Römisches Recht und europäische Rechtskultur - kas.de · Rechtskultur, die das in den Digesten...

26
Römisches Recht und europäische Rechtskultur* Hans-Dieter Spengler I. „BACH ist Anfang und Ende aller Musik“. Dieser zu einem der berühmtesten Bonmots über Johann Sebastian Bach ge- wordene Ausspruch stammt aus der Feder des Komponis- ten Max Reger; er hat ihn am 31. Mai 1906 in München in das Stammbuch von Lisa Heß notiert, der er eines seiner Lieder 1 widmete. 2 Und in der Tat: Max Reger hat damit das Phänomen Johann Sebastian Bach quasi auf den Punkt genau getroffen, zumindest aus deutscher Musikerperspek- tive. Wie kein anderer vor ihm studierte Bach schon in sei- nen Jugendjahren die italienische Musik, soweit er ihrer habhaft werden konnte – die Beschäftigung mit Frescobal- di, die Bearbeitungen der Konzerte Vivaldis, Orgelfugen über Themen von Legrenzi oder Corelli sind der lebende Beweis hierfür; er setzte sich mit der französischen Musik auseinander – dies belegen etwa die französischen Suiten für Cembalo oder der (geplante, aber durch Abreise des Kontrahenten nicht stattgefunden habende) Orgelwett- streit mit seinem französischen Zeitgenossen Louis Mar- chand und im umgekehrten Sinne das große Es-Dur-Prälu- dium für Orgel BWV 552, das durch die notierten Bindebögen gerade anzeigt, dass es (im Gegensatz zu dem, was nach der Faktur des Werks das Näherliegende wäre) ge- rade nicht à la française interpretiert werden darf. Bachs Wanderschaften machten den Thüringer mit der norddeut- schen Orgelmusik etwa eines Dietrich Buxtehude oder Jo- hann Adam Reincken bekannt. Er beherrschte sämtliche 43

Transcript of Römisches Recht und europäische Rechtskultur - kas.de · Rechtskultur, die das in den Digesten...

Römisches Recht und europäischeRechtskultur*

Hans-Dieter Spengler

I.

„BACH ist Anfang und Ende aller Musik“. Dieser zu einemder berühmtesten Bonmots über Johann Sebastian Bach ge-wordene Ausspruch stammt aus der Feder des Komponis-ten Max Reger; er hat ihn am 31. Mai 1906 in München indas Stammbuch von Lisa Heß notiert, der er eines seinerLieder1 widmete.2 Und in der Tat: Max Reger hat damitdas Phänomen Johann Sebastian Bach quasi auf den Punktgenau getroffen, zumindest aus deutscher Musikerperspek-tive. Wie kein anderer vor ihm studierte Bach schon in sei-nen Jugendjahren die italienische Musik, soweit er ihrerhabhaft werden konnte – die Beschäftigung mit Frescobal-di, die Bearbeitungen der Konzerte Vivaldis, Orgelfugenüber Themen von Legrenzi oder Corelli sind der lebendeBeweis hierfür; er setzte sich mit der französischen Musikauseinander – dies belegen etwa die französischen Suitenfür Cembalo oder der (geplante, aber durch Abreise desKontrahenten nicht stattgefunden habende) Orgelwett-streit mit seinem französischen Zeitgenossen Louis Mar-chand und im umgekehrten Sinne das große Es-Dur-Prälu-dium für Orgel BWV 552, das durch die notiertenBindebögen gerade anzeigt, dass es (im Gegensatz zu dem,was nach der Faktur des Werks das Näherliegende wäre) ge-rade nicht à la française interpretiert werden darf. BachsWanderschaften machten den Thüringer mit der norddeut-schen Orgelmusik etwa eines Dietrich Buxtehude oder Jo-hann Adam Reincken bekannt. Er beherrschte sämtliche

43

musikalische Formen seiner Zeit. Doch bereits gegen Endeseines Lebens galt er als altmodisch: Für die mathematischpräzise Ordnung der Komposition etwa in den „Schübler-schen Chorälen“ oder die Kunst der Themenverarbeitung,sei es im „Musikalischen Opfer“, sei es in der unvollende-ten „Kunst der Fuge“, fehlte das Verständnis der Zeitgenos-sen; nach Bachs Tod im Jahr 1750 gerieten viele seinerWerke beim Publikum in Vergessenheit. Zwar haben sichdie besten Musiker der unmittelbaren Folgezeit wie Mo-zart und Beethoven stets mit Bach auseinandergesetzt –auch Beethovens Ausspruch „Nicht Bach, Meer müßte erheißen!“ ist ja allgemein bekannt –, doch sollte es bis1829 dauern, als der junge Felix Mendelssohn-Bartholdyzum ersten Mal seit fast 100 Jahren in Leipzig die „Mat-thäuspassion“ wiederaufführte und damit eine Bach-Re-naissance begründete. Dass Robert Schumann und Johan-nes Brahms unverkennbar von Bach beeinflusst sind,bedarf keiner Begründung; die musikalischen Zitate desMotivs B-A-C-H dokumentieren dies etwa im Adagio der5. Symphonie auch für Anton Bruckner und sogar im„Don Juan“ für Richard Strauss.

II.

Dieses kleine musikalische Präludium möge nur die Fach-perspektiven erweiternde Introduktion für einige Gedan-ken zum römischen Recht und der europäischen Rechts-kultur liefern. Denn die Funktion, die das monumentaleGesamtwerk Bachs für die europäische Musikkultur hat,zeigt gewisse Strukturparallelen zum Monumentalwerkder Digesten, dieser Sammlung des römischen Rechts, diedas Entstehen der europäischen Rechtskultur erst ermög-lichte. Anders als die Musik Bachs ist das römische Rechtaber im heutigen kulturellen Bewusstsein kaum präsent.

44

Hans-Dieter Spengler

Wer überhaupt von seiner Existenz weiß, verbindet es ten-denziell eher mit abstrakter juristischer Systematik undstaubtrockener Begrifflichkeit; älteren Juristen ist es viel-leicht auch das Synonym für Haarspalterei und Langeweilein Anfängervorlesungen. Diese Vorurteile möchte ich imFolgenden relativieren. Zu diesem Zweck sollen dreiAspekte des römischen Rechts betrachtet werden: zu-nächst das Werk, das die Bedeutung des römischen Rechtsfür die europäische Rechtskultur begründet hat, nämlichdie bereits erwähnten Digesten. Sie sind der Anfang derEntwicklung der europäischen Rechtskultur – das ist daszweite Thema – und zugleich Abschluss und Summe derjuristischen Kultur der Antike – das wird den dritten (undinteressantesten) Aspekt bilden.

III.

