Richtiges Sehen – eine optische Täuschung?

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      WAHRNEHMUNG

    Richtiges Sehen – eine

    optische Täuschung?Das Auge unterliegt vielen optischen Trugschlüssen. In 

    Konfliktsituationen interpretiert das Gehirn die Bild-

    daten offenbar nach ihrer Wahrscheinlichkeit – und irrt

    sich dann manchmal.

    Von Dale Purves, R. Beau Lottound Surajit Nundy

     A uf unsere Augen verlassen wiruns offenbar nicht. Nur zu oftwürde ein Physiker andereHelligkeiten, Farben oder

    räumliche Verhältnisse messen, als wirwahrzunehmen glauben. Und doch schei-nen wir die Welt meist richtig zu sehen.Mit dieser Unstimmigkeit befasste sichschon der irische Philosoph und eolo-ge George Berkeley (1685 –1753). In ei-

    ner Schrift von 1709 (deutsch: »Versucheiner neuen eorie der Gesichtswahr-nehmung«) wies er auf, dass beispielswei-se die Entfernung eines Objektes alleinvon seinem Bild auf der Netzhaut nichtherleitbar ist. Denn eine Linie kann dortgenauso lang sein, wenn sie von einemkleinen nahen oder einem entfernterengroßen Gegenstand herrührt.

     Alles, was die Netzhaut an visuellerInformation erhält, ist in dieser Weisemehrdeutig, doch gewöhnlich merkenwir das nicht einmal. Auch die Farbe ei-

    nes Gegenstands kann, abhängig von Be-leuchtung oder Umfeld, bei den Sehzel-len völlig verfälscht eintreffen. Blau wirddann vielleicht zu Grau. Gleiches gilt fürdie Helligkeit: Statt Weiß empfängt dieNetzhaut etwa Dunkelgrau. Wie aber

    können wir uns zurechtfinden, wenn dieBeziehung zwischen der physikalischen

     Welt und unserer Wahrnehmung dieser Welt ihrem Wesen nach unbestimmt ist? Wieso wissen wir anscheinend trotzdemmeistens genau, was wir sehen?

    Biologisch gesehen ist die richtige Wahrnehmung der Gegenstände lebens-wichtig. Schließlich hängt schon bei Tie-ren das Überleben davon ab, dass sie aufihre Umwelt angemessen reagieren, Ge-fahren erkennen und sie richtig einschät-zen. Sie müssen wissen, wie nah und wie

    groß das Objekt im Blickfeld wirklichist, ob die Frucht eine reife Farbe hatoder ob im Schatten der Feind lauert.

     Wie verschaffen wir uns trotz der fal-schen Netzhautbilder die angemesseneInformation?

    Statistik bewährt sich

     Anscheinend arbeitet das Sehsystem stetsmit Erfahrungen, gelernten oder auchgenetisch überlieferten. Wir sehen die

     Welt gar nicht wirklich so, wie sie dieNetzhaut zeichnet. Wir sehen sie ande-

    rerseits auch nicht physikalisch korrekt.Sondern wir nehmen ihre Abbilder alsdas wahr, was sich bisher im konkretenLeben am meisten bewährte.

    Das heißt, wir analysieren die Bildernicht nach physikalischen Kriterien, son-dern das visuelle System stützt sich aufErfahrungswahrscheinlichkeiten. Gewis-sermaßen nehmen wir die Umwelt sowahr, wie sie sich in Verhaltensreaktionenauf visuelle Reize als stimmig erwies.Immer mehr wissenschaftliche Ergebnis-se besagen, dass unser Wahrnehmungs-

    system – wie auch das vieler Tiere – die

     l Weiß bleibt nicht weiß. Nur – warum

    erscheint die weiße Kachel, die un-

    ter dem Tisch im Schatten liegt, viel heller

    als die schwarze rechts neben dem Tisch-

    bein, auf die Licht fällt? Objektiv sind bei-

    de gleich grau.   M   I   T   F   R   E   U   N   D   L   I   C   H   E   R   G   E   N   E   H   M   I   G   U   N   G   D   E   R   A   U   T   O   R   E   N

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      Unbestimmtheit der Netzhautbilder an-scheinend in dieser Weise umgeht.

