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RosaLuxemburg

Sozialreformoder Revolution?

Berlin 1899

Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? - 2

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Inhalt

Vorwort 5

Erster Teil1. Die opportunistische Methode 92. Anpassung des Kapitalismus 163. Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen 344. Zollpolitik und Militarismus 425. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus 50

Zweiter Teil1. Die ökonomische Entwicklung und der Sozialismus 602. Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie 723. Die Eroberung der politischen Macht 854. Der Zusammenbruch 965. Der Opportunismus in Theorie und Praxis 103

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Rosa Luxemburg 1871-1919

Foto 1895 - 1900

Ab 1887 wirkte sie in der polnischen, ab 1898 auch inder deutschen Sozialdemokratie.

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Vorwort1

Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blicküberraschen. Sozialreform oder Revolution? Kann denn dieSozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie diesoziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, dieihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdingsnicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktischeKampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage desarbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um diedemokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, denproletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf dieErgreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystemshinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen derSozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicherZusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das

Mittel, die soziale Umwälzung aber derZweck ist.

Eine Entgegenstellung dieser beidenMomente der Arbeiterbewegung findenwir erst in der Theorie von Ed.Bernstein, wie er sie in seinenAufsätzen: "Probleme des Sozialismus",in der 'Neuen Zeit' 1897/982 undnamentlich in seinem Buche:"Voraussetzungen des Sozialismus"dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuftpraktisch auf nichts anderes als auf denRat hinaus, die soziale Umwälzung, dasEndziel der Sozialdemokratie,aufzugeben und die Sozialreformumgekehrt aus einem Mittel desKlassenkampfes zu seinem Zwecke zu

1 Vorwort zur 2. Auflage.2 Grundlage für diese Version der Arbeit ist die Version in Rosa Luxemburg:Gesammelte Werke, Berlin 1982, S. 367–445, überarbeitet mit den Änderungenaus der 1908 erschienen Ausgabe.

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machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfstenseine Ansichten formuliert, indem er schrieb: »Das Endziel, was esimmer sei, ist mir Nichts, die Bewegung Alles«.3

Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidendeMoment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von derbürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismusunterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigenFlickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einenKlassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieserOrdnung verwandelt, so ist die Frage "Sozialreform oderRevolution?" im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratiezugleich die Frage: Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzungmit Bernstein und seinen Anhängern, darüber muss sich jedermannin der Partei klar werden, handelt es sich nicht um diese oder jeneKampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um dieganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung.

(Bei flüchtiger Betrachtung der Bernsteinschen Theorie kanndies als eine Übertreibung erscheinen. Spricht denn Bernstein nichtauf Schritt und Tritt von der Sozialdemokratie und ihren Zielen,wiederholt er nicht selbst mehrmals und ausdrücklich, dass auch erdas sozialistische Endziel, nur in einer anderen Form, anstrebe,betont er nicht mit Nachdruck, dass er die heutige Praxis derSozialdemokratie fast gänzlich anerkenne? Freilich ist das alleswahr. Ebenso wahr ist es aber, dass seit jeher in der Entwicklungder Theorie und in der Politik jede neue Richtung in ihrenAnfängen an die alte, auch wenn sie im inneren Kern zu ihr indirektem Gegensatz steht, sich anlehnt, dass sie sich zuerst denFormen anpasst, die sie vorfindet, die Sprache spricht, die vor ihrgesprochen wurde. Mit der Zeit erst tritt der neue Kern aus deralten Hülle hervor, und die neue Richtung findet eigene Formen,eigene Sprache.

3 „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel desSozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel,was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein:Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in DieNeue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.

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Von einer Opposition gegen den wissenschaftlichen Sozialismuserwarten, dass sie von Anfang an ihr inneres Wesen selbst klar unddeutlich bis zur letzten Konsequenz ausspricht, dass sie dietheoretische Grundlage der Sozialdemokratie offen und schroffableugnet, hieße die Macht des wissenschaftlichen Sozialismusunterschätzen. Wer heute als Sozialist gelten, zugleich aber derMarxschen Lehre, dem riesenhaftesten Produkte des menschlichenGeistes in diesem Jahrhundert, den Krieg erklären will, muss miteiner unbewussten Huldigung an sie beginnen, indem er sich vorallem selbst zum Anhänger dieser Lehre bekennt und in ihr selbstStützpunkte für ihre Bekämpfung sucht, die letztere bloß als ihreFortentwicklung hinstellt. Unbeirrt durch diese äußeren Formenmuss man deshalb den in der Bernsteinschen Theorie steckendenKern herausschälen, und dies ist gerade eine dringendeNotwendigkeit für die breiten Schichten der industriellenProletarier in unserer Partei.

Es kann keine gröbere Beleidigung, keine ärgere Schmähunggegen die Arbeiterschaft ausgesprochen werden, als dieBehauptung: theoretische Auseinandersetzungen seien lediglichSache der "Akademiker". Schon Lassalle hat einst gesagt: Erst,wenn Wissenschaft und Arbeiter, diese entgegengesetzten Pole derGesellschaft, sich vereinigen, werden sie alle Kulturhindernisse inihren ehernen Armen erdrücken. Die ganze Macht der modernenArbeiterbewegung beruht auf der theoretischen Erkenntnis.)

Doppelt wichtig ist aber diese Erkenntnis für die Arbeiter imgegebenen Falle, weil es sich hier gerade um sie und ihren Einflussin der Bewegung handelt, weil es ihre eigene Haut ist, die hier zuMarkte getragen wird. Die durch Bernstein theoretisch formulierteopportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes, als eineunbewusste Bestrebung, den zur Partei herübergekommenenkleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihremGeiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Fragevon der Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und derBewegung ist von anderer Seite die Frage vom kleinbürgerlichenoder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.

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(Deshalb liegt es gerade im Interesse der proletarischen Masseder Partei, sich mit der gegenwärtigen theoretischenAuseinandersetzung mit dem Opportunismus aufs lebhafteste undaufs eingehendste zu befassen. Solange die theoretische Erkenntnisbloß das Privilegium einer Handvoll "Akademiker" in der Parteibleibt, droht ihr immer die Gefahr, auf Abwege zu geraten. Erstwenn die große Arbeitermasse selbst die scharfe zuverlässige Waffedes wissenschaftlichen Sozialismus in die Hand genommen hat,dann werden alle kleinbürgerlichen Anwandlungen, alleopportunistischen Strömungen im Sande verlaufen. Dann ist auchdie Bewegung auf sicheren, festen Boden gestellt. »Die Menge tutes).4«

Berlin, 18. April 1899 - Rosa Luxemburg

Von der Schrift "Sozialreform oder Revolution?" liegen zweiverschiedene Ausgaben vor, die von der Verfasserin selbstbearbeitet wurden, eine aus dem Jahre 1900, die andere aus demJahre 1908. Sie weichen in Einzelheiten voneinander ab.Hauptsächlich handelt es sich dabei um zwei Dinge. In der zweitenAuflage wurden verschiedene Änderungen vorgenommen, die sichaus neuen praktischen Erfahrungen ergaben, so z.B. in der Frageder Wirtschaftskrise. Ausgelassen wurden in der zweiten Auflagealle die Stellen, in denen der Ausschluss der Reformisten gefordertoder auf ihn angespielt wurde. Als Rosa Luxemburg ein Jahrzehntnach Beginn der Bernsteindebatte und nach der Eroberungwichtigster Parteipositionen durch die Opportunisten die Broschürewieder herausgab, hatte die Ausschlussforderung jeden Sinnverloren.

Hier ist die 1. Auflage zugrunde gelegt. Die späterenAuslassungen sind durch Klammern ( ) angedeutet. DieErgänzungen der 2. Auflage sind in Anmerkungen beigefügt.Stilistische Verbesserungen und kleine Überarbeitungen wurden ausder zweiten Auflage ohne weiteres übernommen.

4 Die hier eingeklammerten Absätze fehlen in der 2. Auflage

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Erster Teil5

1. Die opportunistische Methode

Wenn Theorien Spiegelbilder der Erscheinungen der Außenweltim menschlichen Hirn sind, so muss man angesichts der Theorievon Eduard Bernstein hinzufügen - manchmal auf den Kopfgestellte Spiegelbilder. Eine Theorie von der Einführung desSozialismus durch Sozialreformen - nach dem endgültigenEinschlafen der deutschen Sozialreform6, von der Kontrolle derGewerkschaften über den Produktionsprozess - nach der Niederlageder englischen Maschinenbauer7, von der sozialdemokratischenParlamentsmehrheit - nach der sächsischen Verfassungsrevision8

und den Attentaten auf das allgemeine Reichstagswahlrecht!9 Alleinder Schwerpunkt der Bernsteinschen Ausführungen liegt unseresErachtens nicht in seinen Ansichten über die praktischen Aufgabender Sozialdemokratie, sondern in dem, was er über den Gang der

5 Der erste Teil dieser Schrift bezieht sich auf eine Aufsatzreihe von EduardBernstein: "Probleme des Sozialismus", in: "Neue Zeit", Zürich 1897-1898.6 Karl Freiherr von Stumm (1836–1901): Großindustrieller und Freund desKaisers Wilhelm II.; Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei. –Arthur Graf von Possadowsky-Wehner: Staatssekretär im Reichsamt des Innernund Vizekanzler von 1897–1907. – Die beiden verfochten als schärfste Gegnerder Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutalster Gewaltbei der Unterdrückung der Arbeiterklasse.7 Von Juli 1897 bis Januar 1898 streikten etwa 70.000 MaschinenbauarbeiterEnglands für eine achtstündige Arbeitszeit. Trotz der starken Solidaritätsbekun-dungen der englischen und deutschen Arbeiterbewegung endete der Streik miteiner Niederlage.8 Am 27. März 1896 wurde das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht zur ZweitenKammer des Landtags in Sachsen eingeführt, gegen das bereits seit Mitte De-zember 1895 Hunderttausende auf Massenversammlungen demonstriert hatten.9 Arthur Graf von Possadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern,hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten eingeheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschläge für gesetzlicheMaßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Derdeutsche Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Handzu bekommen. Sie veröffentlichte es am 15. Januar 1898 im Vorwärts. Am 6.September 1898 kündigte Wilhelm II. in einer Rede in Oeynhausen die für 1899vorgesehene Gesetzesvorlage, bekannt geworden als „Zuchthausvorlage“, an.

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objektiven Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft sagt,womit jene Ansichten freilich im engsten Zusammenhange stehen.

Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch desKapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher,weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungs-fähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehrdifferenziert.

Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nachBernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen,dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorga-nisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zwei-tens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigenDifferenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großerSchichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in derökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariatsinfolge des Gewerkschaftskampfes.

Für den praktischen Kampf der Sozialdemokratie ergibt sichdaraus die allgemeine Weisung, dass sie ihre Tätigkeit nicht auf dieBesitzergreifung der politischen Staatsmacht, sondern auf dieHebung der Lage der Arbeiterklasse und auf die Einführung desSozialismus, nicht durch eine soziale und politische Krise, sonderndurch eine schrittweise Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrol-le und eine stufenweise Durchführung des Genossenschaftlich-keitsprinzips zu richten habe.

Bernstein selbst sieht in seinen Ausführungen nichts Neues, ermeint vielmehr, dass sie ebenso mit einzelnen Äußerungen vonMarx und Engels, wie mit der allgemeinen bisherigen Richtung derSozialdemokratie übereinstimmen. Es lässt sich indes unseresErachtens schwerlich leugnen, dass die Auffassung Bernsteinstatsächlich mit dem Gedankengang des wissenschaftlichenSozialismus in grundsätzlichem Widerspruche steht.

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Würde sich die ganzeBernsteinsche Revision dahinzusammenfassen, dass der Gangder kapitalistischen Entwicklungein viel langsamerer ist, als mananzunehmen sich gewöhnt hat,so bedeutete dies in der Tat bloßeine Aufschiebung der bis jetztangenommenen politischenMachtergreifung seitens desProletariats, woraus praktischhöchstens etwa ein ruhigeresTempo des Kampfes gefolgertwerden könnte.

Dies ist aber nicht der Fall. Was Bernstein in Frage gestellt hat,ist nicht die Rapidität der Entwicklung, sondern der Entwicklungs-gang selbst der kapitalistischen Gesellschaft und im Zusammen-hang damit der Übergang zur sozialistischen Ordnung.

Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, derAusgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eineallgemeine und vernichtende Krise sein, so muss man, unseresErachtens, dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenenGrundgedanken und dessen äußere Form.

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Keynes hat noch noch nie geholfen, nur Marx

Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistischeOrdnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche denMoment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfachunmöglich wird. Dass man sich diesen Moment in der Form einerallgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte Marxseine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für denGrundgedanken unwesentlich und nebensächlich.

Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sichnämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der kapitalistischenEntwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie derkapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zuunvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitendeVergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positivenAnsätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens aufdie wachsende Organisation und Klassenerkenntnis desProletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehendenUmwälzung bildet.

Es ist der erste der genannten Grundpfeiler deswissenschaftlichen Sozialismus, den Bernstein beseitigt. Er

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behauptet nämlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nichteinem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen.

Er verwirft aber damit nicht bloß die bestimmte Form deskapitalistischen Untergangs, sondern diesen Untergang selbst. Ersagt ausdrücklich: »Es könnte nun erwidert werden, dass, wennman von dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaftspricht, man dabei mehr im Auge hat, als eine verallgemeinerteund gegen früher verstärkte Geschäftskrisis, nämlich einentotalen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an seineneigenen Widersprüchen.« Und darauf antwortet er: »Einannähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch desgegenwärtigen Produktionssysems wird mit der fortschreitendenEntwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondernunwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite dieAnpassungsfähigkeit, auf der anderen - bzw. zugleich damit - dieDifferenzierung der Industrie steigert.«10

Dann entsteht aber die große Frage: Warum und wie gelangen wirüberhaupt noch zum Endziel unserer Bestrebungen? VomStandpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich diehistorische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vorallem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, diees auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedochmit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in derRichtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf,objektiv notwendig zu sein. Von den Grundsteinen seinerwissenschaftlichen Begründung bleiben dann nur noch die beidenanderen Ergebnisse der kapitalistischen Ordnung: dervergesellschaftete Produktionsprozess und das Klassenbewusstseindes Proletariats. Dies hat auch Bernstein im Auge, als er sagt:

»Die sozialistische Gedankenwelt verliert (mit der Beseitigung derZusammenbruchstheorie) durchaus nichts an überzeugender Kraft.Denn genauer zugesehen, was sind denn alle die von unsaufgezählten Faktoren der Beseitigung oder Modifizierung deralten Krisen? Alles Dinge, die gleichzeitig Voraussetzungen und

10 "Neue Zeit", 1897/98, Nr. 18, S. 555

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zum Teil sogar Ansätze der Vergesellschaftung von Produktion undAustausch darstellen.«11

Indes genügt eine kurze Betrachtung, um auch dies als einenTrugschluss zu erweisen. Worin besteht die Bedeutung der vonBernstein als kapitalistisches Anpassungsmittel bezeichnetenErscheinungen: der Kartelle, des Kredits, der vervollkommnetenVerkehrsmittel, der Hebung der Arbeiterklasse usw. Offenbar darin,dass sie die inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftbeseitigen oder wenigstens abstumpfen, ihre Entfaltung undVerschärfung verhindern. So bedeutet die Beseitigung der Krisendie Aufhebung des Widerspruchs zwischen Produktion undAustausch auf kapitalistischer Basis, so bedeutet die Hebung derLage der Arbeiterklasse teils als solcher, teils in den Mittelstand,die Abstumpfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.

Indem somit die Kartelle, das Kreditwesen, die Gewerkschaftenusw. die kapitalistischen Widersprüche aufheben, also daskapitalistische System vom Untergang retten, den Kapitalismuskonservieren - deshalb nennt sie ja Bernstein »Anpassungsmittel« -wie können sie zu gleicher Zeit ebenso viele »Voraussetzungen undzum Teil sogar Ansätze« zum Sozialismus darstellen? Offenbar nurin dem Sinne, dass sie den gesellschaftlichen Charakter derProduktion stärker zum Ausdruck bringen. Aber indem sie ihn inseiner kapitalistischen Form konservieren, machen sie umgekehrtden Übergang dieser vergesellschafteten Produktion in diesozialistische Form in demselben Maße überflüssig. Sie könnendaher Ansätze und Voraussetzungen der sozialistischen Ordnungbloß in begrifflichem und nicht in historischem Sinne darstellen,d.h. Erscheinungen, von denen wir auf Grund unserer Vorstellungvom Sozialismus wissen, dass sie mit ihm verwandt sind, die abertatsächlich die sozialistische Umwälzung nicht nur nichtherbeiführen, sondern sie vielmehr überflüssig machen. Bleibt dannals Begründung des Sozialismus bloß das Klassenbewusstsein desProletariats. Aber auch dieses ist gegebenenfalls nicht der einfachegeistige Widerschein der sich immer mehr zuspitzendenWidersprüche des Kapitalismus und seines bevorstehenden11 ebenda, S. 554.

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Untergangs - dieser ist ja verhütet durch die Anpassungsmittel -sondern ein bloßes Ideal, dessen Überzeugungskraft auf seineneigenen ihm zugedachten Vollkommenheiten beruht.

Mit einem Wort, was wir auf diesem Wege erhalten, ist eineBegründung des sozialistischen Programms durch »reineErkenntnis«, das heißt, einfach gesagt, eine idealistischeBegründung, während die objektive Notwendigkeit, das heißt dieBegründung durch den Gang der materiellen gesellschaftlichenEntwicklung, dahin fällt. Die revisionistische Theorie steht voreinem Entweder-Oder. Entweder folgt die sozialistischeUmgestaltung nach wie vor aus den inneren Widersprüchen derkapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnungauch ihre Widersprüche und ein Zusammenbruch in dieser oderjener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das unvermeidlicheErgebnis, dann sind aber auch die »Anpassungsmittel« unwirksam,und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder die»Anpassungsmittel« sind wirklich imstande, einemZusammenbruch des kapitalistischen Systems vorzubeugen, alsoden Kapitalismus existenzfähig zu machen, also seineWidersprüche aufzuheben, dann hört aber der Sozialismus auf, einehistorische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was manwill, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung derGesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus:entweder hat der Revisionismus in Bezug auf den Gang derkapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich diesozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oderder Sozialismus ist keine Utopie, dann muss aber die Theorie der»Anpassungsmittel« nicht stichhaltig sein. That is the question, dasist die Frage.

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2. Anpassung des Kapitalismus

Die wichtigsten Mittel, die nach Bernstein die Anpassung derkapitalistischen Wirtschaft herbeiführen, sind das Kreditwesen, dieverbesserten Verkehrsmittel und die Unternehmerorganisationen.

Um beim Kredit anzufangen, so hat er in der kapitalistischenWirtschaft mannigfaltige Funktionen, seine wichtigste besteht aberbekanntlich in der Vergrößerung der Ausdehnungsfähigkeit derProduktion und in der Vermittelung und Erleichterung desAustausches. Da, wo die innere Tendenz der kapitalistischenProduktion zur grenzenlosen Ausdehnung auf die Schranken desPrivateigentums, den beschränkten Umfang des Privatkapitalsstößt, da stellt sich der Kredit als das Mittel ein, in kapitalistischerWeise diese Schranken zu überwinden, viele Privatkapitale zueinem zu verschmelzen - Aktiengesellschaften - und einemKapitalisten die Verfügung über fremdes Kapital zu gewähren -industrieller Kredit.

Andererseits beschleunigt er als kommerzieller Kredit denAustausch der Waren, also den Rückfluss des Kapitals zurProduktion, also den ganzen Kreislauf des Produktionsprozesses.Die Wirkung, die diese beiden wichtigsten Funktionen des Kreditsauf die Krisenbildung haben, ist leicht zu übersehen. Wenn dieKrisen, wie bekannt, aus dem Widerspruch zwischen derAusdehnungsfähigkeit, Ausdehnungstendenz der Produktion undder beschränkten Konsumtionsfähigkeit entstehen, so ist der Kreditnach dem obigen so recht das spezielle Mittel, diesen Widerspruchso oft als möglich zum Ausbruch zu bringen.

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Vor allem steigert er die Ausdehnungsfähigkeit der Produktionins Ungeheure und bildet die innere Triebkraft, sie beständig überdie Schranken des Marktes hinauszutreiben. Aber er schlägt aufzwei Seiten. Hat er einmal als Faktor des Produktionsprozesses dieÜberproduktion mit heraufbeschworen, so schlägt er während derKrise in seiner Eigenschaft als Vermittler des Warenaustausches dievon ihm selbst wachgerufenen Produktivkräfte umso gründlicher zuBoden.

Bei den ersten Anzeichen der Stockung schrumpft der Kreditzusammen, lässt den Austausch im Stich da, wo er notwendig wäre,erweist sich als wirkungs- und zwecklos da, wo er sich noch bietet,und verringert so während der Krise die Konsumtionsfähigkeit aufdas Mindestmaß.

Außer diesen beiden wichtigsten Ergebnissen wirkt der Kredit inBezug auf die Krisenbildung noch mannigfach. Er bietet nicht nurdas technische Mittel, einem Kapitalisten die Verfügung überfremde Kapitale in die Hand zu geben, sondern bildet für ihnzugleich den Sporn zu einer kühnen und rücksichtslosenVerwendung des fremden Eigentums, also zu waghalsigenSpekulationen. Er verschärft nicht nur als heimtückisches Mitteldes Warenaustausches die Krise, sondern erleichtert ihr Eintretenund ihre Verbreitung, indem er den ganzen Austausch in eineäußerst zusammengesetzte und künstliche Maschinerie mit einemMindestmaß Metallgeld als reeller Grundlage verwandelt und soihre Störung bei geringstem Anlass herbeiführt.

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So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oderauch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil einbesonderer mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und das ist auchgar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist -ganz allgemein ausgedrückt - doch nichts anderes, als den Rest vonStandfestigkeit aus allen kapitalistischen Verhältnissen zuverbannen und überall die größtmögliche Elastizitäthineinzubringen, alle kapitalistischen Kräfte in höchstem Maßedehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit dieKrisen, die nichts anderes als der periodische Zusammenstoß dereinander widerstrebenden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaftsind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf derHand.

Dies führt uns aber zugleich auf die andere Frage, wie der Kreditüberhaupt als ein »Anpassungsmittel« des Kapitalismus erscheinenkann.

In welcher Beziehung und in welcher Gestalt immer die»Anpassung« mit Hilfe des Kredits gedacht wird, ihr Wesen kannoffenbar nur darin bestehen, dass irgendein gegensätzlichesVerhältnis der kapitalistischen Wirtschaft ausgeglichen, irgendeinerihrer Widersprüche aufgehoben oder abgestumpft und so deneingeklemmten Kräften auf irgendeinem Punkte freier Spielraumgewährt wird. Wenn es indes ein Mittel in der heutigenkapitalistischen Wirtschaft gibt, alle ihre Widersprüche aufs höchstezu steigern, so ist es gerade der Kredit. Er steigert den Widerspruchzwischen Produktionsweise und Austauschweise, indem er dieProduktion aufs höchste anspannt, den Austausch aber beigeringstem Anlass lahm legt. Er steigert den Widerspruch zwischenProduktions- und Aneignungsweise, indem er die Produktion vomEigentum trennt, indem er das Kapital in der Produktion in eingesellschaftliches, einen Teil des Profits aber in die Form desKapitalzinses, also in einen reinen Eigentumstitel verwandelt. Ersteigert den Widerspruch zwischen den Eigentums- undProduktionsverhältnissen, indem er durch Enteignung vieler kleinerKapitalisten in wenigen Händen ungeheuere Produktivkräftevereinigt. Er steigert den Widerspruch zwischen dem

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gesellschaftlichen Charakter der Produktion und demkapitalistischen Privateigentum, indem er die Einmischung desStaates in die Produktion (Aktiengesellschaft) notwendig macht.

Mit einem Wort, der Kredit reproduziert alle kardinalenWidersprüche der kapitalistischen Welt, er treibt sie auf dieSpitze, er beschleunigt den Gang, in dem sie ihrer eigenenVernichtung - dem Zusammenbruch - entgegeneilt. Das ersteAnpassungsmittel für den Kapitalismus in Bezug auf denKredit müsste also darin bestehen, den Kredit abzuschaffen,ihn rückgängig zu machen. So wie er ist, bildet er nicht einAnpassungs-, sondern ein Vernichtungsmittel von höchstrevolutionärer Wirkung.

Hat doch eben dieser revolutionäre, über den Kapitalismus selbsthinausführende Charakter des Kredits sogar zu sozialistischangehauchten Reformplänen verleitet, und große Vertreter des

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Kredits, wie den Isaac Péreire12 in Frankreich, wie Marx, halb alsPropheten, halb als Lumpen erscheinen lassen.

Ebenso hinfällig erweist sich nach näherer Betrachtung daszweite »Anpassungsmittel« der kapitalistischen Produktion - dieUnternehmerverbände13. Nach Bernstein sollen sie durch dieRegulierung der Produktion der Anarchie Einhalt tun und Krisenvorbeugen. Die Entwicklung der Kartelle und Trusts ist freilicheine in ihren vielseitigen ökonomischen Wirkungen noch nichterforschte Erscheinung. Sie bildet erst ein Problem, das nur an derHand der Marxschen Lehre gelöst werden kann.

