ROSEGARDEN IV

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Titelthema: Monetizing Passion Interviews mit: Sharmaine Lovegrove, Alyssa Jade, Kevin Knapp und mehr! Christian Neuner-Duttenhofer sagt: Follow that what turns you on Gedanken zum bedingungslosen Grundeinkommen mit Daniel Häni Eindrücke aus Lissabon von Wolf Schmid und Teresa Cortez I M P E R I U M F Ü R G E S C H I C H T E N Ausgabe IV

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"ROSEGARDEN – Imperium für Geschichten" ist ein Magazin, das sich den Themen rund um Kreativität und den Fragen unserer Zeit widmet: Multioptionalität, Leben und Hadern in Städten. Wir präsentieren Schnappschüsse, Meinungen und Inspiration. In Ausgabe 4 geht es uns um das Thema "Monetizing Passion". Wir sind der Frage nachgegangen, wie man Leidenschaft zu Geld machen kann. Dazu führten wir verschiedene Interviews: Von der Bäckerin über den DJ bis hin zum Künstler. Wolf Schmid und Teresa Cortez berichten aus Lissabon – der vielleicht leidenschaftlichsten aller Städte. Lisa Lindner traf den Outdoor-Fotografen Frank Kretschmann, der für seine Leidenschaft hoch hinaus geht. Und Christian Neuner-Duttenhofer will Leidenschaft einfach Leidenschaft sein lassen. Viel Spaß beim Lesen!

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Titelthema: Monetizing PassionInterviews mit: Sharmaine Lovegrove, Alyssa Jade, Kevin Knapp und mehr!Christian Neuner-Duttenhofer sagt: Follow that what turns you onGedanken zum bedingungslosen Grundeinkommen mit Daniel HäniEindrücke aus Lissabon von Wolf Schmid und Teresa Cortez

I M P E R I U M F Ü R G E S C H I C H T E N

Ausgabe IV

Page 2: ROSEGARDEN IV

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Liebe Leserinnen und Leser,

herzlich willkommen in der vierten Aus-

gabe von ROSEGARDEN. Und auch dieses

Mal ist wieder vieles anders.

Nachdem wir im April unser Redaktions-

konzept ziemlich radikal verändert haben,

steht nun die Homepage im Zentrum un-

serer Aktivitäten. Sozusagen das Haupt-

haus in unserem Imperium für Geschich-

ten. Dort versorgen wir euch nun beinahe

täglich mit neuen Inhalten: Mit Interviews,

Konzertberichten, Fotostrecken, Geschich-

ten. Die Zugriffszahlen zeigen uns: Euch

gefällt das so. Wir sind happy.

Vor diesem Hintergrund hat sich nun auch

das Konzept für das in gebündelter Form

erscheinende Magazin verändert. Ab so-

fort konzentrieren wir uns hier im Maga-

zin auf ein Thema. In dieser Ausgabe heißt

es: „Monetizing Passion“ – ein Thema, das

uns seit langem umtreibt und begegnet:

Wie kann man Leidenschaft zu Geld ma-

chen. Dazu gibt es viele inspirierende In-

terviews mit Leuten, die einfach mal ihrer

Leidenschaft gefolgt sind: Fotografie, Klet-

tern, Malen, Backen, Schokolade und Ge-

schichten.

Die Frage ist aber auch: müssen wir mit

unserer Leidenschaft überhaupt Geld ver-

dienen? „Follow that what turns you on!“,

sagt Christian Neuner-Duttenhofer und

schreibt darüber, warum wir uns Passio-

nen leisten sollen.

Wolf Schmid ist für seine Leidenschaft

Schreiben nach Lissabon gezogen und er-

zählt über diese melancholische Stadt und

warum eine strauchelnde Wirtschaft nicht

Editorial

Endlich ein Imperium!

Page 3: ROSEGARDEN IV

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der schlechteste Nährboden für kulturelles

Leben ist.

Das war es allerdings noch lange nicht mit

den Neuigkeiten!

Seit Mai versorgt uns Sven Hätscher ali-

as GuteMukke jeden Dienstag mit seiner

Playlist Tuesday‘s Child. Damit kommen

wir alle etwas beschwingter durch den

Rest der Woche.

Und ebenfalls seit Mai freuen wir uns sehr

darüber, zwei mal im Monat für den Blog

der Bildagentur Shutterstock aus Berlin

berichten zu dürfen.

Man kann also auch im vierzehnten Mo-

nat unsers Bestehens sagen: Veränderung

und Bewegung gehören zum Rosengarten

wie Dornen und Blüten... oder so.

Genug der Vorrede, hereinspaziert in eine

Ausgabe, auf dessen Inhalt wir ein biss-

chen stolz sind.

Viel Spaß im Imperium für Geschichten,

Maren Heltsche, Mario Münster,

Bertram Sturm

Endlich ein Imperium!

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Inhalt

Monetizing Passion: Leidenschaft zu Geld machen – oder lieber nicht?

Interviews: Sie bereuen nichts

Wir haben uns einmal umgehört, um zu erfahren, wie das so ist, wenn man der Lei-

denschaft folgt. Keiner unserer Interviewpartner hat es bereut. Unterschiedlich sind

ihre Geschichten dennoch. Die Bäckerin Anna-Maria Wild folgte einem klaren Plan.

Die Fotografin Vera Hofmann und der Künstler Chris Koch stiegen einfach aus. Der DJ

Kevin Knapp verließ San Francisco. Sharmaine Lovegrove liebt Geschichten und Alys-

sa Jade ist verrückt nach Schokolade. Lasst euch inspirieren 10

Leitartikel Monetizing Passion

Ist das jetzt ein Trend oder bloß eine

Beobachtung in unserem Umfeld? Fest

steht: Menschen machen sich auf und

folgen ihrer Leidenschaft mit dem Ziel,

sie zu Geld zu machen. Ein Versuch das

Thema zu beleuchten 6

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Raus aus der Komfortzone

Lisa Lindner traf den Kletterfotografen

Frank Kretschmann. Seine Leidenschaft

führt ihn in die Berge. Bericht über ei-

nen, der steil geht 26

Hauptstadt von Vorgestern

Wolf Schmid folgte seiner Leidenschaft –

dem Schreiben – und ging in die leiden-

schaftlichste aller Städte: Lissabon. Er

fand dort eine Stadt, die einen nicht so

leicht loslässt.

Die Illustratorin Teresa Cortez hat die

Stimmung der Stadt für diesen Beitrag

auf ihre Weise übersetzt 44

Follow that what turns you on

Christian Neuner-Duttenhofer ist neuer

Kontributor bei ROSEGARDEN. Er stellt die

berechtigte Frage, ob man Leidenschaft

überhaupt zu Geld machen muss 32

Bedingungsloses Grundeinkommen

Maren Heltsche geht einem radikalen

politischen Konzept auf die Spur und be-

ginnt sich mir der Idee anzufreunden 36

Vor der Haustür das Meer

Eine Kurzgeschichte von Lisa Lindner.

Zum Entspannen 50

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6

Monetizing Passion:

Leidenschaft zu Geld machen – oder lieber nicht?

Von Maren Heltsche und Mario Münster

Vor kurzem trafen wir

auf einer Party einen

Menschen, der so be-

geistert von seiner Ar-

beit war, dass er sogar

dafür bezahlen würde,

sie zu machen. Er arbeitet als Architekt

bei einer Hilfsorganisation und ist am

Wiederaufbau in Katastrophengebieten

beteiligt.

Beneidenswert! Noch nie haben wir je-

manden getroffen, der das so klar von sich

behauptet. Wir kennen viele Menschen,

denen ihre Arbeit Spaß macht, aber auch

viele, die sofort einen Plan B aus der Tasche

zaubern würden, für den unwahrscheinli-

chen Fall, dass Geld mal keine Rolle spielt.

Aber ist das nicht eigentlich ein erstre-

benswerter Zustand für alle? Den Groß-

teil unserer Zeit verbringen wir mit Arbei-

ten. Soll dann die Arbeit

nicht auch unsere Lei-

denschaft sein? Oder

können wir unsere Lei-

denschaft irgendwie zu

Geld machen?

Die Idee eine Ausgabe zum Thema „Moneti-

zing passion“ zu machen ist aus den Begeg-

nungen in unserem persönlichen Umfeld

und durch die Geschichten und Menschen,

um die es in ROSEGARDEN geht, entstan-

den. Unser Eindruck ist: Viele Menschen,

machen sich auf den Weg, um mit den Din-

gen, die sie lieben, Geld zu verdienen. Es ist

vielleicht noch kein Trend aber aus unserer

Sicht eine relevante Entwicklung.

Betrachtet man die Gesamtheit all dieser

sehr individuellen Geschichten und Wege,

so sind im wesentlichen drei verschiedene

Muster erkennbar.

Love what you do, do what you love!

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Der Masterplan: Der zielstrebige, geplante

Weg ohne Umwege zu einem Geschäfts-

modell.

Der harte Einschnitt: Also Menschen, die

im Berufsleben stehen und sich plötzlich

entscheiden, alles aufzugeben und ihrer

Leidenschaft folgen.

Das Modell Zweigleisigkeit: Der Versuch,

ausgehend von einem sicheren berufli-

chen Standbein, eine Sache, die man lei-

denschaftlich gerne macht, zu einem Ge-

schäftsmodell zu entwickeln.

Wir haben für diese Ausgabe eine Reihe

von Menschen interviewt, die ihre Leiden-

schaft zum Beruf gemacht haben oder ge-

rade versuchen, genau das zu erreichen.

So unterschiedlich ihre Wege und so ver-

schieden ihre Leidenschaften sind – in je-

dem Interview werdet ihr den einen Satz

finden, der deutlich macht, dass sie es alle

lieben, dass es nie-

mand bereut, dass

die Entscheidung,

der Leidenschaft zu

folgen, ein persönlicher Gewinn ist, eine

Erfahrung von Freiheit und Zufriedenheit.