Die Digesten bilden den zweiten, umfänglichsten und wir-kungsmächtigsten Teil der sog. „Kodifikation“ des Rechts,die Kaiser Justinian I. in den Jahren 528 bis 534 n. Chr. vor-nehmen ließ und die seit 1583 als Corpus iuris civilis be-zeichnet wird. Der kulturelle Hintergrund dieser Rechts-sammlung lässt sich mit wenigen Worten umreißen: ZuBeginn des 6. Jahrhunderts n. Chr. herrschte im RömischenImperium eine gewisse Rechtsunsicherheit. Das lag haupt-sächlich daran, dass das geltende Recht nirgendwo „offi-ziell“ aufgezeichnet war. Deswegen konnte vor Gerichtimmer Streit um die Geltung eines Rechtssatzes oder einerRechtsnorm entstehen. Der Richter in der Provinz konntesich dabei, weil die entsprechenden Belegtexte kaum ver-fügbar waren, nicht darauf verlassen, dass die von den Par-teien vorgebrachten, ihrer Sache dienlichen Rechtsmei-nungen zutreffend und nicht gefälscht waren – anders alsheute war der Richter damals keine rechtskundige Person,

45

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

sondern die Parteien mussten ihm die Rechtsgrundlagenfür seine Entscheidung liefern. Kaiser Justinian I. fasstedeshalb den Plan einer umfassenden Zusammenstellungdes geltenden Rechts seiner Zeit. Im Rahmen dieses Pro-jektes entstanden drei Werke. Das erste, der von 528 bis529 durch eine Kommission ausgearbeitete und 534 revi-dierte Codex Iustinianus sammelte die noch brauchbarenkaiserlichen Erlasse, die sog. Kaiserkonstitutionen von Ha-drian bis Justinian, gegliedert in zwölf Bücher mit Sach-titeln; innerhalb der Titel wurden die Konstitutionen chro-nologisch angeordnet.

530 entschloss sich Justinian dann, auch das sog. Juris-tenrecht, das sich in den Schriften der römischen Juristenmanifestierte, die vom ersten vorchristlichen Jahrhundertbis etwa der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhun-derts wirkten, sammeln zu lassen. Die Organisation diesesVorhabens und umfassende Vollmachten zur Auswahl derMitarbeiter übertrug er seinem „Justizminister“ (quaestorsacri palatii) Tribonian, der sich bei der Erarbeitung desCodex besondere Verdienste erworben hatte und auf denvielleicht sogar die Anregung zu dieser Kompilation zu-rückgehen mag. Die Kommission setzte sich unter Triboni-ans Vorsitz aus dem magister officiorum Constantinus,den vier Rechtsprofessoren Dorotheus, Anatolius, Theo-philus und Cratinus sowie elf Anwälten zusammen. Vonihrer Tätigkeit her bezeichnet man die Kommissionsmit-glieder als Kompilatoren (von lateinisch compilare = aus-plündern, ausbeuten), da sie die klassischen Schriften zurSchaffung des neuen „Gesetzbuchs“ steinbruchartig aus-beuteten und aus den Juristenschriften Überflüssiges, Wi-dersprüchliches und Veraltetes tilgen sollten. Justinian be-richtet, die Kommission habe fast 2.000 Bücher (imantiken Sinn) mit 3.000.000 Zeilen gelesen und davon150.000 Zeilen (also etwa ein Zwanzigstel) übernommen.3

Ferner sollten die Kompilatoren, wenn notwendig, Textver-

46

Hans-Dieter Spengler

änderungen vornehmen (sog. Interpolationen), um die ex-zerpierten Juristenschriften dem Recht ihrer Zeit anzupas-sen.4 Das riesenhafte Projekt war bereits nach drei Jahrenfertig. Nach dem Vorbild hochklassischer Juristenschriftenträgt das am 30. Dezember 533 in Kraft getretene Werk denTitel Digesta oder (in griechischer Bezeichnung) Pandectae.Es beschäftigt sich zum weit überwiegenden Teil mit pri-vatrechtlichen Fragen.

Noch vor Vollendung der Digesten ließ Justinian unterLeitung von Tribonian durch die Rechtslehrer Theophilusund Dorotheus die Institutiones, ein amtliches Lehrbuch,verfassen. Dessen Hauptquelle bilden die Institutionendes Gaius, ein um 161 n. Chr. entstandenes, in vier Büchergegliedertes Lehrbuch für Studienanfänger, welches inleicht fasslicher Weise die Grundzüge des römischenRechts erläutert.5 Justinians Institutionen traten am glei-chen Tag wie die Digesten in Kraft und sind wie ihr Vorbildin vier Bücher (allerdings mit Titeln) eingeteilt.6

Auf sein neues Gesetzbuch, wie Justinian die Digestenausdrücklich bezeichnet,7 war er – selbst unter Berücksich-tigung der typischen byzantinischen Rhetorik der Einfüh-rungskonstitutionen zu denselben – ziemlich stolz. Erglaubte, alle Widersprüche und Unklarheiten im Rechtseien durch dieses Werk gelöst worden.8 Neue, im Gesetz-buch nicht geregelte Probleme sollten durch eine kaiser-liche Kommission entschieden werden.9 Überdies erließJustinian ein Kommentierungsverbot und ließ nur Wort-für-Wort-Übersetzungen ins Griechische sowie Inhalts-angaben (Parátitla) und Titelerläuterungen (Índikes) zu.10

Dieses Kommentierungsverbot dürfte allerdings mit derneueren Forschung nicht als Verbot des Verfassens selb-ständiger Erläuterungen zu den Digestentexten aufzufas-sen sein, sondern als Maßnahme zur Sicherung des Textesgegen Veränderungen: So bergen am Rand einer Hand-schrift angebrachte Erläuterungen eines autoritativen Tex-

47

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

tes die latente Gefahr in sich, bei der nächsten Abschriftderselben als Bestandteil des Textes aufgefasst, mit abge-schrieben und dadurch – fälschlich – in den Text inkorpo-riert zu werden.11 Eine solche Interpretation des Kommen-tierungsverbots ermöglicht es zugleich zu verstehen,warum Justinian dessen Übertretung mit Bestrafung wegenFälschung (crimen falsi) bedrohte.12

IV.

Justinian ließ die Digesten in lateinischer Sprache vonGriechen in griechischem Umfeld verfassen. Ihr unmittel-barer Einfluss auf das zeitgenössische Rechtsleben war ver-mutlich extrem gering: Zum einen stand die lateinischeSprache einer Verbreitung im Ostreich entgegen, zum an-deren entsprach das Niveau der Rechtskunde im Westteildes Reiches nicht den für das intellektuelle Verständnisder klassischen Rechtskunde notwendigen Standards –ähnlich „unverdaulich“ war der späte Bach für seine Zeit-genossen. Bezeugt ist, dass Justinian im Jahr 554 n. Chr.sein Gesetzgebungswerk auf Ansuchen des Papstes Vigi-lius nach Italien schickte. Die Digesten gerieten – wie-derum ähnlich dem Werk Johann Sebastian Bachs – alsbaldin Vergessenheit; de facto waren sie über 400 Jahre ver-schollen. So betrachtet gleicht es einem Wunder, dass esgerade ihnen vergönnt sein sollte, weltgeschichtliche Be-deutung zu erlangen.13

Wie kam es dazu? In Italien existierte eine zunächst inPisa, dann in Florenz aufbewahrte Digestenhandschriftaus dem 6. Jahrhundert, der Codex Florentinus. Von ihrgab es eine Abschrift, die etwa um die Mitte des 11. Jahr-hunderts in Bologna wiederentdeckt wurde und – das istweitaus wichtiger als das bloße Faktum der Wieder-entdeckung – verstanden werden konnte. Faktoren, die das

48

Hans-Dieter Spengler

Verständnis dieser intellektuell schwierigen Materie derDigestentexte beförderten, waren einerseits die Existenzder (erst in jüngster Zeit näher erforschten) langobar-dischen Rechtsschule zu Pavia, die die Institutionen undden Codex Iustinianus (sowie die justinianischen Novel-len) kannte, andererseits die logische Schulung durch diescholastische Theologie.14 Der Digestenfund leitete eineneue Blüte der Rechtswissenschaft ein. An der sich in Bo-logna gründenden Universität etablierte Irnerius (vermut-lich ein Rhetoriklehrer, † nach 1125) die Glossatorenschu-le, die die Texte der Digesten mittels exegetischer Methodewissenschaftlich behandelte und fortlaufend durch Rand-bemerkungen erläuterte. Dabei wurde der Text – vergleich-bar dem Bibeltext – als autoritativ aufgefasst und in demSinne verstanden, er enthalte ein einheitlich zu betrach-tendes und unmittelbar geltendes kaiserliches Recht – wasder kaiserlich propagierten Idee der translatio imperiii ent-sprach. So wurden auch die in den Digesten enthaltenenParallelstellen entdeckt und Widersprüche gesehen, letz-tere freilich sofort wieder mittels scharfsinniger distinctio-nes hinweggedeutet. Eine Reihe ähnlicher Rechtsschulenentwickelte sich alsbald in Oberitalien und Südfrankreich.Die Leistungen der Glossatoren, deren exegetische Quali-täten noch heute als unübertroffen gelten können, ver-einigt die Glossa ordinaria des Accursius († um 1265), dieihrerseits geradezu kanonisches Ansehen erlang.