Allein, soviel ist auf jeden Fall klar: von einer Eindämmung derkapitalistischen Anarchie durch die Unternehmerkartelle könnte nurin dem Maße die Rede sein, als die Kartelle, Trusts usw. annäherndzu einer allgemeinen, herrschenden Produktionsform werdensollten. Allein gerade dies ist durch die Natur der Kartelle selbstausgeschlossen. Der schließlich ökonomische Zweck und dieWirkung der Unternehmerverbände bestehen darin, durch denAusschluss der Konkurrenz innerhalb einer Branche auf dieVerteilung der auf dem Warenmarkt erzielten Profitmasse soeinzuwirken, dass sie den Anteil dieses Industriezweiges an ihrsteigern. Die Organisation kann in einem Industriezweig nur aufKosten der anderen die Profitrate heben, und deshalb kann sie ebenunmöglich allgemein werden. Ausgedehnt auf alle wichtigerenProduktionszweige hebt sie ihre Wirkung selbst auf.

Aber auch in den Grenzen ihrer praktischen Anwendung wirkendie Unternehmerverbände gerade entgegengesetzt der Beseitigungder industriellen Anarchie. Die bezeichnete Steigerung derProfitrate erzielen die Kartelle auf dem inneren Markte in der Regeldadurch, dass sie die zuschüssigen Kapitalportionen, die sie für deninneren Bedarf nicht verwenden können, für das Ausland mit einer

12 Isaac Péreire (1806–1880): französischer Finanzier; Anhänger vonSaintSimon; spielte wichtige Rolle bei der Entwicklung der Eisenbahnen; trugzur Gründung der Crédit Mobilier bei als Konkurrenz gegen die FamilieRothschild.13 R.L. gebraucht hier den Begriff Unternehmerverband, anders als im heuteüblichen Sprachgebrauch, für die Kartelle, Trusts und ähnliche Gebilde.

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viel niedrigeren Profitrate produzieren lassen, d.h. ihre Waren imAuslande viel billiger verkaufen als im eigenen Lande. DasErgebnis ist die verschärfte Konkurrenz im Auslande, dievergrößerte Anarchie auf dem Weltmarkt, d. h. gerade dasUmgekehrte von dem, was erzielt werden will. Ein Beispiel davonbietet die Geschichte der internationalen Zuckerindustrie.

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Endlich im Ganzen als Erscheinungsform der kapitalistischenProduktionsweise dürfen die Unternehmerverbände wohl nur alsein Übergangsstadium, als eine bestimmte Phase derkapitalistischen Entwicklung aufgefasst werden. In der Tat! Inletzter Linie betrachtet, sind die Kartelle eigentlich ein Mittel der

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kapitalistischen Produktionsweise, den fatalen Fall der Profitrate ineinzelnen Produktionszweigen aufzuhalten. Welches ist aber dieMethode, der sich die Kartelle zu diesem Zwecke bedienen? ImGrunde genommen ist es nichts anderes als die Brachlegung einesTeils des akkumulierten Kapitals, d.h. dieselbe Methode, die ineiner anderen Form, in den Krisen zur Anwendung kommt. Einsolches Heilmittel gleicht aber der Krankheit wie ein Ei demanderen, und kann nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt als daskleinere Übel gelten. Beginnt der Absatzmarkt sich zu verringern,indem der Weltmarkt bis aufs äußerste ausgebildet und durch diekonkurrierenden kapitalistischen Länder erschöpft wird - und derfrühere oder spätere Eintritt eines solchen Moments kann offenbarnicht geleugnet werden -, dann nimmt auch die erzwungeneteilweise Brachlegung des Kapitals einen solchen Umfang an, dassdie Arznei selbst in Krankheit umschlägt und das bereits durch dieOrganisation stark vergesellschaftete Kapital sich in privatesrückverwandelt. Bei dem verringerten Vermögen, auf demAbsatzmarkt ein Plätzchen für sich zu finden, zieht jede privateKapitalportion vor, auf eigene Faust das Glück zu probieren. DieOrganisationen müssen dann wie Seifenblasen platzen und wiedereiner freien Konkurrenz, in potenzierter Form, Platz machen.14

14 Ergänzung in der 2. Auflage: In einer Fußnote zum 3. Band des Kapital schreibt Fr. Engels 1894: »Seit obigesgeschrieben wurde (1865), hat sich die Konkurrenz auf dem Weltmarktbedeutend gesteigert durch die rapide Entwicklung der Industrie in allenKulturländern, namentlich in Amerika und Deutschland. Die Tatsache, dass dierasch und riesig anschwellenden modernen Produktivkräfte den Gesetzen deskapitalistischen Warenaustausches, innerhalb deren sie sich bewegen sollen,täglich mehr über den Kopf wachsen, diese Tatsache drängt sich heute auch demBewusstsein der Kapitalisten selbst mehr und mehr auf. Dies zeigt sichnamentlich in zwei Symptomen. Erstens in der neuen allgemeinen Schutzzoll-Manie, die sich von der alten Schutzzöllnerei besonders dadurch unterscheidet,dass sie gerade die exportfähigen Artikel am meisten schützt. Zweitens in denKartellen (Trusts) der Fabrikanten ganzer großer Produktionssphären zurRegulierung der Produktion und damit der Preise und Profite. Es istselbstredend, dass diese Experimente nur bei relativ günstigem ökonomischemWetter durchführbar sind. Der erste Sturm muß sie über den Haufen werfen undbeweisen, dass, wenn auch die Produktion einer Regulierung bedarf, es sichernicht die Kapitalistenklasse ist, die dazu berufen ist. Inzwischen haben dieseKartelle nur den Zweck, dafür zu sorgen, dass die Kleinen noch rascher von den

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Im Ganzen erscheinen also auch die Kartelle, ebenso wie derKredit, als bestimmte Entwicklungsphasen, die in letzter Linie dieAnarchie der kapitalistischen Welt nur noch vergrößern und alleihre inneren Widersprüche zum Ausdruck und zur Reife bringen.Sie verschärfen den Widerspruch zwischen der Produktionsweiseund der Austauschweise, indem sie den Kampf zwischen denProduzenten und den Konsumenten auf die Spitze treiben, wie wirdies besonders in den Vereinigten Staaten Amerikas erleben. Sieverschärfen ferner den Widerspruch zwischen der Produktions- undder Aneignungsweise, indem sie der Arbeiterschaft die Übermachtdes organisierten Kapitals in brutalster Form entgegenstellen und soden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs äußerste steigern.

Sie verschärfen endlich den Widerspruch zwischen deminternationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft unddem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem siezur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und sodie Gegensätze zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten aufdie Spitze treiben. Dazu kommt die direkte, höchst revolutionäreWirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion,technische Vervollkommnung usw.

So erscheinen die Kartelle und Trusts in ihrer endgültigenWirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein»Anpassungsmittel«, das ihre Widersprüche verwischt, sonderngeradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung dereigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen

Großen verspeist werden als bisher.«

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Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Untergangesgeschaffen hat.

Allein, wenn das Kreditwesen, die Kartelle und dergleichen dieAnarchie der kapitalistischen Wirtschaft nicht beseitigen, wiekommt es, dass wir zwei Jahrzehnte lang - seit 1873 - keineallgemeine Handelskrise hatten? Ist das nicht ein Zeichen, dass sichdie kapitalistische Produktionsweise wenigstens in der Hauptsachean die Bedürfnisse der Gesellschaft tatsächlich »angepasst« hat unddie von Marx gegebene Analyse überholt ist?

Wir glauben, dass die jetzige Windstille auf dem Weltmarkt sichauf eine andere Weise erklären lässt.

Man hat sich gewöhnt, die bisherigen großen periodischenHandelskrisen als die von Marx in seiner Analyse schematisiertenAlterskrisen des Kapitalismus zu betrachten. Die ungefährzehnjährige Periodizität des Produktionszyklus schien die besteBestätigung dieses Schemas zu sein. Diese Auffassung beruhtjedoch unseres Erachtens auf einem Missverständnis. Fasst mannäher ins Auge die jedesmaligen Ursachen aller bisherigen großeninternationalen Krisen, so muss man zu der Überzeugung gelangen,dass sie sämtlich nicht der Ausdruck der Altersschwäche derkapitalistischen Wirtschaft, sondern vielmehr ihresKindheitsalters waren. Schon eine kurze Besinnung genügt, umvon vornherein darzutun, dass der Kapitalismus in den Jahren 1825,I836, I847 unmöglich jenen periodischen, aus voller Reifeentspringenden unvermeidlichen Anprall der Produktivkräfte an dieMarktschranken erzeugen konnte, wie es im Marxschen Schemaaufgezeichnet ist, da er damals in den meisten Ländern erst in denWindeln lag.)15

15 An Stelle des hier eingeklammerten Absatzes der 1. Auflage steht in der 2.Auflage folgender Absatz: Die Antwort folgte der Frage auf dem Fuße. Kaum hatte Bernstein 1898 dieMarxsche Krisentheorie zum alten Eisen geworfen, als im Jahre 1900 eineallgemeine heftige Krise ausbrach und sieben Jahre später, 1907, eine erneuteKrise von den Vereinigten Staaten aus über den Weltmarkt gezogen kam. So wardurch lautsprechende Tatsachen selbst die Theorie von der »Anpassung« desKapitalismus zu Boden geschlagen. Zugleich war es damit erwiesen, dassdiejenigen, die die Marxsche Krisentheorie, nur weil sie in zwei angeblichen

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In der Tat, die Krise von 1825 war ein Resultat der großenAnlagen bei Straßenbauten, Kanälen und Gaswerken, die in demvorhergehenden Jahrzehnt, vorzüglich in England, wie auch dieKrise selbst, stattgefunden haben.

Die folgende Krise 1836-1839 war gleichfalls ein Ergebniskolossaler Gründungen bei der Anlage neuer Transportmittel.

Die Krise von 1847 ist bekanntlich durch die fieberhaftenenglischen Eisenbahngründungen heraufbeschworen worden (1844-1847, d.h. in drei Jahren allein wurden vom Parlament neueEisenbahnen für etwa 1½ Milliarden Taler konzessioniert!).

Verfallsterminen versagt hatte, preisgaben, den Kern dieser Theorie mit einerunwesentlichen äußeren Einzelheit ihrer Form mit dem zehnjährigen Zyklusverwechselten. Die Formulierung des Kreislaufs der modernen kapitalistischenIndustrie als einer zehnjährigen Periode war aber bei Marx und Engels in den6oer und 7oer Jahren eine einfache Konstatierung der Tatsachen, die ihrerseitsnicht auf irgendwelchen Naturgesetzen, sondern auf einer Reihe bestimmtergeschichtlicher Umstände beruhten, die mit der sprungweisen Ausdehnung derWirkungssphäre des jungen Kapitalismus in Verbindung standen.

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In allen drei Fällen sind es also verschiedene Formen derNeukonstruierung der Wirtschaft des Kapitals, der Grundlegungneuer Fundamente unter die kapitalistische Entwicklung, die dieKrisen im Gefolge hatten.

Im Jahre 1857 sind es die plötzliche Eröffnung neuerAbsatzmärkte für die europäische Industrie in Amerika undAustralien infolge der Entdeckung von Goldminen, in Frankreichspeziell die Eisenbahngründungen, in denen es in EnglandsFußstapfen trat (1852-56 wurden für 1¼ Milliarden Franken neueEisenbahnen in Frankreich gegründet). Endlich die große Krise von187316 ist bekanntlich eine direkte Folge der Neukonstituierung,des ersten Sturmlaufs der Großindustrie in Deutschland und in

16 Der sogenannte Gründerkrach von 1873 leitete in Deutschland die bis dahinschwerste zyklische Überproduktionskrise des 19. Jahrhunderts ein, die dieFolge einer disproportionalen Entwicklung zugunsten der Schwer- undRüstungsindustrie im stürmischen wirtschaftlichen Aufschwung nach derReichseinigung von 1871 war.

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Österreich, die den politischen Ereignissen von 186617 und 187118

folgte.

BASF-Werk Ludwigshafen

Es war also jedes Mal die plötzliche Erweiterung des Gebiets derkapitalistischen Wirtschaft und nicht die Einengung ihresSpielraums, nicht ihre Erschöpfung, die bisher den Anlass zuHandelskrisen gab. Dass jene internationalen Krisen sich geradealle zehn Jahre wiederholten, ist an sich eine rein äußerliche,zufällige Erscheinung. Das Marxsche Schema der Krisenbildung,wie Engels es in dem Anti-Dühring und Marx im 1. und 3. Banddes "Kapital" gegeben haben, trifft auf alle Krisen insofern zu, alses ihren inneren Mechanismus und ihre tiefliegenden allgemeinenUrsachen aufdeckt.

17 Die Niederlage Österreichs gegen Preußen im Krieg von 15. Juni bis 23.August 1866 um die Vorherrschaft in Deutschland stellte eine wichtige Etappeauf dem Weg zur Reichseinigung von oben durch das reaktionäre Preußen dar.Das Ergebnis des Krieges war die Gründung des Norddeutschen Bundes.18 Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles das deutsche Kaiserreich proklamiertund die Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie von obenabgeschlossen. Der König von Preußen, Wilhelm I., wurde deutscher Kaiser. Derneuentstandene Nationalstaat wurde von den reaktionärsten und aggressivstenKlassen, dem Junkertum und der Großbourgeoisie, beherrscht.

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(ln seinem Ganzen passt aber dieses Schema vielmehr auf einevollkommen entwickelte kapitalistische Wirtschaft, wo derWeltmarkt als etwas bereits Gegebenes vorausgesetzt wird. Nurdann können sich die Krisen aus der inneren eigenen Bewegung desProduktions- und Austauschprozesses auf jene mechanische Weise,ohne den äußeren Anlass einer plötzlichen Erschütterung in denProduktions- und Marktverhältnissen wiederholen, wie es von derMarxschen Analyse angenommen wird. Wenn wir uns nun dieheutige ökonomische Lage vergegenwärtigen, so müssen wirjedenfalls zugeben, dass wir noch nicht in jene Phasevollkommener kapitalistischer Reife getreten sind, die bei demMarxschen Schema der Krisenperiodizität vorausgesetzt wird. DerWeltmarkt ist immer noch in der Ausbildung begriffen.Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in diePhase der eigentlichen großindustriellen Produktion, Russland erstin den 80er Jahren, Frankreich ist bis jetzt noch zum großen Teilkleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum beträchtlichenTeil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erstin den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einenregen und regelmäßigen Warenverkehr mit Europa getreten. Wennwir deshalb einerseits die plötzlichen sprungweisen Erschließungenneuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu den70er Jahren periodisch auftraten, und die bisherigen Krisen,sozusagen die Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter unshaben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade derAusbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts vorgeschritten,die einen fatalen, periodischen Anprall der Produktivkräfte an dieMarktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen,erzeugen würde. Wir befinden uns in einer Phase, wo die Krisennicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nichtseinen Untergang begleiten. Diese Übergangsperiode charakterisiertsich auch durch den seit etwa zwei Jahrzehnten anhaltenden,durchschnittlich matten Geschäftsgang, wo kurze Perioden desAufschwungs mit langen Perioden der Depression abwechseln.

Dass wir uns aber unaufhaltsam dem Anfang vom Ende, derPeriode der kapitalistischen Schlusskrisen nähern, das folgt eben

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aus denselben Erscheinungen, die vorläufig das Ausbleiben derKrisen bedingen. Ist einmal der Weltmarkt im Großen und Ganzenausgebildet und kann er durch keine plötzlichen Erweiterungenmehr vergrößert werden, schreitet zugleich die Produktivität derArbeit unaufhaltsam fort, dann beginnt über kurz oder lang derperiodische Widerstreit der Produktivkräfte mit denAustauschschranken, der von selbst durch seine Wiederholungimmer schroffer und stürmischer wird. Und wenn etwas spezielldazu geeignet ist, uns dieser Periode zu nähern, den Weltmarktrasch herzustellen und ihn rasch zu erschöpfen, so sind es ebendiejenigen Erscheinungen - das Kreditwesen und dieUnternehmerorganisationen -, auf die Bernstein als auf»Anpassungsmittel« des Kapitalismus baut.)19

Die Annahme, die kapitalistische Produktion könnte sich demAustausch »anpassen«, setzt eins von beiden voraus: entweder, dassder Weltmarkt unumschränkt und ins Unendliche wächst, oderumgekehrt, dass die Produktivkräfte in ihrem Wachstum gehemmt

19 An Stelle des hier eingeklammerten Absatzes der 1. Auflage steht in der 2.Auflage folgender Absatz: Die Antwort folgte der Frage auf dem Fuße. Kaum hatte Bernstein 1898 dieMarxsche Krisentheorie zum alten Eisen geworfen, als im Jahre 1900 eineallgemeine heftige Krise ausbrach und sieben Jahre später, 1907, eine erneuteKrise von den Vereinigten Staaten aus über den Weltmarkt gezogen kam. So wardurch lautsprechende Tatsachen selbst die Theorie von der »Anpassung« desKapitalismus zu Boden geschlagen. Zugleich war es damit erwiesen, dassdiejenigen, die die Marxsche Krisentheorie, nur weil sie in zwei angeblichenVerfallsterminen versagt hatte, preisgaben, den Kern dieser Theorie mit einerunwesentlichen äußeren Einzelheit ihrer Fom mit dem zehnjährigen Zyklusverwechselten. Die Formulierung des Kreislaufs der modernen kapitalistischenIndustrie als einer zehnjährigen Periode war aber bei Marx und Engels in den60er und 70er Jahren eine einfache Konstatierung der Tatsachen, die ihrerseitsnicht auf irgendwelchen Naturgesetzen, sondern auf einer Reihe bestimmtergeschichtlicher Umstände beruhten, die mit der sprungweisen Ausdehnung derWirkungssphäre des jungen Kapitalismus in Verbindung standen.Mögen sich diese Krisen alle 10, alle 5, oder abwechselnd alle 20 Jahre und alle8 Jahre wiederholen. Was aber die Bernsteinsche Theorie am schlagendsten ihrerUnzulänglichkeit überführt, ist die Tatsache, dass die jüngste Krise im Jahre1907/08 am heftigsten gerade in jenem Lande wütete, wo die famosenkapitalistischen »Anpassungsmittel.: der Kredit, der Nachrichtendienst und dieTrusts am meisten ausgebildet sind.

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werden, damit sie nicht über die Marktschranken hinauseilen.Ersteres ist eine physische Unmöglichkeit, letzterem steht dieTatsache entgegen, dass auf Schritt und Tritt technischeUmwälzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehenund jeden Tag neue Produktivkräfte wachrufen.

Noch eine Erscheinung widerspricht nach Bernstein dembezeichneten Gang der kapitalistischen Dinge: die »schierunerschütterliche Phalanx« der Mittelbetriebe, auf die er unshinweist. Er sieht darin ein Zeichen, dass die großindustrielleEntwicklung nicht so revolutionierend und konzentrierend wirkt,wie es nach der »Zusammenbruchstheorie« hätte erwartet werdenmüssen. Allein er wird auch hier zum Opfer des eigenenMissverständnisses. Es hieße in der Tat die Entwicklung derGroßindustrie ganz falsch auffassen, wenn man erwarten würde, essollten dabei die Mittelbetriebe stufenweise von der Oberflächeverschwinden.

In dem allgemeinen Gange der kapitalistischen Entwicklungspielen gerade nach der Annahme von Marx die Kleinkapitale dieRolle der Pioniere der technischen Revolution, und zwar indoppelter Hinsicht, ebenso in Bezug auf neueProduktionsmethoden in alten und befestigten, fest eingewurzeltenBranchen, wie auch in Bezug auf Schaffung neuer, von großenKapitalien noch gar nicht exploitierter Produktionszweige.Vollkommen falsch ist die Auffassung, als ginge die Geschichte deskapitalistischen Mittelbetriebes in gerader Linie abwärts zumstufenweisen Untergang. Der tatsächliche Verlauf der Entwicklungist vielmehr auch hier rein dialektisch und bewegt sich beständigzwischen Gegensätzen. Der kapitalistische Mittelstand befindetsich ganz wie die Arbeiterklasse unter dem Einfluss zweierentgegen gesetzter Tendenzen, einer ihn erhebenden und einer ihnherabdrückenden Tendenz. Die herabdrückende Tendenz istgegebenenfalls das beständige Steigen der Stufenleiter derProduktion, welche den Umfang der Mittelkapitale periodischüberholt und sie so immer wieder aus dem Wettkampfherausschleudert. Die hebende Tendenz ist die periodischeEntwertung des vorhandenen Kapitals, die die Stufenleiter der

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Produktion - dem Werte des notwendigen Kapitalminimums nach -immer wieder für eine Zeitlang senkt, sowie das Eindringen derkapitalistischen Produktion in neuen Sphären. Der Kampf desMittelbetriebes mit dem Großkapital ist nicht als eine regelmäßigeSchlacht zu denken, wo der Trupp des schwächeren Teiles direktund quantitativ immer mehr zusammenschmilzt, sondern vielmehrals ein periodisches Abmähen der Kleinkapitale, die dann immerwieder rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense derGroßindustrie abgemäht zu werden. Von den beiden Tendenzen, diemit dem kapitalistischen Mittelstand Fangball spielen, siegt inletzter Linie - im Gegensatz zu der Entwicklung der Arbeiterklasse- die herabdrückende Tendenz. Dies braucht sich aber durchausnicht in der absoluten zahlenmäßigen Abnahme der Mittelbetriebezu äußern, sondern erstens in dem allmählich steigendenKapitalminimum, das zum existenzfähigen Betriebe in den altenBranchen nötig ist, zweitens in der immer kürzeren Zeitspanne,während der sich Kleinkapitale der Exploitation [Ausbeutung]neuer Branchen auf eigene Hand erfreuen. Daraus folgt für dasindividuelle Kleinkapital eine immer kürzere Lebensfrist und einimmer rascherer Wechsel der Produktionsmethoden wie derAnlagearten, und für die Klasse im Ganzen ein immer rascherersozialer Stoffwechsel.

Letzteres weiß Bernstein sehr gut, und er stellt es selbst fest.Was er aber zu vergessen scheint, ist, dass damit das Gesetz selbstder Bewegung der kapitalistischen Mittelbetriebe gegeben ist. Sinddie Kleinkapitale einmal die Vorkämpfer des technischenFortschrittes, und ist der technische Fortschritt derLebenspulsschlag der kapitalistischen Wirtschaft, so bildenoffenbar die Kleinkapitale eine unzertrennliche Begleiterscheinungder kapitalistischen Entwicklung, die erst mit ihr zusammenverschwinden kann. Das stufenweise Verschwinden derMittelbetriebe - im Sinne der absoluten summarischen Statistik, umdie es sich bei Bernstein handelt - würde bedeuten, nicht wieBernstein meint, den revolutionären Entwicklungsgang desKapitalismus, sondern gerade umgekehrt eine Stockung,Einschlummerung des letzteren. »Die Profitrate, d.h. der

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verhältnismäßige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig für alleneuen, sich selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobalddie Kapitalbildung ausschließlich in die Hände einiger wenigenfertigen Großkapitale fiele,... wäre überhaupt das belebende Feuerder Produktion erloschen. Sie würde einschlummern.«20

(Die Bernsteinschen Anpassungsmittel erweisen sich somit alsunwirksam, und die Erscheinungen, die er als Symptome derAnpassung erklärt, müssen auf ganz andere Ursachenzurückgeführt werden.)21

20 Karl Marx, Das Kapital, 3. Band, I, S. 2421 In der 2. Auflage gestrichen

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3. Einführung des Sozialismus durch sozialeReformen

Bernstein verwirft die"Zusammenbruchs-theorie" als denhistorischen Weg zur Verwirklichung dersozialistischen Gesellschaft. Welches istder Weg, der vom Standpunkte der"Anpassungstheorie des Kapitalismus"dazu führt? Bernstein hat diese Frage nurandeutungsweise beantwortet, denVersuch, sie ausführlicher im SinneBernsteins darzustellen, hat KonradSchmidt gemacht.22 Nach ihm wird »dergewerkschaftliche Kampf und derpolitische Kampf um soziale Reformeneine immer weiter erstrecktegesellschaftliche Kontrolle über dieProduktionsbedingungen« herbeiführenund durch die Gesetzgebung »den Kapitaleigentümer durchBeschränkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle einesVerwalters herabdrücken«, bis schließlich »dem mürbe gemachtenKapitalisten, der seinen Besitz immer wertloser für sich selbstwerden sieht, die Leitung und Verwaltung des Betriebesabgenommen« und so endgültig der gesellschaftliche Betriebeingeführt wird.

Also Gewerkschaften, soziale Reformen und noch, wieBernstein hinzufügt, die politische Demokratisierung des Staates,das sind Mittel der allmählichen Einführung des Sozialismus.

Um bei den Gewerkschaften anzufangen, so besteht ihrewichtigste Funktion - und niemand hat es besser dargetan als

22 "Vorwärts" vom 20. Februar 1898, Literarische Rundschau. Wir glauben um somehr die Ausführungen Konrad Schmidts im Zusammenhang mit denjenigenvon Bernstein betrachten zu dürfen, als Bernstein mit keinem Wort dieKommentierung seiner Ansichten im "'Vorwärts" ablehnte.

