Rostock kaput

20
Rostock kaput! Beitrag zum 70. Jahrestag des Luftangriffes auf die Hansestadt

description

Ein antifaschistischer Beitrag zum 70. Jahrestag des Luftangriffes auf die Hansestadt

Transcript of Rostock kaput

Page 1: Rostock kaput

Rostock kaput!Beitrag zum 70. Jahrestag des Luftangriffes auf die Hansestadt

Page 2: Rostock kaput

InhaltZu Land, zur Luft und auf der See 3

Ideologie und Terror 8

Der Krieg kehrt heim 12

Der Blick zurück 14

Sowas kommt von sowas! 16

V.i.S.d.P.: Maren Fleischer, Ulmenstr. 12, 18057 Rostock

Page 3: Rostock kaput

3Zu Land, zur Luft und auf der See

Die „Seestadt Rostock“ im Zeichen der nationalsozialistischen Kriegsproduktion

Wer heute so gerne und mit leidenschaftlicher Inbrunst die Geschichte des Luftkrieges und der Bombardierung deutscher Städte erzählt, redet nur ungern über die Ursachen und Gründe. Stattdessen kommt die Bombar-dierung in ihrer bevorzugten Erzählung zumeist als inferna-lische Katastrophe buchstäblich aus dem heiteren Himmel. Aus dem Nichts. Der Charakter der getroffenen Stadt wird in über-schwänglichen Zügen wahl-weise als „historisch“, „archi-tektonisch wertvoll“, „kulturell bedeutend“, „mittelalterlich“, „schön“, „bezaubernd“ oder gar als „friedlich“ beschrieben. Um dieser selektiven Wahrnehmung

der eigenen Stadtgeschichte zu begegnen, bedarf es der Verge-genwärtigung, dass Rostock, wie viele andere Großstädte, ein Zen-trum der deutschen Rüstungs-industrie war. Hier wurden die Mordwerkzeuge hergestellt, mit denen sich die Deutschen Europa zum Untertan machen wollten. Dies trifft insbesondere auf Ros-tock zu, dessen neuere Geschich-te untrennbar mit dem Namen „Heinkel“ verbunden ist. Noch heute gibt man unverwunden zu:

„Die Firma brachte Rostock

und Warnemünde in der ersten

Hälfte des 20. Jahrhunderts

den endgültigen Durchbruch in

Page 4: Rostock kaput

4Sachen Industrialisierung. Rostock

wurde moderne Großstadt und

Hochtechnologie-Standort.“ 1

Und nur hierzulande verstehen es die Protagonist_innen dieser neuen deutschen Geschichts-schreibung als keinen Wider-spruch, sich mit dem Charme stotternder Heimatkundeleh-rer_innen der vielen Vorzüge und modernen Lebensaspekte zu rühmen, die durch den „Wehr-wirtschaftsführer Heinkel“ ins Stadtleben gebracht wurden, aber gleichzeitig nicht wahrha-ben zu wollen, dass der Aufbau einer durchmilitarisierten Mord-industrie auch genau das hervor-

bringt: Mord, Elend und Krieg.

„Zur Hebung der Gesundheit und der Wehrkraft“So rühmt man sich bis heute

der vermeintlichen Wohltaten, die die Ansiedlung der Großbe-triebe nach sich zogen. Bis heu-te zeugen ganze Stadtviertel in Warnemünde und im Rostocker Westen von den nationalsozi-alistischen Mustersiedlungen, die für die Arbeiter_innen der Kriegsbetriebe aus dem Boden gestampft wurden.

1 Zitiert nach der „Ernst-Heinkel-Gedenk-website“ - siehe: http://www.gedenkseiten.de/ernst-heinkel/

Doch bei architektonischen Unverschämtheiten im Einheits-look des roten Backsteins blieb es leider nicht. Die gesamtgesell-schaftliche Gleichschaltung war bei den Nazis systemimmanent, so dass über kurz oder lang das ganze Stadtleben, gemäß der staatstragenden Ideologie, auf den einen Zweck ausgerichtet wurde, der für die Nationalsozia-list_innen der Sinn allen Daseins war: der Kampf.

