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Carl R. Rogers Meine Beschreibung einer personenzenerten Hng Was meine ich mit einer personenzentrierten Einstellung? Für mich drückt sich in ihr das Hauptthema meines ganzen beruflichen Lebens aus, so wie dieses Thema klar wurde durch Erfahrung, Interaktion mit anderen und Forschung. Dieses Thema wurde in vielen unter- schiedlichen Bereichen verwendet und als effektiv befunden, bis die breite Bezeichnung ,,eine personenzentrierte Haltung" sich als die zutreffendste erwiesen hat. Die zentrale Hypothese dieser Einstellung kann kurz umrissen werden. Sie besagt, daß das Individuum in sich selbst eine Fülle von Hilfsmitteln hat für sein Selbstverständnis, zur Änderung seines Selbstkonzepts, seiner Einstellungen und selbstbestimmtes Verhalten. Diese Hilfsquellen können nur angezapft werden, wenn ein definierbares Klima erleichtern- der psychologischer Bedingungen geschaffen werden kann. Es sind drei Bedingungen, die dieses wachstumsfördernde Klima konstituieren, gleichgül- tig ob wir von der Beziehung zwischen Therapeut und Klient, Eltern und Kind, Führer und Gruppe, Lehrer und Student oder Leiter und Team sprechen. Die Bedingungen lassen sich in der Tat in jeder Situation anwenden, in der ein Ziel die Entwicklung der Person ist. (Ich habe diese Bedingungen in früheren Arbeiten beschrieben.) Ich gebe hier eine kurze Zusammenfassung vom Standpunkt der Psychotherapie aus, gleichwohl läßt sich die Beschreibung auf alle vorgenannten Beziehungen anwenden. Das erste Element hat zu tun mit Echtheit, Authentizität oder Kongruenz. Je mehr der Therapeut in der Beziehung er selbst ist, jemand, der keine professionelle Front oder persönliche Fassade aufrichtet, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Klient in konstruktiver Weise sich verändern und wachsen wird. Dies bedeutet, daß der Therapeut offen die Gefühle und Einstellungen lebt, die in ihm im Augenblick fließen. Es gibt eine enge Übereinstimmung oder Kongruenz zwischen dem, was „im Bauch" erlebt wird, was im Bewußtsein präsent ist und was dem Klienten gegenüber ausgedrückt wird. Die zweite wichtige Einstellung, um ein Klima für Veränderungen zu schaffen, ist unbedingte positive Aufmerksamkeit, Annahme des anderen oder sich um ihn kümmern oder ihn wertzuschätzen. Dies bedeutet, daß therapeutische Bewegung oder Veränderung wahrscheinlicher ist, wenn der Therapeut eine positive, akzeptierende Einstellung erleben kann gegenüber dem, was immer der Klient zu diesem Zeitpunkt ist. Eingeschlossen ist die 75

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Carl R. Rogers

Meine Beschreibung einer personenzentrierten Haltung

Was meine ich mit einer personenzentrierten Einstellung? Für mich drückt sich in ihr das Hauptthema meines ganzen beruflichen Lebens aus, so wie dieses Thema klar wurde durch Erfahrung, Interaktion mit anderen und Forschung. Dieses Thema wurde in vielen unter­schiedlichen Bereichen verwendet und als effektiv befunden, bis die breite Bezeichnung ,,eine personenzentrierte Haltung" sich als die zutreffendste erwiesen hat.

Die zentrale Hypothese dieser Einstellung kann kurz umrissen werden. Sie besagt, daß das Individuum in sich selbst eine Fülle von Hilfsmitteln hat für sein Selbstverständnis, zur Änderung seines Selbstkonzepts, seiner Einstellungen und selbstbestimmtes Verhalten. Diese Hilfsquellen können nur angezapft werden, wenn ein definierbares Klima erleichtern­der psychologischer Bedingungen geschaffen werden kann.

Es sind drei Bedingungen, die dieses wachstumsfördernde Klima konstituieren, gleichgül­tig ob wir von der Beziehung zwischen Therapeut und Klient, Eltern und Kind, Führer und Gruppe, Lehrer und Student oder Leiter und Team sprechen. Die Bedingungen lassen sich in der Tat in jeder Situation anwenden, in der ein Ziel die Entwicklung der Person ist. (Ich habe diese Bedingungen in früheren Arbeiten beschrieben.)

