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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE VORTRÄGE VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT Copyright Rudolf Steiner Nachiass-Verwaitung Buch: 174b Seite: 1

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABEVORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN

DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Copyright Rudolf Steiner Nachiass-Verwaitung Buch: 174b Seite: 1

RUDOLF STEINER

KOSMISCHE UND MENSCHLICHE GESCHICHTE

Band I Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe dermenschlichen Geschichte

15 Vorträge, Dornach, vom 29. Juli bis 3. September 1916Bibliographie-Nr. 170

Band II Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe unddie Krisis des neunzehnten Jahrhunderts

16 Vorträge, Dornach, vom 16. September bis 30. Oktober 1916Bibliographie-Nr. 171

Band III Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung anGoethes Leben

10 Vorträge, Dornach, vom 4. bis 27. November 1916Bibliographie-Nr. 172

Band IV Zeitgeschichtliche Betrachtungen - Erster Teil

13 Vorträge, Dornach, vom 4. bis 31. Dezember, und in Basel am 21.Dezember 1916

Bibliographie-Nr. 173

Band V Zeitgeschichtliche Betrachtungen - Zweiter Teil

12 Vorträge, Dornach, vom 1. bis 30. Januar 1917Bibliographie-Nr. 174

Band VI Mitteleuropa zwischen Ost und West

12 Vorträge, München, zwischen dem 13. September 1914 und 4. Mai1918

Bibliographie-Nr. 174a

Band VII Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges

16 Vorträge, Stuttgart, zwischen dem 30. September 1914 und 21. März1921.

Bibliographie-Nr. 174b

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RUDOLF STEINER

Die geistigen Hintergründedes Ersten Weltkrieges

Kosmische und menschliche GeschichteSiebenter Band

Sechzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart

zwischen dem 30. September 1914 und dem 26. April 1918

und am 21. März 1921

1994

RUDOLF STEINER VERLAGDORNACH / SCHWEIZ

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Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriftenherausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung

Die Herausgabe besorgtenHelmut von Wartburg und Robert Friedenthal

1. Auflage in dieser ZusammenstellungGesamtausgabe Dornach 1974

2. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1994

Einzelausgaben und Abdrucke in Zeitschriften siehe Seite 383

Bibliographie-Nr. 174b

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz© 1974 by Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz

Printed in Germany by Konkordia Druck, Bühl

ISBN 3-7274-1742-0

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Zu den Veröffentlichungenaus dem Vortragsiverk von Rudolf Steiner

Die Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners (1861-1925) gliedertsich in die drei großen Abteilungen: Schriften - Vorträge - Künst-lerisches Werk (siehe die Übersicht am Schluß des Bandes).

Von den in den Jahren 1900 bis 1924 sowohl öffentlich wie fürMitglieder der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesell-schaft zahlreichen frei gehaltenen Vorträgen und Kursen hatteRudolf Steiner ursprünglich nicht gewollt, daß sie schriftlich festge-halten würden, da sie von ihm als «mündliche, nicht zum Druckbestimmte Mitteilungen» gedacht waren. Nachdem aber zunehmendunvollständige und fehlerhafte Hörernachschriften angefertigt undverbreitet wurden, sah er sich veranlaßt, das Nachschreiben zuregeln. Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihroblag die Bestimmung der Stenographierenden, die Verwaltung derNachschriften und die für die Herausgabe notwendige Durchsichtder Texte. Da Rudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigenFällen die Nachschriften selbst korrigieren konnte, muß gegenüberallen Vortragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigtwerden: «Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daßin den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftesfindet.»

Über das Verhältnis der Mitgliedervorträge, welche zunächst nurals interne Manuskriptdrucke zugänglich waren, zu seinen öffent-lichen Schriften äußerte sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiogra-phie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlautist am Schluß dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte giltgleichermaßen auch für die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welchesich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissen-schaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten.

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemäßihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt-ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteildieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nähere An-gaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise.

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INHALT

ERSTER VORTRAG, Stuttgart, 30. September 1914 13Die Gegenwart als Zeit der Prüfung. Die Verbindung von Deutschland undÖsterreich und die unnatürliche Verbindung von Frankreich und England mitRußland. Verständnis für die heutigen Völkerschicksale durch den Volkssee-lenzyklus. Das Ringen der Seelenkräfte in den Mysteriendramen als Bild fürdas Ringen der Völker. Sinnlosigkeit der Kriegsschuldfrage. Herman Grimmüber die Deutschen. Die Seele des ermordeten Erzherzogs. Umwandlung derAngstkräfte in Mut und Begeisterung. Hilfe durch die Gefallenen für dieKämpfenden. Entwicklung der Liebefähigkeit durch Geisteswissenschaft. DerKrieg als Lehrmeister der Spiritualität. Zitat eines ins Feld Ziehenden. Hilfedurch den Spruch «Geister eurer Seelen ... ». Friedenswille der Deutschen.Ausspruch von Jagows. Zu Objektivität gegenüber dem Volksgeist verhilftuns der Spruch «Du, meines Erdenraumes Geist!». Hoffnung für die Zukunft.

ZWEITER VORTRAG, 13. Februar 1915 30Wahrheiten über die Auseinandersetzungen der Völker nicht allgemein gültig,dem Menschenverstand nicht faßbar. Die verschiedene Mission der Farbigenund der Weißen. Zukünftige große Kämpfe zwischen weißer und farbigerRasse. Die Eigenheit der germanischen Völker. Baidur und Christus. Dieslawische Kultur als Vorläufer der sechsten Kulturepoche. Der BriefwechselRenan / Strauß. In Mitteleuropa die Möglichkeit, über das Nationale hinaus-zukommen. In England Theosophie neben dem äußeren Geistesleben, inDeutschland Anthroposophie im Zusammenhang mit dem übrigen Geistesle-ben. Worte von 1870 über die Tendenz Rußlands zum Vordringen nach We-sten. Bedeutung der heutigen Gedanken und Empfindungen für die Zukunft.

DRITTERVORTRAG, 14. Februar 1915 55Die Verbindung des Menschen mit dem eigenen Volksgeist während des Wa-chens, mit allen anderen Volksgeistern im Schlafe. Die Überwindung nationa-ler Einseitigkeiten durch Geisteswissenschaft. Das Bündnis zwischen Frank-reich und Rußland als äußere Maja, und der Gegensatz zwischen westlichenund östlichen Seelen im Geiste. Die Bedeutung dieses Gegensatzes für dieArbeit des Michael für die Vorbereitung der Erscheinung des Christus inÄthergestalt. Die Aufgabe Mitteleuropas. Das Wirken des Christus in denunbewußten Seelenkräften. Konstantin, die Jungfrau von Orleans, Olaf Äste-son und die 13 heiligen Nächte. Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis; einBeispiel dafür bei Ernst Mach. Der Unterschied von Bauch- und Kopfhellse-hen. Erlebnisse der Seelen nach dem Tode. Theo Faiß und die Wirksamkeitseines Ätherleibes im Goetheanumbau. Die Förderung der Menschheitszieledurch die Ätherleiber der im Kriege Gefallenen.

VIERTER VORTRAG, 22. November 1915 79Bedeutung der vielen Kriegstode. Sophie Stinde. Die Erinnerungsbilder derVerstorbenen in unserem Astralleib und Ich, und das Aufleuchten dieserBilder während des Schlafens. Das Leben in der geistigen Welt nach dem

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Tode. Das Hereinwirken der Hierarchien m das Dasein der Verstorbenen. DieBedeutung unseres Totengedenkens für die Verstorbenen, vergleichbar unse-rem Erleben hoher Kunstwerke.

FÜNFTER VORTRAG, 23. November 1915 94Seelenerlebnisse nach dem Tode. Die Wahrnehmung des Verlassenwerdensvon allem Irdischen. Das Lebenspanorama. Das Hinblicken auf das Todeser-lebnis während der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt. Der Eintritt in dasKamaloka. Das Erleben der eigenen Taten in ihrer Wirkung auf andere, unddie Bildung des Karmas. Das Wesen des Traumlebens. Die Beziehung unseresSchlafbewußtseins zum Leben im Kamaloka. Die Wirkung der Ätherleiberder zu früh Gestorbenen.

SECHSTER VORTRAG, 24. November 1915 113Ein Bild für das Wirken der kosmischen Kräfte im Leben der Pflanze. DieBewahrung der Sonnenkraft im Samen während des Winters. Die Erlangungder rechten Stimmung für die geisteswissenschaftliche Forschung. Die Rätsel-haftigkeit des Todes. Das Wirken Frühverstorbener in der geistigen Weltvergleichbar dem Wirken der Idealisten in der physischen Welt. Notwendig-keit der Demut gegenüber der Größe der Welträtsel. Eine Entdeckung desMoritz Benedikt über die physiologische Veranlagung zum Verbrechertum.Die Möglichkeit der Verwandlung solcher Anlagen durch die geisteswissen-schaftliche Arbeit. Die Bedeutung dieser Möglichkeit für die Entwicklungzum Jupiter-Dasein.

SIEBENTER VORTRAG, 12. März 1916 138Die Verleumdung der Anthroposophie durch Annie Besant. Wesenszüge desrussischen Volkes. Verwendung dieser Eigenschaften zu machtpolitischenZwecken. Notwendigkeit der Aufnahme mitteleuropäischer Impulse durchdas russische Volk. Der Gegensatz zwischen dem deutschen und dem englischenWesen. Das Hervorgehen des mitteleuropäischen Okkultismus aus demGeistesstreben des deutschen Volkstums. Die Ziele der angelsächsischenOkkultisten. Die verborgenen Hintergründe der Entwicklung von H. P.Blavatsky. Umtriebe des französischen Okkultismus im Zusammenhang mitdem Ausbruch des Weltkriegs.