Und dennoch sei die Frage erlaubt: Muss

das denn sein? Muss man die Arbeit gleich

lieben, und: muss aus Leidenschaft Geld

gemacht werden? Ist Leidenschaft nicht

eigentlich eine Sache, die für sich stehen

muss? Ohne monetären Mehrwert oder

Mehrwert überhaupt. Christian Neu-

ner-Duttenhofer geht in seinem Artikel

„Follow that what turns you on“ genau die-

ser Frage nach und formuliert ein „dringen-

des Plädoyer dafür, den Passionen und Lei-

denschaften zu folgen. Ohne Berechnung“.

Da ist doch was kaputt!

Individuelle Leidenschaft und der Versuch

sie auszuleben und in Geschäftsmodelle

zu verwandeln, geht oft einher mit der Ver-

schönerung des All-

tags der anderen.

Um es weniger ab-

strakt zu machen:

Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps! Echt jetzt?

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Wir genießen

es, in Ausstel-

lungen, auf

Konzerte oder

in neue Läden zu gehen. Wir freuen uns

über neue Songs und neue Bilder und fie-

bern Dinner-Events entgegen. Die Leiden-

schaft einzelner hat einen Mehrwert für

viele. Finanziell gesehen bringt es aber

oft keinen großen Mehrwert für die Men-

schen hinter diesen Ideen. Oder eben nur

eine sehr geringen.

Es ist kompliziert! Die meisten Leiden-

schaftsprojekte finden keinen Markt im

wirtschaftlichen Sinne. Und: viele Dinge,

die sich wirtschaftlich lohnen sind ohne

Leidenschaft. Da ist doch was kaputt!

Vor allem in Berlin ist dabei auffällig: Es

gibt eine viel zu große Zahl an Menschen,

die ihre Leidenschaft für gar kein oder für

viel zu wenig Geld verfügbar, konsumier-

bar und genießbar machen. Die Anzie-

hungskraft Berlins und anderer Metropo-

len ist in hohem

Maße geprägt

von Subkultur,

Hinterhof-Kre-

ativen und Künstlern auf dem Weg in die

Etabliertheit. Aus dieser Anziehungskraft

schöpfen viele eine Dividende: Hotels, Gas-

tronomen, Einzelhändler, Fluglinien und

die Städte, die sich mit dem Sexappeal der

jungen Leidenschaftler schmücken.

Die einzigen, die oft keinen oder nur einen

sehr geringen Anteil von dieser Dividen-

de erhalten, sind die Macher, Künstler und

Kreativen. Im Gegenteil: Die zunehmende

Attraktivität der Orte, an denen sie tätig

sind, macht diese zu teureren Lebensräu-

men, was das Überleben für sie genau dort

wieder schwierig macht. Pervers.

Unser Vorschlag: Kreativ-Abgabe für Tou-

risten

Darüber wird zu wenig gesprochen. Die

zur absoluten Unkultur verkommene Sit-

Menschen machen sich auf, um mit den Dingen, die sie lieben, Geld zu verdienen.

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te, dass man viele Dinge für symbolische

Honorare oder für Umsonst macht, weil

man sich ja mit einem einfachen Lebens-

stil begnügt und ja auch irgendwie vor-

ankommen will, ist ein Thema, das uns in

Gesprächen immer wieder begegnet und

um es klar zu sagen auch ärgert. Auch RO-

SEGARDEN ist Teil dieses Systems, auch

wir verdienen kein Geld mit dem Magazin

und auch unsere Redakteure und Fotogra-

fen erhalten keine Honorare.

Vielleicht brauchen wir auch einfach ande-

re Finanzierungskonzepte für kreative Lei-

denschaften. Warum nicht eine obligatori-

sche Kreativ-Abgabe für Berlin-Touristen?

Die antiquierte Kurtaxe in der Pampa stört

niemanden. Zwei Euro von jeder Hotel-

übernachtung in einen Fonds für Kreative

in allen Städten, deren kreative Szenen das

Image der Stadt prägen! Das ist vielleicht

nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber in

diese Richtung müsste man denken.

Ein anderes Konzept ist das „Bedingungslo-

ses Grundeinkommen“. Niemand in der Re-

daktion von ROSEGARDEN hat einen einfa-

chen Zugang zu dieser Idee. Wir hielten sie

mehrheitlich für absurd. Im Hinblick auf die

beschriebene Situation gewinnt die Idee je-

doch eine neue Bedeutung. Deshalb haben

wir uns diesem Thema auch in einem Bei-

trag für diese Ausgabe gewidmet.

Seine Leidenschaft zum Beruf zu machen

erfordert Freiheit, Sicherheit und Mut. Es

ist sicherlich auch ein Luxusmodell in einer

Zeit, in der wir es uns leisten können, Versu-

che zu starten. Wir wollen mit dieser Aus-

gabe zeigen, dass es einen Versuch wert ist.

Mehr noch: Wir wollen Leidenschaft. Egal

ob für Geld oder um ihrer selbst Willen. Und

wir wollen Bedingungen, die es Menschen

ermöglicht, ihre Leidenschaft in den Dienst

einer lebenswerteren Welt zu stellen.

Kaffee, Kinder, Köter und das Internet

Mario Münster war in San Francisco und musste

das in Textform verarbeiten.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Alyssa Jade McDonald-Bärtl

Passion: Chocolate

Lyss is a social entrepreneur with her own business

BLYSSchocolate. Her mission is not only to create

extraordinary chocolate but also to improve the

way food systems could be better and sustainable.

She gave up her job in the corporate world to

become a real change maker and she empowers

people to become change makers themselves.

Interview: Maren Heltsche

Lyss, you gave up your job in the corporate

world to found your own business and

create a very special chocolate. Was it eas-

ier or more difficult as you thought at the

beginning?

On a soul level, every day is easier because I

am living my dream. Actually spending the

hours in my day working on something I

believe in, and actively contributing to the

positive chance I wish to see in the world.

Although chocolate is my tool and meta-

phor, it is really all about being the example

of responsible food production from source

to recipe. That feels great, every day.

On a functional level, a start has been hard.

We will be 5 years old in August, and I have

still not been paid a wage. I think every

entrepreneur goes through years without

paying themselves and reinvesting every

little inch forward with development and

growth. We are a social enterprise, which

means almost 100% of my cost of goods

are spent in evolving the industry and

communities we work in. So from this per-

spective, it is a constant battle because we

live in an economy that rewards hard-core

capitalism and those are not the heuristics

that we judge our work by.

The first years are best characterised by

schizophrenia and tourrets syndrome. Af-

ter a while, like this year, I feel like ‘just’

maniac. That is a relief.

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Do you need a

master plan for

projects like that?

Absolutely yes!

Again, it depends

on what you

judge your suc-

cess by, and by

whose standards you live up to. We have

a plan in BLYSS to actively influence agro-

ecoloy and food sovereignty standards.

We have a strict program that governs it,

which is called ‘bean2belly’ and the chair-

man sits outside of our GmbH, and is my

mother. She works together with a quality

Assurance officer who audits our work, to

ensure it meets the standards of what we

are looking to achieve. This is like a sepa-

ration of powers, whereby the daily deci-

sions that I make are aligned on a quarter-

ly basis to our big vision. Having plans and

controls in place like this, ensure the con-

stant re-navigation

of a dream occurs

in flight.

Of course things

like business case,

budget control, reg-

ulatory compliance

are part of the daily

job. There are great

organisations who help this, like the Finan-

zamt, Ordnungsamt and IHK who are kind

and friendly people when you come with

open hands and ask for guidance. These

are functional skills that anyone can learn,

and you just need to get over yourself, and

ask the questions. And most importantly,

listen to the answer!

Was it worthwhile investing that path?

Abso*fucking*lutely

I would redo every decision, every day. No

regrets, all learning and all in evolution.

Foto

: Rie

ka A

nsc

hei

t

I would redo every decision,

every day.

Page 12: ROSEGARDEN IV

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Vera Hofmann

Leidenschaft: Fotografie

Vera Hofmann ist Fotografin und Teil der Künstler-

gruppe Benten Clay. Sie verbindet ästhetisch ein-

gängige Fotos, Videos und Installationen mit Nach-

denken. Über Tod und Erinnerung, digitales Leben,

Macht und die Begrenzung natürlicher Ressourcen

– beispielsweise. Diese Arbeit ist ihre Leidenschaft.

Kann man davon leben?

Interview: Maren Heltsche

Vera, Du hast deinen Job in der Werbe-

branche aufgegeben, um deine Leiden-

schaft Fotografie und Kunst zum Beruf zu

machen. Ist es jetzt einfacher oder schwe-

rer als du dir zu Beginn vorgestellt hast?

Definitiv schwieriger. Der Fotografiemarkt

ist während meiner Ausbildung durch das

Magazinsterben, Digitalkameras, Handy-

kameras und Stockagenturen total einge-

brochen und der Kunstmarkt, gerade in

Berlin, ist mehr als gesättigt. Zum Glück

habe ich einige gut bezahlte Aufträge in

der Industrie, mit denen ich meine künst-

lerischen Projekte teilfinanzieren kann. Die

Selbständigkeit erfordert Struktur, eine

gute Selbstorganisation und Ausdauer. In

der Kunst gelten noch mal ganz andere

Spielregeln, auch im Selbstverständnis. Es

ist eine Lebenshaltung, die man nicht nach

Feierabend an der Firmentür abgeben

kann und möchte. Ich glaube, sie ist eine

der schwierigsten „Branchen“ überhaupt,

denn die Motivation erfolgt nicht aus fi-

nanziellen Gründen, der Markt ist klein

und spezialisiert und man braucht einen

sehr langen Atem und viel Engagement,

an totale Selbstausbeutung grenzend,

wenn man dies hauptberuflich und lang-

fristig ausüben möchte. Viele Leute haben

mir gesagt, ich sei mutig gewesen, meine

vorherige BWL-Karriere einfach aufzuge-

ben. Ich habe das nie so gesehen, sondern

eher als logische Konsequenz. Bisher habe

Page 13: ROSEGARDEN IV

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Foto

: Sab

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Sch

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der

Es lohnt sich immer und unbedingt seiner Leidenschaft nachzugehen.

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ich mir noch kein einziges Mal in meinen

Job zurück gewünscht. Was nicht heißt,

dass es keine Zweifel gibt, aber es gibt auf

keinen Fall ein Zurück.