Im 14. Jahrhundert wurde das in dieser Form betriebenerömische Recht von den sog. Kommentatoren wie Bartolusde Saxoferrato und Baldus de Ubaldis vermehrt den Legiti-mation durch Autoritäten suchenden Bedürfnissen despraktischen Rechtslebens Oberitaliens dienstbar gemacht.Mittels subtilster Unterscheidungen und teils sehr kühnerAnalogien konnten für Fragen des Handels- und Geldver-kehrs sowie des zwischen Angehörigen unterschiedlicherStadtstaaten anzuwendenden Privatrechts (nach heutiger

49

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

Terminologie des sog. Internationalen Privatrechts) prakti-sche Lösungen angeboten werden; die knappe, einzeltext-exegetische Glosse wurde dabei abgelöst vom sachmate-rienbezogenen Kommentar. Im Hinblick auf die erteiltenRechtsgutachten wird diese Epoche des 14./15. Jahrhun-derts auch als jene der „Konsiliatoren“ gekennzeichnet.15

Die Digestentexte wurden somit in der Nachfolge deritalienischen Rechtswissenschaft, wenn auch später mitunterschiedlichen Akzenten und verschiedenen Methodenim Laufe der Zeit an allen neu entstehenden UniversitätenEuropas gelehrt und bildeten überall die Grundlage der Ju-ristenausbildung. So entstand eine gemeineuropäischeRechtskultur, die das in den Digesten manifestierte römi-sche Recht als Ausgangspunkt nahm, es aber den sich wan-delnden Bedürfnissen der jeweiligen Zeiten anpasste. Manwird kaum fehlgehen, wenn man diesen anhand und imGeiste des Corpus iuris civilis erzogenen Studenten vom14. bis hin ins 18. Jahrhundert das Prädikat des im wahrenSinne des Wortes „europäischen“ Juristen verleiht – unddas lange Zeit vor der politischen Entwicklung hin zur eu-ropäischen Union. Vor diesem Hintergrund muss es gera-dezu als deplatziert und absurd bezeichnet werden, wennheute ausgerechnet unter dem Stichwort „Bologna-Pro-zeß“ ein einheitlicher europäischer Hochschulraum mitden angeblich „internationalen“ Abschlüssen Bachelorund Master unter Missachtung aller sachlich bedingtenUnterschiede der Lehrtraditionen politisch eingefordertwird, damit aber in Wahrheit einer dezidiert unwissen-schaftlichen reinen Fachausbildung an den Universitätendas Wort geredet wird. Inzwischen hat sich zwar die Er-kenntnis durchgesetzt, dass so gut wie alle Ziele dieses„Bologna-Prozesses“ – vermehrte Studierendenmobilität,internationale Anrechen- und Vergleichbarkeit der Stu-dienleistungen, kürzere Studiendauer, Reduzierung derStudienabbrecherquote – gescheitert sind, doch wird daraus

50

Hans-Dieter Spengler

leider noch nicht die Folgerung gezogen, dass der grund-legende Denkfehler des Konzepts darin besteht, unter ei-nem diffusen „Akademikerbegriff“ eine verschulte (aufneudeutsch: modulare) Berufsausbildung und den wissen-schaftlichen, d. h. methodisch geleiteten Erwerb der eigen-ständigen Denkfähigkeit zum Zweck der Lösung neuer,unbekannter Probleme in einen einheitlichen Hochschul-topf zu werfen – die Ungenießbarkeit des daraus gequirltenBreies dürfte selbst einem Hobbykoch unmittelbar ein-leuchten.

Doch zurück zum römischen Recht: In Frankreich er-lebte im 16. Jahrhundert die humanistische Jurisprudenz,welche die historischen Realitäten der Antike und die neu-gewonnenen Erkenntnisse der klassischen Philologie beider Interpretation der Quellen berücksichtigt, ihre höchsteBlüte; prominente Namen sind etwa Jacobus Cuiacius,Hugo Donellus und Antonius Faber. Diese Jurisprudenz er-laubte erstmals einen Blick auf die historische Tiefen-schichtung der Digesten und relativierte damit die – vonJustinian eingeforderte – „Autorität“ des Textes qua „Ge-setz“. Vor allem im Heiligen Römischen Reich deutscherNation ist das gelehrte römische Recht als geltendes Rechtübernommen worden, wie nicht zuletzt 1495 die hälftigeBesetzung des Reichskammergerichts mit römisch-recht-lich gebildeten, „gelehrten Richtern“ zeigt. Bei dieser Re-zeption handelte es sich aber um einen sehr vielschichtigenProzess, der hier nicht im Einzelnen dargestellt werdenkann.16 Nur so viel: Im 17. und 18. Jahrhundert entwickeltsich in Deutschland der sog. usus modernus Pandectarum,der römisches „gelehrtes“ Recht und überkommene Ge-wohnheiten miteinander zu verbinden versucht. Auch dieim Zuge der Aufklärung und des Naturrechts entstehendenPrivatrechtskodifikationen der Nationalstaaten wie dasPreußische Allgemeine Landrecht von 1794, der französi-sche Code civil von 1804, das österreichische Allgemeine

51

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

Bürgerliche Gesetzbuch von 1811 oder später das schweize-rische Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht sind inhalt-lich weitgehend vom römischen Recht beeinflusst worden –etwa der Code civil von den Lehren des bedeutenden franzö-sischen Römischrechtlers Pothier.17 In besonderem Maßegilt dies für das deutsche BGB, das seit 1. Januar 1900 inKraft ist. Es ist ein Produkt der sog. Pandektistik, der Wis-senschaft vom römischen Recht, die sich im 19. Jahrhun-dert vor allem unter dem Einfluss der von Friedrich Carlvon Savigny begründeten historischen Rechtsschule ent-wickelte und durch Juristen wie Georg Friedrich Puchta,Rudolf von Jhering und vor allem Bernhard Windscheid zurVollendung geführt wurde. Die historische Rechtsschulesuchte, den historisch gewachsenen brauchbaren Anteildes römischen Rechts zu analysieren und durch eine vonden römischen Quellen völlig abstrahierende Systematikzu einer präzisen Begrifflichkeit zu gelangen. Diese begriff-liche Präzision ist im BGB mit seiner Voranstellung der all-gemeinen Materien vor ihren besonderen Ausprägungen ingeradezu extremer Weise verwirklicht worden – und berei-tet nicht nur dem Studienanfänger Verständnisschwierig-keiten. Insbesondere im Allgemeinen Teil, im Schuldrecht,im Mobiliarsachenrecht und Erbrecht hat sich das Gesetzbisher nur wenig geändert.18 Und sogar über Europa wirktdas römische Recht mittelbar hinaus: So beruht etwa das ja-panische Zivilgesetzbuch auf einer Auseinandersetzungmit der französischen und der deutschen Kodifikation; dieTürkei hat sich am schweizerischen Recht orientiert; La-teinamerika rezipierte das spanische Recht, das wiederumzur Familie des französischen Code civil gehört.