ACHTER VORTRAG, 15. März 1916 160Der Zusammenhang des Gedankenlebens mit dem Ätherleib. Unsere Gedankenals Arbeitsmaterial für die Wesenheiten der dritten Hierarchie. Das Verwan-deln dieser Gedanken in Äthergewebe nach dem Tode. Das Innere wird Äu-ßeres, das Äußere wird Inneres. Das Arbeiten der höheren Hierarchien imVorbereiten unserer kommenden Inkarnation. Ein Bild von Meister Bertramals Beweis für das geistige Wissen früherer Zeiten. Die Schädlichkeit unklarerpazifistischer Bestrebungen. Das Verkennen von Karl Christian Planck alsZeichen für den Ungeist unserer Zeit. Der Materialismus Ernst Haeckels unddie geistige Weltauffassung seines Lehrers Ernst von Baer. Treibereien derFreimaurerorden und des Panslawismus. Die Bedeutung geistgemäßer Ge-danken für die Menschheitsentwicklung. Ein für die materialistische Gesinnungcharakteristischer Ausspruch von Lamettrie.

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NEUNTER VORTRAG, 11. Mai 1917 183

Anthroposophie als Bedürfnis der gegenwärtigen Menschheit. Die Erziehungzu selbständiger Urteilskraft durch Geisteswissenschaft. Das Mißverstehendieser Tatsache. Nicht wirklichkeitsgemäßes Denken als Charakteristikumunserer Gegenwart. Eine Argumentation des Mathematikers Leo Königsbergerals Beispiel. Der Mangel an sachlicher Auseinandersetzung mit der Anthro-posophie, und das Hinüberspielen dieser Auseinandersetzung ins Persönliche.Einige Beispiele für die Bekämpfung und die Ausnützung der Anthroposophieaus persönlichen Motiven: Erich Bamler, Max Seiling, Max Heindl. Zweinotwendig gewordene Maßnahmen.

ZEHNTER VORTRAG, 13. Mai 1917 210

Der Materialismus als notwendige Phase der Menschheitsentwicklung. DieSchwierigkeit, in unserer Zeit zu geistigen Erkenntnissen zu kommen. Beispieledafür in Aussprüchen von Ernest Renan, Richard Wähle und Maurice Barres.Das Gesetz vom Jüngerwerden der Menschheit. Das Stehenbleiben heutigerMenschen auf dem Standpunkt des Siebenundzwanzigj ährigen. W. Wilson alsBeispiel dafür. Die Notwendigkeit der Überwindung dieses Standpunktesdurch spirituelle Impulse. Die Verbundenheit mit den Wesen höherer Hier-archien als natürliche Fähigkeit früherer Epochen. Ein Wortlaut dazu beiPlato. Ein Buch von Kjellen als Beispiel für wirklichkeitsfremdes Denken. Einanthroposophischer Zukunftsimpuls: Die Zeitschrift «Das Reich» von A. vonBernus. Seine Verkennung durch einzelne Mitglieder. Die beiden Maßnahmen.

ELFTERVoRTRAG,15.Mail917 233Zahlenmäßige Übereinstimmung in den Rhythmen des Makrokosmos, desmenschlichen Lebens und des Atems. Wahrnehmung des Weltgeistes als tö-nende Lichtgestalt in der indischen, als Licht und Dunkelheit in der persischen,als inneres Seelenerlebnis in der ägyptischen Kulturepoche. In der griechischenEpoche: Empfindung für das Zusammengehören von Leib und Seele. EinAusspruch des Aristoteles über das Leben der Seele nach dem Tode, vermitteltdurch Franz Brentano. Das Erzwingen der Einweihung durch die römischenCäsaren und die Auswirkung dieses Geschehens in der Geschichte: Caligula,Nero und Commodus. Die Neigung unserer Zeit zu abstrakten Idealen, unddie Notwendigkeit, zu wirklichkeitsgemäßen Vorstellungen zu kommen. EinBeispiel; Die Ideen von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit als Abstrak-tionen, und ihre Konkretisierung durch Geisteswissenschaft. Die Abschaffungdes Geistes durch das Konzil von Konstantinopel und ihre Auswirkung in derheutigen materialistischen Wissenschaft. Die Feindschaft ehemaliger Schülergegen die Anthroposophie. Annie Besant, Edouard Schure.

ZWÖLFTER VORTRAG, 23. Februar 1918 259Vorstellen, Fühlen und Wollen als Wach-, Traum- und Schlafzustand. F. Th.Vischers Abhandlung über die «Traumphantasie». Der Ursprung unsererGefühls- und Willensimpulse in dem Reich der Toten. Bedingungen für denVerkehr mit den Seelen Verstorbener. Die Bedeutung der Momente des Ein-schlafens und des Aufwachens für diesen Verkehr. Unsere Träume von Toten.Die Mitwirkung der Toten im geschichtlichen Werden. Die Wirklichkeits-fremdheit der gewöhnlichen Geschichtsbetrachtung. Eine Stelle aus der An-

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trittsrede Friedrich Schülers als Beispiel. Der Unterschied unserer Beziehungzu den Seelen jung verstorbener und zu im Alter verstorbener Menschen. DieNotwendigkeit tiefgreifenden Umdenkens. Die Abkehr Gustave Herves vomKosmopolitismus als Beispiel oberflächlichen Umdenkens. Die Ansicht derOrientalen über Mitteleuropa, der Amerikaner über das ganze mitteleuro-päische Leben. Besinnung auf die Aufgabe der Geisteswissenschaft.

DREIZEHNTER VORTRAG, 24. Februar 1918 283Die Hindeutung auf die sozialen Probleme unserer Zeit in früheren Vorträ-gen. Die Spiritualität der modernen naturwissenschaftlichen Begriffe und ihrerein materialistische Anwendung. Der Sturz der ahrimanischen Geister imJahre 1879. Die Vorbereitung dieses Ereignisses seit 1841 und seine Auswir-kungen bis 1917. Die Notwendigkeit der Einbeziehung kosmischer Wirkens-kräfte in die Naturbetrachtung. Die schnellere Entwicklung des Kopfes unddie langsamere des übrigen Organismus. Die Bedeutung dieser Tatsache fürdie Pädagogik. Die sozialdemokratische Weltanschauung als Ausdruck reinmaschinellen Denkens. Die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie vonTheodor Ziehen und ihre konsequente Übertragung in das soziale Lebendurch Lenin und Trotzkij. Bücher über Jesus als Psychopathen und das Buchvon Alexander Moszkowski über Sokrates als Idiot. Früher Hinweis auf dieWirklichkeitsfremdheit der Schulweisheit von Woodrow Wilson. Bestätigungder Geisteswissenschaft durch das Leben.

VIERZEHNTER VORTRAG, 23. April 1918 310Die Bedeutung der halbbewußten und unbewußten Erlebnisse für das Traum-leben und für das Leben nach dem Tode. Das Leben in Imaginationen, In-spirationen und Intuitionen während des Daseins zwischen Tod und neuerGeburt. Der Nachahmungstrieb der Kleinkinder als Nachwirkung des vor-geburtlichen Lebens. Das Leugnen der Präexistenz durch die Kirche unddurch die heutige Philosophie. Die Verdammung des Origenes. Die Gedankenüber Geistiges als Seelen-Nahrung für das Leben nach dem Tode. Das ausge-zeichnete Buch von Oscar Hertwig zur Widerlegung der darwinschen Zufalls-theorie. Eduard von Hartmanns geistiger Kampf gegen den Darwinismus. DasUngenügende von O. Hertwigs Buch über das soziale Leben. Luziferischeund ahrimanische Impulse in unserem Geistesleben: Das Titel- und Ordens-wesen und die Begabtenprüfungen. Eine Buch-Kritik Fritz Mauthners alsBeispiel für den mangelnden Wirklichkeitssinn unserer Zeit. Die Erziehungzum selbständigen Urteilen durch die Geisteswissenschaft.

FÜNFZEHNTER VORTRAG, 26. April 1918 332Die Schwierigkeit, sinnenfällige Wirklichkeiten als Schöpfungen des Geisteszu verstehen. Ein konkretes Beispiel dafür: Das Mitmachen der leiblichenEntwicklung durch das Seelisch-Geistige bis in die Fünfziger Jahre währendder alt-indischen Epoche, und das immer frühere Aufhören dieses Mitmachensin den folgenden Epochen. Die heutige Situation: Nur bis zum Ende derZwanziger Jahre gibt die natürliche Entwicklung Impulse für das geistigeLeben. Die Notwendigkeit, durch eigene Anstrengung geistige Erkenntnisseaus der absteigenden Entwicklung des Leiblichen zu gewinnen. Die Erzie-hung zum «erwartungsvollen Leben». Das Versäumen der Pflege eines geisti-

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gen Lebens im Alter, und das Zerstäuben des Geistes als Folge davon. Bildhaf-ter Unterricht, eine Forderung unserer Zeit. Ein Beispiel dafür: das lebendigeErfassen des Unterschieds zwischen Tier und Mensch. Goethe als Führer zueinem lebendigen Anschauen der Natur. Die Bedeutung solcher Geistes-schulung für die Weiterentwicklung der Seelen nach dem Tode und für dasHereinwirken der Verstorbenen in das Erdenleben. Eine Frage des TheologenLoisy zur gegenwärtigen Weltlage.