Selbst sämtliche Freizeitak-tivitäten sollten, mal indirekt, aber manchmal auch ganz offen-sichtlich, auf diese eine Bestim-mung ausgerichtet werden. So gab es im neugebauten Hansa-Kino vorrangig Kriegsfilme und „Lehrmaterial“ über den ver-meintlichen „Erbfeind“ und im eigens von den Heinkel-Werken gebauten „Heinkel-Stadion“ ir-gendwann nur noch Duelle zwi-schen Militärsportvereinen und Betriebsmannschaften der Flug-zeugwerke. Der damalige Rosto-cker Polizeipräsident und Sport-kreisführer Hans-Eugen Sommer beschrieb für den Sport das, was in ähnlicher Form auch für alle anderen Lebensbereiche galt:

Page 5: Rostock kaput

5„[...] denn die Leibesübung ist im

nationalsozialistischen Staate Sache

des ganzen Volkes, zur Hebung der

Gesundheit und der Wehrkraft.“2

Selbst in der Universität Rostock wurden nicht nur Bücher ver-brannt und jüdische Mitbürger_innen rausgeworfen, sondern es wurde auch fleißig im Sinne der NS-Ideologie rationalisiert und reformiert. Nonkonforme Fach-bereiche wie die Religionswis-senschaften wurden geschlos-sen, und andere, wie etwa das Institut zur „Erb- und Rassenfor-schung“ oder (abermals auf Bit-ten von Heinkel) das „Institut für angewandte Mathematik und Mechanik“ extra eröffnet. Die Bombenkonstrukteure von Mor-gen mussten schließlich auch ir-gendwo ausgebildet werden.

2 Siehe: „Zur Hebung der Gesundheit und der Wehrkraft. - Fußball in Rostock während des Na-tionalsozialismus“ auf: http://ruh.soziale-bildung.org/node/20

Diese Entwicklung geriet durch den einsetzenden Krieg nicht etwa ins Stocken, sondern im Gegenteil, sie wurde noch wei-ter intensiviert. Mit Beginn des Krieges wurden in steigender Anzahl Zwangsarbeiter_innen, Gefangene und KZ-Häftlinge zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben gezwungen. Die verschiedenen Großbetriebe Rostocks beschaff-ten sich so bis zum Ende des Krie-ges mehrere tausend Arbeitskräf-te.

Aus der Luft - In die LuftIronischerweise kam das gro-

ße Unheil aus der gleichen Rich-tung, in der die Stadt jahre-lang den Tod in die Welt hinaus schickte. Aus der Luft kamen die Bomben, die die nahende Befrei-ung einläuteten und in die Luft schickten die Rostocker_innen ihre Bomber und Jagdflugzeuge.

Der größte der Rostocker Kriegs-betriebe waren die Heinkel-Flug-zeugwerke. Ihre Geschichte be-gann 1922 mit der Gründung der „Ernst Heinkel Flugzeugwerke A.G.“ in Rostock-Warnemünde und bereits damals enthielt die vermeintlich zivile Flugzeug-produktion eine militärische Dimension. Durch den Frie-

Page 6: Rostock kaput

6densvertrag von Versailles, der die Wiederholung einer Katast-rophe wie den Ersten Weltkrieg unmöglich machen sollte und dem deutschen Militarismus die Grundlage entziehen wollte, war den Deutschen das Unterhalten einer Luftwaffe verboten. Der deutsche Revanchismus – zu dem maßgeblich auch Industrielle wie Heinkel gehörten – suchte bereits in den 20er Jahren nach Möglichkeiten, den Friedensver-trag zu brechen. Im In- und Aus-land wurden unter Geheimhal-tung Kampfpiloten ausgebildet. Und so fand auch Heinkel seinen Weg ins Ausland, bei der kaiser-lich-japanischen Marine entwi-ckelte er von Deutschland aus Militärflugzeuge, die er dann in Skandinavien in Lizenz produzie-ren ließ.

Mit Errichtung der national-sozialistischen Diktatur trat Heinkel der NSDAP bei; von dort an konnte er sein Kriegsgerät in aller Öffentlichkeit erforschen. Von der Universität Rostock be-kam er dafür die Ehrendoktor-würde. Rostock wurde zum Zen-trum der Luftkriegsproduktion. Es entstand ein Flugplatz zur Erprobung neuer Flugzeugtypen und die kontinuierlichen Bezie-

hungen zu den Raketenstartplät-zen der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde, für die Heinkel Versuchsflugzeuge beschaffte, wurden ausgebaut. Die Anzahl der Beschäftigten (ohne Zwangs-arbeiter_innen) wuchs von ca. 1.000 im Jahre 1932 bis zum Kriegsende auf über 10.000. Die-ser Prozess führte dazu, dass die Einwohner_innenzahl der Stadt im Jahre 1935 die hunderttausend überschritt, was auf offizieller Ebene den Großstadtstatus mit sich brachte. Als eine der ersten Auswirkungen der Luftangriffe musste im Übrigen das Heinkel-Werk einen Teil seiner Produk-tion in das nahe gelegene Barth verlagern. Unter Rückgriff auf das dort befindliche Konzent-rationslager plünderte man bis zuletzt über 6.000 weitere Häft-linge als Zwangsarbeiter_innen aus.