    Diese Strategie lässt sich bei der Wahrnehmung von Helligkeitsunter-schieden besonders gut demonstrieren.Hell und Dunkel gehören beim Sehen zuden elementaren Komponenten. Wirunterscheiden Helligkeitsgrade – dochnicht etwa entsprechend den physika-lischen Intensitäten von Lichtreizen.

     Wenn nämlich zwei Oberflächen gleichviel Licht ins Auge reflektieren, könnensie uns doch verschieden hell vorkom-men – wenn ihr Umfeld verschieden hellist. Wahrnehmungspsychologen nennendieses Phänomen simultanen Hellig-keitskontrast (oder Helligkeitssimultan-kontrast; siehe auch Kasten unten).

    Diese Täuschung ist lange bekannt.In der Vergangenheit suchten Neurobio-logen die Erklärung darin, dass Neuro-nen der Netzhaut, die ins Sehzentrum

    des Gehirns ziehen, bei einem grauenFleck auf dunklem Grund heftiger feuernals bei dem gleichen grauen Fleck auf hel-lem Grund. Denn die Netzhaut arbeitetKonturen schärfer heraus, indem sie

    Kontraste überhöht. Neurophysiologenkennen dafür viele Beispiele.

    Verschiedene Beobachtungen lassen jedoch vermuten, dass diese Deutung imFalle des simultanen Helligkeitskontrasts

     wohl nicht zutrifft. Denn beispielsweise wirken unter bestimmten Bedingungengleich helle Flächen auch dann unter-schiedlich, wenn ihr Umfeld ganz gleichist. Und es gibt sogar Bedingungen, beidenen die eine Fläche trotz eines insge-samt helleren Umfeldes heller wirkt alsdie andere, die in einem insgesamt dunk-leren Umfeld steht – gerade das Gegenteilalso wie beim üblichen simultanen Hel-ligkeitskontrast. Als Erster beschrieb dieseErscheinung der deutsche Physiker Wil-helm von Bezold (1837 – 1907).

    Eine andere Erklärung des Phäno-mens, die Erfahrungen einbezieht, er-scheint plausibler. Das visuelle Systemmuss gewissermaßen berücksichtigen,

    IN KÜRZEr   Die Bilder von der Welt, die sich

    beim Sehen auf der Netzhaut abbil-

    den, sind sehr oft mehrdeutig. So-

    wohl Helligkeits- wie Farbwerte als

    auch geometrische Beziehungen

    können in der Realität ganz ver-

    schiedene Situationen bedeuten.

    r   Das visuelle System  nimmt die

    Umwelt dennoch meist stimmig

    wahr. Wie es die empfangenen Bil-

    der einschätzt, hängt von früheren

    stammesgeschichtlichen und indivi-

    duellen Erfahrungen ab.

       A   M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T

    Von den beiden runden Scheiben wirkt die

    linke heller als die rechte (obere Bilder).

    Doch beide haben den gleichen Grau-

    wert. Anscheinend berücksichtigt unser

    Wahrnehmungssystem, dass eine re-

    flektierende Fläche bei wenig Licht dunk-

    ler wirkt als bei starker Beleuchtung.

    Im Alltag bestehen zwei Möglichkeiten, um

    die Illusion zu erzeugen (Bilder unten).

    Entweder sind zwei gleich reflektierende

    Scheiben gleich stark beleuchtet (links

    unten). Oder sie haben unterschiedliche

    Reflexionseigenschaften – die eine ist un-

    ter gleicher Beleuchtung heller, die ande-

    re dunkler  –, aber die an sich hellere

    Scheibe liegt im Schatten, die an sich

    dunklere im Licht (rechts unten).

