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Ricardo Tarli, M.A., Jahrgang 1978, ist frei- schaffender Journalist in Berlin. Geboren und aufgewachsen im Kan- ton Bern, studierte Ricardo Tarli schweize- rische und allgemeine Zeitgeschichte, Volks- wirtschaftslehre und Staatsrecht in Fribourg, Bern und Paris. Nach dem Studium absolvierte er berufsbegleitend die Diplomausbildung Journalismus an der Schweizer Journalisten- schule MAZ in Luzern. Ricardo Tarli ist seit über 15 Jahren als Journalist tätig. Seit sechs Jahren lebt und arbeitet der Schweizer in Berlin. Er schreibt regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ). Abend Anna, Gemälde (2012; Format: 70 x 50 cm) von Rudolf Stüssi (geb. 1947); Galerie Taube, Berlin (www.galerie-taube.de) 86 MUT Nr. 581 • September 2016 Ricardo Tarli: Der Künstler, der die Häuser zum Tanzen bringt M anche Leute meinen, ich sei ent- weder dumm, blind, besoffen oder brauche dringend einen guten Opti- ker“, sagt Rudolf Stüssi und lacht ver- schmitzt. Der schweizerisch-kanadische Maler ist ein Mann mit Humor – und mit einem eigenen Blick auf die Welt: Stüssi ist nämlich der Erfinder der sogenannten 5. Perspektive. In seinen Ölgemälden und Aquarellen macht der 69jährige Künstler die Welt noch schräger, als sie schon ist: Kaum eine Linie ist gerade, alles hängt schief. Seine surrealen Stadtansichten ent- wickeln dadurch eine faszinierende Dyna- mik, als ob die Häuser und Türme tanzen würden. „Die Kunst braucht keine geraden

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Ricardo Tarli, M.A.,Jahrgang 1978, ist frei-schaffender Journalistin Berlin. Geboren undaufgewachsen im Kan-

ton Bern, studierte Ricardo Tarli schweize-rische und allgemeineZeitgeschichte, Volks-wirtschaftslehre und Staatsrecht in Fribourg,

Bern und Paris. Nach dem Studium absolvierteer berufsbegleitend die Diplomausbildung

Journalismus an der Schweizer Journalisten-schule MAZ in Luzern. Ricardo Tarli ist seit über15 Jahren als Journalist tätig. Seit sechs Jahren

lebt und arbeitet der Schweizer in Berlin. Er schreibt regelmäßig für die „Neue

Zürcher Zeitung“ (NZZ).

Abend Anna, Gemälde (2012; Format: 70 x50 cm) von Rudolf Stüssi (geb. 1947); Galerie

Taube, Berlin (www.galerie-taube.de)

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MUT Nr. 581 • September 2016

Ricardo Tarli:

Der Künstler, derdie Häuser zum

Tanzen bringt„Manche Leute meinen, ich sei ent-

weder dumm, blind, besoffenoder brauche dringend einen guten Opti-ker“, sagt Rudolf Stüssi und lacht ver-schmitzt. Der schweizerisch-kanadischeMaler ist ein Mann mit Humor – und miteinem eigenen Blick auf die Welt: Stüssi istnämlich der Erfinder der sogenannten 5.Perspektive. In seinen Ölgemälden undAquarellen macht der 69jährige Künstlerdie Welt noch schräger, als sie schon ist:Kaum eine Linie ist gerade, alles hängtschief. Seine surrealen Stadtansichten ent-wickeln dadurch eine faszinierende Dyna-mik, als ob die Häuser und Türme tanzenwürden. „Die Kunst braucht keine geraden

Linien“, lautet Rudolf Stüssis Credo. DerGrundgedanke dahinter: Der Betrachter solleine Bewegung im Bild wahrnehmen, wasStüssi mit der 5. Perspektive auf eindrückli-che Art und Weise gelingt. Beim Betrachtenseiner Bilder fühlt man sich in einen Trick-

film versetzt, in eine Welt, in der alle Natur-gesetze aufgehoben sind und den starrenund stummen Fassaden Leben eingehauchtwird. Diese Assoziation kommt nicht vonungefähr, war Stüssi doch lange in der Trick-filmbranche tätig; er war unter anderem an

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der Produktion von Asterix in Amerika be-teiligt.Wie geht Stüssi technisch vor, um die

Bewegung in seine surrealen Bilder reinzu-bringen? „Ich lege mir im Kopf eine Grund-bewegung durch das Bild fest, eine

schwankende Y-Achse, die natürlich nichtsenkrecht steht, sondern sich durch dasSujet biegt und windet. Auch die Horizon-

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Village Dance, Gemälde (2010; Format: 71 x 132 cm) von Rudolf Stüssi (geb. 1947); Galerie Taube, Berlin (www.galerie-taube.de)

tale versuche ich zu destabilisieren. Sie ver-läuft nicht mehr parallel zum Bildrand undwirkt deshalb dynamischer.“ So gelingt esdem Maler, leblosen Dingen aus Beton undStein eine Seele zu verleihen. Die Gebäudescheinen zu atmen, dehnen sich aus, um imnächsten Augenblick in sich zusammenzu-fallen. Stüssi: „Die 5. Perspektive verleihtden Objekten eine Persönlichkeit, eine Ei-gensinnigkeit. Diese Eigensinnigkeit ent-springt meiner Phantasie und meinerLebenserfahrung.“ Stüssi zeigt eine Welt, die aus den Fugen