Ein weiterer Akteur in diesem Zusammenhang waren die Fab-riken der Arado Flugzeugwerke GmbH, die sich bereits 1921 in Rostock niederließen und zu de-ren Spezialitäten Kampfflugzeu-ge für die Marine zählten. Die Reichswehr bildete schließlich ab 1925 auf dem Flugplatz „Hohe Düne“ im eigens dafür gegründe-

Page 7: Rostock kaput

7ten Tarnunternehmen „Seeflug GmbH“ Kampfpiloten aus.

U-Boote für den FührerAls Hafenstadt mit einer jahr-

hundertelangen Bootsbautra-dition ließen es sich die Rosto-cker_innen selbstverständlich nicht nehmen, auch Kriegs-schiffe für das Militär zu bauen. Während des Ersten Weltkrieges unternahm man die ersten Geh-versuche und übte sich im Bau von Minensuchbooten und dem Umrüsten von Zivilschiffen. Dies sollte sich im Nationalsozi-alismus grundlegend ändern. In Rostock gab es zu der Zeit zwei Werften. Einerseits die Neptun-werft, welche 1850 gegründet wurde, und auf der anderen Seite die Kröger-Werft, welche 1928 die Gehlsdorfer Gebrüder Kröger er-öffneten.

Neben Flugsicherungsbooten und Begleitschiffen gehörten auch wieder Minensuch- und Sprengboote zum Repertoire der Rostocker Schiffbauer_innen. In der Neptunwerft spezialisier-te man sich auf das tödlichste Mordgerät, das die deutsche See-fahrt zu bieten hatte, den Bau von U-Booten für die Kriegsflot-te. Hier wurden bis 1945 zehn Ex-emplare des Typs VII-C gefertigt.

Mit fortschreitender Militarisie-rung und der unersättlichen Gier des Kriegsapparats nach neuen Soldat_innen ging auch der Nep-tunwerft mit der Zeit das Perso-nal aus. Auch hier versuchten die Faschist_innen den Arbeits-kräftemangel durch Zwangsar-beit zu kompensieren. Als die Rote Armee am 1. Mai 1945 Ros-tock erreichte, wurden allein in der Neptunwerft über 1.400 KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene befreit.

Wer angesichts dieses Ausma-ßes der Kriegsanstrengungen, ob direkt im Flugzeughangar oder indirekt bei der Sicherstellung des geordneten Ablaufs des Ar-beitsalltages, behauptet, es hät-te keinen Sinn ergeben, diesen vielfältig verzweigten Motor der Rüstungsproduktion zu zerschla-gen, der muss sich fragen lassen, mit welchem Recht er die Nieder-schlagung des Nationalsozialis-mus gegen kaputte Hausfassa-den aufwiegen will und warum das traditionelle Ambiente einer mittelalterlichen Hansestadt als historisches Argument gegen die Beendigung des Zweiten Welt-kriegs standhalten soll.

Page 8: Rostock kaput

8Ideologie und TerrorAntisemitismus in Rostock

Bereits in den 20er Jahren häuf-ten sich in Rostock antisemiti-sche Kampagnen deutschnatio-naler Strukturen, wie bspw. die gegen den jüdischen Medizinpro-fessor Fritz Weinberg. 1930 hielt dann die NSDAP mit über 20 % der Stimmen Einzug in die Stadtver-waltung. Diese starke Position nutzte sie im darauf folgenden Jahr, um die wenigen jüdischen Künstler_innen im Rostocker Stadttheater zu verjagen.

Nach der Ernennung Adolf Hit-lers zum Reichskanzler wurde die öffentliche Verwaltung nach und nach im Sinne der Nationalsozi-alist_innen „gleichgeschaltet“. Gleichzeitig beteiligte sich eine Reihe Rostocker Dozent_innen aktiv an den Bücherverbrennun-gen im Mai 1933. So sehr sich die Nazis und ihre Sympathisant_in-nen für die rasche Umsetzung der „Machtergreifung“ engagier-ten, so wenig Widerstand stellte sich ihnen entgegen. So konnte

Page 9: Rostock kaput

9im April 1933 nahezu ungestört der erste große, organisierte Boy-kott gegen Geschäfte und Firmen mit jüdischen Besitzer_innen durchgeführt werden. In der Krö-peliner Straße und anderswo for-mierten sich SA-Posten vor Arzt-praxen, Anwaltskanzleien und Kaufhäusern. In den darauf fol-genden Jahren wurde nicht nur gewerkschaftliche und generell politische Arbeit unterbunden, sondern auch die Teilhabe der Rostocker Jüdinnen und Juden am öffentlichen Leben systema-tisch beschnitten. Dies betraf sowohl Wohnsituation, als auch Ausbildung und Erwerbstätig-keit; mit den Nürnberger Ge-setzen von 1935 dann auch das Privatleben und die Sexualpart-ner_innen.

