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Richard Schu-Schätter Widerstand zwecklos !“ ? Philosophische Zweifel an der transhumanistischen Prognose eines posthumanen Zeitalters Münster , 07. August 2002

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Richard Schu-Schätter

„Widerstand zwecklos!“ ?

Philosophische Zweifel an der transhumanistischen

Prognose eines posthumanen Zeitalters

Münster , 07. August 2002

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„Widerstand zwecklos!“ ?

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Wir sind Borg, sie werden assimiliert werden, Widerstand ist zwecklos!

(Die Borg in der Sience-Fiction-Serie „Star Trek“)

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„Widerstand zwecklos!“ ?

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ............................................................................... 3

„Wir sind Borg“ – Einleitung ............................................................... 5

1. Die Hoffnung auf morgen: Transhumanismus ..................................... 8

1.1. Die Entstehung des Transhumanismus ............................................................. 8

1.1.1. Die Erben des Humanismus ............................................................. 8

1.1.2. Vorgeschichte transhumanistischer Ideen ....................................... 9

1.1.3. Transhumanistische Organisationen ............................................. 10

1.2. Theologische Relevanz ...................................................................................... 13

2. Die Evolution der Maschinen ............................................................. 15

2.1. Eine neue Forschungsrichtung und ihre Krise ................................................ 15

2.1.1. ‚Starke’ und ‚schwache’ KI-Forschung ............................................ 15

2.1.2. Die „Top-Down-Methode“ .............................................................. 16

2.1.3. Der ‚Bottom-Up-Ansatz’ ................................................................. 18

2.2. Die Zukunft der Maschinen .............................................................................. 21

2.2.1. Ein Blick in die Zukunft wagen ....................................................... 21

2.2.2. Robotergenerationen ...................................................................... 23

2.2.3. Virtuelle Agenten ............................................................................ 24

3. Den Menschen überwinden ................................................................ 27

3.1. „Sie werden assimiliert..“.................................................................................. 27

3.1.1. Cyborgs ............................................................................................ 27

3.1.2. uploading ......................................................................................... 31

3.1.3. Strukturidentität ............................................................................. 33

3.1.4. Aufnahme ins Kollektiv ................................................................... 35

3.1.5. Das posthumane Zeitalter ............................................................... 38

3.2. „Widerstand zwecklos!“ .................................................................................... 41

3.2.1. Verzicht ist nicht möglich ............................................................... 41

3.2.2. Evolution ......................................................................................... 42

3.2.3. Egoismus ......................................................................................... 44

3.2.4. Das Schicksal der Maschinenstürmer ............................................ 46

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4. David Chalmers: Das schwierige Problem des Bewusstseins .............. 48

4.1. Maschinen mit Bewusstsein?............................................................................ 48

4.1.1. Turingtest ........................................................................................ 49

4.1.2. Bewusstsein als Abstraktion ........................................................... 51

4.1.3. Robotergefühle ................................................................................ 52

4.2. Der Ansatzpunkt von David Chalmers ............................................................ 53

4.2.1. Die Frage nach dem Bewusstsein ................................................... 54

4.2.2. Das schwierige Problem und die vielen leichten. ........................... 55

4.2.3. Zwischen Dualismus und Materialismus ....................................... 57

4.3. Eine nicht reduktive Theorie ............................................................................ 58

4.3.1. Strukturelle Kohärenz und funktionale Invarianz ......................... 58

4.3.2. Die (empirische) Unmöglichkeit von Zombies ............................... 60

4.3.3. Tanzende Qualia ............................................................................. 61

4.3.4. Die beiden Aspekte von Information .............................................. 62

4.4. Problem gelöst? ................................................................................................. 63

4.4.1. Das bewusste Leitungssystem ........................................................ 64

4.4.2. Information ist überall .................................................................... 65

4.4.3. Stufen des Bewusstseins? ............................................................... 65

5. Selbstbewusstsein als Schlüsselproblem ............................................ 68

5.1. Ist Selbstbewusstsein herstellbar? ................................................................... 68

5.1.1. Ray Kurzweil: „Wir werden es ihnen glauben“ .............................. 68

5.1.2. Hans Moravec: Selbstbewusstsein durch Simulation .................... 70

5.1.3. Ernst Tugendhat: Semantische Erklärung ...................................... 71

5.2. Selbstbewusstsein und Weltdeutung ................................................................ 74

5.2.1. Der Ursprung der Zirkel ................................................................. 74

5.2.2. Dieter Henrich: Selbstbewusstsein ................................................. 76

5.2.3. Marvin Minsky: Selbstbewusstsein als Illusion ............................. 78

5.2.4. Materialistische Weltdeutung? ....................................................... 79

6. Widerstand zwecklos? - ein Resümee ................................................. 82

Literaturverzeichnis .......................................................................... 88

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„Wir sind Borg“ – Einleitung

Ein neues Zeitalter hat begonnen. Internet und Computertechnologie sorgen für eine

grenzenlos erscheinende Informationsverbreitung und -verarbeitung. Gentechnik ermög-

licht es den Menschen, die Eigenschaften aller Lebewesen - einschließlich des Menschen

selbst - zu verändern, oder gar neues Leben zu schaffen. Künstliche Intelligenzforschung

(KI) und Robotik entwickeln neue Produkte, die fast alle Lebensbereiche verändern. Wir

werden überflutet mit Berichten über bahnbrechende Entwicklungen und atemberauben-

de Entdeckungen. Und angesichts der vielen Prognosen und Versprechungen unserer

Wissenschaftler ist es nur verständlich, dass viele euphorisch erwarten, was in wenigen

Jahren möglich sein wird.

Bei den Zukunftshoffnungen geht es aber schon lange nicht mehr nur darum, das Leben

angenehmer zu machen, Krankheiten zu besiegen oder den Hunger zu beseitigen. Es geht

um mehr. Es geht darum, auch die letzten Grenzen, die dem Menschen durch seine Natur

gesetzt sind, zu überwinden. Gentechnik, Implantate und neuronale Verknüpfungen zwi-

schen Individuen sollen die Fähigkeiten und Eigenschaften der Menschen optimieren

oder erweitern. Schließlich soll auch die letzte Grenze überwunden werden: der Tod.

Der Mensch wird nicht mehr das sein, was er war. Er wird, so ist die Hoffnung, in einer

Art Evolutionssprung sich selbst überwinden, und die Erfolge der letzten Jahrzehnte

scheinen darauf hinzudeuten, dass diese Hoffnung auf ein posthumanes Zeitalter berech-

tigt sind.

Die Visionäre und Propheten, die die bevorstehende Überwindung des homo sapiens ver-

künden, sie sind Kinder unserer Zeit. Und mittlerweile haben sich einige von ihnen zu

einer Bewegung zusammengeschlossen, die immer größer wird: Der Transhumanismus.

Das Zentrum dieser Bewegung bilden Menschen, die in den erwähnten Forschungsrich-

tungen Rang und Namen haben. Sie verstehen sich selbst als die Elite für ein neues Zeital-

ter und sie sorgen neben ihren Forschungsprojekten dafür, dass ihre Hoffnungen und

Utopien in die Welt getragen werden.

Zu ihnen gehören Hans Moravec, führender Forscher der Robotik und Direktor des

Robotics Institute an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh; Marvin Minsky, Pro-

fessor für Informatik und Elektrotechnik sowie für Medienwissenschaft am Media Lab

des MIT; Max O´Connor, besser bekannt unter seinem neuen Namen Max More ‚Maxi-

mum Mehr’, Philosoph und Leiter des Extropy Instituts; Ray Kurzweil, Computerwissen-

schaftler, KI-Experte und Erfinder u.a. von Text- und Spracherkennungssystemen, sowie

ehemaliger Berater des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton; Eric Drexler und Ralph

Merkle, beides führende Forscher auf dem Gebiet der molekularen Nanotechnik. Sie alle

forschen auf ihren Gebieten mit dem Ziel, den homo sapiens hinter sich zu lassen.

Das Bild, das sie von der Zukunft des Menschen zeichnen, ähnelt sehr den Motiven, die in

der Sience-Fiction-Serie „Star Trek“ verwendet werden. Dort versucht im 24. Jahhundert

eine Spezies namens „Borg“, das gesamte Universum unter ihre Kontrolle zu bringen. Die

Borg sind eine kollektive Intelligenz, bestehend aus „Drohnen“, die ehemals Individuen

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anderer Spezies waren. Bei der „Assimilierung“ wurden diese mit künstlichen Organen

aufgerüstet (ein künstliches Auge, multifunktionale Arme, Sensoren, Schutzschilde, etc.)

und über ein „Kortikal-Implantat“ als „Drohnen“ an das „Kollektiv“ angeschlossen. Das

gesamtes Wissen und alle Fähigkeiten einer Spezies werden so von den Borg assimiliert.

Jede Drohne weiß zu jeder Zeit, was alle anderen Drohnen wissen, denken und tun. Die

Persönlichkeit, Individualität und Freiheit der Individuen wird dabei völlig unterdrückt.

Sie sind in den Augen der Borg auch „irrelevant“. Was zählt ist einzig und allein Perfekti-

on.

Die Transhumanisten haben nach eigenen Angaben Angst um die Fortexistenz des Men-

schen. Da ist davon die Rede, dass sich künstliche intelligente Systeme entwickeln wer-

den, die den Menschen mit ihren Fähigkeiten weit übertreffen. Da ist davon die Rede,

dass die Menschen, um mit diesen Maschinen Schritt halten zu können, ihre Fähigkeiten

mit Hilfe von Technologie verbessern und ihre biologischen Körper hinter sich lassen

müssen. Da ist davon die Rede, dass Menschen und intelligente Maschinen eines Tages

miteinander zu einer kollektiven Intelligenz verschmelzen und so den homo sapiens in

einem posthumanen Zeitalter überwinden werden. All dies sei, so die Transhumanisten,

nicht nur möglich, sondern die notwendige Entwicklung der Menschheit, wenn sie nicht

im evolutionären Kampf von den Maschinen verdrängt werden will. Aber es ist nicht nur

diese Angst, die Transhumanisten antreibt, sondern auch der Glaube, der Mensch sei nur

eine Stufe auf der Evolutionsleiter, und die Hoffnung, mit der technologischen Verbesse-

rung und Überwindung des homo sapiens, in eine bessere Zukunft einzutreten, in der

Leid und Tod keinen Platz mehr haben.

Diese Zukunftsprognosen sind verbunden mit Maximalforderungen an die Forschung.

Berücksichtigt man den Einfluss, den führende Transhumanisten haben, und die Vehe-

menz, mit der sie ihre Ideen vertreten, so wird man den Transhumanismus nicht als

Science-Fiction-Spinnerrei abtun können. Vielmehr sind die Prognosen darauf zu prüfen,

ob sie wirklich in eine besser Zukunft für den Menschen führen, und ob es zum Eintritt in

ein posthumanes Zeitalter wirklich keine Alternative gibt.

In der Serie Star Trek wird eine Assimilierung durch die Borg immer mit den Worten

„Wir sind Borg. Sie werden assimiliert werden. Widerstand ist zwecklos!“ eingeleitet. Auf

diesen Ausruf geht auch der Titel dieser Arbeit zurück. Es ist zu prüfen, ob der Wider-

stand gegen die Forderungen nach einem posthumanen Zeitalter wirklich zwecklos ist.

Im ersten Kapitel sollen zunächst das Selbstverständnis, die Entstehungsgeschichte und

die Wurzeln des Transhumanismus skizziert und sodann begründet werden, warum sich

die Theologie mit einer solchen Bewegung auseinander setzen sollte. Kapitel zwei be-

schäftigt sich mit der Evolution der Maschinen. Zum Einen sollen die zwei grundlegenden

Ansätze der KI- und Robotikforschung mit ihren Problemen und zum Anderen die trans-

humanistischen Prognosen für die Entwicklung von künstlichen Systemen dargestellt

werden. Im dritten Kapitel geht es dann um die Überwindung des Menschen und das Ziel

eines posthumanen Zeitalters, sowie um die Gründe, die aus transhumanistischer Sicht

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für die Unmöglichkeit eines Verzichtes auf diese Entwicklungen sprechen. In Kapitel zwei

und drei wird sich herausstellen, dass die Frage ob die transhumanistischen Prognosen

eintreten werden, wesentlich mit der Frage zusammenhängt, wie Bewusstsein, Gefühle

und Selbstbewusstsein strukturiert sind. Dies ist dann auch der Ansatzpunkt für eine

Konfrontation mit philosophischen Theorien. Ausgewählt dafür habe ich einerseits David

Chalmers, dessen Vorschlag für eine Lösung des „schwierigen Problem des Bewusstsein“

ich in Kapitel vier darstelle und in den transhumanistischen Rahmen einordne. Und an-

dererseits werde ich mich auf die Selbstbewusstseinstheorie Dieter Henrichs stützen, die

in Kapitel fünf eine große Rolle spielen wird. Dabei werden die Erklärungsversuche des

Phänomens Selbstbewusstsein, sowie der Materialismus, als Grundlage für transhuma-

nistische Prognosen, einer philosophischen Kritik unterzogen werden. Kapitel sechs bil-

det dann mit einer Ergebnissicherung den Abschluss dieser Arbeit: Werden sich bewusste

künstliche Systeme entwickeln, die uns ebenbürtig und überlegen sind? Werden solche

Wesen mit der Menschheit zu einer kollektiven Intelligenz verschmelzen? Ist der Wider-

stand gegen die Forderungen der selbsternannten Vorkämpfer dieses posthumanen Zeit-

alters wirklich zwecklos?

Vor allem bei der Darstellung transhumanistischer Gedanken habe ich auf viele Internet-

publikationen zurückgegriffen. Da die Unsicherheit, ob solche Dokumente nicht bereits

nach einigen Wochen überarbeitet oder gar gelöscht worden sind, sehr groß ist, habe ich

mich entschieden, die zitierten Webseiten auf einer CD-Rom offline zugänglich zu ma-

chen. Daneben finden sich dort auch die Links zu den Originalseiten und diese Arbeit als

pdf-Datei. Zur Besseren Navigation, habe ich eine Startseite (index.htm) erstellt, von der

aus alle Dokumente problemlos erreicht werden können.

Bei der Zitation der Online-Dokumente habe ich, soweit vorhanden, das Datum der letz-

ten Überarbeitung, sowie das Datum der Entnahme aus dem Internet angegeben.

Im Wesentlichen habe ich mich an der neuen deutschen Rechtschreibung orientiert, die

Zitate aber in ihrer Schreibweise belassen.

Auf die Verwendung geschlechtsneutraler Formulierungen habe ich um der besseren Les-

barkeit willen weitestgehend verzichtet.

Unter gleichem Titel habe ich im Jahr 2002 diese Arbeit als Diplomarbeit im Fach katho-

lischer Theologie am Lehrstuhl für philosophische Grundfragen der Theologie bei Herrn

Prof. Dr. Dr. Klaus Müller eingereicht. Ihm möchte ich für seine gute Begleitung und sei-

ne Anregungen danken. Danken möchte ich aber auch meinen Freunden, die mit großem

Interesse die transhumanistischen und philosophischen Thesen in dieser Arbeit diskutiert

haben. Danken möchte ich aber auch vor allem Angela, meiner Frau, die mir immer wie-

der Mut machte, und mich unterstützte, wo sie nur konnte.

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1. Die Hoffnung auf morgen: Transhumanismus

1.1. Die Entstehung des Transhumanismus

1.1.1. Die Erben des Humanismus

Neben ihren Forschungen versuchen die Transhumanisten auch eine philosophische

Fundierung ihrer Bewegung zu liefern. Dabei berufen sie sich vor allem darauf, den Hu-

manismus zu beerben: „Wie die Humanisten bevorzugen auch die Transhumanisten Ver-

nunft und Fortschritt sowie Werte, die eher unser eigenes Wohlergehen fördern, als sich

nach religiösen Vorschriften zu richten.“1 Natürlich gibt sich der Transhumanismus nicht

damit zufrieden, den Humanismus und seine Ziele einfach im 21. Jahrhundert fortzufüh-

ren: Zum Einen hat er nicht nur das Ziel, die Lebensweise des Menschen zu verbessern,

sondern auch den menschlichen Organismus. Und zum Anderen will er dazu „technologi-

sche Mittel einsetzen, die uns schließlich befähigen werden, uns über das hinaus zu ent-

wickeln, was die meisten noch als ‚menschlich’ bezeichnen würden.“2

Mit der Anknüpfung an den Humanismus sehen sich die Transhumanisten ganz bewusst

als Erben der großen Denker vergangener Jahrhunderte: „Im Verein mit den Einflüssen

von Kolumbus und Isaac Newton, Thomas Hobbs [sic!], John Locke, Immanuel Kant und

Anderen begründete das Erbe der Renaissance den rationalen Humanismus, der großen

Wert auf die Wissenschaft und das kritische Denken – statt auf Offenbarung und religiöse

Autorität – legt, um etwas über die natürliche Welt und das Schicksal und Wesen des

Menschen herauszufinden, und die Grundlage für eine Moral neu zu legen. Der rationale

Humanismus ist ein direkter Vorgänger des Transhumanismus.“3

Das Verhältnis der transhumanistischen Ideen zu den vermeintlichen Wurzeln im Huma-

nismus, kann in dieser Arbeit nicht geklärt werden. Die Berufung auf diese philosophi-

sche Tradition zeigt aber, in welchem Lichte sich die Transhumanisten selbst sehen: „Wir

entwickeln die erste systematische Philosophie für das nächste [gemeint ist natürlich das

mittlerweile begonnene 3. (Anm. RS)] Millennium. Wir sind die neue Aufklärung.“4 Will

heißen: Die Transhumanisten halten sich für die Elite des dritten Jahrtausends. Und als

wäre dieser Anspruch nicht schon hoch genug, ist es für Transhumanisten auch nicht vor-

stellbar, dass sie eines Tages durch eine neue Philosophie abgelöst werden könnten:

„’Was kommt nach den Extropianern5?’ frage ich. Max [More Anm. RS] sieht mich ver-

ständnislos an. ‚Nach Hegel kam Marx’, sage ich, ‚dann Nietzsche ...’. ‚Oh’, sagt Max More,

‚ich verstehe. Aber das war etwas anderes, die sind ja alle gestorben, nicht wahr?’ ‚Ja ...?’

antworte ich, ohne zu kapieren. ‚Und wir werden nicht sterben’, erklärt Max. ‚Wir werden

flexibel bleiben, und wenn neue Ideen auftauchen, werden wir sie absorbieren.’ ‚Wie die

1 More 1998, Einleitung Abschnitt „Extropianismus“. 2 Bostrom 1999, Abschnitt „Was ist Transhumanismus?“. 3 Bostrom 1999, Abschnitt „Was ist die kulturelle und philosophische Vorgeschichte des Transhumanismus?“. 4 Max More, zitiert in: Freyermuth 1996, S253. 5 Die Extropianer sind die wohl größte und einflussreichste Gruppe der Transhumanisten. Siehe 1.1.3.

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Leute, die eine Party immer zuletzt verlassen, damit nicht schlecht über sie geredet wer-

den kann?’ Max verzieht den Mund. ‚Wenn du so willst ... Extropianismus ist halt ein

Denksystem, das unentwegt im Fluss ist und sich entwickelt wie die Evolution selbst. Wir

sind auf der Höhe der Zeit, und da bleiben wir.’6

1.1.2. Vorgeschichte transhumanistischer Ideen

Der Begriff „Transhumanised“ taucht laut Natasha Vita-More zum ersten mal in T. S.

Eliots Theaterstück „The Cocktail Party“ auf. Das Wort „Transhumanismus“ gehe jedoch

auf Julian Huxley zurück, der im Jahre 1956 in seinem Buch „New Bottles For New Wine“

einen Essay mit dem Titel "Transhumanism" veröffentlichte. 7 Der Begriff „Transhuma-

nismus“ wurde und wird allerdings nicht einheitlich gebraucht. Die Tatsache, dass es sich

um ein Sammelsurium verschiedener Zukunftsvorhersagen, und –utopien handelt, führt

dazu, dass es nahezu unmöglich ist, die Entstehung dieser Bewegung genau zu datieren.

Zunächst muss man wohl auf die Spekulationen und Visionen von der Verbesserung und

Überwindung des Menschen hinweisen, die in einer Art Frühphase sowohl in der Science-

Fiction-Literatur, als auch in naturwissenschaftlichen und philosophischen Abhandlun-

gen seit dem 18. Jahrhundert bis heute immer wieder auftauchen.8

Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstehen dann eine Reihe von Strö-

mungen, die sich angesichts der wissenschaftlichen Fortschritte mehr oder weniger

ernsthaft mit solchen Gedanken auseinandersetzen. Am wichtigsten scheint dabei eine

Richtung, die sich Kryonik nennt.

Robert Ettinger veröffentlicht im Jahr 1964 sein Buch „The Prospect of Immortality“9. Er

ist der Auffassung, dass es möglich sein müsste, Menschen einzufrieren und irgendwann

in der Zukunft wieder zum Leben zu erwecken, etwa um Krankheiten, die heute unheilbar

sind, mit den Mitteln zukünftiger Medizin zu besiegen. "Was immer uns heute tötet, sei es

das Alter oder eine Krankheit, und auch wenn die Gefriertechniken zur Zeit unseres To-

des noch sehr primitiv sein sollten, früher oder später werden unsere Freunde in der Zu-

kunft der Aufgabe gewachsen sein, uns wieder zu beleben und zu heilen."10 Aufgrund

dieser Idee entstand die Kryonik-Bewegung. 1972 wurde in Arizona die „Alcor Life Exten-

sion Foundation“ gegründet. Sie ist die größte von zur Zeit vier solcher Institutionen in

den USA11, und mittlerweile gibt es auch mindestens zwei deutsche Vereine, die sich da-

rum bemühen, in Deutschland eine Gefriereinrichtung zu schaffen.12

6 Freyermuth 1996, S251-252. 7 Vita-More 2000, siehe auch Bostrom 1999, Abschnitt “ Was ist die kulturelle und philosophische Vorgeschichte des Transhumanismus?". Das Wort „transhuman“ taucht laut Bostrom zum erstenmal beim Science-Fiction-Autor Damien Broderick im Jahre 1976 auf, allerdings in etwas anderer Bedeutung. 8 siehe dazu Bostrom 1999, Abschnitt „Was ist die kulturelle und philosophische Vorgeschichte des Transhumanis-mus?“. 9 Ettinger 1964. 10 Ettinger 1964, zitiert in Freyermuth 2000. 11 siehe auch Thomas, Carmen 1994, S87ff. 12 Es sind dies der Förderverein für Alternsforschung, Lebensverlängerung und Kryonik (FALK e.V.), zu finden unter http://www.falkev.de und der Cryoniks Institue Germany eV, zu finden unter http://home.t-online.de/home/cryonics/frameset.htm. Ob es noch weitere kleinere Vereine gibt, ist mir nicht bekannt. Natürlich ist aber auch der Verein DE:Trans an diesem Thema interessiert.

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In der Nähe von Los Angeles befindet sich die Einfrierungsanlage von Alcor. 39 Leichen

lagern hier bei einer Temperatur von 196 Grad Celsius unter Null in Behältern, die mit

Stickstoff gefüllt sind. Manchmal wird auch nur der Kopf eingefroren. Es ist billiger und –

so glauben die meisten Kryoniker - den Körper wird man irgendwann in der Zukunft klo-

nen oder vielleicht auch durch einen ganz neuen Körper ersetzen können.

Auch der Kopf von F. M. Esfandiary, einem der Gründerväter des Transhumanismus, la-

gert in der Einrichtung von Alcor. Esfandiary war in den sechziger Jahren Professor für

Zukunftsstudien an der New School for Social Research in New York. Später nannte er

sich FM-2030. Der 1930 Geborene war der Auffassung, dass er 100 Jahre alt werden

könne. Der Krebs hinderte ihn daran; im Juli 2000 starb FM-2030 im Alter von 69 Jah-

ren. Allerdings ist er nach der Überzeugung der Kryoniker nicht tot: „Häufig wird Kryonik

missverstanden als das Einfrieren von Toten. Da aber Tod definiert wird als ‚der perma-

nente Stillstand aller Vitalfunktionen’, bedeutet die künftige Fähigkeit, einen mit heutiger

Technik eingefrorenen Patienten wiederzubeleben, dass der Patient nicht tot war. Die

Kryonik basiert in Wirklichkeit auf der plausibleren Idee, dass die heutige medizinische

Praxis vielleicht irrt, wenn sie einen Patienten für "tot" erklärt. Die unabhängige Meinung

eines Arztes aus der Zukunft - mit Zugang zu fundamental besseren medizinischen Tech-

nologien, die auf fortgeschrittener Nanotechnologie beruhen - hilft uns, das unangeneh-

me Risiko zu vermeiden, jemanden womöglich lebendig zu begraben.“13

1.1.3. Transhumanistische Organisationen

Auch Max More diskutierte bereits in den 80er Jahren mit Gleichgesinnten unter ande-

rem über das Thema Kryonik. 1987 zog er nach Kalifornien und schrieb später über seine

Anfangszeit dort: "Even in California, I found the new world was still too backward. I was

frustrated with the stagnant thinking around me.[...]Frankly, I was pissed off at death and

people who were aging and dying and no one seemed to be doing anything about it. I was

frustrated that we were still stuck on this planet, many years after having landed on the

moon and I was bewildered by the intellectual prisons people had built for themselves. I

always had an irrepressible urge to communicate and organize. My ideas having matured

into a clear vision, I now set out to bring together the finest minds to join me in shouting

out to the world ‚Wake up! The future can be better than you ever imagined.’“14 Aus die-

sem Drang heraus entstand die erste Ausgabe des Magazins „Extropy“, die Max More ge-

meinsam mit T. O. Morrow herausgab. 1991 gründeten sie das „Extropy Institute“15, die

13 Merkle 2002, Einleitung. 14 Max More, zitiert in: Extropy Institute 2000, Abschnitt „Creating A Philosophy (1986)“: „Ausgerechnet in Kalifornien fand ich, dass die neue Welt immer noch zu rückständig war. Ich war frustriert über das stagnierende Denken um mich herum. [...] Ehrlich gesagt, ich war angekotzt vom Tod und von Leuten, die alterten und starben und davon, dass niemand den Anschein erweckte, etwas dagegen zu tun. Ich war frustriert, dass wir immer noch auf diesem Planeten festsitzen, viele Jahre nachdem wir auf dem Mond gelandet sind, und ich war verwirrt über die intellektuellen Gefäng-nisse, die sich die Menschen selbst gebaut hatten. Ich hatte stets einen unzähmbaren Drang zu kommunizieren und zu organisieren. Meine Ideen reiften zu einer klaren Vision: Ich machte mich daran, die besten Geister zusammenzubrin-gen, um mich einzureihen in den Ruf hinaus in die Welt: ‚Wacht auf! Die Zukunft kann besser sein, als ihr es euch jemals vorgestellt habt.’ “ [Übers. RS]. 15 Zur Entstehung und Geschichte des Extropy Instituts siehe auch: Extropy Institute 2000.

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wohl größte transhumanistische Einrichtung. 1994 wird schließlich mit der ersten Konfe-

renz der Extropianer „Extro – 1“ Mores Vision Wirklichkeit.

Die Begriffe Extropie, bzw. Extropianer sind Neuschöpfungen von More und Morrow. Sie

sollen deutlich machen, dass sie die Entropie, die im zweiten Hauptsatz der Thermody-

namik beschrieben ist, nicht akzeptieren wollen bzw. für überwindbar oder gar für unzu-

treffend halten. Entropie ist das Maß an Unordnung in einem geschlossenen System.

Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, bleibt die Entropie in einem geschlos-

senen System gleich, wenn ausschließlich reversible Prozesse stattfinden. Finden jedoch

irreversible Prozesse statt, so nimmt die Entropie, also die Unordnung im System, zu. Das

bedeutet, dass das Universum, wenn man es als ein geschlossenes System betrachtet, eine

steigende Unordnung (Entropie) hat, insofern in ihm irreversible Prozesse, wie das Leben

auf der Erde stattfinden. Extropianer gehen dagegen davon aus, dass die Entropie im

Universum sehr wohl sinken kann. Extropie meint dementsprechend, das „Ausmaß an

Intelligenz, Information, Ordnung, Lebenskraft und Optimierungspotential eines Sys-

tems.“16

Als eine Art „Grundgesetz“ der Extropianer fungieren die von Max More aufgestellten

„Extropischen Grundsätze“17. Sie bestehen aus 7 Prinzipien, die „das Grundgerüst für ei-

nen Diskurs über den Zustand der Menschheit“18 bilden sollen. Gefordert werden 1. Kon-

tinuierlicher Fortschritt, 2. Selbstverbesserung, 3. Aktiver Optimismus, 4. Intelligente

Technologie, 5. Eine Offene Gesellschaft, 6. Selbstbestimmung und 7. Rationalität. Wäh-

rend die Punkte 1-4 einen radikalen Fortschritt vor allem im technologischem Bereich

fordern, versuchen die Punkte 5-7 die Befürchtungen, es könne sich bei den Extropianern

um eine radikale Gruppe mit Hang zu einem politisch totalitären System handeln, aus

dem Weg zu räumen. Dabei scheint mir der ganze Text von diesen beiden ambivalenten

Grundaussagen durchzogen: Zunächst wird kein Zweifel daran gelassen, worum es den

Extropianern geht: „Aus unserer Sicht befindet sich die Menschheit in einem Übergangs-

stadium auf dem Weg zwischen animalischer Abstammung und posthumaner Zukunft.“19

Diese soll erreicht werden durch „Gentechnik, die lebensverlängernden Methoden der

Biowissenschaften, durch intelligente Multiplikatoren, intelligentere Schnittstellen zu

schnelleren Computern, den Zusammenschluss von Neurowissenschaften und Informa-

tik, durch weltweite Datennetze, virtuelle Realität, intelligente Agenten, schnelle elektro-

nische Kommunikation, künstliche Intelligenz, neuronale Netzwerke, künstliches Leben,

die Eroberung des Weltraums und durch die molekulare Nanotechnologie.“20 Dieser Aus-

sagestrang mündet in der Überzeugung, dass nur der radikale Fortschritt dies alles er-

mögliche, und natürlich sind es die Extropianer, die dafür sorgen werden, dass das

16 More 1998, Einleitung. 17 More 1998. 18 More 1998, Einleitung. 19 More 1998, Abschnitt „1. Kontinuierlicher Fortschritt“. 20 More 1998, Abschnitt „4. Intelligente Technologie“.

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prophezeite posthumane Zeitalter kommt: „Wo andere aufgeben schreiten wir voran. Wo

es anderen zu viel wird, sagen wir: Vorwärts! Aufwärts! Hinaus ins Unbekannte!“21

Man könnte also den Eindruck gewinnen, dass das posthumane Zeitalter erreicht werden

soll, koste es, was es wolle. Umso mehr erstaunt es, dass der Text von Aussagen wimmelt,

die die Radikalität der Forderungen wieder zurückzunehmen scheinen, und damit einen

zweiten Aussagestrang bilden: „Es ist für uns wichtig, dass potentiell gefährliche Techno-

logien mit Bedacht und Umsicht entwickelt werden, wir wollen aber weder den evolutio-

nären Fortschritt aufhalten, noch vor dem Unbekannten zurückschrecken.“ 22 Eine

besondere Stellung erlangen Begriffe wie Rationalität, Verantwortung, Freiheit, etc.: „Wo

immer es möglich ist, sollte verhandelt werden, statt Druck auszuüben, rationale Diskus-

sion an die Stelle von Zwang und Manipulation treten und Kooperation der Konfrontation

vorgezogen werden. Wir schätzen das selbstbestimmte Leben anderer Personen und de-

ren eigene Werte und Ziele. Deshalb üben wir uns in Zusammenarbeit mit beiderseitigem

Nutzen, statt zu versuchen, unsere Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen.“23 Ob

die Aussagen in anderen transhumanistischen Texten diesen vorgegeben Standards

standhalten, wird noch zu klären sein.

Vier Jahre nach der „Extro – 1“ fand eine vergleichbare Veranstaltung auch in Europa

statt: die „Transvision 98“24. Während in den Niederlanden, wo die Konferenz stattfand,

bereits ein transhumanistischer Verein bestand, ging der Impuls zur Gründung des Ver-

eins „DE:Trans - Deutsche Gesellschaft für Transhumanismus e.V.“ von diesem Treffen

aus. Schließlich bekam DE:Trans am 16. Juli 2001 den Status der Gemeinnützigkeit zuer-

kannt. Vorsitzender ist seit dem 12. Februar 2002 Torsten Nahm, sein Vorgänger in die-

sem Amt ist der Physiker Dr. Frank Prengel. In der Satzung25 des Vereins werden u.a. die

Verbreitung transhumanistischer Ideen, die Übersetzung transhumanistischer Publikati-

onen und der Meinungsaustausch über transhumanistische Themen als Zwecke des Ver-

eins angegeben. In dieser Satzung findet sich auch die Förderung der bereits erwähnten

Kryonik wieder. Natürlich gibt es auch eine internationale Dachorganisation, die „World

Transhumanist Association (WTA)“. Von ihr wurden Prinzipien formuliert, die für die

transhumanistische Bewegung gelten sollen. Diese „Transhumanistische Erklärung“26 , an

der auch Max More mitgewirkt hat, wurde von der WTA verabschiedet und liegt zur Zeit

in der Version 2.5 vor. In den sieben kurz gehaltenen Punkten tauchen beide Aussage-

stränge, die ich eben für More´s extropianische Grundsätze aufgezeigt habe wieder auf.

Allerdings tritt im Text der Transhumanistischen Erklärung die Ambivalenz der beiden

Aussagestränge nicht so deutlich zu Tage.

21 More 1998, Abschnitt „3. Aktiver Optimismus“. 22 More 1998, Abschnitt „4. Intelligente Technologie“. 23 More 1998, Abschnitt „6. Selbstbestimmung“. 24 Ein Bericht über diese erste Konferenz findet sich bei Prengel 1998. 25 De:Trans 2001. 26 WTA 2002.

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„Widerstand zwecklos!“ ?

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1.2. Theologische Relevanz

Nach dem bisher Gesagten könnte man zum Schluss kommen, dass eine solche Bewegung

keine Relevanz für die Theologie habe. Zumal viele der Prognosen und Hoffnungen, die in

transhumanistischen Texten vertreten werden, eher aus der Feder eines Science-Fiktion-

Autors entschlüpft zu sein scheinen.

Dass ich nicht dieser Auffassung bin, kann man schon daran erkennen, dass ich meine

Diplomarbeit der Auseinandersetzung mit transhumanistischen Gedanken widme. Ich

glaube sogar, dass die Theologie langfristig nicht um solche Auseinadersetzungen herum-

kommen wird. Wie viele neu entstandene Strömungen in der Geschichte, so ist auch der

Transhumanismus ein Spiegel seiner Zeit. Viele der Ideen sind längst durchgesickert und

tauchen in den Alltagsüberzeugungen der Menschen ganz selbstverständlich auf. So ist es

zum Beispiel keine Seltenheit mehr, dass Studenten davon sprechen, sich den Stoff für die

nächste Prüfung am liebsten von einem Chip in ihren Kopf herunterladen zu können. Und

die wenigsten erachten diese Szene als irrational. Sie ist halt jetzt noch nicht machbar.

Die Texte der Transhumanisten mögen oft überzogene Vorstellungen bieten, aber sie bil-

den eine Art Kondensat weit verbreiteter Meinungen.

Man wird auch eins der Hauptargumente der Transhumanisten nicht einfach von der

Hand weisen können: Die Welt von heute müsste einem Zeitreisenden aus dem begin-

nenden zwanzigsten Jahrhundert wie ein Science-Fiction-Roman vorkommen. Vieles ist

geschehen, was man vor einigen Jahrzehnten noch für unmöglich gehalten hätte, für eine

Spinnerei, mit der man sich nicht zu beschäftigen braucht. Dass man daraus nicht schlie-

ßen darf, die Prognosen der Transhumanisten gingen alle in Erfüllung, bedeutet umge-

kehrt nicht, dass man es von vorneherein ausschließen könnte.