Braucht man einen Masterplan?

Der hilft sicherlich, ist aber eher ganzheit-

lich zu sehen als nur rein beruflich. Ich glau-

be, so lange man Etappenziele visualisieren

kann, kann man sie auch erreichen. Und

von da aus geht es zum nächsten Schritt.

Lohnt es sich in den Weg zu investieren?

Man sollte schon einen Plan haben, woher

das Geld zum Leben kommen soll – leider.

Aber das nimmt viel Druck raus. Wenn man

das einigermaßen auf die Reihe bekommt,

lohnt es sich immer und unbedingt, seiner

Leidenschaft nachzugehen. Wenn man

sich dann noch politisch einbringt und für

Strukturen kämpft, in denen individuelle

Entfaltung und Begabung zum Wohl der

Gemeinschaft gefördert werden, könnte

unsere Gesellschaft Quantensprünge er-

leben, da so viel ungenutztes, wertvolles

Potential in langweiligen Jobs und unsin-

nigen Firmen versauert.

Bier und Wolkenbruch mit Sophie Auster in Brooklyn

Wir konnten Sophie Auster zum Gespräch in Brooklyn

treffen. Hier könnt ihr den Bericht einer spannenden

Begegnung lesen.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Kevin Knapp

Passion: Music

A few weeks ago I visited for the first time ever

the San Francisco Bay Area where I met the DJ

Kevin Knapp who lived since a year in Berlin. I had

only one question in mind: „Why the hell are you

leaving THIS(!) place and moved to Berlin?“ Here

is the answer.

Interview: Mario Münster

Kevin, please describe what you are doing.

I’ve been DJ’ing for 13 years. I got my first

pair of turntables shortly after moving to

San Francisco. After gigging in San Francis-

co and parts of the US for over a decade,

I began to reach what I felt was the ceil-

ing of the professional tier I inhabited as a

local. In my opinion, the industry is much

more prominent in Europe, especially in

Berlin, Ibiza and London in particular. As

Berlin was the least expensive of the three

options and possessed the added bonus of

amenable immigration laws, I made the

decision to move here to pursue being a

bigger fish in a larger pond. Fortunately,

I’m also a lawyer at a non-profit law firm

in San Francisco whose been amazingly

supportive this effort. So while the music

career continues to grow, I’m able to work

a few days a month for the firm so that

the wife and I can get a steak from time to

time. Haha …

Do you have a master plan on how to

monetize something you love?

There is definitely a road map to becoming

a successful touring DJ/Producer, but even

if you’re successful in accomplishing all

the necessary steps that is no guarantee

for success. There’s a reason parents sel-

dom encourage their children to aspire to

be touring musicians. The law of averages

dictates that making a living as a musician

just does not happen for many folks talent-

ed or otherwise. For myself, I feel like I had

very little choice in the matter. I believe

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Foto

: Iyy

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I believe strongly in the mantra that we should all

do what we’re best at in life.

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strongly in the mantra that we should all

do what we’re best at in life and that in do-

ing so, we’ll all fill the world’s varied em-

ployment niches and thus society overall

will benefit. For me I believe DJ’ing is put-

ting my best foot forward, giving my most

competent skill to the world. Ironically, my

brother told me years ago that the period

of his life that he spent doing music he did

because he was powerless to do anything

else. I remember wishing for that and

many years later, find myself in an identi-

cal position.

You recently moved from San Francisco to

Berlin. Is this a step on the path to follow

your passion as a DJ?

As I mentioned before, I felt access to the

industry in Berlin was paramount to my

growth as an artist. It really has been tre-

mendously helpful being in such close

proximity to such amazing talent. I also

must add that the creative/DIY energy in

the city really serves as a catalyst for my

personal creative energy. I really have be-

gun to feed off that creatively speaking,

and it was completely unexpected. I con-

sider it a major step in pursuing my pas-

sion and let‘s be honest, it’s a shitload of

fun as well!

We also put a focus on the question if it is

good to turn your passion into a business

or if it‘s better if passion stays passion.

What are your feelings about this?

I do understand the notion of leaving pas-

sions to be enjoyed without the pressure

of monetizing or demystifying them. Un-

fortunately for me, when I love something

as much as I do music or say cooking, there

is very little anyone can do to keep me

from learning as much as humanly possi-

ble about it. Perhaps the people who excel

with moderation can keep the things they

love compartmentalized. It’s just not an

option for me, and I’m good with that.

Listen to Kevin‘s music: https://soundcloud.com/kevin-knapp

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Sharmaine Lovegrove

Leidenschaft: Geschichten

Sharmaine Lovegrove zog 2009 von London nach Berlin

und gründete die Buchhandlung Dialogue Books. Ihre

Leidenschaft für Geschichten treibt sie nun in einem

weiteren Projekt voran: Dialogue Berlin. Ein Kollektiv von

Kommunikations-Strateginnen mit dem Schwerpunkt

Kunst und Kultur.

Interview: Mario Münster

Sharmaine, beschreibe in wenigen Wor-

ten, was du machst.

Mein Geschäft ist Storytelling. Egal ob ge-

schriebene Geschichten in verschiedenen

Formaten oder Geschichten von Unter-

nehmen. Mein Job ist es, dafür zu sorgen,

dass diese Geschichten einer breite globa-

le Zuhörerschaft erreichen.

Hattest du für deinen Job eine Art Mas-

terplan, der dir dabei helfen sollte, deine

Leidenschaft für Geschichten zu Geld zu

machen oder ist das einfach so passiert?

Ich hatten den festen Plan ein Unterneh-

men zu gründen, mit Sachen, in denen

ich mich wirklich gut auskenne: Bücher

verkaufen, Events und PR. Nachdem ich

für diese Arbeit eine Plattform geschaffen

hatte, war es mir möglich, von dort aus

in andere Bereiche vorzudringen, für die

ich mich interessiere. Das entscheidende

aber war: Ich habe mich selbst als jemand

positioniert, der alles machen kann und

gleichzeitig offen ist für alles, was passie-

ren kann.

Wie lange hat es gedauert, bis du das Ge-

fühl hattest „ich habe es geschafft“.

Seit ich arbeite, arbeite ich mit Büchern

und Storytelling. Ich kam 2009 von London

nach Berlin und habe angefangen selbst-

Page 19: ROSEGARDEN IV

ständig zu arbeiten. Heute, fünf Jahre spä-

ter, habe ich ein stärkeres Gefühl von „es

geschafft zu haben“, als ich mir jemals er-

träumen konnte.

Uns geht es auch um die Frage, ob es über-

haupt erstrebenswert ist, seine Leiden-

schaft zu Geld zu machen und ob es nicht

besser ist Leidenschaft eben Leidenschaft

sein zu lassen. Was denkst du darüber?

Ich liebe es, zu lesen und die Geschichten

von anderen zu erfahren. Und da genau

das mein Job ist, gibt es da für mich kei-

ne Trennung. Ich musste lernen, auf ver-

schiedene Weise zu lesen, um meine Lei-

denschaft und meine Arbeit gelegentlich

voneinander zu trennen. Grundsätzlich

aber gilt: Ich arbeite nicht mit Themen, die

mich nicht interessieren. Diese natürliche

Neugierde hört nie auf, während sich mein

Job weiterentwickelt.

Foto

: pri

vat

Ich habe ein stärkeres Gefühl

von „es geschafft zu haben“,

als ich mir jemals erträumen konnte.

Mit 61 Jahren fängt die Arbeit an

Désirée Schwarz dokumentiert den Freiwilligen-

dienst zweier Neu-Rentner in einem Jerusalemer

Kloster.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Anna Maria Wild

Leidenschaft: Backen

Anna Maria Wild hat einfach gemacht, wovon so

viele träumen. Das eigene Café. Liebevoll eingerich-

tet nach den ganz eigenen Vorstellungen. Dann fing

sie an zu backen. Und die Berliner kamen in Strömen.

Heute sieht man nicht selten kleine Gruppen von

Japanerinnen auf der Suche nach Annas bezaubern-

dem Café um das Kottbusser Tor streunen.

Interview: Mario Münster

Anna, beschreibe doch mal deinen Job in

ein paar Worten.

Ich habe 2010 ein kleines Café in Kreuzberg

eröffnet. Meine Arbeit ist vielfältig: Service

und Backen sind nur ein kleiner Teil meines

Alltags. Ich kaufe ein und mache Bestellun-

gen, kümmere mich um Reparaturen, Wei-

terentwicklungen, Geschäftskontakte, Kun-

denanfragen, Dienstpläne und natürlich ist

auch die finanzielle Organisation in meinen

Händen. Und jetzt hab ich bestimmt noch

fünf Sachen mindestens vergessen.

Hattest du einen Masterplan dafür, wie

du etwas, was du leidenschaftlich gerne

machst zu Geld machen kannst oder ist

das einfach passiert?

Ich habe schon immer davon geträumt,

einen eigenen Laden zu haben und mich

deshalb nach dem Abitur für ein Wirt-

schaftsstudium entschieden. Es war also

gar nicht unbedingt das Backen, sondern

das Aufbauen eines eigenen Geschäfts,

das die Leidenschaft war. Das Backen

habe ich aus meinem familiären Hinter-

grund einfach „gehabt“. Zurück zum Mas-

terplan: doch, doch! Den gab es absolut!

Ich habe spätestens mit Beginn des Stu-

diums an meinen Plänen gefeilt. Ich ver-

suche eigentlich immer erstmal, das zu

tun, was ich am liebsten tun würde. Und

wenn das schiefgeht, kann ich immer

noch was anderes machen. Warum nicht

also vor allem beruflich Träume verwirk-

lichen? Dazu braucht es meiner Meinung

nach einen Plan. Sonst geht es vielleicht

Page 21: ROSEGARDEN IV

aus unnötigen, doofen Gründen hops,

und wie schade wäre das!

Wie lange hat es gedauert bis du das Ge-

fühl hattest „jetzt funktioniert es, ich

kann davon leben.“

Och, das ging entweder schnell oder ich

warte immer noch drauf, kommt drauf

an, wie man´s sehen will. Ich hatte zum

Start keinerlei Erwartungen, war also

vom schnellen Erfolg völlig überrumpelt.

