Risikogesellschaft, Risikowahrnehmung und Umgang mit Risiken · Epidemien wie HIV, Malaria, TBC,...

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Risikogesellschaft, Risikowahrnehmung und Umgang mit Risiken Satellitenfoto des Reaktors Fukushima Daiichi vom 16. März 2011 (wikipedia)

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Risikogesellschaft, Risikowahrnehmung und

Umgang mit Risiken

Satellitenfoto des Reaktors Fukushima Daiichi vom 16. März 2011 (wikipedia)

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“Risikogesellschaft”

• Prozess der Modernisierung – Industrialisierung und Massenproduktion – Urbanisierung – Anstieg der Masseneinkommen – Demographischer Wandel: Geburtenrückgang,

Erhöhung der Lebenserwartung – Wohlfahrtsstaat – Demokratische Institutionen

►Umwelt- und Technikrisiken als nicht-intendierte Nebenfolgen

►Niklas Luhmann: Von „Gefahr“ zu „Risiko“

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►Charles Perrow: „Normale Katastrophen“ sind die strukturell verursachten „unvermeidbaren Risiken der Grosstechnik“ (Staudämme, Bergwerke, Flugzeuge, Öltanker, Gentechnik, Atomkraftwerke, Waffensysteme usw.)

►Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens

►Ulrich Beck, 1986. Risikogesellschaft

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Quelle: Dietrich Dörner (1996): Der Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität und der Gebrauch von Computersimulationen. In: Andreas Diekmann, Carlo Jaeger (Hrg.), Umweltsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 36

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Zieltemperatur +4, Stellrad 23 (Anfangs- Temperatur +14)

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Zentral ist die These der „neuen Qualität“ von ökologischen Risiken. Was heisst das genau?

„Sie (die neuen Risiken) setzen systematisch bedingte, oft irreversible Schädigungen frei, bleiben im Kern meist unsichtbar, basieren auf kausalen Interpretationen …und sind insofern im besonderen Masse offen für soziale Definitionsprozesse. Damit werden Medien und Positionen der Risikodefinition zu gesellschaftlich-politischen Schlüsselstellungen.“ (Beck 1986: 29p.) ► Stimmt das? Gilt das wirklich für alle Umweltrisiken?

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Voralberger Nachrichten,12.9.2013

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• Dagegen: These der Abkoppelung: Entkoppelung von wirtschaftlichem Wachstum und Umweltbelastung durch höhere Umwelteffizienz der Produktion (siehe z. B. „World Development Report“).

• „Environmental Kuznets Curve“ (EKC)

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Figure adopted fromYandle et al. 2002

Environmental Kuznets Curve (EKC)

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EKC

World Development Report (1992)

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• Risikogesellschaft? Ist das nicht eine krasse Übertreibung zur Charakterisierung heutiger westlicher Wohlstandsgesellschaften?

• Mit Blick auf ein mörderisches 20. Jhd. mit zwei Weltkriegen, nationalsozialistischen und stalinistischen Diktaturen?

• Im Vergleich zu zeitgenössischen Gesellschaften in der III. Welt mit Epidemien wie HIV, Malaria, TBC, Bürgerkriegen und absoluter Armut der Bevölkerung?

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Instruktiv ist auch ein Vergleich im historischen Massstab.

► Bevölkerungskatastrophen ► Lebenserwartung als Indikator für das

„objektive Risiko“ der Gefährdung menschlichen Lebens

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Cipolla, Carlo M., 1976. Before the Industrial Revolution. London: Methuen.

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Ökologische und physiologische Lebenserwartung während der letzten vierhundert Jahre. Links unten: Durchschnittliche Lebenserwartung in Jahren bei der Geburt (= „ökologische Lebenserwartung“)

Links oben: Durchschnittliche Lebenserwartung im Alter von 80 Jahren (= „physiologische Lebenserwartung“, auch „durchschnittliche maximale Lebensdauer“ genannt

Während die physiologische Lebenserwartung in diesen vier Jahrhunderten praktisch konstant geblieben ist, hat sich die ökologische Lebensdauer fast verdreifacht.

Quelle: Arthur E. Imhof (1988): Die Lebenszeit – Vom aufgeschobenen Tod und von der Kunst des Lebens. München: Beck Verlag, S. 98

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Begriff „Risikogesellschaft“ für moderne Gesellschaften problematisch.

► Unzutreffend, wenn man darunter versteht,

dass Menschen heute in den entwickelten Gesellschaften grösseren Risiken ausgesetzt sind.