    Der klassische Simultan-Helligkeitskontrast

    Vermeintlicher Helligkeitsunterschiedvon Erfahrung geprägt

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    dass das gleiche Bild auf mehrere Weiseentstehen kann. Zwei Flächen könnengleich viel Licht reflektieren, also gleichhell wirken, wenn sie beide zum Beispielweiß sind (besser gesagt: eine Oberflächemit gleichen Reflexionseigenschaften ha-ben) und dazu gleich angeleuchtet wer-den. Sie können aber auch nur auf derNetzhaut gleich hell erscheinen, obwohlihre Oberflächen verschieden sind: Dannwäre die eine an sich dunkler als die an-dere, würde aber stärker angestrahlt; dieandere wäre bei gleichem Licht heller,würde nun aber schwächer angestrahlt.Vereinfacht gesagt: Ein weißer Gegen-stand kann im Dunklen für die Sehzellengrau wirken, ein schwarzer im Sonnen-licht ebenfalls.

     Angenommen, unser visuelles Systemüberspielt diese Unsicherheit der Wahr-nehmung durch Erfahrung: Dann wirddas Ergebnis eher in Richtung derjenigenBewertung tendieren, die sich früher unter

     jeweils gleichen Umständen als gültig he-rausgestellt hatte. Identische Dinge müs-sen stets gleich aussehen, egal ob sie sich inder Sonne oder im Schatten befinden. Un-terschiedliche Dinge sollten möglichst in

     jeder Umgebung auch unterschiedlichaussehen. Nur unter diesen Voraussetzun-gen kann man angemessen reagieren.

    Reine Erfahrung:

    Feind bleibt Feind auch im SchattenIm Fall des simultanen Helligkeitskon-trasts sollten somit die früheren Erfah-rungen mit der gleichen visuellen Situati-on zählen. Weil nun die betreffende Stan-dard-Testsituation für das Phänomenzwei Interpretationen zulässt, kann eseben auch manchmal geschehen, dasszwei Flächen von an sich gleicher Hellig-keit dem visuellen System nicht als gleicherscheinen, sondern dass die eine hellerund die andere dunkler wirkt, als siewirklich sind. Auch wenn diese Deutung

    des Phänomens vielleicht befremdlichsein mag, dürfte sie den von George Ber-keley aufgezeigten Widerspruch zwi-schen dem, was das Auge aufnimmt unddem, was wir sehen, doch besser als ande-re Ansätze erklären.

    Falls richtig, müsste sich der Effektauch in komplexeren visuellen Situatio-nen zeigen. Er sollte immer dann auftre-ten, wenn die Erfahrung sagt, dass zweigleich erscheinende Felder nur wegen derBeleuchtung gleich aussehen, dass sieaber an sich unterschiedlich viel Licht re-

    flektieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der

    Cornsweet-Effekt, den der amerikanischePsychologe Tom Cornsweet von der Uni-

    versität von Kalifornien in Irvine Endeder 1960er Jahre beschrieb.Bei dieser visuellen Täuschung sto-

    ßen zwei Flächen zusammen, die an der Anstoßkante unterschiedlich hell sind.Nach außen hin verändert sich ihre Hel-ligkeit: Die innen helle Fläche wird nachaußen dunkler, die dunkle heller, sodassbeide Flächen im äußeren Bereich dengleichen Grauwert haben. Trotzdem neh-men wir die beiden Außenbereiche kei-neswegs als gleich hell wahr. Sondern wirmeinen fälschlich, die Fläche mit der hel-

    len Kante sei tatsächlich viel heller. Die-

    sen Streich spielt uns vermutlich die frü-here Erfahrung mit ähnlichen Sinnesein-drücken – ein weiterer Hinweis darauf,dass auch der simultane Helligkeitskon-trast sich wohl nicht dadurch erklärt, dassdie Netzhaut Konturen herausarbeitet.

    Der Cornsweet-Effekt mag zunächstrecht vertrackt wirken, doch lässt auch ersich nicht schwer damit begründen, dass

    visuelle Eindrücke objektiv gesehen meh- 

    oTäuschende Schachtel: Wer würde

    denken, dass die Flächen von De-

    ckel und Boden den gleichen Grauwertaufweisen?