SECHZEHNTER VORTRAG, 21. März 1921 354Behandlung der Kriegs-Schuldfrage notwendig (Meinung von AußenministerSimons). Die Entente hält diese Frage für entschieden. Eine Bemerkung dazuvon Lloyd George. Zwei Leitsätze führender Persönlichkeiten der angesäch-sischen Politik: 1. Die Zukunft muß zur Weltherrschaft der angelsächsischenRasse führen. 2. Die Unmöglichkeit des Marxismus muß in Rußland auspro-biert werden. Die Balkan-Politik Englands unter diesen Gesichtspunkten.Unpraktischer Sinn der «Praktiker». Die unmöglichen politischen und wirt-schaftlichen Verhältnisse in Österreich vor dem Weltkrieg. Die unbemerkteTendenz der Zeitprobleme zu einer Losung durch die Dreigliederungs-Idee.Die Verhältnisse in Berlin vor dem Ausbruch des Weltkriegs. Die einsameEntscheidung General von Moltkes unter dem Zwang dieser Verhältnisse. Die1919 geplante Veröffentlichung von Moltkes «Erinnerungen», und die Ver-hinderung derselben durch einen deutschen General. Von den Versuchen,durch die Idee der Dreigliederung einen Ausweg aus den katastrophalen Ver-hältnissen zu finden, und von der Schwierigkeit, dafür Verständnis zu finden.

Hinweise

Zu dieser Ausgabe 383

Hinweise zum Text 384

Namenregister 398

Rudof Steiner über die Vortragsnachschriften 401

Übersicht über die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 403

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 174b Seite: 10

Während der Kriegsjahre wurden von Rudolf Steinervor jedem von ihm innerhalb der AnthroposophischenGesellschaft gehaltenen Vortrag in den vom Kriege be-troffenen Ländern Worte gesprochen, die der im FeldeStehenden sowie der durch die Pforte des Todes Ge-gangenen gedachten. Sie lauteten:

Wir gedenken, meine lieben Freunde, der schützenden Geister derer,die draußen stehen auf den großen Feldern der Ereignisse der Gegen-wart:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,Eure Schwingen mögen bringenUnserer Seelen bittende LiebeEurer Hut vertrauten Erdenmenschen.Daß, mit Eurer Macht geeint,Unsere Bitte helfend strahleDen Seelen, die sie liebend sucht!

Und für diejenigen, die infolge dieser Ereignisse schon durch die Pfortedes Todes gegangen sind:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,Eure Schwingen mögen bringenUnserer Seelen bittende LiebeEurer Hut vertrauten Sphärenmenschen.Daß, mit Eurer Macht geeint,Unsere Bitte helfend strahleDen Seelen, die sie liebend sucht!

Und der Geist, den wir suchen durch unsere erstrebte Erkenntnis, derGeist, der dem Erdenleben Sinn, Bedeutung, Inhalt gibt, der Geist,der aus göttlichen Sonnenhöhen durch das Mysterium von Golgathagegangen ist, er sei mit Euch und Euren schweren Pflichten.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 174b Seite: 11

Bei anderen Gelegenheiten lauteten die "Worte folgender-maßen:

Wir wenden uns wiederum zuerst an die schützenden Geister der durchso schwere Verhältnisse draußen im Felde Stehenden:

Die Ihr wachet über Erdenseelen,Die Ihr webet an den Erdenseelen,Geister, die Ihr über Menschenseelen schützendAus der Weltenweisheit liebend wirkt:Höret unsere Bitte, schauet unsere Liebe,Die mit Euren helfenden Kräftestrahlen sichEinen möchten, Geist ergeben, Liebe sendend.

Und zu den schützenden Geistern derjenigen, die infolge dieser Ereig-nisse schon durch des Todes Pforte gegangen sind:

Die Ihr wachet über Sphärenseelen,Die Ihr webet an den Sphärenseelen,Geister, die Ihr über Seelenmenschen schützendAus der Weltenweisheit liebend wirkt:Höret unsere Bitte, schauet unsere Liebe,Die mit Euren helfenden Kräfteströmen sichEinen möchten, Geist erahnend, Liebe strahlend.

Und der Geist, dem wir uns zu nahen suchen durch unsere Geistwis-senschaft, der Geist, der zu der Erde Heil, zu der Menschheit Freiheitund Fortschritt durch das Mysterium von Golgatha gehen wollte, ersei mit Euch und Euren schweren Pflichten.

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 174b Seite: 12

ERSTER VORTRAG

Stuttgart, 30. September 1914*

Was wir im Grunde genommen ja schon lange voraussehen konnten,schnell ist es durch allerlei Ereignisse, die sich in der letzten Zeit ab-gespielt haben, über die Welt hereingebrochen. Zeugen ernster Ereig-nisse sind wir dadurch geworden, deren tiefe Bedeutung in vollemUmfange erst eine spätere Zeit wird wirklich ermessen können. Undvieles, ich möchte sagen, auch nur von Äußerlichkeiten desjenigen, wasdiesen ernsten Ereignissen zugrunde liegt, entzieht sich heute durchausder Betrachtung. Für uns aber, meine lieben Freunde, sei vor allenDingen ein Wort bedeutsam in dieser ernsten Zeit, das ich etwa in fol-gender Weise aussprechen will: Wir haben durch Jahre hindurch ver-sucht, in uns die geistige Erkenntnis zu vertiefen, wir haben versucht,das Wissen, Fühlen und Empfinden von den geistigen Welten zu unsererSache zu machen, und auch alles dasjenige, was mit diesem Wissen, Füh-len und Empfinden zusammenhängt. Jetzt aber stehen wir tatsächlichdavor, in einem gewissen Sinne eine Prüfung ablegen zu müssen, ob wirimstande sind, auch unter dem Eindruck all des Schweren, das jetzt ge-schieht, festzuhalten an den großen Idealen, die uns vorgezeichnet sinddurch das Wissen und Fühlen der geistigen Welt. Da, wo in unserenZweigen Freunde zusammensitzen, die zum größten Teil ein gemein-sames Fühlen vereint, da ist es ja gewiß leichter, festzuhalten an dem,was Geisteswissenschaft der Menschheit bringen soll, aber wir müssenimmer und überall die großen Ideale, die schon in unserem erstenGrundsatz ausgesprochen sind, nicht aus dem Auge lassen. Wir sind janicht eine Gesellschaft, die ihre Ausbreitung innerhalb homogener Völ-kermassen hat, wir suchen vielmehr den versöhnenden Geist über dieganze Erde hin zu verbreiten. Damit hängt es zusammen, daß wireiner gewissen Prüfung unterzogen werden, denn wahrhaftig schwxe-

Anmerkung der Herausgeber: Die Nachschrift dieses Vortrags kann nicht alsdurchwegs zuverlässig betrachtet werden. Manches deutet auf eine lückenhafte,wenn nicht sogar fehlerhafte Überlieferung der gesprochenen Worte. Der Leser seiauf die Hinweise am Schluß des Bandes verwiesen.

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rig ist es in der Zeit, in der wir jetzt leben, den Sinn für Objektivitätgegenüber dem Höchsten, nämlich gegenüber der Gerechtigkeit, vollzu entwickeln.

Gerade aus den Gründen, die aus meinen heutigen Worten hervor-gehen werden, haben es in gewissem Sinne Mitteleuropas Bewohner,hat es vor allem das deutsche Volk gegenwärtig leichter als andere,objektiv gerecht zu sein. Aber auch da ist es notwendig, uns nicht bloßden unmittelbaren Empfindungen zu überlassen, sondern als ernste An-throposophen müssen wir versuchen, mit Verständnis in die Spracheeinzudringen, die heute die Gerechtigkeit im geistigen Sinne führenmuß.

Nicht weil ich es als etwas Persönliches vorbringen will, sondernweil die Sache für mich symptomatisch ist, will ich folgendes erwäh-nen: Der erste Band meines Buches «Die Rätsel der Philosophie» istvielleicht in den Händen mancher von Euch. Der zweite Band war inder zweiten Hälfte des Juli bis Seite 204 gedruckt. Mitten in den Zei-len schloß er ab. Die Stelle war gerade für mich das Merkwürdige,Symptomatische. Ich hatte die beiden französischen Philosophen Bou-troux und Bergson zu charakterisieren gehabt. Ich versuchte das soobjektiv als möglich zu tun. Dann hatte ich den Übergang zu machenzu Preußj einem unbeachteten, gewaltigen Denker. Ich hatte, nachdemich die französische Philosophie der Gegenwart dargestellt hatte, über-zugehen zu dem, was diesseits des Rheins, was in Deutschland an Ge-danken ersprossen ist. Da aber war der Bogen leer, denn da hineinbrach der Krieg aus. Oft mußte ich mir die leeren Felder des dreizehn-ten Bogens anschauen.

Und damals kamen verschiedene Stimmen von jenseits des Rheins.

Sie sind Ihnen ja hinlänglich bekannt, jene Stimmen. Da sprach man

von deutscher Barbarei und dergleichen und warf die gehässigsten Be-

schuldigungen und Verleumdungen gegen uns auf. Man möchte sagen,

es war betrübend, was man da zu erleben bekam. Gerade geachtete

Vertreter des französischen Geisteslebens wühlten Haß und Leiden-

schaft im Volke auf. Und in diesem Falle darf wohl das Persönliche

als symptomatisch angesehen werden: Wenn man in einem Buche über

die Entwickelungsgeschichte der Philosophie die französische Philo-

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sophie zu behandeln hatte, wenn die Seele sich bemühte, ihr voll ge-recht zu werden, da könnte es wahrlich die Seele mit Erbitterung er-füllen, wenn sie erleben muß, während sie mit aller Kraft versucht, mitder größtmöglichen Objektivität sich hineinzuleben in die Philosophiedes Westens, daß diese dann ungeachtet aller Tatsachen über die «barba-rische Art jenseits des Rheins» schreit. Es war um so bitterer, als einerder schlimmsten Angreifer und Hasser des deutschen Wesens MauriceMaeterlinck war.