►Aber in einem anderen Sinne könnte man von „Risikogesellschaft“ sprechen, nämlich als Gesellschaft, die „Risiken“ im politischen Prozess und in den Medien thematisiert, die Risiken nicht schicksalhaft hinnimmt, sondern zu gestalten versucht.

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Risikowahrnehmung

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Schätzung von Todesfällen durch Blitzschlag, Verkehrsunfälle und Verbrechen pro Jahr in der Schweiz

1. Blitzschlag 2. Verkehrsunfälle 3. Mord/Todschlag

Schweizer Risikosurvey

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Schätzung von Todesfällen durch Blitzschlag, Verkehrsunfälle und Verbrechen pro Jahr in der Schweiz

1. Blitzschlag 0,5 2. Verkehrsunfälle ca. 400 3. Mord/Todschlag ca. 50

Schweizer Risikosurvey

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Risiko: Definition und Schätzung Ist Autofahren gefährlicher als Motorradfahren?

Sicher nicht. Raum-zeitlich bezogene Häufigkeiten geben noch nicht über das Risiko Auskunft.

d = Todesfälle (bzw. Schadensereignisse) R = Risikomenge ► Objektives Risiko = d/R • Aber was ist die Risikomenge? Risikopopulation

(„population at risk“), z.B. alle Personen, die mit einem Auto fahren, die Reisezeiten oder die zurückgelegten Kilometer?

• Risiko als bedingte Wahrscheinlichkeit – aber was genau ist die Bedingung?

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Risiko als bedingte Wahrscheinlichkeit – aber was genau ist die Bedingung?

Hier einige Risiken als (empirisch geschätzte) bedingte Wahrscheinlichkeiten:

• Tod durch Blitzschlag/vom Blitz getroffene Personen ca. 1000/2000 = 0,50

• Tod durch Blitzschlag pro Jahr: 1000/6 Mrd. = 1/6'000'000 • Tod am Mount-Everest: 225 von 3000 (1953 bis Frühjahr 2012) • Tod durch Bär im Berner Bärengraben/Anzahl Begegnungen (seit

1860) = 4/8 = 0,50 • Tod durch Hai/Anzahl Haiattacken = 10/90 = 0,11 • Tod durch Herzkatheter/Anzahl Eingriffe = 1/1000 • Fallschirm, Automatiksprung: 1/100’000 • Bluttransfusion, HIV-infiziertes Blut : < 1/3000'000 (Ärztezeitung

1.12.08). • Nach Bankraub gefasst zu werden (GB): 0.20; Durchschn.

Verdienst: 12707 GB-Pound (Reilly et al. 2012) • 6 aus 49 im Zahlenlotto: 1/14'000'000.

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Relative Risiken

Relatives Risiko = (d1/R1)/(d2/R2) • z.B. Autofahren im Vergleich zu Flugreisen oder

Bahnfahrten. • Fussgänger auf rechter Strassenseite versus

linker Strassenseite = (d1/R1)/(d2/R2) = 2 (Ropeik, D. und G. Grey, Risk, Boston 2002.) • Kollision Kleinwagen mit schwerer Limousine

(Todesrisiko) = (d1/R)/(d2/R) = d1/d2 = 7 (Krämer und Mackenthun, S. 31)

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Schadenserwartung: Risiko und Schadenshöhe

• Schadenserwartung (durchschnittlicher

Schaden) = Risiko · Schadenshöhe • Oder allgemein: • x = Schadenshöhe, f(x) =

Wahrscheinlichkeitsdichte Schäden z.B. x = Flutschäden, f(x) = Verteilung

Flutschäden ∞ ► Schadenserwartung E(x) = ∫ x • f(x) dx. 0

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Hauptprobleme:

• Ermittlung Risiko • Schätzung Schadenshöhe • Möglich bei häufig auftretenden

Ereignissen, aber bei (hoffentlich) äusserst seltenen Ereignissen?

• „fat tail“ (schwarzer Schwan) • Z.B. GAU eines Atomkraftwerks? Stark

divergierende Schätzungen.

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Schätzung seltener Risiken: PoT • VaR = value at risk. Z.B. Anpassung der

Normalverteilung an Fluthöhen bzw. deren Schäden. ► Problem: Normalverteilung konvergiert relativ schnell

gegen null, so dass Extremereignisse als zu selten prognostiziert werden.