Demnach lässt sich konstatieren, dass die meisten euro-päischen oder von Europa beeinflussten Rechtsordnungen(mit Ausnahme der Gerichtspraxis in England und –konsequenterweise – in den USA) römischen Rechtsvor-stellungen verpflichtet sind. In England beruhte die Ableh-

52

Hans-Dieter Spengler

nung auf einer bewussten Abgrenzung des vor Gerichtpraktizierenden Juristenstandes von den Methoden desfremden Rechts – mögen auch manche Merkmale der eng-lischen, eher der Lösung des Einzelfalls als der Herausbil-dung eines stringenten Systems verpflichteten Rechtswis-senschaft strukturell an die Argumentationsweise derklassischen römischen Juristen erinnern. Seit Bologna be-wegt sich somit der privatrechtliche juristische Diskurs inKontinentaleuropa auf den von den Digesten vorgezeichne-ten Bahnen.

V.

Mit diesem kurzen Abriss sei die Formierung der europäi-schen Rechtswissenschaft und -kultur anhand des römi-schen Rechts, sprich der Digesten, beschrieben. Plakativgesprochen: Die Digesten sind der Anfang der europäischenRechtskultur. Deswegen wurde bisher auch immer ein-heitlich von „den Digesten“ gesprochen. Wie eingangs ver-sprochen, sei nun die andere Seite der Medaille betrachtet:Die Digesten sind nicht nur der Anfang der europäischen,sondern Ende und Summe der antiken römischen Rechts-kultur; sie haben quasi alle vorherigen juristischen Er-kenntnisse in sich aufgesogen.

1. Äußerlich sind sie in 50 Bücher eingeteilt, die (mitAusnahme von Buch 30–32) in Sachtitel unterteilt sindund sich, wie bereits gesagt, zum weit überwiegenden Teilmit dem Privatrecht beschäftigen.19 Die Titel bestehen ausden Fragmente oder leges genannten Exzerpten der Juris-tenschriften, denen jeweils das Zitat des Juristen mit Titelund Buchziffer seiner Schrift, die sog. inscriptio, voran-gestellt ist; längere Fragmente werden seit dem Mittelalterin Paragraphen unterteilt. Nur dem glücklichen Umstand,dass die Kompilatoren, einer entsprechenden Anweisung

53

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

Justinians (bzw. einem Einfall Tribonians)20 folgend, mitder inscriptio den Namen und das Werk des exzerpiertenJuristen bewahrt haben, ist es zu verdanken, dass eine his-torische Durchdringung des römischen Rechts möglich ist.

Die Vollendung des gewaltigen, ca. 1.000 moderneDruckseiten umfassenden Projekts in nur drei Jahrengrenzt an ein Wunder. Sie stellt eine organisatorische Meis-terleistung Tribonians dar, deren Einzelheiten allerdingsnach dem Stand der Überlieferung nicht vollständig re-konstruiert werden können. Sicher ist, dass er die vorhan-denen ca. 2.000 Juristenschriften nach Sachgebieten in drei„Massen“ (die sog. Sabinusmasse, Ediktsmasse und Papini-ansmasse, hinzu trat im Laufe der Kompilation noch einAnhang, die sog. Appendixmasse) teilen ließ. Dabei dürftendie einzelnen Massen von je einer Unterkommission bear-beitet worden sein, welche die Texte den jeweiligen Diges-tentiteln zuwies. Im Rahmen dieser Arbeit wurden ins-besondere die verschiedenen Großkommentare, etwa zumprätorischen Edikt oder zu den Schriften des Sabinus, paral-lel gelesen und exzerpiert. Details zur Arbeit dieser Unter-kommissionen sind nicht mit Sicherheit erkennbar.21 Ver-schiebungen einzelner Fragmente innerhalb der einzelnenMassen oder über die Massengrenzen hinaus zeigen, dassdie Digestentitel nach einer anschließenden Redaktion derExzerpte endgültig fertiggestellt wurden.

Mit den Digesten hat Tribonian eine Summe des römi-schen Rechts geschaffen und das Juristenrecht der Nach-welt bewahrt; außerhalb der justinianischen Kompilationsind nur ganz spärlich Fragmente römischer Juristen über-liefert. Bei der Kompilation gingen zwar – es wurde bereitserwähnt, dass die Kompilatoren von den vorgefundenen3.000.000 Zeilen 150.000 übernahmen – vermutlich weitüber 90 % der Juristenliteratur durch die justinianische„Schere“ verloren; eine andere Frage ist indes, ob mit die-sem erheblichen Verlust an Masse auch ein ebenso großer

54

Hans-Dieter Spengler

Verlust an (sit venia verbo) Klasse verbunden war. Das wirdman vorsichtig verneinen dürfen. Denn bei der Kompila-tion scheinen vor allem zahlreiche Juristenkontroversenaus den Texten getilgt worden zu sein. Das beweisen einigeDoppelüberlieferungen vor allem durch Papyrusfunde, dieuns eine Konfrontation der meist ausführlicheren Text-gestalt des Papyrus mit der Digestenversion gestatten. DesWeiteren lässt sich vermuten, dass die diversen juristi-schen Großkommentare weitgehend dasselbe „Material“enthielten und es insofern von minderer Bedeutung war,aus welchem Kommentar die Kompilatoren die Exzerpteentnahmen – eine Hypothese, die zumindest durch dieLektüre moderner juristischer Lehrbücher und Kommen-tare nur gestützt werden kann. Das schließt allerdingsnicht aus, dass einzelne Juristen unterschiedliche Akzentein ihrer jeweiligen Darstellung setzten.

2. Für die rechtskulturelle Bedeutung der Digestenwichtiger als die Frage nach den Einzelheiten ihrer Entste-hung ist allerdings die Frage nach ihrem Inhalt. Mit ande-ren Worten: Was verbirgt sich hinter den bisher pauschal„Juristenschriften“ genannten Texten? Damit untrennbarverbunden ist die Frage nach der „Rechtsqualität“ der Juris-tenschriften.

Hierzu ist Folgendes festzustellen: Das römische Rechtmanifestiert sich sowohl hinsichtlich seiner Entwicklungwie auch der Ergebnisse hauptsächlich in den Schriftender römischen Juristen. Sie stellen dessen Substrat dar.Die Schriften, deren Fragmente in den Digesten enthaltensind, sind frühestens in spätrepublikanischer Zeit (Q. Mu-cius Scaevola, Alfenus Varus, Aelius Gallus) entstandenund reichen bis zur Mitte des 3. Jahrhundert n. Chr. Zwi-schen ihrer Abfassung und der justinianischen Kompila-tion liegen demnach mindestens drei Jahrhunderte. DieserUmstand rückt die klassizistische Haltung Justinians beiseiner Kompilation in besonders helles Licht.