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Bernstein selbst im Jahre 1891 in der 'Neuen Zeit'23 - darin, dass sieauf Seiten der Arbeiter das Mittel sind, das kapitalistischeLohngesetz, d.h. den Verkauf der Arbeitskraft nach ihremjeweiligen Marktpreis, zu verwirklichen. Worin die Gewerkschaftendem Proletariat dienen, ist, die in jedem Zeitpunkte gegebenenKonjunkturen des Marktes für sich auszunutzen. DieseKonjunkturen selbst aber, d.h. einerseits die von demProduktionsstand bedingte Nachfrage nach Arbeitskraft,andererseits das durch Proletarisierung der Mittelschichten undnatürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse geschaffene Angebotder Arbeitskraft, endlich auch der jeweilige Grad der Produktivitätder Arbeit, liegen außerhalb der Einwirkungssphäre derGewerkschaften. Sie können deshalb das Lohngesetz nichtumstürzen; sie können im besten Falle die kapitalistischeAusbeutung in die jeweilig "normalen" Schranken weisen,keineswegs aber die Ausbeutung selbst stufenweise aufheben.

Konrad Schmidt nennt freilich die jetzige gewerkschaftlicheBewegung »schwächliche Anfangsstadien« und verspricht sich vonder Zukunft, dass »das Gewerkschaftswesen auf die Regulierungder Produktion selbst einen immer steigenden Einfluss gewinnt«.

Unter der Regulierung der Produktion kann man aber nurzweierlei verstehen: die Einmischung in die technische Seite desProduktionsprozesses und die Bestimmung des Umfangs derProduktion selbst. Welcher Natur kann in diesen beiden Fragen dieEinwirkung der Gewerkschaften sein? Es ist klar, dass, was dieTechnik der Produktion betrifft, das Interesse des Kapitalisten mitdem Fortschritt und der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftin gewissen Grenzen zusammenfällt. Es ist die eigene Not, die ihnzu technischen Verbesserungen anspornt.

23 Eduard Bernstein: Zur Frage des ehernen Lohngesetzes. VI. Schlussfolgerungen, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 9. Jg. 1890/91, Erster Band, S. 600–5.

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Die Stellung des einzelnen Arbeiters hingegen ist geradeentgegengesetzt: jede technische Umwälzung widerstreitet denInteressen der direkt dadurch berührten Arbeiter und verschlechtertihre unmittelbare Lage, indem sie die Arbeitskraft entwertet, dieArbeit intensiver, eintöniger, qualvoller macht. Insofern sich dieGewerkschaft in die technische Seite der Produktion einmischenkann, kann sie offenbar nur im letzteren Sinne, d.h. im Sinne derdirekt interessierten einzelnen Arbeitergruppe handeln, also sichNeuerungen widersetzen. In diesem Falle handelt sie aber nicht imInteresse der Arbeiterklasse im Ganzen und ihrer Emanzipation, dievielmehr mit dem technischen Fortschritt, d.h. mit dem Interessedes einzelnen Kapitalisten übereinstimmen, sondern geradeentgegengesetzt, im Sinne der Reaktion.

Und in der Tat, wir finden das Bestreben, auf die technischeSeite der Produktion einzuwirken, nicht in der Zukunft, wo KonradSchmidt sie sucht, sondern in der Vergangenheit derGewerkschaftsbewegung. Sie bezeichnet die ältere Phase desenglischen Trade Unionismus (bis in die 60er Jahre), wo er noch an

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mittelalterlich-zünftlerische Überlieferungen anknüpfte undcharakteristischerweise von dem veralteten Grundsatz des»erworbenen Rechts auf angemessene Arbeit« getragen war.24 DieBestrebung der Gewerkschaften, den Umfang der Produktion unddie Warenpreise zu bestimmen, ist hingegen eine Erscheinung ganzneuen Datums. Erst in der allerletzten Zeit sehen wir - wiederumnur in England - dahingehende Versuche auftauchen.2526 DemCharakter und der Tendenz nach sind aber auch diese Bestrebungenjenen ganz gleichwertig. Denn worauf reduziert sichnotwendigerweise die aktive Teilnahme der Gewerkschaft an derBestimmung des Umfangs und der Preise der Warenproduktion?Auf ein Kartell der Arbeiter mit den Unternehmern gegen denKonsumenten, und zwar unter Gebrauch von Zwangsmaßregelngegen konkurrierende Unternehmer, die den Methoden derregelrechten Unternehmerverbände in nichts nachstehen. Es ist diesim Grunde genommen kein Kampf zwischen Arbeit und Kapitalmehr, sondern ein solidarischer Kampf des Kapitals und derArbeitskraft gegen die konsumierende Gesellschaft. Seinemsozialen Werte nach ist das ein reaktionäres Beginnen, das schondeshalb keine Etappe in dem Emanzipationskampfe des Proletariatsbilden kann, weil es vielmehr das gerade Gegenteil von einemKlassenkampf darstellt. Seinem praktischen Werte nach ist das eineUtopie, die sich, wie eine kurze Besinnung dartut, nie auf größereund für den Weltmarkt produzierende Branchen erstrecken kann.

Die Tätigkeit der Gewerkschaften beschränkt sich also in derHauptsache auf den Lohnkampf und die Verkürzung derArbeitszeit, d.h. bloß auf die Regulierung der kapitalistischenAusbeutung je nach den Marktverhältnissen; die Einwirkung aufden Produktionsprozess bleibt ihnen der Natur der Dinge nachverschlossen. Ja, noch mehr, der ganze Zug der gewerkschaftlichen

24 Webb, Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine. 2. Bd. S. 100 ff.25 Seit 1890 schlossen Unternehmervereine und Gewerkvereine des Metallgewerbes in Birmingham sogenannte Allianzen, die die Aufgabe hatten, die Verkaufspreise zu erhöhen und auf deren Basis die Löhne zu regeln, um angeblich sowohl den Fabrikanten höhere Profite als auch den Arbeitern höhere Löhne zu sichern.26 Webb. 2. Bd. S. 115 ff.

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Entwicklung richtet sich gerade umgekehrt, wie es Konrad Schmidtannimmt, auf die völlige Ablösung des Arbeitsmarktes von jederunmittelbaren Beziehung zu dem übrigen Warenmarkt. Ambezeichnendsten hierfür ist die Tatsache, dass sogar die Bestrebung,den Arbeitskontrakt wenigstens passiv mit der allgemeinenProduktionslage in unmittelbare Beziehung zu bringen, durch dasSystem der gleitenden Lohnlisten27 nunmehr von der Entwicklungüberholt ist, und dass sich die englischen Trade Unions von ihnenimmer mehr abwenden.28

Aber auch in den tatsächlichen Schranken ihrer Einwirkung gehtdie gewerkschaftliche Bewegung, nicht wie es die Theorie derAnpassung des Kapitals voraussetzt, einer unumschränktenAusdehnung entgegen. Ganz umgekehrt! Fasst man größereStrecken der sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich derTatsache nicht verschließen, dass wir im Großen und Ganzen nichtZeiten einer siegreichen Machtentfaltung, sondern wachsendenSchwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen.Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreichtund beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der»absteigende Ast«, dann wird der gewerkschaftliche Kampfdoppelt schwierig: erstens verschlimmern sich die objektivenKonjunkturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem dieNachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als esjetzt der Fall ist, zweitens greift das Kapital selbst, um sich fürdie Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, um sohartnäckiger auf die dem Arbeiter zukommende Portion desProduktes zurück. Ist doch die Reduzierung des Arbeitslohneseines der wichtigsten Mittel, den Fall der Profitrateaufzuhalten.29

27 Grundlage dieses Systems war die zwischen Unternehmern und Arbeiterngetroffene Vereinbarung, dass die Höhe des Lohnes von einem bestimmtenVerhältnis zu den Veränderungen des Marktpreises der Produkte abhängig ist. Esließ die Möglichkeiten für Manipulationen gegen die Arbeiter offen und wurdedeshalb von diesen abgelehnt.28 Webb, a.a.0. S. 11529 K. Marx, Das Kapital, 3. Band, I, S. 216. [Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band, in Marx/Engels: Werke, Bd. 25, S. 245.]

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England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweitenStadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduziert sichdabei notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung desbereits Errungenen, und auch diese wird immer schwieriger. Derbezeichnete allgemeine Gang der Dinge ist es, dessen Gegenstückder Aufschwung des politischen und sozialistischenKlassenkampfes sein muss.

Den gleichen Fehler der umgekehrten geschichtlichenPerspektive begeht Konrad Schmidt in Bezug auf die Sozialreform,von der er sich verspricht, dass sie »Hand in Hand mit dengewerkschaftlichen Arbeiterkoalitionen der Kapitalistenklasse dieBedingungen, unter denen sie allein Arbeitskräfte verwenden darf,aufoktroyiert«. Im Sinne der so aufgefassten Sozialreform nenntBernstein die Fabrikgesetze ein Stück »gesellschaftliche Kontrolle«und als solche - ein Stück Sozialismus. Auch Konrad Schmidt sagtüberall, wo er vom staatlichen Arbeiterschutz spricht,»gesellschaftliche Kontrolle«, und hat er so glücklich den Staat inGesellschaft verwandelt, dann setzt er schon getrost hinzu: »d.h. dieaufstrebende Arbeiterklasse«, und durch diese Operationverwandeln sich die harmlosen Arbeiterschutzbestimmungen desdeutschen Bundesrates in sozialistische Übergangsmaßregeln desdeutschen Proletariats.

Die Mystifikation liegt hier auf der Hand. Der heutige Staat isteben keine »Gesellschaft« im Sinne der »aufstrebendenArbeiterklasse«, sondern Vertreter der kapitalistischen Gesellschaft,d.h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabteSozialreform nicht eine Betätigung der »gesellschaftlichenKontrolle«, d.h. der Kontrolle der freien arbeitenden Gesellschaftüber den eigenen Arbeitsprozess, sondern eine Kontrolle derKlassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozess desKapitals. Darin, d.h. in den Interessen des Kapitals, findet dennauch die Sozialreform ihre natürlichen Schranken. Freilich,Bernstein und Konrad Schmidt sehen auch in dieser Beziehung inder Gegenwart bloß »schwächliche Anfangsstadien« undversprechen sich von der Zukunft eine ins Unendliche steigendeSozialreform zugunsten der Arbeiterklasse. Allein sie begehen

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dabei den gleichen Fehler, wie in der Annahme einerunumschränkten Machtentfaltung der Gewerkschaftsbewegung.

Die Theorie der allmählichen Einführung des Sozialismus durchsoziale Reformen setzt als Bedingung, und hier liegt ihrSchwerpunkt, eine bestimmte objektive Entwicklung ebenso deskapitalistischen Eigentums wie des Staates, voraus. In Bezug aufdas erstere geht das Schema der künftigen Entwicklung, wie esKonrad Schmidt voraussetzt, dahin, »den Kapitaleigentümer durchBeschränkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle einesVerwalters herabzudrücken«. Angesichts der angeblichenUnmöglichkeit der einmaligen plötzlichen Expropriation derProduktionsmittel macht sich Konrad Schmidt eine Theorie derstufenweisen Enteignung zurecht. Hierfür konstruiert er sich alsnotwendige Voraussetzung eine Zersplitterung des Eigentumsrechtsin ein »Obereigentum«, das er der »Gesellschaft« zuweist, und daser immer mehr ausgedehnt wissen will, und ein Nutznießrecht, dasin den Händen des Kapitalisten immer mehr zur bloßen Verwaltungseines Betriebes zusammenschrumpft. Nun ist diese Konstruktionentweder ein harmloses Wortspiel, bei dem nichts Wichtiges weitergedacht wurde. Dann bleibt die Theorie der allmählichenExpropriation ohne alle Deckung. Oder es ist ein ernst gemeintesSchema der rechtlichen Entwicklung. Dann ist es aber völligverkehrt. Die Zersplitterung der im Eigentumsrecht liegendenverschiedenen Befugnisse, zu der Konrad Schmidt für seine»stufenweise Expropriation« des Kapitals Zuflucht nimmt, istcharakteristisch für die feudal-naturalwirtschaftliche Gesellschaft,in der die Verteilung des Produktes unter die verschiedenenGesellschaftsklassen in natura und auf Grund persönlicherBeziehungen zwischen den Feudalherren und ihren Untergebenenvor sich ging. Der Zerfall des Eigentums in verschiedene Teilrechtewar hier die im Voraus gegebene Organisation der Verteilung desgesellschaftlichen Reichtums. Mit dem Übergang zurWarenproduktion und der Auflösung aller persönlichen Bandezwischen den einzelnen Teilnehmern des Produktionsprozessesbefestigte sich umgekehrt das Verhältnis zwischen Mensch undSache - das Privateigentum. Indem die Verteilung sich nicht mehr

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durch persönliche Beziehungen, sondern durch den Austauschvollzieht, messen sich verschiedene Anteilansprüche an demgesellschaftlichen Reichtum nicht in Splittern des Eigentumsrechtsan einem gemeinsamen Objekt, sondern in dem von jedermann zuMarkte gebrachten Wert. Der erste Umschwung in rechtlichenBeziehungen, der das Aufkommen der Warenproduktion in denstädtischen Kommunen des Mittelalters begleitete, war auch dieAusbildung des absoluten geschlossenen Privateigentums imSchoße der feudalen Rechtsverhältnisse mit geteiltem Eigentum. Inder kapitalistischen Produktion setzt sich aber diese Entwicklungweiter fort. Je mehr der Produktionsprozess vergesellschaftet wird,um so mehr beruht der Verteilungsprozess auf reinem Austauschund um so unantastbarer und geschlossener wird das kapitalistischePrivateigentum, um so mehr schlägt das Kapitaleigentum aus einemRecht auf das Produkt der eigenen Arbeit in ein reinesAneignungsrecht gegenüber fremder Arbeit um. So lange derKapitalist selbst die Fabrik leitet, ist die Verteilung noch bis zueinem gewissen Grade an persönliche Teilnahme an demProduktionsprozess geknüpft. In dem Maße, wie die persönlicheLeitung des Fabrikanten überflüssig wird, und vollends in denAktiengesellschaften, sondert sich das Eigentum an Kapital alsAnspruchstitel bei der Verteilung gänzlich von persönlichenBeziehungen zur Produktion und erscheint in seiner reinsten,geschlossenen Form. In dem Aktienkapital und dem industriellenKreditkapital gelangt das kapitalistische Eigentumsrecht erst zuseiner vollen Ausbildung.

Das geschichtliche Schema der Entwicklung des Kapitalisten,wie es Konrad Schmidt zeichnet: »vom Eigentümer zum bloßenVerwalter«, erscheint somit als die auf den Kopf gestelltetatsächliche Entwicklung, die umgekehrt vom Eigentümer undVerwalter zum bloßen Eigentümer führt. Es geht hier KonradSchmidt wie Goethe:

Was er besitzt, das sieht er wie im Weiten, Und was verschwand, wird ihm zu Wirklichkeiten.30

30 . Goethes Werke, Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Abt., 14. Bd., Weimar 1887, S. 6.

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Und wie sein historisches Schema ökonomisch von dermodernen Aktiengesellschaft auf die Manufakturfabrik oder gar aufdie Handwerker-Werkstatt zurückgeht, so will es rechtlich diekapitalistische Welt in die feudal-naturalwirtschaftlichenEierschalen zurückstecken.

Von diesem Standpunkte erscheint auch die »gesellschaftlicheKontrolle« in einem anderen Lichte, als sie Konrad Schmidt sieht.Das, was heute als »gesellschaftliche Kontrolle« funktioniert - derArbeiterschutz, die Aufsicht über Aktiengesellschaften usw. - hattatsächlich mit einem Anteil am Eigentumsrecht, mit»Obereigentum« nicht das geringste zu tun. Sie betätigt sich nichtals Beschränkung des kapitalistischen Eigentums, sondernumgekehrt als dessen Schutz. Oder ökonomisch gesprochen, siebildet nicht einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung,sondern eine Normierung. Ordnung dieser Ausbeutung.

Und wenn Bernstein die Frage stellt, ob in einem Fabrikgesetzviel oder wenig Sozialismus steckt, so können wir ihm versichern,dass in dem allerbesten Fabrikgesetz genau so viel »Sozialismus«steckt wie in den Magistratsbestimmungen über dieStraßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch»gesellschaftliche Kontrolle« ist.

4. Zollpolitik und Militarismus

Die zweite Voraussetzung der allmählichen Einführung desSozialismus bei Ed. Bernstein ist die Entwicklung des Staates zurGesellschaft. Es ist dies bereits zum Gemeinplatz geworden, dassder heutige Staat ein Klassenstaat ist. Indes müsste unseresErachtens auch dieser Satz, wie alles, was auf die kapitalistischeGesellschaft Bezug hat, nicht in einer starren, absoluten Gültigkeit,sondern in der fließenden Entwicklung aufgefasst werden.

Mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie ist der Staat zumkapitalistischen Staat geworden. Freilich, die kapitalistischeEntwicklung selbst verändert die Natur des Staates wesentlich,indem sie die Sphäre seiner Wirkung immer mehr erweitert, ihm

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immer neue Funktionen zuweist, namentlich in Bezug auf dasökonomische Leben seine Einmischung und Kontrolle darüberimmer notwendiger macht.

Insofern bereitet sich allmählich die künftige Verschmelzung desStaates mit der Gesellschaft vor, sozusagen der Rückfall derFunktionen des Staates an die Gesellschaft. Nach dieser Richtunghin kann man auch von einer Entwicklung des kapitalistischenStaats zur Gesellschaft sprechen, und in diesem Sinne zweifellos,sagt Marx, der Arbeiterschutz sei die erste bewusste Einmischung»der Gesellschaft« in ihren sozialen Lebensprozess, ein Satz, aufden sich Bernstein beruft.

Aber auf der anderen Seite vollzieht sich im Wesen des Staatesdurch dieselbe kapitalistische Entwicklung eine andere Wandlung.Zunächst ist der heutige Staat - eine Organisation der herrschendenKapitalistenklasse. Wenn er im Interesse der gesellschaftlichenEntwicklung verschiedene Funktionen von allgemeinem Interesseübernimmt, so nur, weil und insofern diese Interessen und diegesellschaftliche Entwicklung mit den Interessen der herrschendenKlasse im Allgemeinen zusammenfallen. Der Arbeiterschutz z.B.liegt ebenso sehr im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten alsKlasse, wie der Gesellschaft im Ganzen. Aber diese Harmoniedauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischenEntwicklung.

Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht,dann fangen die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die desökonomischen Fortschritts an, auch im kapitalistischen Sinneauseinander zugehen. Wir glauben, dass diese Phase bereits herangebrochen ist, und dies äußert sich in den zwei wichtigstenErscheinungen des heutigen sozialen Lebens: in der Zollpolitik undim Militarismus. Beides - Zollpolitik wie Militarismus - haben inder Geschichte des Kapitalismus ihre unentbehrliche und insofernfortschrittliche, revolutionäre Rolle gespielt. Ohne den Zollschutzwäre das Aufkommen der Großindustrie in den einzelnen Ländernkaum möglich gewesen. Heute liegen aber die Dinge anders (lnallen wichtigsten Ländern und zwar gerade in denen, die am

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meisten Zollpolitik treiben, ist die kapitalistische Produktion soziemlich zum gleichen Durchschnitt gelangt.)31

Vom Standpunkte der kapitalistischen Entwicklung, d.h. vomStandpunkte der Weltwirtschaft, ist es heute ganz gleichgültig, obDeutschland nach England mehr Waren ausführt oder England nachDeutschland. Vom Standpunkt derselben Entwicklung hat also derMohr seine Arbeit getan und könnte gehen. Ja, er müsste gehen.

Bei der heutigen gegenseitigen Abhängigkeit verschiedenerIndustriezweige müssen Schutzzölle auf irgendwelche Waren dieProduktion anderer Waren im Inlande verteuern, d.h. die Industriewieder unterbinden. Nicht aber so vom Standpunkte der Interessender Kapitalistenklasse. Die Industrie bedarf zu ihrer Entwicklungdes Zollschutzes nicht, wohl aber die Unternehmer zum Schutzeihres Absatzes. Das heißt die Zölle dienen heute nicht mehr alsSchutzmittel einer aufstrebenden kapitalistischen Produktion gegeneine reifere, sondern als Kampfmittel einer nationalenKapitalistengruppe gegen eine andere. Die Zölle sind ferner nichtmehr nötig als Schutzmittel der Industrie, um einen inländischenMarkt zu bilden und zu erobern, wohl aber als unentbehrlichesMittel zur Kartellierung der Industrie, d.h. zum Kampfe derkapitalistischen Produzenten mit der konsumierenden Gesellschaft.Endlich, was am grellsten den spezifischen Charakter der heutigenZollpolitik markiert, ist die Tatsache, dass jetzt überall dieausschlaggebende Rolle darin überhaupt nicht die Industrie,sondern die Landwirtschaft spielt, d.h. dass die Zollpolitikeigentlich zu einem Mittel geworden ist, feudale Interessen inkapitalistische Form zu gießen und zum Ausdruck zu bringen.

Die gleiche Wandlung ist mit dem Militarismus vorgegangen.Wenn wir die Geschichte betrachten, nicht wie sie hätte seinkönnen oder sollen, sondern wie sie tatsächlich war, so müssen wirkonstatieren, dass der Krieg den unentbehrlichen Faktor derkapitalistischen Entwicklung bildete. Die Vereinigten Staaten

31 In der 2. Auflage heißt es an dieser Stelle: Heute dient der Schutzzoll nichtdazu, junge Industrien in die Höhe zu bringen, sondern veralteteProduktionsformen künstlich zu konservieren.

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Nordamerikas und Deutschland, Italien und die Balkanstaaten,Russland und Polen, sie alle verdanken die Bedingungen oder denAnstoß zur kapitalistischen Entwicklung den Kriegen, gleichviel obdem Sieg oder der Niederlage. Solange als es Länder gab, dereninnere Zersplitterung oder deren naturalwirtschaftlicheAbgeschlossenheit zu überwinden war, spielte auch derMilitarismus eine revolutionäre Rolle im kapitalistischen Sinne.Heute liegen auch hier die Dinge anders. (Der Militarismus hatkeine Länder mehr dem Kapitalismus zu erschließen.)32

Wenn die Weltpolitik zum Theater drohender Konfliktegeworden ist, so handelt es sich nicht sowohl um die Erschließungneuer Länder für den Kapitalismus, als um fertige europäischeGegensätze, die sich nach den anderen Weltteilen verpflanzt habenund dort zum Durchbruch kommen. Was heute gegeneinander mitder Waffe in der Hand auftritt, gleichviel ob in Europa oder inanderen Weltteilen, sind nicht einerseits kapitalistische, andererseitsnatural-wirtschaftliche Länder, sondern Staaten, die gerade durchdie Gleichartigkeit ihrer hohen kapitalistischen Entwicklung zumKonflikt getrieben werden. Für diese Entwicklung selbst kannfreilich unter diesen Umständen der Konflikt, wenn er zumDurchbruch kommt, nur von fataler Bedeutung sein, indem er dietiefste Erschütterung und Umwälzung des wirtschaftlichen Lebensin allen kapitalistischen Ländern herbeiführen wird.

Anders sieht aber die Sache aus vom Standpunkte derKapitalistenklasse. Für sie ist heute der Militarismus in dreifacherBeziehung unentbehrlich geworden: erstens als Kampfmittel fürkonkurrierende »nationale« Interessen gegen andere nationaleGruppen, zweitens als wichtigste Anlageart ebenso für dasfinanzielle wie für das industrielle Kapital, und drittens alsWerkzeug der Klassenherrschaft im Inlande gegenüber demarbeitenden Volke - alles Interessen, die mit dem Fortschritt derkapitalistischen Produktionsweise an sich nichts gemein haben.Und was am besten wiederum diesen spezifischen Charakter des

32 In der 2. Auflage gestrichen. Wo im Text weiter von Weltpolitik undErschließung anderer Länder die Rede ist, wurde in der 1. Auflage nur vonChina gesprochen.

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heutigen Militarismus verrät, ist erstens sein allgemeines Wachstumin allen Ländern um die Wette, sozusagen durch eigene, innere,mechanische Triebkraft, eine Erscheinung, die noch vor ein paarJahrzehnten ganz unbekannt war, ferner die Unvermeidlichkeit, dasFatale der herannahenden Explosion bei gleichzeitiger völligerUnbestimmtheit des Anlasses, der zunächst interessierten Staaten,des Streitgegenstandes und aller näheren Umstände. Aus einerTriebkraft der kapitalistischen Entwicklung ist auch derMilitarismus zur kapitalistischen Krankheit geworden.

Bei dem dargelegten Zwiespalt zwischen der gesellschaftlichenEntwicklung und den herrschenden Klasseninteressen stellt sich derStaat auf die Seite der letzteren. Er tritt in seiner Politik, ebenso wiedie Bourgeoisie, in Gegensatz zu der gesellschaftlichenEntwicklung, er verliert somit immer mehr seinen Charakter desVertreters der gesamten Gesellschaft und wird in gleichem Maßeimmer mehr zum reinen Klassenstaate. Oder, richtigerausgesprochen, diese seine beiden Eigenschaften trennen sichvoneinander und spitzen sich zu einem Widerspruche innerhalb desWesens des Staates zu. Und zwar wird der bezeichnete Widerspruchmit jedem Tage schärfer. Denn einerseits wachsen die Funktionendes Staates von allgemeinem Charakter, seine Einmischung in dasgesellschaftliche Leben, seine »Kontrolle« darüber. Andererseitsaber zwingt ihn sein Klassencharakter immer mehr, denSchwerpunkt seiner Tätigkeit und seine Machtmittel auf Gebiete zuverlegen, die nur für das Klasseninteresse der Bourgeoisie vonNutzen, für die Gesellschaft nur von negativer Bedeutung sind, denMilitarismus, die Zoll- und Kolonialpolitik. Zweitens wird dadurchauch seine »gesellschaftliche Kontrolle« immer mehr vomKlassencharakter durchdrungen und beherrscht (siehe dieHandhabung des Arbeiterschutzes in allen Ländern).