Gleichzeitig war es für die ver-einzelten „Volksdeutschen“ mit anti-faschistischer Gesinnung mit der Zeit immer weniger mög-lich, der nationalsozialistischen Ideologie zu widersprechen oder aus dem Weg zu gehen, da die „Gleichschaltung“ nach und nach auch die letzten Vereine und Einrichtungen ergriffen hatte. Mit viel Unterstützung von den übrigen Rostocker_in-nen konnte niemand rechnen, denn diese hatten 1932 mit über 40 % und 1933 mit über 35 % für die Nazis gestimmt. Vor allem diejenigen Rostocker_innen, die vermeintlich oder tatsächlich jüdischer Herkunft waren, hat-ten vermehrt unter der Naziherr-schaft zu leiden. Nicht wenige nahmen sich schon in den Mona-ten nach der „Machtergreifung“ das Leben. Spätestens 1938 war klar, dass es den Nazis um mehr ging als Diskriminierung, näm-lich auch um die Vernichtung der bürgerlichen Existenz auch der Rostocker Jüdinnen und Juden, ebenso wie um die tatsächliche körperliche Vernichtung des eu-ropäischen Judentums. Die Ros-tocker_innen unter ihnen waren zwangsweise vollständig regist-

Page 10: Rostock kaput

10riert worden und die ersten wur-den deportiert. Es traf zunächst 37 „Ostjuden“, die auf einen Lkw geladen und hinter der polni-schen Grenze ausgesetzt wurden.

Noch im gleichen Jahr entlud sich wie im restlichen Deutsch-land der Hass auf alles „Jüdische“ auch in Rostock, während der Reichspogromnacht im Novem-ber 1938. Vorwand hierfür war das Attentat Herschel Grynsz-pans auf einen SA-Mann. Gryn-szpan war Jude und wollte die De-portation seiner Familie rächen. In Rostock wurden nicht nur Ge-schäfte geplündert und zerstört, die Synagoge niedergebrannt, sondern auch Privatwohnungen durch SS und SA demoliert. Nicht nur landete das Inventar samt Wertsachen auf der Straße, es wurde auch von den Rostocker_innen unter dem Schutz der SS samt und sonders gestohlen.

Im Januar 1939 wurde in Ros-tock der letzte Betrieb mit jüdi-schen Besitzern „arisiert“, sprich das Eigentum an diesem unter Zwang auf einen Nazigetreuen übertragen. Gleichzeitig erhiel-ten die Rostocker Jüdinnen und Juden die Zwangsvornamen „Is-rael“ und „Sara“, um ihre Nicht-Zugehörigkeit zum Deutschen

Volk auch im amtlichen Namen festzuschreiben. Angesichts der überwältigenden Mehrheit, die den Terror auch in Rostock un-terstützt und befürwortet hatte, war es für die wenigen Anstän-digen eine immense Gefahr, sich solidarisch zu zeigen. Nichtsdes-totrotz sind einige Beispiele die-ser Aufrichtigkeit belegt, sei es der illegale Schulunterricht für jüdische Kinder, oder auch heim-lich abgelegte Essenspakete.

Während die „Volksdeutschen“ immer dichter zusammenrück-ten und sich bspw. im heutigen Peter-Weiss-Haus zu Spendenak-tionen für ihre Frontsoldaten ver-sammelten, bekamen die Jüdin-nen und Juden, die unter ihnen lebten, immer mehr ihren Hass zu spüren. Ausdruck dessen war nicht zuletzt der „Judenstern“, der auch in Rostock 1941 polizei-lich vorgeschrieben wurde. Am 10. Juli 1942 fand sich dann der Höhepunkt des Hasses der Deut-schen auf die Juden in Rostock: um 7.01 Uhr verließ der erste De-portationszug Rostock über Lud-wigslust mit dem Endziel Ausch-witz. Von den 24 Verschleppten kehrte niemand zurück, alle wurden ermordet.

Page 11: Rostock kaput

11Im November desselben Jahres

traf es dann noch einmal 14 Men-schen aus Rostock. Sie wurden am 11. November 1942 um 6.59 Uhr nach Theresienstadt depor-tiert. Auch aus diesem Transport überlebte niemand.