• Alternative: PoT („Peak over Threshold“) • Verallgemeinerte Pareto-Verteilung: f(x)=p/(1+x)**q (Benannt nach Vilfredo Pareto, 1848-1923, Ökonom und

Soziologe u.a. in Lausanne.) • Z.B. Extreme Sturmflut in Holland 1953: 3,85 m;

höchste je beobachtete Flut 1570: 4 m. Dann schätzt man die Verteilung nicht aus diesen beiden Werten – das wäre ziemlich unsicher – sondern aus einer viel grösseren Zahl von Beobachtungen oberhalb einer Schwelle („threshold“), z.B. der Schwelle von 3m (Hipp 1998).

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Kein Fukushima-Einfluss an der ETH?

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Slovic 2000, Lichtenstein et al. 1978

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Ähnlich dieses Experiment, Zahlen zu Überlebenswahrscheinlichkeit fiktiv

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Determinanten der Risikowahrnehmung Wie verschiedene Studien ergeben haben (Überblick in Jungermann und Slovic

1993 sowie Bechmann 1993), hängen die Urteile von Laien über die Höhe von Risiken besonders von folgenden Merkmalen der Gefahrenquelle ab:

• Je mehr Menschen bei einem Unfall zusammen umkommen, desto stärker wird das

Risiko bewertet (Schrecklichkeit des Risikos). Wenn bei einem Unfall, z.B. einem Flugzeugabsturz, 200 Menschen ums Leben kommen, wird das Risiko höher eingestuft, als wenn bei z.B. 200 Autounfällen je ein Opfer zu beklagen ist.

• Risiken, die Menschen vertraut sind, • die sie freiwillig eingegangen sind, • bei denen sie noch nie oder selten einen Schaden erlebt haben • und die sie glauben selbst kontrollieren zu können, werden eher unterschätzt.

Paradebeispiele sind Autofahren und Rauchen. • Hinzu kommt der Glaube an eigene Unverwundbarkeit („overconfidence“). • In Übereinstimmung mit der Bekanntheit von Gefahrenquellen werden Risiken

neuer Technologien stärker bewertet als die Risiken herkömmlicher Techniken (z.B. Kohlebergbau).

• Bei sehr kleinen Risiken wird kaum noch differenziert. Risiken von eins zu einer Million versus eins zu tausend werden als ähnlich wahrgenommen, obwohl das erstere Risiko um den Faktor 1000 höher ist.

• Schließlich hängt die Akzeptanz von Risiken auch von der Gerechtigkeit der Verteilung der Risiken ab, ein Gesichtspunkt, den Experten nicht immer ins Kalkül ziehen.

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Risikosurvey: Schätzung von Todesfällen durch Blitzschlag, Verkehrsunfälle und Verbrechen

1. Blitzschlag: 36 (Median 10), tatsächlich etwa 1 Todesfall in zwei Jahren

2. Verkehrsunfälle: 1170 (Median 400), tatsächlich etwa 400 pro Jahr.

3. Mord/Todschlag: 267 (Median 100), tatsächlich etwa 50 Tötungsdelikte pro Jahr.

Mittelwerte wurden nach Abschneiden der extremsten Schätzungen des obersten Prozents Berechnet (designgewichtet). Da die Verteilung sehr schief ist (wenige Befragte geben sehr hohe Zahlen an), würden sonst wenige Extremfälle den Mittelwert stark beeinflussen.

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Risikopolitik ► Grenzwerte und andere Regeln und Massnahmen. Politisch-

normative Kosten-Nutzen-Abwägung auf der Basis empirischen Wissens.

• Kann man aus Grenzwerten implizit auf den Wert des menschlichen Lebens schliessen?

• Z.B. Entscheidet sich eine Gemeinde für die Beibehaltung von Tempo 50 statt Tempo 30 innerorts. Der Nutzen ist der Zeitgewinn der Autofahrer. Dem steht eine erhöhte Zahl tödlicher und anderer Unfälle gegenüber. Multipliziert man den aggregierten Zeitgewinn mit dem Durschschnittslohn und dividiert durch die Anzahl tödlicher Unfälle von Tempo 50 im Vergleich zu Tempo 30, dann erhält man eine (grobe) Schätzung des Werts eines menschlichen Lebens. Allerdings wird man je nach Massnahme unterschiedliche Werte erhalten, da die „Risikopolitik“ kaum konsistent sein dürfte.

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Kosten eines statistischen Menschenlebens für verschiedene Massnahmen:

Hier einige Rechenbeispiele des britischen „Office of Health

Economics“ (nach Krämer und Mackenthun 2001: 39): Kosten eines statistischen Menschenlebens für verschiedene

Massnahmen: • Kosten für kindersichere Arzneimittelbehälter: 1000 Pfund pro gerettetes Leben. • Künstliche Blutwäsche für Patienten über 50: 30'000 Pfund. • Überrollbügel für Traktoren in der Landwirtschaft: 100'000 Pfund. • Restriktivere Bauvorschriften für Hochhäuser: 20'000'000 Pfund. ►Was wurde gemacht?