55

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

Die Eigenart der Juristenschriften kann nur erfasst wer-den, wenn man die Aufmerksamkeit kurz auf die Methodeder römischen Rechtsfindung richtet. Heutzutage ist dieRechtsfindung verhältnismäßig einfach und lässt sich mitdem Bonmot umschreiben, dass sie durch einen Blick insGesetz erleichtert wird. Sie stellt sich damit heute vor-nehmlich als eine Frage der Subsumtion des Sachverhaltsunter eine vorgegebene Norm dar. Für Rom gilt das kaum.Denn dort gab es vor Justinians Zeiten keine Kodifikationdes Privatrechts, die einem modernen Gesetzbuch auchnur annähernd vergleichbar gewesen wäre; insbesonderedas von Livius als „Quelle allen öffentlichen und zivilenRechts“ betrachtete Zwölftafelgesetz aus den Jahren451/450 v. Chr. enthielt nur unsystematische und sekto-rielle Regelungen. Das römische Privatrecht war weitest-gehend unnormiert; insgesamt sind für die Zeit der Repu-blik nur etwa 30 privatrechtliche Gesetze bekannt, diemeist wortreich Einzelfragen regelten. Die Fortentwick-lung des Privatrechts geschah dagegen mittels der fallbezo-genen Gewährung von Rechtsschutz durch den dafür zu-ständigen Magistrat, den praetor. In dem sog. Edikt, dasjeder Prätor zu Beginn seiner Amtstätigkeit erließ, sinddie Rechtsschutzverheißungen aufgezeichnet; es wurdefür den Bürger sichtbar auf dem forum aufgestellt. Dabeibildete sich im Lauf der Zeit die ständige Praxis heraus,dass der jeweilige Amtsträger das Edikt seines Vorgängersübernahm; insofern spricht man vom edictum translatici-um. Der praetor hatte dabei im Zuge der Konsolidierungder römischen Republik die pontifices, die Oberpriester,als Jurisdiktionsorgan abgelöst, womit es zu einer „Ver-weltlichung“ des Rechtswesens kam. Er war jedoch kein„Jurist“ im modernen Sinn, sondern ein auf ein Jahr ge-wählter politischer Beamter. Die Rechtsentwicklung voll-zog sich – etwas plakativ gesprochen – seit der verfestigtenRepublik bis hin zur endgültigen Ediktsredaktion durch

56

Hans-Dieter Spengler

den Juristen Salvius Iulianus zur Zeit Kaiser Hadrians vorallem durch die Erfindung von Prozessformeln, die dasStreitprogramm zwischen Kläger und Beklagtem in knap-per Form zusammenfassten.22 Bei ihren Entscheidungen,der Abfassung und der Auslegung der Prozessformeln lie-ßen sich die Prätoren, römischer Mentalität entsprechend,von einem Kreis fachkundig sich mit dem Recht befassen-der Personen, eben den „Juristen“ im antiken Sinne, bera-ten. Als solche waren diese Juristen Privatleute, derenAutorität alleine auf ihrer Fachkenntnis beruhte. Ihre pri-mären Tätigkeiten waren neben der Entwicklung der Pro-zessformeln (agere) vor allem cavere und respondere, d. h.die Entwicklung von Vertragsformularen und die Erteilungvon Rechtsgutachten.

Während von den republikanischen Juristen allenfallseinzelne Fragmente oder verstreute Äußerungen aus zwei-ter Hand erhalten sind, bessert sich die Überlieferung seitdem Prinzipat. So lassen die Digesten durch viele Zitatespäterer Juristen erkennen, dass insbesondere bei dem zuAugustus‘ Zeiten wirkenden Labeo die Rechtsbegriffe einegewisse Verfestigung erfahren. Eine absolute Hochblüteentfaltet die „hochklassische“ Jurisprudenz in der erstenHälfte des 2. Jahrhundert n. Chr.; ihren Protagonisten Ju-lian und Celsus gebührt das Verdienst, viele juristischeStreitfragen in mustergültiger Klarheit formuliert und mitüberzeugenden Argumenten (meist sogar endgültig) ent-schieden zu haben. Es ist der ständigen, mit den Mittelnder griechischen Wissenschaftstheorie geführten Diskus-sion der römischen Juristen untereinander über die zutref-fende Interpretation des Rechtsstoffes zu verdanken, dasssich im Laufe der Jahrhunderte eine kontinuierlich fort-schreitende iuris prudentia, eine Wissenschaft vom Recht,herausbildete. Eine solche Rechtswissenschaft hat sich nurin Rom und nirgendwo sonst in der Antike entwickelt; ichhabe diesen Prozess und die ihn ermöglichenden Faktoren

57

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

kürzlich als den „juristischen Urknall“ bezeichnet.23 Aus-drücklich sei hier betont, dass es sich bei den römischenJuristen um einen zahlenmäßig geringen, geradezu elitärenKreis von Personen handelt. Insbesondere passt das moder-nen Vorstellungen folgende Bild, jeder Anwalt oder Richtersei Jurist, nicht im Geringsten für Rom. Selbst Cicero, be-kanntermaßen der bedeutendste Redner Roms, ist als Ad-vokat kein „römischer Jurist“ im technischen Sinne undwird von den Juristen nur als Literat, nicht aber als gleich-berechtigter Partner im Diskurs zitiert.24 Die von den Juris-ten gefundenen Ergebnisse widerspiegeln sich in ihrer Lite-ratur, in der – gerade zur Zeit der Hochklassik – die auf derEntscheidung praktischer Fälle basierenden Gutachten-sammlungen (responsa oder digesta) eine dominante Rolleübernehmen. Seit der Zeit des Augustus war es üblich, aus-gewählten Juristen als Privileg das ius respondendi exauctoritate principis zu erteilen; deren Gutachten hattengesetzesgleiche Wirkung. Die Epoche der Spätklassik ten-diert dazu, die bisher vor allem aus der Kasuistik gewonne-nen Ergebnisse einerseits durch Differenzierungen zu ver-feinern, andererseits zu systematisieren. Angereichertwerden die Fallentscheidungen durch theoretische Erörte-rungen und die Diskussion erfundener Fälle, die vor allemin sog. quaestiones und disputationes überliefert sind.Schon die Antike rühmte die Quaestionen Papinians (er-mordet 212/213), der vielen als der bedeutendste Juristüberhaupt gilt. Paulus (ca. 160 – ca. 230) und Ulpian (ca.170 – ermordet 223) zeichnen sich insbesondere durch rie-senhafte Großkommentare zum prätorischen Edikt aus;dabei scheint Paulus eher einer eigenwilligen selbständi-gen Dogmatik zuzuneigen, während Ulpian meist unterverschiedenen Ansichten eine pragmatische „Mittel-lösung“ vertritt. Die beiden zuletzt genannten Autorenstellen auch die am häufigsten exzerpierten Juristen dar;aus Ulpians Feder stammen etwa ein Drittel, aus der des

58

Hans-Dieter Spengler

Paulus ein Sechstel der in die Digesten übernommenenTexte.

3. Damit sei der letzte Aspekt angesprochen: Wiekonnte gerade dieses im Diskurs der römischen Juristenentwickelte Recht, das zur Lösung der Rechtsstreitigkeitenihrer Zeit, d. h. für die antike römische Gesellschaft erson-nen wurde, eine derartige geistige Übermacht gewinnen,die seine europaweite Anwendbarkeit vom Mittelalterüber Renaissance, Aufklärung, Nationalismus, Monarchieund Republik bis hin in die heutigen Tage ermöglichte?Um nur das deutsche BGB als Beispiel des am meisten ro-manistisch geprägten modernen Gesetzbuchs zu nehmen:Es lieferte und liefert die Privatrechtsordnung für fünf un-terschiedliche Gesellschaftssysteme in Deutschland: fürdas Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Zeit des Natio-nalsozialismus, die Bundesrepublik und (bis 1975) auch fürdie DDR.