Es gibt meines Erachtens mindestens drei Gründe für die Theologie sich mit dem Trans-

humanismus auseinander zu setzen:

Zunächst ist da die religionskritische Haltung, die in den einschlägigen Texten immer

wieder auftaucht. Religion, und oft ist im besonderen die christliche gemeint, wird als

technikfeindlich, dogmatisch, autoritär und autoritätshörig, etc. gebrandmarkt. „’Religion

ist eine entropische Kraft, die unserer posthumanen Gesellschaft entgegensteht’, sagt Max

More mit Emphase. ‚Gottesdienst, Glaubensartikel, das alles will die Menschen an ihre

eigene Blindheit binden. Statt Kraft in sich selbst zu finden, sollen sie auf Rettung durch

höhere Mächte hoffen.’“27

Man kann die Gründe für diese Auffassung, die nicht nur in transhumanistischen Kreisen

weit verbreitet ist, in den Konflikten zwischen Theologie und Naturwissenschaften ver-

gangener Jahrzehnte und Jahrhunderte suchen. Das spricht aber nicht von der Notwen-

digkeit frei, den Dialog mit Biologie, Informatik und Physik aufzunehmen. Die

Berechtigung zu einem solchen Dialog kommt nicht nur aus einem Eigeninteresse von

Philosophie und Theologie, sondern speist sich genauso aus dem Interesse und der Praxis

naturwissenschaftlicher Betrachtungen. Die Prognosen, die zur Zeit vor allem von einigen

27 Freyermuth 1996, S227.

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Physikern und Informatikern gemacht werden, sind oftmals nicht mehr durch eine Beru-

fung auf naturwissenschaftliche Methoden zu rechtfertigen. Vielmehr neigen einige dieser

Wissenschaftler dazu, unter dem Deckmantel der Physik oder Informatik Methoden und

Theorien der Philosophie auf ihren Gegenstand anzuwenden, ohne ausdrücklich darauf

hinzuweisen. Der Umstand, dass solche Autoren sich auf ihrem eigenen Forschungsgebie-

ten naturwissenschaftlichen Methoden verpflichtet wissen und aufgrund ihrer Arbeit

Rang und Namen haben, sagt noch nichts über die Qualität oder gar den Wahrheitsgehalt

ihrer philosophischen Weltdeutungen aus.

Der zweite Grund, sich mit den transhumanistischen Prognosen zu beschäftigen, liegt im

Einfluss der fortschreitenden technischen Entwicklungen auf unser Zusammenleben.

Aufgrund seiner Maximen wird der Transhumanismus zu gänzlich anderen Bewertungen

ethischer Probleme gelangen, als die Theologie. Damit stellt sich aber auch die Frage nach

dem zugrundeliegenden Menschenbild, nach Sinn und Ziel menschlichen Daseins.

Drittens spielen in den transhumanistischen Ideen und Prognosen zentrale theologische

Themen eine große Rolle. Angefangen von der Schöpfungslehre, über Gotteslehre und

Anthropologie, bis hin zur Eschatologie werden Aussagen gemacht, die denen der christli-

chen Theologie widersprechen und sie in Frage stellen.

Natürlich können all diese Themen nicht in einer Diplomarbeit behandelt werden. Es gilt

also den Themenbereich einzuschränken.

Die Prognose von der posthumanen Zukunft ist ein Hauptthema des Transhumanismus.

Damit verbunden ist meist die Vorstellung, dass die Überwindung des homo sapiens für

den Menschen die einzige vernünftige Option bilde, da anderenfalls intelligente Maschi-

nen den Menschen verdrängen werden. Sollte dies richtig sein, so hat das weitreichende

Folgen für den Umgang der Menschen miteinander, für den Umgang mit der Natur und

Technik und auch für das Gottesbild der Menschen. Im Prinzip entstehen die beiden

letztgenannten Gründe für die Theologie, sich mit dem Transhumanismus zu beschäfti-

gen, nur dann, wenn man diesen Prognosen glauben schenkt. Bei denen aber, die dies

tun, kann man schon heute entsprechende Überzeugungen feststellen.

Grundlage für die Prognosen sind vor allem die Erfolge und Erkenntnisse der KI-

Forschung der letzten Jahrzehnte. Im nächsten Punkt soll daher die Entwicklung dieser

Forschungsrichtung grob nachgezeichnet werden.

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2. Die Evolution der Maschinen

2.1. Eine neue Forschungsrichtung und ihre Krise

2.1.1. ‚Starke’ und ‚schwache’ KI-Forschung

Im Jahr 1956 fand am Dartmoth College eine Tagung statt, auf der von John McCartny

der Begriff „Artificial Intelligence“ – ‚Künstliche Intelligenz’ (KI) geprägt wurde. Die

Grundannahme, die auch im Förderungsantrag an die Rockefellerstiftung formuliert

wurde, bestand darin, dass jede intelligente menschliche Aktivität so beschrieben werden

könne, dass sie mit einer Maschine simuliert werden kann.28 Intelligenz lässt sich dem-

nach operationalisieren. Dies bedeutet, dass die Ausführung entsprechender Operationen

als intelligente Leistung angesehen werden kann, egal ob sie durch ein künstliches System

oder einen Menschen ausgeführt werden.

Können wirklich alle Handlungen und Verhaltensweisen, bei denen wir Intelligenz vo-

raussetzen, operationalisiert werden? Die KI-Forscher spalten sich angesichts dieser Fra-

ge in zwei Lager: Die ‘harte’ oder ‚starke’ KI nimmt an, dass auch Kreativität und

Bewusstsein operationalisiert werden können, während die ‘weiche’ bzw. ‚schwache’ KI

dies abstreitet: „Vieles aber, was das menschliche Denken kennzeichnet und was wir mit

intentionalen Termini wie Kreativität oder Bewusstsein benennen, entzieht sich weitge-

hend einer Operationalisierung. Dies wird jedoch angezweifelt, von Vertretern der sog.

‚starken KI-These’, die besagt, dass Bewusstseinsprozesse nichts anderes als Berech-

nungsprozesse sind, die also Intelligenz und Kognition auf bloße Informationsverarbei-

tung reduziert. Ein solcher Nachweis konnte aber bisher noch nicht erbracht werden – die

Behauptung, es sei im Prinzip der Fall, kann den Nachweis nicht ersetzen. Hingegen wird

kaum bestritten, dass Intelligenz auch Informationsverarbeitung ist – dies entspricht der

‚schwachen KI-These’.“29 Aus der Sicht einer starken KI-These, die wohl von den meisten

Transhumanisten vertreten wird, stellt sich dies natürlich anders dar. Für sie liegt die

Beweislast bei denjenigen, die behaupten, dass Bewusstsein mehr oder etwas grundle-

gend anderes als die Operationen sei, die unser Gehirn ausübt. Der Einwand, den Görz

und Wachsmuth in der eben zitierten Passage gegen die starke KI-These anführen,

scheint daher zu kurz gegriffen.

Die Dartmouth-Konferenz, deren Teilnehmer in den Folgejahren einige Institute für KI-

Forschung an verschiedenen Universitäten gründeten, gilt zurecht als eine Art Grün-

dungsversammlung. Vereinzelte Wurzeln sind aber schon vorher zu finden.30 Der viel-

28 Görz und Wachsmuth 2000, S3. 29 Görz und Wachsmuth 2000, S2. 30 Kurzweil zählt gerne eine ganze Reihe von Entwürfen auf, die als Vorläufer von Computern und Robotern betrachtet werden können. So erwähnt er zum Beispiel Babbage, der bereits im 19. Jahrhundert eine Maschine entwarf, von der er glaubte, dass sie auch das Schachspiel beherrschen oder Musik komponieren könnte. Nach Angabe von Kurzweil hatten diese Entwürfe maßgeblichen Einfluss auf den ersten programmierbaren Computer ‚Mark I’, der 1946 in den USA gebaut wurde. Siehe Kurzweil 2000, S111-115. Eine Ausführliche Chronologie von Erfindungen findet sich in der Zeittafel von Kurzweil 2000, S425-453. Einen eindrucksvollen Einblick in die Computergeschichte kann auch ein Besuch im Siemens-Nixdorf-Forum in Paderborn bieten.

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leicht wichtigste Wegbereiter der KI war Alan Turing. Der englische Mathematiker war im

Jahr 1944 maßgeblich an der Entwicklung von „Colossus“ beteiligt, einem System, das

den Code der deutschen Codiermaschine „Enigma“ entschlüsselte und damit kriegsent-

scheidende Bedeutung gewann. Bereits 1936 entwarf er das theoretische Modell einer

Universalrechenmaschine, mit der jede beliebige Berechnung ausgeführt werden kann.

Sie ging als „Turing-Maschine“ in die Geschichte ein.31

Ebenso berühmt ist der Turing Test geworden, durch den geklärt werden soll, ob eine

Maschine menschenähnliche Intelligenz besitzt oder nicht.32

2.1.2. Die „Top-Down-Methode“

Geht man davon aus, dass künstliche Systeme Intelligenz erreichen können, so muss ge-

klärt werden, wie ein solches System konstruiert sein müsste. Im Anschluss an die

Dartmouth-Konferenz dominierte zunächst ein Ansatz, den man die „Top-Down-

Methode“ nennt. Diese Methode geht davon aus, dass Denken und Vernunft Aktivitäten

sind, die eine hohe Intelligenz erfordern. Unserer Erfahrung entsprechend nimmt man

an, dass unsere alltäglichen Aktivitäten – z.B.: Sehen, Hören, Sprechen, Gehen, Etwas

greifen oder manipulieren - leichtere Aufgaben sind, die nur wenig Intelligenz vorausset-

zen. Mathematische Beweise führen oder Schach spielen gelten dagegen als Intelligenz-

leistungen par exellance. Bei der Top-Down-Methode erfolgt die Problemlösung im

Normalfall dadurch, dass das Problem in Teilprobleme aufgelöst wird, die leichter zu

handhaben sind. Die Lösung erfolgt also von oben nach unten. „Die Top-Down-Methode

wird auch Methode der schrittweisen Verfeinerung genannt. Dabei wird ein komplexes

System solange in logisch sinnvolle und in sich geschlossene Teilsysteme untergliedert,

bis eine untergeordnete Hierarchieebene erreicht wird, auf der die einzelnen Teilaufgaben

lösbar sind. Sind die Aufgabenstellungen sämtlicher Subsysteme gelöst, ist die Problem-

stellung des Gesamtsystem gelöst.“33 Da die Lösung nach den Gesetzen der Logik erfolgt,

wird dieser Ansatz auch als regelbasierte KI bezeichnet.34

Stellt man sich Systeme vor, die nur nach logischen Regeln arbeiten, dann fällt es einem

schwer daran zu glauben, dass solche Systeme eine menschenähnliche Intelligenz haben

könnten: In einem solchen System ist kein Platz für das Aufkommen von Kreativität oder

Flexibilität. Und auch unsere Vorstellung eines freien Willens, scheint in einem solchen

Ansatz nicht vorzukommen. Ohne Kreativität und freien Willen erscheinen uns die Leis-

tungen von künstlichen Systemen aber nicht besonders intelligent. Dementsprechend

führte die Favorisierung der Top-Down-Methode zu einer Krise der KI-Forschung.

Zwar konnten die menschlichen Intelligenzleistungen, die ein hohes Maß an Informati-

onsverarbeitung und logischem Schlussfolgern voraussetzen, weit übertroffen werden,

aber bei alltäglichen Aufgaben, die einem durchschnittlich intelligenten Menschen äu-

31 Zur Erklärung der Turing-Maschine siehe u.a. Kurzweil 2000, S474-476 (Endnote 16 von S123), so wie Moravec 1999, S124-125. 32 siehe ausführlich zum Turingtest den Abschnitt 4.1.1 33 Brooks 2001, S15. 34 siehe Turkle 1998, S201. Man findet auch die Begriffe informationsverarbeitende, traditionelle oder klassische KI.

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ßerst leicht von der Hand gehen, versagten die künstlichen Systeme. „In den folgenden

zehn Jahren [nach der Dartmouth-Konferenz (Anm. RS)] wurden Programme geschrie-

ben, die geometrische Theoreme bewiesen, Differentialaufgaben lösten und sich achtbar

als Dame- und Schachspieler schlugen. Trotz einer ganzen Anzahl intelligenter mathema-

tischer und programmtechnischer Neuerungen, kamen diese Programme nie über den

Kenntnisstand des ersten Collagejahres hinaus. Außerdem stellte sich heraus, dass kein

Programm die engeren Grenzen seines Fachgebietes überschreiten konnte. Insbesondere

schien es unmöglich zu sein, die Programme mit einem praktischen ‚Alltagsverständnis’

auszustatten.“35

Die meisten künstlichen Systeme, die nach der Top-Down-Methode arbeiten, verfügen

über eine sehr begrenzte Menge an Informationen, die ihnen einprogrammiert werden.

Ihr „Wissen“ beschränkt sich auf solche Informationen, die für die konkrete Problemlö-

sung relevant sind. Bei Problemen, die durch logische Analyse und Suchverfahren gelöst

werden können, genügt dies auch, und die Menge an relevanten Informationen bleibt im

Regelfall so überschaubar, dass sie einprogrammiert werden kann. So genügt es bei einem

Schachprogramm, wie „Deep Blue“, das 1997 den Weltmeister Kasparow geschlagen hat,

dass ihm die Spielregeln einprogrammiert werden, zusammen mit einem relativ einfa-

chen Suchprogramm, das die besten Züge ausfindig macht.36

Ebenfalls auf einem Suchprogramm basierend, sind die sogenannten „Expertensysteme“.

Einem medizinischen Expertensystem werden zum Beispiel die verschiedenen Krankhei-

ten mit den dazugehörigen Symptomen einprogrammiert, so dass ein Arzt nach der Ein-

gabe der Symptome eines Patienten vom Expertensystem mögliche Diagnosen geliefert

bekommt. Natürlich arbeiten solche Systeme oft zuverlässiger und schneller, als Men-

schen, aber sowohl die Weiterentwicklung, als auch mögliche Änderungen des Systems

sind äußerst aufwendig, da sie vornehmlich ‚von Hand’ geleistet werden müssen.37 Allein

für ein medizinisches Expertensystem ist schon eine gewaltige Menge an Informationen

und Verknüpfungen nötig. Würde man von einem solchen System auch noch verlangen,

dass es einem Patienten den besten Weg zur Apotheke oder ähnliche Dinge erklärt, so

würde die Informationsmenge, die einprogrammiert werden muss, ins unermessliche

steigen. „Wissen ist zu komplex, als dass jeder Widerspruch und jede Ausnahme von den

Wissensingenieuren vorausgesehen werden könnte. Wie Minsky bemerkte: ‚Vögel können

fliegen, es sei denn, es handelt sich um Pinguine oder Strauße, oder sie sind tot oder ha-

ben gebrochene Schwingen oder sind in Käfige gesperrt, oder ihre Füße stecken in Ze-

ment, oder sie haben derart schreckliche Erfahrungen gemacht, dass sie psychisch

unfähig sind zu fliegen.’“38

Ein Ausweg wäre, dem System die Möglichkeit zu geben, selbst das nötige Wissen zu er-

werben, etwa indem man es Bücher lesen lässt oder mit „Sinnesorganen“ - Videokameras,

35 Moravec 1999, S39. 36 Kurzweil 2000, S124-126. 37 siehe Steels 1996, S335. 38 Kurzweil 2000, S153-154. Für das Zitat gibt Kurzweil keine Belegstelle an.

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Mikrophonen, Tastsensoren, usw. - ausstattet. Diese Idee ist nicht ganz neu: Bereits die

Kybernetik hatte in ihrer Anfangszeit das Ziel, „Maschinen zu bauen, die so handelten, als

wären sie lebendig.“39 Auch die KI-Forschung verfolgte in den ersten Jahren diesen An-

satz. Und schon Alan Turing „vertrat die Ansicht (zum Verdruss seiner Arbeitgeber auf

teilweise wunderliche Art), dass es für die Erforschung einiger Bereiche der Intelligenz

notwendig sein würde, der Maschine einen Körper zu geben, wobei für ihn der Erfolg ‘al-

lerdings eher zu sehr von Sinnesorganen und Fortbewegung abzuhängen scheint, um

durchführbar zu sein’.“40 Zunächst scheiterten diese Überlegungen daran, dass sie tech-

nisch nicht realisierbar waren. So wandte sich Turing weitestgehend der Lösung von logi-

schen Problemen zu.

Aber auch als die technischen Voraussetzungen zur Verfügung standen, führten die ersten

Versuche, Systeme zu bauen, die eigenständig Wissen erwerben und mit ihrer Umwelt

interagieren können zu einer großen Ernüchterung: "1965 hatten diese Forscher [Marvin

Minskys Studenten am MIT (Anm. RS)] eine Maschine gebaut, die weiße Klötze auf einer

schwarzen Tischplatte finden und von dort entfernen konnte. Diese Leistung setzte ein

Steuerungsprogramm voraus, das ebenso komplex war wie die damals üblichen schluss-

folgernden Programme - Programme, die es, unbeeinträchtigt von

Roboteranhangsgebilden, etwa bei der Lösung von Integral- und Differentialaufgaben,

mit College-Erstsemestern aufnehmen konnten. Doch Minskys Hand-Augen-Systeme

reichten nicht einmal an die Fähigkeiten eines Kleinkindes heran."41

Diese ersten Schritte der Robotik42 waren entmutigend. Die Ausführung solcher Aufga-

ben, die jedes Kind mit Leichtigkeit vollbringt, war für die Roboter mit einem so großen

Maß an Rechenleistung verbunden, dass es fast unmöglich schien ein System zu schaffen,

das eigenständig lernt und mit seiner Umgebung interagiert. Wahrnehmung und Han-

deln, das wurde immer deutlicher, benötigen ein enormes Alltagswissen, ein Wissen, des-

sen Erwerb und Nutzung nicht einfach starren Regeln folgt. Dies wurde lange Zeit

unterschätzt.

2.1.3. Der ‚Bottom-Up-Ansatz’

Die Probleme, die die ‚Top-Down-Methode’ mit sich brachte, führten dazu, dass man sich

vermehrt biologische Systeme wie das menschliche Gehirn zum Vorbild nahm. Es ent-

stand der sogenannte „Bottom-Up-Ansatz“, bei dem die Problemlösung nicht mehr star-

ren Regeln folgt, sondern von unten nach oben durch selbstorganisierende Systeme

erreicht werden soll. Dabei betrachtet man die Zusammenwirkung der einzelnen Kompo-

nenten; es wird „ausgehend von einzelnen konkreten Problemen eine umfassende, die

Einzellösungen integrierende Gesamtlösung erarbeitet.“43 39 Moravec 1990, S17. Der Ausdruck Kybernetik wurde von Norbert Wiener geprägt. Die Disziplin entstand nach dem zweiten Weltkrieg und beschäftigt sich mit der selbsttätigen Steuerung von Systemen in Physik, Technik, Biologie und Soziologie. 40 Brooks 2000, S18. 41 Moravec 1990, S21. 42 Der Begriff Roboter wurde vom tschechischen Schriftstellers K. Capek erfunden. 43 Brooks 2001, S16.

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Dieser Ansatz ist genauso wenig neu, wie die Idee, künstliche Systeme mit Sinnesorganen

auszustatten. Bereits in den sechziger Jahren wurde als Modell für Prozesse im menschli-

chen Gehirn, die Idee eines Perzeptrons geboren: "Ein Perzeptron ist ein Computerpro-

gramm, das aus kleineren Programmen, den Agenten, besteht, die jeweils einen

beschränkten Satz von Regeln folgen und ihre Entscheidungen auf die Grundlage einer

kleinen Datenmenge treffen. Sämtliche Agenten ‘stimmen’ über eine Frage ab, die dem

Perzeptron gestellt wurde, wobei das System ihrer Stimmen in Abhängigkeit von ihrer

bisherigen Erfolgsbilanz unterschiedlich gewichtet. Die Agenten, die häufiger richtig ra-

ten, als ihre Kollegen, erhalten bei nachfolgenden Entscheidungsprozessen mehr als eine

Stimme. In diesem Sinne lernt das Perzeptron aus seinen Erfahrungen. Seine ‘Intelligenz’

ist also nicht einprogrammiert, sondern das Ergebnis des Abstimmungswettstreits der

Agenten.“44 Ähnlich wie die Idee künstliche Systeme mit Sinnesorganen auszurüsten,

wurde auch die Idee des Perzeptrons aufgegeben, weil die damaligen Systeme die not-

wendige Leistung nicht erbrachten. Ein Perzeptron benötigt eine große Anzahl von Agen-

ten, die eine entsprechende Rechenleistung voraussetzen.

Erst als die Top-Down-Methode an ihre Grenzen stieß, wurde dieser Ansatz wiederent-

deckt. Man begann damit, neuronale Netze, also Systeme, die dem menschlichen Gehirn

nachempfunden sind, zu konstruieren. Dabei scheint der Umstand besonders wichtig zu

sein, dass unser Gehirn über eine parallele Informationsverarbeitung verfügt: Mehrere

Neuronen empfangen eine Reihe von Inputs; wird in einem Neuron eine bestimmte

Schwelle überschritten, so feuert dieses Neuron ein Signal an die nächst höhere Ebene.

Am Ende kommt es aufgrund verschiedener Verknüpfungsstränge zu verschiedenen Lö-

sungen. Die Lösungen kommen rein zufällig zustande und sind anfangs nicht sehr zuver-

lässig. Der Vorteil eines neuronalen Netzes ist jedoch seine Lernfähigkeit: Ähnlich wie bei

den Agenten des Perzeptrons werden die Verbindungen, die eine richtige bzw. gute Lö-

sung erzielen, gestärkt, während die anderem Verbindungen abgeschwächt werden. "Mit

der Zeit organisiert das neuronale Netz sich so, dass es auch ohne Unterstützung richtige

Antworten liefert."45

Mit Hilfe von Computern lassen sich neuronale Netze simulieren, indem Siliziumchips

die Aufgabe der Neuronen übernehmen. Solche Systeme werden zum Beispiel zur Mus-

tererkennung eingesetzt (Erkennung von Handschriften, Gesichtern, gesprochenen Tex-

ten). Musterkennungen spielen auch bei unseren alltäglichen Wahrnehmungen und

Handlungen eine entscheidende Rolle. Wenn wir zum Beispiel einen Ball fangen wollen,

so führen wir eben nicht komplizierte Berechnungen über die Flugbahn aus, sondern wir

erkennen das Muster, wie der Ball auf uns zukommt und vergleichen dieses Muster mit

bereits durchlebten Situationen. Entsprechend der erkannten Situation gehen wir einen

Schritt vor oder einen Schritt zurück um den Ball zu fangen.46 44 Turkle 1998, S207. Das Perzeptron als Modell für ein neuronales Netz geht auf den amerikanischen Psychologen Frank Rosenblatt zurück. Siehe Artikel „Perzeptron“, in Lexikon der Neurowissenschaft, http://www.wissenschaft-online.de/abo/lexikon/neuro/9727. 45 Kurzweil 2000, S128. 46 siehe Kurzweil 2000, S132.

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Ein weitere wichtige Anwendung der Bottom-Up-Methode ist der „Evolutionäre Algo-

rithmus“. Hierbei werden eine Menge kleiner Programme geschrieben, die ein Problem

lösen sollen. Die Programme, die die besten Lösungen aufweisen, dürfen sich vervielfälti-

gen, die anderen werden vernichtet. Bei der Vervielfältigung werden kleine Fehler zuge-

lassen, so dass es zu „Mutationen“ kommt. Aus der neuen Generation von Programmen

werden wieder die besten ausgesondert und so fort. Nach einigen tausend Generationen

erreichen die Programme eine enorm hohe Trefferquote bei der Lösung des Problems.

Ein solches System kann zum Beispiel eingesetzt werden, um Geldanlagen zu verwalten.

Dabei werden die Agenten so programmiert, dass sie bestimmten Regeln folgen, nach de-

nen sie Aktien kaufen und verkaufen. Jedem dieser Programme steht etwas simuliertes

Geld zur Verfügung und nach einem Zeitabschnitt wird überprüft, was die einzelnen Pro-

gramme auf der Grundlage realer Finanzdaten leisten. Die Selektion und Reproduktion

der Programme erfolgt nach den beschrieben Regeln. "Die Software-Organismen, die

diesen Prozess überlebt haben, müssten besonders gewiefte Investoren sein. Ihre Metho-

den haben schließlich hunderttausend Vernichtungsschläge einer evolutionären Selektion

überstanden."47

Ein besonderer Aspekt tritt bei den Lösungsversuchen der Bottom-Up-Methode deutliche

hervor. Die Leistungen von Expertensystemen, Industrierobotern und Schachprogram-

men, die im Normalfall nach der Top-Down-Methode funktionieren, sehen wir im allge-

meinen nicht (mehr) als intelligent an. Jeder Schritt, der ausgeführt wird, ist exakt

nachvollziehbar und kann zur abermaligen Lösung des Problems genau wiederholt wer-

den. Solche Systeme gelten eher als „Hochgeschwindigkeitstrottel“, denn als Systeme mit

eigener Intelligenz. Bei Systemen, die nach Bottom-Up-Methode arbeiten, treten dagegen

Unvorhersagbarkeit, Flexibilität und Kreativität ebenso auf, wie dies bei der „natürlichen“

Intelligenz der Fall ist. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis solche Systeme uns in Sa-

chen Intelligenz ebenbürtig sein werden.

Das Aufkommen des Bootom-Up-Ansatzes bedeutet aber nicht, dass der traditionelle

Top-Down-Ansatz keine Bedeutung mehr in der KI-Forschung hätte. Hans Moravec er-

wartet sogar, dass sich die beiden Ansätze einander ergänzen und sich bei ihren Bemü-

hungen irgendwann am gemeinsamen Ziel treffen: „Ich bin deshalb davon überzeugt,

dass eines Tages, wenn sich dieser von unten nach oben gerichtete Ansatz der KI-

Forschung mit der traditionellen von oben nach unten verlaufenden Forschungsrichtung

trifft, die Robotik mehr als den halben Weg zurückgelegt haben und in der Lage sein wird,

die praktische Kompetenz und das Alltagswissen zu liefern, das den schlussfolgernden

Programmen bislang noch fehlt."48

Wir haben nun einige wichtige Methoden kennen gelernt, durch die erreicht werden soll,

dass künstliche Systeme Intelligenz erlangen. Und in der Tat, wurden auf diesem Gebiet

enorme Fortschritte gemacht. Die ersten Anwendungen sind auf dem Markt und allmäh-

47 Kurzweil 2000, S136. 48 Moravec 1990, S32.

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lich gewöhnen wir uns an den Gedanken, dass es Maschinen geben wird, die selbstständig

Probleme erkennen und lösen werden. Dies veranlasst Viele dazu, einen Blick in die Zu-

kunft zu werfen: Werden Maschinen ein menschliches Niveau an Intelligenz erreichen?

Ray Kurzweil und Hans Moravec bejahen dies und sie gehen in ihren Prognosen noch

weiter. Ausgehend von der bisherigen Entwicklung entwerfen sie ein detailliertes Bild

vom Leben im 21. Jahrhundert:

2.2. Die Zukunft der Maschinen

2.2.1. Ein Blick in die Zukunft wagen

1999 schrieb Hans Moravec: "Heute durchstreifen Dutzende von papierkorbgroßen Ma-

schinen die Flure von Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen in aller Welt.

Eine kleinere Zahl von weiteren Robotern fliegt, schwimmt, krabbelt auf Beinen oder

fährt auf Rädern in der weiteren Umgebung umher, wobei ihre visuelle Wahrnehmung

durch Satelliten- und Trägheitsnavigationssysteme unterstützt wird. Ihre Leistung reicht

noch nicht ganz für den allgemeinen Gebrauch aus, ist aber gut genug für gelegentliche

Wettbewerbe und unterhaltsam genug für Dutzende von Fernsehserien und Zeitschrif-

tenartikel. Und jedes Jahr verbessert sich ihre durchschnittliche Leistung."49 Einige die-

ser Systeme werden mittlerweile auch kommerziell vermarktet. Viele von ihnen

entsprechen noch nicht dem, was wir uns unter intelligenten Robotern vorstellen. Man-

che taugen nur als Spielgefährten, aber auch das wird sich bald ändern.

Die oftmals atemberaubenden Entwicklungen, die uns Jahr für Jahr präsentiert werden,

machen neugierig auf die Zukunft, und sie ermuntern Wissenschaftler und Zukunftsfor-

scher dazu, Prognosen abzugeben, wie sich künstliche Systeme weiter entwickeln werden.

Um solche Prognosen über die künftige Entwicklung der Technik zu machen, berufen sich

Kurzweil und Moravec auf Gesetzmäßigkeiten, die sie aus der bisherigen Entwicklung

oder aus grundlegenden physikalischen Gesetzen ableiten. Eines der wichtigsten Gesetze

geht von der bisherigen Entwicklung in der Computertechnologie aus: Im Jahr 1965 ent-

deckte der Erfinder des integrierten Schaltkreises, Gordon Moore, dass die Oberfläche der

Transistoren, die auf einen solchen Schaltkreis geätzt werden, sich alle 12 Monate um die

Hälfte verkleinert.50 Heute schätzt man, dass dies nur alle 24 Monate der Fall ist. „Bei den

ziemlich konstanten Produktionskosten bekommt man damit alle zwei Jahre für das glei-

che Geld, doppelt so viele Schaltelemente mit zweifacher Arbeitsgeschwindigkeit. Bei

zahlreichen Anwendungen bedeutet dies de facto eine Vervierfachung der Leistungsfähig-

keit.“51 Es liegt auf der Hand, dass eine solche Entwicklung irgendwann an ihre physi-

schen Grenzen stoßen wird. Integrierte Schaltkreise werden nur bis zu einem bestimmten

Punkt verkleinert werden können. Kurzweil vermutet, dass das Moorsche Gesetz etwa um

49 Moravec 1999, S77. 50 siehe Kurzweil 2000, S45. 51 Kurzweil 2000, S46.

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das Jahr 2020 an seine Grenzen stößt,52 aber auch dann werde das Wachstum der Re-

chenleistung weiter voranschreiten, zum Beispiel aufgrund von dreidimensionalen Chips,

verbesserten Materialien, Nanoröhren oder Quantencomputern.53

Besonders von der Nanotechnologie erwarten sich Transhumanisten entscheidende Fort-

schritte. Man geht davon aus, dass sich kleine Maschinen auf molekularer Ebene entwer-

fen und bauen lassen.54

Im Zentrum des Interesses stehen selbstreplizierende Nanoboter (Nano-Roboter), die

zum Beispiel im menschlichen Körper Operationen vornehmen könnten. Transhumanis-

tische Denker erwarten indessen, dass auch Nanoboter eine zum Menschen äquivalente

Intelligenz erreichen können. "Die Vorstellung von Maschinen im atomaren Größenbe-

reich ist großartig. Computer dieser Bauart würden alle Vergleiche mit den Menschen

weit hinter sich lassen".55

Trifft das Moorsche Gesetz zu, dann kann errechnet werden, wann künstliche Systeme

eine ähnliche Rechenleistung erbringen, wie das menschliche Gehirn. Dazu muss aber

zunächst geschätzt werden, wie viel Rechenleistung das menschliche Gehirn besitzt: "Kein

Zweifel, um menschliche Leistungsfähigkeit zu erreichen, ist mehr Computerleistung er-

forderlich. Doch wie viel? Die Gehirngröße von Mensch und Tier könnte Aufschluss ge-

ben, wenn sich vom Volumen der Nervenmasse auf die Rechenleistung schließen ließe."56

Moravec kommt zum Ergebnis, „dass wir etwa 100 Millionen MIPS [Million Instructions

Per Second (Anm. RS)] Computerleistung brauchen, um die die [sic!] gesamte Funktions-

tüchtigkeit des menschlichen Gehirns zu erreichen."57 Nach den Angaben von Moravec

gibt es bereits Systeme, die an diese Leistungsfähigkeit heranreichen. Aber diese werden

zu anderen Zwecken verwendet, da sie bisher noch einige Millionen Dollar kosten.

Kurzweil macht eine ähnliche Rechnung auf, lässt den künstlichen Systemen aber 10 Jah-

re mehr Zeit, um ein menschliches Niveau zu erreichen. 58

Wenn Computer die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erlangt haben, wird die

Entwicklung nach Auffassung von Kurzweil und Moravec nicht stehen bleiben. Maschi-

nen werden, davon sind sie überzeugt, uns überflügeln: "Auch nachdem der Personal

Computer für 1000 Dollar um das Jahr 2020 die Rechenleistung des menschlichen Ge-

hirns erreicht hat, wird sich die Leistungsfähigkeit unserer Denkmaschinen im Verhältnis

zu ihrem Preis weiter alle 12 Monate um den Faktor zwei verbessern.[...] Ein Personal 52 siehe Kurzweil 2000, S63. 53 siehe Kurzweil 2000, S65-66. Die These, dass die Rechenleistung exponentiell wachsen wird, stützt Kurzweil durch das „Gesetz von Zeit und Chaos: Der Zeitraum zwischen den herausragenden Ereignissen eines Prozesses (also Ereig-nissen, die sein Wesen verändern oder seine Zukunft maßgeblich beeinflußen) wird mit dem Maß der Unordnung länger oder kürzer.“ (Kurzweil 2000, S55). Da in der biologischen und technischen Evolution dass Maß der Ordnung steigt, beschleunigt sich die Entwicklung; die Zeitabstände zwischen herausragenden Ereignissen werden geringer. 54 Als Begründer gilt der Wissenschaftler Richard Feynman, der 1959 zu diesem Thema einen Vortrag am Colifornia Institute of Technology hielt. Siehe Kurzweil 2000, S219. Mittlerweile ist es Forschern gelungen, ein Nanotechnisches Gebilde zu bauen, dass sich eigenständig durch eine Nährsalzlösung bewegt. 55 Moravec 1990, S104. 56 Moravec 1999, S86. Moravec schätzt, wie hoch die Rechenleistung der Netzhaut beim menschlichen Sehen ist, ver-gleicht dies mit der Rechenleistung, die ein künstliches System für eine vergleichbare Auflösung braucht, und rechnet die so gewonnen Daten auf die Gesamtleistung des Gehirns hoch. Siehe Moravec, 1999, S87-88. 57 Moravec 1999, S88. 58 siehe Kurzweil 2000, S169.

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Computer wird also um das Jahr 2030 die Kapazität der menschlichen Gehirne in einem

kleinen Dorf, um 2040 die der menschlichen Gehirne in den Vereinigten Staaten und um

2060 die Kapazität Kapazität [sic!] von einer Billion menschlicher Gehirne besitzen.

Wenn man für das Jahr 2099 eine Weltbevölkerung von 10 Milliarden Menschen an-

nimmt, dann wird die für einen Penny erhältliche maschinelle Rechenkapazität in diesem

Jahr eine Milliarde mal größer sein, als die aller Menschen auf der Erde."59

2.2.2. Robotergenerationen

Moravec konzentriert seine Vorhersagen über das 21. Jahrhundert entsprechend seinem

Fachgebiet vornehmlich auf die Entwicklung von Robotern. Im Punkt 2.1 wurde darge-

stellt, wie die Probleme der Robotik und KI-Forschung überwunden werden können. Es

ist absehbar, dass sich immer mehr Anwendungen finden lassen, bei denen die Entwick-

lungen der Robotik-Forschung eingesetzt werden können und Moravec ist der Überzeu-

gung, dass diese Entwicklung im Kern auf Universalroboter zulaufen wird, die sich stetig

verbessern werden: "Wenn die Roboter im Laufe der nächsten zehn Jahre in die Massen-

produktion gehen und sich in immer breiterer Anwendung allmählich zu Allzweck- oder

Universalrobotern entwickeln, wird sich die Evolution echter Maschinenintelligenz er-

heblich beschleunigen. Zunächst werden diese Maschinen in der physischen Welt das

sein, was die Personalcomputer in der Datenwelt waren - sture Befehlsempfänger, die

sich wortwörtlich an vorher festgelegte Anweisungssequenzen halten. Doch allmählich

werden sie immer mehr Fertigkeiten und Autonomie erwerben - bis sie uns schließlich in

jeder Hinsicht überlegen sind."60

Die Entwicklung der nächsten vierzig Jahre beschreibt Moravec anhand von Roboterge-

nerationen:61 Um 2010 werde die erste Generation von Robotern entstehen, die sich in

unserer Alltagswelt zurechtfinden: Sie werden sich fortbewegen können, und mit dem

Internet verbunden sein. Es wird entsprechende Software geben, mit Hilfe derer ein Ro-

boter "Lagerkarteien führen, Feinschmeckergerichte kochen, bestimmte Autotypen auf-

rüsten, Teppiche knüpfen, Rasen mähen, an Rennen teilnehmen, Spiele spielen, Erd- und

Bauarbeiten ausführen, Skulpturen anfertigen"62 und natürlich das ganze Haus putzen

kann.

