983, UWG 2004) mit der Folge, dass die inRede stehenden Bundesvorschriften (§ 47 Abs. 1 PBefG) neuund unter Berücksichtigung der neuen Gesetzesmaterialienausgelegt werden müssen. Sie ist deshalb jeweils ein ernsthaf-ter Beitrag zur rechtlichen Diskussion. Dies gilt umso mehrdann, wenn zu beobachten ist: Das Berufungsgericht „hat sich… mit der veränderten Sach- und Rechtslage nicht auseinander-gesetzt und keine Erwägungen dazu angestellt, ob neuer Klä-rungsbedarf entstanden war. Dies wäre im Hinblick auf die …erforderlich gewesen…“36 Das Berufungsgericht hat weiterhinseine Entscheidung nicht auf „besondere Umstände des Ein-zelfalls“ gestützt37, so dass eine Abweichung von der Rechtsfra-ge notwendige Konsequenz gewesen wäre.

Der Hinweis auf den Zeitpunkt der Beurteilung dergrundsätzlichen Bedeutung im Verhältnis zum Zeitpunktder Entscheidung des Berufungsgerichts könnte so lauten:Die Gegenargumentation ist erst 2016 veröffentlicht worden.Das OLG Hamburg in den Jahren 2010 und 2014 konnte aufdiese noch nicht zugreifen, anders aber das OLG Frankfurta.M. Anfang 2017. Das OLG Frankfurt a.M. hätte 2017 diegrundsätzliche Bedeutung bejahen müssen. Denn die neueArgumentation (beziehungsweise der Meinungsstreit) ist bisheute (bezogen auf den hier unterstellten Einlegezeitpunkt)nicht entfallen/ausgeräumt. Sie ist nicht abwegig.• Die Entscheidungserheblichkeit besteht ebenso: DieRechtsfragen können beide nur mit Ja oder mit Nein beant-wortet werden. Wer mindestens eine der beiden verneint,muss die Verurteilung aufheben. Eine zwischenzeitlicheoder künftige Gesetzesänderung ist nicht beschlossen wor-den. Der BGH hat die Rechtsfragen bisher nicht in einem an-deren Verfahren entschieden38. Die Rechtsfragen sind immer

Aufsätze

Revision: Die grundsätzl iche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung, Wüstenberg AnwBl Online 2018 143

25 Vgl. Formulierung BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235Rn. 21.

26 BGH, Urt. v. 18.10.2012 – I ZR 191/11, NJW-RR 2013, 606 = GRUR 2013, 412 – Taxi-bestellung.

27 OLG Hamburg, Beschl. v. 10.6.2010 – 3 Ss 39/10, http://www.verkehrslexikon.de/Texte/Rspr4322.php.

28 OLG Hamburg, Beschl. v. 17.2.2014 – 2 RB 14/14, openJur 2014, 13616 mit Hinweis aufBVerwG, Urt. v. 12.9.1980 – 7 C 92/78.

29 OLG Frankfurt/M., Urt. v. 4.2.2016 – 6 U 150/15, WRP 2016, 746; OLG Frankfurt/M., Urt.v. 5.1.2017 – 6 U 24/16.

30 Bidinger, H. †, PBefR, Losebl.-Komm., 2. Aufl. 2016, EL 2/1994, § 47 Anm. 7; Heinze, in:Heinze/Fehling/Fiedler, PBefG, 2. Aufl. 2014, § 47 Rn. 15f.; Meyer, PBefR, 1986, § 47Anm. 2b; Bauer, PBefG, 2010, § 47 Rn. 10.

31 Wüstenberg, NVwZ 2016, 1217, GewArch 2016, 411. Das „neue Argument“ muss aus-drücklich benannt werden.

32 Wüstenberg, SVR 2016, 331 (333), RdTW 2017, 8 (11 f.). Die Entscheidungserheblichkeitwird hier teils mitumrissen.

33 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.10.2005 – 5 Ss (OWi) 146/05, (OWi) 88/05 I, NStZ-RR2006, 351 = juris; dem folgend OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.3.2010 – OVG 1 A1.09, OVGE 31, 5 = openJur 2012, 12740, zustimmend Sauthoff, in MüKoStVR, 1. Aufl.2016, StVG Vor §§ 1 ff. Rn. 13.