An der Organisation der Ver-nichtung waren in Rostock nicht nur die Parteistrukturen der Na-zis beteiligt. Eine aktive Rolle bei der Abwicklung der Deporta-tionen, die allwissentlich in den Tod führten, spielten Mitarbei-ter_innen der Reichsbahn, der Polizeireviere, des Finanzamtes und der Arbeiterwohlfahrt. Ers-tere waren für die Organisation des Abtransportes verantwort-lich, letztere für den Einzug jü-discher Besitztümer. Von Nicht-wissen oder Unschuld kann für die Mehrheit der Rostocker_in-nen also keine Rede gewesen sein. Während des Krieges setzte sich der Terror gegen die verblie-benen Jüdinnen und Juden fort. Diese wurden meist nur durch ihre Ehe mit nichtjüdischen Ros-tocker_innen vor der Deportation gerettet. Doch auch die Kinder aus diesen „Mischehen“ blieben von den Nazis nicht verschont. Sie wurden in und um Rostock zur Zwangsarbeit eingesetzt.

Der letzte Akt des Rostocker Na-ziterrors ereignete sich, als die Stadt von der Roten Armee befreit werden sollte. Noch in der Nacht vor der Niederlage wurde eine Liste mit 157 Sozialdemokrat_in-nen und Kommunist_innen er-stellt, die es zu ermorden galt. Nur durch die Hilfe anderer Ros-tocker_innen konnten sie sich dem Zugriff der Nazis entzie-hen. Das letzte Armutszeugnis war die Sprengung der Mühlen-dammbrücke, die fünf Rotarmis-ten noch am Tag der Befreiung das Leben kostete. Als dann am 1. Mai 1945 endlich sowjetische Truppen die Terrorherrschaft be-endeten, lebten gerade noch 14 Jüdinnen und Juden in Rostock. Ursprünglich waren es etwa 300.

Page 12: Rostock kaput

12Der Krieg kehrt heimDie Bombardierung Rostocks im April 1942

Nachdem Deutschland briti-sche Städte wie Coventry 1940 bombardiert hatte, konnte das United Kingdom im selben Jahr den „Battle of Britain“ für sich entscheiden. Da außerdem durch den Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 der Großteil der Wehrmacht gen Osten mobili-siert wurde, war eine Landung deutscher Truppen auf briti-schem Boden vorerst auszuschlie-ßen. Es konnten also Pläne für ei-nen britischen Gegenangriff auf Deutschland entworfen werden.

In der britischen Angriffsstra-tegie kam ab 1941 der Royal Air Force die entscheidende Rolle zu. So äußerte Winston Churchill:

„Die Marine kann uns den Krieg

verlieren lassen, aber nur die

Luftwaffe kann ihn gewinnen...

Die Jäger sind unsere Rettung,

aber die Bomber allein stellen

die Mittel zum Sieg.“3

3 Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg

Schwerpunkt der britischen Angriffspläne war es, die deut-sche Rüstungsindustrie zu zer-schlagen und die Moral der Zi-vilbevölkerung zu brechen. Im Sommer 1941 entschied sich das Bomber Command für Flächen-bombardements als Mittel der bevorstehenden Großoffensive, die die Landung der Briten auf dem europäischen Festland vor-bereiten sollten. Begründet wur-den sie dadurch, dass für Präzi-sionsabwürfe nicht die nötigen Navigationsmittel vorhanden seien. Außerdem führten 1941 der Verlust von erfahrenen Be-satzungen und die bessere Luft-abwehr Deutschlands dazu, dass die Bomber in größerer Höhe flie-gen mussten. Die Entscheidung für Flächenbombardements war auch politisch geprägt.

Dass Rostock eine der ersten Städte war, die Ziel der Luftof-fensive wurden, hatte verschie-dene Ursachen. Als Standort der Heinkel- und Arado-Flugzeug-werke war die Stadt ein wichtiger Rüstungsstützpunkt. Die Luft-

Page 13: Rostock kaput

13abwehr wurde als schwach ein-geschätzt und auch die geogra-phische Lage begünstigte eine Bombardierung. So lag Rostock nicht nur in guter Flugreichwei-te, sondern bot durch die War-nowmündung auch einen guten Orientierungspunkt für die Pi-lot_innen. Ein weiterer Faktor war, dass die Brandanfälligkeit für Rostock als sehr hoch einge-schätzt wurde, was den Plänen des Bomber Command zu Gute kam.