Ich gebe hier eine kurze Zusammenfassung vom Standpunkt der Psychotherapie aus, gleichwohl läßt sich die Beschreibung auf alle vorgenannten Beziehungen anwenden. Das erste Element hat zu tun mit Echtheit, Authentizität oder Kongruenz. Je mehr der Therapeut in der Beziehung er selbst ist, jemand, der keine professionelle Front oder persönliche Fassade aufrichtet, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Klient in konstruktiver Weise sich verändern und wachsen wird. Dies bedeutet, daß der Therapeut offen die Gefühle und Einstellungen lebt, die in ihm im Augenblick fließen. Es gibt eine enge Übereinstimmung oder Kongruenz zwischen dem, was „im Bauch" erlebt wird, was im Bewußtsein präsent ist und was dem Klienten gegenüber ausgedrückt wird.

Die zweite wichtige Einstellung, um ein Klima für Veränderungen zu schaffen, ist unbedingte positive Aufmerksamkeit, Annahme des anderen oder sich um ihn kümmern oder ihn wertzuschätzen. Dies bedeutet, daß therapeutische Bewegung oder Veränderung wahrscheinlicher ist, wenn der Therapeut eine positive, akzeptierende Einstellung erleben kann gegenüber dem, was immer der Klient zu diesem Zeitpunkt ist. Eingeschlossen ist die

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Bereitschaft des Therapeuten, dem Klienten zugewandt zu sein, welches unmittelbare Gefühl auch immer präsent ist- Verwirrung, Ressentiment, Furcht, Zorn, Mut, Liebe oder Stolz. Es ist eine nicht Besitz ergreifende Besorgtheit. Der Therapeut wertschätzt den Klienten in einer ganzheitlichen statt von Bedingungen abhängigen Art und Weise.

Der dritte erleichternde (facilitative) Bestandteil der Beziehung ist empathisches Verste­hen. Es bedeutet, daß der Therapeut genau die Gefühle und persönlichen Bedeutungen, die der Klient erlebt, spürt, und daß er dieses Verstehen dem Klienten mitteilt. Wenn dies in größtmöglicher Weise gelingt, ist der Therapeut so sehr innerhalb der privaten Welt des anderen, daß er nicht nur die Bedeutungen klären kann, derer sich der Klient bewußt ist, sondern sogar jene, die sich gerade eben unter dem Bewußtseinsniveau befinden. Zuhören, auf diese besondere Weise, ist eine der stärksten Kräfte in Richtung auf Veränderung, die ich kenne.

Belege Es gibt eine ständig steigende Anzahl von Forschungsergebnissen, die im großen und ganzen die Ansicht stützen, daß, wenn diese erleichternden Behandlungen präsent sind, sich tatsächlich Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten ereignen. Derartige Forschung wird in den USA und anderen Ländern seit 1949 bis zur Gegenwart durchgeführt. Studien wurden unternommen über Veränderungen in Einstellungen und Verhalten in der Psychotherapie, was das Ausmaß des Lernens in der Schule angeht, und hinsichtlich des Verhaltens von schizophrenen Personen. Im allgemeinen sind die Ergebnisse positiv.

Vertrauen Praxis, Theorie und Forschung machen es klar, daß der personenzentrierte Zugang zum Menschen sich aufbaut auf ein grundsätzliches Vertrauen in die Person. Dies ist vielleicht der Punkt, wo er sich am schärfsten von den meisten Institutionen in unserer Kultur unterschei­det. Fast alle Erziehung, Regierung, Geschäftsleben, ein Großteil der Religion, vieles im Familienleben basiert auf einem Mißtrauen gegenüber der Person. Er oder sie muß fortwährend kontrolliert werden, als verdächtig angesehen werden oder als angeborenerma­ßen sündig betrachtet werden. Dagegen vertraut der personenzentrierte Ansatz dem konstruktiv gerichteten Fluß des menschlichen Wesens mit dem Ziel einer komplexeren und vollständigeren Entwicklung. Es ist dieser gerichtete Fluß, den wir zu befreien anstreben.

Ein weiteres Charakteristikum Ich habe oben die Merkmale einer wachstumsfördernden Beziehung beschrieben, die bisher untersucht worden sind und durch die Forschung gestützt werden. Kürzlich jedoch hat sich meine Ansicht um einen neuen Bereich erweitert, der bisher nicht empirisch studiert werden kann.