In der zweiten Generation, die um das Jahr 2020 entstehen wird, werden die Roboter

bereits fähig sein zu lernen. Durch Konditionierungssignale63 wird der Roboter auswäh-

len, welche der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen er anwendet. Oder

59 Kurzweil 2000, S169. 60 Moravec 1999, S46. 61 siehe Moravec 1999, S143-171. 62 Moravec 1999, S153. 63 Moravec ist der Auffassung, dass das Konzept der Konditionierung auch für die menschlichen Gefühle zutrifft. ‚Schmerz’, ‚Lust’ ‚Angst’, etc. sind lediglich mentalistische Begriffe für bestimmte Konditionierungssignale. Bei einem Roboter der zweiten Generation könnte der Besitzer etwa durch die Begriffe ‚gut’ und ‚schlecht’ dem Roboter beibrin-gen, wann er die Wohnung saugen darf und wann nicht. Der Roboter würde sich in den betreffenden Fällen die ent-sprechenden Gegebenheiten ‚merken’ und in ähnlichen Situationen (Uhrzeit, anwesende Personen) das gewünschte Verhalten an den Tag legen. Siehe dazu Moravec 1990, S69 und Punkt 4.1.3.

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aber der Roboter wird vom Benutzer trainiert. So wird sich der Roboter an seine Umge-

bung anpassen.

Im Jahr 2030 wird dann die dritte Generation von Universalrobotern durch aufwendige

Simulationen die beste Möglichkeit finden, auf eine Situation zu reagieren. Diese Simula-

tionen laufen natürlich in extrem kurzer Zeit ab, so dass man nun beim Roboter von einer

Art Bewusstsein sprechen könne: "Eine ständig aktualisierte Simulation seines Selbst und

seiner Umgebung stattet den Roboter mit interessanten Fähigkeiten aus. Wenn er die Si-

mulation etwas schneller, als in Echtzeit ablaufen lässt, kann er sich in einer Vorschau

ansehen, was er tun will, und seine Absichten ändern, wenn die Resultate ungünstig sind

- eine Art Bewusstsein."64 Das nötige Hintergrundwissen, um solche Simulationen der

Umgebung zu erstellen, soll der Roboter in „Spielphasen“ erwerben.

Die vierte Generation von Robotern, die Moravec für das Jahr 2040 vorschwebt, wird

schließlich ein menschliches Niveau erreicht haben und in vielen Bereichen sogar den

Menschen übertreffen. "Ein Roboter der vierten Generation wird in der Lage sein, Ab-

sichtserklärungen entgegenzunehmen und sie in detaillierte Programme zu 'übersetzen',

die die entsprechende Aufgabe ausführen können. Bei einer umfassenden Datenbank

über die Welt könnten die Anweisungen ziemlich allgemein gehalten sein: 'Verdiene un-

seren Lebensunterhalt', 'Stelle noch mehr Roboter her' oder 'Stelle einen noch klügeren

Roboter her'“65.

Ungefähr in 50 Jahren werden nach Moravec die Roboter die Menschen an Intelligenz

und physischer Leistungsfähigkeit überholt haben: "Wir Menschen werden eine Zeit lang

von ihrer Arbeit profitieren. Doch über kurz oder lang werden sie, wie biologische Kinder,

ihren eigenen Weg gehen, während wir, die Eltern, alt werden und abtreten."66

2.2.3. Virtuelle Agenten

Ähnlich wie Moravec, kommt auch Kurzweil zu der Überzeugung, dass künstliche Syste-

me um das Jahr 2030 menschliches Niveau in Sachen Intelligenz und Bewusstsein errei-

chen. Sein Augenmerk ist dabei allerdings vornehmlich auf virtuelle Agenten gerichtet.

Ausgehend vom Jahr 1999, in dem sein Buch „Homo s@piens“67 erstmals erschienen ist,

entwirft er die Entwicklung dieser Agenten in Zehn-Jahres-Schritten. Für das Jahr

200968 prognostiziert er Neuerungen im Computerbereich, die weitestgehend realistisch

erscheinen: kabellose Verbindungen, interaktive Lernsoftware, Videokonferenzen, drei-

dimensionale Chips, in Kleidung und Schmuck eingebettete Computer und übersetzende

Telefone.

Für das Jahr 2019 nimmt Kurzweil an, dass die meisten Computer mit neuronalen Netzen

arbeiten. Sie sind weitestgehend in die Umwelt (Kleidung, Schmuck, Einrichtungen) ein-

64 Moravec 1999, S164. Von den Schwierigkeiten, die eine solche Erklärung von Bewusstsein mit sich bringt, wird unter Punkt 5.1.2 noch ausführlich zu sprechen sein. 65 Moravec 1999, S171. 66 Moravec 1990, S9-10. 67 Kurzweil 2000. 68 siehe Kurzweil 2000, S295-313.

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gebettet und damit „unsichtbar“. Es werde virtuelle Assistenten geben, deren Persönlich-

keit vom Nutzer nach Belieben gestaltet werden kann: „Der Nutzer kann die

keit seines intelligenten Assistenten einer realen Person nachbilden, auch seiner eigenen,

er kann sich aber auch für eine Kombination von Merkmalen unterschiedlichster Perso-

nen entscheiden, seien es Berühmtheiten, Freunde oder Kollegen.“69

Diese Assistenten werden nach Kurzweil eine entscheidende Rolle für das alltägliche Le-

ben der Menschen haben: "Die Menschen knüpfen Beziehungen zu ihren automatischen

Assistenten, die ihnen als Gesellschafter, Lehrer, Pfleger und Liebhaber dienen. [...] Noch

gelten sie, was die Stabilität ihrer Persönlichkeit angeht, nicht als dem Menschen eben-

bürtig, doch gehen die Meinungen in diesem Punkt auseinander."70

Für das Jahr 2029 sagt Kurzweil voraus, dass die Computeragenten autonom handeln

werden. „Automatisierte Agenten sind in der Lage, sich selbst ‚fortzubilden’, ohne dass sie

vom Menschen mit Informationen und Wissen gefüttert werden müssen. Computer ha-

ben sämtliche von Menschen und Maschinen generierten literarischen und multimedia-

len Erzeugnisse ‚gelesen’, einschließlich aller geschriebenen, auditiven, visuellen und

virtuellen Erfahrungsberichte."71

Damit ist ein Wendepunkt erreicht: "Die einstmals scharfe Trennlinie zwischen der

menschlichen Welt und der Maschinenwelt hat aufgehört zu existieren“72 Alle Fähigkei-

ten, Erkenntnisse und Persönlichkeitsmerkmale, die Menschen besitzen, werden prinzi-

piell auch Maschinen zugeschrieben werden können. Und sie werden sich diese

Eigenschaften auch selbst zuschreiben: "Maschinen beanspruchen für sich den Besitz ei-

nes Bewußtseins und die Fähigkeit, eine ebenso große Vielfalt an emotionalen und spiri-

tuellen Erfahrungen wie ihre menschlichen Schöpfer zu empfinden - ein Anspruch, der

weitgehend akzeptiert wird."73

Künstliche Systeme werden also nach Kurzweil und Moravec in 30 bis 40 Jahren einer-

seits wie wir Menschen so etwas wie Bewusstsein und Gefühle besitzen, andererseits wer-

den sie uns aber in Intelligenz und physischen Fähigkeiten übertreffen. Was aber

geschieht, wenn dies eintritt? Werden intelligente und bewusste Maschinen friedlich mit

den Menschen zusammen leben? "Was werden wir tun, wenn ein Computer dieses Buch

besser schreiben oder meine Forschungsarbeiten besser durchführen kann als ich? Diese

Fragen haben bereits für viele Menschen in den unterschiedlichsten Berufen fundamenta-

le Bedeutung gewonnen. In einigen Jahrzehnten werden wir alle davon betroffen sein.

Der Planung nach sind die Maschinen unsere gehorsamen und geschickten Sklaven. Doch

intelligente Maschinen - mögen sie auch noch so gutartig sein - bedrohen unsere Exis-

tenz, weil sie Mitbewohner unserer ‚ökologischen Nische’ sind. Die Maschinen brauchen

nur genauso intelligent wie Menschen zu sein, um in Konkurrenzsituationen außeror-

69 Kurzweil 2000, S315. 70 Kurzweil 2000, S320. 71 Kurzweil 2000, S340. 72 Kurzweil 2000, S342. 73 Kurzweil 2000, S344.

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dentliche Vorteile zu genießen."74 Will der Mensch vermeiden, dass er von überlegenen

künstlichen Systemen verdrängt wird, so hat er nach den Transhumanisten keine andere

Möglichkeit, als sich mit Hilfe von technischen Implantaten konkurrenzfähig zu machen.

De facto bedeutet dies, dass der Mensch immer mehr mit der Technologie verschmelzen

wird.

74 Moravec 1990, S140.

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3. Den Menschen überwinden

3.1. „Sie werden assimiliert..“

3.1.1. Cyborgs

Die Vorstellung, dass der Mensch mit der von ihm erfundenen Technik verschmilzt, ist

schon längst Wirklichkeit geworden: „Kiefer-, Schädel- und Hüftknochen werden durch

Imitate aus Titan ersetzt. Es gibt verschiedene Arten von künstlicher Haut, künstliche

Herzventile, synthetische Blutgefässe als Ersatz für Arterien und Venen, dehnbare Kunst-

stoffe, um schwache natürliche Blutgefäße zu verstärken. Es gibt künstliche Arme, Beine,

Füße und Wirbelsäulenimplantate. Wir verfügen über alle Arten von Gelenken: für Kiefer,

Hüften, Knie, Schultern, Ellbogen, Handgelenke, Finger, Zehen. Selbst die Funktion der

Blase lässt sich durch ein Implantat steuern."75 Sicherlich würde sich kaum einer der

Menschen, die ein solches Implantat besitzen, selbst als Cyborg bezeichnen. Und dennoch

scheint diese Bezeichnung, die wir vornehmlich aus den Science-Fiktion-Filmen und der

Science-Fiktion-Literatur unserer Tage kennen, nicht ganz falsch zu sein.

Der Begriff „Cyborg“ (cybernetic organism ) wurde 1960 von dem Luftfahrtingenieur

Manfred Clynes geprägt. Er sprach „von dem notwendigen funktionalen ‘Einswerden’ von

Pilot und Fluggerät. Clynes' Definition zufolge wäre bereits ein Fahrradfahrer, dem Peda-

le und Räder zur ‚natürlichen’ Verlängerung seiner Gliedmaßen geworden sind, ein Cy-

borg.“76 Heute versteht man unter Cyborg meist einen Menschen, der durch künstliche

Organe und Gliedmaßen, in seinen Fähigkeiten „verbessert“ wurde. Es ist schwierig eine

objektive Grenze zwischen Mensch und Cyborg zu ziehen. Im alltäglichen Sprachgebrauch

benutzen wir das Wort Cyborg hauptsächlich im Sinne einer Science-Fiktion-Vision, eine

Vision, die oft Unbehagen auslöst, da ein Mensch, dessen Fähigkeiten durch künstliche

Implantate verbessert wurden, gegenüber einem ‚normalen’ Menschen im Vorteil wäre.

Meines Erachtens ist dies ein Grund dafür, dass die meisten Menschen es intuitiv ableh-

nen, sich selbst oder Andere aufgrund von medizinischen Implantaten als Cyborg zu be-

zeichnen. Dazu kommt natürlich, dass künstliche Implantate bisher nur aus

medizinischen oder allenfalls ästhetischen Gründen eingesetzt werden und nicht, um eine

Ausweitung menschlicher Fähigkeiten zu ermöglichen. 77 Prengel geht davon aus, dass

zunächst medizinisch notwendige Implantate mit zusätzlichen Funktionen ausgestattet

werden, die natürliche Organe nicht besitzen. Diese Entwicklung kann schließlich „dazu

führen, dass in manchen Bereichen die künstlichen Organe den natürlichen (biologi-

schen) überlegen sein werden. Es ist abzusehen, dass dann Transplantationen nicht mehr

allein aus medizinischen Gründen (nach Unfall, Krankheit etc.) durchgeführt werden,

sondern weil die Menschen durch künstliche Organe ihre Leistungsfähigkeit (und damit

75 Kurzweil 2000, S215-216. 76 Freyermuth 1996, S 77 Der Boom in der Schönheitschirurgie zeigt bereits die Tendenz, dass die Akzeptanz in der Gesellschaft gegenüber Eingriffen in den menschlichen Körper, die nicht aus medizinischen Gründen erfolgen, wächst.

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ihr Leben) verbessern wollen. Der Cyborg wird in absehbarer Zeit Teil der menschlichen

Gesellschaft werden.“78

Dabei werden Menschen auf ihr Recht pochen, über den eigenen Körper selbst bestim-

men zu können, wie dies die Transhumanisten auch heute schon tun: „Transhumanisten

treten für das Recht derer ein, die technologische Mittel zur Erweiterung ihrer geistigen

und körperlichen (auch reproduktiven) Fähigkeiten und zur Verbesserung der Kontrolle

über ihr eigenes Leben einzusetzen wünschen. Wir streben nach individuellem Wachstum

über unsere gegenwärtigen biologischen Grenzen hinaus.“79

Ist der Cyborg erst einmal zum Ideal erhoben, fällt es auch gleich leichter, Menschen, die

mit Implantaten leben müssen, als Cyborgs zu betrachten. So berichtet Freyermuth vom

Auftritt eines solchen Cyborg bei einer Tagung: "Sie [, die Menschmaschine, (Anm. RS)]

besteht aus einer Art elektrischem High-Tech-Rollstuhl inklusive eines Lautsprecher-

paars, eines Satzes Batterien in hölzernen Boxen, eines Monitors sowie eines in sich ver-

drehten, gnomenhaften biologischen Körpers männlichen Geschlechts. Von dessen

Extremitäten ist nur ein Finger der linken Hand voll funktionstüchtig. Die verkrampfte

Rechte kann mit Hilfe eines Joysticks gerade mal den Weg der maschinengestützten In-

telligenz über das Podium anvisieren. Die Steuerung selbst übernehmen

Siliconprozessoren. Denn die mentalen Fähigkeiten eines normalen Homo sapiens ver-

teilt dieser Cyborg, wie einst manche Dinosaurier, auf zwei Gehirne.“80 Der Name des Cy-

borgs, von dem Freyermuth hier spricht ist Steven Hawkins. Aber ist Hawkins wirklich

ein Cyborg? Nach der oben genannten Definition, wonach ein Cyborg im Kern ein Mensch

ist, der durch künstliche Implantate und Organe „aufgerüstet“ wurde, wird man diese

Frage mit Ja beantworten können.

Man könnte bei der Definition des Cyborgs allerdings auch von den künstlichen Bestand-

teilen ausgehen: Als Cyborg würden dann nur Menschmaschinen gelten, die hauptsäch-

lich künstlichen Ursprungs sind, etwa weil ihre biologische Substanz ebenfalls künstlich

hergestellt wurde. Doch auch bei dieser Definition ist eine Grenzziehung schwieriger, als

man es auf den ersten Blick erwarten würde. Ist ein Mensch, der durch künstliche Be-

fruchtung im Reagenzglas gezeugt wurde, ein Cyborg? Verneint man dies mit dem Ver-

weis auf das Austragen des Babys im Mutterleib, so steht man schon bald vor der

nächsten Frage: Wird ein künstlich erzeugter Mensch, der als Embryo nicht in den Mut-

terleib eingepflanzt, sondern im Brutkasten aufgezogen wird, ein Cyborg sein?

Es wird deutlich, dass es zu einer generellen Verschiebung der Definition des Menschen

kommt. Lange Zeit glaubte man, dass Maschinen nie eine Stufe der Intelligenz erreichen

könnten, auf der sie dem Menschen ebenbürtig sein würden. Diese Auffassung änderte

sich aber. So berichtet Turkle über ihre Forschungen: "Mit Verblüffung stellte ich fest,

dass sehr viele der Personen, die ich 1987 nach ihrer Meinung zu intelligenten Maschinen

befragte, deren Entwicklung für möglich beziehungsweise nahe bevorstehend erachteten.

78 Prengel 2002, Abschnitt „Verbesserungen“. 79 WTA 2002. 80 Freyermuth 1996, S204.

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Doch der Wunsch der Menschen, mehr zu sein als bloße Maschinen, verschwand nicht; er

verlagerte sich bloß. Victoria, eine Pädagogikstudentin, formulieret es folgendermaßen:

‚Vielleicht können Computer denken, möglicherweise sogar wie der Mensch. Aber Men-

schen sind lebendig. Und das ist das Entscheidende.’ Im September desselben Jahres wa-

ren sich die Teilnehmer der ersten A-Life-Konferenz darüber einig, dass es an der Zeit sei,

zu dem überzugehen, was Victoria das Entscheidende genannt hatte."81 Die Teilnehmer

dieser ersten Konferenz zum Thema „Artificial Life“, ‚Künstliches Leben’ (KL) im Jahr

1987 in Los Alamos beschäftigten sich mit der Frage, welche Eigenschaften ein künstli-

ches System besitzen müsste, damit es als lebendig angesehen werden kann. Nach dem

Bericht von Turkle einigte man sich auf vier Kriterien, die ein lebendes Wesen ausma-

chen: Es muss erstens eine Evolution durchlaufen haben, zweitens müssen Funktion und

Reproduktion in einer Art genetischem Programm geregelt sein, drittens muss es so

komplex sein, dass sich sein Verhalten nicht vorhersehen lässt und viertens muss es über

Selbstorganisation verfügen. Die oben beschriebenen Anwendungen der Bottom-Up-

Methode stellen einen Teil der erforderlichen Techniken zur Verfügung, um ein solches

System zu konstruieren. Die ersten Programme, die diese Kriterien erfüllen - etwa Com-

puterviren oder die oben beschriebenen Finanzagenten - sind längst geschaffen.82

Eine klare Unterscheidung zwischen Mensch, Cyborg und Maschine ist mit den beiden

bisher vorgestellten Definitionen, die zum Einen vom Menschen und zum Anderen von

den künstlichen Bestandteilen ausgehen nicht erreichbar. Ist der Cyborg ein „aufgerüste-

ter“ Mensch oder eine mit biologischen Materialen versetzte Maschine? Freyermuth ver-

zichtet ganz auf eine solche Einordnung: "Cyborg soll eine mit Bewusstsein ausgestatte

Entität bezeichnen, die sich aus sowohl ‚natürlichen’ wie ‚produzierten’ Teilen zusam-

mensetzt, wobei es gleichgültig ist, ob diese technisch hergestellten Körperteile organisch

oder anorganisch sind."83 Unter diese Definition fällt Steven Hawkins oder ein Mensch

mit dritten Zähnen ebenso, wie eine Maschine, der man Bewusstsein zuschreibt und die

über natürliche Implantate verfügt. Was aber kann eine solch weite Definition des Cy-

borgs noch leisten? Meiner Meinung nach, taugt sie allein dazu die Grenzverschiebungen

zu verschleiern, die mit der Forderung nach einem „Aufrüsten“ des menschlichen Körpers

verbunden sind.

Die Veränderung des Menschen wird nicht beim heute Möglichen stehen bleiben. Be-

trachtet man die Diskussionen um die Genforschung und ihre Prophezeiungen, so kann

man eine Ahnung davon bekommen, wie tiefgreifend sich die Menschheit ändern wird.

Dabei ist nach Moravec die Gentechnik alles andere als vielversprechend. Langfristig wird

die Gentechnik uns keinen Vorteil vor den Maschinen verschaffen können: "Wie gegen-

wärtig Flugzeuge, Computer und Roboter könnten immer neue Generationen von Men-

schen mit Hilfe von Mathematik, Computersimulation und Experimenten entworfen

81 Turkle 1998, S242-243. 82 siehe Turkle 1998, S238-281. Eine umfassende Darstellung der Künstliches-Leben-Forschung findet sich bei Levy 1993. 83 Freyermuth 1996, S242.

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werden. Man könnte sie mit besserem Gehirn und Stoffwechsel ausstatten, so dass sie

ohne Schwierigkeiten zu einem Leben im Weltraum in der Lage wären. Aber wahrschein-

lich beständen sie aus Proteinen, und die Grundbausteine ihres Gehirns wären immer

noch Neuronen." 84 Derart veränderte Menschen wären immer noch gegenüber Maschi-

nen im Nachteil, die nicht von biologischen Ressourcen abhängig sind und in den Welt-

raum expandieren können. Zudem vermutet Moravec, dass die Neuronen des

menschlichen Gehirns wesentlich langsamer arbeiten, als es künstliche Systeme tun wer-

den.

Das Ziel der Transhumanisten ist also nicht eine einfache Leistungssteigerung beim Men-

schen, sondern ein „postbiologisches Zeitalter“, ein Zeitalter, indem es den Menschen,

wie wir ihn kennen nicht mehr geben wird: „Wir können technologische Mittel einsetzen,

die uns schließlich befähigen werden, uns über das hinaus zu entwickeln, was die meisten

noch als ‚menschlich’ bezeichnen würden.“85

Die Ideen für eine solche Veränderung des Menschen reichen von technisch oder gen-

technisch erzeugten Organen, die die alten Organe ersetzen bis hin zu Implantaten, die

uns mit gänzlich neuen Fähigkeiten ausstatten. Am wichtigsten scheint dabei die Progno-

se von Kurzweil, dass es schon bald Neuroimplantate und neuronale Schnittstellen geben

wird: "Wir werden Implantate besitzen, die unsere Fähigkeit, Wissen zu speichern, also

unser Gedächtnis verbessern. Im Gegensatz zur Natur werden wir diese elektronische

Version unserer Synapsen mit einem Kanal für die Übertragung von Wissen ausstatten.

Es wird also möglich sein, in diese elektronische Erweiterung unseres Gehirns sehr

schnell Wissen zu übertragen."86 Die Vorstellung, dass wir unser Gehirn mit solchen Im-

plantaten erweitern können, wird Vielen noch sehr unrealistisch anmuten. Jedoch wird

auf diesem Gebiet eifrig geforscht und am Max Blank Institut für Biochemie in Martins-

ried ist es im August 2001 zum erstenmal gelungen Nervenzellen einer Schnecke auf ein

Siliziumchip zu verpflanzen, wo sie zu einem Nervennetz zusammen wuchsen.87 Damit

scheint eine Schnittstelle zwischen dem menschlichen Gehirn und Siliziumcomputern

prinzipiell nichts im Wege zu stehen.

Sind solche Schnittstellen aber möglich, so werden wir uns, das vermuten Moravec und

Kurzweil, im virtuellen Raum oder mit Hilfe von Stellvertreterkörpern an jedem beliebi-

gen Ort bewegen können. "Später im 21. Jahrhundert, wenn Neuroimplantate allgegen-

wärtig sind, wird man virtuelle Enviroments schaffen und mit ihnen interagieren können,

ohne sich dafür in eine VR-Kabine88 begeben zu müssen. Die neuronalen Implantate wer-

den simulierte Sinneseindrücke des virtuellen Körpers in der virtuellen Welt - und den

Körper selbst - direkt in das Gehirn übertragen. Man wird dann nicht mehr seinen realen

84 Moravec 1990, S151. 85 Bostrom 1999, Abschnitt „Was ist Transhumanismus“. 86 Kurzweil 2000, S158-159. 87 Spiegel Online 2001. 88 Quasi als Vorstufe beschreibt Kurzweil eine VR-Kabine (Virtuelle-Realität-Kabine), in die man sich begibt, um sich - mit Hilfe eines taktilen Anzuges und Simulationen von Gerüchen, Geräuschen und Bildern - im virtuellen Raum oder mit Hilfe von Stellvertreterkörpern auch an anderen Orten der realen Welt, bewegen zu können. Siehe Kurzweil 2000, S226-229. Eine ähnliche Vorstellung ist auch bei Moravec zu finden: Siehe Moravec 1990, S120-127.

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Körper bewegen, sondern den vom Gehirn wahrgenommenen virtuellen Körper. Natür-

lich werden die virtuellen Welten eine geeignete Auswahl virtueller Körper für ihre Be-

nutzer bereithalten. Am Ende wird unser Erleben höchst realistisch sein, genau wie die

reale Welt."89 Damit verliert aber unser Körper immer mehr an Bedeutung. "In wenigen

Jahrzehnten werden die Menschen mehr Zeit in elektronischen Welten verbringen als in

ihren langweiligen realen Wirklichkeiten, so wie sich die meisten von uns heute länger in

den künstlichen Welten unserer Bauwerke aufhalten als in der oft etwas ungemütlichen

Natur."90

3.1.2. uploading

Wenn wir uns nach Belieben im virtuellen Raum aufhalten oder mit Stellvertreterkörpern

an jedem beliebigen Ort bewegen können, so wird es nach Moravec irgendwann auch

möglich sein, ganz auf unseren ursprünglichen, biologischen Körper zu verzichten: "Stel-

len Sie sich ein 'Gehirn im Glas' vor, von ausgefeilter Technik am Leben erhalten, über

wunderbare elektronische Schaltungen mit künstlichen Mietkörpern an fernen Orten

oder mit simulierten Körpern in virtuellen Realitäten verbunden. Zwar könnte ein biolo-

gisches Gehirn in einer idealen materiellen Umgebung seine natürliche Lebensspanne

weit überschreiten, doch da die Evolution es nur auf die Dauer eines Menschenlebens

vorbreitet hat, ist kaum damit zu rechnen, dass es ewig arbeiten kann. Warum sollte es

nicht möglich sein, die graue Substanz bei den ersten Ausfällen durch hochentwickelte

neuronale Elektronik zu ersetzen, die es zu diesem Zeitpunkt bereits mit der Außenwelt

verbindet? Stück um Stück unseres versagenden Gehirns kann durch überlegene elektro-

nische Ersatzteile erhalten werden. So könnten Persönlichkeit und Gedanken des Men-

schen klarer als vorher fortbestehen, obwohl am Ende keine Spur des ursprünglichen

Körpers oder Gehirn mehr übrig ist."91

Die Idee, die hier zugrunde liegt ist, dass der menschliche Geist einem Softwarepro-

gramm gleicht, welches nicht auf das Gehirn als Hardware angewiesen ist. Diese Auffas-

sung wird auch von Kurzweil vertreten. Er geht davon aus, dass noch vor dem Ende des

21. Jahrhundert die Menschen „ihr gesamtes Bewusstsein in eine Datei der neuen denk-

technischen Maschinen übertragen"92 werden.

Da Kurzweil annimmt, dass die Struktur unseres Gehirns für Bewusstsein, Gefühle, Erin-

nerungen, Intelligenz etc. verantwortlich ist, schlägt er vor, ein eingefrorenes Gehirn ei-

nes Toten, Schicht für Schicht abzutragen und zu scannen. "Die so gewonnen

Informationen können gespeichert und zu einem gewaltigen dreidimensionalen Modell

der ‚Verdrahtung’ und der neuronalen Topologie des Gehirns zusammengesetzt wer-

den."93 Natürlich würde sich auch bald jemand finden, der sich einem solchen destrukti-

ven Scannen zum „Wohle der Forschung“ auch vor seinem Ableben unterziehen würde,

89 Kurzweil 2000, S229. 90 Moravec 1999, S264. 91 Moravec 1999, S265. 92 Kurzweil 2000, S202. 93 Kurzweil 2000, S194.

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was seinem Tod gleichkäme. Kurzweil hält sich allerdings nicht lange bei solchen „unan-

genehmen“ Überlegungen auf, sondern kommt rasch auf die Möglichkeit eines nicht-

invasiven Scannens zu sprechen, wodurch das Gewebe unversehrt bliebe.94

Die Informationen, die durch das Scannen gewonnen würden, ließen sich nach Kurzweil

auf zwei Arten verwenden: Zum Einen könnten sie dazu dienen, ein künstliches System

zu entwerfen, dass in seiner Struktur ähnlich gebaut ist und somit eine ähnliche Leistung

erbringen könnte wie das menschliche Gehirn. Zum Anderen könnte man alle relevanten

Informationen scannen und in ein künstliches System übertragen (inklusive der Erinne-

rungen). Dazu müsste man noch nicht einmal die Gesamtstruktur des Gehirns verstehen.

Man müsste sie einfach nur kopieren.95

Um zu zeigen, dass eine solche Kopie wirklich mit dem Original identisch ist, versucht

Moravec ins Detail zu gehen: der Prozess der Übertragung des Geistes in eine Maschine

könne von einem Chirurgen (natürlich ein Roboter) bei vollem Bewusstsein des Patienten

(nur der Schädel ist betäubt) durchgeführt werden. Dieser Chirurg würde das Gehirn mil-

limeterweise abtasten und mit Hilfe der ermittelten Daten eine Simulation der

Neuronenaktivität und der ablaufenden Prozesse erstellen. Eine Art Schalter, der zwi-

schen Original und Simulation hin und her schaltet, soll gewährleisten, dass es an keiner

Stelle des Prozesses zu einem Verlust an Information kommt, so dass am Ende die Simu-

lation mit dem Original identisch ist: "Solange sie auf den Knopf drücken, wird ein kleiner

Teil Ihres Nervensystems durch eine Computersimulation seiner selbst ersetzt. Sie drü-

cken den Knopf, lassen ihn los und drücken ihn wieder. Sie dürfen keinen Unterschied

merken. Sobald sie zufrieden sind, wird die Simulationsverbindung dauerhaft etabliert.

Das Gehirngewebe ist jetzt ohnmächtig - es empfängt Inputsignale und reagiert wie zuvor,

aber sein Output wird ignoriert. Mikroskopische Manipulatoren an der Handoberfläche

[des Roboter-Chirurgen Anm. RS] entfernen die Zellen in diesem überflüssigen Gewebe

und bringen sie zu einem Absaugapparat."96 Schicht um Schicht wird dieser Vorgang wie-

derholt, bis das ganze Gehirn abgetragen ist. “Schließlich ist ihr Schädel leer, und die

Hand des Chirurgen befindet sich tief in ihrem Hirnstamm. Dennoch haben sie weder das

Bewusstsein noch den Faden ihrer Gedanken verloren. Ihr Geist ist einfach aus dem Ge-

hirn in eine Maschine übertragen worden.“97 Und der Körper? Er „verfällt in Krämpfe

und stirbt“.98

Natürlich schlägt auch Moravec weniger unangenehme Verfahren vor, mit denen eine

Kopie des Geistes angelegt werden könnte. Er kann sich sogar Verfahren vorstellen, bei

denen das Original erhalten bliebe, doch erstrebenswert scheint ihm diese Erhaltung

nicht zu sein.

Ist die Übertragung des Geistes in eine Maschine einmal gelungen, so lassen sich nach

Auffassung der Transhumanisten beliebig viele Kopien machen. Sollte das Original aus 94 Kurzweil 2000, S195. 95 siehe Kurzweil 2000, S197-200. 96 Moravec 1990, S153. 97 Moravec 1990, S154. 98 Moravec 1990, S154.

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versehen gelöscht werden, so „könnte eine aktive Kopie vom Band genommen werden

und ihr Leben weiterführen.“99 Moravec glaubt, auf diesem Wege werde der Menschheits-

traum von der Unsterblichkeit in Erfüllung gehen. Doch die Vorstellung, vom menschli-

chen Geist ließen sich Kopien anfertigen, wirft weitreichende Fragen auf: Sind die Kopien

ein und derselbe Geist, oder nur einander ähnlich? Wer hat das Recht das Leben des Ori-

ginals weiter zu führen? Werden die anderen Kopien akzeptieren, dass sie nicht das Le-

ben des Originals führen werden?

3.1.3. Strukturidentität

Moravec und Kurzweil versuchen diese Probleme beiseite zu wischen, indem sie das gan-

ze Szenario in der Regel aus der Sichtweise der Kopie betrachten, die das Leben des Ori-

ginals weiterführt: "Wenn das Gehirn eines Menschen gescannt und sein Bewusstsein in

einer Datei eines datenverarbeitenden Mediums wiederhergestellt wurde, werden äußere

Beobachter den Eindruck haben, dass die neue 'Person' genau dieselbe Persönlichkeit und

Geschichte und dieselben Erinnerungen hat, wie der ursprünglich gescannte Mensch. Die

Interaktion mit der neuen Person wird genau dasselbe Gefühl vermitteln wie mit der al-

ten. Die neue Person wird behaupten, die alte zu sein, und sie wird sich erinnern, die alte

Person gewesen zu sein. Sie wird beispielsweise wissen, dass sie in Broocklyn aufgewach-

sen ist, das sie sich einem scanning unterzogen hat und dass sie in einer Maschine aufge-

wacht ist. Und sie wird sagen: 'Hey, diese Technik funktioniert wirklich!'"100 Eine solche

Sichtweise können Moravec und Kurzweil allerdings nur vertreten, weil sie dem Körper

(der Hardware) für die Frage der Identität eines Wesens keinerlei Bedeutung zumessen:

"Bestimmte Teilchen können für unser Bewußtsein und unsere Identität wohl kaum aus-

schlaggebend sein, denn sie werden in unserem Körper ja laufend ausgetauscht. So treten

innerhalb von einigen Jahren neue Zellen (außer bei den Gehirnzellen) an die Stelle der

alten. Auf atomarer Ebene geht der Austausch noch schneller vonstatten, und er schließt

die Gehirnzellen mit ein. Wir bestehen also nicht aus einer festen Anordnung von Teil-

chen. Teilweise beständig (d.h. nur einem stufenweisen Wandel unterzogen) sind dagegen

die Strukturen der Materie und der Energie unseres Körpers, während das eigentliche

Material sich rasch verändert. Daher sind wir Menschen vergleichbar mit den Mustern,

die sich auf der Wasseroberfläche von Flüssen abzeichnen."101 Moravec spricht in diesem

Zusammenhang von „Strukturidentität“: „Körper-Identität setzt voraus, daß ein Mensch

durch die Substanzen definiert ist, aus denen sein Körper besteht. Nur wenn wir die Kon-

tinuität dieser Körpersubstanzen bewahren, vermögen wir einen Fortbestand als Indivi-

duen zu sichern. Dagegen definiert Struktur-Identität das Wesen einer Person, sagen wir,

meiner Person, durch die Struktur und den Prozeß, die in meinem Kopf und Körper vor-

99 Moravec 1990, S166. 100 Kurzweil 2000, S200. 101 Kurzweil 1999, S. 95. Vergleiche auch Moravec 1990, S162-163.

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kommen, aber nicht durch das Substrat, in dem sich dieser Prozeß manifestiert. Bleibt der

Prozeß erhalten, so bleibe auch ich erhalten; der Rest ist Sülze.“102

Mit dem besonders aus der Science-Fiktion-Serie „Star Trek“ bekannten Denkmodell des

„beamens“, das dem des oben beschriebenen uploading sehr ähnelt, versucht Moravec

endgültig alle Zweifel an seiner These beiseite zu räumen. Beim beamen werden Gegen-

stände in ihre Moleküle zerlegt, die Informationen an einen anderen Ort gesendet und

dazu verwendet, aus anderen Molekülen den Gegenstand wieder zusammenzusetzen.

Moravec spekuliert nun darüber, was geschieht, wenn ein Mensch mit Hilfe eines solchen

„Materietransmitters“ transportiert würde:103 Aus der Sicht der Körperidentität wäre ein

Materietransmitter ein Hinrichtungsgerät. Doch Moravec ist anderer Meinung: „der

Transmitter tastet meinen sülzeartigen Körper ab und zerlegt ihn, doch meine Struktur

(ich!) bewegt sich kontinuierlich aus der sich auflösenden Sülze, durch den Übertra-

gungsstrahl und endet in einer anderen Sülze am Bestimmungsort. Zu keinem Zeitpunkt

war die Struktur (ich) zerstört.“104 Bei einer möglichen Verdoppelung am Bestimmungs-

ort ist davon auszugehen, dass alle Kopien mit dem Menschen am Ursprungsort identisch

sind, da allein die übertragenen Informationen für die Identität eines Wesens oder Ge-

genstandes entscheidend sind. "Nehmen wir die Nachricht ‚Ich bin keine Sülze’. Während

ich sie tippe, wandert sie aus meinem Gehirn in die Tastatur meines Computers, durch

unzählige elektronische Schaltungen und Leitungen. Nach mannigfaltigen Abenteuern

taucht die Nachricht schließlich in einer großen Zahl von Büchern auf, wie Sie eines in

Händen halten. Wie viele Nachrichten sind es also? Ich behaupte, es ist sinnvoll, von nur

einer einzigen auszugehen, ganz gleich, wie oft sie reproduziert wurde. Wenn ich jetzt

wiederhole: ‚Ich bin keine Sülze’, so bleibt es doch lediglich eine Nachricht."105

Es besteht allerdings ein grundlegender Unterschied zwischen einem bewussten Wesen

und einer einfachen Information. Das bewusste Wesen ändert sich mit jeder Sekunde, in

der es etwas wahrnimmt oder handelt. Bereits einen Augenblick nach der Erstellung einer

Kopie, würde diese sich von dem Original unterscheiden, auch wenn beide mit dem ur-

sprünglichen Wesen aus der Vergangenheit in vielerlei Hinsicht identisch sind (sie besit-

zen z.B. sämtliche Erinnerungen). Auch Moravec gesteht dies zu, hält aber an seiner

Auffassung der Strukturidentität fest: Solange „keine Zeit verstrichen ist, handelt es sich

bei beiden Kopien um denselben Menschen – wenn wir eine Kopie zerstören, bleibt der

Mensch in der anderen erhalten.“106 Ist es aber überhaupt sinnvoll der Identität der Ko-

pien in einem einzigen (nicht meßbaren) Zeitpunkt so viel Gewicht bei zu messen? Kann

man den Zeitindex beim Problem der Identität einfach so ignorieren? Meines Erachtens

hat diese Einstellung zur Folge, dass Moravecs Traum von Unsterblichkeit wie eine Sei-

102 Moravec 1990, S162-163. 103 In der Serie Star-Trek wird ein solcher Vorgang „beamen“ gennant. Bisweilen werden in dieser Serie die philosophi-schen Probleme, die ein solcher Vorgang mit sich bringen könnte, in Szene gesetze. So wird in der 150. Folge der Serie Star Trek – The Next Generation mit dem Titel „Riker 2“ der 1. Offizier des Raumschiffes Will Riker mit einem Doppelgänger konfrontiert, der einige Jahre zuvor bei einem „Beam-Unfall“ entstanden ist. 104 Moravec 1990, S164-165. 105 Moravec 1990, S165. 106 Moravec 1990, S199.