Es ist sonderbar: das erste Werk, das von Maeterlinck erschien unddas schon ganz sein Wesen und seine Eigenart zum Ausdruck bringt,fußt ganz auf Novalis, ist ganz geschöpft aus Novalis, und MauriceMaeterlinck wäre nichts ohne Novalis. Alle seine späteren Werke ent-sprangen ganz aus diesem ersten, aus Novalis geschöpften Fundament.Das wirft auch ein Licht darauf, wie unsere Zeit es versteht, die Ge-rechtigkeit zu handhaben. Es ist heute durchaus nicht genügend, dieStimmen zu hören, die da und dort unter dem Eindruck der Leiden-schaft gesprochen werden, sondern nötig ist, daß wir uns die Tatsachenvergegenwärtigen. Laßt man diese sprechen, so führt es zur Objektivi-tät. Und solche Objektivität ist nicht einerlei mit einem Gleichgültig-sein gegenüber diesen Beziehungen.

Großes geht in unserer Zeit vor, Ungeheures. Und eine künftigeZeit wird nötig haben, für das, was in unserer Zeit vorgeht, im Sinnedessen, wie wir von Wiederholungen sprechen, bedeutsame Ereignissevergangener Zeiten heranzuziehen. Nicht nur eines, vieles drängt sichzusammen, um eine Wiederholung zu bilden, eine zusammengefügteWiederholung von bedeutenden geschichtlichen Ereignissen.

Wie einstmals, in der vollen Blüte der griechisch-lateinischen Kul-tur, die Römer die Punischen Kriege gegen Karthago auskämpfenmußten, wie damals die denkwürdige Schlacht bei Mylä entschiedüber das Geschick der Römer, die ihre aufblühende griechisch-rö-mische Kultur zu erhalten hatten gegenüber einem Überfluten unter-gehender Kräfte von Seiten des zwar äußerlich noch starken Reichesder Karthager, so finden wir am Ausgangspunkte des gegenwärtigenKrieges etwas wie eine Wiederholung gewisser Ereignisse. Es darf dasan diesem Orte hier schon heute ausgesprochen werden. Es fand da-

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mals zwischen den Römern und den Karthagern eine merkwürdigeSchlacht statt. Die Karthager hatten eine gewaltige Flotte, der gegen-über Rom mit seinen wenigen Schiffen machtlos schien. Da kamen dieRömer auf die ungewöhnliche Idee, Enterbrücken herzustellen, die vonSchiff zu Schiff führten und gewissermaßen die Seeschlacht in eineLandschlacht umwandelten, so daß die Römer auf dem ihnen vertrau-ten Boden einen großen Sieg errangen. Wie nun damals etwas Uner-hörtes für jene Zeit geschah, so hat sich etwas, was die wenigsten Men-schen denken können, in Lüttich abgespielt, was eine gewisse Bezie-hung zeigt zu den geschilderten Ereignissen und von dem künftige Zei-ten als einem allerersten Ereignis sprechen werden. Ich erwähne dieseDinge nur, weil ich aufmerksam machen möchte auf das Bedeutsameder Geschehnisse, innerhalb derer wir in der Gegenwart stehen.

Sind es doch gerade diese Tage, in denen wichtige Entscheidungenim Osten und im Westen auf des Messers Schneide stehen. Es möchteeinem das Herz zerreißen, wenn man bedenkt, was sich gegenüber-steht, und es darf gerade in diesen Tagen, wo die Entscheidung sozusa-gen wie etwas Ungewisses vor dem Blick des Menschen steht, auf etwasanderes aufmerksam gemacht werden, was von ungeheurer Wichtig-keit ist, gedacht zu werden.

Ich darf über diese Dinge so sprechen, wie ich sprechen werde, weilich gewissermaßen durch mein Karma dazu vorbereitet bin. Geborenbin ich ja in demjenigen Reiche, von dem man sagt, daß es so viel bei-getragen habe zu dem Völkerkriege; aber herangewachsen, sehe ich,daß ich schon in der Kindheit zur Heimatlosigkeit bestimmt war. Ichhatte keine Gelegenheit, die eigentümlichen Gefühle des Zusammen-hangs mit den Land- und Volksgenossen selbst zu erleben. Außer-dem fiel meine Kindheit in die Zeit, wo ich in Österreich selbst denDeutschenhaß kennenlernte, wo Deutsch-Österreich noch stand unterdem Eindruck der Siege Preußens, wo auch die Deutschen in Öster-reich die Reichsdeutschen haßten. Eine Voreingenommenheit fürDeutschland in mir zu erzeugen, war keine Gelegenheit. Diese Heimat-losigkeit, die mir durch mein Karma gegeben worden ist, berechtigtmich, objektiv zu sprechen, voll Bewußtsein, daß gerade da die anthro-posophische Gesinnung durch meine Worte sprechen kann.

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Es geziemt sich heute nicht, prophetische Worte zu sprechen. Des-halb mag derjenige unerwidert bleiben, der da sagt: Wo der Sieg zu-letzt bleiben mag, sei zweifelhaft. Aber ein Sieg, ein wichtiger Sieg,der zusammenhängt auch mit einer geistigen Betrachtung, der unaus-löschlich ist für alle kommenden Zeiten, der ist schon errungen wor-den. Welches ist dieser Sieg? Er wurde erfochten vor Ausbruch desKrieges. Dieser Sieg läßt sich in folgender Weise charakterisieren:War nicht Europas Mitte lange Zeit verbunden mit dem Osten? Wirreden wahrlich nicht von dem Volke, das in Europas Osten wohnt.Über dieses Volk sind wir gut unterrichtet, und wer da Wahres überdas Verhältnis dieses Volkes zu der Völkerentwickelung erfahrenwill, der lese den Vortragszyklus «Die Mission einzelner Volksseelenim Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie».Etwas anderes ist dieses Volk im Osten und etwas anderes das Tri-folium, das gegenwärtig dort an der Spitze gegen deutsches Geistes-tum steht: der Zarismus, der russische Militarismus, der eine Schlappeerhalten hat, und der verlogene Panslawismus. Es gab Fäden, die vonEuropas Herzen nach diesem Trifolium gingen, wenn auch nicht biszu seinem letzten Blatt.

Am 31. Juli dieses Jahres wurde durch die Kriegserklärung dieserFaden zwischen Deutschlands und Österreichs Leitung und dem Zaris-mus zerrissen, hinweggefegt. Das war ein großer Sieg. . . [Das Fol-gende ist unklar. Der Sinn scheint etwa der zu sein, daß das Geschehen,welches sich damals zwischen der europäischen Mitte, den Westmäch-ten und Rußland abspielte, zur weltgeschichtlichen Besinnung auf-rufe. Vgl. auch die Fußnote auf Seite 13.]

Darin liegen bedeutsame Züge der Weltgeschichte. Man brauchtsich nicht die Augen zu verschließen für die Unnatur des Bundes zwi-schen Europas Westen und Nordwesten und dem Osten, wenn manauf anthroposophischem Boden der Gerechtigkeit steht. Versuchen wirnur, das weiter zu üben in dieser schweren Zeit, was wir durch die Gei-steswissenschaft selbst und durch manches von dem auch, was uns auf-gedrungen ist, gelernt haben.

Als wir im Streite mit Frau Besant waren, war es sogar ein indi-scher Gelehrter, der über die Art, wie Frau Besant nach Toleranz

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schrie, sagte, Mrs. Besant mache es so, wie wenn man einem Menschen,dem die Hand abgehauen wird und der sich dagegen wehrt, zurufe:Sei tolerant, sonst beginnst du den Streit! - Es zeugt von wenig Den-ken, wenn man nicht einsieht, daß es eine Absurdität ist, zu ver-langen, daß der andere sich die Hand abhauen lassen solle, ohne sichzu wehren.

Ich habe es die letzten Wochen oft hören müssen, daß gesagt wurde:Wenn Österreich den Krieg mit Serbien nicht begonnen hätte, so wäredas «tolerant» gewesen. - Genau derselbe Fall! Man ruft dem zu, demdie Hand abgehauen werden soll: Sei tolerant! - Wir haben mancher-lei Möglichkeiten, durch das, was sich so schmerzhaft um uns herumabspielt, Objektivität zu gewinnen; aber dazu müssen wir richtig den-ken können. Denken lernen ist auch eine Aufgabe der Theosophie.Es gibt jenen Zyklus über die Volksseelen. Aber wenn wir jetzt inernster Zeit ihn nicht in heiligstem Ernst verstehen könnten, dannwäre alle unsere damalige Beschäftigung mit diesem Zyklus ein theo-retisches Spiel. Erst dann sind uns diese Dinge in Fleisch und Blut über-gegangen, wenn wir sie durchzufühlen wissen, wo es sich darum han-delt, sich Klarheit zu verschaffen, wie es jetzt nötig ist. Im vorletztenVortrage des Zyklus versuchte ich darzustellen, daß sich die verschie-denen Volksseelen so zueinander verhalten, wie ich es im letzten Bildeder «Pforte der Einweihung» zu schildern versuchte in bezug auf dasZusammenspiel der drei Seelenkräfte. Der Inhalt der Rede, die Worte,die jede der drei Persönlichkeiten dort spricht, müssen genau so ge-sprochen sein, wie sie sind, da jede der Persönlichkeiten eines der dreiSeelenglieder des Menschen darstellt.

Im vorletzten Vortrage des Volksseelenzyklus werden Sie hinge-wiesen darauf, wie sich, wenn wir die Völker Italiens, Spaniens neh-men, für unsere Zeit Nachklänge des dritten nachatlantischen Zeit-alters zeigen: der Volkscharakter ist ausgeprägt als Empfindungsseele.Bei Frankreich ist es die Verstandesseele, bei England die Bewußtseins-seele, und in Europas Mitte ist es das Ich.