Wenn ich als Gruppenfacilitator oder als Therapeut am besten bin, entdecke ich ein zusätzliches Merkmal. Ich finde, wenn ich meinem inneren intuitiven Selbst am nächsten bin, wenn ich irgendwie in Berührung bin mit dem Unbekannten in mir, wenn ich vielleicht in einem leicht veränderten Bewußtseinszustand bin, dann scheint mir was immer ich tue voll heilender Kraft zu sein. Dann ist allein meine Anwesenheit befreiend und hilfreich. Es gibt dann nichts, das ich tun kann, um dieses Erleben zu forcieren, aber wenn ich mich entspannen kann und dem transzendentalen Kern meiner selbst nah sein kann, dann mag ich mich fremdartig und impulsiv in der Beziehung verhalten, in einer Art und Weise, die ich rational nicht rechtfertigen kann, die nichts zu tun hat mit meinen gedanklichen Vorgängen. Diese seltsamen Verhaltensweisen erweisen sich jedoch als richtig, wenn auch auf merkwürdige Weise. In diesen Augenblicken scheint es, daß meine innere Psyche über mich hinausgreift und die Seele des anderen berührt. Unsere Beziehung transzendiert sich und ist Teil von

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etwas größerem geworden. Tiefgreifendes Wachstum, Heilung und Energie sind gegen­wärtig.

Ein derartiges transzendentales Phänomen ist bestimmt zeitweilig geschehen in Gruppen, in denen ich gearbeitet habe, es hat das Leben einiger Betroffenen verändert. Ein Workshopteilnehmer hat es eloquent ausgedrückt. ,,Es war für mich eine tiefe spirituelle Erfahrung. Ich fühlte die Einheit des Geistes in der Gemeinschaft. Wir atmeten zusammen, fühlten zusammen, sprachen sogar füreinander. Ich fühlte die Stärke der Lebenskraft, die jeden von uns durchdringt, was immer das ist. Ich fühlte ihre Gegenwart ohne die üblichen Barrikaden von ,ich' oder ,du', es war wie das Erleben bei einer Meditation, wenn ich mich als Zentrum des Bewußtseins fühle. Und dennoch gleichzeitig mit diesem außergewöhnlichen Gefühl von Einheit war das Getrenntsein jeder anwesenden Person niemals klarer bewahrt."

Ich bin mir bewußt, daß dieser Zugang zum Menschen am Mystischen teilhat. Unsere Erfahrungen, das ist klar, schließen das Transzendente ein, das Unbeschreibliche, das Geistige. Ich bin gezwungen zu glauben, daß ich, wie viele andere, die Bedeutung dieser mystischen, spirituellen Dimension unterschätzt habe. In diesem Punkte geht es mir ähnlich wie einigen der fortgeschritteneren Denker auf dem Gebiet der Physik und Chemie. Wenn sie ihre Theorien weiter vorantreiben, eine Realität ausmalen, die nichts mehr ist als Schwingun­gen von Energie, dann beginnen sie auch zu sprechen in Begriffen des Transzendenten, des Unbeschreiblichen, des Unerwarteten; die Art von Phänomenen, die wir bei der personen­zentrierten Einstellung beobachtet und erlebt haben.

Die personenzentrierte Haltung ist demnach primär eine Art und Weise des Seins, die ihren Ausdruck findet in Einstellungen und Verhaltensweisen, die ein wachstumsförderndes Klima schaffen. Sie ist mehr eine basale Philosophie als nur eine Technik oder eine Methode. Wenn diese Philosophie gelebt wird, hilft sie der Person, die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu erweitern. Wenn sie gelebt wird, stimuliert sie konstruktiven Wandel bei anderen. Sie stärkt das Individuum, und wenn diese persönliche Kraft gespürt wird, zeigt die Erfahrung, daß sie dahin tendiert, für persönliche und soziale Veränderungen genützt zu werden.

Anmerkung Der Beitrag wurde von Prof. Dr. G.-W. Speierer (Regensburg) übersetzt

Anschrift des Autors: Carl R. Rogers, Ph. D. Resident Fellow, Center for Studies of the Person, La Jolla, California

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