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fenblase zerplatzt: Eine Kopie (Moravec II), die er (Moravec I) von sich anfertigen ließe,

wäre schon im nächsten Augenblick nicht mit ihm identisch. Es entstünde also ein neues

Individuum. Moravec I mit biologischem Körper würde aber völlig unabhängig von

Moravec II weiter existieren. Der Geist von Moravec I wäre - auch nach den Szenarien die

Moravec sich erhofft - in seinem Körper gefangen, mögen auch noch so viele Kopien er-

stellt werden. Der einzige Weg das Dasein im Körper zu beenden, scheint darin zu beste-

hen, dem Körper und dem damit verbundenen Individuum ein Ende zu setzen.

Es fällt mir schwer zu verstehen, welchen Vorteil die Annahme einer Strukturidentität

gegenüber der Körperidentität haben soll. Die Struktur des Geistes, wie sie Moravec und

Kurzweil verstehen, ändert sich ebenso, wie die Zellen in meinem Körper. Ich habe große

Zweifel daran, ob eine Reduzierung der menschlichen Identität auf die Struktur der in-

formationsverarbeitenden Prozesse wirklich sinnvoll ist. Vielleicht ist die Strukturidenti-

tät ein Stein eines Mosaik, zu dem die Körperidentität ein weiterer Stein ist. Kurzweil hat

auch von der Akzeptanz von Freunden gesprochen – ein dritter Mosaikstein? Welche

Steine darüber hinaus zum Mosaik der Identität gehören, kann hier allerdings nicht wei-

ter erörtert werden.

3.1.4. Aufnahme ins Kollektiv

Wenden wir uns aber wieder der Prognose zu, dass sich der menschliche Geist in ver-

schiedenen Stellvertreterkörpern bewegen wird. Prinzipiell gibt es für dieses Szenario drei

Möglichkeiten: Ein Stellvertreterkörper könnte ein virtueller Körper, ein Roboterkörper

oder aber auch der Körper eines anderen Menschen sein.107

Moravec vermutet nun, dass es bei der Nutzung von Stellvertreterkörpern gar nicht not-

wendig sei, den gesamten Geist eines Menschen zu übertragen: "So könnte es sein, dass

wir über viele Stellen verteilt sind, ein Stück unseres Geistes hier, ein anderes dort, und

unser Ich-Empfinden wieder an einem anderen Ort - ein Zustand, der sich nicht länger

als Außer-Körper-Erlebnis bezeichnen lässt, weil es keinen Körper mehr gibt, außerhalb

dessen man sich befinden kann."108 Die verschiedenen Stellvertreterkörper dienen dem-

entsprechend als Manifestierungen eines „virtuellen“ Geistes, eines Softwareprogrammes,

dass sich in kleinere Unterprogramme aufspalten kann und nach Belieben wieder zu-

sammensetzt. Diese Vorstellungen, werden gestützt durch Marvin Minskys Theorie von

der „Geistgesellschaft“. In seinem Buch Mentopolis109 beschreibt er den menschlichen

Geist als eine Gesellschaft von Agenten, die in einer Art hierarchischen Ordnung zu Agen-

turen zusammengeschlossen sind. „Stellen sie sich ein Kind vor, das mit Bauklötzen

spielt, und stellen sie sich weiterhin vor, daß der Geist dieses Kindes aus einem Schwarm

kleinerer ‚Geister’ besteht. Wir wollen diese Untereinheit mentale Agenten nennen. Im

Augenblick hat ein Agent mit Namen Erbauer die Kontrolle. Die Spezialität des Erbauers

107 Diese Möglichkeit sagt Moravec bereits für den Zeitraum voraus, in dem Stellvertreterkörper nur mittels eines ‚Zau-ber-Equipments’ (VR-Anzug) genutzt werden können. 108 Moravec 1999, S266. 109 Minsky 1990.

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ist es, Türme aus Bauklötzen zu errichten.“110 Dieser Agent ‚Erbauer’ braucht um seine

Aufgabe zu erfüllen, untergeordnete Agenten, die jeweils wiederum auf untergeordnete

Agenten einwirken. In Anlehnung an Minskys Skizzen ergibt sich dadurch folgendes Dia-

gramm:111

Agentur Erbauer:

Dies ist zunächst nur ein einfaches Modell, wie nach Minsky Prozesse in unserem Gehirn

ablaufen. Der Agent „Erbauer“ weiß in diesem Fall nicht, wie „Hinzufügen“ seine Aufgabe

verrichtet. Er aktiviert lediglich Agenten der nächsten Ebene. Die Agentur Erbauer von

außen betrachtet, kann allerdings alles, was die verschiedenen Agenten gemeinsam tun.

Somit wird der Eindruck erzeugt, „Erbauer“ selbst würde dies alles tun. Dadurch, dass

viele Agenten und Agenturen untereinander verbunden sind, entsteht ein komplexes

Netzwerk, das zusammengenommen einen Geist ergibt. Entscheidungen werden in die-

sem System aber nicht von einem obersten Agenten gefällt, sondern sie kommen durch

die Konkurrenz der Agenturen um die knappen Ressourcen zustande.

Moravec geht nun davon aus, dass der menschliche Geist sich in einzelne Teile aufspalten,

somit zur gleichen Zeit in verschiedenen „Verkörperungen“ unterschiedliche Erfahrun-

gen machen, und anschließend wieder zu einem Geist verschmolzen werden kann.112 Zu-

dem ließen sich natürlich auch Teile verschiedener Individuen miteinander

verschmelzen: "Nach längerer Zeit werden Ihre Erinnerungen größtenteils die Erfahrun-

gen und Erinnerungen anderer Menschen betreffen, während Ihre eigenen Erinnerungen

in den Geist anderer Menschen Eingang gefunden haben. Begriffe wie Leben, Tod und

Identität werden ihre heutige Bedeutung verlieren, denn Bruchteile Ihres Geistes und an-

derer Individuen werden sich vereinigen, durchmischen und in neuen zeitlich begrenzten

Kombinationen zusammentreten, manchmal größer, manchmal kleiner, manchmal sehr

110 Minsky 1990, S21. 111 siehe Minsky 1990, S21. 112 Dies Vorstellung entspricht dem alten Wunsch von Menschen sich an zwei verschiedenen Orten zur gleichen Zeit aufhalten zu können, wie wir sie aus Heiligenlegenden kennen.

ERBAUER

Anfangen Hinzufügen Aufhören

Finden Nehmen Legen

Sehen Ergreifen Bewegen Loslassen

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individuell und von langer Dauer, manchmal nur flüchtig, lediglich kleine Wellen auf dem

Strom des Wissens unserer Zivilisation."113

Die Verschmelzung und Aufspaltung von verschiedenen Geistern und ihren Kopien, von

der Moravec spricht, bleibt aber nicht auf die Menschen beschränkt. Auch Tiere114 und

vor allem künstliche bewusste Wesen sind in diesem Prozess eingebunden. Nach den

Prognosen Kurzweils sind reale und simulierte Personen ohnehin ab einem bestimmten

Zeitpunkt nicht mehr zu unterscheiden. "In der virtuellen Welt wird man anderen realen

und simulierten Personen begegnen, und beide Gattungen werden am Ende kaum mehr

unterscheidbar sein."115

Die langfristige Folge solcher Verschmelzungen und der Aufhebung der Grenzen zwi-

schen individuellen bewussten Entitäten wird eine (bzw. mehrere) kollektive Intelligenz

sein: "Es wird sich ein breites Spektrum ergeben - von winzigen, wenig intelligenten Kon-

figurationen für kleinste Abstände bis hin zu sternumgreifenden Superintelligenzen für

die kompliziertesten Probleme. Die Grenzen werden auch fließend sein - eine Superintel-

ligenz kann sich aus unzähligen eng zusammenarbeitenden geringeren Intelligenzen zu-

sammenschließen, die ähnlich organisiert sind, wie ein Ameisenstaat."116 Der Homo

sapiens wird damit in einer neuen Spezies aufgehen. Die einzelnen Individuen werden

Teile von kollektiven Superintelligenzen. Doch wie muss man sich ein solches Kollektiv

vorstellen? Ist es lediglich ein Zusammenschluss prinzipiell eigenständiger Individuen?

Ist das Kollektiv mehr als die Summe seiner Teile? Oder geht die Individualität der im

Kollektiv Zusammengeschlossenen schließlich ganz verloren?

Pierre Lévy hat in seinem Buch „Die Kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des

Cyberspace“117 beschrieben, wie man sich eine kollektive Intelligenz im Zeitalter des

Cyberspave vorstellen könnte: Aufgrund der neuen Medien, insbesondere des Internets,

bei denen Jeder und Jede zum Sender und Empfänger werden kann, werde es zur Bildung

eines intelligenten Kollektiv kommen. Einerseits werde es mehr sein, als die Summe sei-

ner Teile, andererseits aber die Teilnehmenden nicht derart beherrschen, dass man sie

nicht mehr als Individuen bezeichnen könnte. „Ein intelligentes Kollektiv ähnelt in gewis-

ser Weise eine Aktiengesellschaft, in die jeder Aktionär als Kapital sein Wissen, seine Er-

fahrungen im Raum, seine Fähigkeit zu lernen und zu lehren einbringt. Das intelligente

Kollektiv will die individuellen Intelligenzen nicht beherrschen oder beschränken, son-

dern sie im Gegenteil beflügeln und befruchten und ihnen ein neues Potential eröffnen.

Dieses transpersonale Subjekt begnügt sich nicht damit, individuelle Intelligenzen zu ad-

dieren, sondern will eine qualitativ neue Form der Intelligenz hervorbringen, die zur per-

sönlichen Intelligenz hinzukommt, eine Art kollektives Gehirn oder Hyperkortex.“118

113 Moravec 1990, S160-161. 114 siehe Moravec 1990, S162. 115 Kurzweil 2000, S230. 116 Moravec 1990, S173. 117 Lévy 1997. 118 Lévy 1997, S114.

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Dabei ist sich Levy durchaus der philosophischen Probleme bewusst: „Wie sich Subjekte

kollektiver Äußerung konstituieren, ist eines der heikelsten Probleme der Philosophie und

der politischen Praxis. Unter welchen Umständen kann man zu Recht ‚wir’ sagen? Kann

sich dieses ‚Wir’ wirklich legitim als Kollektiv äußern, ohne die Vielfalt zu schmälern?

Was geht verloren, wenn man ‚wir’ sagt?“119

Lévy bemüht sich, seine Vorstellungen von totalitären Versionen einer kollektiven Intelli-

genz abzugrenzen: „Man darf sie [die kollektive Intelligenz (Anm. RS)] auf keinen Fall mit

den ‚totalitären’ Bestrebungen verwechseln, die das Individuum irgendwelchen transzen-

denten , fetischisierten Gemeinschaften unterwerfen wollen. In einem Ameisenhaufen

sind die Individuen ‚dumme’ Tiere, die keine Vision des Ganzen haben und nicht wissen,

wie ihr Tun mit dem anderer Individuen übereinstimmt. Obwohl die einzelnen Ameisen

‚dumme’ Tiere sind, erzeugt ihre Interaktion ein emmergentes, auf globaler Ebene intelli-

gentes Verhalten. Außerdem besitzt ein Ameisenhaufen eine absolut feststehende Struk-

tur, die Ameisen sind streng in Kasten eingeteilt und innerhalb dieser Kaste

austauschbar.“120

Aber eben dieser Ameisenhaufen wird gerne als Beispiel für eine kollektive Intelligenz im

transhumanistischen Sinne verwendet.121 Auch die Borg der Serie Star Trek sind als Bie-

nenvolk organisiert. Während die Königin (“Die Eine, die Viele ist“), die gesamte Kontrol-

le ausübt und über das Wissen und die Fertigkeiten aller Drohnen verfügen kann, sind

Bewusstsein, Individualität und Selbstbestimmung der assimierten Individuen unter-

drückt. Es lässt sich also fragen, ob Moravec den Zusammenschluss der Individuen zu

recht noch als Kollektiv bezeichnen kann. Was bleibt von den Individuen übrig und gibt

es überhaupt die Möglichkeit sich nicht diesem Kollektiv anzuschließen?

Gibt es noch einen Platz für solche Individuen, die nicht in das Kollektiv aufgenommen

werden wollen? Es scheint sich eher um ein totalitäres System zu handeln, in dem kein

Platz mehr für individuelle Wesen ist. Denn maßgeblich für die Entwicklungen sind nach

Moravec ja stets evolutionäre Prinzipien; will heißen: Der Stärkere und Leistungsfähigere

wird sich im posthumanen Zeitalter durchsetzen; diejenigen, die sich einer solchen Ent-

wicklung entziehen wollen, werden dagegen kaum wirkliche Überlebenschancen haben. .

3.1.5. Das posthumane Zeitalter

Mit der Übertragung des menschlichen Geistes in ein künstliches System ist ein entschei-

dender Punkt in den transhumanistischen Prognosen markiert: der Eintritt in ein post-

humanes Zeitalter.

Nach Kurzweil wird es allerdings am Ende diesen Jahrhunderts immer noch Menschen

geben, die sich noch nicht auf ein künstliches System transferiert haben werden. Sie wer-

den neben den kollektiven Intelligenzen existieren können.122 Auch Moravec nimmt an,

119 Lévy 1997, S77. 120 Lévy 1997, S32. 121 siehe Moravec 1990, S173. 122 Kurzweil nennt solche Menschen „VOM´s“ (Vorwiegend Orginalsubstrat-Menschen), siehe Kurzweil 2000, S362.

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dass es für solche Menschen, zunächst recht problemlos sein wird, ihr Leben zu leben. Die

intelligenten Maschinen werden in den Weltraum expandieren und die Erde werde zu

einer Art Schutzraum für den Menschen. „Man könnte Maschinen konstruieren, die her-

vorragend im All funktionieren. Die Produktion könnte sich die größeren Ressourcen des

Sonnensystems zunutze machen, so dass auf der Erde ein Naturreservat zurückbliebe, das

aus dem Weltraum versorgt würde. Die schwächlichen Menschen würden die Erde erben,

während die in rascher Entwicklung begriffenen Maschinen in die weiten Räume des

Universums expandieren.“123 Menschen, die die Grenze zu solchen Maschinen überschrei-

ten wollen, müssten im Gegenzug auf ihre Menschenrechte verzichten und ins All aus-

wandern.124

Natürlich wird es nach Ansicht der Transhumanisten verlockend sein, diesen Schritt zu

vollziehen und die engen Grenzen menschlicher Fähigkeiten zu sprengen. Ein Geist, der

als Softwareprogramm auf einer anderen Hardware läuft, könnte mit enormer Geschwin-

digkeit ablaufen. Das Wissen und die Beziehungen, die ein solches Wesen hätte, würden

ebenso ins Unermessliche steigen: „Menschen können persönliche Beziehungen mit un-

gefähr zweihundert Individuen unterhalten, doch superintelligente Extraterrestrische

werden Gedächtnisse besitzen, die eher gegenwärtigen Kreditanstalten ähneln und über

Platz für Milliarden verfügen.“125

Als einen idealen Körper für Exmenschen und künstliche bewusste Lebensformen schlägt

Moravec den ‚Roboterbusch’ vor: „Ein derartig gebauter Roboter würde wie ein bewegli-

cher Busch aussehen, dessen größter Teil ein Stamm mit drehbaren Ästen wäre. Doch

seine besonderen Fähigkeiten würde er unzähligen geschwinden mikroskopischen Fin-

gern verdanken.“126

Durch die weiter zunehmende Rechenleistung werden langfristig auch die physischen

Formen dieser Existenzen eine immer geringere Rolle spielen. Schließlich werden die be-

wussten Systeme nach der Ansicht von Moravec sogar die Raumzeit kontrollieren kön-

nen, da diese in berechenbare Formen umgewandelt werden kann: "Die bewohnten

Gebiete des Universums werden sich rasch in Cyberspace verwandeln, wo sich keine offe-

ne materielle Aktivität mehr erkennen lässt, während die innere Rechenwelt von unvor-

stellbaren Reichtum ist. Die Wesen werden nicht durch ihre materiell-geographischen

Grenzen bestimmt sein, sondern Identitäten herstellen, ausbauen und verteidigen, die

sich als Informationsmuster im Cyberspace manifestieren."127 Damit ist der Weg frei für

ein Zeitalter des Geistes: „Die alten Körper der Extraterrestrischen werden, veredelt zu

einer Matrix für den Cyberspace, miteinander verbunden sein und der in reine Software

123 Moravec 1999, S194. 124 siehe Moravec 1999, S223. 125 Moravec 2002, Abschnitt “ Die langfristige Perspektive (2100 und später)“. 126 Moravec 1999, S236. Diese Form findet sich nach Angaben von Moravec auch bei vielen Pflanzen, im tierischen Blutkreislauf und am „spektakulärsten“ beim Medusenhaupt, das mittels solcher Arme Plankton zur Nahrungsaufnahme fängt. 127 Moravec 1999, S257.

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verwandelte Geist wird beliebig zwischen ihnen herumwandern. [...] Schließlich wird alles

zu einem sprudelnden Geist, der sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt"128

Eine solche Ausdehnung würde letztendlich auch nicht vor der Erde halt machen. Das

„Verschlingen“ der Erde bzw. des Universums durch die Cyberspaceblase, bedeute aber

nicht das Ende der menschlichen Kultur oder der menschlichen Individuen: "Da die ex-

pandierende Cyberspace-Blase dem konventionellen Raum, den sie ersetzt, weit überle-

gen sein wird, kann sie in ihrem Inneren ohne Schwierigkeiten alle interessanten Dinge,

die ihr begegnen, wiedererschaffen: Sie legt eine Erinnerung vom alten Universum an,

während sie es verschlingt.[...] Unter Umständen leben und entwickeln sich diese Gebilde

weiter, als wäre nichts geschehen, ohne zu wissen, dass sie fortan nur noch Simulationen

im Cyberspace sind. Sie werden lebende Erinnerungen in einem unvorstellbar leistungs-

fähigen Geist sein, viel gesicherter in ihrer Existenz und mit mehr Zukunft vor sich als

bisher, weil sie zu geschätzten Gästen eines transzendenten Schutzherrn geworden

sind."129

Der „transzendente Schutzherr“ deutet schon die religiöse Dimension dieser Utopie an.

Und tatsächlich zaubert Moravec immer wieder eine ganze Eschatologie aus dem Hut. So

bezeichnet er an anderer Stelle die Simulation längst verstorbener Personen als „Aufer-

stehung“: "Es wäre sicher ein phantastisches Abenteuer, alle Menschen, die die Erde je

bevölkert haben, auf diese Weise auferstehen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu ge-

ben, mit uns die (vorübergehende) Unsterblichkeit des transplantierten Geistes zu tei-

len."130

Wie aber können wir sicher sein, dass wir nicht schon jetzt lediglich Simulationen in die-

ser Cyberspace-Blase sind? Dasselbe Problem stellt sich natürlich schon bei der Vorstel-

lung, sich aufgrund von neuronalen Schnittstellen in Körpern der virtuellen Realität zu

bewegen.131 Nach Moravec spielt es keine Rolle, ob wir uns in einer Simulation befinden

oder nicht. Alles „lässt sich theoretisch als Simulation einer möglichen Welt verstehen.“132

Daraus folgt für ihn, dass auch unsere Welt nur einen abgeleiteten Charakter hat, und er

zieht den Schluss: „Eine mögliche Welt ist so real, wie bewusste Beobachter, vor allem

innerhalb der Welt, glauben, dass sie es sei."133

128 Moravec 2002, Abschnitt „Das Zeitalter des Geistes“. 129 Moravec 1999, S260-261. 130 Moravec 1990, S171. 131 Eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde das Szenario, dass unsere physische Welt lediglich simuliert ist, in der Holly-wood Produktion „Matrix“. Die Körper der Menschen werden in diesem Film von intelligenten Maschinen, die die Welt-herrschaft erlangt haben in großen Anlagen ausgebeutet, während die Menschen über neuronale Schnittstellen in einer simulierten Welt aufwachsen, leben und sterben. Für die Menschen, die sich in der Simulation befinden, gibt es keine Möglichkeit ihre Welt als eine Simulation zu entlarven, es sei denn, sie werden von einer Gruppe von Widerstands-kämpfern in der realen Welt von der Verbindung mit der Simulation befreit. 132 Moravec 1999, S300. 133 Moravec 1999, S300.

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3.2. „Widerstand zwecklos!“

3.2.1. Verzicht ist nicht möglich

Die Zukunftsprognosen die in den letzten Kapiteln vorgestellt wurden, zeichnen eine

atemberaubende Welt. In dieser Welt wird aber der Mensch immer mehr verdrängt wer-

den und schließlich wird er sich ganz in einer superintelligenten Cyberspaceblase auflö-

sen. Aber warum sollten wir Menschen dies zulassen? Das, was uns transhumanistische

Denker als langfristige Zukunftsvision anbieten, ist ja nicht gerade etwas, was sich die

meisten Menschen unter einer besseren Zukunft vorstellen. Aber nicht nur die langfristi-

ge Vision einer sich mit Maschinen und künstlichen Intelligenzen verbindenden Mensch-

heit ruft bei Vielen Skepsis und Unbehagen hervor. Auch die Veränderungen, die

innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre aufgrund von Gentechnik, KI-Forschung und Na-

notechnik mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten können, sind alles andere als unum-

stritten.

Einen Eindruck über die Rat- und Orientierungslosigkeit, die in Bezug auf den Umgang

mit diesen Technologien herrscht, kann man gewinnen, wenn man sich die Beiträge der

verschiedenen Lager zur Gentechnik-Debatte ansieht. Viel Aufsehen hat auch die Debatte

um die Gefahren der neuen Technologien erregt, die der Mitbegründer von Sun Microsys-

tems Bill Joy im Frühjahr 2001 mit seinem Essay „Warum die Zukunft uns nicht

braucht“134 angestoßen hat. Können wir die Risiken, die Gentechnik, Nanotechnik und

Robotik in sich bergen, genügend abschätzen und kontrollieren? Oder sollten wir Men-

schen darauf verzichten, in diesen Bereichen zu forschen? Joy sieht einzig im Verzicht auf

diese Technologien einen wirksamen Schutz gegen die drohende Vernichtung der

Menschheit. Ein solcher Verzicht ist aber nach Meinung der Transhumanisten überhaupt

nicht möglich. So schreibt Max More in seiner Antwort auf Joy´s Thesen: „Der Glaube an

einen Verzicht kommt einer utopischen Fantasie gleich, wie sie derart nur traumtänzeri-

sche Hippies der sechziger Jahre entwickeln könnten.“135 Neben den polemischen Spitzen

gegen Joy, die vor allem bei Max More zahlreich zu finden sind, bemühen sich die Trans-

humanisten durchaus auch sachliche Gründe für die Unmöglichkeit eines Verzichts auf-

zuzeigen. Meines Erachtens lassen sich dabei drei Ebenen der Argumentation

ausmachen:

Auf einer ersten Ebene wird die technologische Entwicklung als Fortführung der natürli-

chen Evolution beschrieben. Als solche wird sie auch von den Gesetzen der Evolution be-

stimmt, die nicht durch den Menschen verändert werden können.

Verstärkt wird diese Zwangsläufigkeit vom Egoismus der Menschen. Die Techniken, die

uns bald zur Verfügung stehen, werden so attraktiv sein, dass die Menschen ihnen nicht

wiederstehen werden.

Auf der dritten Eben wird schließlich auf das Schicksal der Maschinenstürmer im 19.

Jahrhundert verwiesen. Die Menschen, die sich gegen die neuen Technologien wenden, 134 Joy, Bill 2000. 135 More 2002, Abschnitt „Verzicht kann nicht funktionieren“.

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weil sie vielleicht zu den Verlierern der Entwicklung gehören, werden demnach immer

weniger und von den Entwicklungen der Gesellschaft überholt werden.

Ein Verzicht auf die technologische Entwicklung käme jeweils der Selbstaufgabe der

Menschheit gleich. Jeglicher Widerstand gegen das hereinbrechende posthumane Zeital-

ter wäre demnach zwecklos.

3.2.2. Evolution

Kurzweil ist der Auffassung, dass Technik die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mit-

teln ist.136 Sie ist es, weil die Nutzung der Technik uns einen evolutionären Vorteil gegen-

über anderen Arten verschafft. Die technologische Entwicklung und insbesondere die von

ihm prognostizierte Zukunft ist daher kein Zufall, sondern eine Zwangsläufigkeit der Evo-

lution. Diese ist, davon ist Kurzweil überzeugt, der eigentliche Sinn des Lebens: „Still, I

regard the freeing of the human mind from its severe physical limitations as a necessary

next step in evolution. Evolution, in my view, is the purpose of life, meaning that the pur-

pose of life-and of our lives-is to evolve.

What does it mean to evolve? Evolution moves toward greater complexity, elegance, intel-

ligence, beauty, creativity and love. And God has been called all these things, only without

any limitation, infinite. While evolution never reaches an infinite level, it advances expo-

nentially, certainly moving in that direction. Technological evolution, therefore, moves us

inexorably closer to becoming like God. And the freeing of our thinking from the severe

limitations of our biological form may be regarded as an essential spiritual quest.“137

Im Hintergrund dieser Überlegungen steht wohl die Omega-Theorie des Pierre Teilhard

de Chardin, der versuchte, Theologie und Evolutionslehre miteinander in Einklang zu

bringen.138 Seine Evolutionstheorie stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Entwick-

lung. Aus der Materie entsteht aufgrund eines ihr innewohnenden Hanges zur Komplexi-

tät die Biosphäre. In ihr entsteht der Mensch, der mittels Kommunikation eine

Noossphäre (‚Geistsphäre’) hervorbringt. Eine höhere Komplexität wird in der

Noossphäre durch Konvergenz erreicht, dass heißt, dass sich verschiedene Stränge, die in

der Evolution entstanden sind, wieder zusammen finden "Die Entwicklung des Menschen

hat also keineswegs schon ihren Höhepunkt erreicht (geschweige denn, dass sie rückläu-

fig wäre), wie man so oft sagen hört; sie befindet sich in unserer Zeit vielmehr im vollen

Aufschwung. "139. Denkt man diesen Prozess weiter, so endet er in einem einzigen Punkt

der psychischen Innerlichkeit. Dieser Punkt wird von Teilhard de Chardin Omega ge-

136 siehe Kurzweil 2000, S35-41. 137 Kurzweil 2001. „Ich betrachte die Befreiung des menschlichen Geistes von seinen engen physischen Beschränkun-gen als einen notwendigen nächsten Schritt der Evolution. Evolution ist aus meiner Sicht der Sinn des Lebens, das bedeutet, dass es der Sinn des Lebens – und unsers Lebens - ist, sich zu entwickeln. Was heißt es, sich zu entwickeln? Evolution bewegt sich vorwärts zu größerer Komplexität, Eleganz, Intelligenz, Schönheit, Kreativität und Liebe. Und Gott hat diese Dinge ohne jede Einschränkung unendlich genannt. Obwohl die Evolution niemals ein unendliches Ni-veau erreicht, wird sie exponentiell beschleunigt, sich sicher in diese Richtung bewegen. Die technologische Evolution bringt uns also unerbittlich näher daran, wie Gott zu werden. Und die Befreiung unseres Denken von den engen Gren-zen unserer biologischen Form kann als eine wesentlich spirituelle Frage angesehen werden.“ 138 siehe Teilhard de Chardin 1997. 139 Teilhard de Chardin 1997, S119.

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nannt. Er ist das Zentrum des Universums, das Ziel der gesamten Evolution und beson-

ders der Entwicklung der Menschheit. Teilhard setzt diesen Omega-Punkt mit Gott gleich

und versucht so Gottesglaube und Evolutionstheorie miteinander in Einklang zu bringen.

Die Parallelitäten zwischen Teilhards Omegatheorie und Kurzweils Auffassungen über die

Evolution sind kaum zu übersehen.

Und auch in der Frage, wie denn die Steigerung der Komplexität beim Menschen erreicht

werden soll, hatte Teilhard schon ähnliche Ideen, wie sie heute von Transhumanisten ver-

treten werden. Die Noossphäre zeichnet sich dadurch aus, dass sich einzelne Menschen

durch Kommunikation zusammenschließen (organisieren) und gemeinsam ihre geistigen

Kräfte auf ein Problem zu richten. Eines dieser Probleme könnte die Vervollständigung

und die anatomische Vervollkommnung des menschlichen Gehirns sein. Bei der Vervoll-

ständigung dachte Teilhard „an die erstaunliche Leistung der Elektronenautomaten (die

ersten Ergebnisse und die große Hoffnung der noch jungen ‚Kybernetik’).“140 Die Vervoll-

kommnung könnte – so Teilhard - entweder durch die Aktivierung von bisher ungenutz-

ten Neuronen geschehen, „oder aber, wer weiß? auch dadurch, dass durch mechanische,

chemische und biologische Einwirkungen eventuell sogar völlig neue Organe ins Leben

gerufen werden.“141 Dies entspricht verblüffend genau den Ausführungen von Kurzweil,

Moravec und More.

Das Schicksal der Menschheit ist nach der gerade skizzierten Auffassung erheblich von

den Gesetzmäßigkeiten der Evolution abhängig. Der Mensch ist damit alles Andere als

„die Krone der Schöpfung“. Er ist, da sind sich die Transhumanisten sicher, ein Über-

gangsstadium in der langen Geschichte der Evolution. Eine Evolution, die wir weiter vo-

rantreiben können und sollten: „Wir haben die Chance, die natürliche Evolution auf eine

neue Ebenen zu heben. Aus unserer Sicht befindet sich die Menschheit in einem Über-

gangstadium auf dem Weg zwischen animalischer Abstammung und posthumaner Zu-

kunft.“142

Mit der Rede von der evolutionären Notwendigkeit, die zu einem posthumanen Zeitalter

führt, geht die Auffassung einher, dass es nicht in der Hand des Menschen liege, diese

Entwicklung aufzuhalten. Der Mensch sei lediglich teil dieser Entwicklung. Widerstand

dagegen sei zwecklos.

Nach Kurzweil gibt es dementsprechend auch nur eine einzige Alternative zum posthu-

manen Zeitalter: Die Zerstörung des gesamten Prozesses: "Es ist durchaus denkbar, dass

sich die Spezies zusammen mit der von ihr erschaffenen Technologie selbst zerstört, be-

vor die Verschmelzung vollzogen ist. Nur die Zerstörung des gesamten evolutionären Pro-

zesses kann die exponentielle Entwicklung im Sinne des Gesetzes vom steigenden

Ertragszuwachs stoppen."143 Eine solche Zerstörung – etwa durch Außerirdische oder ein

140 Teilhard de Chardin 1997, S118. 141 Teilhard de Chardin 1997, S118. 142 More 1998, Abschnitt „1. Kontinuierlicher fortschritt“. 143 Kurzweil 2000, S390.

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schwarzes Loch, würde nach Moravec umso wahrscheinlicher, je mehr die Menschheit auf

technologische Entwicklungen verzichten würde.144

3.2.3. Egoismus

Eines der wichtigsten Argumente für die Fortführung der Forschungen in Gen- und Na-

notechnologie sowie KI- und Robotik-Forschung ist das Argument einer besseren Zukunft

für viele, insbesondere für kranke Menschen. Der Wunsch, ein möglichst langes, gesun-

des und unbeschwertes Leben zu führen, fungiert dabei als eine Art Katalysator für die

technologischen Entwicklungen. "Wenn der Mensch die Wahl hat, wird er bestrebt sein,

zu verhindern, dass seine Knochen zerbröseln, seine Haut welkt und seine lebenswichti-

gen Systeme immer mehr an Kraft und Vitalität verlieren. Die Verbesserung unseres geis-

tigen Befindens durch Neuroimplantate und unseres körperlichen Befindens durch

nanotechnisch aufgerüstete Körper wird unwiderstehlich und populär sein.“145 Einem

Forscher wie Ray Kurzweil wird man nicht vorhalten können, dieses Argument zu miss-

brauchen. Er selbst engagiert sich für Systeme, die Behinderten helfen sollen sich in unse-

rer Welt zurechtzufinden.146

Aber die Beseitigung von menschlichen Gebrechen und Krankheiten ist ja nur ein Aspekt.

Wie schon beschrieben könnte in der Tat eine Entwicklung, bei der Implantate die Orga-

ne weit übertreffen, die sie ersetzen sollen, Begehrlichkeiten wecken, solche Implantate

auch ohne medizinische Notwendigkeit einzusetzen. „Der Mensch beginnt heute damit,

seine Evolution in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich

freiwillig gegen robuste Gesundheit, ewige Jugend und eine potentiell unbegrenzte Le-

bensspanne entscheiden wird. Denn ebenso wie Menschen immer bemüht waren, materi-

elle und soziale Restriktionen zu überwinden, werden sie auch biologische Zwänge nicht

auf Dauer akzeptieren.“147 Dieser Egoismus wird nach Ansicht der Transhumanisten

zwangsläufig zur Technologisierung des Menschen und damit zur Verschmelzung von

Mensch und Maschine führen. Für More wäre es sogar ethisch unvertretbar, auf diese

Entwicklung zu verzichten. „Dies wäre sowohl denjenigen gegenüber unverantwortlich,

die nun allmählich mit Hilfe von Implantaten ihre Hörfähigkeiten und ihr Augenlicht

wiedergewinnen, als auch gegenüber Milliarden von Menschen, die weiterhin an zahlrei-

chen Krankheiten sterben werden, die auf gen- und nanotechnologischem Wege aus der

Welt geschaffen werden könnten. Ich kann die bewusste Hinnahme weiteren Leidens mit

keiner plausiblen ethischen Sichtweise in Einklang bringen.“148

Interessanterweise sind es Kurzweil und Moravec, die betonen, dass die fortschreitende

technologische Entwicklung kaum zu einem Leben ohne Schmerz und Leid führen wird:

"Zwar mag es auf den ersten Blick so erscheinen, als müsse uns die Loslösung vom biolo- 144 siehe Moravec 1990, S141-142. 145 Kurzweil 2000, S223-224. 146 Kurzweil widmet im dritten Teil seines Buches drei Unterkapitel dem Thema körperliche Behinderung, siehe Kurzweil 2000, S300-301, 317-318, 340. Er selbst ist auch an der Entwicklung von Lesemaschinen und Orientierungssystemen für Blinde beteiligt. Zu seinen Erfindungen siehe Kurzweil 2000, S273-281. 147 Prengel 2002, Abschnitt „Quo vadis, homo sapiens?“. 148 More 2002, Abschnitt „Verzicht ist ethisch nicht vertretbar“.

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gischen Körper von allen Krankheiten des Fleisches befreien - doch leider ist dies eine

Illusion. Wie in biologischer Zeit werden auch in der postbiologischen Welt in irgendwel-

chen dunklen Nischen Parasiten lauern, um in Wirtssysteme einzudringen und sich dort

als ungebetene Gäste einzunisten."149 Auch Kurzweil, der bereits für das Jahr 2009 an-

nimmt, dass körperliche Behinderungen kaum mehr eine wirkliche Beeinträchtigung

nach sich ziehen werden,150 will neue Krankheiten und medizinische Gefahren in der Zu-

kunft nicht ausschließen. In seiner Antwort auf Bill Joys Thesen151 zieht er daher sogar die

Möglichkeit eines punktuellen Verzichtes (etwa der Verzicht auf die Herstellung selbst

replizierender Nanoboter) in betracht. Im Gesamten aber ist er sehr optimistisch, dass

wir für entstehende neue Gefahren auch immer neue Gegenmittel erschaffen werden. Als

Beispiel dienen ihm die Computerviren; der Schaden den sie anrichten, steht in keinem

Verhältnis zum Nutzen den wir aus der Computertechnologie ziehen.