Wissen wir nicht, daß es Kämpfe in der eigenen Seele geben kann,daß die einzelnen Glieder im Kampfe gegeneinander stehen können?Aufmerksam darauf ist gemacht im zweiten Drama, der «Prüfung der

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Seele». "Wir können ein Bild davon gewinnen, was sich in unserer Zeitabspielt, wenn wir alles das, was dort zum Ausdruck kommt, auf unswirken lassen. Und wir müssen versuchen, dieses Bild so in unsererSeele zur Klarheit zu bringen, daß wir wissen, wie wir in EuropasMitte das Ich zu suchen haben. So haben wir gleichsam mitten in denTagen des Friedens in stiller geistiger Arbeit in jenem Zyklus die Grund-lagen von etwas vor unsere Seele gestellt, was heute als schweres Schick-sal die Welt erfüllt. Im Grunde genommen wird uns vieles von dem,was jetzt vorgeht, erklärlich werden, wenn wir alles das in Betrachtziehen, was in dem oben genannten Zyklus ausgesprochen ist. Dannerst werden wir die nötige Objektivität erlangen.

Es ist in allen Kriegen vorgekommen, daß der eine dem anderendie Schuld gibt. Für uns, meine lieben Freunde, geziemt es sich nicht,so zu denken; für uns geziemt sich ein anderes. Durch einen Vergleichwill ich es klarmachen.

Man nehme an, jemand sei alt geworden, und stelle sich danebenvor ein Kind in Frische und voll Kraft. Wäre es da gescheit, wenn derGreis dem Kinde grollen würde und sagte: Du Kind in deiner jugend-lichen Kraft, du bist schuld, daß ich die Gebrechen des Alters trage! -Nicht gescheiter ist es, wenn jetzt zum Beispiel den Deutschen vor-geworfen wird, sie seien schuld an dem Kriege. Wir müssen uns klar-machen: Das, was geschieht, ist im Karma der Völker begründet. Auchim Leben der Völker gibt es Jugend und Alter; und wie im mensch-lichen Leben die frische Kraft des Kindes nicht schuld daran ist, daßdas Alter jene Frische nicht mehr hat, so ist es auch töricht, im Lebender Völker solchen Vorwurf zu erheben.

Aber alles das, was geredet wird, darf uns nicht blind machen; wirmüssen hinblicken auf das Tatsächliche, auf das Objektive. Die tie-feren Grundlagen der gegenwärtigen Ereignisse entziehen sich heutenoch der Besprechung - abgesehen davon, daß eine solche heute beimanchem böses Blut machen würde -, aber in einer anderen Weise kannich auf das aufmerksam machen, worauf es ankommt.

Wir wissen als Anthroposophen: Im deutschen Geiste ruht Euro-pas Ich. - Das ist eine objektive okkulte Tatsache. Ich möchte einenMann anrufen, der nicht Theosoph war - er lebte im deutschen Geiste —,

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um zu charakterisieren, wozu die Gesinnung des Ich es gebracht hatte.Ich weiß, daß dies nicht die Gesinnung eines einzelnen Menschen ist.Es ist die Herman Grimmsy der noch im geistigen Sinne Goetheblut inseinen Adern hatte. Er spricht die wunderbaren Worte: «Die Solida-rität der sittlichen Überzeugungen aller Menschen ist heute die unsalle verbindende Kirche. Wir suchen leidenschaftlicher als jemals nacheinem sichtbaren Ausdrucke dieser Gemeinschaft. Alle wirklich ern-sten Bestrebungen der Massen kennen nur dies eine Ziel. Die Trennungder Nationen existiert hier bereits nicht mehr. Wir fühlen, daß derethischen Weltanschauung gegenüber kein nationaler Unterschiedwalte. Wir alle würden für unser Vaterland uns opfern; den Augen-blick aber herbeizusehnen oder herbeizuführen, wo dies durch denKrieg geschehen könne, sind wir weit entfernt. Die Versicherung, daßFriede zu halten unser aller heiligster Wunsch sei, ist keine Lüge. <Friedeauf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen durchdringt uns.»

Nehmen Sie als Antwort darauf das, was die anthroposophischeLehre uns bringt. Unsere geistige Bewegung will die Möglichkeit her-beiführen, solche Sehnsucht zu befriedigen. Und dann noch andereWorte Herman Grimms: «Die Menschen als Totalität anerkennen sichals einem wie in den Wolken thronenden unsichtbaren Gerichtshofeunterworfen, vor dem nicht bestehen zu dürfen, sie als ein Unglückerachten und dessen gerichtlichem Verfahren sie ihre inneren Zwistig-keiten anzupassen suchen. Mit ängstlichem Bestreben suchen sie hierihr Recht. Wie sind die heutigen Franzosen bemüht, den Krieg gegenDeutschland, den sie vorhaben, als eine sittliche Forderung hinzustel-len, deren Anerkennung sie von den anderen Völkern, ja von den Deut-schen selber fordern!»

Man nehme als Antwort auf dieses Bild, was die Anthroposophievon den Reichen der Hierarchien sagt. Ergreifend ist, zu sehen, wieder Menschengeist in seinen besten, höchsten Persönlichkeiten voll tief-ster Sehnsucht ist nach dem, was die Geisteswissenschaft bringen will,aber an ihr vorbeigeht, sie nicht findet, und wie dann mit ängstlichemBestreben die Menschen ihr Recht hier suchen.

Dann noch eine merkwürdige Tatsache. Herman Grimm sagt: «Wiesind die heutigen Franzosen bemüht, den Krieg gegen Deutschland,

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den sie vorhaben, als eine sittliche Forderung hinzustellen, deren An-erkennung sie von den anderen Völkern, ja von den Deutschen selberfordern!» Nur zu gut gedacht ist das. Die Anstrengung, diesen Krieg alseine sittliche Forderung hinzustellen, kann man sie heute nicht be-merken aus dem, was uns aus dem Westen entgegenkommt?

Und dann noch ein drittes Wort Herman Grimms möchte ich Ihnenvorlesen. Wieder werden Sie finden, wie es seine Erfüllung findet indem, was unsere Bewegung bringt: «Die Bewohner unseres Planeten,allesamt als Einheit gefaßt, erfüllt ein allverständliches Feingefühl,das selbst die rohesten Völker ahnen, und das zu verletzen sie Scheutragen. Die Menschen von heute erkennen jedem Einzelnen in geisti-gen Dingen das Recht individueller Selbstbestimmung zu. Selbst wildemenschliche Geschöpfe lassen sich zu diesen Gedanken hinleiten.» Da-mit aber spricht Herman Grimm nichts anderes aus als gerade denersten Grundsatz unserer Gesellschaft.

Da sehen Sie, wie unsere Anthroposophie eine Antwort ist auf denRuf, den der deutsche Geist ertönen ließ in den Stimmen der Bestenseines Geisteslebens. Das Herz Europas hegt eine tiefe Sehnsucht nachSpiritualität. Eine Beleuchtung erfährt dadurch auch die Tatsache,daß der Deutsche, wo er hinkommt, sich unter Opferung seiner bishe-rigen Lebenssitten anpaßt den Landesgewohnheiten, nicht seine geistigeKultur, wohl aber seine Nationalität hingebend.

Dies alles, meine lieben Freunde, ist auf der einen Seite geeignet,uns gerecht sein zu lassen, und dabei doch nicht die Augen zu verschlie-ßen vor dem, was wirklich beachtet werden muß.

Auch für den Okkultisten gab es Überraschungen in der letztenZeit; und ich darf sagen, während meines Kursus in Norrköping konnteoder mußte ich ein Wort sprechen, das auf solcher Überraschung be-ruht hat. Es ist wahr: Daß diese Ereignisse eintreten mußten, konnteman seit Jahren voraussehen, auch daß sie schicksalsgemäß in diesemJahre kommen mußten. Aber Anfang Juli war nicht mehr zu sagen, alsdaß wir uns zum Münchner Zyklus versammeln würden, und dann,wenn wir auseinandergehen würden - so konnte man erwarten -, dannwürden wir bedeutungsvollen Ereignissen gegenüberstehen. Da kamdas Attentat von Sarajewo. Wenn ich oft betont habe, wie anders die

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Dinge sind hier auf dem physischen Plane als auf dem geistigen Plane,wie oft das Gegenbild sich zeigt, so war es doch auch zu meiner Über-raschung, als ich vergleichen konnte die Individualität, die durch die-ses Attentat gegangen ist, vor und nach dem Tode. Etwas Eigenartigesist da geschehen: Diese Persönlichkeit ist zu einer kosmischen Kraft ge-worden. Ich erwähne dies, um darauf aufmerksam zu machen, wie dieDinge auf dem physischen Plan Symbolum für Geistiges sind, und wie,genau genommen, alle Ereignisse des physischen Planes erst erklärtwerden, wenn man hindurchsieht nach dem geistigen Plane. Einige vonIhnen wissen von meinem früheren Ausspruch. Ich sagte: Das Schreck-liche schwebte in der astralischen Welt, es konnte sich nur nicht nie-dersenken auf den physischen Plan, weil astralische Kräfte auf demphysischen Plan versammelt waren, Furchtkräfte, die ihm hinderndentgegenwirkten. - Es war am 20. Juli, als ich wußte, daß die Furcht-kräfte nun Kräfte des Mutes, der Kühnheit wurden. Eine unbeschreib-lich großartige Tatsache: Die Kräfte der Furcht wurden zu Kräftendes Mutes. Da war es nicht mehr unerklärlich, was auf dem physischenPlan als ein so einzigartiges Phänomen sich abspielte; jener Enthusias-mus. Das ist eine Tatsache, die mir einzigartig war, und soviel mir be-kannt ist, auch keinem Okkultisten vorher bekannt war.

Nun, Sie alle sind ja Zeugen gewesen, wie dieser Enthusiasmus ineinigen Tagen die Menschen ergriffen hat, die vorher wahrhaft fried-liebende Menschen waren, wie eine Welle von Mut sich über sie ergoß.