       A   M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T

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    reres bedeuten können. Wie beim si-multanen Helligkeitskontrast können dieobjektiv gleich hellen Felder auf zwei Wei-sen zu Stande kommen: entweder da-durch, dass gleich reflektierende Flächengleich hell beleuchtet werden, oder da-durch, dass unterschiedlich reflektierendeFlächen unterschiedlich stark beleuchtet

     werden. Im ersten Fall könnte es sich etwaum ein graues Blatt Papier handeln, aufdas in der Mitte ein weißes und einschwarzes Band gemalt wurden, die anei-nander stoßen. Im zweiten Fall könnte

    man vielleicht an eine geöffnete Dose mit weißem Boden und schwarzem Deckeldenken, die gerundete Kanten hat, schiefsteht und von oben angeleuchtet wird(untere Bilder links).

     Was unser visuelles System darausmacht, hängt vermutlich davon ab, mit

     welchen dieser oder noch weiterer Situati-onen es öfter zu tun hatte und mit wel-chen eher selten oder noch gar nicht.

     Wahrscheinlich sind wir mit aneinandergrenzenden verschieden reflektierenden,verschieden beleuchteten Flächen recht

    häufig konfrontiert, sodass die Entschei-dung hierfür fällt.

    Manipulation der Randbedingungen Wenn die vorgeschlagene Erklärung zu-trifft, müsste sich der Cornsweet-Effektim Experiment durch Manipulation derRandbedingungen verstärken, abschwä-chen oder ganz ausschalten lassen – ob-

     wohl die grundsätzlichen Helligkeitsver-hältnisse immer gleich bleiben. Es kämedarauf an, die Randbedingungen so zu

     wählen, dass sich die relativen Wahr-

    scheinlichkeiten verschieben, mit denendas visuelle System mögliche zu Grundeliegende Reizsituationen erlebt. Das ge-lang tatsächlich bereits in etlichen Experi-menten – mit den erhofften Resultaten.

     Auch bei der Farbwahrnehmung las-sen wir uns von Randbedingungen heftig

     lDer Cornsweet-Effekt:  Diese Illusion

    entsteht, wenn zwei ansonsten

    gleich helle Flächen an der Anstoßkante

    in einen klaren Helligkeitsunterschied

    auslaufen.

       B   I   L   D   N   A   C   H   W   E   I   S

     

       A

       M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T  l

    Zweideutige Herkunft: Das Netzhaut-

    bild gibt nicht Auskunft, ob zwei Flä-

    chen, die an der Anstoßkante kontrastie-

    ren, von einem flachen bemalten Objekt

    stammen oder von räumlichen Körpern.

      p   h  y  s   i   k  a   l   i  s  c   h  g  e  m  e  s  s  e  n  e

       H  e   l   l   i  g   k  e   i   t

    1 2 3 4

    schwach reflektierend,

    stark beleuchtet

    stark reflektierend,

    schwach beleuchtet

    gleich reflektierende Fläche, gleich beleuchtet

       C  o  r  n  s  w  e  e   t  -

       K  a  n   t  e

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    täuschen. Entstehen solche Illusionen aufvergleichbare Art wie die Helligkeitstäu-schungen, auch unter dem Einfluss vonErfahrungen? Das erscheint durchausmöglich, denn wie bei den Helligkeitenkönnen gleiche Farbeindrücke auf derNetzhaut auf unterschiedlichen physika-lischen Effekten beruhen. Wieweit dasLichtspektrum, das beim Auge eintrifft,von den Reflexionseigenschaften des Ob-

     jektes oder von seiner Beleuchtung her-rühren, ist für das Auge unbestimmt.

    Dass Farben mehrdeutig sein kön-nen, zeigt sehr gut das Phänomen, dassman gleiche Farben in bestimmten Situ-ationen als unterschiedlich auffasst. Die-se Erscheinung, der simultane Farbkon-trast (oder Farbsimultankontrast) – isteine Parallele zum simultanen Hellig-keitskontrast (siehe Kasten unten). Siehtman zwei Flächen von gleicher spektralerZusammensetzung – also genau gleicherFarbe – vor farblich verschiedenen Hin-tergründen, wirken sie nicht mehr

    gleich. Auch hier können die physikali-schen Farbwerte der Objekte – Tönung,Leuchtkraft, Sättigung – unterschiedlichzu Stande kommen: durch die Refle-xionseigenschaften der beiden Flächen(gewissermaßen ihre Ausgangsfarbe) unddurch Spektralzusammensetzung undIntensität der Beleuchtung.