Aus theologischer Sicht ist natürlich die Hoffnung auf Unsterblichkeit besonders interes-

sant. Für die nächsten Jahre und Jahrzehnte erwarten nicht nur die Transhumanisten

eine stetige Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung. Mit dem Eintritt ins

posthumane Zeitalter sehen die Transhumanisten aber auch das Ende des Tode gekom-

men. Aber um welchen Preis wird der menschliche Geist unsterblich? Nach Moravec un-

terliegt ein Geist, der in eine Maschine transplantiert wurde, einer ungeheuren

Notwendigkeit, sich selbst zu verändern und umzubauen. Im Prinzip bedeutet dies, dass

das Individuum irgendwann nicht mehr existiert. Der plötzliche biologische Tod wird also

lediglich eingetauscht gegen einen Tod auf Raten: "Der persönliche Tod, wie wir ihn ken-

nen, unterscheidet sich von dieser Unvermeidlichkeit nur durch ihre relative Plötzlich-

keit. Auf diese Weise betrachtet, ist die persönliche Unsterblichkeit durch eine

Geisttransplantation eine Technik, deren Nutzen in erster Linie darin liegt, der Empfind-

lichkeit und Sentimentalität des menschlichen Individuums Rechnung zu tragen."152

Es bleibt also nicht viel übrig von den Verheißungen, die oft leichtfertig gemacht werden.

Ja, es ist zu erwarten, dass viele der heutigen Krankheiten geheilt werden können. Ande-

rerseits werden die Entwicklungen auch neue Risiken hervorbringen, die es zu berück-

sichtigen gilt. Der Verweis darauf, dass dies immer schon so war, rechtfertigt nicht die

Maximalforderungen die bezüglich der Forschung erhoben werden. Denn es gilt nicht nur

die Rechte derjenigen zu respektieren, die auf Heilung hoffen, sondern auch das Recht

derjenigen, die möglicherweise zu Opfern werden. Die Frage, ob die Forschungen auf den

umstrittenen Gebieten weiterbetrieben werden sollten, ist jedenfalls zu komplex, als dass

sie mit einem pauschalen Ja oder Nein beantwortet werden könnte. Nichtsdestotrotz,

werden die Hoffnungen auf Unsterblichkeit und das Leben in einer Welt ohne Leid und

Not die Forschungen weiter vorantreiben. Wie realistisch diese Hoffnungen sind, scheint

eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.

149 Moravec 1990, S173-174. 150 siehe Kurzweil 2000, S301. 151 Kurzweil 2000a. 152 Moravec 1990, S169.

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3.2.4. Das Schicksal der Maschinenstürmer

Die Annahme, dass einige Menschen nicht den Verlockungen die von neuronalen Schnitt-

stellen, intelligenten künstlichen Systemen und gentechnischen Veränderungen ausge-

hen, widerstehen werden, lässt die Möglichkeit offen, dass andere Menschen auf solche

‚Erweiterungen’ ihrer Möglichkeiten verzichten und ihre biologische und individuelle

Existenz behalten möchten.

Sowohl Moravec, als auch Kurzweil nehmen an, dass es solche Menschen noch einige Zeit

geben wird. Aber sie werden, nicht mehr sein, als eine verschwindende Randgruppe. "Es

wird eine nostalgische Sehnsucht nach den einfachen kohlewasserstoffgestützten Wurzeln

der Menschheit erwachen, aber dasselbe gilt auch für Vinylschallplatten. Trotzdem haben

wir den größten Teil unserer Musik von diesen analogen Trägern auf die flexibleren und

leistungsfähigeren digitalen Träger übertragen. Der Schritt, unser Bewusstsein in ein leis-

tungsfähigeres Datenverarbeitungsmedium zu übertragen, wird sich allmählich, aber

trotzdem unerbittlich vollziehen."153 Um diese These zu bekräftigen, verweist Kurzweil auf

das Schicksal der sogenannten Ludditen, eine Gruppe von Webern, die in England wäh-

rend der industriellen Revolution Textilmaschinen zerstörten. Durch den steigenden

Wohlstand, den die Textilindustrie mit sich brachte, sei ihnen schließlich das Wasser ab-

gegraben worden.154 Ähnlich werde es auch denen ergehen, die in der Zukunft die prog-

nostizierte Entwicklung aufhalten wollen. Am ehesten kommen für eine solche Position

Menschen in Frage, die bei der rasanten Entwicklung der Technologien nicht mithalten

können. Aber auch für sie werden sich nach Kurzweil Lösungen finden. So schreibt er in

seinen Prognosen für das Jahr 2009: „Sorge bereitet weiterhin eine Unterschicht, die weit

hinter dem allgemeinen Ausbildungsstand zurückgeblieben ist. Ihre Größe scheint jedoch

stabil zu bleiben. Obwohl es politisch nicht populär ist, wird die Unterschicht durch öf-

fentliche Zuwendungen, die das allgemein hohe Wohlstandsniveau ermöglicht, politisch

neutralisiert."155

Auch Moravec nimmt an, dass sich Gruppen, die sich gegen eine solche Entwicklung weh-

ren, über kurz oder lang ganz verschwinden werden: „Einige Individuen und Gemein-

schaften haben versucht, das Problem durch Isolierung zu lösen. Die Amish People in

Pennsylvania sind vorsätzlich auf der Entwicklungsstufe des frühen 19. Jahrhundert, der

ländlichen Industrialisierung stehen geblieben. Einige Klosterorden verhalten sich wie

isolierte Stämme. [...] Doch der wachsende Bevölkerungs-, Mobilitäts-, und Konkurrenz-

druck in allen Bereichen der Industriegesellschaft scheint diese Gemeinschaften allmäh-

lich auszutrocknen."156 Eine wichtige Ebene scheint dabei der wirtschaftliche und

militärische Druck zu sein. Moravec ist der Meinung, dass ein einseitiger Verzicht die

USA dazu führen würde, dass Amerika militärisch und wirtschaftlich von vielen anderen

Staaten übertrumpft würde. Damit aber, so Moravec, würden die Ideale, die zum Verzicht

153 Kurzweil 2000, S202. 154 siehe Kurzweil 2000, S142-143. 155 Kurzweil 2000, S305. 156 Moravec 1999, S22.

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führten letztlich bedeutungslos.157 More ist in seinen Ansichten radikaler. Ein Verzicht

führe, davon ist er überzeugt, in ein politisch totalitäres System. Aus diesem Grund sieht

er sich wohl genötigt Bill Joy´s Aufruf zum Verzicht auf die Fortführung der Forschungen

in bestimmten Bereichen äußerst scharf anzugreifen, wenn er schreibt: „Mit diesem An-

griff auf unseren Wunsch nach unbegrenztem Wissen tritt Joy die Erbfolge von Theokra-

ten, Alleinherrschern und Technokraten an. Er erwähnt den Mythos von der Büchse der

Pandora. Er hätte auch noch die antihumanistischen Mythen vom Garten Eden, vom

Turmbau zu Babel und von Ikarus anführen können. Und beim Herstellen einer Verbin-

dung zwischen Mythos und Realität hätte er ausdrücklich die nötigen Maßnahmen be-

schreiben sollen, die im Laufe der Geschichte ergriffen wurden: Bücherverbrennungen,

Ächtung des Studiums gefährlicher Ideen und autoritäre Kontrolle der Wissenschaf-

ten.“158 Die Möglichkeit eines totalitären Systems, das den technischen Fortschritt über

die Selbstbestimmung des Menschen stellt, scheint More dabei überhaupt nicht zu be-

schäftigen.

157 siehe Moravec 1990, S141. 158 More 2002, Einleitung.

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4. David Chalmers: Das schwierige Problem des Bewusstseins

Eine ethische Debatte über die Ziele der Transhumanisten wäre sicher angebracht. Was

bedeutet es, dass eine immer größer werdende Gruppe von Menschen fordert, Wissen-

schaft und Technik so einzusetzen, dass sich die Menschheit in einer Art Evolutions-

sprung selbst überwindet? Welche Normen und welches Menschenbild sind geeignet die

Zukunft des Menschen sinnvoll zu gestalten? Glaubt man den Ausführungen zu Vernunft,

Rationalität und Demokratie in den Extropianischen Grundsätzen, so scheint die Bereit-

schaft, in einen solchen Dialog einzutreten, auch auf transhumanistischer Seite vorhan-

den zu sein. Die Vehemenz aber, mit der einige Transhumanisten die Auffassung

vertreten, dass der von ihnen prognostizierte Weg nicht nur eine erstrebenswerte Zukunft

für den Menschen, sondern eben eine Zwangsläufigkeit in der Evolution sei, führt meines

Erachtens zu der Notwendigkeit, eine Kritik fundamentaler159 anzusetzen.

Dies könnte zum Einen dadurch geschehen, dass man die technischen und physikalischen

Annahmen, auf die die dargestellten Prognosen beruhen, genauer analysiert und einer

(natur-)wissenschaftlichen Kritik unterzieht. Eine solche Kritik – so wichtig sie ist – hat

aber auch ihre Grenzen, zumal die Prognosen der Transhumanisten oftmals den natur-

wissenschaftlichen Boden verlassen.

Ertragreicher erscheint mir daher eine philosophische Kritik. Die Philosophie lässt die

Physik nicht außer Acht, kann aber auch dort, wo die Methoden der Naturwissenschaft

keine Aussagen mehr zulassen, eine rationale und nachvollziehbare Kritik liefern.

Die Prognose, dass sich Mensch und Maschine eines Tages miteinander verbinden wer-

den, stützt sich auf zwei Grundannahmen, die weiter oben umfangreich ausgeführt wur-

den: Zum Einen wird angenommen, dass der Geist des Menschen, sein Bewusstsein,

prinzipiell aus dem Gehirn in ein anderes Medium übertragen werden könne, zum Ande-

ren geht man davon aus, dass künstliche Systeme – Roboter oder virtuelle Agenten – ei-

nes Tages Bewusstsein erlangen werden. Nur wenn beide Szenarien sich bewahrheiten

lassen, wird es zu einem posthumanen Zeitalter, zur Entstehung von neuen intelligenten

und bewussten Lebensformen kommen können. Bewusstsein erweist sich so als Schlüs-

selproblem für die Erreichung dieses Zieles. Es lohnt sich also genauer hinzusehen, was

transhumanistische Denker unter Bewusstsein verstehen, und ob die Auffassungen über

Struktur und Entstehung des Bewusstseins einer philosophischen Kritik standhalten.

4.1. Maschinen mit Bewusstsein?

Wir haben weiter oben bereits gesehen, dass es eine „starke KI-These“ gibt, nach der

künstliche Systeme nicht nur menschenähnliche Intelligenz, sondern auch Gefühle und

Bewusstsein erreichen werden. Moravec rechnet damit, dass etwa um das Jahr 2040 die

Frage gestellt werden muss, ob die vorhandenen Systeme Bewusstsein haben: "Da der

Roboter der vierten Generation uns in Evolution und Verhalten ähnelt, ist die Frage be-

159 Natürlich ist das Wort fundamental nicht mit fundamentalistisch zu verwechseln.

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rechtigt, ob er ein geistiges Innenleben besitzt, das dem unsrigen in irgendeiner Weise

ähnelt. Ist er sich seiner Existenz bewusst? Hat er Gefühle?"160 Aber wie soll eine Antwort

auf diese Fragen gefunden werden? Es war schon die Rede vom Turingtest, mit dem ge-

klärt werden soll, ob ein künstliches System eine menschenähnliche Intelligenz erlangt

hat oder nicht. Kann ein solcher Test diese entscheidende Frage klären?

4.1.1. Turingtest

1950 stellte Alan Turing in seinem Aufsatz „Computing Machinery and Intellegence“161

ein „Imitationspiel“ vor. Dabei befragt ein menschlicher Fragesteller über einen Fern-

schreiber einen Menschen und eine Maschine. Die Unterhaltung ist durch nichts einge-

schränkt. Nach einiger Zeit soll der Fragesteller entscheiden, welcher seiner

Gesprächspartner der Mensch und welcher die Maschine ist.

Die Frage, ob Maschinen denken können, will Turing durch die Überprüfung ersetzen, ob

sich eine Maschine in einem solchen Imitationsspiel erfolgreich bewährt. „Meiner Mei-

nung nach wird es in ca. 50 Jahren möglich sein, Rechenmaschinen mit einer ungefähren

Speicherkapazität von der Größe 109 zu programmieren, die das Imitationsspiel so voll-

endet spielen, daß die Chancen, nach einer fünfminütigen Fragezeit die richtige Identifi-

zierung herauszufinden, für einen durchschnittlichen Fragesteller nicht höher als sieben

zu zehn stehen. Die ursprüngliche Frage ‚Können Maschinen denken?’ halte ich für zu

belanglos, als daß sie ernsthaft diskutiert werden sollte. Nichtsdestoweniger glaube ich,

daß am Ende unseres Jahrhunderts der Sprachgebrauch und die allgemeine Ansicht sich

so stark gewandelt haben werden, daß man widerspruchslos von denkenden Maschinen

reden kann.“162

Turings Vorhersage, ein Computer könne zur Jahrtausendwende sich in einem Imitati-

onsspiel bewähren, ist nicht eingetroffen. Kurzweil allerdings rechnet damit, dass dies bis

zum Jahr 2029 der Fall sein wird. Aus diesem Grund hat er mit Mitsch Kapor eine Wette

abgeschlossen.163 Kurzweil und Kapor haben sich auf ein Auswahlverfahren für die am

Turing-Test teilnehmenden Personen geeinigt und darauf, dass vor der entscheidenden

Turingtest-Sitzung im Jahr 2029 mindestens zwei weitere stattfinden sollen. Jede dieser

Sitzungen soll aus drei Versuchen bestehen, bei denen drei Richter, jeweils ein zwei Stun-

den langes Interview mit jedem der vier Mitspieler führen. Insgesamt kommt dadurch bei

jedem Versuch eine Interviewzeit von 24 Stunden zustande. Von den vier Mitspielern soll

einer ein Computer und die anderen sollen Menschen sein. Die Interviews sollen natür-

lich in einem Online-Chat geführt werden. Nach den drei Versuchen sollen die Richter die

vier Kandidaten bewerten – von 1 für am wenigsten menschlich bis 4 für am ehesten

menschlich. Der Computer hat den Test bestanden, wenn seine ermittelte Gesamtpunkt-

160 Moravec 1999, S171-172. 161 in deutscher Übersetzung: Turing 1967. 162 Turing 1967, S117. 163 siehe Kurzweil 2002.

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zahl mit der Punktzahl von mindestens zwei der drei teilnehmenden Personen gleich oder

höher ist.

Die Modalitäten für den Turing-Test auf die sich Kurzweil und Kapor geeinigt haben sind

sicherlich um einiges strenger, als die Urversion von Alan Turing. Aber ist mit einem sol-

chen Test bewiesen, dass der Computer Bewusstsein besitzt? Damit der Rechner diesen

Test bestehen kann, muss er „lügen“. Wie sollte er sonst jemanden davon überzeugen

können, dass er ein realer Mensch ist? Er braucht eine menschliche Geschichte, muss

über Themen wie Sexualität, Erziehung und Tod sprechen können und sich auch beim

multiplizieren von zwei Zahlen ab und zu „verrechnen“. Besitzt er nun Bewusstsein und

Intelligenz, oder simuliert er sie bloß? Durch einen Turintest ist eine solche Frage nicht zu

beantworten, und Kurzweil erhebt auch gar nicht diesen Anspruch: "Ich gebe Turing in

gewisser Weise recht: Wenn eine Maschine den Turing-Test besteht, werden wir wohl

auch glauben, dass sie ein Bewusstsein hat. Aber ein wissenschaftlicher Beweis ist das

noch nicht."164

Der Turingtest ist also nicht geeignet die Frage zu beantworten, ob ein künstliches System

(oder ein Mensch) Bewusstsein oder Intelligenz besitzt. „Clearly, the Turing test is not an

explicit test for consciousness. Rather, it is a test of human-level performance. My own

view is that inherently there is no objective test for subjective experience (i.e., conscious-

ness) that does not have philosophical assumptions built into it. The reason for this has to

do with the difference between the concepts of objective and subjective experience. How-

ever, it is also my view that once nonbiological intelligence does achieve a fully human

level of intelligence, such that it can pass the Turing test, humans will treat such entities

as if they were conscious. After all, they (the machines) will get mad at us if we don't.

However, this is a political prediction rather than a philosophical position“165

Solange es keine Möglichkeit gibt, objektiv zu beurteilen, ob ein künstliches System Be-

wusstsein hat, solange müssen wir uns auf unsere subjektiven Einschätzungen verlassen.

Die Beweislast in der Frage nach künstlichem Bewusstsein mag zur Zeit bei denjenigen

liegen, die davon ausgehen, dass künstliche Systeme Bewusstsein erlangen können; zur

Zeit gibt es noch kein System, bei dem genügend Anzeichen vorhanden wären, um diese

Annahme zu rechtfertigen. Sollte aber Kurzweil eines Tages seine Wette gewinnen, so

könnte sich die Beweislast umdrehen. Diejenigen, die Maschinen das Bewusstsein ab-

sprechen wollen, müssten zeigen, dass es sich bei den Äußerungen des künstlichen Sys-

tems eben nicht um Auswirkungen eines Bewusstseins handelt. Solange es keinen

eindeutigen Beweis für das Gegenteil gibt, werden die Menschen gewillt sein, Systeme, die

164 Kurzweil 1999, S111. 165 Kurzweil 2002a. „Um es klar zu sagen, der Turing Test ist kein expliziter Test für das Bewusstsein. Er ist eher ein Test für eine menschenähnliche Leistung. Meine eigene Sicht ist, dass es keinen Test für subjektive Erfahrungen (d.h. Bewusstsein) geben kann, der nicht philosophische Vermutungen beinhaltet. Der Grund dafür hat mit dem Unterschied zwischen subjektiver und objektivber Erfahrung zu tun. Jedenfalls bin ich ebenso der Auffassung, dass nicht-biologische Intelligenz eines Tages ein vollständig menschliches Maß an Intelligenz erreichen wird, so dass sie den Turing Test bestehen kann, Menschen werden solche Entitäten so behandeln, als hätten sie Bewusstsein. Wie dem auch sei, sie (die Maschinen) werden wütend werden, wenn wir es nicht tun. Aber dies ist eher eine politische Voraussage, als eine philosophische Position.“

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alle Anzeichen für ein bewusstes Innenleben haben, auch so zu behandeln, als ob sie es

wirklich hätten.

4.1.2. Bewusstsein als Abstraktion

Ein Grund für die Annahme, künstliche Systeme hätten Bewusstsein, liegt in ihrer Un-

durchsichtigkeit, bzw. ihrer wachsenden Kompexität. Wenn nicht mehr nachvollzogen

werden kann, wie das Verhalten eines Roboters zustande kommt, fällt es wesentlich leich-

ter, anzunehmen, der Roboter gelange aufgrund von bewussten Prozessen eigenständig

zu diesem Verhalten. Für Moravec ist die Undurchsichtigkeit von Prozessen, insbesonde-

re von Prozessen, die menschlichem Verhalten und Erfahrungen zugrunde liegen, der

Grund dafür, dass wir überhaupt mentalistische Begriffe verwenden: „Die geistigen

Schritte, die Menschen ausführen, wenn sie Schach spielen, Theoreme beweisen oder Mu-

sik komponieren, sind so komplex und verborgen, daß sie eine mechanische Interpretati-

on ausschließen. Wer den Vorgängen folgen kann, beschreibt sie wie selbstverständlich in

mentalistischer Sprache - mit Ausdrücken wie Strategie, Verstand, Kreativität, Schönheit

oder Gefühl. Wenn es einer Maschine gelänge, in ähnlich komplexer Weise zugleich sinn-

voll und überraschend zu handeln, würde sie menschliche Beobachter gleichfalls zu einer

mentalistischen Interpretation veranlassen."166 Für die Erklärung von bewussten Erleb-

nissen, würde es also genügen, den zugrunde liegenden Prozess zu erklären. Darüber hin-

aus gäbe es nichts, was noch erklärt werden könnte. Diese materialistische Position wird

von vielen Transhumanisten vertreten und ruft zugleich Unbehagen hervor: Sind unser

Denken, unser Erleben, unsere Gefühle, Hoffnungen, Wünsche und nicht zuletzt unsere

Freiheit nichts anderes, als chemische und physikalische Prozesse in unserem Gehirn?

Moravec versucht zu vermitteln: „Die mechanistische Vorstellung, daß das menschliche

Bewußtsein nur aus materiellen Ereignissen in Gehirn und Körper erwachse, scheint der

altehrwürdigen Auffassung, daß Leben und Geist immateriell beseelte Wesenheiten seien,

zunächst diametral entgegengesetzt zu sein. Doch vielleicht ist der Widerspruch nur eine

Frage der Perspektive. Noch nicht einmal der verstockteste Materialist würde behaupten,

daß die chemischen Prozesse in Nervenzellen als solche Gedanken und Gefühle seien.

Vielmehr würde er erklären, dass sich die großräumigen Aktivitätsmuster des Gehirns als

abstrakte mentale Ereignisse interpretieren lassen." 167 Geist, Bewusstsein, Seele wären

demnach lediglich Abstraktionen von den zugrundeliegenden Prozessen. Abstraktionen,

die notwendig sind, weil wir eben diese Prozesse nicht auf Anhieb verstehen.

Auch Marvin Minsky geht davon aus, dass Begriffe wie Bewusstsein, Gefühl, Intuition,

etc. lediglich Abstraktionen sind. Sie sind Kofferwörter, die „all of us use to encapsulate

our jumbled ideas about our minds. We use those words as suitcases in which to contain

all sorts of mysteries that we can't yet explain. This in turn leads us to regard these as

166 Moravec 1999, S114. 167 Moravec 1999, S119-120.

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though they were "things" with no structures to analyze.“168 Diese Annahme rühre unter

Anderem daher, dass uns die zugrundeliegen Prozesse nicht bewusst seien. Bei einer Be-

rührung zum Beispiel erscheint es uns so, als würden wir das, was uns berührt, direkt

spüren, obwohl dazwischen die Reizaufnahme an der Haut, die Weiterleitung zum Gehirn

und die Verarbeitung liegen. „It all seems so basic and immediate that there seems no

room for analysis. The feelings of being seem so direct that there seems to be nothing to

be explained.“169

Aus der Auffassung, dass mentalistische Begriffe lediglich Abstraktionen von physischen

Prozessen sind, folgt zwangsläufig die Vorstellung, dass alles, was mit solchen Begriffen

bezeichnet wird, auch in einem Roboter verkörpert werden kann. Das eigentlich Wichtige

sind ja die informationsverarbeitenden Prozesse. Die Rede von Geist, Bewusstsein und

Gefühlen hingegen nur ein Streit um die rechte Wortwahl.

4.1.3. Robotergefühle

Wenn es gelingen soll, Roboter zu konstruieren, die bewusste Gefühle haben, so wird man

nicht umhin kommen eine Art „Bauplan“ für solche Gefühle zu entwerfen. Moravec geht

davon aus, dass bewusste Gefühle (auch beim Menschen) durch eine Art Konditionierung

zustande kommen. „Wirbeltiere werden durch erschreckende Erfahrungen konditioniert,

alles zu vermeiden, was sie in diese Situation gebracht hat. In den Robotern der zweiten

Generation werden daher die Sicherheitsprogramme zugleich negative Konditionierungs-

routinen sein, die durch ihre Signale dafür sorgen, daß der Roboter in Zukunft alles ver-

meidet, was zu dem Problem geführt hat.“170 Kommt ein Roboter in eine

Gefahrensituation, so werde ein Abwehrprogramm aufgerufen. Die Reaktionen würden

nach Moravec den Reaktionen bei Mensch und Tier gleichen, die wir mit dem Begriff

Angst bezeichnen. Solche Reaktionen kommen aufgrund von Modellen über die Welt zu-

stande. Beispielsweise könne ein Roboter darauf konditioniert sein (etwa durch einen Un-

fall oder aber durch eine Programmierung) schmale Abgründe zu meiden. Wenn nun in

dem Modell, dass er von seiner Umgebung anfertigt, eine Laderampe auftauche, so würde

er diese wegen seiner Konditionierung meiden. Nach Moravec könnte der Roboter später

seine Handlung folgendermaßen beschreiben: „Ich habe die Laderampe gemieden, weil

ich vor schmalen Mauervorsprüngen Angst habe."171 Solche Konditionierungssignale

müssten keinesfalls einprogrammiert sein, wie wir an den lernfähigen Systemen unter

Punkt 2.1.3 gesehen haben.

Ähnlich wie das Angstgefühl könnten nach Moravec, auch Scham, Wut, Trauer, Freude

und sogar Nächstenliebe bei künstlichen Systemen auftreten. Auch sie würden auf den

Modellen seiner physischen und sozialen Umwelt und Konditionierungssignalen fußen: 168 Minsky 1998, „wir alle benutzen, um unsrere durcheinandergeworfenen Ideen über unseren Geist zusammenzufas-sen. Wir nutzen solche Wörter wie Koffer, die alle Arten von Mystrerien beinhalten, die wir noch nicht erklären können. Dies wiederum veranlasst uns, sie so zu betrachten, als ob sie ‚Dinge’ wären, ohne analysierbare Struktur.“ 169 Minsky 1998. „Es erscheint alles so grundlegend und unmittelbar, dass da kein Raum für eine Analyse zu sein scheint. Die Gefühle des Seins scheinen so direkt, dass scheinbar nichts sie erklären kann.“ 170 Moravec 1999, S182. 171 Moravec 1999, S132.

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„In einem Roboter der dritten oder vierten Generation könnte der Simulator über die Fä-

higkeit verfügen, die Geistesverfassung von Menschen – und vermutlich anderen Robo-

tern – mit Hilfe von ‚Psychologiemodellen’ zu modellieren. Sie würden wie Objekterken-

Objekterkennungs- und Wechselwirkungsmodelle trainiert und unter dem Einfluß von

Erfahrung abgestimmt. Mit ihrer Hilfe wäre der Roboter in der Lage, die Wirkung seiner

Handlungen auf die Gefühle betroffener Menschen abzuwägen. Auf was für Wirkungen er

im Einzelfall Wert legte, hinge von seinen Konditionierungsmodulen ab, aber es sollte

möglich sein, ein Paket zu installieren, das Verstärkungen produziert, wenn das Roboter-

verhalten den Besitzer glücklich macht.“172

Im Kern laufen Moravecs Beschreibungen auf eine Reduzierung der bewussten Gefühle

auf Prozesse der Informationsverarbeitung hinaus. Um in der beschriebenen Art „Gefüh-

le“ zu zeigen bzw. zu haben, bedarf es zum Einen Informationen über die physische bzw.

soziale Umwelt und zum Anderen einer Konditionierung die ihrerseits ebenfalls aus In-

formationen besteht; nämlich Informationen über zu meidende und herbeizuführende

Situationen, sowie - im Fall einer zu meidenden Situation - Informationen über Hand-

lungsalternativen. Solche Informationen könnten durch komplexe Simulationen erlangt

werden.

Sind also Gefühle und Bewusstsein lediglich abstrakte Begriffe für informationsverarbei-

tende Prozesse? Dies würde bedeuten, dass mit der Erklärung dieser Prozesse das ganze

Phänomen erklärt wäre. So verlockend einfach diese Annahme auch sein mag, es muss

gefragt werden, ob sie das Phänomen der bewussten Gefühle wirklich erklärt. Einer der

dies bezweifelt und dennoch versucht an einer Form des Materialismus festzuhalten ist

David Chalmers. Für ihn bleibt durch eine rein materialistische Erklärung des Bewusst-

sein, das eigentlich schwierige Problem ungelöst – die Frage nach dem bewussten Erle-

ben.

4.2. Der Ansatzpunkt von David Chalmers

Chalmers war nach eigenen Angaben selbst lange davon überzeugt, dass sich Bewusstsein

auf die zugrunde liegenden physikalischen Prozesse reduzieren lässt: „I have tried hard at

times to convince myself that there is really nothing there, that conscios experience is

empty, an illusion. There is something seductive about this notion, wich philosophers

throughout the ages have exploited, but in the end it is utterly unsatisfying.“173 Er machte

sich also auf die Suche nach einer Theorie, die Geist und Bewusstsein zufriedenstellend

erklären könnte. Seine ursprüngliche Überzeugung spiegelt sich dabei in seinem Ansatz

wieder. Er selbst beschreibt seine Theorie als eine nicht reduktive Theorie, die zwar eine

Spielform des Dualismus, trotzdem aber mit den Naturgesetzen vereinbar sei.

172 Moravec 1999, S184. 173 Chalmers 1996, Sxii. „Ich habe lange Zeit versucht, mich selbst zu überzeugen, dass da wirklich nichts ist, dass bewusste Erfahrung leer ist, eine Illusion. Es ist etwas verführeriches an diesem Begriff, das Philosophen über die Jahre ausgebeutet haben, aber am Ende ist es äußerst unbefriedigend.“

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4.2.1. Die Frage nach dem Bewusstsein

Die Neurowissenschaften versuchen zu erklären, wie aus den physikalischen Prozessen in

unserem Gehirn menschliches Verhalten entsteht. Und auch wenn viele dieser Prozesse

noch nicht hinreichend erklärt sind, so haben wir nach Chalmers eine Ahnung davon, wie

sie funktionieren könnten. Das eigentlich Erstaunliche sei aber, dass diese Prozesse mit

bewussten Erleben einhergehen. „When we perceive, think, and act, there is a whir of

causation and information processing, but this processing does not usally go on in the

dark. There is also an internal aspect; there is something it feels like to be a cognitive

agent. This internal aspect is conscious experience.“174 Diese Kritik trifft auch Moravecs

Erklärung der Robotergefühle: Die Aussage des Roboters, er habe die Laderampe aus

Angst gemieden, muss nicht zwangsläufig einem bewusst erlebten Gefühl der Angst ent-

sprechen. Moravec würde sicherlich entgegnen, dass es außer den beschriebenen Prozes-

sen nichts zu erklären gibt, dies enspricht aber nicht unseren Erfahrungen mit bewusst

erlebten Gefühlen. Deutlicher wird es, wenn wir uns anstelle von Moravecs Roboter einen

Menschen an der Laderampe vorstellen. Er sieht den Abgrund, und ihm fällt aufgrund

einer früheren Erfahrung oder vielleicht einer Regel, die er gelernt hat, ein, dass er stür-

zen könnte, also meidet er diesen Abgrund. Nichts zwingt uns dazu anzunehmen, dass

dieser Vorgang mit einem bewusst erlebten Gefühl der Angst einhergeht. Dass es dennoch

ein solches Erleben gibt, kann mit der Theorie Moravecs nicht erklärt werden.

Von einem rein objektiven Standpunkt aus, bei dem man lediglich die Prozesse im Gehirn

betrachtet, die mit unseren Geistaktivitäten (Wahrnehmen, Denken, Handeln) zusam-

menhängen, kämen wir nach Chalmers vermutlich überhaupt nicht auf die Idee, dass es

so etwas wie bewusstes Erleben gibt: „If it were not for our direct evidence in the first-

person case, the hyypothesis would seem unwarrented; almost mystical, perhaps.“175 Und

wie wir gesehen haben, neigen ja Moravec und Minsky dazu, Bewusstsein als Abstraktion

zu erachten.

In Anlehnung an Thomas Nagel will Chalmers einem Sein nur dann Bewusstsein zuspre-

chen, wenn es sich irgendwie anfühlt, dieses Sein zu sein.176 Nichtsdestotrotz weiß

Chalmers, dass auch die Frage nach dem bewussten Erleben nicht die ganze Miete ist.

Auch die eben genannten funktionalen Aspekte gehören zu einer Erklärung unseres Geis-

tes.177 Das führt dazu, dass der Begriff Bewusstsein verschiedene Notationen hat. Um die-

ser Mehrdeutigkeit zu entgehen, unterscheidet Chalmers zwischen Bewusstsein

(consciousness), wenn er über die Phänomene des Erlebens spricht, und Gewahrsein

174 Chalmers 1996, S4. „Wenn wir wahrnehmen, denken und handeln, dann gibt es ein schwirren von Ursachen und Informationsverarbeitung, aber diese Verarbeitung geschieht normalerweise nicht im dunkel. Es gibt ebenso einen inneren Aspekt; es fühlt sich irgendwie an, ein kpognitiver Agent zu sein. Dieser innere Aspekt ist bewusstes Erleben.“ [Übers. RS] 175 Chalmers 1996, S5. „Wenn wir nicht unsere direkte Evidenz in der ersten Person hätten, dann wäre die Hyppothese ungerrechtfertigt; beinhae mystisch, vielleicht.“ [Übers. RS] 176 siehe Chalmers 1996, S4. 177 siehe Chalmers 1996, S11.

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(awareness), wenn er die funktionalen Aspekte, die mit Hilfe von physischen Theorien

erklärt werden können, meint.178

4.2.2. Das schwierige Problem und die vielen leichten.

Die Aufteilung in Bewusstsein und Gewahrsein kommt nicht von ungefähr. Nach

Chalmers gibt es zwei unterschiedliche Konzepte, die bei den Theorien über den Geist

eine Rolle spielen: „The first is the phenomenal concept of mind as conscious

expierience, and of a mental state as a consciously experienced mental state. [...] The sec-

ond is the psychological concept of mind.“179 Im psychologischen Konzept des Geistes

wird der Geist als kausale Grundlage für das Verhalten angesehen. Mental sind dement-

sprechend Zustände, die eine angemessene Rolle bei der Erklärung von Verhalten spielen.

Dementsprechend ist es für das psychologische Konzept des Geistes egal, ob der mentale

Zustand bewusst ist oder nicht.

Die meisten Forscher, die den Geist und das Bewusstsein ergründen wollen beschäftigen

sich nach Chalmers jedoch mit den Phänomenen des Bewusstseins, die mit Hilfe des psy-

chologischen Konzepts vollständig erklärt werden können, also mit funktionalen Aspek-

ten des Bewusstsein. Die Lösung dieser Probleme ist relativ leicht: „Um beispielsweise

Zugang und Berichtsfähigkeit zu erklären, brauchen wir bloß die Mechanismen angeben,

durch die Information über interne Zustände abgerufen und für verbale Meldungen ver-

fügbar gemacht wird. Um die Integration von Information zu erklären, brauchen wir bloß

Mechanismen aufzeigen, mittels derer Information zusammengeführt und von späteren

Prozessen ausgenutzt wird. Für eine Erklärung von Schlaf- und Wachsein reicht eine

neurophysiologische Darlegung derjenigen Prozesse aus, die für das unterschiedliche

Verhalten von Organismen in diesen Zuständen verantwortlich sind. Es ist klar, dass in

all diesen Fällen geeignete kognitive oder neurophysiologische Modelle die erforderliche

explanatorische Arbeit leisten können.“180 Die leichten Probleme des Bewusstseins zeich-

nen sich also dadurch aus, dass sie durch funktionale Theorien, erklärt werden können.

Eine Beschäftigung mit diesen leichten Problemen ist nach Chalmers interessant, und sie

ist auch legitim, solange nicht behauptet wird, mit ihrer Lösung sei das ganze Rätsel des

Bewusstseins gelöst – Hans Moravec vertritt wie gezeigt diese Position. Über die Erklä-

rung der funktionalen Aspekte hinaus gibt es nämlich ein weiteres Problem: „Das wirklich

schwierige Problem des Bewusstseins ist das Problem des Erlebens. Wenn wir denken

und wahrnehmen, gibt es ein Gesurre von Informationsverarbeitung, aber es gibt auch

einen subjektiven Aspekt [...] Wenn wir beispielsweise sehen, erleben wir visuelle Emp-

findungen: die gefühlte Qualität der Röte, das Erleben von Dunkel und Hell, die Qualität

der Tiefe im Sehfeld.“181 Subjektives Erleben wird zum schwierigen Problem des Bewusst-

178 siehe Chalmers 1998, S224. 179 Chalmers 1996, S11. „Das erste ist das phänomenlae Konzept des Geistes als bewusstes Erlebnis und des mentalen Zusatndes als bewusst erlebten mentalen Zustand. [...] Das Zweite ist das psychologische Konzept des Geistes.“ [Übers. RS] 180 Chalmers 1998, S223. 181 Chalmers 1998, S223.

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seins, weil es eben nicht einfach durch eine funktionale Theorie erklärt werden kann. Die

funktionale Erklärung, wie die Informationen über ein rotes Buch in meinem Gehirn ver-

arbeitet werden, gibt keinerlei Aufschluss darüber, warum ich beim betrachten des Bu-

ches ein Roterlebnis habe. „Das Problem besteht fort, selbst wenn die Ausübung aller re-

relevanten Funktionen erklärt worden ist.“182 Zur Verdeutlichung dient unter anderem

das Denkmodell der Neurowissenschaftlerin Mary.