geraten ist. In Berlin hat er viele bekannteMotive gemalt: Reichstag, Fernsehturm,Bode-Museum, Kanzleramt. Alles vertrauteStadtansichten. Und doch irritieren sie,denn es sind keine dem Realismus ver-pflichteten Abbildungen, sondern Karika-turen einer Metropole. Stüssi hat eine Stadtim Ausnahmezustand gemalt, eine Stadtim Aufbruch, im Umbruch. In seinen Wer-ken widerspiegelt sich eine Welt, die sichstets neu erfindet und deshalb in ständi-gem Wandel begriffen ist. Die einzige Konstante ist die Verände-

rung. Dieser Zwang zur Veränderung undAnpassung schafft Verunsicherung undwirkt für viele Menschen wie eine existen-zielle Bedrohung. „Das Schräge und Schiefein meiner Malerei drückt die Instabilität, dieUnsicherheit unserer Zeit aus“, erklärt derKünstler. Türme geraten ins Wanken, dro-hen gar umzustürzen und die Menschenunter sich zu begraben. Stüssis Stadtan-sichten wirken wie Kulissen eines Fantasy-Films, vor denen sich der ewige Kampf desGuten gegen das Böse abspielt. FliegendeFabelwesen, die aus einer für den Men-schen unsichtbaren Zwischenwelt stam-men, kündigen die endzeitliche Entschei-dungsschlacht an. Das Spiel mit der Ge-gensätzlichkeit prägt Rudolf Stüssis figura-

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Aube Lucerne, Gemälde (2012; Format: 95 x 120 cm)von Rudolf Stüssi (geb. 1947); Galerie Taube, Berlin

(www.galerie-taube.de)

tive Kunst. In seinen Bildern widerspiegelnsich Freude und Angst, Lust und Schmerz,Schönheit und Ekel, Sinnlichkeit und Ge-walt, Macht und Unterwerfung. In der vonStüssi geschaffenen Traumwelt tummelnsich Zwitterwesen, halb Mann, halb Frau,halb Engel, halb Dämon, Maschinen-Men-schen oder Menschen-Maschinen. Stüssizelebriert die Vermenschlichung einer leb-losen Welt und läßt Gebäude mit Men-schen verschmelzen. „Die Gebäude oder dieStadt stehen symbolisch für den Men-schen“, sagt Stüssi. Das Haus ist die Woh-nung der Seele. Die Zimmer symbolisierendie Vielschichtigkeit eines jeden Charakters. Stüssis Bilder erinnern zuweilen an die

expressionistischen Stadtlandschaften, dieLudwig Meidner im Berlin der zwanzigerJahre malte. Oder an Chaim Soutines ver-zerrte Landschaften. Stüssi selbst vergleichtsich mit dem mexikanischen MauermalerDavid Alfaro Siqueiros, der mit ähnlich ver-schobenen Perspektiven auf die Brüchigkeitgesellschaftlicher Systeme verweisen woll-te. Einen besonders großen Einfluß aufStüssis künstlerisches Schaffen hatte seinFreund Hansruedi Giger, der Erschaffer desFilmmonsters Alien. Vom ebenfalls verstor-benen amerikanischen Bildhauer Don Bon-ham, den Stüssi in Toronto kennengelernthatte, ließ er sich auch inspirieren. Realis-mus und Abstraktion interessieren denMaler nicht, vielmehr der Übergang vondem einen zum anderen Zustand. „Das gelingt durch Verzerrung, Vereinfachung,Dramatisierung. Am Schluß soll etwas Ge-heimnisvolles bleiben.“Rudolf Stüssis Schaffen ist geprägt von

seinem Vagabundenleben. „Die Welt istsein Zuhause.“ Was oft wie eine Platitüdeklingt, wird bei Rudolf Stüssi zur Quelle sei-ner künstlerischen Inspiration. Stüssi ist einWeltenbürger. 1947 in Zürich geboren, alsKind in den USA groß geworden, zum Abitur zurück in die Schweiz, dann nach Kanada, wo er Malerei, Literatur und Jour-

der Dominikanischen Republik war Stüssials Artist in Residence tätig. Ein Nomaden-leben, das ihm neue Entdeckungen jenseitsder Geradlinigkeit eröffnet hat. Trotz der vielen Reisen genießt der Künst-

ler, der mit einer jungenBerlinerin verheira-tet ist, das Familienleben. „Die Familie hältmich jung“, sagt der Vater von vier Kindern.Zwei sind schon erwachsen, zwei im Vor-schulalter. „Die Familie ist für mich einegroße Inspirationsquelle.“ Er hat vier Kinder-bücher illustriert, darunter ein vielbeachte-ter Gesamtband von Johanna Spyris welt-berühmter Heidi-Erzählung. „Meine Mutterhatte auch vier Kinderbücher illustriert“, er-zählt Stüssi. Sie habe ihn stets gefördert,und dies lange bevor er sein erstes Buch illustrierte: Periwinkle Isn’t Paris erschien1999 in Kanada. „Ich setze also eine Famili-entradition fort, auch aus Liebe zu meinenKindern und um anderen Kindern eineFreude zu bereiten. Ich bewundere ihre Un-befangenheit beim Zeichnen und Malen.“Weitere Informationen über den Kunstma-ler Rudolf Stüssi und seine Arbeit sind unterwww.rudolfstussi.com zu finden. �

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Rückseite: Am Weiher, Ausschnitt eines Gemäldes (um 1920; Format: 56 x 69 cm) vonWaldemar Thorn (1876 - 1940); Galerie Barthelmess & Wischnewski, Berlin

nalismus studier-te, dazwischenStudienaufent-halte in Florenz,London und Me-xiko. Heute pen-delt er zwischenBerlin, Torontound der Schweiz.Dazu kamen Ar-beitsaufenthaltefür Animations-filme in Manila,Seoul und Shenz-hen (China). In

Der internationale Künstler Rudolf Stüssi