     Was Farbenüber ihre Herkunft erzählenBislang postulierten die meisten Erklä-rungsansätze zum simultanen Farbkon-trast-Effekt in der einen oder anderen

     Weise, das visuelle System würde so etwas wie einen farblichen Mittelwert aus demerblickten Farbfeld und seinem Umfeldfinden. Doch wie schon beim simultanenHelligkeitskontrast können auch diese

     Ansätze manche Erscheinungen nicht er-klären. Man kann nämlich auch Situatio-nen gestalten, in denen der gemittelteFarbwert gleich ist und dennoch ein un-terschiedlicher Farbeindruck entsteht.

    Unsere Deutung des Phänomens be-zieht wiederum die visuelle Erfahrungein. Im Prinzip handelt es sich um diegleiche Erklärung wie vorher: Ein Farb-eindruck eines Objekts und seiner Um-gebung auf der Netzhaut kann auf dieunterschiedlichste Weise durch vielerleimögliche Mischungen von Beleuchtungund Reflexionseigenschaften – und nochandere Einflüsse – zu Stande gekommensein. Die physikalische Herkunft des Ab-bildes auf der Netzhaut ist somit höchstunsicher. Auch hier wieder bietet sich alsGrund für Täuschungen an, dass das vi-suelle System Rückmeldungen über denfrüheren Umgang mit solchen Situatio-nen berücksichtigt. Wahrgenommenwird dann letztlich das, was im realenLeben am häufigsten auftritt.

    In gleicher Weise könnte die umge-kehrte Illusion zu Stande kommen: dassuns ein identisches Objekt unter farblichverschiedener Beleuchtung in seiner Fär-bung praktisch unverändert erscheint –

       A   M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T

    Zwei Farbnuancen meint man zu sehen

    (Bilder links). Doch es sind drei Lila-Töne!

    Die Farbe der runden Scheiben in der Mit-

    te ist in beiden Fällen die gleiche!

    Nicht allein die Reflexionseigenschaftenei-

    nes Objekts bestimmen seinen vom

    Auge registrierten Farbwert (Bilder un-

    ten). Im l inken Arrangement werden zwei

    Scheiben des gleichen Ausgangsfarbtons

    gleich hell mit weißem Licht bestrahlt. Im

    rechten entsteht die gleiche Farbnuance

    dadurch, dass die Scheibe rötlicherer Aus-

    gangsfarbe blau bestrahlt wird, die Schei-

    be des bläulicheren Ausgangstons durch

    stärker rothaltiges Licht.

    Der simultane Farbkontrast

    Mehrdeutige Herkunft zu berücksichtigen

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    wir es also an seiner Farbe wieder erken-nen –, obwohl die vom Auge gesehenenFarben doch in Wirklichkeit vollkom-men verschieden sind.

    Dies ist eine alltägliche Erfahrung.Manches empfinden wir sogar nochdann als leuchtende Farbe, wenn es ei-gentlich nur noch ein Grauwert ist. Beinäherem Hinsehen zeigt dieses Beispielder nur scheinbaren Farbgleichheit frap-pant, wie stark wir gerade beim Farben-sehen Illusionen unterliegen.