Mary lebt in einem Zeitalter, in dem man alle Fakten über die physikalischen Prozesse in

unserem Gehirn weiß, die unser Verhalten hervorrufen. Sie ist Spezialistin für Farbwahr-

nehmung, hat aber selbst nie eine Farbe gesehen, sondern ihr bisheriges Leben in einem

Raum verbracht, in dem es nur Schwarz, Weiß und Grauschattierungen gibt. Obwohl sie

wirklich alle Fakten über die Farbwahrnehmung kennt, weiß sie nicht, wie es sich anfühlt,

Rot zu sehen. Nichts von all den physikalischen Fakten, die sie kennt, kann ihr dieses

Wissen vermitteln.183

Dennoch sind die physikalischen Fakten über die Prozesse in unserem Gehin nicht irrele-

vant. Sie sind der eine Teil einer Erklärung unseres Geistes.

Die meisten unserer mentalen Fähigkeiten und Begriffe wie Wachsein, Selbstbeobach-

tung, Berichtsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Achtung, Willenskontrolle und Wissen, kön-

nen funktional erklärt werden. Aber sie werden ebenso mit phänomenalen Zuständen in

Verbindung gebracht, es gibt immer auch den subjektiven Aspekt des Erlebens, der sich

einer funktionalen Erklärung entzieht.

Die Forscher, die sich mit dem Problemen des Bewusstsein beschäftigen liefern allerdings

oftmals keine Erklärungen für das bewusste Erleben. Es werde – so Chalmers - entweder

einfach etwas anderes erklärt, oder die Existenz von bewussten Erleben ganz geleugnet.

Ebenso würde oft behauptet, mit der jeweiligen Theorie, auch das Problem des Erlebens

vollständig erklärt zu haben. „Über den entscheidenden Schritt in der Erklärung huschen

sie jedoch üblicherweise schnell hinweg und dieser Schritt sieht am Ende wie bloße Magie

aus.“184

Andere wiederum versuchen, die Struktur des Erlebens zu erklären, oder ein Substrat des

Erlebens ausfindig zu machen. Dies genüge aber nicht, weil nicht klar sei, warum das Er-

leben entstehe. „Am Ende lässt sich dieselbe Kritik gegen jede rein physische Erklärung

des Bewusstseins vorbringen. Für jeden physischen Prozeß, den wir benennen, wird es

eine unbeantwortete Frage geben: Warum sollte dieser Prozeß Erleben entstehen lassen?

Für jeden solchen Prozeß ist die Annahme begrifflich kohärent, dass er auch ohne Erleben

vorkommen könnte. Daraus folgt, dass keine Darlegung des physischen Prozesses allein

uns sagen wird, warum Erleben entsteht.“185

182 Chalmers 1998, S225. 183 siehe Chalmers 1996, S103. 184 Chalmers 1998, S231. 185 Chalmers 1998, S234.

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Für Minsky ist diese Annahme nicht plausibel. Um sie zu rechtfertigen, müsste man

überprüfen, ob es wirklich keine physikaliche Theorie gebe, die bewusstes Erleben erklä-

ren kann. „But again, that's just what we were trying to prove.“186

Für Chalmers jedoch ist das Problem grundlegender: Jede rein physische Erklärung steht

vor dem selben Problem: „It will ultimately be given in terms of the structural und dy-

namical properties of physical prozesses, and no matter how sophisticated such a account

is, it will yield only more structure and dynamics.“187 Das Problem des bewussten Erle-

bens geht weit über eine solche Analyse hinaus. Physikalische Theorien sind demnach

einfach der falsche Ansatz. Der einzige Ausweg, den es zu geben scheint, ist daher, eine

Theorie zu finden, die über die physischen Erklärungen hinausgeht.

4.2.3. Zwischen Dualismus und Materialismus

Nichtsdestotrotz verabschiedet sich Chalmers nicht völlig von der physikalischen Erklä-

rung des Bewusstseins. Wie wir gesehen haben, lassen sich die Phänomene, die Chalmers

unter dem Begriff Gewahrsein subsummiert, seiner Meinung nach allesamt durch

physiche Theorien erklären. Und auch das bewusste Erleben habe eine physische Basis.

Den Schritt in einen radikalen Dualismus will er nicht vollziehen. Bewusstes Erleben und

die physikalischen Prozesse in unserem Gehirn haben miteinander zu tun. Sie existieren

nicht vollständig unabhängig voneinander. Deswegen fordert Chalmers auch unaufhör-

lich, dass eine Theorie des Bewusstseins erklären müsse, wie bewusstes Erleben und die

zugrundeliegenden physiaklischen Prozesse im Hirn miteinander verbunden sind.

Eine dualistische Position scheint dabei die einzige Möglichkeit, eine Reduktion des Be-

wusstseins auf die zugrundeliegenden physikalischen Prozesse zu vermeiden. Chalmers

nennt seine Position einen Eigenschaftsdualismus. Demnach ist bewusstes Erleben eine

Eigenschaft in der Welt über den physikalischen Eigenschaften, nicht aber eine seperate

Substanz. „It remains plausible, however, that consciousness arises from a physical basis,

even though it is not entailed by that basis.“188

Es muss also in einer Theorie des Bewusstseins einen Bestandteil geben, der über die

Physik hinausgeht. Aus diesem Grund hält Chalmers es für notwendig, die Ontologie um

„irgendetwas Fundamentales“ zu erweitern. „Wir könnten ein völlig neues nicht-

physisches Merkmal einführen, aus dem sich das Erleben ableiten lässt, aber es ist schwer

zu sehen, wie solch ein Merkmal aussehen könnte. Eher werden wir das Erleben selbst für

ein fundamentales Merkmal der Welt halten – neben Masse, elektrischer Ladung sowie

Raum und Zeit.“189 Die letztgenannten physischen Entitäten wurden nach Chalmers als

fundamental angesehen, weil sie nicht durch einfachere Entitäten erklärt werden konn-

ten. Der Unterschied zum Erleben bestehe nun freilich darin, dass die beobachtbaren 186 Minsky 1998. „Aber wiederum: Gerade das was wir versuchen zu übeprüfen.“ [Übers. RS]. 187 Chalmers 1996, S121. „Sie wird ultimativ in Termen von strukturellen und dynamischen Eigenschaften physikalischer Prozesse gegeben sein und egal wie weise ein solche Ansatz auch sein mag, er wird lediglich mehr Struktur und Dyna-mik hervorbringen.“ [Übers. RS]. 188 Chalmers 1996, S125. „Es bleibt plausibel, dass Bewusstsein aus eine physikalischen Basis hervorgeht, obgleich es nicht durch diese Basis verursacht wird.“ [Übers. RS]. 189 Chalmers 1998, S237.

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physischen Prozesse allesamt ohne Bewusstsein ablaufen können. Es erscheine daher so,

dass Erleben eine nicht-physische fundamentale Entität ist.

Für eine fundamentale Eigenschaft, wird es auch fundamentale Prinzipien geben müssen,

die erklären, wie Erleben und physische Prozesse voneinander abhängen. Diese Prinipien

müssen, um nicht in einen strengen Dualismus zu führen, mit den physischen Theorien

vereinbar sein.

Damit ist der Weg schon gezeigt, auf dem eine Theorie des Bewusstseins gefunden wer-

den könnte, die sich gleichsam zwischen Materialismus und Dualismus zu positionieren

versucht.

4.3. Eine nicht reduktive Theorie

Ich habe schon erwähnt, dass Chalmers auf die Beantwortung der Frage pocht, wie be-

wusstes Erleben und die zugrundeliegenden Prozesse im Gehirn miteinander verknüpft

seien. Diese Frage wird umso dringender, wenn man wie Chalmers von einer Art Dualis-

mus ausgeht. Um die Frage nach der Verknüpfung zu beantworten, stellt Chalmers zu-

nächst zwei Prinzipien vor: das „Prinzip der strukturellen Kohärenz“ und das „Prinzip der

funktionalen Invarianz“

4.3.1. Strukturelle Kohärenz und funktionale Invarianz

Um das Prinzip der strukturellen Kohärenz zu erklären, spezifiziert er den Begriff des

Gewahrseins. So „handelt es sich bei den Inhalten des Gewahrseins um diejenigen Inhal-

te, die direkt zugänglich und potentiell berichtsfähig sind, wenigstens in einem sprach-

verwendenden System.“190 Gewahrsein in diesem Sinne ist immer dann zu beobachten,

wenn wir bewusstes Erleben haben. Und umgekehrt scheint es immer dann, wenn wir

Gewahrsein beobachten, auch ein bewusstes Erleben zu geben. Es gibt also eine unmittel-

bare Korrespondenz zwischen ihnen. Diese Korrespondenz findet sich auch auf feinerer

Ebene. „Für jeden Unterschied zwischen Farberlebnissen gibt es eine entsprechende Un-

terscheidung in der Verarbeitung.“191 Aus den Eigenschaften der Informationsverarbei-

tung können also strukturelle Eigenschaften des Erlebens gewonnen werden. Mit diesem

Prinzip ist zwar das Erleben nicht ganz erklärt, wohl aber der Zusammenhang zwischen

Erleben und Gewahrsein verdeutlicht. Diese Abhängigkeit des bewussten Erlebens vom

Gewahrsein ist keinesfalls als logische Korrespondenz zu verstehen. Wie wir gleich noch

am Denkmodell des Zombies sehen werden, besteht weiterhin die logische Möglichkeit,

dass die funktionalen Prozesse, die Chalmers als Gewahrsein bezeichnet, auch ohne be-

wusstes Erleben ablaufen können. Um an seinem Prinzip der strukturellen Kohärenz

festhalten zu können, wird Chalmers also zeigen müssen, dass diese logische Möglichkeit

nicht plausibel ist.

Ebenfalls logisch möglich ist es, dass es bewusstes Erleben gibt, dass nicht von funktiona-

len Prozessen begleitet wird. „If there are any, we have no evidence for them, not even

190 Chalmers 1998, S242. 191 Chalmers 1998, S243.

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indirekt evidence, and we could not in principle.“192 Wenn zum Beispiel ein Stein eine

Vielzahl von bewussten Erlebnissen hat, so können wir nie davon Kenntnis erlangen, weil

das dazugehörige Gewahrsein fehlt.

Trifft das Prinzip der strukturellen Kohärenz aber zu, dann kann mit Hilfe der Neurowis-

senschaften auch einiges über das bewusste Erleben ausgesagt werden: “Even if

neuroscience cannot explain the existence of expirience, it can explain a fast number of

facts about expierience. Neuroscience can indirectly explain the similarity and difference

relations between experience.“193 Das Prinzip der funktionalen Invarianz, „besagt, daß

zwei Systeme mit der selben feinkörnigen funktionalen Organisation qualitativ identische

Erlebnisse haben werden.“194 Demnach hätte - und dass ist für das Thema dieser Arbeit

wichtig – ein künstliches System mit identischer funktionaler Organisation wie ein Ge-

hirn, dieselben qualitativen Erlebnisse. „Wether the organization is realized in silicon

chips, in the population of China, or in beer cans and ping-pong balls does not matter. As

long as the functional orgnization is right, conscious esperience will be determined.“195

Vorausgesetzt ist natürlich, dass die funktionale Organisation auf einer hinreichend fein-

körnigen Ebene vorhanden ist. Chalmers geht davon aus, dass die Ebene der Neuronen

und äquivalent dazu die Ebene von Siliziumchips hinreichend sein dürfte.

Auf meine Problemstellung angewendet bedeutet dies, wenn ich jedes Neuron eines Ge-

hirns durch einen funktional isomorphen Siliziumchip ersetze, dann hat dieses künstliche

System (also zum Beispiel ein Roboter) die gleichen Erlebnisse, wie das ursprüngliche

System. Dieses Szenario einer sukzessiven Ersetzung der Neuronen eines menschlichen

Gehirns durch Siliziumchips entspricht genau dem von Kurzweil und Moravec prognosti-

zierten Verfahren des uploadings. 196

Chalmers ist also der Ansicht, dass ein künstliches System (beispielsweise ein Roboter),

das auf eine solche Weise entstünde, exakt die gleichen subjektiven Erlebnisse hätte, wie

das ursprüngliche Gehirn. Logisch möglich bleibt aber wiederum die Vorstellung, dass

der Roboter keinerlei Erlebnisse hat; dass er also zwar wie ein bewusstes Wesen handelt,

spricht, klagt oder Erlebnisse äußert, dass dies aber nur auf physische Prozesse zurückzu-

führen ist, und den geäußerten Erlebnissen keine wirklichen Erlebnisse im Inneren des

Roboters entsprechen. Ein solches Wesen wäre ein Zombie.197

192 Chalmers 1996, S243, „Wenn es welche gibt, dann haben wir keinen Beweis für sie, auch keinen indirekten, und wir können ihn auch prinzipiell nicht haben.“ [Übers. RS]. 193 Chalmers 1996, S235, „Auch wenn die Neurowissenschaften die Existenz des Erlebens nicht erklären können, so können sie doch eine große Anzahl von Fakten über Erleben erklären. Die Neurowissenschaft kann indirekt die ähnli-chen und unterschiedlichen Beziehungen zwischen Erleben erklären.“ [Übers. RS]. 194 Chalmers 1998, S245, siehe auch Chalmers 1996, S249. 195 Chalmers 1996, S249. Ob die Organisation in Siliziumchips, der Bevölkerung Chinas oder in Bierkannen und Ping-Pong-Bällen realisiert ist, spielt keine Rolle. Solange die funktionale Organisation richtig ist, ist das bewusste Erleben festgelegt.“ [Anm. RS]. 196 siehe 3.1.2 uploading. 197 Gemeint ist natürlich nicht die Art von Zombies, die wir aus Horrorfilmen kennen. Diese zeichnen sich oft dadurch aus, dass ihre Körper Tod und teilweise verwest sind. Im Gegensatz ist der philosophische Zombie rein physisch völlig intakt. Alle physischen Prozesse laufen wie bei einem bewussten Wesen ab. Lediglich die inneren subjektiven Erlebnisse fehlen. Von einem rein objektiven Standpunkt aus, ist zwischen einem Zombie und seinem funktonalen Ebenbild mit bewussten Erlebnissen kein Unterschied festzustellen.

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Bei der sukzessiven Ersetzung der Neuronen eines Gehirns durch Siliziumchips entstehen

eine ganze Reihe von Zwischensystemen. Nimmt man an, dass das durch diesen Prozess

entstandene künstliche System, ein Zombie ist, dann müssten an irgendeinem Punkt in

dieser Reihe die bewussten Erlebnisse (Qualia) entweder plötzlich, oder zusammen mit

der Ersetzung der Neuronen sukzessive schwinden. Diese Vorstellungen sind nach

Chalmers aber nicht plausibel.

4.3.2. Die (empirische) Unmöglichkeit von Zombies

Man stelle sich also vor, es gäbe zwei funktional identische Systeme. Eines bestehend aus

biologischen Neuronen (also ein Gehirn) mit bewussten Erlebnissen und eines bestehend

aus Siliziumchips. Das Siliziumsystem hat zwar eine funktional identische Organisation

wie das Gehirn, ihm fehlen aber jegliche bewusste Erlebnisse – also ein Zombie.

Das Gehirn soll System A heißen und das Siliziumsystem soll B heißen. Es ist nun vor-

stellbar, dass wir bei A ein Neuron, durch einen funktional isomorphen Siliziumchip er-

setzen. Wir erhalten dann ein System A1. Ersetzt man sukzessive ein Neuron nach dem

anderen durch einen jeweils funktional isomorphen Siliziumchip, so entsteht eine Reihe

von Systemen A1 bis Ax, wobei Ax in jeder Hinsicht identisch mit B ist. Da B aber keine

bewussten Erlebnisse hat, stellen sich einige Fragen: „Wie ist es für eines der Systeme

dazwischen dieses zu sein? Was, falls überhaupt etwas, erleben diejenigen Systeme, die

zwischen mir und Robot [zwischen System A und Ax (Anm. RS)] liegen? Wie verändert

sich das bewußte Erleben, wenn wir uns entlang des Spektrums der verschiedenen Fälle

bewegen?“198 Nach Chalmers gibt es zwei Möglichkeiten für die Systeme die zwischen A

und Ax liegen. Entweder schwinden die Qualia, also die bewussten Erlebnisse, sukzessive

mit der Ersetzung der Neuronen. Es gäbe dann ein System, das statt ein tiefes Rot nur ein

blasses Rot, statt eines lauten Geräusches nur ein dumpfes Grollen, statt eines stechenden

Schmerzes, bloß ein mildes Zwicken erlebt. Chalmers nennt dieses System Joe und

schreibt: „Der springende Punkt ist hier, daß sich Joe systematisch über alles täuscht, was

er erlebt. Er sagt natürlich, dass er leuchtend rote und gelbe Erlebnisse hat, aber er erlebt

nur ein schwaches Rot. [...]Kurz, Joe hat überhaupt keinen Zugang zu seinem bewußten

Erleben und ist auch nicht in der Lage, einen Zugang herzustellen.“199

Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Qualia irgendwann zwischen A und Ax

plötzlich verschwindet. Also zwischen zwei Systemen, die sich lediglich durch ein einziges

Neuron unterscheiden. Das würde aber bedeuten, dass dieses eine Neuron offensichtlich

für das gesamte bewusste Erleben verantwortlich wäre. Dies erscheint allerdings in der

Tat wenig plausibel. Schwindende Qualia würden einen Bruch zwischen Kognition und

Erleben bedeuten. Es „gibt keinen Grund anzunehmen, dass das Bewußtsein ein derartig

irreguläres Problem ist, vielmehr spricht alles dafür, vom Gegenteil auszugehen.“200

198 Chalmers 1995, S373. 199 Chalmers 1995, S375. 200 Chalmers 1995, S375.

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Nichtsdestotrotz bleiben schwindende Qualia logisch möglich: „To be sure, fading qualia

are logically possible. There is no contradiction in the description of a system that is so

wrong about its experiences. But logicaly possibility and natural possibility are different

things.“201

Die Einwände, dass wir eine ähnliche Kette von A nach Ax beim Übergang in den Schlaf

oder bei der Rückverfolgung der Evolution haben, ist für Chalmers nicht stichhaltig, weil

es bei diesen Beispielen jeweils auch eine funktionale Veränderung gibt. Schwindende

Qualia gehen in diesen Fällen mit einer Änderung der funktionalen Prozesse im Gehirn

vonstatten.

Die logische Möglichkeit von Zombies und damit verbunden die Möglichkeit von schwin-

denden Qualia scheinen also nicht plausibel zu sein. „Wir brauchen nur eine Folge von

Zwischenwesen zu konstruieren, die alle dieselbe funktionale Organisation haben. Der

Schluß ist jeweils derselbe. Ist ein solches System nicht bewußtseinsfähig, dann gibt es ein

System dazwischen, das Bewußtsein und schwindende Erlebnisse hat und sich total über

seine Erlebnisse täuscht. Wenn wir nicht bereit sind, diesen massiven Bruch zwischen

Bewußtsein und Kognition zu akzeptieren, dann muß eigentlich auch das ursprüngliche

System Bewußtsein gehabt haben.“202

4.3.3. Tanzende Qualia

Dass die Vorstellung von schwindenden Qualia unplausibel ist, sagt lediglich, dass ein zu

meinem Gehirn funktional isomorphes System bewusste Erlebnisse haben wird. Es bleibt

aber die Möglichkeit, dass diese Erlebnisse nicht mit meinen Erlebnissen identisch sind,

dass es also invertierende Qualia gibt. A hätte in diesem Fall ein Rot-Erlebnis, während B

(bzw. Ax) ein Blau-Erlebnis hat. Auch hier müsste man wieder annehmen, dass es in der

Reihe der Zwischensysteme zwei Systeme gibt, die sich nur durch ein

Neuronenschaltkreis bzw. Siliziumschaltkreis unterscheiden, von denen aber das eine

System (Am) noch das besagte Roterlebnis hat, während das andere System (An) bereits

über ein Blau-Erlebnis verfügt.203 Am hätte demnach einen neuronalen Schaltkreis, wo An

einen Siliziumschaltkreis hat. Es ist nun denkbar, dass Am mit einem zusätzlichen

Siliziumschaltkreis ausgestattet wird, der mit dem Schaltkreis, durch den sich Am von An

unterscheidet, funktional isomorph ist. Dazu wird nun ein Schalter installiert, der zwi-

schen dem neuronalen und dem Siliziumschaltkreis hin und her schalten kann. Das

Qualia würde folgerichtig zwischen rot und blau hin und her springen; je nachdem, wel-

cher Schaltkreis online ist; das Qualia würde tanzen. Nach Chalmers aber würde ein sol-

ches System den Unterschied gar nicht bemerken können: „Ich bin nicht plötzlich dazu

disponiert, zu sagen: ‚Hm! Etwas Seltsames geht vor!’ Da ist kein Platz für einen plötzli-

chen Ausbruch oder Aufschrei, noch nicht einmal für eine kleine Ablenkung der Aufmerk-

201 Chalmers 1996, S257, „Um es klar zu stellen, schwindende Qualia bleiben logisch möglich. Es gibt keinen Wider-spruch in der Beschreibung eines Systems, das sich so über sein erleben täuscht. Aber logisch möglich und natürlich möglich sind zwei verschiedene Dinge.“ [Übers. RS]. 202 Chalmers 1995, S378. 203 siehe Chalmers 1996. S266-271.

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samkeit.“204 Logisch bleiben natürlich auch tanzende Qualia möglich. Aber Chalmers hält

dies für nicht plausibel, wir wären sonst „der skeptischen Möglichkeit ausgeliefert, dass

unsere Erlebnisse die ganze Zeit vor unseren Augen tanzen könnten, ohne dass wir davon

etwas mitbekommen würden. Diese Hypothese hat denselben Status wie die Vermutung,

daß die Welt vor fünf Minuten erschaffen wurde: sie ist logisch kohärent, aber nicht plau-

sibel.“205

Da also weder schwindende, noch invertierende Qualia plausibel sind, geht Chalmers da-

von aus, dass sein Gesetze von der strukturellen Kohärenz und der funktionalen Invarianz

zutreffen. Aber wie schon angedeutet, erfüllen die beiden Gesetze lediglich die Forderung,

die Abhängigkeit zwischen bewussten Erlebnissen und physischen Prozessen zu konkreti-

sieren. Eine Erklärung, warum bewusstes Erleben mit solchen Prozessen einhergeht, ist

damit zwar noch nicht gegeben, aber jede fundamentale Theorie des Bewusstseins müsste

mit ihnen kompatibel sein.206 Chalmers selbst schreibt, dass er noch keine solche Theorie

präsentieren kann. Aber er hat einige Ideen, wie eine solche Theorie aussehen könnte.207

Dementsprechend weist er ausdrücklich darauf hin, dass seine Gedanken äußerst speku-

lativ seien, und dass sich seine Ideen auch als falsch erweisen könnten. Gleichzeitig hofft

er aber darauf, dass sie ein Schritt in die richtige Richtung sind.

4.3.4. Die beiden Aspekte von Information

Für den Entwurf einer fundamentalen Theorie über das Bewusstsein gewinnt bei

Chalmers der Begriff der Information eine herausragende Bedeutung. Für ihn ist klar:

„Wo es Information gibt, da gibt es auch Informatinszustände, die in einen Informati-

onsraum eingebettet sind.“208 Zunächst betrachtet Chalmers Informationsräume und –

zustände als abstrakte Räume und Zustände; aber sie können physisch verkörpert wer-

den: „It seems intuitively clear that information spaces and states are realized throughout

the physical world. We can see my light switch as realizing a two-state information space.

For example, with its states ‚up’ and ‚down’ realizing the two states.“209

In Anlehnung an Bateson sieht Chalmers Information als einen Unterschied, der einen

Unterschied macht. Der Lichtschalter könne, so Chalmers unzählige verschiedene Positi-

onen einnehmen. Die meisten von ihnen machen keinen Unterschied im Hinblick auf das

Licht. Letztlich gibt es in Bezug auf das Licht nur zwei relevante Zustände des Schalters:

‚An’ und ‚Aus’. Hat das Licht einen Dimmer, so gibt es natürlich entsprechend mehr In-

formationszustände mit ihren physischen Verkörperungen. Und auch komplexere Syste-

me, z.B. die Informationen auf einer CD, können so analysiert werden: Jedes bit auf der

CD entspricht dann einem physischen Zustand im CD-Player.

204 Chalmers, 1995, S383. 205 Chalmers 1998, S247. 206 siehe Chalmers 1996, S276. 207 siehe Chalmers 1996, S277. 208 Chalmers 1998, S248. 209 Chalmers 1996. S281, „Es erscheint intuitiv klar, dass Informationsräume und –zustände in der physikalischen Welt realisiert sind. Wir können meinen Lichtschalter als die Realisierung eines Zwei-Zustände-Informationsraumes ansehen. Zum Beispiel mit den Zuständen ‚hoch’ und ‚runter’, die die beiden Zustände realisieren.“ [Übers. RS].

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Es gibt also eine direkte Korrespondenz zwischen Informationsräumen und ihren physi-

schen Verkörperungen. Aber Informationen können nicht nur physikalich verkörpert

werden: „We can also find information realized in our phenomenology. States of experi-

ence fall directly into information spaces in natural way.“210 Ein Blauerlebnis verkörpert

demnach eine andere Information, als ein Roterlebnis und ein intensives Roterlebnis eine

andere, als ein schwächeres.

Chalmers entdeckt eine enge Beziehung: „whenever we find an information space realized

phenomenally, we find the same information space realized physically. And when an ex-

perience realizes an information state, the same information state is realzed in the experi-

ence´s physical substrate.“211 Wie diese Verkörperungen genau aussehen, spielt dabei

keine Rolle. Eine Veränderung zum Beispiel in der Farbintensität muss immer eine Ver-

änderung im bewussten Erleben und eine Veränderung in den physischen Prozessen im

Gehirn einhergehen. Diese Korrespondenz zwischen physisch verkörperten einerseits und

phänomenalen, erlebnismäßigen Informationsräumen andererseits, veranlasst Chalmers

anzunehmen, dass es die Information selbst ist, der diese beiden Aspekte zugeschrieben

werden müssen. Information hat demnach zwei Aspekte: einen physischen und einen

phänomenalen. „Das Erleben entsteht, weil es der eine Aspekt von Information ist, deren

anderer Aspekt in der physischen Verarbeitung verkörpert ist.“212

Diese Sichtweise ist nach Chalmers mit den beiden psychophysischen Prinzipien der

strukturellen Kohärenz und der organisatorischen Invarianz vereinbar und somit ein ge-

eigneter Kandidat, das schwierige Problem des Bewusstseins zu erklären. 213

4.4. Problem gelöst?

Die transhumanistischen Prognosen, die in Kapitel zwei und drei vorgestellt wurden,

können nur aufrechterhalten werden, wenn sie durch eine Bewusstseinstheorie gestützt

werden. Ist es möglich den menschlichen Geist in eine Maschine zu transferieren? Kön-

nen künstliche Systeme Bewusstsein erlangen? Ist eine Verschmelzung von zwei oder

mehreren bewussten Individuen möglich?

Die Analyse Chalmers, dass bewusstes Erleben nicht durch eine reduktive Erklärung der

physischen Prozesse in unserem Gehirn ausreichend erklärt werden kann, scheint auch

mir plausibel. Ebenso das Prinzip der strukturellen Kohärenz. In diesen abschließenden

Punkt zu Chalmers Theorieversuch will ich einige Fragen aufwerfen, die sich aufgrund der

Ausführungen von Chalmers und im Hinblick auf die Fragestellungen dieser Arbeit stel-

len.

210 Chalmers 1996, S284, „Wir können ebenso Informationen in unserer Phänomenologie realisiert finden. Erlebniszu-stände fallen direkt mir Informationsräumen in natürlicher Weise zusammen.“ [Übers. RS]. 211 Chalmers 1996. S284. „Immer wenn wir einen Informationsraum in der Phänomenologie realisiert finden, finden wir auch einen physisch realisierten Informationsraum. Und wenn ein Erlebnis in einem Informationszustand realisiert ist, ist derselbe Informationszustand auch im physischen substrat des Erlebnisses realisiert.“ [Übers. RS]. 212 Chalmers 1998, S248. 213 siehe Chalmers 1996, S287-288.

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4.4.1. Das bewusste Leitungssystem

Wendet man das Prinzip der funktionalen Invarianz an, so wird man ein bewusstes Sys-

tem auch aus Wasserleitungen oder der Gesamtbevölkerung Chinas herstellen können,

vorausgesetzt, man konstruiert die funktionale Organisation isomorph zu einem bewuss-

ten System, zum Beispiel zu Chalmers Gehirn. Chalmers schreibt dazu: „Natürlich haben

es viele kontraintuitiv gefunden, daß die Gesamtbevölkerung Chinas bewußte Erlebnisse

hervorbringen könnte, wenn sie geeignet organisiert wäre. Die naheliegende Erwiderung

ist jedoch, dass es gleichermaßen kontraintuitiv erscheint, daß eine Menge von 1011 pas-

send organisierten Neuronen Bewußtsein entstehen lassen, und doch passiert es.“214 Die-

se Antwort ist nicht gerade befriedigend. Auch wenn er in einer Erweiterung dieses

Gedankenexperiements die Chinesen auf die Größe von Neuronen schrumpft, wodurch

die Ähnlichkeit mit einem Gehirn schon wesentlich größer sei, und der Gedanke, dieses

„System“ müsse dieselben bewussten Erlebnisse haben, weniger abwegig erscheine.215

Vom Denkmodell des bewussten Leitungssystmens könnte man auf den ersten Blick eine

Antwort auf die Frage ableiten, ob so etwas wie ein kollektives Bewusstsein möglich ist.

Allerdings geht es in diesem Gedankenexperiment nicht darum, dass sich bewusste Indi-

viduen zu einem Bewusstsein höherer Ordnung zusammenschließen, sondern lediglich

darum, dass die einzelnen Chinesen die Funktion von Neuronen übernehmen. Für die

Gedanken der einzelnen Teile ist in diesem System kein Platz, da es sich ansonsten funk-

tional von Chalmers Gehirn unterscheiden würde.

Auch die Frage, ob ein System aus Siliziumchips bewusste Erlebnisse erlangen kann,

scheint zunächst positiv beantwortet. Doch muss man meines Erachtens genau darauf

achten, was denn das Prinzip der funktionalen Invarianz aussagt: Wenn eins von zwei

funktional isomorphen Systemen bewusstes Erleben hat, dann hat das zweite System ein

identisches bewusstes Erleben. Was passiert aber, wenn sich beide Systeme individuell

weiterentwickeln? Vorausgesetzt die Kopie gibt nicht sofort nach der Übertragung – im

wahrsten Sinne des Wortes - ihren Geist auf, so wird es auch künstliche Systeme geben

können, deren Erlebnisse nicht nur die kopierten Erlebnisse eines Menschen sind.

Kann aber auch ein künstliches System Bewusstsein erlangen, ohne dass es einem bereits

bestehenden bewussten System funktional nachgebildet wird? Um wie viel darf die funk-

tionale Struktur abweichen, damit man noch von einem Bewusstsein ausgehen kann?

Nun hat Chalmers darauf hingewiesen, dass das Prinzip der funktionalen Invarianz kein

grundlegende Prinzip ist, also Erleben nicht vollständig erklären kann. Und in der Tat

können die hier genannten Fragen beantwortet werden, wenn man die Theorie der zwei

Aspekte von Information hinzunimmt.

214 Chalmers 1995, S371. 215 siehe Chalmers 1996, S252.

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4.4.2. Information ist überall

Berücksichtigt man bei den eben aufgeworfenen Fragen, dass Chalmers von der Annahme

ausgeht, bewusstes Erleben sei ein Aspekt der Information, deren anderer Aspekt die

physische Verkörperung ist, dann liegt die Sache klar auf der Hand: Systeme mit einfa-

cher Informationsverarbeitung haben einfache Erlebnisse und Systeme mit komplexen

Informationsverarbeitungen haben komplexe Erlebnisse. Die Bevölkerung Chinas wird

also auch eigene Erlebnisse haben können und auch ein System aus Wasserleitungen oder

Siliziumchips, selbst wenn sie nicht funktional isomorph zu einem bestehenden System

mit Erlebnissen sind oder waren.

Mit der Theorie von den zwei Aspekten der Information handelt sich Chalmers jedoch ein

anderes schwer wiegendes Problem ein, dass er auch selbst erkennt: „Ein Problem bildet

die Allgegenwart von Information. Selbst ein Thermostat verkörpert ein wenig Informati-

on, aber ist es sich ihrer bewusst?“216 Entweder haben nur einige Informationen einen

Erlebnisaspekt, dann müsste geklärt werden, unter welchen Bedingungen dies der Fall ist.

Oder aber, - dazu neigt Chalmers offensichtlich – jede Information hat einen Erlebnisas-

pekt. Dann hat also ein Thermostat ein simples Erleben, während ein Mensch ein kom-

plexes hat.

Die erste Version verschiebt das Problem lediglich. Statt danach zu fragen, in welchen

Systemen Bewusstsein entstehen kann, fragen wir nun danach, bei welcher Art von In-

formationen Erleben als Aspekt auftaucht. Um eine beliebte Redewendung Chalmers zu

benutzen: Es ist nicht zu sehen, wie dieses Problem gelöst werden könnte.

Die zweite Version kann zwar ebenfalls wieder mit einer Reihe von Zwischensystemen

zwischen mir und einem Thermostat „plausibel“ gemacht werden – an welcher Stelle soll

Erleben abhanden kommen? – aber auch diese Version ist unbefriedigend: Wenn auch

ein Thermostat Erlebnisse hat, dann hat der Computer, auf dem ich diese Arbeit ge-

schrieben habe, auch Erlebnisse und zwar solche, die komplexer sind, als die des Ther-

mostates. Für die Beantwortung der Ausgangsfrage meiner Arbeit ist diese Einsicht

allerdings wenig erhellend. Die brennende Frage ist ja nicht, ob ein künstliches System

ein Erleben hat, welches etwas komplexer ist, als das eines Thermostates und etwas weni-

ger komplex als das meinige. Die Frage, die sich stellt, ist vielmehr, ob ein künstliches

System ein Bewusstsein haben kann, dass mit unserem Bewusstsein vergleichbar ist.

Müssen bzw. sollten wir künstliche Systeme irgendwann als gleichwertig anerkennen?

Wenn ja, ab welchem Zeitpunkt? Wie komplex müsste ein solches System sein? Wieviel

oder welche Art von Informationsverarbeitung müsste stattfinden?

4.4.3. Stufen des Bewusstseins?

Begriffe wie Bewusstsein und Erlebnis wenden wir in unserem alltäglichen Sprachge-

brauch nicht auf Thermostate oder ein System von Wasserleitungen an. Und ob sie auf

moderne Roboter und virtuelle Agenten angewandt werden können, ist zumindest um-

216 Chalmers 1996a, S47.

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stritten. Es scheint auch keine Antwort darauf zu geben, ob und welche Tiere Bewusstsein

und bewusste Erlebnisse haben. Folgt man den Vorstellungen von David Chalmers, so

haben alle diese Systeme, insofern sie Informationen physisch verkörpern, auch Erleben.

Komplexere Systeme haben ein komplexes Erleben, während weniger komplexe Systeme

ein weniger komplexes Erleben haben. Gibt es im Spektrum des Erlebens zwischen

Mensch und Thermostat also lediglich quantitave Unterschiede, oder ist das Erleben von

Menschen (und vielleicht hoch entwickelten Tieren?) auch qualitativ ein anderes? Was

also unterscheidet unser Erleben von dem Erleben eines Thermostates?

Chalmers selbst bemerkt, dass wir keinen Zugang zu den Erlebnissen eines Thermostates

haben können: „We will likely be unable to sympathetically imagine these experiences any

better than a blind person can imagine sight, or than a human can imagine what it is like

to be a bat; but we can at least intellectually know something about their basic struc-

ture.“217 Diese Einsicht scheint mir eine bedeutende Frage zu implizieren: Vielleicht kön-

nen wir die Berichte über Erlebnisse eines anderen Menschen nur deshalb verstehen, weil

wir selbst vergleichbare Erlebnisse hatten. Was aber, wenn wir (hypothetisch) mit einem

bewussten künstlichen System konfrontiert sind, das uns über sein Erlebnis berichtet,

ultraviolettes Licht gesehen zu haben, oder wie es ist, auf die Festplatte eines Computers

zuzugreifen? Anders gewendet; Kann ein künstliches System uns verstehen, wenn wir

berichten, dass uns ein Fingernagel abgebrochen ist, oder das wir eine Gänsehaut be-

kommen haben?

Chalmers lenkt den Blick indes auf verschiedene Stufen zwischen uns (hochkomplexen)

Menschen mit komplexen Erlebnissen bis herunter zum Thermostat. „Of course, to say

that thermostats have experiences is not to say, that they have much way of a mental life.