Die Antwort auf diese Frage hängt mit dem Umstandzusammen, dass es in Rom verschiedene, sich über-lagernde Rechtsschichten gab. Das altrömische ius civile,das sich in den Zwölftafeln, hergebrachten Formeln undRiten manifestiert wie etwa der mancipatio – einem förm-lichen Erwerbsakt, bei dem Veräußerer, Erwerber, fünfmündige römische Bürger als Zeugen und ein Waagehalterzugegen sein mussten und bei welchem unter Aufsagenspezifischer Worte der Erwerber sein Eigentum an der ge-kauften Sache behauptete sowie der Preis dem Veräußererursprünglich real in Kupfer zugewogen wurde; später,nach Erfindung des Münzgelds, wurde die reale Zahlungzwecks Einhaltung der Form fiktiv durch die Übergabe ei-ner einzelnen, wertlosen Kupfermünze ersetzt – dieses alt-römische ius civile hätte sich sowohl wegen seiner Förm-lichkeit, seiner Geltung nur für römische Bürger als auchwegen seiner Lückenhaftigkeit nie und nimmer für eineeuropaweite Rezeption geeignet.25

59

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

Der Aufstieg Roms zur führenden Handels- und Kapital-macht im Zuge der punischen Kriege erforderte es aber, deminternationalen (See-)Handelsverkehr rechtliche Konturenzu geben – für die bäuerlich strukturierte Gesellschaft derFrühzeit war dies noch kein Thema von Bedeutung gewe-sen. Daher schufen die Römer 242 v. Chr. für den Verkehrmit Fremden, d. h. Personen, die nicht das römische Bürger-recht besaßen, eine spezielle Magistratur, den sog. praetorperegrinus. Diese Tat führte zur Erfindung einer völligneuen Rechtsordnung, die neben das überkommene ius ci-vile trat, es in vielen Punkten ablösen sollte und die auf ra-dikal neuartigen Prinzipien beruhte. Dieses Recht war, wiegesagt, schon nach seinem Ausgangspunkt von der Verkop-pelung der Rechtsträgerschaft mit der Staatsbürgerschaft ge-löst, behandelte den freien Menschen26 also als Individuum.Die neue Rechtsordnung bezeichnen die Römer als das sog.ius gentium, das Gaius mit den unvergleichlichen Wortencharakterisiert: „quod vero naturalis ratio inter omnes ho-mines constituit, id apud omnes populos peraeque custodi-tur vocaturque ius gentium“ („was aber die natürliche Ver-nunft unter allen Menschen festgesetzt hat, das wird beiallen Völkern in gleicher Weise beachtet und ius gentiumgenannt“).27 Um der Gefahr eines modernen Missverständ-nisses vorzubeugen: ius gentium in diesem Sinne hat nichtsmit „Völkerrecht“ zu tun, da es sich gerade nicht um zwi-schenstaatliches Recht handelt, sondern um eine (Pri-vat-)Rechtsordnung, die für alle Menschen unabhängig vonihrer Nationalität gilt. Und um ein zweites mögliches Miss-verständnis auszuräumen: Dieses ius gentium ist genuin rö-misches Recht, von Römern ersonnen, fortgebildet, zur Per-fektion gebracht.28

Das eigentliche Charakteristikum des ius gentium stelltdie Ermöglichung der Klagbarkeit formlos abgeschlossenerVerträge dar. Gerade die wichtigsten Verträge im Wirt-schaftsverkehr wie Kauf-, Miet-, Pacht-, Dienst- und Werk-

60

Hans-Dieter Spengler

vertrag, Auftrag und Gesellschaft werden ohne Einhaltungirgendwelcher Formen oder Rituale als gültig und klagbarbetrachtet, wenn sich nur die Parteien einig sind.29 Nichtmehr die Beachtung der Form begründet die Verpflichtung,sondern der Konsens – damit wird der Gedanke der Privat-autonomie zur Vollendung gebracht.30 Als Grundlage fürdie Klagbarkeit betrachtete man die fides. Es fällt schwer,das hinter diesem Wort stehende Konzept in der deutschenSprache adäquat wiederzugeben; die übliche Übersetzungmit „Treue“ bringt juristisch wenig. Vielmehr ist ein Kon-zept der gegenseitigen Verlässlichkeit gemeint. Wenn ichmeinem Geschäftspartner fides entgegenbringe, bedeutetdas, dass er sich auf mein gegebenes Wort verlassen darf,und umgekehrt, dass ich mich auf sein gegebenes Wort ver-lassen darf, und weiterhin, dass sowohl er als auch ich er-warten können, dass sich der jeweils andere darauf verlässt.Es geht also um die Verlässlichkeit in Verbindung mit einerdahinterstehenden Erwartungshaltung, mit anderen Wor-ten: um Vertrauensschutz. Diese fides erlaubte zunächstdie Klagbarmachung der genannten Verträge (sprich Kauf,Miete, Auftrag, Gesellschaft etc.); später wurde die bona fi-des, der Grundsatz der Redlichkeit bzw. von Treu undGlauben, auch zum Maßstab der inhaltlichen Auslegungder vertraglichen Pflichten. Dementsprechend lautet dieProzessformel der einschlägigen Klagen (also die der actio-nes empti, locati, mandati etc.) in dem Teil, in dem derKläger sein Begehren gegenüber dem Beklagten geltendmacht, „quidquid dare facere oportet ex fide bona“ („wasauch immer der Beklagte zu geben und zu leisten verpflich-tet ist nach Treu und Glauben“). Damit erklärt sich auchheute noch die Sonderstellung des Prinzips von Treu undGlauben am Anfang des Schuldrechts in § 242 BGB, nachdem der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung so zu be-wirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Ver-kehrssitte es erfordern. Treu und Glauben, Vertrauens-

61

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

schutz und Privatautonomie – diese drei Grundpfeiler un-seres Privatrechts – wurzeln also im römischen ius genti-um. Die gegenseitige Verlässlichkeit bildet nach dieserVorstellung die Basis für die Ausgestaltung der vertragli-chen Rechtsbeziehungen. Diese drei Prinzipien haben so-wohl einzeln als auch in ihrem Zusammenwirken einedurchschlagende rechtsethische Überzeugungskraft, sodass sie die absolut notwendigen Grundlagen für jeglichesPrivatrecht bilden, das den Namen „Recht“ verdient. Undeben dieses rechtskulturelle Erbe schenken uns – nebenvielen anderen schlicht und einfach richtigen juristischenErkenntnissen – die in den Digesten überlieferten Texte.Insoweit bilden sie das antike Vermächtnis juristischenDenkens, das die Entwicklung einer europäischen Rechts-kultur erst ermöglichte – wenn auch mit einer zeitlichenVerzögerung zwischen Justinian und Bologna. Durch dieDigesten lernte Europa, juristisch zu denken.

VI.