Ich hatte dann allerdings zum dritten Ge-

burtstag das Ziel, dass ich mein Privat-

leben wieder etwas genießen kann. Das

hat gut geklappt, ich habe ein großartiges

Team und wir haben Strukturen geschaf-

fen, die im Alltag Routine (endlich!) brin-

gen. Das gibt mir viel Freiheit und ich kann

mich um Dinge kümmern, die den Laden

Foto

: Sas

cha

Kri

cke

Masterplan? Den gab es absolut.

Page 22: ROSEGARDEN IV

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voranbringen oder meine Freunde wieder

öfter sehen. Einen Nebenjob habe ich nie

gebraucht, seit der Laden offen ist, aber

reich bin ich noch nicht.

Wir gehen auch der Frage nach, ob es

überhaupt gut ist, Leidenschaft zu Geld

zu machen oder ob es nicht besser ist,

Leidenschaft Leidenschaft sein zu lassen.

Was hast du diesbezüglich für Gedanken?

Hast du es vielleicht sogar mal bereut

nicht mehr nur zum Spaß zu backen?

In der Tat backe ich zu Hause nicht mehr

so viel, was aber an fehlender Zeit liegt.

Ich hab‘s nie bereut, ich liebe mein Le-

ben, ich bin sehr glücklich. Ich empfeh-

le es jedem, der bereit ist, über mehrere

Jahre sein Leben komplett einer Sache zu

verschreiben. Was allerdings manchmal

nervt, ist, dass die Kreativität im Privatle-

ben echt leidet. Auch das ist ein Zeitpro-

blem, glaube ich. Als Studentin hatte ich

echt mehr Zeit.

Fräulein Wild findet ihr in der Dresdener Straße 13 in Berlin-Kreuzberg.

Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 20.00 Uhr.

Lasst Blumen sprechen

Tabea Mathern und Mario Münster haben die Floristin

Ruby Barber getroffen. Eine in vielerlei Hinsicht inspi-

rierende Begegnung.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Cris Koch

Leidenschaft: Kunst

Cris Koch hat seinen Job als Schriftsetzer bei einem

großen Verlag aufgegeben, um als Maler und Künstler

zu arbeiten. Denn Freiheit ist im wichtiger als Geld

und sein idealer Arbeitsalltag hat keine Routinen.

Interview: Bertram Sturm

Du hast dich gegen einen sicheren Job und

für deine Leidenschaft entschieden. Ist es

jetzt einfacher oder schwerer als du dir es

zu Beginn vorgestellt hast?

In dem Job in der Druckinsdustrie fehl-

te nach einigen Jahren die Herausforde-

rung, so gern ich dort arbeitete. Es gab

zwar das Angebot in der vermeintlichen

Karriereleiter auf-

zusteigen. Aber

ich sah da den

Aufstieg nicht. Das

fühlte sich eher

an wie Abstieg

in Unfreiheit und

Bindung mit noch

weniger freier Zeit

für die eigenen

Dinge. Und dieser

Freiraum war mir

immer wichtig.

Zeit, beziehungsweise Lebenszeit ist das

wertvollste überhaupt, genug davon auf

die eigene Sache verwenden zu können

ist Luxus.

Ich habe das Angebot dankend abgelehnt

und bin mehr einer Intuition gefolgt als

ich mich an der Akademie bewarb. Einer

Vorstellung bin ich nicht gefolgt.

Hast Du einen Mas-

terplan für Deine Tä-

tigkeit oder kannst

Du aus Deiner Lei-

denschaft Geld ma-

chen?

Einen Masterplan

habe ich nicht. Kann

man in der Kunst nur

schwer haben, denn

nichts ist sicher. Kunst

Foto

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och

Live is a game,

not a career.

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24

zu machen hat viele Lesarten, aber eine

wichtige ist das Streben nach Freiraum. Die

Gesellschaft hingegen strebt nach mehr

Sicherheit. Das wird erreicht durch Angst

und Beschneidungen der Freiheit. Mit die-

ser Thematik beschäftige ich mich in mei-

ner konzeptuellen Arbeit „Kunst+Sicher-

heit“, auf sehr ironische Art. Kurz gesagt ist

die Idee, dass alle Menschen zu jeder Zeit ei-

nen Helm tragen, dann ist alles sicher und

alle sind frei. Des Weiteren gibt es eine fort-

laufende Fotoserie, die Kunstschutz Army.

Ideell gedacht sind alle Künstler Freiheits-

kämpfer, global gesehen ist das eine Armee,

die für die Freiheit kämpft, aber ohne Waf-

fen, ohne Struktur und Ordnung, eben frei.

Die Fotoserie portraitiert diese „unsichtba-

re“ Armee, natürlich mit Helm …

Anstatt einem Masterplan habe ich ei-

nen Plan B: Ich erstelle eine lose Serie

mit gefundenen Objekten, die ich mit der

Typo „Plan B“ bemale. Das sind Taschen

oder kleine Boxen die eigentlich nichts

beinhalten und ironisch mit diesem Ge-

danken der Absicherung spielen. Ein mir

wichtiges Zitat von Brion Gysin möchte

ich hier nennen: After all, live is a game,

not a carrier.

Lohnt sich der Weg den Du gegangen bist,

würdest Du ihn wieder gehen?

In deiner Frage steckt die Frage nach dem

Lohn, also dem wertbaren Ausgleich. Ich

sehe das nicht als vordergründiges Ziel.

Im Prozess des Malens zum Beispiel wäre

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25

das ein verhängnisvoller Gedanke. In ei-

nem Interview mit Marina Abramovic

las ich vor kurzem: „Money and success is

not the aim, its just side effect“. Sie sagte,

dass man als Künstler bereit sein sollte,

Fehler zu begehen. Den Gedanken mag

ich. Wie wenn man spielt und immer

wieder Neues ausprobiert und auch was

falsch machen darf, ohne dafür gleich

bewertet zu werden. Denn das ist ja der

Lohn. Dafür muss aber alles stimmen und

perfekt oder schön gemacht sein. Das ist

langweilig.

Im Blick zurück auf den Werdegang würde

ich einiges anders machen aber dennoch,

ja, ich würde den Weg wieder so gehen.

Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus und ist

die Leidenschaft hierbei immer eine mo-

tivierende treibende Kraft?

Der ideale Arbeitsalltag hat keinen Alltag.

Sich immer wieder selbst überraschen, im

positiven wie im negativen. Wenn denn

doch Alltag eintritt, wechsle ich das Medi-

um. Woanders weitermachen. Dinge mit

Abstand neu betrachten und sehen wohin

das führen könnte. Ernsthaftes Spiel.

Leidenschaft ist sicher eine treibende Kraft,

aber damit ist es nicht getan. Es steckt sehr

viel Arbeit in der Sache, Disziplin ist wich-

tig, Wille und Beharrlichkeit. Kunst ist auf

Dauer angelegt, das ist ein Weg und ich

will den gehen.

www.criskoch.de

Foto

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„Raus aus der Komfortzone“

Vom Visuellen und Spirituellen.

Ein Gespräch mit Kletterfotograf

Frank Kretschmann.

Text: Lisa Lindner

Wenn Frank Kretschmann wieder einmal

den Rucksack packt, gestaltet sich das als

ein oft wochenlanges Abtauchen aus der

vertrauten Welt daheim und ein Eintau-

chen in die grenzenlose Natur. Dann geht

es ab durch nahe und ferne Länder, rauf

auf die großen Wände, die Kamera immer

mit dabei. Denn Frank ist gelernter Foto-

graf und wenn er seine Zeit nicht mit Ar-

beit im Studio verbringt, ist er viel drau-

ßen unterwegs, ob mit der Familie, mit

Freunden oder auf Job; das ist ihm wich-

tig. Dem 33-Jährigen ist es mit Passion,

harter Arbeit, körperlichem Einsatz und

dem Glück, zur richtigen Zeit am richtigen

Ort gewesen zu sein, gelungen, seinen Be-

ruf als Studiofotograf mit seinem großen

Hobby, dem Klettern, zu verbinden. Doch

auch hinter dieser Symbiose, die sich vor-

erst nach dem Traumjob eines jeden Out-

doorfreaks anhört, steckt ein langer Weg

und jede Menge Knochenarbeit.

Frank Kretschmann wurde in Dachau bei

München geboren, wuchs dann in Will-

ersdorf bei Forchheim auf. Der Besuch der

Kunstfachoberschule in Nürnberg ermög-

lichte ihm erste Einblicke in die Fotogra-

fie, an den Schulabschluss knüpfte er eine

Ausbildung zum Fotografen bei Kaletsch

Medien in Nürnberg an. Nach seiner Aus-

bildung zog es den jungen Franken nach

Südamerika, dort nutzte er die Zeit haupt-

sächliche für Kletterausflüge in die Anden.

Nach einigen Jahren Studio-Fotografie ver-

kürzte er seine Arbeitszeit auf zwei Tage

pro Woche. Die gewonnene Freizeit nutzte

er intensiv zum Reisen und Klettern, Fa-

milie und Verpflichtungen gab es damals

nicht. Der Konsumgedanke fehlt bei Frank

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so ein bisschen. Was zählt, ist das Klettern

und vor allem der damit verbundene Life-

style: draußen sein, draußen leben, reisen –

und immer wieder fotografieren. Er ist Teil

dieser großen Kletter-Community, nimmt

sich Zeit für die Athleten am Berg, die sich

bereitwillig ablichten lassen. Mühe, Hart-

näckigkeit und die richtigen Connections

zahlten sich über die Jahre aus. Was als

ein Hobby begann, nahm mit der Zeit Kon-

turen an. Den Sommer 2009 bezeichnet

Frank als den Startschuss seiner professi-

onellen Kletter-Fotografie und den Beginn

einer Idee – „madebynomads“. In diesem

Sommer konnten er und sein heutiger Kol-

lege Franz Walter am Eiger in den Berner

Alpen in der Schweiz die geschichtsträch-

tige Begehung der „Japaner-Direttissima“

mit dem deutschen Extrembergsteiger

Robert Jasper und dessen Schweizer Klet-

Foto

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Page 30: ROSEGARDEN IV

30

terpartner Roger Schäli dokumentieren.