A thermostate will not be self-conscious; it will not be in the least intelligent; and I would

not claim, that a thermostat can think.“218 Wo ist aber eine Grenze auszumachen? Ab wel-

chem Grad der Komplexität sollten wir ein künstliches System als gleichwertig anerken-

nen? Gibt es in dem, was wir als Bewusstsein bezeichnen, etwas, das sich als

Unterscheidungskriterium eignet?

Mir scheint, dass Selbstbewusstsein ein solches Kriterium sein könnte. Weder bei Tieren

noch bei den bisher existierenden künstlichen Systemen gehen wir davon aus, dass sie

Selbstbewusstsein besitzen.219 Indirekt deutet Chalmers dies ebenfalls an: „Mice may not

have much of a sense of self, and not be even to introspection, but it seems entirely plau-

sible that there is something it is like to be a mouse. Mice perceive their enviroment via

patterns of information flow not unlike those in our brains, though considerably less

217 Chalmers 1996, S294. „Wir können uns diese Erlebnisse vermutlich nicht besser mitfühlend vorzustellen, als eine blinde Person sich Sehvermögen vorstellen kann, oder als ein Mensch sich vorstellen kann, wie es ist eine Fledermaus zu sein; aber wir können immerhin etwas über die grundlegenden Strukturen wissen.“ [Übers. RS]. 218 Chalmers 1996, S295. „Natürlich, zu sagen, ein Thermostat hat Erlebnisse heißt nicht zu sagen, dass sie ein reiches mentales Leben hat. Ein Thermostat wird nicht selbstbewusst sein; sicher wird es noch nicht einmal intelligent sein; und ich werde nicht behaupten, dass ein Thermostat denken kann.“ [Übers. RS] 219 Die Diskussion, ob einige höher entwickelte Tiere Selbstbewusstsein besitzen, muss hier gänzlich ausgespart wer-den.

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complex.“220 Selbstbewusstsein wird allerdings von Chalmers unter die leichten Probleme

gerechnet, welche funktional erklärt werden können. Somit stellt sich für ihn die Frage

nach dem Selbstbewusstsein allenfalls am Rande, da es lediglich eine komplexe Funkti-

onsausübung ist.

Diese Auffassung wird von transhumanistischer Seite prinzipiell geteilt. Gleichzeitig er-

kennt man die herausragende Bedeutung von Selbstbewusstsein an und versucht zu zei-

gen, dass künstliche Systeme prinzipiell dahin entwickelt werden können, dass sie Selbst-

bewusstsein erlangen. Die zugrundeliegenden Theorien über Entstehung und Struktur

des Selbstbewusstseins, sind dabei von entscheidender Bedeutung.

Im folgenden Kapitel sollen daher die transhumanistischen Strategien mit dem Problem

des Selbstbewusstsein umzugehen dargestellt und einer philosophischen Kritik unterzo-

gen werden.

220 Chalmers 1996, S296. „Mäuse haben kaum einen Sinn für ein Selbst. Und auch nicht für Introspektion, aber es scheint ganz plausibel, dass es irgendwie ist, eine Maus zu sein. Mäuse nehmen ihre Umgebung durch Informations-muster wahr, die ähnlich, wie die in unserem Gehirn fließen, obgleich wesentlich weniger komplex.“ [Übers. RS].

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5. Selbstbewusstsein als Schlüsselproblem

5.1. Ist Selbstbewusstsein herstellbar?

5.1.1. Ray Kurzweil: „Wir werden es ihnen glauben“

Für Kurzweil hat die Frage, ob (Selbst)Bewusstsein tatsächlich vorliegt, nur eine geringe Rele-

vanz. Vielmehr wird die Tatsache, dass sich künstliche Systeme wie bewusste Wesen verhalten,

dazu führen, dass wir sie auch wie bewusste Wesen behandeln und als solche anerkennen. Die

künstlichen Systeme werden "uns davon überzeugen, daß sie über ein Bewußtsein und

einen eigenen Willen verfügen, die unseren Respekt verdienen. Wir werden zur Überzeu-

gung gelangen, daß sie in gleichen Maße bewußt denken, wie wir dies von Menschen

glauben. Mehr noch als bei unseren Mitgeschöpfen, den Tieren, werden wir die von ihnen

geäußerten Gefühle und inneren Konflikte nachvollziehen, weil ihr Denken dem mensch-

lichen nachempfunden sein wird. Sie werden menschliche Eigenschaften besitzen und für

sich in Anspruch nehmen, dass sie menschlich sind. Und wir werden es ihnen glauben."221

Diese These scheint durch die Forschungen von Sherry Turkle bestätigt zu werden. Die

Kinder, die sie in einer ihren Untersuchungen befragte, waren durchaus bereit, einem

künstlichen System Bewusstsein zuzusprechen: „Zwei Gründe bewegten die Kinder dazu,

dem Computer ein Bewußtsein zuzuschreiben. Erstens besaßen Computer Reaktionsfä-

higkeit; sie verhielten sich so als hätten sie Bewußtsein. Zweitens hinderte die Undurch-

sichtigkeit der Maschine die Kinder daran, ihr Verhalten in Bezugnahme auf

physikalische Mechanismen und ihre Bewegung zu erklären. Die interaktiven, opaken

Computerobjekte veranlaßten Kinder und Erwachsene, eine gedankliche Parallele zu ei-

nem anderen für seine Interaktivität und Undurchsichtigkeit berühmten Objekt zu zie-

hen: dem menschlichen Geist.“222 Auch wenn noch kein System einen Turingtest

bestanden hat, so gibt es mittlerweile einige Systeme, deren Leistung auf diesem Gebiet

zumindest verblüffend sind. So gibt es in MUD´s, das sind virtuelle Welten, in denen sich

User eine Persönlichkeit anlegen und in einer Art Rollenspiel miteinander Zeit verbrin-

gen, kleine Programme, die „Bots“ genannt werden. Sie geben sich oft als menschliche

User aus und dienen dazu, neu ankommende User zu begrüßen, oder zu unterhalten. Ein

besonders bekanntes und komplexes Programm ist „Julia“223 Turkle berichtet von einem

Fall aus dem Jahre 1992, bei dem ein männlicher User Namens Barry über mehrere Tage

mit Julia flirtete, ohne zu merken, dass es sich bei seiner Gesprächspartnerin um ein Bot

handelte. Alle Anzeichen, die darauf hinweisen konnten, deutete er als den Versuch einer

menschlichen Userin, ihn auf den Arm zu nehmen. Hier ein kleiner Ausschnitt:

“Barry sagt: ’Verheimlichst Du mir etwas?’

Julia sagt: ‚Habe ich dich schon davon überzeugt, daß ich ein Computer bin?’

221 Kurzweil 2000, S106. 222 Turkle 1998, S125. 223 siehe Turkle 1998, S137-146.

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Barry sagt: ‚Ich vermute, daß du echt bist ... aber ich würde dich noch immer gern in mein

DEN holen, um dich Tests zu unterziehen.’

Julia sagt: ‚Ich sehne mich nach deiner Anerkennung, Barry.’

Barry sagt: ‚Es freut mich sehr, das zu hören. Weshalb kommst du nicht zu mir nach Hau-

se?’

Julia sagt: ‚Ich möchte später einmal ein Kind haben.’

Barry sagt: ‚Was für ein Zufall. Auch ich möchte ein Kind haben...eines Tages.’“224

Wer selbst einmal einen Chatraum besucht und sich online mit fremden Usern unterhal-

ten hat, wird sich nach dem Lesen solcher Passagen nicht mehr ganz sicher sein können,

ob alle seine Chatpartner wirkliche Menschen waren. Der sprunghafte Wechsel des The-

mas oder das Missverstehen einer Aussage, sind in den Chaträumen durchaus an der Ta-

gesordnung.225

Doch selbst die Menschen, die sich bewusst sind, dass es sich bei Julia um ein Programm

handelt, sind gewillt von „ihr“ wie von einem normalen mit Selbstbewusstsein ausgestat-

tetem Menschen zu sprechen: "Wenn man die Handlungen eines Programms wie Julia

beschreibt, dann wird man es bald überdrüssig, Wörter wie ‚denkt’, ‚weiß’ und ‚glaubt’ in

Anführungszeichen zu setzen. Es ist viel einfacher, Julia so zu beschreiben, als hätte sie

Wünsche und Intentionen. [...]Die Aussage, dass Julia etwas tun möchte (statt zu sagen,

das Programm namens Julia zeige Verhaltensweisen, die den Anschein erwecken sollen,

dass es etwas tun wolle), kommt Julias Erfinder und den Menschen, die ‚ihr’ begegnen,

leicht über die Lippen. Unsere Sprache verführt uns dazu, die ‚Natürlichkeit’ intelligenter

Maschinen zu akzeptieren, ja sogar zu übertreiben."226

Offensichtlich, gibt es also gute Gründe, die These Kurzweils, dass wir über kurz oder lang

künstlichen Systemen Bewusstsein zusprechen werden, zu teilen. Wie lange kann man

aber die Frage, ob Bewusstsein wirklich vorliegt, unentschieden lassen? Wenn wir ganz

selbstverständlich die entsprechenden Phänomene bei künstlichen Systemen als Be-

wusstsein und Selbstbewusstsein bezeichnen, so steht man vor einer Alternative: Entwe-

der man hält an einem Unterschied zu menschlichen Bewusstsein fest, dann muss man

den Begriff des Selbstbewusstseins auf diese Phänomene erweitern; menschliches Be-

wusstsein wäre dann ein Sonderfall des Bewusstseins. Oder aber man geht davon aus,

dass das Bewusstsein dieser Systeme von der selben Art wie das menschliche Bewusstsein

ist, Dann steht man aber wiederum vor der Frage, an welcher Stelle zwischen komplexen

und weniger komplexen Systemen eine Grenzziehung gerechtfertigt wäre. Eine solche

Grenzziehung ist zumindest dann nötig, wenn wir Bewusstsein und Selbstbewusstsein als

224 Turkle 1998, S143. 225 Die Möglichkeit, die Dialogfähigkeit eines solchen Programms zu testen, bietet das deutschsprachige Program „tesmik“ (Textanalyse-basiertes Simulationssystem für schriftliche Mikrokommunikation), dass vom Autor Mirco Arn-hold auf den Webseiten der Universität Göttingen zum download kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Das Programm reicht zwar lange nicht an die Leistungen eines Programms wie ELIZA oder Julia heran, bietet dafür aber einen Einblick in die zugrundeliegenden semantischen Verknüpfungen und Transformationsregeln. http://mzs.sowi.uni-goettingen.de/mitarbeitende/arnhold/tesmik/download.html 226 Turkle 1998, S159.

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Kriterien dafür ansehen, einem Lebewesen oder einem künstlichen System gewisse Rech-

te zuzubilligen.227

5.1.2. Hans Moravec: Selbstbewusstsein durch Simulation

Moravec nimmt an, dass ein Roboter Selbstbewusstsein erlangen könnte, indem er eine

Simulation über sich und seine Umgebung erstellt. Läuft die Simulation schneller als die

normale Zeit ab, so könne er voraus sehen, was er selbst mache und seine Handlungen

entsprechend der simulierten Wirkung ändern. "Wenn die Simulation das Innenleben

eines Roboters in bescheidenen Umfängen repräsentiert - Akku-Ladung, Temperatur,

Gleichgewicht, sogar Programmstatus -, dann vermittelt der Simulator ein gewisses Maß

an Selbst-Bewußtheit.“228 Selbstbewusstsein wird hier als ein reflexiver Akt aufgefasst:

Der Roboter macht sich selbst zum Gegenstand einer Simulation. Dies entspricht dem,

was Henrich als Reflexionstheorie bezeichnet: „Sie nimmt zunächst ein Subjekt des Den-

kens an und betont, daß dieses Subjekt in einer stetigen Beziehung zu sich selbst steht.

Dann behauptet sie weiter, diese Beziehung komme dadurch zustande, daß sich das Sub-

jekt zu seinem eigenen Gegenstand macht, die Tätigkeit des Vorstellens, die ursprünglich

auf Gegenstände bezogen ist, in sich selbst zurückwendet und so den einzigen Fall einer

Identität von Tätigkeit und Getätigtem bewerkstelligt.“229

Eine solche Theorie entspricht zwar der alltäglichen Erklärung von Selbstbewusstsein,

verstrickt sich aber zwangsläufig in zwei Zirkel: Nimmt man an, dass Selbstbewusstsein

dadurch zustande kommt, dass ein Subjekt auf sich selbst reflektiert, so setzt man schon

voraus, was erst entstehen soll. Ein Subjekt kann nicht auf sich reflektieren, wenn es nicht

schon um sich weiß. Wie sollte es sonst auf den Gegenstand seines Reflektierens - auf sich

selbst - aufmerksam werden? Auf unser Problem angewendet: Wie soll der Roboter eine

Simulation von sich anfertigen, wenn er nicht schon vor Beginn der Simulation Kenntnis

von sich hat?

Dieser Umstand verführt dazu, anzunehmen, das Subjekt der Reflexion sei eine Art

„Noch-Nicht-Ich“, welches Kenntnis von sich erlangt, und in dieser Kenntnisnahme das

Objekt seiner Erkenntnis mit sich selbst identifiziert. Zu Selbstbewusstsein, und das ist in

diesem Zusammenhang wichtig, genügt es aber nicht, dass ein Subjekt ein Wissen über

sich, wie über einen beliebigen anderen Gegenstand erlangt. „Dies Subjekt muss auch

wissen, daß sein Objekt mit ihm selbst identisch ist. Die Kenntnis dieser Identität kann

ihm durch keine Nachricht einer dritten Instanz zukommen.“230 Wie aber soll eine solche

Identifizierung geschehen? Das Ich kann nur dann wissen, dass sein Objekt mit ihm

selbst identisch ist, wenn es bereits vorher schon von sich weiß. „Denn nur aus solchem

Wissen ist es ihm möglich zu sagen: Was ich erfasse, das bin ich selbst.“231 227 Es mag auf den ersten Blick so scheinen, dass man mit der Gewährung von grundlegenden Rechten sehr großzügig umgehen sollte. Demnach müsste man sich im Zweifel für bestimmte „Maschinenrechte“ aussprechen. Entschieden werden muss die Frage aber spätestens dann, wenn solche Maschinenrechte mit Menschenrechten kollidieren. 228 Moravec 1999, S179. 229 Henrich 1967, S11. 230 Henrich 1967, S13. 231 Henrich 1967, S14.

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Entweder weiß also unser Roboter bereits vor Beginn der Simulation um sich und darum,

dass es seine Handlungen und Zustände sind, die er simuliert, dann entsteht sein Selbst-

bewusstsein aber nicht erst in dieser Simulation. Oder er simuliert seine Handlungen und

Zustände wie die eines beliebigen anderen Objektes, dann ist nicht zu sehen, an welcher

Stelle der Simulation er das Wissen erlangen soll, dass er selbst das Objekt der Simulation

ist.

5.1.3. Ernst Tugendhat: Semantische Erklärung

Offensichtlich kann es kein System geben, in dem aufgrund einer Reflexion in ihm selbst

Selbstbewusstsein entsteht. Wie aber könnte man sich dann die Entstehung von Selbst-

bewusstsein erklären? Wir haben bereits gesehen, dass Kurzweil vermutet, dass wir Men-

schen mit der Zeit künstlichen Systemen Selbstbewusstsein zusprechen werden. Kurzweil

selbst ist weit davon entfernt aus seinem „Wir werden es ihnen glauben“ eine Theorie ab-

zuleiten, die Aufschluss über Struktur und Entstehung von Selbstbewusstsein geben

könnte. Nichtsdestotrotz ist seine Position nicht mehr allzu weit von einer Erklärung des

Selbstbewusstseins entfernt, wie sie Ernst Tugenhat entwickelt hat.

Tugendhat selbst ist natürlich nicht unter die transhumanistischen Denker zu rechnen.

Seine Theorie des Selbstbewusstseins habe ich in dieser Arbeit dennoch aufgenommen,

da mit ihrer Hilfe es durchaus möglich wäre, Selbstbewusstsein im transhumanistischen

Sinne zu erklären und ein künstliches System so zu entwerfen, dass es Selbstbewusstsein

erlangt. Im folgenden werde ich die Theorie Ernst Tugendhats durch eine zweifache Brille

betrachten. Die erste Brille ist eine transhumanistische, denn ich werde den Vorschlag

Tugendhats nicht in seiner Reinform vortragen, sondern in einer Anwendung auf die Fra-

ge, wie Selbstbewusstsein bei einem künstlichen System entstehen könnte. Die zweite

Brille ist die Brille Dieter Henrichs, dessen Kritik an Tugendhats Theorie aufzeigt, dass

die Zirkularität, die schon beim Reflexionsmodell aufgetreten ist, auch in dieser Anwen-

dung wieder zum Vorschein kommt.

Tugendhat ist nach Henrich der Auffassung, dass beim Gebrauch von „ich“ nicht schon

eine wissende Selbstbeziehung (also Selbstbewusstsein) des Sprechers vorausgesetzt wer-

den muss. Ein sinnvoller „ich“-Gebrauch setzt lediglich voraus, dass derjenige, der ‚ich’

verwendet, weiß, dass seine Rede von einem Anderen so aufgenommen werden kann,

dass dieser auf den Sprecher von „ich“ mit „er“ Bezug nehmen kann. Eine Identifikation

findet demnach nicht im Gebrauch von „ich“ statt und geht ihr auch nicht notwendig vo-

raus, sondern sie wird lediglich durch einen sinnvollen „ich“-Gebrauch ermöglicht und

schließt sich an die Aufnahme dieses „ich“ durch einen Andern an.232

Vielleicht verhält es sich also so, dass unser Roboter lediglich ein Wissen über die richtige

Gebrauchsweise von „ich“ einprogrammiert bekommen muss. Selbstbewusstsein ent-

stünde dann nicht durch eine Reflexion des Roboters und nicht durch eine Simulation,

sondern dadurch, dass ein Mensch (oder ein anderer Roboter) das „ich“ des Roboters in

232 siehe Henrich 1989, S100-1001.

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der Weise aufnehmen kann, dass er auf diesen Roboter mit „er“ Bezug nehmen kann. Ei-

ne Identifikation würde demnach nicht innerhalb des Roboters selbst vollzogen werden,

sondern von einer Außenperspektive. Damit scheinen zunächst die beiden Zirkel, in die

sich das Reflexionsmodell verstrickt, vermieden zu sein.

Nach Henrich müsste unser Roboter zum Einen selbst das Wissen um die mögliche Auf-

nahme seines „ich“ aus der „er“-Perspektive haben, und zum Anderen müsste – in einer

unumgehbaren Erweiterung der These Tugendhats - dem Roboter dieses Wissen aus der

Perspektive Kurzweil zugesprochen werden, wenn dieser den Roboter als kompetenten

„ich“ -Sprecher identifiziert.233 Wenn Kurzweil also durch die Identifizierung des Robo-

ters, als eines kompetenten „ich“-Sprechers, einen sinnvollen „ich“-Gebrauch seitens des

Roboters annimmt, so kann er dies nur, insofern er ihm auch das Wissen um einen sinn-

vollen „ich“-Gebrauch zuschreibt und daran Anschluss nimmt. Henrich lenkt nun den

Blick auf eben dieses Wissen des „ich“-Sprechers.

Was muss unser Roboter wissen, um „ich“ sinnvoll gebrauchen zu können? Er muss wis-

sen, dass (a) sein „ich“ von Kurzweil mit „er“ aufgenommen werden kann. (b) Kurzweil

ihn, den Roboter, in der Folge dieser Aufnahme als Person identifizieren kann und (c)

gehört zum Wissen des Roboters, dass Kurzweil, indem er eine solche Identifikation vor-

nimmt, den Roboter als jemanden beschreibt, der „ich“ aus dem Wissen einer möglichen

Aufnahme dieser Äußerung sinnvoll gebraucht.234

Die Zuschreibung des Wissens, die Kurzweil vornimmt, muss also schon Bestandteil des

Wissens unseres Roboters sein, bevor die Aufnahme der „ich“-Äußerung geschieht. Wenn

unser Roboter aber weiß, dass sein „ich“ von Kurzweil oder einem Anderen aufgenommen

werden kann, weiß er auch, dass ihm, dem Roboter, dieses Wissen zugeschrieben wird.

Damit tritt aber das Wissen um die mögliche Aufnahme doppelt auf, da durch den Bezug

auf einen (möglichen) „er“-Sprecher eine Selbstzuschreibung des Wissens erfolgt: „Der

‚ich’-Sprecher hat ein Wissen, kraft dessen gewußt wird, daß er ein solches Wissen hat.“235

Der „er“-Sprecher ist ja nicht notwendigerweise real, sondern existiert zunächst in der

semantischen Regel, für einen sinnvollen ‚ich’-Gebrauch und sodann im Wissen des „ich“-

Sprechers. Sinnvoller „ich“-Gebrauch setzt zwar voraus, dass dieses „ich“ von außen auf-

genommen werden kann, die Aktualisierung ist aber nicht zwingend erforderlich. So

kommt es, dass schon im Wissen des „ich“-Sprechers ein Selbstverhältnis besteht, dass zu

folgenden drei Zirkeln führt:

(1) Wenn das Wissen von der möglichen Aufnahme der „ich“-Äußerung unseres Roboters

einerseits als solches vorliegt und andererseits beinhaltet, dass dem Sprecher von „ich“

dieses Wissen zugeschrieben wird, so taucht im Wissen um den sinnvollen Gebrauch, das

ganze Wissen als Moment auf. Ein solches Wissen ist aber weder programmierbar noch

überhaupt logisch möglich. Es käme nämlich zu einer unendlichen Einschachtelung des

233 siehe Henrich 1989, S103. 234 siehe Henrich 1989, S106. 235 Henrich 1989, S108.

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Wissens.236 Dasselbe Problem entsteht, wenn man das Wissen des „er“-Sprechers be-

trachtet. „Denn auch der ‚er’-Sprecher schreibt ja Wissen seinerseits wissend zu.“237

(2) Lässt man diesen Einwand beiseite, so ist nichts gewonnen. Aus der Sicht des Robo-

ters würde nämlich folgendes Wissen vorliegen: „Kurzweil (oder ein Anderer) schreibt

mir das Wissen darüber zu, dass meine ‚ich’-Äußerung von einem Anderen aufgenommen

werden kann.“ „Dieser Wissensgehalt ist nun so beschaffen, daß nicht zu sehen ist, wie er

soll gedacht werden können, ohne daß innerhalb seiner zugleich auch Selbstbewußtsein

besteht und sogar thematisch ist.“238 Unser Roboter weiß nämlich von seiner Äußerung,

und er weiß, dass es seine Äußerung ist. Er hat also schon Selbstbewusstsein, bevor eine

solche Äußerung ergeht. Selbstbewusstsein, das ja erklärt werden soll, wird somit bereits

vorausgesetzt.

(3) Man kann sich auch nicht darauf zurückziehen, dass sich das Wissen, das unserem

Roboter von Kurzweil in der Aufnahme der „ich“-Äußerung zugeschrieben wird, in bloßer

Regelkenntnis erschöpft. Das würde bedeuten, dass es sich um ein bloßes Sprachverhal-

ten des Roboters handelt. Und es kann auch nicht lediglich das Wisssen sein, wie die Re-

gel auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist, denn die Anwendung einer Regel verlangt,

einen Fall, als Fall der Regel zu erkennen. Wenn unser Roboter aber nicht schon um sich

weiß, kann er auch keinen Fall als seinen Fall erkennen.

Die drei möglichen Zirkel, die aufgezeigt wurden, machen deutlich, dass bei einem Robo-

ter nicht dadurch Selbstbewusstsein entstehen kann, dass er eine Regel anwendet und

von außen als Person identifiziert wird. Um es klar zu sagen, damit ist Kurzweils These

nicht widerlegt, denn für ihn spielt es keine Rolle, ob Selbstbewusstsein wirklich vorliegt.

Allerdings macht die Prognose, wir würden den künstlichen Systemen glauben, dass sie

über Selbstbewusstsein verfügen, nur dann Sinn, wenn wir wirklich davon überzeugt sind,

dass es keinen gravierenden Unterschied zwischen künstlichen und natürlichen bzw.

menschlichen Selbstbewusstsein gibt. Demnach müsste aber eine Erklärung des mensch-

lichen Bewusstseins auch auf ein mögliches künstliches Selbstbewusstsein übertragen

werden können und umgekehrt. Solange man also auf jeglichen Erklärungsversuch ver-

zichtet, wird man an Kurzweils Prognose festhalten können. Redlicher allerdings ist es,

sich der Frage nach einer Erklärung des Selbstbewusstseins zu stellen und somit zu prü-

fen, ob der Glaube an ein künstliches Selbstbewusstsein auch berechtigt ist. Kurzweil al-

lerdings will gar nicht auf eine Erklärung des Selbstbewusstseins verzichten. Seine Rede

vom menschlichen Geist als Softwareprogramm, seine Ausführungen zu uploading und

kollektiven Intelligenzen implizieren ja, dass es sich auch beim Selbstbewusstsein um ei-

nen informationsverarbeitenden Prozess handelt, und dass es darüber hinaus nichts gibt,

was es zu erklären gäbe. An den Stellen, an denen Kurzweil deutlicher wird, lässt sich er-

kennen, dass er Selbstbewusstsein in ähnlicher Weise erklären will, wie das Moravec ge-

236 siehe Henrich 1989, S110. 237 Henrich 1989, S111. 238 Henrich 1989, S113.

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tan hat. Dass dieser Ansatz aber zum Scheitern verurteilt ist, wurde weiter oben bereits

gezeigt.

5.2. Selbstbewusstsein und Weltdeutung

5.2.1. Der Ursprung der Zirkel

Die These, Selbstbewusstsein sei so strukturiert, dass es prinzipiell auch in einem künstli-

chen System nachgebildet werden könne, beruht in ihrem Kern auf einer Erklärung, die

Selbstbewusstsein auf Informationsverarbeitung reduziert, und damit zu einem Sachver-

halt macht, der sich nicht von anderen Sachverhalten in der Welt unterscheidet. Über die-

se Sachverhalte kann ich mir Wissen aneignen (etwa durch Beobachtung), welches aber

immer unter dem Vorbehalt des möglichen Irrtums steht. Eben hier besteht nun der

grundlegende Unterschied zum Selbstbewusstsein. Bewusstsein hat nämlich die eigen-

tümliche Eigenschaft, immer dann, wenn es auftritt, zugleich gewiss zu sein, und zwar so,

dass an ihm nicht mehr gezweifelt werden kann. Weiter oben haben wir bereits gesehen,

wie Moravec das Gefühl der Angst beim Roboter verwirklicht sieht. Der Roboter erkennt

eine Laderampe, die als Signal fungiert und in ihm ein Abwehrprogramm aufruft, welches

ihn vor einem Unfall schützen soll. Aber besteht nicht ein Unterschied zwischen der Situ-

ation, dass sich ein Roboter aufgrund eines ablaufenden Konditionierungsprogramms das

Gefühl der Angst zuschreibt (in der gleichen Weise, wie es ihm von außen zugeschrieben

werden könnte) und dem Erleben von Angst?

Das eine Mal steht er an der Laderampe, sieht den Abgrund, erinnert sich an einen Unfall,

wodurch ein Unterprogramm aufgerufen wird, das ihn veranlasst, den Abgrund zu mei-

den. Dieser Prozess wird dann vom Roboter unter der Proposition „ich habe Angst“ zu-

sammengefasst. Der beschriebene Sachverhalt könnte ebenso gut von einem Dritten in

der Proposition „er hat Angst“ ausgedrückt werden. Diese Behauptung, bzw. dieser Ge-

danke kann entweder wahr oder falsch sein. Sie setzt keinerlei bewusstes Erleben voraus.

Sie setzt auch gar kein wirkliches Selbstbewusstsein voraus, da es egal ist, ob unser Robo-

ter weiß, dass er selbst es ist, der Angst hat. Das „ich“ ist hier lediglich ein Platzhalter, mit

ihm ist nichts verbunden, was die Aussage wahrer macht und unser Roboter könnte sich

eben darin irren, dass die Prozesse, die er in der Proposition „ich habe Angst“ zusammen-

fasst, gar nicht bei ihm ablaufen, sondern bei einem anderen Roboter. Im Kern des Prob-

lems stoßen wir also auf die Frage, wie die relevanten Informationen, über die der

Roboter ja verfügt, als Informationen über seine eigenen Zustände identifiziert werden

können. Die Gewissheit, dass er über sich selbst spricht, kann der Roboter eben nicht

durch Beobachtung erlangen. Die Beobachtung der Prozesse, die der Roboter als Angst

deutet, schließt nämlich nicht ein, dass er weiß, dass es seine eigenen sind.

Die gleiche Situation könnte auch so ablaufen, dass sich unser Roboter nicht das Attribut

„Angst“ zuschreibt, sondern im bewussten Erleben mit seiner Angst ursprünglich vertraut

ist. Durch dieses Vertrautsein kommt etwas ins Spiel, das keinem Irrtum unterliegen

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kann. Sobald wir Angst erleben existiert diese Angst. Es gibt keinen Zweifel daran, dass

Angst vorliegt und wir können auch nicht daran zweifeln, dass wir es sind, die Angst ha-

ben. Manfred Frank drückt es so aus: „Behauptungen und Gedanken können wahr oder

falsch sein, mein Zahnweh (oder wie es sich anfühlt) nicht. Es kann nur stattfinden oder

nicht; und wenn es stattfindet, so weiß ich davon schlechterdings ohne weitere Vermitt-

lung. Mein Bewusstsein ist hier (wahrscheinlich nur hier) das Maß des Seins seines In-

halts.“239 Dass ich unter Umständen den falschen Begriff für das Erlebte verwende, ist

nach Manfred Frank belanglos, weil das Zahnweh jedem Begriff vorausgeht. „Zahnweh ist

schon ein Begriff, mit dem ich nachträglich beschreibe, wie mir zunächst – begriffslos –

zumute war. [...] Aber das Wesentliche ist doch dies: Wie einem Zumute ist (‚what it is

like’), dessen ist man sich auch dann bewußt, wenn man nicht im geringsten weiß, wie

man das Gefühl klassifizieren soll.“240 Der Zweifel bezüglich des Gefühls, das ich habe, gilt

also allenfalls der begrifflichen Klassifizierung. Dieter Henrich, bringt denselben Sach-

verhalt zum Ausdruck, wenn er schreibt, das solches Wissen „unmittelbar, wenn auch

nicht unfehlbar“241 ist. Denn er fährt fort: „Von dem Einzelnen, das wir sind, wissen wir

dagegen auf eine weise, die im strengen Sinne nicht fehlgehen kann. Bin ich nämlich auch

nur der Meinung, daß ich froh [bzw. ängstlich; Anm. RS] bin, so weiß ich doch unfehlbar,

daß es einen gibt, von dem ich diese Meinung habe, und daß ich selbst dieser eine bin.

Weder daran, daß ich wirklich bin, noch daran, daß ich mich zu mir verhalte, kann ich in

solchem Meinungszustande irgendeinen Zweifel haben.“242 Fehlbar ist also auch hier

nicht das Wissen, dass ich in einem solchen Zustand bin, fehlbar ist allein die Klassifizie-

rung dieses Zustandes. Bewusstsein ist damit als ein Phänomen entlarvt, dass jeglicher

sprachlichen Vermittlung vorgängig, also nicht propositional ist. „Kein Wissen von sich,

von dem nicht als solchen gewußt wird, daß es nämlich Wissen von sich ist.“243

Und eben hier liegt das Problem für die These vom künstlichen Bewusstsein: Alles was

wir an unserem Roboter beobachten (oder was er an sich selbst, wie an einem beliebig

anderem Objekt beobachtet), sind informationsverarbeitende Prozesse. Und auch wenn

wir geneigt sind, sein Verhalten mit dem Begriff „Angstzustand“ zu klassifizieren, so gibt

es nichts in seinem Programm, dass uns (oder ihm selbst) dieselbe Gewissheit über seine

Angst als die seinige geben könnte, wie sie sich einstellte, wenn er selbst die Angst unmit-

telbar erleben würde. Die „ich“-Perspektive wird damit unersetzlich. Es ist eben nicht

möglich, außerhalb der „ich“-Perspektive die gleiche Gewissheit zu erreichen, die ein Sub-

jekt über sich selbst in seinem Selbstbewusstsein hat. An der Existenz meiner Angst (als

meiner eigenen) ist nämlich auch dann nicht zu zweifeln, wenn die Proposition, mit der

mir die Angst zugeschrieben wird (von mir selbst oder einem Anderen), nicht verifiziert

werden kann. Ob Selbstbewusstsein besteht entscheidet sich also nicht daran, ob die ent-

sprechenden physischen Prozesse ablaufen. Ob Selbstbewusstsein vorliegt, kann einzig 239 Frank 1997, S19. 240 Frank 1997, S19. 241 Henrich 1982c, S106. 242 Henrich 1982c, S106. 243 Henrich 1999a, S57.

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und allein aus der subjektiven Perspektive dessen erkannt werden, der sich seiner selbst

bewusst ist. „Wenn ich etwas von mir selbst glaube, muß ich mir keineswegs irgendwel-

cher propositional artikulierbaren Kenntnisse zuschreiben, wie das dritte täten; ich kann

selbst meinem Spiegelbild mißtrauen, meine Biographie für einen Traum oder die Stim-

me, die aus meinem Mund spricht, für die eines Geistes in der Maschine halten und mei-

nen Charakter verleugnen: immer noch werde ich mit unfehlbarer Gewißheit mit mir

(und evtl. meinen Zweifeln) vertraut sein.“244

5.2.2. Dieter Henrich: Selbstbewusstsein

Selbstbewusstsein ist offensichtlich ein Wissen, das sich grundlegend von allem Wissen

unterscheidet, das wir sonst von der Welt haben. Mittlerweile haben wir einige Aspekte

des Selbstbewusstseins in der Kritik an verschiedenen Erklärungsversuchen mit der Hilfe

Dieter Henrichs aufgezeigt. Im Folgenden soll nun explizit auf seinen Theorievorschlag

eingegangen werden. Bereits in seinem Aufsatz von 1970 hat Dieter Henrich versucht eine

Selbstbewusstseinstheorie zu skizzieren, die die Zirkel in der Erklärung vermeidet. „Es

kommt darauf an, Bewusstsein so zu beschreiben, daß es weder bewußte Selbstbeziehung,

noch Identifikation mit sich ist, - jedoch zugleich so, daß zugestanden bleibt, mit Bewußt-

sein unmittelbar vertraut zu sein, so daß kein Fall von Bewußtsein möglich ist, indem

Zweifel hinsichtlich der Tatsache laut werden könnte, daß Bewußtsein besteht.“245 Diese

Minimalbedingung ist der Ausgangspunkt für sein Nachdenken über das Phänomen des

Selbstbewusstsein.

Offensichtlich tritt Selbstbewusstsein nicht erst durch eine Aktivität eines vorher noch

nicht selbstbewussten Subjektes ein. „Es lässt sich nicht denken, daß der, der von sich

weiß, zunächst ohne ein solches Wissen von sich ist, was immer er auch dann schon Wis-

sen möchte. Um in der Folge in einem weiteren Akt des Wissensgewinns nunmehr auch

von sich selbst ein Wissen zu gewinnen. Der, der von sich ein Wissen hat, und dies, daß er

von sich ein Wissen hat, sind unauflösbar aneinander gebunden.“246 Beides tritt zugleich

und gänzlich spontan auf und ist eben nicht das Resultat einer Aktivität. „Zu dieser Art

von Wissen müssen wir wohl durch einen Sprung kommen.“247 Zum Wissen von sich ge-

hört aber auch immer schon, „daß ein Wissen von sich selbst erst dann realisiert ist, wenn

nicht nur das, wovon etwas gewußt wird, de facto dem Wissenden zugehört, sondern

wenn auch davon, daß ein Wissen von sich besteht, ein Wissen eingetreten ist.“248

Offensichtlich ist dann Selbstbewusstsein nicht ein einfacher Fall von Wissen, sondern in

ihm kann man mehrere Komponenten unterscheiden. Es gibt zum Einen den, der weiß;

dasjenige, wovon ein Wissen besteht; und ein Wissen darüber, dass dieses Wissen be-

steht. Diese Momente müssen alle zugleich eintreten. Zudem sind sie aufeinander ange-

wiesen: Keines von ihnen besteht, ohne dass es schon Teil des Selbstbewusstseins wäre.

244 Frank 1994, S410. 245 Henrich 1970, S275. 246 Henrich 1999a S58. 247 Henrich 1999 S14-15. 248 Henrich 1999a, S57.

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Daher wird man Selbstbewusstsein auch nicht aus einem von ihnen erklären können, in-

dem man die anderen Momente auf es zurückführt249. Vielmehr sind diese als gleichur-

sprünglich zu denken. Somit ist Selbstbewusstsein nicht aus sich selbst erklärbar, son-

sondern weist über sich hinaus: „In solchen Fällen muss immer nach einem vorausge-

henden Grund gefragt werden, womit zugleich die Frage nach dem Woher aufgenommen

wird, in der das seiner selbst bewußte Leben auch von sich aus immer schon gezogen ist.