Bevor abschließend die Frage gestellt werden soll, was fürdie Zukunft von diesem universalen Kulturerbe bleibt, ge-statten Sie mir bitte einen eher demütigen Hinweis auf dieglücklichen Fügungen des Schicksals, das uns die Gedankender römischen Juristen überliefert hat. Die Digesten selbstsind nur durch eine einzige antike Handschrift, die vermut-lich irgendwo in Italien seit dem Ende des 6. Jahrhunderts ineiner Klosterbibliothek schlummerte, auf uns gekommen.Diese Handschrift hätte ebenso gut verbrennen könnenoder als unverständlicher und unbrauchbarer Text infolgedes Pergamentmangels abgeschabt und wiederverwendetwerden können und wäre damit entweder endgültig oderbis zur Möglichkeit der Lesbarmachung von Palimpsestenim 19. Jahrhundert verschwunden gewesen. Ebenso wenig

62

Hans-Dieter Spengler

sollen zwei „dramatische“ Aspekte aus dem 6. Jahrhundertverschwiegen werden: Der Nika-Aufstand gegen Justinianim Jahre 532 hätte auch erfolgreich sein und mit dessen Er-mordung enden können – damit wäre das Kodifikationspro-jekt vermutlich erledigt gewesen. Und im Jahre 551, nur 18Jahre nach der Vollendung der Digesten wurde die Stadt Be-rytos, der Sitz der bedeutendsten damaligen Rechtsschulesowie der umfassendsten Bibliothek juristischer Werke, beieinem verheerenden Erdbeben vernichtet. Ohne die justi-nianische Kompilation wären die Juristenschriften und da-mit das römische Recht wohl vollständig und endgültig ver-loren gegangen. Denn die von den Digesten unabhängigesonstige Überlieferung römischer juristischer Texte ist –mit Ausnahme der aber erst 1816 auf einem Palimpsest wie-derentdeckten Gaius-Institutionen – so marginal, dass sichaus ihr kaum ein auch nur einigermaßen den Umfang undgeistigen Reichtum der römischen Jurisprudenz erschließenlassendes Bild gewinnen ließe.

Was aber bleibt auch heute, trotz der Vielzahl nationalereuropäischer Gesetzbücher und einer überwucherndenNormsetzung durch die Europäische Union, vom Erbe derrömischen Juristen übrig? Kann es heute noch etwas vermit-teln, das in einem recht vagen Sinne verwend- oder verwert-bar ist? Zu banal erscheint die oberlehrerhafte Antwort, dassauch wir Computer und Autos nach Grundsätzen kaufen,übereignen oder vererben, die schon von den Römern erson-nen worden sind. Wichtiger ist die Denkschulung, die vonden Texten des römischen Rechts ausgeht, da sie juristischeProbleme, modern gesprochen, „auf den Punkt zu bringen“vermögen und diese mit rationalen Argumenten zu lösenversuchen. Daran schließt sich die Feststellung an, dass esdem am römischen Rechtsdenken Geschulten leichter fal-len dürfte, die spezifischen Kennzeichen einer Rechtsord-nung im Vergleich zu denen anderer normativen Systemezu erfassen, zu würdigen und diese Erkenntnis entsprechend

63

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

zu nutzen. Ein dritter Gesichtspunkt wäre die sich bei derBeschäftigung mit den Digesten zeigende Einsicht, dass Ein-seitigkeiten bei der Lösung von Rechtsfällen dadurch ver-mieden werden können, dass et altera pars audiatur, dassauch das Argument der Gegenseite gehört und berücksich-tigt werden soll. Anlass zu Bedenken müsste ferner der Um-stand geben, dass bisher nur totalitäre Systeme wie der Na-tionalsozialismus oder der Sowjetkommunismus demrömischen Recht feindlich gesinnt waren und es – letztlicherfolglos – von den Universitäten vertreiben wollten.31 Dievon primitiven utilitaristischen Erwägungen getragene öko-nomistische Diskussion der letzten 15 Jahre zur Entschla-ckung der juristischen Studienpläne von Überflüssigem,die zur Streichung bzw. Umwidmung von römischrecht-lichen Lehrstühlen führte, übergehe ich als Mode des Zeit-geistes mit dem Hinweis auf Goethe, der das römischeRecht mit einer Ente verglich, die zwar manchmal ab-, aberimmer wieder auftaucht.32

Als langsam alt werdender Professor kann ich mich beider Lektüre des jüngeren zivilrechtlichen Schrifttums gele-gentlich darüber amüsieren, mit welchem Begründungs-aufwand, typischerweise unter Heranziehung anglo-ame-rikanischer Literatur, Probleme konstruiert und einerLösung zugeführt werden, die man mit etwas Spürsinnebenso gut und einfacher im römischen Recht finden könn-te. Doch ist auch das nicht ein spezifisch juristisches, son-dern ein allgemeines kulturelles Problem. So schrieb dereingangs zitierte Max Reger 1891 im jungen Alter von 18Jahren an seinen Lehrer Adalbert Lindner:33 „Aber glaubenSie mir, all die harmonischen Sachen, die man heutzutagesucht zu erfinden u[nd] die man als so großen Fortschrittanpreist, die hat unser großer unsterblicher Bach schonlängst u[nd] viel schöner gemacht! Gewiß!“ Der Oberpfäl-zer Reger, für seine Neigung zu derbem Humor und mar-kanten Sprüchen bekannt, hätte, wäre er Jurist gewesen,

64

Hans-Dieter Spengler

das Verhältnis von Invention und Tradition vielleicht fol-gendermaßen im besten Bayerisch charakterisiert: „Bevorses Radl neu erfindn tuts, schauts halt vorher amal in d‘ Di-gestn eini.“

Anmerkungen* Die folgenden Überlegungen wurden vorbereitet durch zwei Stu-dien zum Corpus iuris civilis; vgl. Hans-Dieter Spengler, Art.‹Corpus iuris civilis›. In: O. Schütze (Hrsg.): Metzler-Lexikon anti-ker Autoren, Stuttgart 1997, S. 188–192 und ders., Höhepunkteder Rechtskultur: Das Corpus iuris civilis. In: K. Brodersen(Hrsg.): Höhepunkte der Antike, Darmstadt 2006, S. 216–229. Die-sen Beiträgen, auf die insgesamt verwiesen sei, sind die hier zumThema genannten Fakten entnommen. Der Vortragsstil wurde imFolgenden beibehalten. Die sonstigen Literaturhinweise beschrän-ken sich bewusst auf die gängigen Referenzwerke. Für zahlreicheGedanken und Anregungen sowie die kritische Durchsicht des Ma-nuskripts danke ich meinen Mitarbeiterinnen Dr. Anja Steiner undNikola Galaboff.1 Op. 75 Nr. 14.2 Vgl. die Reproduktion der Eintragung bei Else von Hase-Koehler(Hrsg.): Max Reger. Briefe eines deutschen Meisters, Leipzig 1928,S. 148.3 Const. Tanta 1.4 Die Bedeutung der Interpolationen (mit all ihren Konsequenzenfür das Verhältnis vom justinianischen zum klassischen römi-schen Recht) dürfte von der Forschung am Ende des 19. und in derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mangels weniger sicherer Inter-polationskriterien weit überschätzt worden sein. Vgl. dazu nur dieBemerkungen bei Wolfgang Kunkel / Martin Josef Schermaier,Römische Rechtsgeschichte, 13. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2001,S. 218ff.; Wolfgang Waldstein / J. Michael Rainer, RömischeRechtsgeschichte, 10. Aufl., München 2005, S. 247ff.5 In ihm hat Gaius offenbar als erster eine sachlogische Systematikim Hinblick auf die Stoffanordnung geschaffen, die jeder rationalenRechtsordnung bis heute notwendigerweise zugrunde liegt und da-her den Aufbau vieler moderner Privatrechtsgesetzbücher beein-flusst hat: die Einteilung in personae (Personen oder Rechtssubjek-te: diejenigen, die Träger von Rechten sein können), res (Sachen