Diese Aufnahmen waren der Grundstein

zahlreicher Kontakte zu Magazinen, einer

andauernden Freundschaft zu den beiden

Sportlern und dem Ursprung einer Ko-

operation. „madebynomads“ bildet den

Zusammenschluss einer Gruppe von un-

abhängigen Fotografen und „storytellers“,

die es sich zur Aufgabe gemacht hat, kleine

Projekte filmisch und fotografisch zu doku-

mentieren. In Fotos und Videos will dieser

Zusammenschluss von kreativen Köpfen

seinem Publikum einen nomadischen, na-

turverbundenen Lifestyle näher bringen.

Bei unserem Gespräch merke ich schnell,

Frank ist nicht nur Fotograf und Kletterer

aus Leidenschaft, der 33-Jährige packt al-

les mit Begeisterung an, hat ständig neue

Ideen, sprüht vor Kreativität. Dass die ers-

ten Jahre dieser Szene-Fotografie kein Zu-

ckerschlecken waren, versteht sich von

selbst. Jede Sekunde wurde da in Eigen-

werbung gesteckt, Sponsoren mussten

gefunden und Kontakte gewahrt werden.

Das alles kostete viel Zeit, Energie und vor

allem Geld. Doch Frank bleibt passioniert:

Was wirklich wichtig ist, ist das Dabeisein.

Es sind die Geschichten, die hinter den Bil-

dern stecken und welche für den Aufwand

entschädigen. Denn hier auf Tour werden

echte Freundschaften geknüpft und im-

mer wieder heißt es: Der Weg ist das Ziel!

Der anfängliche Versuch, zwischen Stu-

dio-Fotografie und Freizeit einen Mittel-

weg zu finden, hat sich inzwischen längst

zu einer Sieben-Tage-Woche entwickelt,

denn Frank hat sich als Name in der Out-

door-Branche etabliert. Dennoch ist dem

jungen Fotografen auch heute noch oft

der Vorsatz von Bedeutung, neben so man-

chen Kommerz-Aufträgen zur Refinanzie-

rung seiner Projekte mit seinen Aufnah-

men nicht das große Geld verdienen zu

wollen. Ihm ist wichtig, vor allem das zu

tun, was Spaß macht und als interessant

erscheint. Mit seinen Fotos und Videos will

Frank in erster Linie Geschichten schrei-

ben, intensive Erlebnisse und realitätsna-

he Momente der Kletter-Szene wiederge-

Page 31: ROSEGARDEN IV

31

ben. Es sind die Reisen in ferne Länder, die

diese einschneidenden Erlebnisse ausma-

chen. Erst das Nirgendwo in den bereisten

Entwicklungsländern lässt erkennen, wie

gut es einem daheim geht. Die körperliche

Arbeit an der Wand schafft Raum für das

Bewusstsein des eigenen Lebens, erst die

Natur erdet völlig. Das sind die Gründe, die

Frank immer wieder raus aus dem Kom-

fort und rein in den Dreck ziehen, auch

wenn nach dem Job keine heiße Dusche in

einem Hotelzimmer wartet.

Heute ist der Fotograf verheiratet und hat

einen sechs Monate alten Sohn. Nun heißt

es wieder, einen Mittelweg zu finden oder

Kind und Kegel auch schon mal mit einzu-

packen, wenn es auf Tour geht. Ein festes

Ziel vor Augen gibt es nicht, alles ist mög-

lich, alles kann kommen. In Franks Kopf

ist immer wieder Raum für neue Ideen,

wichtig dabei ist, den Abstand wahren zu

können und andere Dinge im Leben nicht

völlig auszublenden. Über die Zukunft

denkt der 33-Jährige im Moment nicht

groß nach. Vielleicht ergeben sich in ein

paar Jahren neue Optionen, gerade ist die

Kletterfotografie jedoch eine richtig gute

Sache im Leben des Weltenbummlers. Und

so lange werden wir mit Sicherheit auch

noch mehr gute Sachen von Frank Kretsch-

mann zu sehen bekommen.

Frank Kretschmann wurde am 16. Februar 1981 in Dachau bei München geboren und

machte nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung zum Fotografen bei Kaletsch Me-

dien in Nürnberg. Er ist verheiratet und Vater eines Sohnes, die Familie wohnt derzeit in

Nürnberg. Frank arbeitet unter anderem mit großen Outdoor-Marken wie Monkee, Sa-

lewa und Adidas. Zu seinen Highlights im Klettersport zählen der „Jirishanca“ (Peru, An-

den), der „El Capitan“ (USA, Yosemite) oder der „Arwa Spire“ (Indien, Garhwal Himalya).

Für mehr Infos klicke www.funst.de und www.madebynomads.com

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Velonistas!

Regine Heidorn hat für uns einen spannenden Artikel

über das Rennrad-Frauen-Amateur-Team Velonistas

Berlin geschrieben.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Follow that what turns you on –

Warum wir uns Passionen leisten sollen

„Und ich erschaffe mich mit einem Federzug/ Herr der

Welt /Unbegrenzter Mensch“ (Pierre Albert-Birot)

Text: Christian Neuner-Duttenhofer

I. Die neue Freiheit

Du bist im Kampf mit dir selbst. Sonst

nichts. Sonst nichts? Das klingt nach pu-

rem Luxus. Stimmt auch. Vor allem gegen-

über einem großen Anteil der Menschen

auf diesem Planeten, aber auch histo-

risch gesehen. Gegenüber Generationen,

die gegen Hunger, im Krieg und mit der

herrschenden Ordnung kämpfen muss-

ten. Egal. Wir schauen ja aus den Augen

der urbanen Boheme und betrachten uns.

In einer alles-ist-möglich-Zeit. Angeblich.

Und da ist dieser Kampf nicht ganz ohne.

Vor allem vergeblich. Die zunehmende

Verunsicherung des Einzelnen, die Suche

nach authentischer Individualität und au-

tonomem Handeln bei gleichzeitiger Ent-

grenzung und Unübersichtlichkeit führt

zunehmend zu Angststörungen und Iden-

titätskrisen. Was zur Hölle soll ich hier?

Wer heute externe Gründe ins Feld führt

als hemmend für Leben und Glück, gerät in

den Verdacht, sich herausreden zu wollen.

„Er denkt“, so der Autor von Das Ende der

Liebe Sven Hillenkamp: „Eigentlich liegt

es an mir“. Die allgegenwärtige Möglich-

keitsform und die von Alain Ehrenberg be-

schriebenen „Evangelien der persönlichen

Entfaltung“ setzen uns unter Druck. In der

neuen Freiheit ist das Gefühl der Sinnlo-

sigkeit ist die einzige Alternative zur Hype-

raktivität. Erschöpfungszustand inklusive.

Page 33: ROSEGARDEN IV

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II. Die stille Ideologie der ökonomischen

Verwertbarkeit

Still und allgegenwärtig herrscht das Dik-

tat der Verwertbarkeit. In dieser Ersatz-

ideologie zählt der ökonomische, monetä-

re Wert. Auch für das eigentlich und not-

wendigerweise Innerliche.„Wir sind es

schlicht gewohnt“, meint die Philosophin

Natalie Knapp, „nur in eine bestimmte

Richtung zu denken“. Dieselbe Idee (des

Wachstums) werde einem immer und

immer wieder gespiegelt. Deswegen hal-

ten wir sie für die Norm. Auf der Strecke

bleibt da die eigene Wahrnehmungsfähig-

keit, die menschliche Sensibilität, die Ei-

genwahrnehmung, die guten Prioritäten,

das, was uns und anderen gut tut. Schon

oft wurde das beschrieben. Byung-Chul

Han bringt es auf den Punkt: „Indem jeder

Unternehmer seiner selbst wird (...), indem

man sich als jemanden beschreibt, der sich

selbst neu erfindet und optimiert“. Die-

se Selbstregulierung macht selbst vor der

zentralen Idee menschlicher Autonomie

keinen Halt. Im Gegenteil. Ihres emanzipa-

torischen Gehalts beraubt, richtet sie sich

gegen die Subjekte selbst. Massenoptimie-

rung in der Manier von Lemmingen.

III. Der Traum vom Erfolg

Die gegenwärtige Erzählung des Erfolgs

besteht so häufig darin und findet unse-

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re Verehrung und respektierende Zustim-

mung, wenn im Silicon Valley wieder

eine Nerdidee für ein paar Millionen oder

Milliarden Dollar über den Tisch geht.

Oder wenn zumindest ein Verlag in einen

Modeblog einsteigt und endlich, endlich

die Passion monetarisert werden kann,

oder zum Beruf wird. Und selbst wenn es

den Akteuren ziemlich eindimensional

immer nur darum gegangen sein mag.

Ist ja auch toll. Aber wir unterstellen zu

gerne, dass da doch irgendwie die Passion

mit im Spiel war. Und die ist jetzt Money.

Hach: das Hobby zum Beruf machen. Eine

Idee, nur eine, die aber einfach der globale

Killer ist. American Dream 3.0.

IV. Follow that what turns you on

Und doch halte ich den Begriff der Selbstge-

staltung für zentral. Aber eben nicht im Sin-

ne der Verwertbarkeit auf Märkten und der

eigenen Optimierung. Sondern mit Blick auf

das Erleben von Können und Eigenmächtig-

keit. Raus aus dem „passiven Gestaltetwer-

den“. Rein ins innere Wachstum. So ist „die

Sorge um Schönheit in der Lage, die Denk-

weise und Ethik der bloßen Nützlichkeit zu

konterkarieren“ (Wilhelm Schmid).

Das ist Grund genug für mein dringen-

des Plädoyer, den Passionen und Leiden-

schaften zu folgen. Ohne Berechnung. Fol-

low that what turns you on. Denn „hierin

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liegt das Geheimnis des Glücks: dass der

Mensch seine Interessen so umfassend

wie möglich gestaltet“, betont Bertrand

Russell in Der Eroberung des Glücks. Die

Beschäftigung mit dem, was uns interes-

siert, fordert, gar unterhält. Das Einsteigen

in ein Thema, in ihm aufsteigen. Exper-

te werden. Ohne äußere Notwendigkeit.