Am 11. Juni 1940 waren zum ersten Mal Bomben auf Rostock gefallen. Im Verlauf des Jahres 1940 gab es dann noch mehrere kleine Angriffe, die u.a. auch die Kröger-Werft und die Arado-Wer-ke trafen. Nachdem Rostock ver-stärkt in den Fokus der britischen Planungsstäbe gerückt war, wur-de in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1941 ein größerer Angriff geflogen, bei dem auch erstmals Brandbomben einge-setzt wurden. Dabei wurden ne-ben Zielen in Warnemünde, wie dem Hafen und der Krögerwerft, auch Gebäude in der Innenstadt bombardiert. Die Erkenntnisse dieses Manövers sowie weiterer Erkundungsflüge wurden am 14. Dezember 1941 dem Bomber Com-

mand vorgelegt. Der Bericht hob noch einmal die rüstungspoliti-sche Bedeutung der Flugzeugwer-ke, die mangelhafte Flugabwehr und die hohe Brandanfälligkeit hervor.

Technische Neuerungen wie die Einführung eines besseren funkelektronischen Navigati-onsverfahrens ermöglichten ab 1942 auch präzisere Angriffe bei Nacht, und so wurde in einer mo-difizierten Bomberdirektive vom 14. Februar 1942 der Doppelcha-rakter der Bombardierungen als Mischung aus Flächenbombar-dements einerseits und geziel-ten Angriffen anderseits festge-schrieben. Den Auftakt der groß angelegten Luftoffensive bilde-te die Bombardierung Lübecks vom 28. zum 29. März 1942. Vom 23. bis 27. April folgte dann die Bombardierung Rostocks. In den sternenklaren Nächten mit star-kem Wind konzentrierte sich die Hauptgruppe der Flieger auf die Innenstadt, während ein kleine-rer Verband die Heinkelwerke im Tiefflug angriff. Bei den Angrif-fen, an denen ca. 460 Bomber be-teiligt waren, konnten große Tei-le der Innenstadt zerstört, sowie den Heinkelwerken erheblicher Schaden zugefügt werden. Insge-

Page 14: Rostock kaput

14samt wurden mehr als die Hälfte der Häuser beschädigt und etwa 17 % der Wohnhäuser zerstört, was dazu führte, dass vorüber-gehend 30.000 bis 40.000 Men-schen obdachlos waren. Neben der Zerstörung historischer Bau-ten wie der Petrikirche, der Jako-bikirche, der Nikolaikirche und des Stadttheaters wurden die Wasser-, Strom-, Gas- und Ener-gieversorgung sowie zahlreiche Verkaufs- und Versorgungsein-richtungen lahm gelegt. Es gab insgesamt 221 Tote.

In Folge der gelungenen Luft-schläge wurde am 28. April der Ausnahmezustand ausgerufen. Die NS-Behörden versuchten durch Propaganda und rasche Normalisierung des Alltags der Demoralisierung der Bevölke-rung entgegenzuwirken. Bis zum Ende des Krieges wurde Rostock noch einige Male bombardiert. Diese Angriffe, die später auch von der US-Air Force geflogen wurden, waren aber vom Umfang her nicht mit den Bombardierun-gen im April 1942 vergleichbar.

Der Blick zurückOpferphantasien in der Neonaziszene

Der Jahrestag der Bombardie-rung der Hansestadt im Zweiten Weltkrieg ist schon seit längerem ein fester Termin in der lokalen Neonaziszene. Am 26. April 2003 marschierten etwa 150 Neona-zis unter dem Motto: „Alliierter Bombenterror am 24. April 1942 – Unsere Mauern brachen, aber unsere Herzen nicht!“ durch die Rostocker Innenstadt. Als Orga-nisator der Demonstration trat die damalige Kameradschaft

„Aktionsgruppe Festungsstadt Rostock“ (AGR) um Lars Jacobs auf. Im Jahr darauf, am Tag der Befreiung, veranstaltete derselbe Personenzusammenhang eine Kundgebung unter dem Motto „8. Mai - Wir kapitulieren nie!“ vor der Kunsthalle am Rostocker Schwanenteich.

Page 15: Rostock kaput

15Im Laufe der Jahre zeichnete

sich eine Tendenz weg von öf-fentlichen Aufmärschen hin zu klandestinen internen Veran-staltungen und Aktionen ab. So griff die relativ junge Kamerad-schaft „Nationale Sozialisten Rostock“ (NSR) 2008 die The-matik wieder auf. Am Jahrestag der Luftangriffe am 26. April 2008 versuchte sich ein Dutzend Jungnazis an einer nächtlichen Spontandemonstration durch die Rostocker Innenstadt, scheiterte aber kläglich. In den Jahren 2010 und 2011 beschränkten sie sich infolgedessen auf kleine Kranz-niederlegungen an dem Gedenk-stein der Bombenopfer auf dem Rostocker Neuen Friedhof fernab der Öffentlichkeit.