Der bezeichneten Wandlung im Wesen des Staates widersprichtnicht, entspricht vielmehr vollkommen die Ausbildung derDemokratie, in der Bernstein ebenfalls das Mittel der stufenweisenEinführung des Sozialismus sieht.

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Wie Konrad Schmidt erläutert, soll die Erlangung einersozialdemokratischen Mehrheit im Parlament sogar der direkte Wegdieser stufenweisen Sozialisierung der Gesellschaft sein. Diedemokratischen Formen des politischen Lebens sind nun zweifelloseine Erscheinung, die am stärksten die Entwicklung des Staates zurGesellschaft zum Ausdruck bringt und insofern eine Etappe zursozialistischen Umwälzung bildet. Allein der Zwiespalt im Wesendes kapitalistischen Staates, den wir charakterisiert haben, tritt indem modernen Parlamentarismus umso greller zutage. Zwar derForm nach dient der Parlamentarismus dazu, in der staatlichenOrganisation die Interessen der gesamten Gesellschaft zumAusdruck zu bringen. Andererseits aber ist es doch nur diekapitalistische Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der diekapitalistischen Interessen maßgebend sind, die er zum Ausdruckbringt. Die der Form nach demokratischen Einrichtungen werdensomit dem Inhalt nach zum Werkzeuge der herrschendenKlasseninteressen. Dies tritt in greifbarer Weise in der Tatsachezutage, dass, sobald die Demokratie die Tendenz hat, ihrenKlassencharakter zu verleugnen und in ein Werkzeug dertatsächlichen Volksinteressen umzuschlagen, die demokratischenFormen selbst von der Bourgeoisie und ihrer staatlichen Vertretunggeopfert werden. Die Idee von einer sozialdemokratischenParlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eineKalkulation, die ganz im Geiste des bürgerlichen Liberalismus bloßmit der einen, formellen Seite der Demokratie rechnet, die andereSeite aber, ihren reellen Inhalt, völlig außer acht lässt. Und derParlamentarismus im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbarsozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaftallmählich durchtränkt, wie Bernstein annimmt, sondern umgekehrtals ein spezifisches Mittel des bürgerlichen Klassenstaates, diekapitalistischen Gegensätze zur Reife und zur Ausbildung zubringen.

Angesichts dieser objektiven Entwicklung des Staatesverwandelt sich der Satz Bernsteins und Konrad Schmidts von derdirekt den Sozialismus herbeiführenden, wachsenden

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"gesellschaftlichen Kontrolle" in eine Phrase, die mit jedem Tagemehr der Wirklichkeit widerspricht.

Die Theorie von der stufenweisen Einführung des Sozialismusläuft hinaus auf eine allmähliche Reform des kapitalistischenEigentums und des kapitalistischen Staates im sozialistischenSinne. Beide entwickeln sich jedoch kraft objektiver Vorgänge dergegenwärtigen Gesellschaft nach einer gerade entgegengesetztenRichtung. Der Produktionsprozess wird immer mehrvergesellschaftet, und die Einmischung, die Kontrolle des Staatesüber diesen Produktionsprozess wird immer breiter. Abergleichzeitig wird das Privateigentum immer mehr zur Form dernackten kapitalistischen Ausbeutung fremder Arbeit, und diestaatliche Kontrolle wird immer mehr von ausschließlichenKlasseninteressen durchdrungen.

Indem somit der Staat, d.h. die poIitische Organisation, und dieEigentumsverhältnisse, d.h. die rechtliche Organisation desKapitalismus, mit der Entwicklung immer kapitalistischer und nichtimmer sozialistischer werden, setzen sie der Theorie von derallmählichen Einführung des Sozialismus zwei unüberwindlicheSchwierigkeiten entgegen.

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Die Idee Fouriers, durch das Phalanstere-System33 das sämtlicheMeerwasser der Erde in Limonade zu verwandeln, war sehrphantastisch. Allein die Idee Bernsteins, das Meer derkapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzufügen dersozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischerSüßigkeit zu verwandeln, ist nur abgeschmackter, aber nicht um einHaar weniger phantastisch.

Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftnähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen undrechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen derkapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immerhöhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der

33 Das Phalanstère-System des französischen utopischen Sozialisten CharlesFourier geht aus von der Möglichkeit einer friedlichen Zusammenarbeit vonKapital und Arbeit. Grundzelle der Gemeinschaft sollten landwirtschaftliche undindustrielle Produktions- und Konsumgenossenschaften mit kollektiverArbeitsorganisation sein.

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Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondernumgekehrt fester, starrer gemacht. Wodurch sie also niedergerissenwerden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. dieEroberung der politischen Macht durch das Proletariat.

5. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus

Wir haben im ersten Kapitel darzutun gesucht, dass dieBernsteinsche Theorie das sozialistische Programm vommateriellen Boden aufhebt und auf eine idealistische Basis versetzt.Dies bezieht sich auf die theoretische Begründung. Wie sieht nunaber die Theorie - in die Praxis übersetzt aus? Zunächst und formellunterscheidet sie sich gar nicht von der bisher üblichen Praxis dessozialdemokratischen Kampfes. Gewerkschaften, der Kampf umdie Sozialreform und um die Demokratisierung der politischenEinrichtungen, das ist das nämliche, was auch sonst den formellenInhalt der sozialdemokratischen Parteitätigkeit ausmacht. DerUnterschied liegt also nicht in dem Was, wohl aber in dem Wie.Wie die Dinge jetzt liegen, werden der gewerkschaftliche und derparlamentarische Kampf als Mittel aufgefasst, das Proletariatallmählich zur Besitzergreifung der politischen Gewalt zu führenund zu erziehen. Nach der revisionistischen Auffassung sollen sie,angesichts der Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit dieserBesitzergreifung, bloß im Hinblick auf unmittelbare Resultate, d. h.die Hebung der materiellen Lage der Arbeiter, und auf diestufenweise Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung unddie Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle geführt werden.Wenn wir von dem Zwecke der unmittelbaren Hebung der Lage derArbeiter absehen, da er beiden Auffassungen, der bisher in derPartei üblichen, wie der revisionistischen, gemeinsam ist, so liegtder ganze Unterschied kurz gefasst darin: nach der landläufigenAuffassung besteht die sozialistische Bedeutung desgewerkschaftlichen und politischen Kampfes darin, dass er dasProletariat, d.h. den subjektiven Faktor der sozialistischenUmwälzung zu deren Durchführung vorbereitet. Nach Bernsteinbesteht sie darin, dass der gewerkschaftliche und politische Kampfdie kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschränken, der

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kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischenCharakter nehmen und den sozialistischen aufprägen, mit einemWorte, die sozialistische Umwälzung in objektivem Sinneherbeiführen soll.

Sieht man die Sache näher an, so sind beide Auffassungen sogargerade entgegengesetzt. In der parteiüblichen Auffassung gelangtdas Proletariat durch den gewerkschaftlichen und politischenKampf zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit, seine Lage vonGrund aus durch diesen Kampf umzugestalten, und von derUnvermeidlichkeit einer endgültigen Besitzergreifung derpolitischen Machtmittel. In der Bernsteinschen Auffassung gehtman von der Unmöglichkeit der politischen Machtergreifung alsVoraussetzung aus, um durch bloßen gewerkschaftlichen undpolitischen Kampf die sozialistische Ordnung einzuführen.

Der sozialistische Charakter des gewerkschaftlichen undparlamentarischen Kampfes liegt also bei der BernsteinschenAuffassung in dem Glauben an dessen stufenweise sozialisierendeEinwirkung auf die kapitalistische Wirtschaft. Eine solcheEinwirkung ist aber tatsächlich wie wir darzutun suchten - bloßeEinbildung. Die kapitalistischen Eigentums- undStaatseinrichtungen entwickeln sich nach einer entgegengesetztenRichtung. Damit aber verliert der praktische Tageskampf derSozialdemokratie in letzter Linie überhaupt jede Beziehung zumSozialismus. Die große sozialistische Bedeutung desgewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, dass siedie Erkenntnis, das Bewusstsein des Proletariats sozialisieren, esals Klasse organisieren. Indem man sie als Mittel der unmittelbarenSozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft auffasst, versagen sienicht nur diese ihnen angedichtete Wirkung, sondern büßenzugleich auch die andere Bedeutung ein: sie hören auf,Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischenMachtergreifung zu sein.

Es beruht deshalb auf einem gänzlichen Missverständnis, wennEduard Bernstein und Konrad Schmidt sich beruhigen, das Endzielgehe der Arbeiterbewegung bei der Einschränkung des ganzen

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Kampfes auf Sozialreform und Gewerkschaften doch nichtverloren, weil jeder Schritt auf dieser Bahn über sich hinausführeund das sozialistische Ziel so der Bewegung selbst als Tendenzinnewohne. Dies ist allerdings in vollem Maße bei der jetzigenTaktik der deutschen Sozialdemokratie der Fall, d.h. wenn diebewusste und feste Bestrebung zur Eroberung der politischenMacht dem gewerkschaftlichen und sozialreformerischen Kampfeals Leitstern vorausgeht. Löst man jedoch diese im Vorausgegebene Bestrebung von der Bewegung ab und stellt man dieSozialreform zunächst als Selbstzweck auf, so führt sie nicht nurnicht zur Verwirklichung des sozialistischen Endzieles, sonderneher umgekehrt. Konrad Schmidt verlässt sich einfach auf diesozusagen mechanische Bewegung, die, einmal in Fluss gebracht,von selbst nicht wieder aufhören kann, und zwar auf Grund deseinfachen Satzes, dass beim Essen der Appetit kommt und dieArbeiterklasse sich nie mit Reformen zufrieden geben kann,solange nicht die sozialistische Umwälzung vollendet ist. Die letzteVoraussetzung ist zwar richtig und dafür bürgt uns dieUnzulänglichkeit der kapitalistischen Sozialreform selbst. Aber diedaraus gezogene Folgerung könnte nur dann wahr sein, wenn sicheine ununterbrochene Kette fortlaufender und stets wachsenderSozialreformen von der heutigen Gesellschaftsordnung unmittelbarzur sozialistischen konstruieren ließe. Das ist aber eine Phantasie,die Kette bricht vielmehr nach der Natur der Dinge sehr bald ab,und die Wege, die die Bewegung von diesem Punkte an einschlagenkann, sind mannigfaltig.

Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eineVerschiebung in der Taktik nach der Richtung, um durch alle Mitteldie praktischen Resultate des Kampfes, die Sozialreformen zuermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, dernur im Hinblick auf eine angestrebte politische MachteroberungSinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobaldunmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Dernächste Schritt ist also eine "Kompensationspolitik" - auf gutdeutsch - eine Kuhhandelspolitik - und eine versöhnliche,staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung kann aber auch nicht

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lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in derkapitalistischen Welt eine hohle Nuss ist und allezeit bleibt, magman eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächstelogische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform, d.h. derruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller u. Co. vor Ankergegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässerndurchstudierten die groß' und kleine Welt, um schließlich allesgehen zu lassen, wie's Gott gefällt.34/35/36 Der Sozialismus erfolgt

34 Im Jahre 1872 haben die Professoren Wagner, Schmoller, Brentano undandere in Eisenach einen Kongress abgehalten, auf dem sie die Einführung derSozialreformen zum Schutze der Arbeiterklasse mit großen Lärm und vielAufsehen als ihr Ziel proklamierten. Dieselben von dem Liberalen Oppenheimerironisch als »Kathedersozialisten« bezeichneten Herren haben gleich darauf den»Verein für Sozialreform« gegründet. Schon wenige Jahre später, als sich derKampf gegen die Sozialdemokratie verschärfte, stimmten die Leuchten des»Kathedersoziamus« als Reichstagsabgeordnete für die Verlängerung desSozialistengesetzes. Sonst besteht die ganze Tätigkeit des Vereins in alljährlichenGeneralversammlungen, auf denen über verschiedene Themata einigeprofessorale Referate vorgelesen werden, außerdem sind über 100 dickleibigeBände über ökonomische Fragen von demselben Verein herausgegeben worden.Für Sozialreformen ist von den Professoren, die übrigens auch für Schutzzölle,Militarismus usw. eintreten, nicht ein Jota geleistet worden. Der Verein hat auchzuletzt selbst die Sozialreformen aufgegeben und befasst sich, mit dem Themader Krisen, Kartelle u. dergl. (Diese Anmerkung fehlt in der 1. Auflage.)35 Gemeint sind Gus tav Sch moller , Adolph Wagner und Lujo Brentano als dieführende Vertreter des Kathedersozialismus, die bürgerlich-liberaleReformvorschläge als sozialistisch propagierten, mit dem Ziel, dem Einfluss derSozialdemokratie entgegenzuwirken und den Marxismus ideologisch zubekämpfen. Diese bürgerlich-liberale Richtung in der Sozialpolitik entstand inden deutschen Universitäten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts undversuchte die Arbeiterklasse durch Reformvorschläge und sozialpolitischeMaßnahmen vom revolutionären Klassenkampf abzuhalten. DerKathedersozialismus bildete mit seinen sozialreformerischen undstaatskapitalistischen Forderungen eine theoretische Grundlage desRevisionismus. – Gustav von Schmoller (1838–1917): Kathedersozialist;Vertreter des preußischen Staatssozialismus; einflussreicher Ökonom; Mitgliedder Preußischen Akademie der Wissenschaften.36 Adolph Wagner (1835–1917): deutscher Ökonom; Vertreter der sog.sozialrechtlichen Schule in der politischen Ökonomie; Kathedersozialist;Begründer der Christlich-Sozialen Partei. – Lujo Brentano (1844–1931):deutscher Ökonom; Kathedersozialist; befürwortete einen „Klassenfrieden“zwischen den Unternehmern und reformistischen Gewerkschaften; Freund des

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also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nichtvon selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus denimmer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischenWirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von derUnerlässlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung.Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es derRevisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegungzunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei undführt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen desKlassenstandpunktes.

Diese Konsequenzen werdenauch klar, wenn man dierevisionistische Theorie noch voneiner anderen Seite betrachtet undsich die Frage stellt: was ist derallgemeine Charakter dieserAuffassung? Es ist klar, dass derRevisionismus nicht auf demBoden der kapitalistischenVerhältnisse steht und nicht mitbürgerlichen Ökonomen ihreWidersprüche leugnet. Er gehtvielmehr in seiner Theorie auchwie die Marxsche Auffassung vonder Existenz dieser Widersprücheals Voraussetzung aus.Andererseits aber - und dies ist sowohl der Kernpunkt seinerAuffassung überhaupt wie seine Grunddifferenz mit der bisherüblichen sozialdemokratischen Auffassung - stützt er sich nicht inseiner Theorie auf die Aufhebung dieser Widersprüche durch ihreeigene konsequente Entwicklung.

Seine Theorie steht in der Mitte zwischen den beiden Extremen,er will nicht die kapitalistischen Widersprüche zur vollen Reifegelangen und durch einen revolutionären Umschlag auf der Spitze

revisionistischen Führers Vollmar; befürwortete auch Genossenschaften nachdem englischen Muster.

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aufheben, sondern ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen. Sosoll das Ausbleiben der Krisen und die Unternehmerorganisationden Widerspruch zwischen der Produktion und dem Austausch, dieHebung der Lage des Proletariats und die Fortexistenz desMittelstandes den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, diewachsende Kontrolle und Demokratie den Widerspruch zwischenKlassenstaat und Gesellschaft abstumpfen.

Freilich besteht auch die landläufige sozialdemokratische Taktiknicht darin, dass man die Entwicklung der kapitalistischenWidersprüche bis zur äußersten Spitze und dann erst ihrenUmschlag abwartet. Umgekehrt, wir stützen uns bloß auf dieeinmal erkannte Richtung der Entwicklung, treiben aber dann impolitischen Kampfe ihre Konsequenzen auf die Spitze, worin dasWesen jeder revolutionären Taktik überhaupt besteht. So bekämpftdie Sozialdemokratie z.B. die Zölle und den Militarismus zu allenZeiten, nicht erst, als ihr reaktionärer Charakter völlig zumDurchbruch gelangt ist. Bernstein stützt sich aber in seiner Taktiküberhaupt nicht auf die Weiterentwicklung und Verschärfung,sondern auf die Abstumpfung der kapitalistischen Widersprüche. Erselbst hat es am treffendsten gekennzeichnet, indem er von einer»Anpassung« der kapitalistischen Wirtschaft spricht. Wann hätteeine solche Auffassung ihre Richtigkeit? Alle Widersprüche derheutigen Gesellschaft sind einfache Ergebnisse der kapitalistischenProduktionsweise. Setzen wir voraus, dass diese Produktionsweisesich weiter in der bis jetzt gegebenen Richtung entwickelt, somüssen sich mit ihr unzertrennlich auch alle ihre Konsequenzenweiter entwickeln, die Widersprüche zuspitzen und verschärfen,statt sich abzustumpfen.

Letzteres setzt also umgekehrt als Bedingung voraus, dass diekapitalistische Produktionsweise selbst in ihrer Entwicklunggehemmt wird. Mit einem Worte, die allgemeinste Voraussetzungder Bernsteinschen Theorie, das ist ein Stillstand in derkapitalistischen Entwicklung.

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SPD-Regier. Riester – Unternehmervertreter Hundt - Gewerkschaft

Damit richtet sich aber die Theorie von selbst, und zwar doppelt.Denn erstens legt sie ihren utopischen Charakter in Bezug auf dassozialistische Endziel bloß - es ist von vornherein klar, dass eineversumpfte kapitalistische Entwicklung nicht zur sozialistischenUmwälzung führen kann und hier haben wir die Bestätigungunserer Darstellung der praktischen Konsequenz der Theorie.Zweitens enthüllt sie ihren reaktionären Charakter in Bezug auf dietatsächlich sich vollziehende rapide kapitalistische Entwicklung.Nun drängt sich die Frage auf: wie kann die BernsteinscheAuffassungsweise angesichts dieser tatsächlichen kapitalistischenEntwicklung erklärt oder vielmehr charakterisiert werden?

Dass die ökonomischen Voraussetzungen, von denen Bernsteinin seiner Analyse der heutigen sozialen Verhältnisse ausgeht - seineTheorie der kapitalistischen »Anpassung« - unstichhaltig sind,glauben wir im ersten Abschnitt gezeigt zu haben. Wir sahen, dassweder das Kreditwesen noch die Kartelle als »Anpassungsmittel«der kapitalistischen Wirtschaft, weder das zeitweilige Ausbleibender Krisen, noch die Fortdauer des Mittelstandes als Symptom derkapitalistischen Anpassung aufgefasst werden können. Allengenannten Details der Anpassungstheorie liegt aber abgesehen von

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ihrer direkten Irrtümlichkeit - noch ein gemeinsamercharakteristischer Zug zugrunde. Diese Theorie fasst allebehandelten Erscheinungen des ökonomischen Lebens nicht inihrer organischen Angliederung an die kapitalistische Entwicklungim ganzen und in ihrem Zusammenhange mit dem ganzenWirtschaftsmechanismus auf, sondern aus diesem Zusammenhangegerissen, im selbständigen Dasein, als disjecta membra (zerstreuteTeile) einer leblosen Maschine. So z.B. die Auffassung von derAnpassungswirkung des Kredits. Fasst man ins Auge den Kredit alseine naturwüchsige höhere Stufe des Austausches und imZusammenhang mit allen dem kapitalistischen Austauschinnewohnenden Widersprüchen, so kann man unmöglich in ihmirgendein gleichsam außerhalb des Austauschprozesses stehendes,mechanisches »Anpassungsmittel« sehen, ebenso wenig wie mandas Geld selbst, die Ware, das Kapital als »Anpassungsmittel« desKapitalismus ansehen kann. Der Kredit ist aber nicht um ein Haarweniger als Geld, Ware und Kapital ein organisches Glied derkapitalistischen Wirtschaft auf einer gewissen Stufe ihrerEntwicklung und bildet auf dieser Stufe, wieder ganz wie jene,ebenso ein unentbehrliches Mittelglied ihres Räderwerkes, wieauch ein Zerstörungswerkzeug, indem es ihre innerenWidersprüche steigert.

Ganz dasselbe gilt von den Kartellen und den vervollkommnetenVerkehrsmitteln.

Die gleiche mechanische und undialektische Auffassung liegtferner in der Weise, wie Bernstein das Ausbleiben der Krisen als einSymptom der »Anpassung« der kapitalistischen Wirtschafthinnimmt. Für ihn sind die Krisen einfach Störungen imwirtschaftlichen Mechanismus, und bleiben sie aus, dann kannoffenbar der Mechanismus glatt funktionieren. Die Krisen sind abertatsächlich keine »Störungen« im eigentlichen Sinne, odervielmehr, sie sind Störungen, ohne die aber die kapitalistischeWirtschaft im ganzen gar nicht auskommen kann. Ist es einmalTatsache, dass die Krisen, ganz kurz ausgedrückt, die aufkapitalistischer Basis einzig mögliche, deshalb ganz normaleMethode der periodischen Lösung des Zwiespaltes zwischen der

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unbeschränkten Ausdehnungsfähigkeit der Produktion und denengen Schranken des Absatzmarktes bilden, dann sind auch dieKrisen unzertrennliche organische Erscheinungen derkapitalistischen Gesamtwirtschaft.

In einem »störungslosen« Fortgang der kapitalistischenProduktion liegen vielmehr für sie Gefahren, die größer sind als dieKrisen selbst. Es ist dies nämlichdas, nicht aus dem Widerspruchzwischen Produktion undAustausch, sondern aus derEntwicklung der Produktivität derArbeit selbst sich ergebende steteSinken der Profitrate, das diehöchst gefährliche Tendenz hat, dieProduktion allen kleineren undmittleren Kapitalien unmöglich zu machen, und so der Neubildung,damit dem Fortschritt der Kapitalanlagen Schrankenentgegenzusetzen. Gerade die Krisen, die sich aus demselbenProzess als die andere Konsequenz ergeben, bewirken durch dieperiodische Entwertung des Kapitals, durch Verbilligung derProduktionsmittel und Lahmlegung eines Teils des tätigen Kapitalszugleich die Hebung der Profite und schaffen so für Neuanlagenund damit neue Fortschritte in der Produktion Raum. So erscheinensie als Mittel, das Feuer der kapitalistischen Entwicklung immerwieder zu schüren und zu entfachen, und ihr Ausbleiben, nicht fürbestimmte Momente der Ausbildung des Weltmarktes, wie wir esannehmen, sondern schlechthin, würde bald die kapitalistischeWirtschaft, nicht wie Bernstein meint, auf einen grünen Zweig,sondern direkt in den Sumpf gebracht haben. Bei der mechanischenAuffassungsweise, die die ganze Anpassungstheorie kennzeichnet,lässt Bernstein ebenso die Unentbehrlichkeit der Krisen, wie dieUnentbehrlichkeit der periodisch immer wieder aufschießendenNeuanlagen von kleinen und mittleren Kapitalen außer acht,weshalb ihm u.a. auch die stete Wiedergeburt des Kleinkapitals alsein Zeichen des kapitalistischen Stillstandes, statt, wie tatsächlich,der normalen kapitalistischen Entwicklung, erscheint.

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Es gibt nun freilich einen Standpunkt, von dem alle behandeltenErscheinungen sich auch wirklich so darstellen, wie sie die»Anpassungstheorie« zusammenfasst, nämlich den Standpunkt deseinzelnen Kapitalisten, wie ihm die Tatsachen des wirtschaftlichenLebens, verunstaltet durch die Gesetze der Konkurrenz, zumBewusstsein kommen. Der einzelne Kapitalist sieht vor allemtatsächlich jedes organische Glied des Wirtschaftsganzen als einGanzes, Selbständiges für sich, er sieht sie auch ferner nur von derSeite, wie sie auf ihn, den einzelnen Kapitalisten, einwirken,deshalb als bloße »Störungen« oder bloße »Anpassungsmittel«. Fürden einzelnen Kapitalisten sind die Krisen tatsächlich bloßeStörungen, und ihr Ausbleiben gewährt ihm eine längereLebensfrist, für ihn ist der Kredit gleichfalls ein Mittel, seineunzureichenden Produktivkräfte den Anforderungen des Marktes»anzupassen«, für ihn hebt ein Kartell, in das er eintritt, auchwirklich die Anarchie der Produktion auf.