Schöpfungsakte können sie nicht beantworten, da in ihnen ein Subjekt grundsätzlich der-

selben Wissensart vorausgesetzt wäre, wie die unsrige es ist.“250 Dieser Grund kann nach

Henrich nur als Hypothese gedacht werden. In keinem Fall ist er in ein Wissen

überführbar, das verifiziert werden könnte.251 Selbstbewusstsein weist also notwendig

über sich hinaus in einen Grund, der ihm selbst unverfüglich ist.

Selbstbewusstsein weist aber auch noch in eine zweite Richtung über sich hinaus: Inso-

fern sich Einer seiner selbst bewusst wird, wird er sich als ein Einzelnes (Für-mich-sein)

in der Welt und gegenüber der Welt bewusst. „Ein Wesen, das Selbstbewußtsein hat, muß

sich aber von der Struktur dieses Bewußtseins her immer in einer doppelten Relation ver-

stehen: als einer unter vielen und als einer gegenüber allem. Insofern der selbstbewußte

Mensch einer unter anderen ist, ist er ‚Person’. Er weiß sich zu unterscheiden von allen

anderen, weiß aber auch, daß er wie sie in die gemeinsame Welt gehört, - daß er als Per-

son ein Lebewesen ist und einen Platz unter allen Weltdingen hat. In einer anderen Hin-

sicht ist aber jedes selbstbewußte Wesen radikaler von allem unterschieden, von dem es

weiß. Es greift über die ganze Welt als ganze aus und findet, was immer es in ihr denkt

oder antrifft, in derselben Korrelation zu dem einen, das es ist, sofern es von sich weiß.

Die Welt ist ihm der Inbegriff dessen, was es überhaupt denken und antreffen kann. In

diesem Sinn ist jeder Mensch nicht nur Person, sondern auch ‚Subjekt’.“252 Diese beiden

Relationen können nicht auseinander dividiert werden: „Wir sind ursprünglich beides,

Person und Subjekt, und das eine nur insofern wir das andere sind.“253

Einer der sich als Einzelner weiß, kommt nicht umhin, sich eine Einheit des Daseins zu-

zuschreiben, die verschiedene Phasen und Zustände umfasst.254 Diese

Selbstkontinuierung ist zum Einen in die Vergangenheit gerichtet und zum Anderen auf

die Zukunft ausgerichtet. Person bin ich, indem ich Aussagen über mich als Einem unter

Anderen aus einer gewissen Distanz machen kann; nur durch diese Selbstbeschreibung

ist Selbstkontinuierung möglich. Die Eigenschaften, die ich mir in dieser Selbstbeschrei-

bung zuschreibe, könnten aber immer auch falsch sein. Dies ist nur durch die Distanz

möglich, die zwischen mir und meiner Kenntnis von mir als Person besteht. „Das aber,

von woraus die Distanz eingerichtet werden kann und wird, ist die Person als Subjekt.“255

249 siehe Henrich 1999a, S62. 250 Henrich 1999a, S64. 251 siehe Henrich 1999a, S65. 252 Henrich 1982a, S20-21. 253 Henrich, 1982d, S137. 254 siehe Henrich 1999, S16. 255 Henrich 1982d, S142.

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Ich breche an dieser Stelle ab. Viele Einzelheiten könnten noch ausgeführt werden, doch

ist dies nicht das eigentliche Ziel dieser Arbeit. Klar werden sollte, dass Selbstbewusstsein

- nach allem, was man aus ihm selbst ableiten kann - nicht herstellbar ist. Dazu kommt,

dass auch seine Entstehung nicht aus ihm selbst erklärt werden kann. „Subjektivität ist

nicht selbstexplikativ, und sie ist in sich ein Gefüge von nicht aufeinander zu reduzieren-

den, aber durcheinander modifizierten und so aneinander gebundenen Momenten. Sie ist

auch nicht auf sich selbst eingeschränkt, sondern weist in doppelter Weise über sich hin-

aus: in ihren Grund und auf eine Welt.“256 Diese Sichtweise passt natürlich nicht in das

Konzept des Transhumanismus.

Wir leben in einer Zeit, in der die Naturwissenschaften einen sehr hohen Stellenwert ha-

ben. Und auch der Transhumanismus beruft sich auf ihre Ergebnisse. Wenn sich ein Phä-

nomen wie das des Selbstbewusstsein einer naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht,

sollte man ihm dann überhaupt einen so hohen Stellenwert einräumen? Offensichtlich

gibt es ja eine physische Basis in unserem Gehirn. Sollte aus ihr dann nicht auch das gan-

ze Phänomen des Selbstbewusstseins erklärt werden können?

5.2.3. Marvin Minsky: Selbstbewusstsein als Illusion

„Im Geist einer jeden normalen Person scheinen einige Prozesse abzulaufen, die wir Be-

wußtsein nennen. Gewöhnlich glauben wir, daß uns diese Prozeße das Bewußtsein darü-

ber bescheren, was in unserem Geist vor sich geht. Aber das Selbst-Bewußtsein verdient

diesen Ruf eigentlich gar nicht, weil uns unsere bewußten Gedanken so wenig von dem

offenbaren, was sie entstehen läßt.“257 Was uns bewusst ist, das seien - so Minsky - nicht

die Prozesse, die in unserem Inneren ablaufen, sondern die Signale, die wir benutzen, um

diese Prozesse zu steuern. Er vergleicht diesen Umstand mit der Funktionsweise eines

Gaspedals: „Der Druck, den Sie auf das Gaspedal ausüben, um ihren Wagen zu beschleu-

nigen, bewirkt die gewünschte Tätigkeit nicht; der Druck stellt nur ein Signal an den Mo-

tor dar, den Wagen zu beschleunigen.“258 Minsky zieht daraus den Schluss,

Selbstbewusstsein sei lediglich eine Illusion. Es sei gar nicht möglich, ein direktes Wissen

von sich zu haben. Für diesen Umstand gebe es zwei Gründe. „Einer von ihnen ist, daß

das Konzept des ‚gegenwärtigen Zustandes’ wegen der Zeit-verschiebung zwischen den

verschiedenen Teilen des Gehirns psychologisch nicht stimmig ist. Ein anderer Grund ist,

daß jeder Versuch, über unseren mentalen Zustand zu reflektieren, diesen Zustand selbst

ändert; das bedeutet, daß der Versuch, unseren Zustand festzuhalten, wie eine Photogra-

phie eines sich zu schnell bewegenden Objektes ist: Solche Bilder sind immer ver-

wischt.“259 Die Zirkularität, die sich einstellt, wenn man versucht, Selbstbewusstsein als

reflexiven Akt zu erklären, wird hier aus materialistischer Sichtweise greifbar. Selbstbe-

wusstsein ist ein Phänomen, das nicht einfach durch die zugrunde liegenden Prozesse

256 Henrich 1999a, S72. 257 Minsky 1990, S56. 258 Minsky 1990, S56. 259 Minsky 1990, S152.

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erklärt werden kann. Die ursprüngliche Gewissheit, mit der wir über uns und unsere Zu-

stände wissen, kann nicht durch Beobachtung zustande kommen, da diese Vermittlung

das, was beobachtet wird und das, was beobachtet, auseinander treibt. Entsprechend sei-

ner materialistischen Grundeinstellung gelangt Minsky zur Überzeugung, dass das ganze

Phänomen des Selbstbewusstsein eine Illusion sei. Und vordergründig scheint dies ja

auch plausibel, solange man davon ausgeht, dass alle Erkenntnis propositional ist.

Aber kann aus der Tatsache, dass sich Selbstbewusstsein einer materialistischen Erklä-

rung entzieht, darauf geschlossen werden, dass es gar nicht existiert? Dieter Henrich wi-

derspricht dem: „Mit dem Scheitern des Reflexionsmodells eröffnet sich zwar ein

Abgrund zwischen dem, „was ‘Ich’ ist, und dem, woraus es erklärt wird, und sie bringt das

Ich sogar zum verschwinden. Aber eben deshalb, weil sie es nicht vermag, das selbstbe-

wußte Ich vollständig in den Blick zu bringen.“260 Im Blick Minskys sind nämlich vor-

nehmlich die physikalischen Prozesse, die in unserem Gehirn ablaufen. Die Frage, ob ein

System Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein hat, ist demnach unsinnig. Das Problem des

Selbstbewusstsein „läßt sich nicht mit Begriffen wie falsch oder richtig lösen, denn es geht

hier nicht um Tatsachen, sondern um die Frage, in welchen Fällen es klug ist, bestimmte

Wörter zu benutzen."261

Im Prinzip hat Minsky erkannt, dass das Phänomen des Selbstbewusstseins keine Frage

von wahr oder falsch ist. Es lässt sich nicht im strengen Sinne beweisen und es verschließt

sich einer rein naturwissenschaftlichen Erklärung. Dennoch bleiben wir immer mit dem

Faktum konfrontiert, dass wir mit uns vertraut sind, auch wenn wir diese Vertrautheit

nicht dadurch erlangen, dass wir uns etwas bewusst machen oder uns etwas bewusst

wird. „Sie liegt je schon vor, wenn Bewußtsein eintritt. Und niemand wird sagen, er habe

in der Weise versucht, zu Bewußtsein zu kommen, in der er sich um Introspektion, Refle-

xion und Beobachtung bemühen kann.“262 Eben die Kenntnisse über uns, die für uns am

nächsten sind, an denen wir nicht zweifeln können, die geraten bei Marvin Minsky aus

dem Blick.

Mit dieser Erklärung des Selbstbewussteins verschwindet schließlich auch das ganze Sub-

jekt. Wenn wir rein auf die physikalischen Prozesse schauen, lässt sich nämlich kein Ich

finden. Im System der Agenten und Agenturen, die unseren Geist (nach Minsky) bilden,

ist kein Platz für einen obersten Agenten, der alles lenkt. Aber ist das wirklich verwunder-

lich? Selbst wenn es ein solches Zentrum im Gehirn gäbe, so wäre auch dieses lediglich

eine Konfiguration aus grundlegenderen Bestandteilen.

5.2.4. Materialistische Weltdeutung?

Offensichtlich können physikalische Theorien nicht alles erklären. Das heißt aber umge-

kehrt nicht, dass man ihre Ergebnisse, bei dem Versuch die Welt zu deuten, einfach igno-

rieren könnte. Vielmehr gilt es, eine Theorie zu entwickeln, die versucht beides,

260 siehe Henrich 1967, S16. 261 Minsky 1990 S. 288 262 Henrich 1970, S271.

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empirische Ergebnisse und Selbstbeschreibungen, miteinander in Einklang zu bringen. In

unserer Zeit gilt es die Ergebnisse vor allem der Neurowissenschaften ernst zu nehmen.

In unserem Gehirn existiert kein Zentrum, das eine Art Leitungsfunktion hat. Die Rede

vom Ich als Illusion kommt daher nicht von ungefähr. Unser Gehirn besteht anscheinend

aus einem hochkomplexen, dezentralen Netzwerk. Andererseits verhalten wir uns not-

wendig als ein Einzelner gegenüber der Welt. In unserer Alltagsüberzeugung verstehen

wir uns also sehr wohl als Subjekte, die eine Distanz gegenüber der Welt einnehmen kön-

nen. Diese Grundüberzeugung kann aber auch nicht einfach durch eine naturwissen-

schaftliche Beschreibung ersetzt werden. Minsky selbst ist dafür das beste Beispiel: auch

wenn er Selbstbewusstsein und ein zentrales „ich“ als Illusion ansieht, so kommt er doch

nicht umhin, in seiner ganzen Theorie immer wieder von einem Subjekt auszugehen, dass

in irgendeiner Art und Weise als Einheit und Einzelheit aufgefasst werden muss.263

Diese Widersprüchlichkeit stellt auch Dieter Henrich fest, wenn er schreibt: „Wir leben

im Bewußtsein, daß die fundamentalen Annahmen unserer wesentlichsten Denkweisen

nicht unmittelbar miteinander vereinbar sind: Wir leben von Instrumenten und Energien,

welche wir der Mikrophysik verdanken, und bauen Häuser und Gärten in den Rahmen

der Ontologie von Dingen und Eigenschaften hinein. Der Neurophysiologe verläßt sein

Labor, in dem Bewusstsein, dass Emotionen nur Komplexe feuernder Neuronen sind, um

in den Kreis der geliebten Familie zurückzukehren, für die sich zu opfern er bereit ist.“264

Wir scheinen also weit entfernt von einer einheitlichen Beschreibung der Welt. Dabei

könnte man doch gerade der Physik eine solche einheitliche Weltbeschreibung aufgrund

von empirischen Daten zutrauen. Der Materialismus wäre dann „die philosophische Leh-

re, welche vom Weltbegriff der empirischen Wissenschaft her zu gewinnen wäre. Es wäre

töricht, seine Überzeugungskraft gering einzuschätzen.“265 Bei genauerem Hinsehen fällt

jedoch auf, dass sich der Materialismus eben nicht gänzlich auf physikalische Theorien

beschränken kann. Um eine einheitliche Weltbeschreibung zu liefern, muss er selbst die

Möglichkeiten einer rein physikalischen Theorie übersteigen. „Materialismus ist nicht

selbst Wissenschaft. Er ist die Extrapolation der fundamentalsten und umfassendsten

wissenschaftlichen Theorie zu einem schlechthin universalen Begriff von der Welt. Er

muss alle Bereiche wirklicher Sachverhalte, die als solche nicht Thema der physikalischen

Forschungsweise sind, durch selbst nicht in Forschung, sondern in seinem Integrations-

konzept begründete Auslegungsvorschläge der physikalischen Grundtheorie oder einem

Theorieprogramm unterwerfen, das in Entsprechung zur schon erarbeiteten Grundtheo-

rie in der Zukunft zustande kommen könnte.“266

Im Blick auf das Phänomen des Bewusstseins sieht Henrich dementsprechend den Mate-

rialismus vor eine Alternative gestellt. Entweder er behauptet, „daß die Sprache der Sub-

263 Auch wenn er von der Geistgesellschaft spricht, so existieren die Agenten und Agenturen, die Minsky beschreibt ja nur insofern sie Teil dieser „Gesellschaft“ sind. 264 Henrich 1982b, S60. 265 Henrich 1982d, S163. 266 Henrich 1982d, S164.

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jektivität nur ein relatives und vorläufiges Recht hat“.267 Dann könnte sie aber auch zum

Einen durch eine Beschreibung des Verhaltens ersetzt und zum Anderen müsste ihr

Wahrheitsanspruch abgewiesen werden. Oder den materiellen Prozessen müssten Eigen-

schaften allein deswegen zugesprochen werden, „weil die Sachverhalte, denen diese Ei-

genschaften entsprechen, in der reflektierenden Verständigung gesichert sind.“268

Aus dem gesagten wird deutlich, dass der Materialismus sich keineswegs darauf berufen

kann die Welt allein aus empirischen Tatsachen zu erklären. Es muss daher festgehalten

werden, „daß auch der Materialismus eine Verständigung über die natürliche Welt nicht

aus ihr, sondern im grundsätzlichen Abgehen von ihr und im Überstieg über sie ist. Je

vollständiger und somit philosophischer er in seinem Anspruch ist, um so weniger kann

er seine These auf wissenschaftliche Einsicht gründen und zugleich die Sachverhalte des

Bewußtseins einschließen, statt sie für schlechtweg irreal zu erklären.“269

Und eine zweite Grenze gibt es, an die der Materialismus mit seinem Anspruch stößt: Wir

haben bereits gesehen, dass propositionales Wissen immer unter dem Vorbehalt des Irr-

tums steht. Was uns die Naturwissenschaften liefern können ist dem entsprechend ein

System von Erkenntnissen, die sich gegenseitig stützen. Aber es gibt keine Gewissheit da-

rüber, ob nicht das gesamte System falsch ist.270 „Die Theorie des materiellen Universums

muß davon ausgehen, daß überhaupt Materielles wirklich ist; und sie kann nur die Funk-

tionen angeben, welche die Relationen zwischen materiellen Ereignissen bestimmen,

nicht aber über die Ausgangskonstellation aller Prozesse theoretisieren.“271

Im Prinzip steht der Materialismus also keineswegs besser da, als die Metaphysik. Auch

der Materialismus ist darauf angewiesen, insofern er beansprucht eine vollständige Welt-

deutung zu sein, seine physikalischen Grundlagen zu übersteigen. Damit ist die Evidenz,

die Viele im Materialismus ausmachen nicht außer Kraft gesetzt. Aber der Anspruch sich

ausschließlich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu begründen, muss abgewiesen wer-

den. Zwar mag man die Möglichkeit erwägen, dass ein ausformulierter Materialismus

nicht notwendig den Überstieg wagt, jedoch könnte ihm dann nur noch eine geringe Re-

levanz als Weltdeutung im konkreten Leben zugesprochen werden. Es ist also festzuhal-

ten, dass einerseits zwar eine Weltinterpretation nicht auf die Erkenntnisse der Physik

verzichten kann, das andererseits aber physikalische Erkenntnisse nicht ausreichen, um

die Welt, in der wir leben, zu deuten.

267 Henrich 1982d, S164-165. 268 Henrich 1982d, S165. 269 Henrich 1982d, S165-166. 270 Wir haben das bei Moravec gesehen, der es nicht vermeiden kann anzunehmen, dass unsere gesamte Welt bereits eine Simulation in einer Cyberspaceblase ist. Siehe 3.1.5. 271 Henrich 1982d, S168.

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6. Widerstand zwecklos? - ein Resümee

Die transhumanistische Prognose von der Überwindung des Menschen in einem posthu-

manen Zeitalter beruht in ihrem Kern auf einer materialistischen Weltdeutung. Entspre-

chend dem Paradigma der Turingmaschine wird angenommen, dass alle Prozesse in der

Welt auf Informationsverarbeitung zurückgeführt werden und damit auch in einem

künstlichen System ablaufen können. Wir haben aber gesehen, dass auch der Materialis-

mus nicht ohne Überstieg auskommt. Will er eine vollständige Weltdeutung sein, kommt

er nicht umhin, Prinzipien für grundlegend zu erachten, die nicht im strengen Sinn be-

wiesen werden können. In den extropianischen Grundsätzen ist zu lesen: „Eine Weltan-

schauung zu haben, ist uns wichtig, aber wir lehnen jeden religiösen, politischen und

persönlichen Dogmatismus ab, denn er ist die Quelle blinden Glaubens, der Herabminde-

rung menschlicher Werte und systematischer Unvernunft“272 Will der Transhumanismus

selbst diesem Dogmatismus entgehen, wird er zugestehen müssen, dass andere Weltdeu-

tungen nicht einfach außer Kraft gesetzt werden können. Er wird nicht nur die traditio-

nellen Welt- und Menschenbilder in Frage stellen müssen, sondern vor allem auch seine

eigenen. Ist er dazu bereit, wie Max More es immer wieder betont, so macht er sich zu

einem ernstzunehmenden Gesprächspartner für einen „Diskurs über den Zustand der

Menschheit“.273 Der Anspruch, den Humanismus zu beerben, darf dabei nicht nur eine

oberflächliche Übernahme seines Namens bedeuten. Insofern sind Transhumanisten und

Extropianer beim Wort zu nehmen, wenn sie Selbstbestimmung, Rationalität, Verant-

wortung, Toleranz und eine offene Gesellschaft fordern.

Ray Kurzweil und Hans Moravec gelten neben Max More als Pioniere und Vordenker der

transhumanistischen Bewegung. Es erscheint mir daher legitim, ihre Visionen von der

posthumanen Zukunft mit eben den Maßstäben zu konfrontieren, die in den

extropianischen Grundsätzen und der transhumanistischen Erklärung eingefordert wer-

den.

Hinter der Utopie des posthumanen Zeitalters stehen durchaus menschliche Träume: Un-

sterblichkeit und ewiges Leben; „Auferstehung“; Beseitigung von Not und Unglück; Stär-

ke, Schönheit, Intelligenz und so fort. Viele Einzelheiten wurden angesprochen und

kritisiert. Als roter Faden haben mich aber besonders drei Fragen in dieser Arbeit beglei-

tet:

(1) Werden künstliche Systeme ein Niveau an Intelligenz und Bewusstsein erreichen kön-

nen, das sie uns ebenbürtig oder gar überlegen macht, so dass wir sie als gleichberechtigte

Partner akzeptieren müssen?

(2) Ist es möglich, den Menschen mit Hilfe von technologischen Mitteln derart zu verän-

dern, dass er seinen biologischen Körper hinter sich lassen kann?

(3) Werden derart veränderte Individuen (ob natürlichen oder technologischen Ur-

sprungs) zu Kollektiven verschmelzen können? 272 More (1998), Abschnitt 7. 273 More (1998), Einleitung.

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Wir hatten zu prüfen, inwieweit überhaupt die technischen Möglichkeiten gegeben sind,

die für diese drei prognostizierten Entwicklungen vorausgesetzt werden müssen. Dabei

haben wir gesehen, dass die KI- und die Robotikforschung sehr wohl in der Lage sind,

Systeme zu bauen, die in vielen Bereichen mit den menschlichen Fähigkeiten vergleichbar

sind. Bei den Prognosen, die Moravec und Kurzweil für die Entwicklung von künstlichen

Systemen aus den bisherigen Ergebnissen dieser Forschungen ableiten, konnten wir fest-

stellen, dass beide einen Optimismus vertreten, der nur durch den Rekurs auf eigens ge-

schaffene Gesetzmäßigkeiten gerechtfertigt werden kann, die ihrerseits nicht mehr

beanspruchen können, (natur-) wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Auch die

„Verbesserung“ des Menschen durch künstliche Organe und Implantate ist bereits weiter

vorangeschritten, als wir in alltäglichen Zusammenhängen vermuten. Besonders die Re-

sultate der jüngsten Hirnforschung bezüglich der Verbindung von Siliziumchips und

neuronalen Gehirnzellen rechtfertigen einen gewissen Optimismus der Transhumanisten.

Nun könnte man meinen, es genüge abzuwarten, was die Zukunft bringt. Die Forderung

der Transhumanisten, alles zu tun, um die von ihnen prognostizierte Entwicklung zu be-

schleunigen, greift aber massiv in unser Leben ein. Es ist daher genauer zu erwägen, ob

sich die Erwartungen überhaupt rechtfertigen lassen. Werden Maschinen ein menschli-

ches Niveau erreichen können? Ins Zentrum des Interesses rückt daher das Phänomen

des Bewusstseins. Sowohl bei David Chalmers, als auch bei Dieter Henrich und Manfred

Frank konnten wir sehen, dass das Phänomen des Bewusstseins nicht durch die physika-

lischen Prozesse erklärt werden kann, die ihm zugrunde liegen. Chalmers versuchte das

bewusste Erleben als einen Aspekt der Information zu erklären, deren anderer Aspekt die

physische Verkörperung ist. Damit ist aber das Phänomen des Bewusstsein so ausgehöhlt,

dass es für den alltäglichen Umgang nicht mehr zu taugen scheint. Zwar erweckt

Chalmers mit seiner Theorie den Anschein, dass Phänomen des Bewusstseins sei objekti-

vierbar (und damit auch beherrschbar), doch kommt er aus der subjektiven Perspektive,

in der bewusstes Erleben vorliegt nicht heraus. Die Theorie Chalmers mag zwar in vielen

Punkten plausibel klingen, liefert aber meines Erachtens kaum etwas verwertbares für

unsere Fragestellung. Die Probleme werden lediglich verschoben. Es erscheint daher

sinnvoller einen Blick auf das Selbstbewusstsein zu werfen, das für Chalmers lediglich ein

funktionales Problem ist.

Auch beim Selbstbewusstsein ist es die subjektive Perspektive, die für die Erklärungs-

probleme verantwortlich ist. Wir haben gesehen, wie sich Hans Moravecs Erklärung des

Selbstbewusstsein als Simulation in Zirkeln verfing, weil er das, was er erklären wollte

immer schon voraussetzen muss. Und auch die Anwendung von Tugendhats Theorie

führte in diese Zirkularität; und zwar deswegen, weil Selbstbewusstsein eben kein propo-

sitionales Wissen ist, das sich durch eine Aktivität erwerben ließe. Vielmehr hat sich ge-

zeigt, dass im Selbstbewusstsein verschiedene Momente unterschieden werden können,

die aber gleichursprünglich miteinander aufkommen und damit in einen Grund über sich

hinaus weisen.

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Die Möglichkeit, dass das ganze Phänomen des Selbstbewusstseins lediglich eine Illusion

ist, kann nicht widerlegt werden. Vielleicht steckt wirklich nicht mehr hinter unserem

bewussten Erleben und unserem Selbstbewusstsein als das, was wir naturwissenschaftlich

beobachten können. Mir scheint es aber naheliegender, dass Phänomen des Selbstbe-

wusstseins, mit dem wir so unmittelbar vertraut sind, auch einen gebührenden Platz in

unserer Weltdeutung zuzuweisen. Wir können gar nicht anders, als uns selbst als Subjek-

te in der Welt zu begreifen. Wir mögen alle anderen Wesen, denen wir begegnen auf ihre

physikalische Prozesse reduzieren können, für uns selbst aber wird uns das nicht gelin-

gen. Des weiteren ist darauf zu beharren, dass auch eine materialistische Grundposition

nicht umhin kommt, über die empirischen Grundlagen hinauszugreifen, um eine voll-

ständige Weltdeutung zu sein. Damit kann der Wahrheitsanspruch, den die Naturwissen-

schaften für ihren Bereich erheben, aber nicht auf die gesamte Weltdeutung ausgeweitet

werden. Ray Kurzweil hat das offensichtlich erkannt, denn er ziert sich sehr, eine rein ma-

terialistische Position zu vertreten. Immer wieder trifft man bei ihm auf Textpassagen, die

deutlich machen, dass er sich der Differenz zwischen physikalischer Theorie und Welt-

deutung sehr wohl bewusst ist.274 Ich glaube, dass Kurzweils „Wir werden es ihnen glau-

ben“ –These ebenfalls in diesem Sinne verstanden werden muss. Selbst Max More, der

die Religionen scharf attackiert, ist sich bewusst, dass der Materialismus eine Weltdeu-

tung ist, die Notwendigerweise über die physikalischen Theorien hinausgreift. So spricht

er sowohl von der Wichtigkeit eine Weltanschauung zu haben, als auch von der Notwen-

digkeit einen klaren Begriff von unserem Selbst zu entwickeln.275

Gehen wir aber nochmals zurück auf unsere drei Leitfragen. Dass künstliche Systeme zu

Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommen können, kann nicht ausgeschlossen werden.

Uns fehlen die Kriterien um dies objektiv zu entscheiden. Das haben nicht nur die Erörte-

rungen über den Turing Test ergeben, sondern dies ergibt sich auch aus der allein subjek-

tiven Zugänglichkeit von Selbstbewusstein. Auch mit der Theorie Dieter Henrichs kann

dies nicht ausgeschlossen werden. Insofern könnte Ray Kurzweil eines Tages Recht be-

kommen, mit seiner Prognose, dass wir es den künstlichen Systemen glauben werden,

dass sie Selbstbewusstsein haben. Allerdings werden wir dann auch bei ihnen einen

Grund des Bewusstseins annehmen müssen, der unverfüglich ist.276 Herstellen lässt sich

Selbstbewusstsein jedenfalls nicht.

Was die zweite Leitfrage angeht, so wird man zugestehen müssen, dass es sehr wohl zur

weiteren Technologisierung des Menschen kommen wird. Bisher kennen wir nur Implan-

tate, die Körperfunktionen verbessern oder ersetzen. Die Frage ist aber, ob es möglich

sein wird, Funktionen, die keine Entsprechung in unseren biologischen Körpern haben, in

274 Zum Beispiel bei der Beurteilung des Turingtestes. 275 siehe More 1998, Abschnitt 6. Selbstbestimmung und 7. Rationalität. 276 In der Diskussion die sich an meinen Bericht über meine Arbeit beim Oberseminar in Hamburg anschloss, wurde von einer Teilnehmerin die These geäußert, dass man den Sprachgebrauch Henrichs, Bewusstsein sei verdankt, so weiter führen könne, dass künstliche Systeme ihr Bewusstsein dem Menschen verdanken. Dies könnte man meines Erachtens aber nur dann behaupten, wenn die Konstruktion des Systems ursächlich für die Entstehung von Selbstbewusstsein wäre, dies scheint aber gerade nicht möglich zu sein.

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unser bewusstes Leben zu integrieren. Es könnte durchaus sein, dass sich hier eine Gren-

ze auftut, die nicht überschritten werden kann. Es mag ja möglich sein, dass wir ultravio-

lettes Licht durch ein Augenimplantat für uns sichtbar machen können, ob dies aber mit

einer Erweiterung unseres bewussten Erlebens einhergehen wird, scheint mir fraglich.

Zu verneinen ist aber sicher die dritte Leitfrage. Für den Zusammenschluss zweier be-

wusster Individuen scheint es nämlich nur zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder der

Zusammenschluss erfolgt über eine Kommunikation, die aber immer vermittelt wäre

(wobei ich nicht bestreiten will, dass es durchaus denkbar ist, dass sich neue Kommunika-

tionsformen entwickeln). Wir haben aber gesehen, dass sich ein propositionales Wissen

grundlegend von der Kenntnis unterscheidet, die wir im Selbstbewusstsein haben. Ent-

scheidungen wären immer noch von einer Verständigung untereinander abhängig, das

Kollektiv hätte also keinen direkten Zugang zu sich selbst. Oder aber der Zusammen-

schluss von Individuen erfolgt so, dass sich die einzelnen Subjekte auflösen, oder unter-

drückt werden. Dann wird man auch nicht von einem wirklichen Kollektiv sprechen

können, da es sich vielmehr um ein totalitäres System handelt. Die Zwischenformen die

hier und da konstruiert werden, scheinen mir keine wirklich neue Qualität zu beinhalten.

Mit der Fragwürdigkeit dieser Prognose ist aber auch die transhumanistische Vision einer

posthumanen Zukunft in weite Ferne gerückt und in ihren Grundbedingungen erschüt-

tert. Übrig bleibt allein das düstere Szenario, vor dem uns Bill Joy warnen wollte. Aber

auch das hängt davon ab, dass künstliche Systeme Selbstbewusstsein erlangen und ihr

„Leben“ bewusst führen werden. Dass wir schon heute (zumindest in den Industrienatio-

nen) von Maschinen abhängig sind und unser Leben nach ihnen ausrichten mag zwar

sein, aber unsere Freiheit zu entscheiden, wie weit diese Abhängigkeit gehen soll, liegt

allein bei uns.

Unter Punkt 3.2 „Widerstand zwecklos“ haben wir drei Gründe kennen gelernt, die

Transhumanisten anführen, um die Unmöglichkeit des Verzichts auf uneingeschränkte

Forschung zu belegen. Dass der Mensch lediglich eine Stufe in der Evolution sei, wird

kaum einen Menschen dazu bringen, seine Freiheit aufzugeben. Zwar sind wir sehr wohl

geneigt an eine Art Fortentwicklung zu glauben und in der Tat hat sich in der Mensch-

heitsgeschichte die Technologie weiter entwickelt, aber jeweils durch den Menschen be-

stimmt. Man mag vielleicht übergeordnete Gesetzmäßigkeiten der technischen

Entwicklung phänomenologisch extrapolieren können, das ändert aber nichts daran, dass

es immer Menschen sind, die für die Entwicklung von Technologien verantwortlich sind.

Die Evolution der Technik (wenn man es so nennen mag) ist kein Selbstläufer und entge-

gen aller Beteuerungen der Transhumanisten, ist ein (zumindest partieller) Verzicht

durchaus möglich. Er ist es zumindest dann, wenn Alternativen aufgezeigt werden.277

Ähnliches gilt es für die anderen beiden Gründe, den Egoismus und den gesellschaftli-

chen Druck zu sagen. Sie mögen zwar (manchmal auch destruktive) technische Entwick-

277 Wie etwa beim deutschen Atomausstieg, der erst durch eine umfangreichere Nutzung der Sonnenenergie gesell-schaftlich akzeptiert wurde.

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lungen fördern, aber sie sind nur ein Pol der Entwicklung. Immer auch gab und gibt es

die Möglichkeit sich gegen bestimmte Technologien zu entscheiden und diese Freiheit des

Menschen sollte man nicht zu gering betrachten. Sie hat nämlich auch grundlegend mit

dem Lebensentwurf, also mit dem Selbst- und Weltbild zu tun. Wenn ich mich natürlich

als eine unbedeutende Stufe auf der Evolutionsleiter verstehe, werde ich sehr viel eher

geneigt sein, alle nur möglichen Technologien anzuwenden um weiter voran zu kommen.

Bin ich mir hingegen der Bedeutsamkeit meiner Selbst bewusst, so werde ich dazu neigen,

meinem Leben und der Anerkennung meiner Mitmenschen einen höheren Rang beizu-

messen, als einer weiteren Technologie.

Widerstand gegen die Prognose vom posthumanen Zeitalter ist also – um den Titel der

Arbeit nochmals aufzugreifen- nicht zwecklos. Zum Einen hat sich herausgestellt, dass

der Transhumanismus nur eine unter mehreren Weltdeutungen ist. Zum Zweiten er-

scheint er mir nicht als eine Weltdeutung, die eine besonders hohe Plausibilität bean-

spruchen könnte. Vielmehr sind bei näherem hinsehen einige der Prognosen auf Sand

gebaut, oder reine Spekulation. Damit gerät aber die Forderung nach radikalen Fort-

schritt unter einen Rechtfertigungsdruck, dem sie nicht standhalten kann. Jede einzelne

Technologie, ist daher danach zu bewerten, ob sie der Würde und der Bedeutung des

Menschen im hier und jetzt gerecht wird. Eine Eschatologie, wie sie von den Transhuma-

nisten gezeichnet wird, kann von dieser Verantwortung nicht entbinden. Max More

schreibt in seiner Reaktion auf die Bedenken Bill Joys, er könne die bewusste Hinnahme

weiteren Leidens nicht ethisch vertreten.278 Genauso wenig, so wäre ihm entgegen zu hal-

ten, kann hingenommen werden, dass Leiden überhaupt erst durch unbegrenzte For-

schung verursacht wird.

Vieles hätte noch gesagt werden können. Eine stärkere Gewichtung der philosophischen

Selbstbewusstseinstheorien wäre ebenso möglich gewesen, wie eine eingehendere ethi-

sche Bewertung der transhumanistischen Forderungen und Prognosen oder eine eher

soziologisch angelegte Arbeit. Am meisten interessiert hätten mich insbesondere die

eschatologischen Motive, die im Transhumanismus zu finden sind; vielleicht weil die ge-

nuin theologische Betrachtung in dieser Arbeit etwas zu kurz kam. Aber es ging im we-

sentlichen auch zunächst darum, den Dialog aufzunehmen. Es ging um eine erste

Tuchfühlung mit einer Bewegung, die mit einem enormen Anspruch daherkommt und

viele Menschen (vor allem Naturwissenschaftler) in ihren Bann zieht. Ihre Grundannah-

me vom posthumanen Zeitalter auf den Prüfstand zu stellen, war meine Absicht. Der Wi-

derstand gegen die transhumanistischen Forderungen scheint mir nicht zwecklos.

Vielmehr sind sie um des Menschen Willen notwendig. Nur wenn wir uns unserer Ver-

antwortung für unsere Zukunft bewusst werden, können wir sie human gestalten. Dabei

sollten wir den Menschen aber nicht aus dem Blick verlieren. Ist er, wie die Transhuma-

nisten glauben lediglich eine Stufe auf der Leiter der Evolution, so hat der Fortbestand

des homo sapiens in der Tat nur eine geringe Bedeutung. Dann mag es vielleicht sogar

278 sieheMore 2002, Abschnitt: Verzicht ist ethisch nicht vertretbar.

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legitim sein, seine Errungenschaften in einer posthumanen Spezies aufgehen zu lassen.

Erkennen wir dagegen, dass unser Leben trotz aller natürlichen Grenzen eine unbedingte

Bedeutsamkeit hat, so wird auch der Widerstand gegen das posthumane Zeitalter nicht

zwecklos sein.

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Erklärung gemäß §19 (6) Diplomprüfungsordnung für den Studiengang der Katholischen Theologie an der WWU Münster

Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit „’Wi-derstand zwecklos!’? - Philosophische Zweifel an der transhuma-nistischen Prognose eines posthumanen Zeitalters“ selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt sowie Zitate kenntlich gemacht habe.

Telgte, 6. August 2002

Richard Schu-Schätter