Es kamen bald die Zeiten, wo man mit Betrübnis horte, welcheungeheuren Opfer dieser Krieg fordert. Und als ich in den ersten Ta-gen des September in Berlin war, zog tiefer Schmerz in meine Seele,als ich gewahr wurde, welche Blüten deutscher Seelen hingeopfert wer-den mußten auf dem Feld. Ich mußte dem Schmerze nachhängen, undder erzeugt - nicht aus eigenem Verdienst - okkulte Forschung. InSchmerzen wird der Seele okkulte Erkenntnis geschenkt. Die bangeFrage stand vor meiner Seele: Wenn insbesondere die Blüte der Führerder einzelnen Korpsmassen dahingerafft wird, was wird dann?

Und da konnte man sehen, wie die Gefallenen es waren, die nachdem Tode auf dem Schlachtfelde denen halfen, die nach ihnen zukämpfen hatten. Das ergab die hellseherische Forschung. Wenn die

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Toten den Lebenden helfen, dann ist das inmitten des Schmerzes einTrost. Meine lieben Freunde, hineingreifen muß das, was Geisteswis-senschaft ist, in das Leben in den Momenten, wo jeder Trost unmöglicherscheint, wo die rechte Seelenstimmung nicht gefunden werden kann.Auch da vermag geistige Erkenntnis die rechte Seelenstimmung zu ge-ben, sie kann auch da noch Trost gewähren. Ich weiß, es wird Seelengeben aus unserer Gemeinschaft, die Mut schöpfen werden aus solcherErkenntnis inmitten der traurigen Ereignisse.

Aus dem Studium der Geisteswissenschaft wissen wir, daß Geistes-wesen Lenker und Leiter des Menschheitsganges sind. In der geistigenWelt ist es vorgeschrieben, daß bis zu einem gewissen Zeitpunkt annä-hernd das eine oder andere geschieht. Nehmen wir an, bis zum Jahre1950 oder 1970 sei es für die Menschheit der Erde bestimmt, ein ge-wisses Maß von Liebefähigkeit zur Bekämpfung des Egoismus zu er-reichen. Alles, was Geisteswissenschaft ist, will diese Liebefähigkeiterzeugen. Sie tut es ähnlich, wie das Holz im Ofen Wärme erzeugt. Siekann erzeugt werden durch das Wort; und innerhalb unserer Strö-mung wird es versucht, sie zu erzeugen durch die großen Lehren derAnthroposophie. Aber wenn nicht genügend wäre das Entgegenkom-men der menschlichen Seelen gegenüber dem Worte, wenn die Dingezu langsam vor sich gehen würden, so daß bis zu dem Zeitpunkt, dervorgeschrieben ist, die Liebefähigkeit und Aufopferung nicht genü-gend entfaltet wäre, dann muß ein anderer Lehrmeister eintreten.

In Dornach ist es symbolisch vorgeführt worden. Eigentlich wardie Absicht, den Bau Anfang August fertig zu haben. Daraus ist nichtsgeworden; es war vom Karma nicht vorbestimmt, daß der ganze Baubis zu dieser Zeit fertig stehe und herunterschaue von seiner die Gegendüberragenden Anhöhe von Osten und Südosten als Wahrzeichen desGeistes. Doch es erheben sich in die weite Landschaft hinein die Säu-len mit den Kuppeln als Geisteswarte. In unserem Bau soll auch dieFrage der Beschaffung eines akustisch guten Raumes gelöst werden.Ich konnte mich überzeugen, daß die rechte Akustik gefunden ist. DerKlang, wie er von einem gewissen Punkte her geprüft wurde, ergab,daß die Akustik die richtige für den Bau sei. Aber in diese Akustik hin-ein konnten unsere Freunde nicht zuerst das Wort vom geistigen Leben

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hören, sondern zuerst hörten sie den Widerhall des Kanonendonnersvom Süden des Elsaß, und anstatt des Lichtes aus der geistigen Weltzogen von dem Scheinwerfer vom Fort Istein weite Lichtmassen inden Bau hinein und durchleuchteten ihn. Eine eigentümliche Symbolik!Eine Symbolik, die vielleicht doch angeführt werden darf. Ein andererLehrmeister ist manchmal nötig!

War es nicht ein ungeheurer Lehrmeister? Stellt er sich nicht demMaterialismus gewaltig entgegen? Was hat sich dann alles in einerWoche vollzogen! Welche Summe von Bekämpfung des Egoismus!Welche Summe von Aufopferungsfähigkeit, von Menschenliebe ist daentstanden!

Als ich kürzlich von Wien zurückfuhr, spielte mir Karma eine Zei-tung in die Hand. Darin stand eine Schilderung von einem österreichi-schen Krieger, der in das Feld zog. Er beschreibt zuerst, wie währendder Fahrt zum Kriegsschauplatz den Soldaten von allen Seiten Liebes-dienste erwiesen werden, und am Schluß kommt ein Passus - der Krie-ger ist aller Wahrscheinlichkeit nach nie der Theosophie nahegetreten -,da sagt er: Wir, die wir in das Feld ziehen, versuchen mit all dem Mutund mit all dem, was wir haben, für die gerechte Sache einzustehn;aber auch die, die zu Hause bleiben, können wirken. - Dann kommendie großen Worte, er sagt: «Wen Gott erhört, der bete — wer nicht betenkann, der sammle alle seine Gedanken und Willenskräfte zu dem in-brünstigen Wunsche nach dem Siege...», und er trägt so das Seine bei! -Von der Kraft der Empfindung haben wir lange Jahre gesprochen. Solebt jetzt in einem einfachen Soldaten, was wir in jahrelanger Arbeitgepflegt haben. Mag das nächste Ergebnis dieses oder jenes sein, eineswird das Ereignis zeitigen: Spiritualität in der menschlichen Seele, diesolche sonst noch lange nicht gefunden haben würde.

Groß sind diese Ereignisse. Zu vergleichen sind sie nur mit großenEreignissen der Vergangenheit, die sich zyklisch übereinanderlegen.So wie der Kampf der Römer gegen die Punier, wie die Kriege der Völ-kerwanderung wichtig und eingreifend waren für die werdende Kul-tur der Völker, so ist nicht weniger bedeutsam der Kampf, in dessenMitte wir stehen. Und aus manchem Wort, das ich spreche, wird einesin Euer Empfinden hineinleben können: daß diejenigen, die heute im

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Felde, in der Schlacht ihr Blut vergießen, dieses Blut als Opfer brin-gen für etwas, was geschehen muß. Geschehen muß es zum Heile derMenschheit. Und wenn wir auf die großen Opfer schauen, auf dieSchmerzen, eines kann uns doch, wenn auch nicht freudig stimmen,so doch innerlich mit großer Befriedigung erfüllen: daß heiliges Blutfließt, geheiligt durch die Ereignisse; und die, die es vergossen haben,werden die wichtigsten Mitglieder werden für zukünftige Zeiten. Vie-les wird uns verständlich werden, wenn wir uns entschließen können,in dem fließenden Blut geheiligtes Opferblut zu sehen. Wenn wir un-sere Seelen mit dieser Wahrheit durchdringen, dann wird der GeistFrüchte in uns tragen. Sagen darf ich es: Erfüllen kann sich gerade inden Seelen unserer lieben anthroposophischen Freunde das, was jenereinfache Soldat gesagt hat.

Die Gedanken, die in der anthroposophischen Seele als Überzeu-gung gehegt werden, sie werden besonders stark hinaustönen; und dasist nötig, wenn die Formel, die wir unseren Ausführungen voransetz-ten, wirken soll. Unter den Kämpfern gibt es schon solche, die in demrechten Glauben dienen.

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,Eure Schwingen mögen bringenUnserer Seelen bittende LiebeEurer Hut vertrauten Erdenmenschen,Daß, mit Eurer Macht geeint,Unsre Bitte helfend strahleDen Seelen, die sie liebend sucht.

Meine lieben Freunde! Daß wir den Sinn dessen, was wir an Gedankengelernt haben, jetzt den Ereignissen gegenüberstellen, damit wir diePrüfung bestehen können, daß wir gerechten Auges die Ereignisse, dieVerhältnisse ins Auge fassen, das war der Zweck meines heutigen Vor-trages. Spiritualität wird schon kommen auch durch jenen großenLehrmeister, der jetzt hinzieht durch Europa. Aber der Mensch istzur Freiheit geboren. Vieles liegt an denen, die mit uns vereint sind inder geistigen Bewegung. Werden die anthroposophischen Gedankenjetzt richtig in der Zeit der Prüfung in Euren Seelen sein, dann wird

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jener Raum, der jetzt erfüllt ist von durcheinanderflutenden Leiden-schaften, erfüllt sein mit hell leuchtenden Geistgedanken, mit heiligen,echten Gefühlen. Solche Gefühle werden dauernd weiterleben.

Ich flehe in mancher Nacht, daß es viele Anthroposophen gebenmöge, die solche lichtvoll strahlende Gedankenkraft hinaussenden;und wenn wir dazu auch das richtige Wollen finden, werden wir dieMöglichkeit haben, unseren Platz auszufüllen in echtem Liebesdienst.Seien wir achtsam, wo wir die Liebe auch werktätig in die Welt brin-gen dürfen. Unser Karma wird es schon dahin bringen, ob wir da oderdort stehen, daß dies oder jenes von uns gefordert wird, zu dem wirgerade ausersehen sind.