Mit einem Worte, die Bernsteinsche Anpassungstheorie ist nichtsals eine theoretische Verallgemeinerung der Auffassungsweise deseinzelnen Kapitalisten. Was ist aber diese Auffassungsweise imtheoretischen Ausdruck anderes, als das Wesentliche undCharakteristische der bürgerlichen Vulgärökonomie? Alleökonomischen Irrtümer dieser Schule beruhen eben auf demMissverständnis, dass die Erscheinungen der Konkurrenz, gesehendurch die Augen des Einzelkapitals, für Erscheinungen derkapitalistischen Wirtschaft im Ganzen genommen werden. Und wieBernstein den Kredit, so fasst die Vulgärökonomie auch noch z.B.das Geld als ein geistreiches »Anpassungsmittel« zu denBedürfnissen des Austausches auf, sie sucht auch in denkapitalistischen Erscheinungen selbst die Gegengifte gegen diekapitalistischen Übel, sie glaubt, in Übereinstimmung mitBernstein, an die Möglichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zuregulieren, sie läuft endlich auch immer wie die BernsteinscheTheorie in letzter Linie auf eine Abstumpfung der kapitalistischenWidersprüche und Verkleisterung der kapitalistischen Wunden, d.h.mit anderen Worten auf ein reaktionäres statt dem revolutionärenVerfahren, und damit auf eine Utopie hinaus.

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Die revisionistische Theorie imGanzen genommen lässt sich alsofolgendermaßen charakterisieren: esist dies eine Theorie dersozialistischen Versumpfung,vulgärökonomisch begründet durcheine Theorie der kapitalistischenVersumpfung.

Zweiter Teil37

1. Die ökonomische Entwicklung und der Sozialismus

Die größte Errungenschaft des proletarischen Klassenkampfes inseiner Entwicklung war die Entdeckung der Ansatzpunkte für dieVerwirklichung des Sozialismus in den ökonomischenVerhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch ist derSozialismus aus einem "Ideal", das jahrtausendelang derMenschheit vorschwebte, zur geschichtlichen Notwendigkeitgeworden.

37 Der zweite Teil dieser Schrift bezieht sich auf das Buch von Eduard Bernstein:»Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«(Stuttgart 1899, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. GmbH).

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Bernstein bestreitet die Existenz dieser ökonomischenVoraussetzungen des Sozialismus in der gegenwärtigenGesellschaft. Dabei macht er selbst in seiner Beweisführung eineinteressante Entwicklung durch. Anfangs, in der »Neuen Zeit«,bestritt er bloß die Raschheit der Konzentration in der Industrie undstützte dies auf einen Vergleich der Ergebnisse der Gewerbestatistikin Deutschland von 1895 und 1882. Dabei musste er, um dieseErgebnisse für seine Zwecke zu benutzen, zu ganz summarischemund mechanischem Verfahren seine Zuflucht nehmen. Aber auch imgünstigsten Falle konnte Bernstein mit seinem Hinweise auf dieZähigkeit der Mittelbetriebe die Marxsche Analyse nicht immindesten treffen. Denn diese setzt weder ein bestimmtes Tempoder Konzentration der Industrie, das heißt eine bestimmte Frist fürdie Verwirklichung des sozialistischen Endzieles, noch auch, wiewir gezeigt haben, ein absolutes Verschwinden der Kleinkapitale,bzw. das Verschwinden des Kleinbürgertums als Bedingung derRealisierbarkeit des Sozialismus voraus.

In weiterer Entwicklung seiner Ansichten gibt nun Bernstein inseinem Buche neues Beweismaterial, und zwar: die Statistik derAktiengesellschaften, die dartun soll, dass die Zahl der Aktionäresich stets vergrößert, die Kapitalistenklasse also nichtzusammenschmilzt, sondern im Gegenteil immer größer wird. Es

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ist erstaunlich, wie wenig Bernstein das vorhandene Material kenntund wie wenig er es zu seinen Gunsten zu gebrauchen weiß!

Wollte er durch Aktiengesellschaften etwas gegen das MarxscheGesetz der industriellen Entwicklung beweisen, dann hätte er ganzandere Zahlen bringen sollen. Nämlich jedermann, der dieGeschichte der Aktiengründung in Deutschland kennt, weiß, dassihr durchschnittliches, auf eine Unternehmung fallendesGründungskapital in fast regelmäßiger Abnahme begriffen ist. Sobetrug dieses Kapital vor 1871 etwa 10,8 Millionen Mark, 1871 nurnoch 4,01 Millionen Mark, 1873: 3,8 Millionen Mark, 1883 bis1887 weniger als 1 Millionen Mark, 1891 nur 0,56 Millionen Mark,1892: 0,62 Millionen Mark. Seitdem schwanken die Beträge um 1Million Mark, und zwar sind sie wieder von I,78 Millionen Markim Jahre 1895 auf 1,19 Millionen Mark im 1. Semester 1897gefallen.38

Erstaunliche Zahlen! Bernstein würde wahrscheinlich damit gareine ganze contra-Marxsche Tendenz des Überganges vonGroßbetrieben zurück auf Kleinbetriebe konstruieren. Allein indiesem Falle könnte ihm jedermann erwidern: Wenn Sie mit dieserStatistik etwas nachweisen wollen, dann müssen Sie vor allembeweisen, dass sie sich auf dieselben Industriezweige bezieht, dassdie kleineren Betriebe nun an Stelle der alten großen und nicht dortauftreten, wo bis jetzt das Einzelkapital oder gar Handwerk oderZwergbetrieb war. Diesen Beweis gelingt es Ihnen aber nicht zuerbringen, denn der Übergang von riesigen Aktiengründungen zumittleren und kleinen ist gerade nur dadurch erklärlich, dass dasAktienwesen in stets neue Zweige eindringt, und wenn es anfangsnur für wenige Riesenunternehmungen taugte, es sich jetzt immermehr dem Mittelbetriebe, hie und da sogar dem Kleinbetriebeangepasst hat. (Selbst Aktiengründungen bis 1.000 Mark Kapitalherunter kommen vor!)

Was bedeutet aber volkswirtschaftlich die immer größereVerbreitung des Aktienwesens? Sie bedeutet die fortschreitende

38 Van der Borght, Handwörterbuch der Staatswissenschaften. I.

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Vergesellschaftung der Produktion in kapitalistischer Form, dieVergesellschaftung nicht nur der Riesen-, sondern auch der Mittel-und sogar der Kleinproduktion, also etwas, was der MarxschenTheorie nicht widerspricht, sondern sie in denkbar glänzendsterWeise bestätigt.

In der Tat! Worin besteht das ökonomische Phänomen derAktiengründung? Einerseits in der Vereinigung vieler kleinerGeldvermögen zu Einem Produktionskapital, andererseits in derTrennung der Produktion vom Kapitaleigentum, also in einerzweifachen Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise -immer auf kapitalistischer Basis. Was bedeutet angesichts dessendie von Bernstein angeführte Statistik der großen Zahl der an einerUnternehmung beteiligten Aktionäre? Eben nichts anderes, als dassjetzt Eine kapitalistische Unternehmung nicht EinemKapitaleigentümer wie ehedem, sondern einer ganzen Anzahl, einerimmer mehr anwachsenden Zahl von Kapitaleigentümernentspricht, dass somit der wirtschaftliche Begriff »Kapitalist« sichnicht mehr mit dem Einzelindividuum deckt, dass der heutigeindustrielle Kapitalist eine Sammelperson ist, die aus Hunderten, jaaus Tausenden von Personen besteht, dass die Kategorie»Kapitalist« selbst im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft zurgesellschaftlichen, dass sie vergesellschaftet wurde.

Wie erklärt es sich aber angesichts dessen, dass Bernstein dasPhänomen der Aktiengesellschaften gerade umgekehrt als eineZersplitterung und nicht als eine Zusammenfassung des Kapitalsauffasst, dass er dort Verbreitung des Kapitaleigentums, wo Marx»Aufhebung des Kapitaleigentums« sieht? Durch einen sehreinfachen vulgärökonomischen Schnitzer: weil Bernstein unterKapitalist nicht eine Kategorie der Produktion, sondern desEigentumsrechts, nicht eine wirtschaftliche, sondern einesteuerpolitische Einheit, unter Kapital nicht ein Produktionsganzes,sondern schlechthin Geldvermögen versteht. Deshalb sieht er inseinem englischen Nähgarntrust nicht die Zusammenschweißungvon 12.300 Personen zu Einem, sondern ganze 12.300 Kapitalisten,deshalb ist ihm auch sein Ingenieur Schulze, der als Mitgift fürseine Frau vom Rentier Müller »eine größere Anzahl Aktien«

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bekommen hat (S.54)39, auch ein Kapitalist, deshalb wimmelt ihmdie ganze Welt von »Kapitalisten«.40

Aber hier wie sonst ist der vulgärökonomische Schnitzer beiBernstein bloß der theoretische Boden für eine Vulgarisierung desSozialismus. Indem Bernstein den Begriff Kapitalist aus denProduktionsverhältnissen in die Eigentumsverhältnisse überträgtund, »statt von Unternehmern von Menschen spricht« (S.53),überträgt er auch die Frage des Sozialismus aus dem Gebiete derProduktion auf das Gebiet der Vermögensverhältnisse, aus demVerhältnis von Kapital und Arbeit in das Verhältnis von reich undarm.

Damit sind wir von Marx und Engels glücklich auf denVerfasser des »Evangeliums des armen Sünders« zurückgebracht,nur mit dem Unterschiede, dass Weitling41 mit richtigemproletarischem Instinkt eben in diesem Gegensatz von arm undreich in primitiver Form die Klassengegensätze erkannte, und zum

39 Alle im Text folgenden Seitenangaben Rosa Luxemburgs beziehen sich auf:Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabender Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.40 Notabene! Bernstein sieht offenbar in der großen Verbreitung kleiner Aktieneinen Beweis, dass der gesellschaftliche Reichtum seinen Aktiensegen über ganzkleine Leute zu ergießen beginnt. In der Tat, wer würde denn sonst alsKleinbürger oder gar Arbeiter z.B. Aktien für die Bagatelle von 1 Pfd. oder 2oMk. kaufen! Leider beruht diese Annahme auf einem einfachen Rechenfehler:man operiert mit dem Nennwerte der Aktien, statt mit ihrem Marktwerte, wasaber zweierlei ist. Ein Beispiel! Auf dem Minenmarkt werden u.a. diesüdafrikanischen Randmines gehandelt; die Aktien sind, wie die meisten derMinenwerte, 1 Pfd. = 2o Mark-Papiere. Ihr Preis war aber schon 1899 43 Pfd. (s.den Kurszettel Ende März), d.h. nicht 20, sondern 860 Mk.! Und so steht es imDurchschnitt überall. Die »kleinen« Aktien sind also, obwohl sie sodemokratisch klingen, tatsächlich meistens gutbürgerliche, und keineswegskleinbürgerliche oder gar proletarische »Anweisungen auf den gesellschaftlichenReichtum«, denn zum Nennwert werden sie von dem kleinsten Teil derAktionäre erworben.

41 Wilhelm Weitling (1808–1871): deutscher Schneider; sehr wichtiger Führerund Theoretiker der frühen sozialistischen Bewegung in Deutschland; Marxlobte seine Frühschriften, kritisierte aber seine wachsenden messianischenTendenzen; emigrierte in die USA nach der Revolution von 1848/49.

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Hebel der sozialistischen Bewegung machen wollte, währendBernstein umgekehrt, in der Verwandlung der Armen in Reiche,d.h. in der Verwischung des Klassengegensatzes, also imkleinbürgerlichen Verfahren die Aussichten des Sozialismus sieht.

Freilich beschränkt sich Bernstein nicht auf dieEinkommensstatistik. Er gibt uns auch Betriebsstatistik, und zwaraus mehreren Ländern: aus Deutschland und aus Frankreich, ausEngland und aus der Schweiz, aus Österreich und aus denVereinigten Staaten. Aber was für eine Statistik ist das? Es sind diesnicht etwa vergleichende Daten aus verschiedenen Zeitpunkten inje einem Lande, sondern aus je einem Zeitpunkt in verschiedenenLändern. Er vergleicht also - ausgenommen Deutschland, wo erseine alte Gegenüberstellung von 1895 und 1882 wiederholt - nichtden Stand der Betriebsgliederung eines Landes in verschiedenenMomenten, sondern nur die absoluten Zahlen für verschiedeneLänder (für England vom Jahre 1891, Frankreich 1894, VereinigteStaaten 1890 usw.). Der Schluss, zu dem er gelangt, ist der, »dass,wenn der Großbetrieb in der Industrie heute tatsächlich schon dasÜbergewicht hat, er doch, die von ihm abhängigen Betriebeeingerechnet, selbst in einem so vorgeschrittenen Lande wiePreußen höchstens die Hälfte der in der Produktion tätigenBevölkerung vertritt«, und ähnlich in ganz Deutschland, England,Belgien usw. (S. 84).

Was er auf diese Weise nachweist, ist offenbar nicht diese oderjene Tendenz der ökonomischen Entwicklung, sondern bloß dasabsolute Stärkeverhältnis der verschiedenen Betriebsformen bzw.verschiedenen Berufsklassen. Soll damit die Aussichtslosigkeit desSozialismus bewiesen werden, so liegt dieser Beweisführung eineTheorie zugrunde, wonach über den Ausgang sozialerBestrebungen das zahlenmäßige, physische Stärkeverhältnis derKämpfenden, also das bloße Moment der Gewalt entscheidet. Hierfällt der überall den Blanquismus witternde Bernstein zurAbwechslung selbst in das gröbste blanquistische Missverständniszurück. Allerdings wieder mit dem Unterschied, dass dieBlanquisten als eine sozialistische und revolutionäre Richtung dieökonomische Durchführbarkeit des Sozialismus als

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selbstverständlich voraussetzten, und auf sie die Aussichten dergewaltsamen Revolution sogar einer kleinen Minderheit gründeten,während Bernstein umgekehrt aus der zahlenmäßigen Unzu-länglichkeit der Volksmehrheit die ökonomische Aussichtslosigkeitdes Sozialismus folgert. Die Sozialdemokratie leitet ihr Endzielebensowenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit, wie vondem zahlenmäßigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von derökonomischen Notwendigkeit - und der Einsicht in dieseNotwendigkeit - ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch dieVolksmasse führt, und die sich vor allem in der kapitalistischenAnarchie äußert.

Was diese letzte entscheidende Frage der Anarchie in derkapitalistischen Wirtschaft anbetrifft, so leugnet Bernstein selbstbloß die großen und die allgemeinen Krisen, nicht aber partielleund nationale Krisen.

Er stellt somit bloß sehr viel Anarchie in Abrede und gibtgleichzeitig die Existenz von ein wenig Anarchie zu. Derkapitalistischen Wirtschaft geht es bei Bernstein wie - um einmalauch mit Marx zu reden - jener törichten Jungfer mit dem Kinde,das »nur ganz klein« war. Das Fatale bei der Sache ist nun, dass in

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solchen Dingen wie die Anarchie, wenig und viel gleich schlimmist. Gibt Bernstein ein wenig Anarchie zu, so sorgt derMechanismus der Warenwirtschaft von selbst für die Steigerungdieser Anarchie ins Ungeheure - bis zum Zusammenbruch. HofftBernstein aber - unter gleichzeitiger Beibehaltung derWarenproduktion - auch das bisschen Anarchie allmählich inOrdnung und Harmonie aufzulösen, so verfällt er wiederum ineinen der fundamentalsten Fehler der bürgerlichenVulgärökonomie, indem er die Austauschweise von derProduktionsweise als unabhängig betrachtet42.

42 Die folgende Anmerkung fehlt in der 2.. Auflage:Bernstein antwortet zwar auf einige Punkte unserer ersten Artikelreihe in der»Leipziger Volkszeitung« ziemlich breit, aber in einer Weise, die bloß seineVerlegenheit verrät. Er macht sich z.B. die Antwort auf unsere Kritik seinerKrisenskepsis dadurch leicht, dass er uns einredet, die ganze MarxscheKrisentheorie zur Zukunftsmusik gemacht zu haben. Dies ist aber eine höchstfreie Auslegung unserer Worte, denn wir erklärten nur die regelmäßige,mechanische Periodizität der Krisen, genauer: den zehnjährigen Krisenzyklus fürein nur dem völlig entwickelten Weltmarkt entsprechendes Schema. Was denInhalt der Marxschen Krisentheorie betrifft, so erklären wir ihn für die einzigewissenschaftliche Formulierung des Mechanismus wie der innerenökonomischen Ursachen aller bisherigen Krisen.Noch wundersamer sind die Antworten Bernsteins auf andere Punkte unsererKritik. Auf den Hinweis z.B., die Kartelle könnten schon aus dem Grunde keinMittel gegen die kapitalistische Anarchie bieten, weil sie - wie dieZuckerindustrie zeigt - bloß eine verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkterzeugten, auf diesen Hinweis antwortet Bernstein, dies sei zwar richtig, aber dieverschärfte Zuckerkonkurrenz in England habe ja eine mächtige Fabrikation vonMarmeladen und von Eingekochtem ins Leben gerufen (S.78). Eine Antwort, dieuns an die Konversationsübungen im ersten Teil der Ollendorfschen Sprach-methode für den Selbstunterricht erinnert: »Der Ärmel ist kurz, aber der Schuhist eng. Der Vater ist groß, aber die Mutter hat sich schlafen gelegt.«In ähnlichem logischen Zusammenhang antwortet Bernstein auf unsere Beweis-führung, dass auch der Kredit kein »Anpassungsmittel« gegen die kapilistischeAnarchie sein könne, weil er vielmehr diese Anarchie noch steigere: der Kredithabe ja neben der zerstörenden auch noch eine positive »herstellend-schöpferische« Eigenschaft, die auch Marx anerkannt habe. Für denjenigen, derauf der Marxschen Theorie fußend, in der kapitalistischen Wirtschaft überhauptalle positiven Ansätze für die künftige sozialistische Umwandlung derGesellschaft sieht, ist dieser Hinweis auch in Bezug auf den Kredit nicht geradeneu. Worum es sich in der Debatte handelte, war die Frage, ob diese positiveüber den Kapitalismus hinausführende Eigenschaft des Kredits in der

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Es ist hier nicht die entscheidende Gelegenheit, dieüberraschende Verwirrung in bezug auf die elementarstenGrundsätze der politischen Ökonomie, die Bernstein in seinemBuche an den Tag gelegt hat, in ihrem Ganzen zu zeigen. Aber einPunkt, auf den uns die Grundfrage der kapitalistischen Anarchieführt, soll kurz beleuchtet werden.

Bernstein erklärt, das Marxsche Arbeitswertgesetz sei eine bloßeAbstraktion, was nach ihm in der politischen Ökonomie offenbarein Schimpfwort ist. Ist aber der Arbeitswert bloß eine Abstraktion,»ein Gedankenbild« (S.44), dann hat jeder rechtschaffene Bürger,der beim Militär gedient und seine Steuern entrichtet hat, dasgleiche Recht wie Karl Marx, sich beliebigen Unsinn zu einemsolchen »Gedankenbild«, d.h. zum Wertgesetz, zurecht zu machen.

kapitalistischen Wirtschaft auch positiv zur Geltung komme, ob sie diekapitalistische Anarchie bezwingen könne, wie Berntein behauptete, odervielmehr selbst in einen Widerspruch ausarte und die Anarchie nur nochvergrößere, wie wir gezeigt haben. Der Hinweis Bernsteins wiederum auf die»herstellend-schöpferische Fähigkeit des Kredits«, die ja den Ausgangspunkt derganzen Debatte bildete, ist angesichts dessen bloß eine »theoretische Flucht insJenseits« - des Diskussionsfeldes.

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»Von Hause aus ist es Marx ebenso erlaubt, von den Eigenschaftender Waren soweit abzusehen, dass sie schließlich nur nochVerkörperungen von Mengen einfacher menschlicher Arbeitbleiben, wie es der Böhm-Jevonsschen Schule freisteht, von alleEigenschaften der Waren außer ihrer Nützlichkeit zu abstrahieren«(S.42).

Also die Marxsche gesellschaftliche Arbeit und die Mengerscheabstrakte Nützlichkeit, das ist ihm gehüpft wie gesprungen: allesbloß Abstraktion. Bernstein hat somit ganz vergessen, dass dieMarxsche Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eineEntdeckung ist, dass sie nicht in Marxens Kopfe, sondern in derWarenwirtschaft existiert, nicht ein eingebildetes, sondern einreales gesellschaftliches Dasein führt, ein so reales Dasein, dass siegeschnitten und gehämmert, gewogen und geprägt wird. Die vonMarx entdeckte abstrakt-menschliche Arbeit ist nämlich in ihrerentfalteten Form nichts anderes als - das Geld. Und dies ist geradeeine der genialsten ökonomischen Entdeckungen von Marx,während für die ganze bürgerliche Ökonomie, vom erstenMerkantilisten bis auf den letzten Klassiker, das mystische Wesendes Geldes ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.

Hingegen ist die Böhm-Jevonssche abstrakte Nützlichkeit43

tatsächlich bloß ein Gedankenbild oder vielmehr ein Bild derGedankenlosigkeit, ein Privatblödsinn, für den weder diekapitalistische, noch eine andere menschliche Gesellschaft, sonderneinzig und allein die bürgerliche Vulgärökonomie verantwortlichgemacht werden kann. Mit diesem »Gedankenbild« im Kopfekönnen Bernstein und Böhm und Jevons mit der ganzensubjektiven Gemeinde vor dem Mysterium des Geldes nochzwanzig Jahre stehen, ohne dass sie zu einer anderen Lösungkommen, als was jeder Schuster ohne sie schon wusste: dass dasGeld auch eine »nützliche« Sache ist.43 Eugen Böhm-Bawerk (1851–1914): österreichischer Staatsmann und Ökonom;1895, 1897/98 und 1900–04 österreichischer Finanzminister; Gründer derösterreichischen Grenznutzenschule; kritisierte Marx’ Kapital wegen angeblicherWidersprüchlichkeiten. – William Stanley Jevons (1835–1882): englischerPhilosoph und Ökonom; trug zur Entwicklung der mathematischen Methodender Grenznutzenstheorie bei.

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Bernstein hat somit für das Marxsche Wertgesetz dasVerständnis gänzlich verloren. Für denjenigen aber, der mit demMarxschen ökonomischen System einigermaßen vertraut ist, wirdohne weiteres klar sein, dass ohne das Wertgesetz das ganze Systemvöllig unverständlich bleibt, oder, um konkreter zu sprechen, ohneVerständnis des Wesens der Ware und ihres Austausches die ganzekapitalistische Wirtschaft mit ihren Zusammenhängen einGeheimnis bleiben muss.

Was ist aber der MarxscheZauberschlüssel, der ihm gerade dieinnersten Geheimnisse allerkapitalistischen Erscheinungen geöffnethat, der ihn mit spielender LeichtigkeitProbleme lösen ließ, von denen die größtenGeister der bürgerlichen klassischenÖkonomie, wie Smith und Ricardo44, nichteinmal die Existenz ahnten?

Nichts anderes als die Auffassung vonder ganzen kapitalistischen Wirtschaft, alsvon einer historischen Erscheinung, undzwar nicht nur nach hinten, wie es imbesten Falle die klassische Ökonomieverstand, sondern auch nach vorne, nichtnur im Hinblick auf die feudalwirtschaftliche Vergangenheit,sondern namentlich auch im Hinblick auf die sozialistischeZukunft.

Das Geheimnis der Marxschen Wertlehre, seiner Geldanalyse,seiner Kapitaltheorie, seiner Lehre von der Profitrate, und somit desGanzen ökonomischen Systems ist - die Vergänglichkeit derkapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch, also - dies nur dieandere Seite - das sozialistische Endziel. Gerade und nur weil Marx

44 Adam Smith (1723–1790): schottischer Philosoph und Nationalökonom;entwickelte die Arbeitswerttheorie; legte die Basis für die wissenschaftlicheEntwicklung der Nationalökonomie; – David Ricardo (1772–1823): englischerNationalökonom; Bankier und Politiker; entwickelte die bürgerlicheNationalökonomie so weit wie möglich; verwendete die Arbeitswerttheorie

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von vornherein als Sozialist, d.h. unter dem geschichtlichenGesichtspunkte die kapitalistische Wirtschaft ins Auge fasste,konnte er ihre Hieroglyphe entziffern, und weil er densozialistischen Standpunkt zum Ausgangspunkt derwissenschaftlichen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft machte,konnte er umgekehrt den Sozialismus wissenschaftlich begründen.

Daran sind die Bemerkungen Bernsteins am Schlusse seinesBuches zu messen, wo er über den "Dualismus" (Zwiespalt) klagt,»der durch das ganze monumentale Marxsche Werk geht«, »einenDualismus, der darin besteht, dass das Werk wissenschaftlicheUntersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipierung(Abfassung) fertige These beweisen will, dass ihm ein Schemazugrunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die Entwicklungführen sollte, schon von vornherein feststand. Das Zurückkommenauf das kommunistische Manifest (d.h. auf das sozialistischeEndziel! D.V.) weist hier auf einen tatsächlichen Rest vonUtopismus im Marxschen System hin.« (S. 177)

Der Marxsche "Dualismus" ist aber nichts anderes als derDualismus der sozialistischen Zukunft und der kapitalistischenGegenwart, des Kapitals und der Arbeit, der Bourgeoisie und desProletariats, er ist die monumentale wissenschaftlicheAbspiegelung des in der bürgerlichen Gesellschaft existierendenDualismus, der bürgerlichen Klassengegensätze.