    Bei einem von uns konstruierten Würfel mit vielen verschiedenfarbigenFlächen ist dies auf die Spitze getrieben(Bild oben). Es fällt uns nicht schwer,beim linken und beim rechten Würfeltrotz völlig verschiedener Beleuchtungweitgehend die gleichen Farben zu er-kennen – obwohl sie objektiv alles ande-re als gleich sind. Andererseits erkennenwir die physikalisch gleichen Feldernicht einmal: Die Felder, die beim lin-ken Würfel blau aussehen, haben objek-

    oVermeintliche Farbkonstanz:

     Wir glau-

    ben, die Felder des Würfels in ihren

    richtigen Farben zu sehen, auch wenn al-

    les in gelbes oder blaues Licht getaucht

    ist. Wie stark wir uns täuschen, zeigen die

    Skizzen darunter. Was am linken Würfel

    blau zu leuchten scheint, ist objektiv

    grau. Beim rechten Würfel halten wir die

    grauen Flächen für strahlend gelb.

    r Geometrische Spiele:  Bilder auf der

    Netzhaut mit gleichen Winkeln und

    Kantenlängen lassen sich durch vielerlei

    räumliche Anordnungen von Gegenstän-

    den hervorrufen. Nicht nur die Winkel die-

    ser Gabeln sind verschieden groß, auch

    die Arme sind verschieden lang.

     

       A

       M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T

       A   M   E   R   I   C   A   N   M   S   C   I   E   N   T   I   S   T

    blau rot gelb rot

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    tiv das gleiche Grau wie die gelb wirken-den Felder beim rechten Würfel.

     Auch der umgekehrte Effekt lässtsich erzwingen. Man kann Farbfelder,die unter neutralen Verhältnissen ver-schiedenfarbig wirken würden, so dar-stellen, dass sie nun gleichfarbig erschei-nen. Man muss nur dafür sorgen, dass siein einem Zusammenhang stehen, derden dazu passenden Erfahrungen mehrals andere Situationen entgegenkommt.Beides, der Effekt der simultanen Farb-konstanz und der des simultanen Farb-kontrastes, dürfte demzufolge letztlichdie gleiche Ursache haben: eine hohe

     Wahrscheinlichkeit für Erfahrungen mitsolchen Situationen im Alltag.

    Falsch schä tzen,um die Dinge richtig einzuordnenVielleicht überrascht es nun nicht mehr,dass sich manche geometrischen Täu-schungen ähnlich erklären könnten.

     Wahrnehmungspsychologen haben schon im 19. Jahrhundert herausgefunden, dasswir die Winkel zwischen zwei aneinan-der stoßenden Linien mitunter falsch be-urteilen. So schätzen wir spitze Winkelleicht um ein paar Grad zu weit ein,stumpfe Winkel um ein paar Grad zueng. Schon Ende des 19. Jahrhundertskamen viele Ideen auf, wie diese Täu-schung wohl zu verstehen sei. Einig wur-

    den sich die Forscher allerdings nicht.Die verschiedensten räumlichen Be-ziehungen zwischen zwei Geraden kön-nen auf die Netzhaut ein Bild von immerdem gleichen Winkel werfen. Nicht nurdie Position im Raum in allen drei Di-mensionen, auch die Längenverhältnisseder beiden Geraden können dabei ganzunterschiedlich sein (Bild oben). Somitist auch bei geometrischen visuellen Ein-drücken eigentlich ganz unbestimmt,was ihnen objektiv zu Grunde liegt.

    Natürlich machen Menschen seit je-

    her tagtäglich mit dem Sehen von Win-keln Erfahrungen. Immerfort sind gese-hene Winkel in der Realität ganz andersals auf der Netzhaut. Die Möglichkeiten,wie im Netzhautbild gleiche Winkel zuStande kommen können, sind zwar im-mens. Doch bei all dem sollte es durch-aus systematische Beziehungen geben.Bestimmte Erfahrungen mit Winkeln inder Umwelt müssten sich häufen. Dasaber konnten wir experimentell prüfen.