Nur mit Tränen in den Augen konnte ich den Brief eines jungenÖsterreichers an seine Mutter lesen, der am 26. Juli die Worte mit-anhörte, die in Dornach gesprochen wurden, wie das, was Anthropo-sophie an Gesinnung und an Kraft geben kann, in seinem Herzen lebt,und ihn seine Pflicht erfüllen läßt da, wo das Schicksal ihn hingestellthat. Und dieselben Gefühle und Gedanken traten mir aus dem Briefeines anderen jungen Freundes entgegen, der ebenfalls jener Zusam-menkunft in Dornach beigewohnt hatte und dann ins Feld gezogenwar. Solche Gedanken und Gefühle sind es, die heute in den Seelenleben müssen: Da, wo die Pflicht sich uns zeigt, sie zu erfüllen suchen,unsere Urteilskraft walten lassen und achtsam sein, wo unsere Liebeverlangt wird. Dann wird eines sich in der Zukunft erfüllen: Wenneinstmals Europas Völker nicht mehr sich in den Schlachten gegenüber-stehen werden, dann werden unter den Gedanken diese, die wir jetzthinaussenden, die bleibenden sein, die werden die stärksten sein, siewerden ein Ewiges darstellen. Das, was wir jetzt fühlen, wird zumHeile sein, wenn es verbunden wird mit dem Gefühl, daß ein Sieg un-ausbleiblich ist: der Sieg des Geistes.

Merkwürdige Worte hat ein Staatsmann in Deutschland noch indiesem Frühling gesprochen. Er sagte über unser Verhältnis zu Ruß-land, daß Deutschland in freundschaftlichem Einvernehmen stehe mitPetersburg, welches entschlossen sei, auf Pressetreibereien nicht zu ach-ten. Und über England wurde im Juli gesagt, daß die EntspannungFortschritte mache, daß die Verhandlungen mit England noch nicht

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abgeschlossen seien, daß sie aber in diesem Sinne weitergeführt würden.So konnte ein namhafter Staatsmann im Juli noch sprechen. Man lesediese Worte jetzt wieder und versuche sich zu vergegenwärtigen, wiemenschliche Urteilskraft vor den dahinflutenden Ereignissen steht.Eines aber kann erhellen aus diesen Worten: Wir haben den Kriegnicht gewollt! - Oh, man möchte - verstehen Sie mich recht! -, um esgrotesk auszudrücken, Nichtdeutscher sein, damit diese Worte die ge-bührende Beachtung fänden, um ihnen den Nachdruck geben zu kön-nen, der ihnen gebührt.

Aber die menschliche Seele braucht etwas, was bleibt, was nichtso ist, daß man heute von Dingen spricht, die morgen schon sich alsunhaltbar erweisen; sie braucht etwas, was heute Wahrheit ist und wasmorgen Wahrheit ist. Solche Wahrheit wird sie nur finden, wenn siesich mit dem Geiste verbindet. Auf die Sieghaftigkeit des Geistes dür-fen wir vertrauen. Wer sich mit dem Geiste verbindet, wird den rechtenWeg finden zu jener Weisheit, die eben nur aus der Verbindung mitdem Geiste entstehen kann. Gerade in der Woche vor dem Kriegsaus-bruch mußte ich in einer Zeitung Sätze lesen, wie den folgenden:Trotz Liebknechts Rüge halte ich dafür, daß man im politischen Lebendie Wahrheit nicht zu sagen braucht, außer wenn es herauskommenwürde oder einem selber schaden würde. - Der Ausspruch ist geprägtaus dem Materialismus unserer Zeit, in dem wir erstickt wären ohnediesen Krieg, und den zu überwinden Aufgabe unserer Bewegung ist,die - im Gegensatz zu der Unglaublichkeit eines solchen Spruches -als ersten Satz die Worte hat: «Die Weisheit liegt nur in der Wahr-heit.»

Da zeigt es sich, wie sehr wir des Geistes der Wahrheit bedürfen,wenn wir die Dinge in ihrer Wirklichkeit erfassen wollen. Denn dar-um handelt es sich, daß wir zu jener Objektivität hindurchdringen, dienur durch den Geist der Wahrheit errungen werden kann. Dann wirdman auch heute schon erkennen können, was eine spätere Zeit erken-nen wird: daß dieser Krieg eine Verschwörung ist gegen deutschesGeistesleben.

Zu solcher Objektivität kann uns verhelfen der Spruch, der an denVolksgeist sich wendet:

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Du, meines Erdenraumes Geist!Enthülle Deines Alters LichtDer Christ-begabten Seele,Daß strebend sie finden kannIm Chor der FriedenssphärenDich, tönend von Lob und MachtDes Christ-ergebenen Menschensinns!

Viel kann für unsere Seelen und für das Finden des rechten Weges her-vorgehen, wenn wir lebendig mit dieser Seele vereinen, was aus solchemSpruche uns werden kann. Dann aber weiß ich, daß etwas geschehenwird, daß ein wichtiges Glied in dem, was sich entwickeln soll, da seinwird, etwas, was in der anthroposophischen Seele leben wird und wasAnthroposophie in die Welt bringt, daß Hoffnungen entgegengekom-men werden wird, die ich zusammenfassend aussprechen möchte mitden Worten:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht -Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

Das ist es, meine lieben Freunde, worauf es ankommt: werktätige Liebewollen wir üben, aufmerksam wachen auf die Forderungen des Tages.Und dann wollen wir vorurteilsfrei und klar hineinschauen in die Ver-hältnisse, um solche Objektivität zu erlangen, wie sie heute notwen-dig ist, und die so schwer zu erlangen ist für viele. Vielleicht könnenhier auch diejenigen unserer auswärtigen Freunde klärend wirken, diediese Worte hören.

Wenn wir zu solcher Objektivität durchdringen und zu solcher Be-reitschaft werktätiger Liebe, dann kann aus solchem Streben eineKraft erstehen, die nutzbar sein kann für diejenigen Geister, die ihr

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 17 4b Seite: 2 8

Wirken hineinsenden in die Geschicke der Völker und die auch indiesen ernsten, schweren Zeiten helfend und führend der Menschheitzur Seite stehen.

Copyright Rudolf Steiner Nachiass-Verwaitung Buch: 174b Seite: 2 9

Z W E I T E R VORTRAG

Stuttgart, 13. Februar 1915

Immer wieder und wiederum muß betont werden, daß der wesent-lichste Punkt unseres geisteswissenschaftlichen Strebens derjenige ist,der uns zeigt, wie bloßes Wissen, bloße in Ideen und Vorstellungenlebende Erkenntnisse immer mehr und mehr vergangenen Zeiten an-gehören müssen, und wie wir eine Erkenntnis zu suchen haben, eineSumme von Ideen und Vorstellungen, von Empfindungen und Willens-impulsen, die uns wirkliches Leben werden, die uns im eminentestenSinne des Wortes lebendig werden. Es ist notwendig, daß wir zuweilenunser Nachsinnen, unsere Meditation hinlenken gerade auf diesen Kar-dinalpunkt unseres Strebens. Denn voll wird das Licht, das von die-sem Punkte aus strahlen kann, nur dann unsere Seelen erleuchten kön-nen, wenn wir immer wieder und wiederum in treulichem Nachsinnenauf ihn zurückkommen. Es muß ja gerade für uns, die wir mit Seeleund Herz uns bekennen wollen zu einem geisteswissenschaftlichen Stre-ben, in dieser unserer ernsten Zeit Herzensbedürfnis sein, dasjenige,was uns durch Erkenntnisse werden kann, in das wirkliche Lebenüberzuführen, in das unmittelbare Leben der Seele. Wir müssen etwasdazu tun, daß alles dasjenige, was theoretische Einsicht nur, was bloßwissenschaftliches Streben ist, allmählich wirklich übergeführt werdein Erlebnisse, daß es bereichert werde aus der Geisteswelt heraus durchdas, wodurch es Erlebnis werden kann. Sonst gehen wir einer Zeitder geistigen Ausdörrung entgegen; denn Theorien, bloß wissenschaft-liche Überzeugungen, sind dazu geeignet, die Menschenseele und dasganze menschliche Leben überhaupt auszudörren. Aber tief, tief ein-gewurzelt ist in unserer Zeit der Glaube, daß man im Leben zurecht-kommen müsse mit einer nach dem Muster von wissenschaftlicher Er-kenntnis geordneten Überzeugung.

Die großen Ereignisse, die sich in unserer Zeit abspielen, sie sollteninsbesondere Aufforderungen sein an die zur Geisteswissenschaft ge-neigten Seelen, einmal wirklich über die Verschiedenheit von Lebenund bloßem Wissen ins klare zu kommen, von Leben und bloßer, nach

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wissenschaftlichem Muster gebildeter Überzeugung. Wir müssen daschon einmal ein wenig versuchen, zu einer Art von Selbsterkenntnis,von rein menschlicher Selbsterkenntnis zu kommen; wir müssen dasversuchen, müssen mit uns zu Rate gehen, wie sehr der Dämon dertheoretischen Überzeugung gegenwärtig in den menschlichen Herzenlebt. Wir müssen das seelische Auge klar darauf hin richten, wie sicheinwurzeln will dieser Dämon der theoretischen Überzeugung. Unddas, was uns Anthroposophie sein soll, werden wir nicht zu unsereminnersten Erlebnis machen, wenn wir das nicht versuchen, wenn wirnicht das Auge hinlenken auf Tatsachen, die auch den Anthroposo-phen sozusagen in seinem eigenen Seelenleben überraschen können, diedarauf hinweisen, wie ferne man, wenn man sich so dem modernenSeelenleben hingibt, dem unmittelbaren Erlebnis des Geistigen steht,und wie nahe man dem Suchen nach einer theoretischen Überzeu-gung steht. Ganz unbefangen muß man solchen Tatsachen ins Augeschauen.