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Kosten eines statistischen Menschenlebens für verschiedene Massnahmen:

Hier einige Rechenbeispiele des britischen „Office of Health

Economics“ (nach Krämer und Mackenthun 2001: 39): Kosten eines statistischen Menschenlebens für verschiedene

Massnahmen: • Kosten für kindersichere Arzneimittelbehälter: 1000 Pfund pro gerettetes Leben. • Künstliche Blutwäsche für Patienten über 50: 30'000 Pfund. • Überrollbügel für Traktoren in der Landwirtschaft: 100'000 Pfund. • Restriktivere Bauvorschriften für Hochhäuser: 20'000'000 Pfund. ► Es wurden Überrollbügel für Traktoren vorgeschrieben (40 Pfund für

jeden der 100'000 britischen Traktoren) und nach dem Einsturz eines Hochhauses wurden die Baugesetze drastisch verschärft.

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Risikohomöostase • Risikopolitik sollte auch die Nebenwirkungen von

Massnahmen zu Erhöhung der Sicherheit in Betracht ziehen.

• Die Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls oder einer schweren Verletzung bezeichnen wir mit P(A), die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit P(B) und die bedingte Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls oder einer schweren Verletzung mit P(A |B).

• Dann gilt: P(A) = P(A |B) · P(B) • 1-P(B) ist ein Ausdruck für die “aktive Sicherheit” und

1-P(A |B) für die „passive Sicherheit“. • Z.B. kann man beim Autoverkehr die aktive Sicherheit

durch Strassenbau, ABS, Tempolimits usw. erhöhen. Gurtpflicht, Airbag, Helmpflicht für Motorradfahrer usw. erhöhen die passive Sicherheit.

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► Frage: Was passiert, wenn man z.B. die passive Sicherheit 1-P(A |B) oder auch die aktive Sicherheit 1-P(B) erhöht bezüglich des Unfallrisikos P(A)? ►Soziologisch: Das Problem nicht- intendierter Konsequenzen von Massnahmen (Robert K. Merton)

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• Diverse Studien machen darauf aufmerksam, dass die einzelnen Massnahmen zwar P(A) bzw. P(A |B) reduzieren, wenn man sie isoliert betrachtet. Durch eine „Verhaltensanpassung“ werden die sicherheitsfördernden Massnahmen aber oftmals ganz oder teilweise kompensiert. Man spricht von einer „Risikohomöostase“ oder auch von der Hypothese der „Risikokompensation“.

• Nach dieser Hypothese agieren Personen so, als ob sie ein bestimmtes ‚Risikolevel’ aufrechterhalten wollen. Die risikomindernde Wirkung von Helmpflicht, Gurtpflicht, ABS und anderen sicherheitsrelevanten Massnahmen wird danach durch eine riskantere Fahrweise wettgemacht.

• Hinzu können negative Auswirkungen auf Dritte kommen. So wurde vermutet, dass die Gurtpflicht z.B. das Risiko für nicht-angeschnallte Mitfahrer und Fussgänger erhöht. (Nicht eindeutig nachgewiesen.)

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Risikohoöostase trifft aber nicht immer oder nur teilweise zu

• Die empirischen Befunde zur Auswirkung der Gurtpflicht auf das Risiko für Mitfahrer und Fussgänger sind widersprüchlich (vgl. Harvey und Durbin 1986, Peltzman 1975).

• Fragwürdig ist auch, ob es wirklich stets zu einem vollen Risikoausgleich kommt, wie es die Homöostasie-Hypothese nahe legt.

• In der strengen Form ist diese Hypothese häufig nicht zutreffend. Auch die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle hat sich ja - trotz stärkerer Motorisierung - in den vergangenen Jahren stark vermindert (teilweise aber auch durch verbesserte Notfallmedizin).

• Risikokompensation kann auftreten, aber vermutlich nicht in vollem Umfang.

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“Alchians Dolch”

• Der Ökonom Alchian hat den Vorschlag gemacht, jedes Fahrzeug per gesetzlicher Vorschrift mit einem messerscharfen Dolch im Lenkrad auszustatten, der genau auf das Herz des Fahrers zielt. Diese Massnahme würde zweifellos eine defensive Fahrweise fördern und die Unfallrate massiv absenken. Eine wohl nicht ganz ernst gemeinte Provokation, die aber den Blick auf Nebenfolgen und Zusammenhänge richtet, die Risikopolitik auch beachten sollte!