Und wenn Bernstein in diesem theoretischen Dualismus beiMarx »einen Überrest des Utopismus« sieht, so ist das nur einnaives Bekenntnis, dass er den geschichtlichen Dualismus in derbürgerlichen Gesellschaft, die kapitalistischen Klassengegensätzeleugnet, dass für ihn der Sozialismus selbst zu einem »Überrest desUtopismus« geworden ist. Der »Monismus«, d.h. dieEinheitlichkeit Bernsteins ist die Einheitlichkeit der verewigtenkapitalistischen Ordnung, die Einheitlichkeit des Sozialisten, dersein Endziel fallen gelassen hat, um dafür in der einen undunwandelbaren bürgerlichen Gesellschaft das Ende dermenschlichen Entwicklung zu sehen.

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Sieht aber Bernstein in der ökonomischen Struktur desKapitalismus selbst den Zwiespalt, die Entwicklung zumSozialismus nicht, so muss er, um das sozialistische Programmwenigstens in der Form zu retten, zu einer außerhalb derökonomischen Entwicklung liegenden, zu einer idealistischenKonstruktion Zuflucht nehmen und den Sozialismus selbst auseiner bestimmten geschichtlichen Phase der gesellschaftlichenEntwicklung in ein abstraktes »Prinzip« verwandeln.

Das Bernsteinsche »Prinzip der Genossenschaftlichkeit«, mitdem die kapitalistische Wirtschaft ausgeschmückt werden soll,dieser dünnste »Abkläricht« des sozialistischen Endzieles, erscheintangesichts dessen nicht als ein Zugeständnis seiner bürgerlichenTheorie an die sozialistische Zukunft der Gesellschaft, sondern andie sozialistische Vergangenheit - Bernsteins.

Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie

Wir haben gesehen, der Bernsteinsche Sozialismus läuft auf denPlan hinaus, die Arbeiter an dem gesellschaftlichen Reichtumteilnehmen zu lassen, die Armen in Reiche zu verwandeln. Wie solldas bewerkstelligt werden? In seinen Aufsätzen "Probleme desSozialismus" in der "Neuen Zeit" ließ Bernstein nur kaumverständliche Fingerzeige durchblicken, in seinem Buche gibt erüber diese Frage vollen Aufschluss: sein Sozialismus soll auf zweiWegen, durch Gewerkschaften oder, wie Bernstein es nennt,wirtschaftliche Demokratie, und durch Genossenschaftenverwirklicht werden. Durch die ersteren will er dem industriellen,durch die letzteren dem kaufmännischen Profit an den Kragen.(S.118)

Was die Genossenschaften, und zwar vor allem dieProduktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem innerenWesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft einZwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion beikapitalistischem Austausche. In der kapitalischen Wirtschaftbeherrscht aber der Austausch die Produktion und macht,angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige

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Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen desKapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktischäußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensivzu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach derMarktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen desAbsatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflasterzu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zupraktizieren, die eine kapitalistische Unternehmungkonkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibtsich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter,sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zuregieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischenUnternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht dieProduktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zurkapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls dieInteressen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst. Das sind dieTatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber missversteht,indem er nach Frau Potter-Webb45 die Ursache des Unterganges derProduktivgenossenschaften in England in der mangelnden»Disziplin« sieht. Was hier oberflächlich und seicht als Disziplinbezeichnet wird, ist nichts anderes als das natürliche absoluteRegime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbstgegenüber unmöglich ausüben können.46

Daraus folgt, dass die Produktivgenossenschaft sich ihreExistenz inmitten der kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichernkann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr verborgenenWiderspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise

45 Beatrice Potter-Webb (1858–1943): verfasste gemeinsam mit ihrem MannSidney eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte und Theorie der englischenArbeiterbewegung; Mitbegründerin der Gesellschaft der Fabier; wichtigeTheoretikerin des allmählichen Reformismus; vertraten während des ErstenWeltkriegs sozialchauvinistische Positionen; wurde während der 1930er Jahrezur begeisterten Anhängerin des Stalinismus

46 »Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, daserste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrerwirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden System reproduzierenmüssen.« (Marx: Kapital, Bd. 3, T. 1, S. 427.)

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aufhebt, indem sie sich künstlich den Gesetzen der freienKonkurrenz entzieht.

Dies kann sie nur, wenn sie sich von vornherein einenAbsatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Alssolches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darinwiederum, und nicht in der Unterscheidung in Kauf- undVerkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfallsonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warumselbständige Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erstder Konsumverein ihnen eine Existenz zu sichern vermag.

Pleite COOP Handelskettedes DGB

Sind aber somit dieExistenzbedingungen derProduktivgenossenschaften in derheutigen Gesellschaft an dieExistenzbedingungen derKonsumvereine gebunden, so folgtdaraus in weiterer Konsequenz, dass dieProduktivgenossenschaften im günstigsten Falle auf kleinenlokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs,vorzugsweise auf Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigstenZweige der kapitalistischen Produktion: die Textil-, Kohlen-,Metall-, Petroleumindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven-und Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von derProduktivgenossenschaft von vornherein ausgeschlossen.Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter können dieProduktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schonaus dem Grunde nicht erscheinen, weil ihre allgemeineDurchführung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes undAuflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokaleProduktions- und Austauschgruppen, also dem Wesen nach einenRückgang von großkapitalistischer auf mittelalterlicheWarenwirtschaft voraussetzt.

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Aber auch in den Grenzen ihrer möglichen Verwirklichung, aufdem Boden der gegenwärtigen Gesellschaft reduzieren sich dieProduktivgenossenschaften notwendigerweise in bloße Anhängselder Konsumvereine, die somit als die Hauptträger derbeabsichtigten sozialistischen Reform in den Vordergrund treten.Die ganze sozialistische Reform durch die Genossenschaftenreduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen dasProduktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischenWirtschaft, in einen Kampf gegen das Handelskapital, und zwargegen das Kleinhandels-, das Zwischenhandelskapital, d.h. bloßgegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.

Was die Gewerkschaften betrifft, die nach Bernstein ihrerseitsein Mittel gegen die Ausbreitung des Produktivkapitals darstellensollen, so haben wir bereits gezeigt, dass die Gewerkschaften nichtimstande sind, den Arbeitern einen Einfluss auf denProduktionsprozess, weder in Bezug auf den Produktionsumfang,noch in Bezug auf das technische Verfahren, zu sichern.

Was aber die rein ökonomische Seite, »den Kampf der Lohnratemit der Profitrate« betrifft, wie Bernstein es nennt, so wird dieserKampf, wie gleichfalls bereits gezeigt, nicht in dem freien blauenLuftraum, sondern in den bestimmten Schranken des Lohngesetzesausgefochten, das er nicht zu durchbrechen, sondern bloß zuverwirklichen vermag. Dies wird auch klar, wenn man die Sachevon einer anderen Seite fasst und sich die Frage nach deneigentlichen Funktionen der Gewerkschaften stellt.

Die Gewerkschaften, denen Bernstein die Rolle zuweist, in demEmanzipationskampfe der Arbeiterklasse den eigentlichen Angriffgegen die industrielle Profitrate zu führen und sie stufenweise indie Lohnrate aufzulösen, sind nämlich gar nicht imstande, eineökonomische Angriffspolitik gegen den Profit zu führen, weil sienichts sind als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen dieAngriffe des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen dieherabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies auszwei Gründen.

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Erstens haben dieGewerkschaften zur Aufgabe,die Marktlage der WareArbeitskraft durch ihreOrganisation zu beeinflussen,die Organisation wird aberdurch den Prozess derProletarisierung derMittelschichten, der demArbeitsmarkt stets neue Warezuführt, beständigdurchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften dieHebung der Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils derArbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, dieser Anteil wirdaber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit derFatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt. Umletzteres einzusehen, braucht man durchaus nicht ein Marxist zusein, sondern bloß: »Zur Beleuchtung der sozialen Frage«, vonRodbertus,47 einmal in der Hand gehabt zu haben.

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich alsoder gewerkschaftliche Kampfkraft objektiver Vorgänge in derkapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit.48 DieseSisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiterüberhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallendenLohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklichtund die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklungin ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt werden.Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zurstufenweisen Verkürzung des Profits zugunsten des Arbeitslohnes47 Johann Carl Rodbertus-Jagetzow (1805–1875): Nationalökonom undPolitiker; Ideologe des verbürgerlichten preußischen Junkertums, vertrat alsGegner des revolutionären Marxismus staatskapitalistische Ideen; seine Theorienwaren ziemlich einflussreich innerhalb der deutschen Sozialdemokratie.48 Sisyphus: mythologischer König von Korinth, der verurteilt wurde, einengroßen Stein einen Hügel hinauf zu schieben. Jedes Mal, als er den Gipfel fasterreicht hatte, rollte der Stein wieder hinunter. Diese Bezeichnung dergewerkschaftlichen Arbeit verdiente Rosa Luxemburg die erbitterte Feindschaftder Führer der Gewerkschaften

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zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale Bedingungerstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichtenund dem Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand indem Wachstum der Produktivität der Arbeit, also in beiden Fällen,ganz wie die Verwirklichung der konsumgenossenschaftlichenWirtschaft, einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische Zuständevoraus.

Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform:die Genossenschaften und die Gewerkschaften erweisen sich somitals gänzlich unfähig, die kapitalistische Produktionsweiseumzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommenauch selbst dunkel bewusst und fasst sie bloß als Mittel auf, denkapitalistischen Profit abzuzwacken, und die Arbeiter auf dieseWeise zu bereichern. Damit verzichtet er aber selbst auf den Kampfmit der kapitalistischen Produktionsweise und richtet diesozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen diekapitalistische Verteilung. Bernstein formuliert auch wiederholtseinen Sozialismus als das Bestreben nach einer »gerechten«,»gerechteren« (S. 51 seines Buches), ja einer »noch gerechteren«("Vorwärts" vom 26. März 1899) Verteilung.

Der nächste Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegungwenigstens bei den Volksmassen ist freilich auch die »ungerechte«Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem sie für dieVergesellschaftung der gesamten Wirtschaft kämpft, strebt dieSozialdemokratie dadurch selbstverständlich auch eine »gerechte«Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sieihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen Einsicht, dass diejeweilige Verteilung bloß eine naturgesetzliche Folge der jeweiligenProduktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen derkapitalistischen Produktion, sondern auf die Aufhebung derWarenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie willdie sozialistische Verteilung durch die Beseitigung derkapitalistischen Produktionsweise herbeiführen, während dasBernsteinsche Verfahren ein direkt umgekehrtes ist; er will diekapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem Wegeallmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen.

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Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistischeReform begründet werden? Durch bestimmte Tendenzen derkapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn erstens leugnet er jadiese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorherGesagten die erwünschte Gestaltung der Produktion Ergebnis undnicht Ursache der Verteilung. Die Begründung seines Sozialismuskann also keine ökonomische sein. Nachdem er Zweck und Mitteldes Sozialismus und damit die ökonomischen Verhältnisse auf denKopf gestellt hat, kann er keine materialistische Begründung fürsein Programm geben, ist er gezwungen, zu einer idealistischen zugreifen.

»Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischenZwange?« hören wir ihn dann sagen. »Wozu die Degradierung derEinsicht, des Rechtsbewusstseins, des Willens der Menschen?«("Vorwärts" vom 26. März 1899). Die Bernsteinsche gerechtereVerteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste derwirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen,oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft derEinsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsideeverwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeitangelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allenWeltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicherBeförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigenRosinante, auf der alle Don Quichottes49 der Geschichte zur großenWeltreform hinausritten, um schließlich nichts andresheimzubringen als ein blaues Auge.

Das Verhältnis von arm und reich als gesellschaftlicheGrundlage des Sozialismus, das »Prinzip« derGenossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die »gerechtere Verteilung«als sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzigegeschichtliche Legitimation - mit wie viel mehr Kraft, mit wie vielmehr Geist, mit wie viel mehr Glanz vertrat doch Weitling vor

49 Don Quichotte: spanischer Ritter im gleichnamigen satirischen Roman vonMiguel Cervantes; Rosinante ist der Name seines Pferdes.

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mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannteder geniale Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus nochnicht. Und wenn heute, nach einem halben Jahrhundert, seine vonMarx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung glücklichwieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztesWort der Wissenschaft angeboten wird, so gehört dazu allenfallsauch ein Schneider ... aber kein genialer.

Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften ökonomischeStützpunkte, so ist die wichtigste politische Voraussetzung derrevisionistischen Theorie eine stets fortschreitende Entwicklung derDemokratie. Die heutigen Reaktionsausbrüche sind demRevisionismus nur »Zuckungen«, die er für zufällig undvorübergehend hält, und mit denen bei der Aufstellung derallgemeinen Richtschnur für den Arbeiterkampf nicht zu rechnensei.

(Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund vonmündlichen und schriftlichen Versicherungen seiner Freunde überdie Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt, sondern welcher innere,objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und dertatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.)50

Nach Bernstein z.B. erscheint die Demokratie als eineunvermeidliche Stufe in der Entwicklung der modernenGesellschaft, ja, die Demokratie ist ihm, ganz wie dem bürgerlichenTheoretiker der Liberalismus, das große Grundgesetz dergeschichtlichen Entwicklung überhaupt, dessen Verwirklichung allewirkenden Mächte des politischen Lebens dienen müssen. Das istaber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als einekleinbürgerliche, und zwar oberflächliche Schablonisierung derErgebnisse eines kleinen Zipfelchens der bürgerlichenEntwicklung, etwa der letzten 25 bis 30 Jahre. Sieht man sich dieEntwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich diepolitische Geschichte des Kapitalismus näher an, so kommt einwesentlich anderes Resultat heraus.

50 In der 2. Auflage gestrichen.

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Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in denverschiedensten Gesellschaftsformationen: in den ursprünglichenkommunistischen Gesellschaften, in den antiken Sklavenstaaten, inden mittelalterlichen städtischen Kommunen. Desgleichenbegegnen wir dem Absolutismus und der konstitutionellenMonarchie in den verschiedensten wirtschaftlichenZusammenhängen. Andererseits ruft der Kapitalismus in seinenAnfängen - als Warenproduktion - eine demokratische Verfassungin den städtischen Kommunen ins Leben; später, in seinerentwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absolutenMonarchie seine entsprechende politische Form. Endlich alsentfaltete industrielle Wirtschaft erzeugt er in Frankreichabwechselnd die demokratische Republik (1793), die absoluteMonarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit(1815 bis 1830), die bürgerliche konstitutionelle Monarchie desLouis Philippe, wieder die demokratische Republik, wieder dieMonarchie Napoleons III., endlich zum dritten Mal die Republik.In Deutschland ist die einzige wirkliche demokratischeEinrichtung, das allgemeine Wahlrecht, nicht eine Errungenschaftdes bürgerlichen Liberalismus, sondern ein Werkzeug derpolitischen Zusammenschweißung der Kleinstaaterei und hat bloßinsofern eine Bedeutung in der Entwicklung der deutschenBourgeoisie, die sich sonst mit einer halbfeudalen konstitutionellenMonarchie zufrieden gibt. In Russland gedieh der Kapitalismuslange unter dem orientalischen Selbstherrschertum, ohne dass dieBourgeoisie Miene machte, sich nach der Demokratie zu sehnen. InÖsterreich ist das allgemeine Wahlrecht zum großen Teil als einRettungsgürtel für die auseinander fallende Monarchie erschienen,(und wie wenig es mit der eigentlichen Demokratie verbunden ist,beweist die Herrschaft des § 14).51 In Belgien endlich steht diedemokratische Errungenschaft der Arbeiterbewegung - dasallgemeine Wahlrecht - in unzweifelhaftem Zusammenhang mit derSchwäche des Militarismus, also mit der besonderen geographisch-politischen Lage Belgiens, und vor allem ist sie eben ein nicht

51 In der 2. Aufl. gestrichen. (Auf Grund des § 14 der Verfassung konnten in derhabsburgischen Monarchie die verfassungsmäßigen Garantien, auch dasParlament, außer Kraft gesetzt werden. Er wurde öfters angewandt.)

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durch die Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie erkämpftes"Stück Demokratie".

Der ununterbrochene Aufstieg der Demokratie, der unseremRevisionismus wie dem bürgerlichen Freisinn als das großeGrundgesetz der menschlichen und zum mindesten der modernenGeschichte erscheint, ist somit nach näherer Betrachtung einLuftgebilde. Zwischen der kapitalistischen Entwicklung und derDemokratie lässt sich kein allgemeiner absoluter Zusammenhangkonstruieren. Die politische Form ist jedes Mal das Ergebnis derganzen Summe politischer, innerer und äußerer, Faktoren und lässtin ihren Grenzen die ganze Stufenleiter von der absolutenMonarchie bis zur demokratischen Republik zu.

Wenn wir somit von einem allgemeinen geschichtlichen Gesetzder Entwicklung der Demokratie auch im Rahmen der modernenGesellschaft absehen müssen und uns bloß an die gegenwärtigePhase der bürgerlichen Geschichte wenden, so sehen wir auch hierin der politischen Lage Faktoren, die nicht zur Verwirklichung desBernsteinschen Schemas, sondern vielmehr gerade umgekehrt, zurPreisgabe der bisherigen Errungenschaften seitens der bürgerlichenGesellschaft führen.

Einerseits haben die demokratischen Einrichtungen, was höchstwichtig ist, für die bürgerliche Entwicklung in hohem Maße ihreRolle ausgespielt. Insofern sie zur Zusammenschweißung derKleinstaaten und zur Herstellung moderner Großstaaten notwendigwaren (Deutschland, Italien), sind sie entbehrlich geworden; diewirtschaftliche Entwicklung hat inzwischen eine innere organischeVerwachsung herbeigeführt, (und der Verband der politischenDemokratie kann insofern ohne Gefahr für den Organismus derbürgerlichen Gesellschaften abgenommen werden.)52

Dasselbe gilt in Bezug auf die Umgestaltung der ganzenpolitisch-administrativen Staatsmaschine aus einem halb- oderganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus. DieseUmgestaltung, die geschichtlich von der Demokratie

52 In der 2. Auflage gestrichen

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unzertrenntlich war, ist heute gleichfalls in so hohem Maßeerreicht, dass die rein demokratischen Ingredienzien (Zutaten) desStaatswesens, das allgemeine Wahlrecht, die republikanischeStaatsform, an sich ausscheiden könnten, ohne dass dieAdministration, das Finanzwesen, das Wehrwesen usw. in dievormärzlichen Formen zurückzufallen brauchten.

Ist auf diese Weise der Liberalismus für die bürgerlicheGesellschaft als solche wesentlich überflüssig, so andererseits inwichtigen Beziehungen direkt ein Hindernis geworden. Hierkommen zwei Faktoren in Betracht, die das gesamte politischeLeben der heutigen Staaten geradezu beherrschen: die Weltpolitikund die Arbeiterbewegung - beides nur zwei verschiedene Seitender gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Die Ausbildung der Weltwirtschaft und die Verschärfung undVerallgemeinerung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarktehaben den Militarismus und Marinismus als Werkzeuge derWeltpolitik zum tonangebenden Moment ebenso des äußeren wiedes inneren Lebens der Großstaaten gemacht. Ist aber dieWeltpolitik und der Militarismus eine aufsteigende Tendenz derheutigen Phase, so muss sich folgerichtig die bürgerlicheDemokratie auf absteigender Linie bewegen. (SchlagendstesBeispiel: die nordamerikanische Union seit dem spanischen Kriege.In Frankreich verdankt die Republik ihre Existenz hauptsächlichder internationalen politischen Lage, die einen Krieg vorläufigunmöglich macht. Käme es zu einem solchen und würde sichFrankreich, wie allem Anschein nach anzunehmen ist, als für dieWeltpolitik nicht gerüstet erweisen, dann wäre die Antwort auf dieerste Niederlage Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz - dieProklamierung der Monarchie in Paris. In Deutschland wurden dieneue Ära der großen Rüstungen (1893) und die mit Kiautschou53

inaugurierte [beginnen, einleiten] Weltpolitik sofort mit zwei

53 Am 14. November 1897 hatte der deutsche Imperialismus das Gebiet vonKiautschou annektiert. In einem Abkommen vom 6. März 1898 war diechinesische Regierung gezwungen worden, die Bucht von Kiautschou auf 99Jahre an das Deutsche Reich als Flottenstützpunkt zu verpachten und ihm dasHinterland Schantung als Einflußsphäre zuzugestehen.

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Opfern von der bürgerlichen Demokratie: dem Zerfall des Freisinnsund dem Umfall des Zentrums bezahlt.)54/55

Treibt somit die auswärtige Politik die Bourgeoisie in die Armeder Reaktion, so nicht minder die innere Politik - die aufstrebendeArbeiterklasse. Bernstein gibt dies selbst zu, indem er diesozialdemokratische »Freßlegende«56, d.h. die sozialistischenBestrebungen der Arbeiterklasse für die Fahnenflucht der liberalenBourgeoisie verantwortlich macht. Er rät dem Proletariat imAnschluss daran, um den zu Tode erschrockenen Liberalismuswieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken, seinsozialistisches Endziel fallen zu lassen. Damit beweist er aber selbtam Schlagendsten, indem er den Wegfall der sozialistischenArbeiterbewegung zur Lebensbedingung und zur sozialenVoraussetzung der bürgerlichen Demokratie heute macht, dass diese

54 R.L. hat diese Auffassung von der mutmaßlichen Einwirkung eines Kriegesauf Frankreich korrigiert. An Stelle des eingeklammerten Absatzes steht in der 2.Auflage folgendes: In Deutschland wurde die Ära der großen Rüstungen, dieseit 1893 datiert, und die mit Kiautschou inaugurierte Weltpolitik sofort von derbürgerlichen Demokratie mit zwei Opfern: dem Zerfall des Freisinns und demUmfall des Zentrums aus einer Oppositionspartei zur Regierungspartei bezahlt.Die jüngsten Reichstagswahlen 1907*, die unter dem Zeichen derKolonialpolitik ausgefochten wurden, sind zugleich das historische Begräbnisdes deutschen Liberalismus.

* Reichstagswahlen von 1907: Nach einer bitteren chauvinistischen Kampagnesank die Zahl der sozialdemokratischen Mandaten von 81 auf 43, obwohl ihrAnteil der Stimmen mehr oder weniger dem 1903er Anteil gleich blieb. Diesgeschah, weil die verschiedenen liberalen Parteien, die früher in denNachwahlen ihre Stimmen an die SPD weitergaben, jetzt nationalistische undsogar antisemitischen Parteien unterstützten.55 Die Freisinnige Partei: linksliberale Partei in Deutschland, die eine Art Staats-oder Nationalsozialismus (nicht Nazismus) befürwortete; wurde nach 1903wichtig nach dem Beitritt von Naumann und seinen Nationalsozialisten. – DasZentrum: römisch-katholische Partei in Deutschland, die in der Mitte desParlaments saß und zwischen der Regierung und der Linken schwankte.56 Unter »Freßlegende« versteht Bernstein »die Redensarten, die eine allgemeine,gleichzeitige und gewalttätige Expropriation unterstellen« ("Neue Zeit" 898/99 II. S. 89)

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Demokratie in gleichem Maße der inneren Entwicklungstendenzder heutigen Gesellschaft widerspricht, wie die sozialistischeArbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.

Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzichtauf das sozialistische Endziel seitens der Arbeiterklasse zurVoraussetzung und Bedingungen des Wiederauflebens derbürgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig,umgekehrt die bürgerliche Demokratie eine notwendigeVoraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung unddes sozialistischen Sieges sein kann. Hier schließt sich dasBernsteinsche Räsonnement [Schlussfolgerung] zu einemfehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlussfolgerung seine ersteVoraussetzung »frißt«.

Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: aus derTatsache, dass der bürgerliche Liberalismus vor Schreck vor deraufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren Endzielen seine Seeleausgehaucht hat, folgt nur, dass die sozialistischeArbeiterbewegung eben heute die einzige Stütze der Demokratie istund sein kann, und dass nicht die Schicksale der sozialistischenBewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt dieSchicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistischeBewegung gebunden sind. Dass die Demokratie nicht in dem Maßelebensfähig wird, als die Arbeiterklasse ihren Emanzipationskampfaufgibt, sondern umgekehrt, in dem Maße, als die sozialistischeBewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen derWeltpolitik und der bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen. Dass,wer die Stärkung der Demokratie wünscht, auch Stärkung und nichtSchwächung der sozialistischen Bewegung wünschen muss, unddass mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebensodie Arbeiterbewegung wie die Demokratie aufgegeben wird.

(Bernstein erklärt am Schluss seiner "Antwort" an Kautsky im"Vorwärts" vom 26. März 1899, er sei mit dem praktischen Teil desProgramms der Sozialdemokratie im Ganzen durchauseinverstanden, er hätte bloß gegen dessen theoretischen Teil etwaseinzuwenden. Dessen ungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug

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und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu können,denn welches »Gewicht« ist darauf zu legen, »Ob im theoretischenTeil ein Satz steht, der mit seiner Auffassung vom Gang derEntwicklung nicht mehr stimmt«? Diese Erklärung zeigt im bestenFalle, wie vollständig Bernstein den Sinn für den Zusammenhangder praktischen Tätigkeit der Sozialdemokratie mit ihrenallgemeinen Grundsätzen verloren hat, wie sehr dieselben Worteaufgehört haben, für die Partei und für Bernstein dasselbeauszudrücken. Tatsächlich führen die eigenen Theorien Bernsteins,wie wir gesehen, zu der elementarsten sozialdemokratischenErkenntnis, dass ohne die grundsätzliche Basis auch der praktischeKampf wertlos und zwecklos wird, dass mit dem Aufgeben desEndziels auch die Bewegung selbst zugrunde gehen muss.)57

3. Die Eroberung der politischen Macht

Die Schicksale der Demokratie sind, wie wir gesehen, an dieSchicksale der Arbeiterbewegung gebunden. Aber macht denn dieEntwicklung der Demokratie auch im besten Falle eineproletarische Revolution im Sinne der Ergreifung der Staatsgewalt,der Eroberung der politischen Macht überflüssig oder unmöglich?