Üben. Meisterschaft. Ohne Zweck. Nur für

sich sein. Muße zulassen. Nicht als Event,

sondern als Raum der Reflexion. Da ist

endlich: Andersdenken, Nachdenken und

Neudenken. Erfüllung und Fülle. Oder in

Anlehnung an Roland Barthes: Passion ist

nichts anderes als jene Sphäre von Raum,

von Zeit, wo man kein Objekt ist, sondern

das Recht wahrnimmt, Subjekt zu sein.

Nur: was zur Hölle soll ich jetzt machen?

Christian Neuner-Duttenhofer, ist Coach und Politikberater. Er leitet die Weiterbil-

dungsakademie für Politik und Management GreenCampus in der Heinrich-Böll-Stif-

tung. Und schreibt. Und fotografiert. Und probiert.

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Kleinstadt für Großstädter: Healdsburg, California

Mario Münster hat sich in die nordkalifornische

Stadt Healdsburg verliebt. Lektüre des Artikels auf

eigene Gefahr.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

Page 36: ROSEGARDEN IV

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Wie wäre es eigentlich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen?

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Zur Übergabe der 126.000 Unterschriften für die Volksinitiative in der Schweiz schütten die

Initiatoren der Grundeinkommensinitiative 8 Millionen Fünf-Rappen-Stücke

auf den Bundesplatz in Bern.

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Grundeinkommen für alle – bedingungslos

Text: Maren Heltsche

Das bedingungslose Grundeinkommen

hat 74.896 Fans – auf Facebook. Sechs

meiner Freunde sind auch darunter. Ich

auch. Seit heute. Das war noch nicht im-

mer so. Einmal habe in meiner Studien-

zeit ein Seminar aus Protest verlassen. Es

ging um das Recht NICHT zu arbeiten und

davon ausgehend, um die Einführung ei-

nes bedingungslosen Grundeinkommens.

Das war im Jahr 2000. Nun gut, das Ot-

to-Suhr-Institut in Berlin, wo ich studierte,

ist für links-alternative Gedanken bekannt.

Ich hätte mich nicht wundern sollen. Aber

ich fand: Jeder der arbeiten kann, soll auch

arbeiten, für die die nicht arbeiten können,

ist in unserer Gesellschaft schon gesorgt.

Heute sehe ich das ein bisschen anders.

Ich habe gelernt, dass Arbeit und Lohn

zwar schon irgendwie, aber nicht zwangs-

läufig logisch zusammenhängen. Ich ken-

ne Menschen, die arbeiten und notorisch

unterbezahlt sind, Menschen, die gerne

arbeiten würden, aber keine mehr finden.

Menschen, die viel arbeiten und viel Geld

verdienen, Menschen, die ihre Arbeit krank

macht, Menschen, die mit ihrer Kunst und

mit Leidenschaftsprojekten andere inspi-

rieren. Menschen, die ihre Kinder erziehen

und Angehörige pflegen, Menschen, die

für andere putzen, Menschen, die in ihrer

Freizeit Leben retten und Feuer löschen,

Menschen, die noch nie für ihr Geld arbei-

ten mussten und solche, die versuchen mit

Hartz IV über die Runden zu kommen.

Was das heißt? Es gibt in unserer Gesell-

schaft viele Arbeiten, die werden gut be-

zahlt, viele Arbeiten die werden schlecht

bezahlt und viele Arbeiten, die werden gar

nicht bezahlt. Über das, was sie in unse-

rem Alltag und in unserer Gesellschaft be-

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deuten, sagt das

nichts aus. Gar

nichts!

Umso interessanter ist die Idee des bedin-

gungslosen Grundeinkommens. Sie ist so

einfach wie subversiv: jeder Bürger be-

kommt ein Einkommen vom Staat, unab-

hängig von seiner wirtschaftlichen Lage

und ohne Gegenleistung. Ein Konzept, das

gleichzeitig ursozial und urliberal ist. Und

entsprechend schwer in politischen La-

gern unterzubringen.

Die Idee ist nicht neu und wurde schon

vor langer Zeit von politischen Vorden-

kern und Philosophen entworfen. Seit-

dem wurden unterschiedliche Konzepte

entwickelt und es gab einige Versuche,

ein bedingungsloses Grundeinkommen

auf die politische Agenda zu bringen. In

der Breite disku-

tiert wurde es al-

lerdings noch nie.

Und es ist weit

davon entfernt im politischen Mainstre-

am angekommen zu sein. In Deutschland

gab es 2008 eine Petition zum Thema. Die

Initiatorin, Susanne Wiest, wurde 2010

zwar im Bundestag angehört, aber zu ei-

ner Debatte kam es nicht.

„Es geht um den Menschen und die Frage

der Freiheit“

In der Schweiz existiert eine aktuelle Dis-

kussion zum Thema. Losgetreten von Da-

niel Häni, Unternehmer und Aktivist in Sa-

chen bedingungsloses Grundeinkommen.

1999 gründete er in einem Bankhaus in

Basel das „unternehmen mitte“ – ein Kaf-

fehaus, Veranstaltungsort und Co-Wor-

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king-Place. Sein Fokus: herausfinden, was

Menschen tun, wenn sie nicht müssen.

Die Gäste müssen nicht konsumieren und

die Mitarbeiter haben nicht nur Mitspra-

cherecht, sondern Mitsprachepflicht.

Häni ist außerdem Mit-Initiator der „Ini-

tiative Grundeinkommen“. Im vergangen

Jahr sammelte die Initiative 126.000 Un-

terschriften für eine Volksabstimmung

zur Einführung des bedingungslosen

Grundeinkommens in der Schweiz. Häni

rechnet nicht auf Anhieb mit einer ma-

thematischen Mehrheit, wenn die Ab-

stimmung 2016 stattfindet. Er sieht sie

aber als Meilenstein für das Konzept, das

für viele den Charakter einer Revolution

hat. Für Häni ist es eher eine Evolution,

eine Entwicklung hin zum Ernstnehmen

der Menschen. „Das Menschsein wird

durch das bedingungslose Grundeinkom-

men auf die eigenen Beine gestellt, nicht

auf den Kopf“, sagt er. „Wir leben im to-

talen Überfluss und gleichzeitig müssen

sich Menschen mit Problemen der Exis-

tenzsicherung herumschlagen, die wir ei-

gentlich gar nicht haben müssten. Das so

tun, als würden wir im Mangel leben ist

ineffizient.“

Wie würde das bedingungslose Grund-

einkommen funktionieren?

Daniel Häni sieht die Frage über Modelle als

Ablenkung derjenigen, die eine Diskussion

ums Wesentliche verhindern wollen. Wie

genau soll ein solches Grundeinkommen

finanziert werden? Geht dann überhaupt

noch jemand zur Arbeit? Alles berechtigte

Fragen, vor allem wenn man eine politi-

sche Debatte führen will. Bevor man sich

mit diesen Fragen beschäftigt, sollten wir

uns aber mit den grundsätzlichen Fragen

auseinandersetzen: „Will ich wirklich be-

stimmen, was andere zu tun haben? Will

ich bewusst verzichten, damit andere kei-

Page 41: ROSEGARDEN IV

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Bedingungsloses Grundeinkommen

Die Idee: Jede Bürgerin und jeder Bür-

ger erhält ein Einkommen vom Staat und

zwar unabhängig von beruflichen und fi-

nanziellen Verhältnissen und ohne Gegen-

leistung. Diejenigen, die zusätzlich Geld

verdienen möchten, können das durch

klassische Erwerbsarbeit tun.

Geht nicht?

Doch! sagen die Befürworter. Es gibt un-

terschiedliche Modelle, die das berechnen.

Prinzipiell laufen aber alle darauf hin-

aus, den teuren und komplizierten Appa-

rat, der für unterschiedliche Steuern und

Transferleistungen zuständig ist (Kinder-

geld, Arbeitslosengeld, Hartz IV, Rente) zu

vereinfachen bzw. ganz abzuschaffen und

das dadurch ersparte Geld, den Menschen

als Grundeinkommen zur Verfügung zu

stellen. Alle Menschen bekämen so die

Möglichkeit, ein menschenwürdiges Le-

ben zu führen und nicht ausgegrenzt oder

stigmatisiert zu werden. Sie könnten sich

in Bereichen selbst engagieren, die nicht

als Erwerbsarbeit entlohnt würde. Kon-

kurrenzkämpfe und stressbedingte Krank-

heiten nähmen ab, schlecht bezahlte aber

notwendige Arbeiten, müssten attraktiver

gestaltet werden.

Nein! sagen die Gegner. Das Ganze sei zu

unsicher, die Menschen würden dadurch

zum Nichtstun verleitet und die Arbeits-

motivation würde sinken. Die Auswir-

kungen auf die Märkte und Preise seien

nicht vorhersehbar: Werden dann die not-

wendigen Güter noch produziert und die

Dienstleistungen erbracht? Wird eine in-

novationsfeindliche „Rentnermentalität“

entstehen? Das Konzept bevorzuge Gut-

verdiener und wirklich Bedürftige hätten

keine Chance auf mehr.

Mehr in Wikipedia

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Page 42: ROSEGARDEN IV

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ne Existenzängste haben? Wie ist das Ver-

hältnis vom Einzelnen zur Gesellschaft?“

Alles schon sehr philosophisch.

Aber um dem Kern des Ganzen etwas nä-

her zu kommen, kann man sich die Frage

stellen, was der eigene Antrieb für das ist,

was man tut. Was mache ich aus Leiden-

schaft, für Anerkennung oder für das Wohl

anderer? Und: was würde ich tun, wenn

kein Geld verdienen müsste?

Mit meinem positiven Menschenbild

komme ich zu der Erkenntnis: es könnte

klappen. Allerdings würde es eine so gro-

ße Umwälzung bedeuten, dass sie wohl

kein Politiker jemals in Angriff nimmt. Es

sei denn, irgendwann steigt der Druck,

weil wir als Gesellschaft die großen Her-

ausforderungen in Sachen Rente und Ar-

beitslosigkeit nicht anders lösen können.