Auch auf kommunalpolitischer Ebene versuchten Neonazis wie der Stadtabgeordnete der NPD, David Norbert Petereit, die Bom-bardierung im Sinne ihrer Ideolo-gie zu instrumentalisieren. Auf der Bürgerschaftssitzung am 7. Dezember 2011 forderten die NPD- Vertreter Petereit und Birger Lüs-sow die Stadt beispielsweise dazu auf, anlässlich des kommenden 70. Jahrestages der Bombardie-rung den Opfern „würdig“ zu ge-denken.

Derartige Umkehrungen der Täterrolle der deutschen Bevölke-rung während des Zweiten Welt-kriegs wie im Falle der Angriffe auf Rostock sind kein singulä-res Ereignis in der lokalen Neo-naziszene. Auch anlässlich der Kampfhandlungen in Stralsund veranstalteten die Neonazis über mehrere Jahre hinweg Demons-trationen. Eine jährliche Veran-staltung zum 8. Mai in Demmin schlägt ebenfalls in die Kerbe des deutschen Opferkults. Über-regionale Demonstrationen, die der Thematik entsprechen, wie die Trauermärsche bezüglich der Bombardierungen von Mag-deburg oder Dresden, besuchen Neonazis aus Mecklenburg-Vor-pommern gewöhnlich in großer Zahl.

Page 16: Rostock kaput

16Sowas kommt von sowas!Die Luftangriffe im historischen Kontext

Die Entwicklung Rostocks in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts lässt sich vereinfacht von der industriell aufstrebenden Stadt hin zur Täter_innenstadt im Dritten Reich nachzeichnen. Mit der Ansiedlung der Arado-Flugzeugwerke und der Heinkel-Werke etablierte sich die Hanse-stadt als ein wichtiges Zahnrad in der nazistischen Kriegsindus-trie. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung arbeitete Tag für Tag in den ansässigen Produkti-onsstätten, um die „Todesvögel“ und U-Boote der Wehrmacht zu fertigen. Die Lohnarbeit für den Krieg und voller Einsatz für ein mörderisches System gehörten für die Einwohner_innen zum Alltag.

Wer nicht direkt an den tod-bringenden Kampfflugzeugen herumschraubte, betätigte sich als Wärter_in für die Zwangsar-beiter_innen, als Polizist_in an der Suche nach Jüdinnen, Juden und Dissident_innen, als Stra-ßenbahnfahrer_in am Transport der Arbeiter_innen in die Pro-duktionsstätten, als Akademiker an der Ausbildung neuer Kriegs-ingenieure. Irgendwer muss es gewesen sein, der die Pokale der Sportvereine eingeschmolzen hat, um Edelmetalle für den Füh-rer zu spenden. Irgendwer muss die Schiffe im Hafen, mit ihren Rohstoffen zum U-Bootbau, ent-laden haben. Irgendwer hat die Soldat_innen gesund gepflegt, die wieder an die Front gefahren sind, um andere Länder zu über-fallen. Irgendwer hat ihnen das Bier gebraut, die anspornenden Briefe geschrieben und die jüdi-schen Mitbürger_innen denun-ziert. Irgendwer hat die Kommu-nist_innen verraten, die trotz Verbot ausländische Radiosender hörten.

Page 17: Rostock kaput

17

Tatsächlich bildeten die Ros-tocker_innen keine Ausnahme, wenn es darum ging, die Ideo-logie des Dritten Reiches zu ver-innerlichen und mitzutragen. Erinnert sei hier an das Wahler-gebnis der NSDAP, das bereits vor der Machtübernahme Hitlers na-hezu eine absolute Mehrheit ver-sprach. Ob es im Weiteren um die Plünderung jüdischer Privatwoh-nungen und Geschäftsräume oder die enthusiastische Beteili-gung an dem Novemberpogrom von 1938 ging – die Rostocker Be-völkerung stimmte zu und half bei „Arisierung“ der Stadt aus eigenem Antrieb. Aber nicht nur vor Ort tat man, was man konn-te, um die „Volksgemeinschaft“ herzustellen. So sollten kriegs-verlängernde Spendenaktionen für die Soldat_innen an der Front dazu beitragen, den totalen Krieg um Lebensraum und Vorherr-schaft in Europa zu gewinnen.