Bernstein entscheidet diese Frage auf dem Wege einergründlichen Abwägung der guten und schlechten Seiten dergesetzlichen Reform und der Revolution, und zwar mit einerBehaglichkeit, die an das Abwägen von Zimt und Pfeffer in einemKonsumverein erinnert. In dem gesetzlichen Gang der Entwicklungsieht er die Wirkung des Intellekts, in dem revolutionären die desGefühls, in der Reformarbeit eine langsame, in der Revolution einerasche Methode des geschichtlichen Fortschritts, in derGesetzgebung eine planmäßige, in dem Umsturz eineelementarische Gewalt. (S. 183)

Es ist nun eine alte Geschichte, dass der kleinbürgerlicheReformer in allen Dingen der Welt eine »gute« und eine»schlechte« Seite sieht und dass er von allen Blumenbeeten nascht.Eine ebenso alte Geschichte ist es aber, dass der wirkliche Gang der

57 In der 2. Auflage gestrichen

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Dinge sich um kleinbürgerliche Kombinationen sehr wenigkümmert und das sorgfältigst zusammengeschleppte Häuflein»guter Seiten« von allen möglichen Dingen der Welt mit einemNasenstüber in die Luft sprengt. Tatsächlich sehen wir in derGeschichte die gesetzliche Reform und die Revolution nachtieferen Gründen als die Vorzüge oder Nachteile dieses oder jenesVerfahrens funktionieren.

In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente diegesetzliche Reform zur allmählichen Erstarkung der aufstrebendenKlasse, bis sie sich reif genug fühlte, die politische Macht zuerobern und das ganze bestehende Rechtsystem umzuwerfen, umein neues aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung derpolitischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert,passiert das Malheur, dass er das, was seit Jahrhunderten derAngelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, füreinen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesell-schaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhaltihrer Geschichte bildet, war nämlich die Eroberung der politischenMacht stets ebenso das Ziel aIler aufstrebenden Klassen, wie derAusgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Diessehen wir in den langen Kämpfen des Bauerntums mit denGeldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den Kämpfen desPatriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit denPatriziern mit den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen derBourgeoisie mit dem Feudalismus in der Neuzeit.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nichtverschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man indem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße Würstchen oderkalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momentein der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebensobedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z.B.Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß einProdukt der Revolution. Während die Revolution der politischeSchöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das

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politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzlicheReformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolutionunabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiodenur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzteUmwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gespro-chen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Weltgesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.

Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzlicheReformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und dieRevolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Einesoziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durchdie Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente.Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch denGebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlageder bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität,konkret gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode,einer Gesellschaftsordnung in eine andere.

Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und imGegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zurUmwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nichteinen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel,sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführungeiner neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentlicheVeränderungen in der alten. So gelangt man von den politischenAnsichten des Revisionismus zu demselben Schluss, wie vonseinen ökonomischen Theorien: dass sie im Grunde genommennicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondernbloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf dieAufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Wenigerder Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung derkapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbstabzielen.

Vielleicht behalten aber die obigen Sätze über die Funktion dergesetzlichen Reform und der Revolution ihre Richtigkeit bloß inBezug auf die bisherigen Klassenkämpfe? Vielleicht ist von nun an,

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dank der Ausbildung des bürgerlichen Rechtssystems, dergesetzlichen Reform auch die Überführung der Gesellschaft auseiner geschichtlichen Phase in eine andere zugewiesen und dieErgreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat »zur inhaltlosenPhrase geworden«, wie Bernstein auf Seite 183 seiner Schrift sagt?

Das gerade und direkte Gegenteil ist der Fall. Was zeichnet diebürgerliche Gesellschaft von den früheren Klassengesellschaften -der antiken und der mittelalterlichen - aus? Eben der Umstand, dassdie Klassenherrschaft jetzt nicht auf »wohl erworbenen Rechten«,sondern auf tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen beruht,dass das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein reinökonomisches ist. Man wird in unserem ganzen Rechtssystemkeine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaftfinden. Gibt es Spuren von einer solchen, dann sind es eben, wiedie Gesindeordnung, Überbleibsel der feudalen Verhältnisse.

Wie also die Lohnsklaverei »auf gesetzlichem Wege«stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nichtausgedrückt ist? Bernstein, der sich an die gesetzliche Reformarbeitmachen will, um dem Kapitalismus auf diesem Wege ein Ende zubereiten, gerät in die Lage jenes russischen Schutzmannes, der beiUspienski sein Abenteuer erzählt:... »Schnell packte ich den Kerlam Kragen und was stellte sich heraus? Dass der verdammte Kerlkeinen Kragen hatte!«58 Da liegt eben der Hase im Pfeffer.

»Alle bisherige Gesellschaft beruhte auf dem Gegensatzunterdrückter und unterdrückender Klassen« (DasKommunistische Manifest, S. 17 [Karl Marx und FriedrichEngels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx/Engels:Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S. 473]) Aber in den vorhergehendenPhasen der modernen Gesellschaft war dieser Gegensatz inbestimmten rechtlichen Vehältnissen ausgedrückt und konnte ebendeshalb bis zu einem gewisen Grad den aufkommenden neuenVerhältnissen noch im Rahmen der alten Raum gewähren. »DerLeibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der

58 Gleb Iwanowitsch Uspenski (1840–1902): russischer Schriftsteller, der Romane über das Leben der Bauern schrieb.

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Leibeigenschaft herausgearbeitet« (Kommunistisches ManifestS.17). Wieso? Durch stufenweise Aufhebung im Weichbilde derStadt aller jener Splitterrechte: der Fronden, Kurmeden59, desGewandrechts, Besthaupts, Kopfzinses, Heiratszwanges,Erbteilungsrechts usw. usw., deren Gesamtheit die Leibeigenschaftausmachte.

Desgleichen arbeitete sich »der Kleinbürger zum Bourgeoisunter dem Joch des feudalistischen Absolutismus« empor (a.a.O. S.7) Auf welchem Wege? Durch teilweise formelle Aufhebung odertatsächliche Lockerung der Zunftfesseln, durch allmählicheUmbildung der Verwaltung, des Finanz- und Wehrwesens in demallernotwendigsten Umfange.

Will man also abstrakt, anstatt geschichtlich, die Fragebehandeln, so lässt sich bei den früheren Klassenverhältnissen einrein gesetzlich-reformlerischer Übergang von der feudalen zurbürgerlichen Gesellschaft wenigstens denken. Was sehen wir aberin der Tat? Dass auch dort die gesetzlichen Reformen nicht dazudienten, die Ergreifung der politischen Macht durch das Bürgertumüberflüssig zu machen, sondern umgekehrt, sie vorzubereiten undherbeizuführen. Eine förmliche politisch-soziale Umwälzung warunentbehrlich, ebenso zur Aufhebung der Leibeigenschaft, wie zurAbschaffung des Feudalismus.

Ganz anders noch liegen aber die Dinge jetzt. Der Proletarierwird durch kein Gesetz gezwungen, sich in das Joch des Kapitalszu spannen, sondern durch die Not, durch den Mangel anProduktionsmitteln. Kein Gesetz in der Welt kann ihm aber imRahmen der bürgerlichen Gesellschaft diese Mittel zudekretieren,weil er ihrer nicht durch Gesetz, sondern durch ökonomischeEntwicklung beraubt wurde.

Ferner beruht die Ausbeutung innerhalb des Lohnverhältnissesgleichfalls nicht auf Gesetzen, denn in Höhe der Löhne wird nicht

59 Kurmeden: Besitzwechselabgabe, die beim Tod eines dinglich oder persönlichAbhängigen an den Herrn zu zahlen war, meist in Form des besten Stückes Vieh,des besten Gewandes oder ähnlichem, wobei dem Herrn die Wahl zustehenkonnte.

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auf gesetzlichem Wege, sondern durch ökonomische Faktorenbestimmt. Und die Tatsache selbst der Ausbeutung beruht nicht aufeiner gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der reinwirtschaftlichen Tatsache, dass die Arbeitskraft als Ware auftritt,die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert, undzwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst in den Lebensmittelndes Arbeiters vertilgt. Mit einem Worte, alle Grundverhältnisse derkapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzlicheReformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten, weilsie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestaltvon solchen Gesetzen erhalten haben. Bernstein weiß das nicht,wenn er eine sozialistische »Reform« plant, aber was er nicht weiß,das sagt er, indem er auf S. 10 seines Buches schreibt, dass »dasökonomische Motiv heute frei auftritt, wo es früher durchHerrschaftsverhältnisse und Ideologien aller Art verkleidet war«.

Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Es ist die andereBesonderheit der kapitalistischen Ordnung, dass in ihr alleElemente der künftigen Gesellschaft in ihrer Entwicklung vorersteine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht nähern,sondern von ihm entfernen. In der Produktion wird immer mehr dergesellschaftliche Charakter zum Ausdruck gebracht. Aber inwelcher Form? Von Großbetrieb, Aktiengesellschaft, Kartell, wodie kapitalistischen Gegensätze, die Ausbeutung, die Unterjochungder Arbeitskraft aufs höchste gesteigert werden.

Im Wehrwesen führt die Entwicklung die Verbreitung derallgemeinen Wehrpflicht, die Verkürzung der Dienstzeit, alsomateriell die Annäherung an das Volksheer herbei. Aber dies in derForm von modernem Militarismus, wo die Beherrschung desVolkes durch den Militärstaat, der Klassencharakter des Staateszum grellsten Ausdruck kommt.

In den politischen Verhältnissen führt die Entwicklung derDemokratie, insofern sie günstigen Boden hat, zur Beteiligung allerVolksschichten am politischen Leben, also gewissermaßen zum»Volksstaat«. Aber dies in der Form des bürgerlichenParlamentarismus, wo die Klassengegensätze, die

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Klassenherrschaft nicht aufgehoben sind, sondern vielmehrentfaltet und bloßgelegt werden. Weil sich die ganze kapitalistischeEntwicklung somit in Widersprüchen bewegt, so muss, um denKern der sozialistischen Gesellschaft aus der ihmwidersprechenden kapitalistischen Hülle herauszuschälen, auch ausdiesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht durch dasProletariat und zur gänzlichen Aufhebung des kapitalistischenSystems gegriffen werden.

Bernstein zieht freilich andere Schlüsse daraus: führte dieEntwicklung der Demokratie zur Verschärfung und nicht zurAbschwächung der kapitalistischen Widersprüche, dann »müsstedie Sozialdemokratie«, antwortet er uns, »wenn sie sich nicht selbstdie Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterungder demokratischen Einrichtungen nach Möglichkeit zu vereitelnstreben« (S.71). Dies allerdings, wenn die Sozialdemokratie nachkleinbürgerlicher Art an dem müßigen Geschäft des Auswählensaller guten Seiten und des Wegwerfens schlechter Seiten derGeschichte Geschmack fände. Nur müsste sie dann folgerichtigauch den ganzen Kapitalismus überhaupt »zu vereiteln streben«,denn er ist doch unbestreitbar der Hauptbösewicht, der ihr alleHindernisse auf dem Wege zum Sozialismus stellt. Tatsächlich gibtder Kapitalismus neben und zugleich mit Hindernissen auch dieeinzigen Möglichkeiten, das sozialistische Programm zuverwirklichen. Dasselbe gilt aber vollkommen auch in Bezug aufdie Demokratie.

Ist die Demokratie für die Bourgeoisie teils überflüssig, teilshinderlich geworden, so ist sie für die Arbeiterklasse dafürnotwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens notwendig, weil siepolitische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u. dergl.) schafft,die als Ansätze und Stützpunkte für das Proletariat bei seinerUmgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie istaber zweitens unentbehrlich, weil nur in ihr, in dem Kampfe um dieDemokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zumBewusstsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichenAufgaben kommen kann.

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Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weilsie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariatüberflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese Machtergreifungebenso notwendig, wie auch einzig möglich macht. Wenn Engelsdie Taktik der heutigen Arbeiterbewegung in seinem Vorwort zuden "Klassenkämpfen in Frankreich" revidierte und den Barrikadenden gesetzlichen Kampf entgegenstellte, so behandelte er - was ausjeder Zeile des Vorwortes klar ist - nicht die Frage der endgültigenEroberung der politischen Macht, sondern die des heutigenalltäglichen Kampfes, nicht das Verhalten des Proletariatsgegenüber dem kapitalistischen Staate im Moment der Ergreifungder Staatsgewalt, sondern sein Verhalten im Rahmen deskapitalistischen Staates. Mit einem Wort, Engels gab dieRichtschnur dem beherrschten Proletariat und nicht demsiegreichen.

Umgekehrt bezieht sich der bekannte Ausspruch von Marx überdie Bodenfrage in England, auf den sich Bernstein gleichfallsberuft: »man käme wahrscheinlich am billigsten fort, wenn man dieLandlords auskaufte«60, nicht auf das Verhalten des Proletariats vorseinem Siege, sondern nach dem Siege. Denn von »Auskaufen« derherrschenden Klassen kann offenbar nur dann die Rede sein, wenndie Arbeiterklasse am Ruder ist. Was Marx somit hier als möglichin Erwägung zog, ist die friedliche Ausübung der proletarischenDiktatur und nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistischeSozialreformen.

Die Notwendigkeit selbst der Ergreifung der politischen Machtdurch das Proletariat war ebenso für Marx wie Engels zu allenZeiten außer Zweifel. Und es blieb Bernstein vorbehalten, denHühnerstall des bürgerlichen Parlamentarismus für das berufeneOrgan zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche

60 Eine Entschädigung sehen wir keineswegs unter allen Umständen alsunzulässig an; Marx hat mir – wie oft! – als seine Ansicht ausgesprochen, wirkämen am wohlfeilsten weg, wenn wir die ganze Bande auskaufen könnten.“(Friedrich Engels: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, inMarx/Engels: Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 504.)

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Umwälzung: die Überführung der Gesellschaft aus denkapitalistischen in sozialistische Formen vollzogen werden soll.

Aber Bernstein hat ja seine Theorie bloß mit der Befürchtungund der Warnung angefangen, dass das Proletariat nicht zu früh ansRuder komme! In diesem Falle müsste es nämlich nach Bernsteindie bürgerlichen Zustände ganz so lassen, wie sie sind und selbsteine furchtbare Niederlage erleiden. Was aus dieser Befürchtungvor allem ersichtlich, ist, dass die Bernsteinsche Theorie für dasProletariat, falls es durch die Verhältnisse ans Ruder gebracht wäre,nur Eine »praktische« Anweisung hat: sich schlafen zu legen.Damit richtet sie sich aber ohne weiteres selbst, als eineAuffassung, die das Proletariat in den wichtigsten Fällen desKampfes zur Untätigkeit, also zum passiven Verrate an der eigenenSache verurteilt.

Tatsächlich wäre unser ganzes Programm ein elender WischPapier, wenn es uns nicht für alle Eventualitäten und in allenMomenten des Kampfes zu dienen, und zwar durch seine Ausübungund nicht durch seine Nichtausübung zu dienen imstande wäre. Istunser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichenEntwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus,dann muss es offenbar auch alle Übergangsphasen dieserEntwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, alsoauch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zumSozialismus in jedem Moment dem Proletariat anweisen können.Daraus folgt, dass es überhaupt für das Proletariat keinenAugenblick geben kann, in dem es gezwungen wäre, seinProgramm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programmkönnte im Stiche gelassen werden.

Praktisch äußert sich das in der Tatsache, dass es keinenMoment geben kann, in dem das Proletariat, durch den Gang derDinge ans Ruder gebracht, nicht in der Lage und auch nichtverpflichtet wäre, gewisse Maßregeln zur Verwirklichung seinesProgramms, gewisse Übergangsmaßregeln im Sinne desSozialismus zu treffen. Hinter der Behauptung, das sozialistischeProgramm könnte in irgend einem Augenblick der politischen

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Herrschaft des Proletariats völlig versagen und gar keineAnweisungen zu seiner Verwirklichung geben, steckt unbewusst dieandere Behauptung: das sozialistische Programm sei überhaupt undjederzeit unrealisierbar.

Und wenn die Übergangsmaßregeln verfrüht sind? Diese Fragebirgt in sich einen ganzen Knäuel von Missverständnissen in Bezugauf den wirklichen Gang sozialer Umwälzungen.

Die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, d.h. durcheine große Volksklasse, lässt sich vor allem nicht künstlichherbeiführen. Sie setzt von selbst, abgesehen von Fällen, wie diePariser Kommune, wo die Herrschaft dem Proletariat nicht alsErgebnis seines zielbewussten Kampfes, sondern ausnahmsweiseals von allen verlassenes herrenloses Gut in den Schoß fiel, einenbestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen Verhältnissevoraus.

Hier liegt der Hauptunterschied zwischen blanquistischenStaatsstreichen einer »entschlossenen Minderheit«, die jederzeit

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wie aus der Pistole geschossen und eben deshalb immerunzeitgemäß kommen, und der Eroberung der Staatsgewalt durchdie große und klassenbewusste Volksmasse, die selbst nur dasProdukt eines beginnenden Zusammenbruches der bürgerlichenGesellschaft sein kann, deshalb in sich selbst die ökonomisch-politische Legitimation ihrer zeitgemäßen Erscheinung trägt.

Kann somit die Eroberung der politischen Macht durch dieArbeiterklasse vom Standpunkt der gesellschaftlichen Vorausset-zungen gar nicht »zu früh« geschehen, so muss sie andererseitsvom Standpunkte des politischen Effekts: der Festhaltung derGewalt, notwendig »zu früh« stattfinden. Die verfrühte Revolution,die Bernstein nicht schlafen lässt, bedroht uns wie dasDamoklesschwert, und dagegen hilft kein Bitten und Beten, keinBangen und Zagen. Und zwar aus zwei sehr einfachen Gründen.

Erstens ist eine so gewaltige Umwälzung, wie die Überführungder Gesellschaft aus der kapitalistischen in die sozialistischeOrdnung, ganz undenkbar auf einen Schlag, durch einensiegreichen Streich des Proletariats. Dies als möglich voraussetzen,hieße wiederum eine echt blanquistische Auffassung an den Taglegen. Die sozialistische Umwälzung setzt einen langen undhartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem Anscheinenach mehr als einmal zurückgeworfen wird, so dass es das ersteMal, vom Standpunkte des Endresultates des ganzen Kampfesgesprochen, notwendig "zu früh" ans Ruder gekommen sein wird.

Zweitens aber lässt sich das »verfrühte« Ergreifen derStaatsgewalt auch deshalb nicht vermeiden, weil diese»verfrühten« Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwarsehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen desendgültigen Sieges schafft, indem das Proletariat erst im Laufejener politischen Krise, die seine Machtergreifung begleiten wird,erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe den erforderlichenGrad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigengroßen Umwälzung befähigen wird. So stellen sich denn jene»verfrühten« Angriffe des Proletariats auf die politischeStaatsgewalt selbst als wichtige geschichtliche Momente heraus,

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die auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mit herbeiführenund mitbestimmen. Von diesem Standpunkte erscheint dieVorstellung einer »verfrühten« Eroberung der politischen Machtdurch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der voneiner mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht undeinen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmtenZeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.

Da aber das Proletariat somit gar nicht imstande ist, dieStaatsgewalt anders als »zu früh« zu erobern, oder mit anderenWorten, da es sie unbedingt einmal oder mehrmals »zu früh«erobern muss, um sie schließlich dauernd zu erobern, so ist dieOpposition gegen die »verfrühte« Machtergreifung nichts als dieOpposition gegen die Bestrebung des Proletariats überhaupt, sichder Staatsgewalt zu bemächtigen.

Also auch von dieser Seite gelangen wir folgerichtig, wie durchalle Straßen nach Rom, zu dem Ergebnis, dass die revisionistischeAnweisung, das sozialistische Endziel fallen zu lassen, auf dieandere hinauskommt, auch die ganze sozialistische Bewegungaufzugeben, (dass sein Rat an die Sozialdemokratie, sich im Falleder Machteroberung »schlafen zu legen«, mit dem anderenidentisch ist: sich nun und überhaupt schlafen zu legen, d.h. auf denKlassenkampf zu verzichten)Q.

4. Der Zusammenbruch

Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischenProgramms mit dem Aufgeben der Theorie des kapitalistischenZusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch derbürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichenSozialismus ist, so musste die Entfernung dieses Ecksteins logischzum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen Auffassung beiBernstein führen. Im Laufe der Debatte gibt er, um seine ersteBehauptung aufrecht zu erhalten, eine Position des Sozialismusnach der anderen preis.

Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus ist die Expropriationder Kapitalistenklasse unmöglich - Bernstein verzichtet auf die

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Expropriation und stellt als Ziel der Arbeiterbewegung dieallmähliche Durchführung des »Genossenschaftlichkeitsprinzips«auf.

Aber die Genossenschaftlichkeit lässt sich inmitten derkapitalistischen Produktion nicht durchführen - Bernstein verzichtetauf die Vergesellschaftung der Produktion und kommt auf dieReform des Handels, auf den Konsumverein.

Aber die Umgestaltung der Gesellschaft durch dieKonsumvereine, auch mit Gewerkschaften zusammen, verträgt sichnicht mit der tatsächlichen materiellen Entwicklung derkapitalistischen Gesellschaft - Bernstein gibt die materialistischeGeschichtsauffassung auf.

Aber seine Auffassung von dem Gang der ökonomischenEntwicklung verträgt sich nicht mit dem MarxschenMehrwertgesetz - Bernstein gibt das Mehrwert- und das Wertgesetzund damit die ganze ökonomische Theorie von Karl Marx auf.

Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne ökonomischen Bodenin der gegenwärtigen Gesellschaft kann der proletarischeKlassenkampf nicht geführt werden - Bernstein gibt denKlassenkampf auf und verkündet die Aussöhnung mit dembürgerlichen Liberalismus.

Aber in einer Klassengesellschaft ist der Klassenkampf eineganz natürliche, unvermeidliche Erscheinung - Bernstein bestreitetin weiterer Konsequenz sogar das Bestehen der Klassen in unsererGesellschaft: die Arbeiterklasse ist ihm bloß ein Haufen nicht nurpolitisch und geistig, sondern auch wirtschaftlich zersplitterterIndividuen. Und auch die Bourgeoisie wird nach ihm nicht durchinnere ökonomische Interessen, sondern bloß durch äußeren Druckvon oben oder von unten - politisch zusammengehalten.

Aber wenn es keinen ökonomischen Boden für denKlassenkampf und im Grunde genommen auch keine Klassen gibt,so erscheint nicht nur der künftige Kampf des Proletariats mit derBourgeoisie unmöglich, sondern auch der bisherige, so erscheintdie Sozialdemokratie selbst mit ihren Erfolgen unbegreiflich. Oder

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aber sie wird begreiflich gleichfalls nur als Resultat des politischenRegierungsdruckes, nicht als gesetzmäßiges Ergebnis dergeschichtlichen Entwicklung, sondern als Zufallsprodukt deshohenzollernschen Kurses, nicht als legitimes Kind derkapitalistischen Gesellschaft, sondern als Bastard der Reaktion. Soführt Bernstein mit zwingender Logik von der materialistischenGeschichtsauffassung zu der "Frankfurter" und der "VossischenZeitung61.

Es bleibt nur noch übrig, nachdem man die ganze sozialistischeKritik der kapitalistischen Gesellschaft abgeschworen hat, dasBestehende wenigstens im Großen und Ganzen auch befriedigendzu finden. Und auch davor schreckt Bernstein nicht zurück: erfindet jetzt die Reaktion in Deutschland nicht so stark, »in denwesteuropäischen Staaten ist von politischer Reaktion nicht viel zumerken«, in fast allen Ländern des Westens ist »die Haltung derbürgerlichen Klassen der sozialistischen Bewegung gegenüberhöchstens eine der Defensive und keine der Unterdrückung«('Vorwärts' vom 26. März 1899). Die Arbeiter sind nichtverelendet, sondern im Gegenteil immer wohlhabender, dieBourgeoisie ist politisch fortschrittlich und sogar moralisch gesund,von Reaktion und Unterdrückung ist nichts zu sehen, - und allesgeht zum besten in dieser besten der Welten...

So kommt Bernstein ganz logisch und folgerichtig von A bisherunter auf Z. Er hatte damit angefangen, das Endziel um derBewegung willen aufzugeben. Da es aber tatsächlich keinesozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endzielgeben kann, so endet er notwendig damit, dass er auch dieBewegung selbst aufgibt.