Und vielleicht auch, weil wir neugierig

sind und wissen wollen: Was passiert ei-

gentlich, wenn alle ihre Leidenschaften

entdecken und ausleben können, weil für

ihr Einkommen gesorgt ist.

tl; dr: Arbeit und Einkommen hängen nicht

logisch zusammen und unsere (Arbeits-)

gesellschaft ändert sich derzeit rasant.

Deshalb ist ein bedingungsloses Grund-

einkommen gar keine so schlechte Idee.

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Leben retten durch Blutstammzellspende

HELFEN SIE UNS ZU HELFEN!LEUKÄMIE IST HEILBARLeukämie und andere Störungen der Blutbildung können heute durch die Übertragung von Stammzellen eines gesunden Spenders geheilt werden. Je nach Art und Stadium der Erkrankung, können so 50 – 70 % aller Patienten geheilt werden.

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Oder kommen Sie auf eine unserer öffentlichen Typisierungsaktionen. Die Termine dafür sowie weitere wichtige Infos zur Stammzellspende finden Sie auf unserer Homepage: www.akb-germany.de oder auf Facebook: www.facebook.com/AktionKnochenmarkspen-deBayern

WICHTIGE INFORMATIONENStiftung Aktion Knochenmarkspende Bayern Robert-Koch-Allee 23, 82131 Gauting [email protected] www.akb-germany.de

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Hauptstadt von Vorgestern

In Kunst und Medien wird Lissabon meistens zur

melancholischen Hauptstadt von Vorgestern ver-

klärt. Dabei ist die portugiesische Metropole längst

in der Gegenwart angekommen und tritt den Beweis

dafür an, dass eine strauchelnde Wirtschaft nicht der

schlechteste Nährboden für kulturelles Leben ist.

Text: Wolf Schmid, Illustration: Teresa Cortez

Im Frühjahr 2009 kündigte ich meine Woh-

nung in München und zog nach Lissabon.

Ich wollte einen Roman schreiben, hatte

genügend Geld, mich etwa 4 Monate über

Wasser zu halten und vage Vorstellungen

davon, wie es danach weitergehen könnte.

Kurz vor meiner Abreise traf ich eine alte

Freundin, die bei einem Verlag arbeitete.

Dort suchte man einen Ghostwriter für ei-

nen Schnäppchenplaner. Ich ließ mich auf

das verkaufsabhängig honorierte Aben-

teuer ein und hoffte meine Schreibzeit da-

durch verdoppeln zu können.

Im Spätsommer desselben Jahres erzähl-

te mir der sonnenverbrannte 62-jährige

Senhor Jorge aus der Nachbarschaft, dass

er Angela Merkel für ihre starke Hand be-

wunderte und dem ehemaligen portugie-

sischen Diktatoren Salazar nachtrauerte.

Im selben Zeitraum kam der Begriff Euro-

krise ins Gespräch. Portugal war einer der

Wackelkandidaten. Ab 2010 verabschie-

dete die Regierung ein Sparpaket nach

dem anderen. Die Zinsen für Staatsanlei-

hen stiegen trotzdem unaufhörlich. 2011

flüchtete sich das Land unter den Euro-Ret-

tungsschirm und aus den Sparbemühun-

gen wurde ein Spardiktat. Steuern wurden

erhöht, Renten gekürzt, das Kulturministe-

rium abgeschafft.

Auch vor der Krise war Lissabon ein blas-

ser Fleck auf der Karte europäischer Kul-

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turstädte. Meistens wird

es auf die Stichworte Fado

und Saudade reduziert.

Fado, die tristen Gesänge,

die von unglücklicher Lie-

be und der Sehnsucht nach

besseren Zeiten erzählen.

Saudade, die unübersetz-

bare Schwester von Welt-

schmerz und Sehnsucht.

Alle meine Besucher wa-

ren von Reiseführern und

Reportagen entsprechend

vorbelastet. Der gelang-

weilte Blick, den der leder-

häutige Angler über die

spiegelglatte Oberfläche

des Tejo schweifen ließ,

war für meine Mutter ein

Blick in vermeintlich bes-

sere Zeiten. In Filmen und

Büchern über Lissabon herrscht stets trü-

bes Winterwetter oder glühende Hitze,

und die schmalen, malerischen Gassen

sind weitgehend entvölkert.

In Bezug auf gegenwärtige Kultur, wird

die Luft dünn. Der Literaturnobelpreis-

träger José Saramago ist tot. Die Instal-

lationskünstlerin Joana Vasconselos gibt

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die Kunsthandwerkerin für gehobene

Einkommensklassen. Die Kuduro-Band

Buraka Som Sistema ist nach London aus-

gewandert. Dabei vibriert in Lissabons

schmalen Gassen das Leben auf eine sehr

spezielle Art. Zum Teil hat das mit der ex-

ponierten Lage am südwestlichsten Zip-

fel Europas und der Kolonialvergangen-

heit zu tun. Afrika und Südamerika sind

hier keine exotischen Zutaten, sondern

Bestandteile des Alltags. Egal ob der Putz

von den Wänden blättert, die Farben der

Graffiti und Stencils leuchten hier kräf-

tiger als anderswo. Egal ob die afrika-

nischen Trommeln in den Katakomben

der Fábrica Braço de Prata dafür sorgen,

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oder die DJs auf dem Mercado Fusão, die

Rhythmen kommen hier leichtfüßiger

daher.

Kulturelle Bereiche, die von einer gewissen

Investitionsbereitschaft abhängig sind,

haben es derzeit schwer. Film und Archi-

tektur lösen sich nur sehr allmählich aus

der Schockstarre. Doch der beweglichere

Teil der Kreativszene arrangiert sich bes-

tens mit den Sparmaßnahmen. Wo keine

festen Arbeitsverträge vergeben werden,

sind Freelancer gefragt. Rafael Lourenço

vom Design-Kollektiv vivóeusébio streicht

sich den Allen-Ginsberg-Bart und erzählt,

dass sie in den letzten Jahren etliche Kun-

den hinzugewonnen haben, die früher

ausschließlich mit festen Designern arbei-

teten. Er ist glücklich damit. So kann er mit

Freunden arbeiten und sich um diejenigen

Aufträge bemühen, die ihn herausfordern.

Wo der Druck von Außen zunimmt,

wächst auch der innere Zusammenhalt.

Lokale Modelabels, Kleinverlage und Mu-

siker segeln seit einiger Zeit mit Rücken-

wind. Mittlerweile auch jenseits der Lan-

desgrenzen. Planeta Tangerina ist 2013 bei

der Bologna Children’s Book Fair als bester

europäischer Kinderbuchverlag ausge-

zeichnet worden. Die Illustratorin Catarina

Sobral gewann dieses Jahr den Internatio-

nal Award for Illustration.

Bands wie Paus und Dead Combo eifern

keinen angelsächsischen oder amerika-

nischen Vorbildern nach, sondern lassen

sich von ihrer Umgebung inspirieren und

haben Erfolg damit. Paus reichern ihren

Postrockentwurf mit tribalen Rhythmen

afrikanischer und lateinamerikanischer

Färbung an und versetzen damit ihr Publi-

kum in den USA, Mexiko und London glei-

chermaßen in Ekstase. Dead Combo neh-

men traditionelle portugiesische Gitarren,

vermischen sie mit Blues und Weltmusik,

und werden rund um den Globus verehrt.

Auch die Konzertbühnen der Stadt haben

einiges zu bieten. Ein ehemaliges Bordell,

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ein traditioneller Tanzsaal und ein altes

Herrenhaus sind nur drei von zahllosen

fantastischen Locations. Bespielt werden

sie von einer lokalen Musikszene, die sich

innerhalb immer neuer Kollaborationen

permanent neu erfindet. Das ZDB ist Kno-

tenpunkt und Veteran der Szene, und zu-

gleich internationales Aushängeschild der

lokalen Subkultur. Seit der Auflösung von

Sonic Youth haben alle ehemaligen Mit-

glieder der Indie-Ikonen hier mindestens

einmal hier aufgespielt. Thurston Moo-

re dachte zwischenzeitlich sogar darüber

nach, seinen Lebensmittelpunkt ganz an

den Tejo zu verlegen. Vielleicht inspirier-

te ihn das Schaufenster neben der Bühne,

durch das man ins Kneipenviertel Bairro

Alto schauen kann. Oders das Sommer-

nachtskino auf der Dachterrasse, bei dem

Musikdokumentationen auf den Giebel

des Nachbarhauses projiziert werden.

Ein schlechter Nährboden für ein vitales

kulturelles Leben scheint eine straucheln-

de Wirtschaft nicht zu sein. Wenn die öko-

nomische Ausgangssituation so holprig

ist, dass selbst Standardschritte auf dem

Karriereparkett zu Wagnissen werden,

versucht manch einer vielleicht gleich,

seine Herzensangelegenheit ins Zent-

rum des Lebens zu rücken. Aus Deutsch-

land war ich daran gewöhnt, dass jedes

Gespräch mit einem Unbekannten durch

die Frage nach dem Beruf eröffnet wird.

Meistens nannte ich meinen jeweiligen

Brotjob, aber manchmal sprach ich vom

Schreiben. Wenn überhaupt, kam die Fra-

ge „Was schreibst du denn?“ immer lange

nach dem „und davon kannst du leben?“.

Ein paar Wochen nach meiner Ankunft

in Lissabon ging ich vom Rossio-Bahnhof

Richtung Bairro-Alto. Ich ächzte wegen der

flachen Stufen, die zu breit waren, als dass

man zwei auf einmal hätte nehmen kön-

nen. Hinter mir ging der Kunstmaler Da-

niel Melim. Er fragte, was ich in Lissabon

machte. Ich erzählte vom Schnäppchen-

planer. Er lachte. „Aber darum geht es dir

doch nicht. Ich will wissen, was du wirk-

lich machst?“.