Deutschland führte zum Zeit-punkt der Bombardierung Ros-

tocks einen knapp drei Jahre an-dauernden Vernichtungskrieg bis dahin unbekannten Ausma-ßes. Raub, Unterdrückung und der industrielle Massenmord von Millionen Menschen kenn-zeichneten diese Zeit. Im Jahre 1942 hatte Deutschland bereits eine Vielzahl europäischer Staa-ten, wie Polen, Frankreich und Norwegen, okkupiert und führ-te sogar Feldzüge in Nordafrika. Ein Ende des fanatischen Mor-dens war jedoch nicht absehbar. So starteten die Nationalsozia-list_innen im Jahre 1941 erst den Balkanraubzug und überfielen schließlich im Juni desselben Jahres die Sowjetunion. In alle Himmelsrichtungen brachte die Wehrmacht Verwüstung, Elend und Tod. Die „rassische“ Säube-rung, die in Deutschland und den besetzten Gebieten begann, kulminierte schließlich im Bau unzähliger Konzentrations- und Vernichtungslager, die bis zum Ende des Krieges Millionen Men-schen das Leben kosteten.

Page 18: Rostock kaput

18

Klar war, dass die Todesma-schinerie Deutschland schnellst-möglich gestoppt werden musste. Diplomatische Verhandlungen waren kategorisch auszuschlie-ßen, womit allein eine militäri-sche Zerschlagung des Reiches in Frage kam. Dazu war es zum einen nötig, die Rüstungsindus-trie zu zerstören, aber aufgrund der frenetischen Überzeugung eines Großteils der deutschen Bevölkerung für den Nationalso-zialismus mit all seinen Facet-ten musste des Weiteren auch die Moral der Menschen gebro-chen werden, was nur dadurch möglich war, ihnen die Folgen ihres Krieges an Ort und Stelle vor Augen zu führen. Nicht zu-letzt führte ein Erschüttern des gesellschaftlichen Alltags un-weigerlich auch zur Einschrän-kung des geregelten Rüstungsbe-triebes. Somit bot Rostock durch die immense Kriegsproduktion und die nationalsozialistische

Überzeugung der Bevölkerung ein geeignetes Zwischenziel auf dem Weg zur Befreiung Europas vom Naziterror. Auch wenn das militärische Mittel der Flächen-bombardements entsetzlich sein mag, waren sie in diesem Fal-le und beim Angriff auf weitere deutsche Städte nötig und ange-messen. Das Schicksal Rostocks kann nicht losgelöst vom Krieg betrachtet werden, denn es war wie all die anderen deutschen Großstädte ein Motor des Krieges.

Page 19: Rostock kaput

19Auf dem Neuen Friedhof in

Rostock offenbart sich jedoch ein äußerst merkwürdiges Bild des Gedenkens an die Opfer des Na-tionalsozialismus. So erscheint die Gedenktafel für die Opfer des KZ-Außenlagers Barth gerade-zu spärlich im Gegensatz zum Mahnmal aus massiven Granit-platten anlässlich der Bombar-dierung vom April 1942. Auch wenn die Hansestadt Rostock auf offizielle Trauerveranstaltungen bisher verzichtet hat, ist in der bundesdeutschen Gedenkpolitik häufig eine augenscheinliche Verzerrung der Geschichte wahr-zunehmen. So werden die Bom-bardierungen deutscher Städte oftmals aus ihrem historischen Kontext gelöst und als alleinste-hende Ereignisse mit einer Viel-

zahl an Todesofern dargestellt. Schließlich seien auch die Deut-schen Opfer des Krieges gewor-den. So berichtete beispielsweise Der Spiegel im Jahre 2003 über die „Kinder- und Frauenverbren-nung [sic!] von Hamburg und Dresden“4 durch die Alliierten. So weckt bereits der Titel „Rostock im Feuersturm“ eines Buches an-lässlich des 70. Jahrestages des Bombardierung Assoziationen zu den Propagandamythen der Nazis vom „Bombenholocaust“. Solche geschichtsrevisionisti-schen Darstellungen relativieren jedoch die deutsche Kriegsschuld oder führen gar zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Die Bombardie-rungen sind vielmehr die direkte Folge der nationalsozialistischen Allmachtsphantasien, die Milli-onen von Menschen auf bestia-lischste Weise das Leben gekostet haben, und noch unzähligen wei-teren Menschen dasselbe Schick-sal bereitet hätten.

Die entsprechende Losung kann also nur lauten: Sowas kommt von sowas!

4 „So muss die Hölle aussehen“, Ausgabe 3/2003

Page 20: Rostock kaput