65

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

oder Rechtsobjekte: Gegenstände, an welchen man Rechte habenkann) und actiones (Klagemöglichkeiten oder – unter anderer Per-spektive betrachtet – Rechtsverhältnisse).6 Mit dem Abschluss des Codex hatte sich Justinians gesetzgeberi-sche Tätigkeit aber nicht erschöpft; vor allem zum Familien- undErbrecht, Kirchen- und Verwaltungsrecht ergingen neue Gesetze,zumeist in griechischer Sprache. Diese Novellae (leges) (Novellen)wurden jedoch nicht mehr amtlich gesammelt, sondern sind nur ineiner Reihe privater Zusammenstellungen wie etwa einer grie-chischen Sammlung von 168 Novellen, der lateinischen sog. Epi-tome Juliani, oder dem Authenticum überliefert.7 etwa Const. Tanta 10 im Hinblick auf die Autoren der Fragmente:qui auctor legis fuit; ebd. 23: Leges autem nostras …8 Const. Tanta 15.9 Const. Tanta 18.10 Const. Tanta 21.11 Vgl. insbesondere – unter Rückgriff auf Scheltema – TammoWallinga, Tanta / Dédoken, Groningen 1989, S. 111ff.12 Const. Tanta 21.13 Zum Folgenden statt aller die nach wie vor grundlegende Dar-stellung von Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,Göttingen 1967. Noch immer höchst lesenswert ist die – unterdem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe des zweiten Welt-kriegs und des Nationalsozialismus geschriebene Darstellung vonPaul Koschaker, Europa und das römische Recht, 1. Aufl., Mün-chen/Berlin 1947; 4. Aufl. 1966. Aus der Perspektive der Nachwir-kungen des römischen Rechts behandelt das Thema jüngst derschöne Beitrag von Reinhard Zimmermann, Römisches Rechtund europäische Kultur, Juristenzeitung 1 (2007), S. 1–12.14 Kunkel / Schermaier (wie Anm. 4), S. 229.15 So vor allem Wieacker (wie Anm. 13), S. 80ff.16 Zu den Einzelheiten vgl. etwa Wieacker (wie. Anm. 13), S. 97ff.;Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte,10. Aufl., Heidelberg 2005, S. 5ff.17 Eckhard Maria Theewen, Napoléons Anteil am Code civil, Ber-lin 1991, S. 252f.; Schlosser (wie Anm. 16), S. 130.18 Auch die am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Schuldrechts-reform hat – vermutlich sogar entgegen der erklärten Absicht man-cher ihrer Verfasser, die „römische Zöpfe“ abschneiden wollten –

66

Hans-Dieter Spengler

in einigen Bereichen eine Wiederannäherung an flexible Musterdes römischen Rechts bewirkt.19 47 von 50 Büchern sind privatrechtlichen Fragestellungen gewid-met, drei dem Straf- und Verwaltungsrecht; Buch 1 und 50 enthal-ten zudem allgemeine Gedanken, Worterklärungen (D. 50.16) undRechtsregeln (D. 50.17).20 Const. Tanta 10.21 Tony Honoré hat (in Zusammenarbeit mit Alan Rodger) einengeistreichen, aber höchst spekulativen Versuch unternommen,dieses Rätsel zu lösen. Seine Thesen haben sich zwar nicht durch-gesetzt, immerhin konnte Honoré aber zeigen, dass bei Zugrunde-legung einigermaßen plausibler Arbeitshypothesen die Aufgabe in-nerhalb der drei Jahre bewältigt werden konnte; vgl. Tony Honoré,Tribonian, London 1978.22 Entsprechend der Zweiteilung des römischen Zivilverfahrens indie Phase in iure (vor dem Magistrat) und apud iudicem (vor demRichter) war der Prätor als Gerichtsmagistrat für die verfahrensein-leitenden Schritte bis hin zur genauen Festlegung des Streitpro-gramms in der Prozessformel zuständig. Über die Frage, ob die inder Prozessformel festgehaltenen, abstrakt formulierten Voraus-setzungen für den Erfolg der Klage tatsächlich gegeben waren(sprich: die Beweiserhebung), hatte dann in einem zweiten Verfah-rensabschnitt der Richter – er war keine beamtete Person, sondernein Privatmann („Geschworener“) – zu entscheiden. Vgl. nur MaxKaser / Karl Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Mün-chen 1996, S.151ff.; S. 308ff.23 Hans-Dieter Spengler, Der juristische Urknall. In: Helmut Neu-haus (Hrsg.): Lauter Anfänge, Erlangen 2008, S. 103ff.24 Vgl. Dieter Nörr, Cicero-Zitate bei den klassischen Juristen. In:Ders.: Historiae iuris antiqui, Bd. 2, Goldbach 2003, S. 1187, S. 1222f.25 Zur mancipatio s. nur Max Kaser, Das römische Privatrecht, Bd.1, 2. Aufl., München 1971, S. 41ff.26 Sklaverei ist zwar ein gemeinantikes Phänomen, wird aber vonUlpian als naturwidrige Einrichtung des ius gentium betrachtet, s.nur Ulp. (1 inst.) D. 1.1.4; vgl. auch Flor. (9 inst.) D. 1.5.4.1.27 Gai inst. 1.1.28 Die Frage, ob andere antike Völker der „Universalität“ dieses rö-mischen Verständnisses des ius gentium zugestimmt hätten, kannhier nicht erörtert werden. Aus der provinzialen Prozesspraxis lässt

67

Römisches Recht und europäische Rechtskultur

sich jedoch anhand der auf Papyrus erhaltenen Dokumente derEindruck gewinnen, dass die peregrinen Einwohner sich selbst inerst kurz zuvor eroberten Provinzen recht zahlreich an den Statt-halter wandten, um vor ihm ihre Rechtsstreitigkeiten auszutragen,und nicht an lokale Gerichte – vermutlich versprachen sie sich vonder Autorität Roms größere Rechtssicherheit. Zu diesem Thema s.vor allem Tizian J. Chiusi, Babatha vs. the guardians of her son: Astruggle for guardianship – Legal and practical aspects of P. Yadin12–15, 27. In: Ranon Katzoff / David Schaps (Hrsg.): Law in theDocuments of the Judaean Desert, Leiden/Boston 2005, S. 105ff.,S. 129ff.29 Vgl. dazu den berühmten Text Ulp./Pedius (4 ad ed.) D. 2.14.1.3f.: jeder Vertrag trägt das Moment der Einigung in sich.30 Allerdings herrscht wegen des geschlossenen Kreises der imEdikt proponierten actiones insoweit Typenzwang, als sich die Par-teien der anerkannten Vertragstypen bedienen müssen, um dieKlagbarkeit ihrer Vereinbarung zu erreichen. Bei nicht vom Ediktanerkannten gegenseitigen Verträgen (den sog. Innominatkontrak-ten) hatte der Prätor die Möglichkeit, im Falle der Vorleistung einesTeils sachverhaltsbezogene Klagen, sog. actiones in factum, zu ge-währen, vgl. Kaser (wie. Anm. 25), S. 580ff.31 Zum Verhältnis der Nationalsozialisten zum römischen Rechtillustrativ Koschaker (wie Anm. 13), S. 311ff.32 So Goethe am 6. April 1829; vgl. Johann Peter Eckermann, Ge-spräche mit Goethe, Reclam-Ausgabe, hrsg. von Gustav Molden-hauer, Bd. 2, Leipzig 1884, S. 76.33 Brief an Adalbert Lindner vom 20. Juli 1891, zit. nach SusannePopp (Hrsg.): Der junge Reger, Briefe und Dokumente vor 1900,Wiesbaden 2000, S. 107.

68

Hans-Dieter Spengler