    Zunächst ermittelten wir, welche na-türlichen, alltäglichen Quellen ein be-

    stimmter auf die Netzhaut treffender

     Winkel haben kann und wie wahrschein-lich diese einzelnen Situationen im nor-malen Leben vorkommen. Wir erkann-ten dabei tatsächlich, dass Netzhautbil-

    der mit spitzen Winkeln gewöhnlich vonetwas größeren Winkeln in der Realitätstammen. Das Umgekehrte ist bei Abbil-dungen stumpfer Winkel der Fall: Dies-mal stammen die Projektionen auf derNetzhaut typischerweise öfter von in derNatur etwas kleineren Winkeln. Was alsrechter Winkel auf die Netzhaut fällt,entspricht in der Natur sehr oft rechten

     Winkeln von Objekten. Würden sichVersuchspersonen, die Winkel einschät-zen sollen, entsprechend diesen Erfah-rungswahrscheinlichkeiten verhalten?

     Wir baten Testpersonen, an den ei-nen Schenkel zweier im Winkel aneinan-der stoßender gerader Linien oder Bal-ken eine Gerade anzulegen, also die Li-nie mit einem Strich oder einer Leiste zuverlängern. Dies prüften wir in einerReihe verschieden gestalteter Versuche.Das Ergebnis passte ausnehmend gut zuunserer Hypothese: Kaum je legten dieTeilnehmer den Stock oder Strich exaktparallel in Verlängerung der Linie. Erzeigte vielmehr etwas zu weit nach au-ßen, wenn die Leute einen spitzen Win-

    kel vor sich hatten, und etwas zu weit

    nach innen, wenn der vorgesetzte Win-kel stumpf war (Bild oben). Dieser Be-fund spricht dafür, dass wir räumlicheBeziehungen nicht so sehen, wie sie sichauf der Netzhaut abbilden – und auchnicht so, wie sie in der Realität arrangiertsind. Vielmehr nehmen wir im Grundewahr, was sich bei solchen Netzhautbil-dern in der Vergangenheit bewährt hat.

    Offenbar ist das der Ausweg aus demDilemma, das George Berkeley vor 200

     Jahren aufzeigte. Wenn die Netzhautmehrdeutige Informationen über Hellig-keiten, Farben oder geometrische Ver-hältnisse empfängt, orientiert sich das vi-suelle System daran, wie wahrscheinlichdie einzelnen möglichen Situationensind oder genauer gesagt bisher waren.Erst daraus ergibt sich die Wahrneh-mung. Genau genommen sehen wirnicht das, was ist, sondern das, was war.Unser visuelles System ist eine hervorra-gende Statistikerin.

    Stab zumAnlegen

    spitzerWinkel

    stumpferWinkel

    Stab zumAnlegen

     lKein korrektes Augenmaß – oder doch? 

    Gewöhnlich täuschen wir uns: Spit-

    ze Winkel schätzen wir etwas zu groß ein,

    stumpfe Winkel etwas zu klein. Doch die

    Erfahrung besagt, dass im Alltag spitz er-

    scheinende Winkel in Wahrheit etwas grö-

    ßer sind als auf dem Netzhautbild und

    stumpfe Winkel etwas kleiner.

       A   M   E   R   I   C   A   N   S   C   I   E   N   T   I   S   T

    Dale Purves (rechts) hat ander Duke University in Dur-ham (North Carolina) dieGeorge-Barth-Geller-Profes-sur für neurobiologische For-

    schung und eine Professurfür Psychologie und Gehirn-wissenschaften. R. Beau

    Lotto (links) ist Assistenzprofessor am UniversityCollege London. Surajit Nundi arbeitet an derDuke University in Neurobiologie.

    © American Scientist Magazine (siehe www.

    americanscientist.org)

    Die Autoren danken Mark Williams für seine Hil-fe bei vielen der Abbildungen und den National

    Institutes of Health in Bethesda (Maryland) fürihre Unterstützung.

    A Rationale for the Structure of Color Space. Von

    R. B. Lotto und D. Purves in: Trends in Neurosci-

    ence, Heft 25, S. 84 (2002).

    Why We See Things the Way We Do: Evidence

    for a Wholly Empirical Strategy of Vision. Von D.

    Purves et al. in: Philosophical Transaction of the

    Royal Society of London B, Nr. 356, S. 285

    (2001).

    Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei

    www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.

        A    U    T    O    R    E    N

        U    N    D    L    I    T

        E    R    A    T    U    R    H    I    N    W    E    I    S    E