34 Wüstenberg, NJ 2016, 485 (488); ders., WRP 2017, 396 (401).

35 Vgl. Formulierung BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235Rn. 20. Mit diesem Hinweis wird Bezug genommen auf die mögliche Entgegnung, dieGegenargumentation sei völlig abwegig. Im Idealfall wird auf die Gegenargumentationenbereits in der aktualisierten Kommentarliteratur hingewiesen.

36 BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 26.

37 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 28.

38 Zwischenzeitlich BGH, Urt. v. 6.4.2017 – IZR 33/16, WRP 2017, 1089 – GRUR 2017, 926=RdTW 2017, 305 = MDR 2017, 1016 – Anwaltsabmahnung II, jedoch ohne Begründung(Tz. 10) und ohne vorherige Revisionszulassung in soweit.

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noch entscheidungserheblich. Das BVerfG schreibt in solchenFällen: Es „kann nicht mit hinreichender Sicherheit fest-gestellt werden, dass … kein anderes, für den Beschwerdefüh-rer günstigeres Ergebnis in Betracht kommt.“39

3. Ergebnis

Der von BGH und BVerfG verlangte Darlegungsumfang läuftin der Praxis darauf hinaus, dass der Anwalt, der die Be-schwerdefrist verfasst, letztlich die begehrte Entscheidungvorwegformulieren muss – etwa mit dem Einleitungssatz„Bei zutreffender Beurteilung der Sach- und Rechtslage hättedas Berufungsgericht die Revision mit folgender Begründungzulassen müssen.“40

V. Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie erstens sichauf den Verstoß gegen § 543 Abs. 2 ZPO stützt und zweitensdie Fehlentscheidung des Berufungsgerichts noch immer ent-scheidungserheblich ist (vgl. § 545 ZPO). Das im Grundgesetzzum Ausdruck gebrachte Gebot effektiven Rechtsschutzes alssolches begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere In-stanz. Denn die Entscheidung über den Umfang des Rechts-mittelzuges bleibt dem Gesetzgeber überlassen. Hat der Ge-setzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren In-stanz entschieden und in der betreffenden Prozessordnungein dementsprechendes Rechtsmittel vorgesehen, so darf derZugang zur nächsten Gerichtsinstanz – nach Art. 2 Abs. 1GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG – nicht in unzumut-barer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Wei-se erschwert werden.41 Der Verstoß gegen die ZPO bedeutetdann zugleich den Verstoß gegen das GG.42 Er schlägt volldurch. Das BVerfG hält dieses Durchschlagen stets knappfest: „…die Revision hätte zugelassen werden müssen. DieNichtzulassung der Revision stellt daher einen Ausschlussdes vorliegend verfassungsrechtlich gebotenen Zugangs zurRevisionsinstanz dar und ist mit dem Gebot wirkungsvollenRechtsschutzes nicht mehr zu vereinen.“43

VI. Ergebnis

Rechtsanwälte dürfen sich im Rahmen der Darlegung nichtdamit begnügen, auf die – tatsächliche – Vielzahl möglichergleichgelagerter Fälle hinzuweisen, sondern sie müssen dieje-nige – rechtliche – Begründung komplett nachliefern, welchedie Berufungsrichter vorzutragen versäumt hatten und wel-che die Revisions- beziehungsweise Verfassungsrichter inder mit der Beschwerdeschrift begehrten Entscheidung vor-tragen müssten und im Idealfall auch werden. Am besten ge-lingt dies mit einem vollständigen Formulierungsvorschlagdes Beschwerdeführers beziehungsweise dessen Anwalts.Mit diesem kann der Anwalt dem Revisions- beziehungsweiseVerfassungsrichter möglichst viel Zeit für das Zusammenstel-len der nötigen Textbausteine ersparen. Andernfalls drohtdem Mandanten, zumindest beim Bundesverfassungsgericht,

dass die Rechtssache nicht zur Entscheidung angenommenwird.

Aufsätze

144 AnwBl Online 2018 Revision: Die grundsätzl iche Bedeutung der Rechtssache als Herausforderung, Wüstenberg

Dirk Wüstenberg, Offenbach am MainDer Autor ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht. Er ist seit 1999 in seiner eigenen Kanzlei tätig(unter anderem im Bereich des Internetrechts unddes Wettbewerbsrechts).

39 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 29.

40 Vgl. Schons, AnwBl 2017, 280 (281 f.).

41 BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 16; BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 13.

42 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.11.2008 – 1 BvR 2587/06, Rn. 26; BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 –1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 26.

43 BVerfG, Beschl. v. 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07, FamRZ 2010, 1235 Rn. 27.