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Teresa Cortez ist in Lissabon geboren und immer wieder dorthin zurückgekehrt. Sie

arbeitet als freie Illustratorin und Animatorin für Bücher, Magazine, Plattencover,

Imagefilme und Videoclips. Im Winter erscheint bei Nave Especial ihre iPad-Applikati-

on „Guarda-Sóis do Brasil“. (teresacortez.com)

Wolf Schmid lebt in Lissabon. Er arbeitet als Stadtführer, Wellenreitlehrer und freier

Schriftsteller. Unter dem Heteronym „Konrad Geyer“schreibt er auf Kommentarblog.

Im September erscheint beim Liesmich-Verlag sein Debütroman „Pedalpilot Dop-

pel-Zwo“. Für Teresas App hat er am Konzept und den Texten mitgeschrieben.

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Vor der Haustür das Meer

Kurzgeschichte: Lisa Lindner

In einem Buch hatte er gelesen, dass es

rein gar nichts daran änderte, wenn man

durch den Regen rannte. Die Tropfen

würden einen dennoch bis auf die Haut

durchnässen, ganz gleich ob man eilte

oder gemächlichen Schrittes ging. Er hatte

an diesem Abend nur wenig Muse, dieser

These auf den Grund zu gehen, stattdes-

sen presste er die lederne Mappe enger

zum Schutz an seinen Körper und steu-

erte zielstrebig das nächstgelegene Licht

in der stetig wachsenden Dunkelheit an.

Als er die massive Eichentür zum Eingang

eines gut besuchten Pubs aufstieß, schlug

ihm die feuchte, schwere Luft von damp-

fenden Mahlzeit, frisch gezapftem Bier

und Zigarettenrauch an diesem nasskal-

ten Regentag beinahe einladend entge-

gen. Der Dunst legte sich auf seine dicken

Brillengläser, sodass er sich eilends be-

mühte, diese mit einem letzten trockenen

Hemdzipfel von Nebel und Feuchtigkeit

zu befreien, ehe er sich in der verwinkel-

ten kleinen Schankstube umblicken konn-

te. Die Einheimischen kümmerten sich

nur wenig um den fremden Gast, welcher

nun den Raum betrat und seinen Blick su-

chend über die belegten Plätze schweifen

ließ. Schließlich sank er, seufzend resig-

nierend, auf einen der freien Barhocker

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und gab dem Schankwirt mit der Hand

ein Zeichen. Er seufzte ein zweites Mal,

als er die lederne Mappe aufschlug und

sah, dass sich auf der obersten Seite eines

Stapels Papier erste Wassertropfen gebil-

det hatten. Verstohlen blickte er sich in

der dunklen Schankstube um, niemand

nahm Notiz von ihm. Er war unsichtbar

– nicht nur hier, im entlegensten Küs-

tenstädtchen, an den es ihn jemals ver-

schlagen hatte. Mit den Zehen streifte er

sich die durchnässten Schuhe von den

Füßen und bewegte diese eine Weile,

um die Feuchtigkeit aus den Knochen zu

vertreiben. An seinem Nacken lief von

dem kurz geschorenen Haar ein dünnes

Rinnsal von Regenwasser hinab. Wie ein

Hund schüttelte er ein Mal kurz den Kopf,

dann ein zweites Mal. „Stürmisch heute“,

bemerkte plötzlich ein alter Mann rechts

von ihm. Der Fremde blickte sich kurz

verwirrt um, nicht ganz sicher, ob der

Mann ihn angesprochen hatte. Dieser

schwieg wieder – war es nur ein Selbst-

gespräch gewesen? Er blickte den alten

Mann noch einmal verwirrt an, muster-

te ihn kurz und vertiefte sich dann in das

Bier, das er geordert hatte. Die beiden

Männer saßen eine Weile da, nur für sich,

schweigend. Die Gedanken des Fremden

schweiften erneut ab, er dachte an die Ar-

beit, die heute Abend noch in der Mappe

auf ihn wartete und an das ungemütli-

che Hotelzimmer, das ihn nur noch mehr

anonym erscheinen ließ. Er wünschte, er

könne sagen, dass er sich nach Daheim

sehnte, doch die Dachgeschosswohnung

am Standrand war kaum weniger spar-

tanisch und ungemütlich eingerichtet als

das fremde Zimmer in der kleinen Küs-

tenstadt. „Beruflich hier?“, fragte der alte

Mann nun und blickte ihn auffordernd

an. Der Fremde stockte, blinzelte hinter

den Brillengläsern verwirrt zwei Mal. Er

runzelte kurz die Stirn, mehr verlegen als

verärgert über die Unterbrechung seiner

Gedanken, dann nickte er bejahend auf

die Frage, kurz darauf noch einmal, zur Si-

cherheit. Der alte Mann nickte ebenfalls,

brummte etwas in seinen grau-gestutz-

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ten Bart und nahm einen Schluck aus der

Flasche vor ihm. „Sie sind nicht von hier“,

stellte er fest und wiegte seinen Ober-

körper leicht vor und zurück, während er

sprach. Der Fremde schüttelte den Kopf

und zuckte dann fast entschuldigend mit

den Schultern. „Nee, nee, sind Sie nicht“,

sagte der Mann nun wieder. „So wie sie

bei diesem Hundewetter rumlaufen,

ohne Mantel und mit diesen schnieken

Herrenschuhen“. Er blickte dabei auf die

durchnässte Socken, der Fremde lief rot

an. Der alte Mann hingegen trug ein fes-

tes Paar Gummistiefel und ein wetter-

gegerbtes Regencape. Auch ihm lief ein

feines Wasserrinnsal den Nacken hinab,

doch er schien es noch nicht einmal zu

bemerken. „Wissen Sie, wenn man hier

seit sechzig Jahren lebt und arbeitet, ken-

nen man jeden Hosenknopf“, erklärte der

alte Mann und seine Barthaare zuckten

beim Sprechen. „Das Städtchen ist klein,

doch mit dem Meer als Vorgarten vor der

Haustür lebt man gern. Und wenn’s zu

viel Getratsche gibt, steig ich auf meinen

Kutter und hör nur den Wellen zu, mehr

braucht es nicht. Sie kommen bestimmt

aus der Stadt, mit dem Anzug und Ihren

schnieken Herrenschuhen“. Der Frem-

de lief erneut rot an, vielleicht war er es

noch immer, er wusste es nicht. Er hat-

te einfach nur da gesessen und dem so-

noren Brummen seines Nachbars ge-

lauscht. Die Stimme des alten Mannes

strahlte eine tiefe, innere Ruhe aus und

die vielen Lachfalten in seinem Gesicht

zeugten von einem langen, glücklichen

Leben. „Schauen Sie nicht so unglücklich,

was macht Ihnen denn zu schaffen? Das

bisschen Regen ist morgen wieder vorbei

und wenn nicht, geht das Leben trotzdem

weiter. Solang sich die Fische noch mun-

ter im Wasser tummeln, hab ich was zu

tun. Das sollten sie mal sehen, wie die im

Netz springen und zappeln.“ Der Fremde

schwieg noch immer, er dachte wieder

an die Verträge in der Ledermappe, die er

heute noch durchgehen musste, um sie

am nächsten Morgen seinem Chef faxen

zu können. „Was schauen Sie denn so un-

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glücklich?“, fragte der Fischer neben ihm.

„Solang man noch springen und zappeln

kann, gibt’s für jeden noch Hoffnung. Sie

sollten mal mit mir raus fahren, bisschen

Seeluft schnuppern, das würde Sie auf an-

dere Gedanken bringen. Aber Gummistie-

fel müssen Sie schon selbst mitbringen,

für diese schnieken Herrenschuhe sind

wir hier nicht gemacht“. Der Mann schob

seinen Barhocker zurück und erhob sich

ächzend. „Mehr als sechzig Jahre mach

ich das jetzt schon und die Feuchtigkeit

wohnt in jedem einzelnen Knochen. Je-

den Morgen muss ich meine alten Beine

dazu überreden, dass sie mich noch einen

Tag tragen und jeden Abend kriegen mei-

ne Finger kaum noch den Knoten ins Tau.

Das einzige, was nach einem harten Tag

da draußen auf mich wartet, sind dieser

Hocker und die Möwen, die sich nur gierig

auf den Fisch stürzen wollen. Aber glau-

ben Sie mir eins: Mit dem Meer als Vorgar-

ten vor der Haustür kann man gar nicht

unglücklich sein.“

Lisa Lindner hat an der Uni Erlangen-Nürnberg Germanistik und Nordische Philolo-

gie studiert. Eine Antwort auf die Frage, was man denn mit Letzterem später mal so

macht, hat sie aber nicht. Deshalb studiert sie in ihrem Master auch Literaturstudien

und schreibt ihre Texte lieber auf Deutsch. Nach Stockholm würde sie aber trotzdem

wieder ganz gerne zurück ziehen.

Hostwriter: Sofas, Informationen & Geschichten

Maren Heltsche hat die Macherinnen des Projektes

Hostwriter getroffen.

Das und mehr auf www.rosegarden-mag.de

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Impressum

[email protected]

Postanschrift:Bouchéstraße 12, 12435 BerlinTelefon: +49 (0) 151 240 30 742

Herausgeber: Maren Heltsche, Mario Münster

Chefredakteur: Mario Münsterstellv. Chefredakteurin:Maren Heltsche

Anzeigen und Werbung:[email protected]

Redakteurinnen und Redakteure (Text):Maren Heltsche, Lisa Lindner, Mario Münster, Christian Neuner-Duttenhofer, Wolf Schmid, Bertram Sturm

Redakteurinnen und Redakteure (Foto/Bild): Rieke Anscheit, Stefan Bohrer, Eye C, Te-resa Cortez, Vera Hofmann, Sascha Knicke, Frank Kretschmann, Sabine Schründer, Hansjörg Walter, Cris Koch

Titelfoto: Ralph Boes

Design/Illlustration:Bertram Sturm

Lektorat: Mandy Schoßig

Rosegarden erscheint in unregelmäßigen Abständen etwa drei Mal im Jahr.

Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich ge-schützt.

Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial und externe Links wird kei-ne Haftung übernommen (siehe hierzu: www.rosegarden-mag.de/impressum/)

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IWhat

you Do

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Bis zum nächsten Mal.