Die ganze sozialistische Auffassung Bernsteins ist somitzusammengebrochen. Aus dem stolzen, symmetrischen, wunder-baren Bau des Marxschen Systems ist bei ihm nunmehr ein großerSchutthaufen geworden, in dem Scherben aller Systeme,

61 Die Frankfurter Zeitung: Tageszeitung kleinbürgerlich-demokratischerRichtung; erschien von 1856 bis 1943 in Frankfurt a.M. – Die VossischeZeitung: liberale Zeitung; veröffentlicht in Berlin; ursprünglich wöchentlich;gegründet 1704; ab 1824 Tageszeitung; Veröffentlichung eingestellt 1933.

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Gedankensplitter aller großen und kleinen Geister eine gemeinsameGruft gefunden haben. Marx und Proudhon, Leo von Buch undFranz Oppenheimer, Friedrich Albert Lange und Kant, HerrProkopovitsch und Dr. Ritter von Neupauer, Herkner und Schulze-Gävernitz, Lassalle und Prof. Julius Wolf62 - alle haben ihr Scherf-lein zu dem Bernsteinschen System beigetragen, bei allen ist er indie Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen desKlassenstandpunktes hat er den politischen Kompass, mit demAufgeben des wissenschaftlichen Sozialismus die geistige Kristal-lisationsachse verloren, um die sich einzelne Tatsachen zum orga-nischen Ganzen einer konsequenten Weltanschauung gruppieren.

62 Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865): französischer utopischer Sozialist;stellte eine Gesellschaft vor, die auf dem gerechten Austausch zwischenunabhängigen Produzenten beruhte; betrachtete den Staat als von wenigerBedeutung; gilt als theoretischen Vorgänger und ideologischen Begründer desAnarchismus; heftig von Marx kritisiert in seinem Buch Das Elend derPhilosophie.– Leo von Buch – Franz Oppenheimer (1864–1943): deutscherÖkonom und Soziologe; liberaler Sozialist. Bernstein zitiert ihn positiv. –Friedrich Albert Lange (1828–1875): deutscher neo-kantianischer Philosoph undSozialreformer. – Immanuel Kant (1724–1804): deutscher idealistischerPhilosoph; Gründer der klassischen deutschen Philosophie. – S.N. Prokopovitsch(1871–1952): russischer Ökonom und Publizist; bedeutender Vertreter des„Ökonomismus“; bedeutender Vertreter der Ideen von Bernstein in Rußland; ab1906 Mitglied des ZK der Partei der Konstitutionellen Demokraten; gehörte1917 der Provisorischen Regierung an; 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen.– Dr Joseph Ritter von Neupauer (??–??): deutscher bürgerlicher Ökonom,dessen Ideen Bernstein guthieß. – Heinrich Herkner (1863–1932): Student desKathedersozialisten Lujo Brentano; Vizepräsident des Vereins für Sozialreformab 1911; Präsident 1917–29. – Gerhart Schulze-Gävernitz (1864–1943):deutscher Ökonom. – Ferdinand Lassalle (1825–1864): deutscher Sozialist;Teilnehmer an der Revolution 1848/49 in Deutschland; Mitglied des Bundes derKommunisten; spielte bedeutende Rolle bei der Organisierung der deutschenArbeiterklasse durch seine Arbeit bei der Gründung des Allgemeinen DeutschenArbeitervereins (ADAV) 1862–64; neigte zum Staatssozialismus; seineAbneigung gegen die Bourgeoisie führte ihn zu Verhandlungen über politischeZusammenarbeit mit Bismarck; betonte die Rolle von Produktivgenossen-schaften; seine Ideen legten eine Basis für die Entwicklung des Opportunismusin der deutschen Sozialdemokratie; starb 1864 nach einem Duell. – Julius Wolf(1862–1937): österreichischer Ökonom; Professor in Zürich ab 1888;Doktorvater von Rosa Luxemburg; sie machte sich oft über ihn als einentypischen liberalen Akademiker lustig.

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Diese aus allen möglichen Systembrocken unterschiedsloszusammen gewürfelte Theorie scheint auf den ersten Blick ganzvorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von einer»Parteiwissenschaft«, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft,ebenso wenig von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoralhören. Er meint eine allgemein menschliche, abstrakteWissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zuvertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht,die diametral entgegen gesetzte Interessen, Bestrebungen undAuffassungen haben, so ist eine allgemein menschlicheWissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eineabstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung.Was Bernstein für seine allgemein menschliche Wissenschaft,Demokratie und Moral hält, ist bloß die herrschende, d.h. diebürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, diebürgerliche Moral.

In der Tat! Wenn er das Marxscheökonomische System abschwört, um aufdie Lehren von Brentano, Böhm-Jevons,Say63, Julius Wolf zu schwören, was tut eranderes, als die wissenschaftlicheGrundlage der Emanzipation derArbeiterklasse mit dem Apologetentum(Verherrlichung) der Bourgeoisievertauschen? Wenn er von dem allgemeinmenschlichen Charakter des Liberalismusspricht und den Sozialismus in seineAbart verwandelt, was tut er anderes, alsdem Sozialismus den Klassencharakter,also den geschichtlichen Inhalt, also überhaupt jeden Inhalt nehmenund damit umgekehrt die historische Trägerin des Liberalismus, die

63 Jean-Baptiste Say (1767–1832): französischer Ökonom; argumentierte, dasAngebot verursache die eigene Nachfrage, Krisen seien deshalb das Ergebnis derDisproportionalität zwischen der Branchen der Produktion, die sich durch dieuneingeschränkte Wechselwirkung zwischen dem Angebot und der Nachfragekorrigieren würde; war also Vertreter des Freihandels.

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Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein menschlichen Interessenmachen?

Und wenn er gegen »die Erhebung der materiellen Faktoren zuden omnipotenten (allmächtigen) Mächten der Entwicklung«,gegen die »Verachtung des Ideals«64 in der Sozialdemokratie zuFelde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet,gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischenWiedergeburt des Proletariats, gegen den revolutionärenKlassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen anderes, alsder Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: dieAussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung derHoffnung ins jenseits der sittlichen Vorstellungswelt predigen?

Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeilerichtet, was tut er anders, als gegen die spezifische Denkweise desaufstrebenden klassenbewussten Proletariats ankämpfen? Gegendas Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seinerhistorischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistigeWaffe, womit es, materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt,weil es sie ihrer Vergänglichkeit überführt, ihr dieUnvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution imReiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von derDialektik Abschied nimmt und die Gedankenschaukel desEinerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in diehistorisch-bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie,eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild ihresgesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-Hohenlohe, Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthaus-vorlage,) das politische Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber derheutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie die DenkweiseBernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste undsicherste Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.

64 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 187.

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Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort »bürgerlich« keinKlassenausdruck, sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff.Das bedeutet nur, dass er - folgerichtig bis zum Punkt über dem i -mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch diegeschichtliche Sprache des Proletariats mit derjenigen derBourgeoisie vertauscht hat. Indem Bernstein unter »Bürger«unterschiedslos den Bourgeois und den Proletarier, also denMenschen schlechthin versteht, ist ihm tatsächlich der Menschschlechthin zum Bourgeois, die menschliche Gesellschaft mit derbürgerlichen identisch geworden.

(Wenn jemand zu Beginn der Diskussion mit Bernstein nochgehofft hat, ihn durch Argumente aus der wissenschaftlichenRüstkammer der Sozialdemokratie überzeugen, ihn der Bewegungwiedergeben zu können, muss er diese Hoffnung gänzlich fallenlassen. Denn nun haben dieselben Worte aufgehört, für beide Seitendieselben Begriffe, die nämlichen Begriffe haben aufgehört,dieselben sozialen Tatsachen auszudrücken. Die Diskussion mitBernstein ist zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen,zweier Klassen, zweier Gesellschaftsformen geworden. Bernsteinund die Sozialdemokratie stehen jetzt auf gänzlich verschiedenemBoden.)65

65 In der 2. Auflage gestrichen.

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5. Der Opportunismus in Theorie und Praxis

Das Bernsteinsche Buch hat für die deutsche und dieinternationale Arbeiterbewegung eine große geschichtlicheBedeutung gehabt: es war dies der erste Versuch, denopportunistischen Strömungen in der Sozialdemokratie einetheoretische Grundlage zu geben.

Die opportunistischen Strömungen datieren in unsererBewegung, wenn man ihre sporadischen Äußerungen, wie in derbekannten Dampfsubventions66frage, in Betracht zieht, seit längererZeit. Allein eine ausgesprochene einheitliche Strömung in diesem

66 Friedrich Engels hatte im Dezember 1884 entschieden den Beschluss derrechtsopportunistischen Mehrheit der Reichstagsfraktion verurteilt, privatenSchifffahrtsgesellschaften Zugeständnisse zu machen, und vorgeschlagen, stattdessen an die Zustimmung zur Subvention solche Bedingungen zu knüpfen, diefür die Regierung unannehmbar sind, um die volksfeindliche Politik zuentlarven. Dieser Streit endete 1887 mit einem Sieg der revolutionären Kräfte,die erstmalig in der deutschen Sozialdemokratie eine marxistische Stellung zurKolonialpolitik erarbeiteten.

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Sinne datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall desSozialistengesetzes und der Wiedereroberung des gesetzlichen Bo-dens. Vollmars Staatssozialismus67, die bayerische Budgetabstim-mung68, der süddeutsche Agrarsozialismus69, Heines Kompensa-tionsvorschläge70, Schippels Zoll- und Milizstandpunkt71, das sinddie Marksteine in der Entwicklung der opportunistischen Praxis.

67 Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie vom 14. bis 21. November 1892 inBerlin war eine Resolution einstimmig angenommen worden, in der die Theorievom sogenannten Staatssozialismus als Mittel zur Trennung der Arbeiter von derSozialdemokratie entlarvt wurde. Nach dieser Theorie sollten geringeKonzessionen an die Arbeiterklasse und eine umfassende Verstaatlichung derkapitalistischen Wirtschaft als Sozialreform ausgegeben werden.68 Am 1. Juni 1894 hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischenLandtags unter Führung Georg von Vollmars dem Budget zugestimmt und damiterstmals das von August Bebel aufgestellte Prinzip der revolutionärenSozialdemokratie „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“durchbrochen. – Georg von Vollmar (1850–1922): deutscher Sozialdemokrat;ursprünglich mit anarchistischen Tendenzen; seine Arbeit im Reichstag führteihn zum Staatssozialismus zur Betonung der „pracktischen Politik“; ab 1890argumentierte von seiner starken Basis in Bayern innerhalb der SPD für lokaleAutonomie; stimmte 1894 für den bayerischen Budget, was zu einer Kriseinnerhalb der SPD führte; führte seine reformistische Politik fort; Nationalistwährend des Ersten Weltkriegs. – August Bebel (1840–1913): mit WilhelmLiebknecht Mitbegründer der marxistischen Strömung in der deutschenSozialdemokratie: ab 1866 Mitglied der I. Internationale; ab 1867sozialdemokratischer Abgeordneter; gründete 1869 mit Liebknecht dieSozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands; zwei Jahre Gefängnis wegenseines Widerstands gegen den Deutsch-Französischen Krieg von 1870–71;einflussreichster Führer der deutschen Sozialdemokratie; bedeutende Figur inder II. Internationale; beliebt unter den Massen aber kein Theoretiker.69 In der Diskussion über das Agrarprogramm forderten die OpportunistenEduard David und Max Quarck die Unterstützung der Kleinbetriebe durch denkapitalistischen Staat in Form von Reformen, die sie als sozialistisch ausgaben.Sie leugneten die geschichtliche Tendenz zum Großbetrieb und damit dieMöglichkeit und Notwendigkeit der sozialistischen Vergesellschaftung auf demLande. – Eduard David (1863–1930): rechter deutscher Sozialdemokrat;Revisionist; 1903–18 Mitglied des Reichstags; Unterstützer des ErstenWeltkriegs; 1919–20 Minister in der Reichsregierung; 1919 erster Präsident derNationalversammlung. – Max Quarck (1860–1930): deutscher Sozialdemokrat;Jurist; Revisionist; 1897–1917 Redakteur der Volksstimme in Frankfurt a. M.;

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Was kennzeichnete sie vor allem äußerlich? Die Feindseligkeitgegen »die Theorie«. Und dies ist ganz selbstverständlich, dennunsere "Theorie", d.h. die Grundsätze des wissenschaftlichenSozialismus, setzen der praktischen Tätigkeit ebenso in Bezug aufdie angestrebten Ziele, wie auf die anzuwendenden Kampfmittel,wie endlich selbst auf die Kampfweise sehr feste Schranken. Daherzeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgennachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zumachen, d.h. unsere Praxis von der "Theorie" zu trennen, von ihrunabhängig zu machen.

Aber dieselbe Theorie schlug sie bei jedem praktischen Versuchauf den Kopf: der Staatssozialismus, Agrarsozialismus, dieKompensationspolitik, die Milizfrage sind eben soviel Niederlagenfür den Opportunismus. Es ist klar, dass diese Strömung, wollte siesich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazukommen musste, sich an die Theorie selbst, an die Grundsätze

ständiger Mitarbeiter der Sozialistischen Monatshefte; 1912–18 Mitglied desReichstags; Dezember 1918 Beigeordneter im Reichsamt des Innern.70 Wolfgang Heine hatte in einer Rede am 10. Februar 1898 im dritten BerlinerReichstagswahlkreis die opportunistische Auffassung vertreten, dieSozialdemokratie könne einer preußisch-junkerlichen RegierungMilitärforderungen für „Volksfreiheiten“ bewilligen. Mit diesem Kompromisswollte Heine den antimilitärischen Kampf der deutschen Sozialdemokratierevidieren. – Wolfgang Heine (1861–1944): deutscher Sozialdemokrat;Rechtsanwalt; Anhänger von Bernstein beim Stuttgarter Parteitag 1898;Mitarbeiter der revisionistischen Zeitschrift Sozialistische Monatshefte und ambürgerlichen Berliner Tageblatt; Moralist, der oft ab 1911 mit den Linken übermilitärischen Fragen stimmte; während des Ersten Weltkriegs Sozialchauvinist;November 1918–Januar 1919 preußischer Justizminister.71 In seinem unter dem Pseudonym Isegrim veröffentlichten Artikel „WarFriedrich Engels milizgläubisch?“ in den Sozialistischen Monatsheften, demtheoretischen Organ der Opportunisten, vom November 1898, versuchte MaxSchippel, die revolutionäre antimilitärische Haltung der Sozialdemokratie zurevidieren. Er vertrat die Schutzzollpolitik, die die großen Land- undIndustriemonopolisten stärkte und die Interessengegensätze zwischen denNationen vertiefte. – Max Schippel (1859–1928): Ökonom; Sozialdemokrat;Revisionist; 1890-1905 Mitglied des Reichstags; seit 1897 Mitarbeiter derSozialistischen Monatshefte; 1911–19 Leiter der Sozialpolitischen Abteilungder Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands; während des ErstenWeltkriegs Sozialchauvinist.

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heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu erschüttern suchen undeine eigene Theorie zurechtzumachen. Ein dahingehender Versuchwar eben die Bernsteinsche Theorie, und daher sahen wir auf demParteitag in Stuttgart72 alle opportunistischen Elemente sich sofortum das Bernsteinsche Banner gruppieren. Sind einerseits dieopportunistischen Strömungen in der Praxis eine ganz natürliche,aus den Bedingungen unseres Kampfes und seinem Wachstumerklärliche Erscheinung, so ist andererseits die BernsteinscheTheorie ein nicht minder selbstverständlicher Versuch, dieseStrömungen in einem allgemeinen theoretischen Ausdruckzusammenzufassen, ihre eigenen theoretischen Voraussetzungenherauszufinden und mit dem wissenschaftlichen Sozialismusabzurechnen. Die Bernsteinsche Theorie war daher von vornhereindie theoretische Feuerprobe für den Opportunismus, seine erstewissenschaftliche Legitimation.

Wie ist nun diese Probe ausgefallen? Wir haben es gesehen. DerOpportunismus ist nicht imstande, eine einigermaßen die Kritikaushaltende positive Theorie aufzustellen. Alles, was er kann, ist:die Marxsche Lehre zuerst in verschiedenen einzelnen Grundsätzenzu bekämpfen und zuletzt, da diese Lehre ein festzusammengefügtes Gebäude darstellt, das ganze System vomobersten Stockwerke bis zum Fundament zu zerstören. Damit isterwiesen, dass die opportunistische Praxis in ihrem Wesen, in ihrenGrundlagen mit dem Marxschen System unvereinbar ist.

Aber damit ist ferner noch erwiesen, dass der Opportunismusauch mit dem Sozialismus überhaupt unvereinbar ist, dass seineinnere Tendenz dahin geht, die Arbeiterbewegung in bürgerlicheBahnen hinüberzudrängen, d.h. den proletarischen Klassenkampfvöllig lahmzulegen. Freilich ist proletarischer Klassenkampf mitdem Marxschen System - geschichtlich genommen - nichtidentisch. Auch vor Marx und unabhängig von ihm hat es eineArbeiterbewegung und verschiedene sozialistische Systemegegeben, die jedes in seiner Weise ein den Zeitverhältnissenentsprechender theoretischer Ausdruck der Emanzipationsbestre-

72 Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 3. bis 8. Oktober1898 in Stuttgart statt.

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bungen der Arbeiterklasse waren. Die Begründung des Sozialismusdurch moralische Gerechtigkeitsbegriffe, der Kampf gegen dieVerteilungsweise, statt gegen die Produktionsweise, die Auffassungder Klassengegensätze als Gegensatz von arm und reich, dieBestrebung, die »Genossenschaftlichkeit« auf die kapitalistischeWirtschaft aufzupfropfen, alles das, was wir im BernsteinschenSystem vorfinden, ist schon einmal dagewesen. Und diese Theorienwaren ihrer Zeit bei all ihrer Unzulänglichkeit wirkliche Theoriendes proletarischen Klassenkampfes, sie waren die riesenhaftenKinderschuhe, worin das Proletariat auf der geschichtlichen Bühnemarschieren lernte.

Aber nachdem einmal die Entwicklung des Klassenkampfesselbst und seiner gesellschaftlichen Bedingungen zur Abstreifungdieser Theorien und zur Formulierung der Grundsätze deswissenschaftlichen Sozialismus geführt hat, kann es - wenigstens inDeutschland - keinen Sozialismus mehr außer dem Marxschen,keinen sozialistischen Klassenkampf außerhalb derSozialdemokratie geben. Nunmehr sind Sozialismus undMarxismus, proletarischer Emanzipationskampf undSozialdemokratie identisch. Das Zurückgreifen auf vormarxscheTheorien des Sozialismus bedeutet daher heute nicht einmal denRückfall in die riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats, nein, esist ein Rückfall in die zwerghaften, ausgetretenen Hausschuhe derBourgeoisie.

Die Bernsteinsche Theorie war der erste, aber zugleich auch derletzte Versuch, dem Opportunismus eine theoretische Grundlage zugeben. Wir sagen: der letzte, weil er in dem Bernsteinschen Systemebenso negativ in der Abschwörung des wissenschaftlichenSozialismus, wie positiv in der Zusammenwürfelung allerverfügbaren theoretitischen Konfusion so weit gegangen ist, dassihm nichts zu tun mehr übrig bleibt. Durch das Bernsteinsche Buchhat der Opportunismus seine Entwicklung in der Theorie (wiedurch die Schippelsche Stellungnahme zur Frage des Militarismusin der Praxis)73 vollendet, seine letzten Konsequenzen gezogen.

73 In der 2. Auflage gestrichen.

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Und die Marxsche Lehre ist nicht nur imstande, ihn theoretischzu widerlegen, sondern sie ist es allein, die in der Lage ist, denOpportunismus als geschichtliche Erscheinung in dem Werdegangeder Partei auch zu erklären. Der weltgeschichtliche Vormarsch desProletariats bis zu seinem Siege ist tatsächlich »keine so einfacheSache«. Die ganze Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, dasshier zum ersten Mal in der Geschichte die Volksmassen selbst undgegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, diesenWillen aber ins jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaussetzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aberwiederum nur im beständigen Kampfe mit der bestehendenOrdnung, nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung dergroßen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnunghinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der großenWeltreform, das ist das große Problem der sozialdemokratischenBewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzenEntwicklungsgange zwischen den beiden Klippen: zwischen demAufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels,zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in diebürgerliche Reformbewegung, zwischen Anarchismus undOpportunismus vorwärts arbeiten muss.

Die Marxsche Lehre hat freilich in ihrer theoretischenRüstkammer schon vor einem halben Jahrhundert vernichtendeWaffen ebenso gegen das eine wie gegen das andere Extremgeliefert. Da aber unsere Bewegung eben eine Massenbewegungist, und die Gefahren, die ihr drohen, nicht aus den menschlichenKöpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungenentspringen, so konnten die anarchistischen und dieopportunistischen Seitensprünge nicht ein für allemal vonvornherein durch die Marxsche Theorie verhütet werden: siemüssen, erst nachdem sie in der Praxis Fleisch geworden, durch dieBewegung selbst, allerdings nur mit Hilfe der von Marx geliefertenWaffen, überwunden werden. Die geringere Gefahr, dieanarchistischen Kindheitsmasern, hat die Sozialdemokratie bereitsmit der »Unabhängigenbewegung« überwunden. Die größere

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Gefahr - die opportunistische Wassersucht, überwindet siegegenwärtig.

Bei dem enormen Wachstum der Bewegung in die Breite in denletzten Jahren, bei der Kompliziertheit der Bedingungen, worin undder Aufgaben, wofür nun der Kampf zu führen ist, musste derAugenblick kommen, wo sich in der Bewegung Skeptizismus inBezug auf die Erreichung der großen Endziele, Schwankung inBezug auf das ideelle Element der Bewegung geltend machten. Sound nicht anders kann und muss die große proletarische Bewegungverlaufen, und die Augenblicke des Wankens, des Zagens sind weitentfernt, eine Überraschung für die Marxsche Lehre zu sein,vielmehr von Marx längst vorausgesehen und vorausgesagt.

»Bürgerliche Revolutionen«, schrieb Marx vor einem halbenJahrhundert in seinem "Achtzehnten Brumaire", »wie die desachtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg,ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dingescheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedesTages: aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkterreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehesie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sichaneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die desneunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst,unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen aufdas scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuemanzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwä-chen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihrenGegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde saugeund sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schreckenstets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeitihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jedeUmkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: HicRhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!« 74

74 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in Marx u.Engels: Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 118.

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Dies ist wahr geblieben, auch nachdem die Lehre deswissenschaftlichen Sozialismus aufgebaut worden ist. Die proleta-rische Bewegung ist damit noch nicht auf einmal, auch in Deutsch-land nicht, sozialdemokratisch geworden, sie wird sozialdemo-kratisch mit jedem Tage, sie wird es auch während und indem siefortwährend die extremen Seitensprünge ins Anarchistische und insOpportunistische überwindet, beides nur Bewegungsmomente derals Prozess aufgefassten Sozialdemokratie.

Angesichts dieses ist nicht die Entstehung der opportunistischenStrömung, sondern vielmehr ihre Schwäche überraschend. Solangesie bloß in Einzelfällen der Parteipraxis zum Durchbruch kam,konnte man noch hinter ihr eine irgendwie ernste theoretischeGrundlage vermuten. Nun sie aber in dem Bernsteinschen Buchezum vollen Ausdruck gekommen ist, muss jedermann verwundertausrufen: Wie, das ist alles, was Ihr zu sagen habt? Kein einzigerSplitter von einem neuen Gedanken! Kein einziger Gedanke, dernicht schon vor Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten,zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt worden wäre!

Es genügte, dass der Opportunismus sprach, um zu zeigen, dasser nichts zu sagen hatte. Und darin liegt die eigentlicheparteigeschichtliche Bedeutung des Bernsteinschen Buches.

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Und so kann Bernstein noch beim Abschied von der Denkweisedes revolutionären Proletariats, von der Dialektik und dermaterialistischen Geschichtsauffassung, sich bei ihnen für diemildernden Umstände bedanken, die sie seiner Wandlungzubilligen. Denn nur die Dialektik und die materialistischeGeschichtsauffassung, hochherzig wie sie sind, lassen ihn alsberufenes, aber unbewusstes Werkzeug erscheinen, wodurch dasvorwärts stürmende Proletariat seinen augenblicklichen Wankelmutzum Ausdruck gebracht hat, um ihn, bei Lichte besehen,hohnlachend und Locken schüttelnd weit von sich zu werfen.

[Wir haben gesagt: die Bewegung wird sozialdemokratisch,während und indem sie die mit Notwendigkeit sich aus ihremWachstum ergebenden Seitensprünge ins Anarchistische undOpportunistische überwindet. Aber überwinden, heißt nicht, inSeelenruhe alles gehen zu lassen, wie's Gott gefällt. Die jetzigeopportunistische Strömung überwinden, heißt, sie von sich weisen.

Bernstein lässt sein Buch mit dem Rat an die Partei ausklingen,sie möge zu scheinen wagen, was sie sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Die Partei, d.h. ihr oberstes Organ, derParteitag müsste unseres Erachtens diesen Rat quittieren, indem erBernstein veranlasst, seinerseits auch formell als das zu erscheinen,was er ist: ein kleinbürgerlich-demokratischer Fortschrittler.]75/76

75 In der 2. Auflage gestrichen.76 Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, hrg. von Clara Zetkin,Adolf Warski und Paul Fröhlich, Bd. II, Berlin 1925. Für den vorliegendenAbdruck wurden die redaktionellen Anmerkungen Paul Fröhlichs übernommen.

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