Ich konnte - und was ich jetzt anführe, soll nur als Beispiel ange-führt werden -, seitdem die ernsten Ereignisse über Europa und dieWelt hereingebrochen sind, an den verschiedensten Orten des deut-schen Sprachgebietes über Erlebnisse sprechen, die mit unserer ernstenZeit im Zusammenhang stehen. Ich habe es ja auch hier in Stuttgarttun dürfen. Da und dort wurde von mir über solche Erlebnisse ge-sprochen. Was war eine der Folgen davon, daß solche Erlebnisse be-sprochen worden sind? Eine der Folgen war die, daß Angehörige an-derer Reiche gekommen sind mit der Anforderung, dasjenige, wasinnerhalb unseres Sprachgebietes gesprochen worden ist, auch zu ihnenzu bringen. Oftmals war das gefordert unter der gutgemeinten Voraus-setzung, daß die Wahrheit für alle Menschen selbstverständlich diegleiche sei, und daß solch ein Hintragen desjenigen, was an einem Ortegesprochen wird, zum anderen Orte ohne weiteres zur Aufklärung derWahrheit in unserer schwierigen Zeit dienen könne. Es ist ja innerhalbunserer Geistesströmung Mode geworden, alles, was gesprochen wird,auch dasjenige, was gesprochen wird aus dem unmittelbaren Impulsnicht nur der Zeit, sondern auch des Ortes und der Menschen heraus,zu denen es gesprochen wird, aufzuschreiben und nun den Glauben

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zu haben, daß das jedem in der gleichen Weise dienen müsse, weil mandie theoretische Voraussetzung macht, die Wahrheit könne nur aufeine einzige Weise formuliert werden. Nun, meine lieben Freunde,es würde sich jener Unfug, der darin besteht, daß man in genauerWeise das gesprochene Wort nachschreibt und glaubt, daß es nochimmer den Inhalt habe, wenn es nun als nachgeschriebenes Wort daoder dort vorgelesen werde oder wiedergesprochen werde, es würdesich dieser Unfug ins Ungeheuerliche auswachsen, wenn man das glau-ben könnte, was eben angedeutet worden ist.

Wenn diejenigen Dinge, welche die Menschen Europas und derWelt gegenwärtig auszumachen haben, ausgemacht werden könntendurch Worte, dann brauchten nicht jene ungeheuren Ströme von Blutzu fließen, die aus den ewigen Notwendigkeiten der Erdenentwicke-lung heute fließen müssen. Wenn ohne weiteres die Möglichkeit be-stünde, daß die Seelen sich aus den nationalen Aspirationen heraus ver-stehen würden, dann brauchten sie sich nicht mit Kanonen gegenein-ander zu stellen. Wir müssen uns mit demjenigen, was als der Charak-ter des Erlebnisses angegeben worden ist, wir müssen uns mit geistes-wissenschaftlicher Erkenntnis gerade da bewähren, wo es darauf an-kommt, dem großen Ernst entgegenzusehen. Für alltägliche Seelenbe-dürfnisse spielerisch okkulte Wahrheiten zu gebrauchen, das kann nichtdie Aufgabe unseres geisteswissenschaftlichen Strebens sein. Solangewir nicht in der Lage sind, es zu dem Verständnis zu bringen, daß inden Weltenerscheinungen, die uns auf dem physischen Plan entgegen-treten, wirklich spirituelle Mächte tätig sind, und daß wir Geistes-wissenschaft brauchen, um Wert und innere Wahrheit dieser spirituel-len Mächte abzuschätzen und zu durchschauen, solange wir das nichtvermögen, haben wir noch nicht das richtige Verhältnis zu unsererGeisteswissenschaft.

Das muß uns klar sein: Wenn wir auf rein anthroposophischemBoden stehen, wenn wir die hohen Wahrheiten entwickeln für unsereSeele, welche des Menschen höchstes Wesen berühren, dann stehen wirauf einem Boden, der jenseits ist aller Nationalität, ja jenseits allerRassenunterschiede sogar. Stehen wir recht auf dem Boden desjenigen,was wir über des Menschen Wesen aus der spirituellen Erkenntnis ge-

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winnen können, dann gelten dieselben Wahrheiten über den ganzenErdkreis hin, ja innerhalb gewisser Horizonte für andere Planeten un-seres Planetensystems: sobald wir auf diesem Boden stehen, sobald füruns in Betracht kommen die höchsten, das menschliche Wesen betref-fende Gedanken. Anders ist es, wenn Dinge in Betracht kommen, ausdenen etwas anderes spricht und sprechen muß als dieses allerhöchsteWesen des Menschen: Wenn Völker einander gegenüberstehen, habenwir es nicht zu tun mit demjenigen, was in des Menschen Wesen hin-ausreicht über alle die Differenzierungen der Menschheit. Wenn Völ-ker einander gegenüberstehen, so stehen nicht bloß Menschen, son-dern spirituelle Welten einander gegenüber, stehen sich solche Wesen-heiten in spirituellen Welten gegenüber, die durch die Menschen sichbetätigen, die in den Menschen leben. Und zu glauben, daß dasjenige,was für Menschen gelten muß, auch gelten muß für jene komplizierteDämonen- und Geisterwelt, welche durch die Menschen wirkt, wennVölker miteinander kämpfen, zu glauben, daß man durch einfachemenschliche Logik etwas ausmachen könnte über dasjenige,, was dieDämonen gegeneinander treibt, das heißt doch, noch nicht den Glau-ben an eine konkrete spirituelle Welt gefunden zu haben.

Was meine ich damit? — Nicht wahr, wenn wir jetzt hinaussehenauf dasjenige, was draußen in der äußeren Welt geschieht, so findenwir - ich will jetzt ganz absehen von den eigentlichen schmerzlichenKriegsereignissen -, daß Menschen verschiedener Nationalitäten ein-ander gegenüberstehen. Wir finden, daß die eine Nationalität die an-dere mit ihrem Haß manchmal in der furchtbarsten Weise überflutet.Dann versuchen jetzt die Menschen zurechtzukommen damit, dasheißt, sich zu fragen, wer nun mehr Recht hat zu hassen, dieses Volkoder jenes Volk, oder welches man mehr hassen soll als ein anderes.Man denkt wohl auch nach, welches Volk die besondere Schuld habean diesem Krieg. Man denkt ungefähr über diese Angelegenheiten sonach, wie man mit Recht nachdenkt bei einer Gerichtsverhandlung,wo man die verschiedenen Umstände abwägt. Was tut man aber imGrunde genommen, wenn man das tut, was eben charakterisiert wor-den ist und was das jetzige Schrifttum beherrscht, was tut man dann?Man stellt damit in Abrede alles spirituelle Leben, wenn man es auch

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nicht zugeben wollte, denn man bekennt sich zu dem Dogma, daß jeneDämonen zum Beispiel, die von Osten herübergetragen haben die Zwie-tracht in das europäische Leben, nach dem Muster des Verstandes, sa-gen wir, des Verstehens zu beurteilen sind, das der Mensch hat. Dennman glaubt nicht, daß es einen anderen Verstand, eine andere Urteils-kraft gibt als diejenige, die der Mensch hat. All dasjenige, was ge-genüber solchen die Evolution aufwühlenden Ereignissen vom bloßmenschlichen Standpunkt aus beurteilt wird, ist eine Verleugnung desgeisteswissenschaftlichen Lebens. Nur dann bekennen wir uns zumwirklichen geisteswissenschaftlichen Leben, wenn wir uns klar sind,daß sich in den physischen Ereignissen geistige Ursachen ausleben, Ur-sachen, die auch eine andere Urteilskraft notwendig machen als diedes physischen Planes. Wenn sich Menschen mit verschiedenen Ansich-ten bekämpfen auf dem physischen Plan, dann kann man vielleichtnach menschlichem Urteil entscheiden. Das kann man aber nicht, wennsich Völker bekämpfen, weil durch das Volksleben sich unsichtbareMächte zum Ausdruck bringen. Im Menschen bringen sich allerdingsauch unsichtbare Machte zum Ausdruck, aber so, daß sie sich hinein-fügen in das menschliche Urteil. Das tun sie im Völkerleben aber nicht.Da handelt es sich eben darum, daß wir uns bewähren in der Aner-kenntnis des konkreten spirituellen Lebens und einsehen, daß nochganz andere Impulse in der Menschenseele sprechen als diejenigen,die man bewältigen kann mit dem Erdenverstand, wenn solch großeEreignisse sich abspielen.

Wenn man heute dieses oder jenes liest, was da gesagt wird und wasreichlich nachgesprochen wird auch von denjenigen, die einen Impulsvon der Geisteswissenschaft haben empfangen wollen, dann findetman, daß vieles davon so geschrieben oder gesprochen ist, als wenn dieWeltentwickelung erst am 20. Juli 1914 ungefähr begonnen hätte.Selbst da, wo man die Ursachen der gegenwärtigen Verwicklungensucht, redet man so, als ob sie im vorigen Jahr begonnen hätten. Geistes-wissenschaft wird neben vielem anderen auch das als praktisches Er-gebnis zeitigen müssen, daß man etwas wird lernen wollen, daß mannicht aus dem, was unmittelbar der Tag gibt, sondern aus den größe-ren Zusammenhängen heraus sich ein Urteil wird bilden wollen. Das

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wird das Elementarste sein; das Weitere wird erst daraus bestehen, daßman das Urteil prüfen muß an dem, was Geisteswissenschaft zu gebenin der Lage ist. Machen wir uns einmal an einem Beispiel klar, wie dieseGeisteswissenschaft fruchtbar werden muß, wenn es sich darum han-delt, unser Verständnis gegenüberzustellen dem Erleben, und das Er-leben dann zu unserem eigenen zu machen.

Wir haben es ja immer wiederum betont, daß die Weltentwicke-lung, die Erdenentwickelung, für die nachatlantische Zeit in deut-lich voneinander verschiedenen Kulturperioden verläuft. Wir habendiese Kulturperioden aufgezählt: die alte indische Kulturperiode, diepersische, die ägyptisch-chaldäische, die griechisch-lateinische, danndiejenige, welche unsere eigene ist in der Gegenwart; dann haben wirdarauf aufmerksam gemacht, daß eine sechste, eine siebente Epochedie unsrige wird ablösen müssen. Wir haben uns aber nicht damit be-gnügt, schematisch die Aufeinanderfolge dieser Kulturperioden einfachdarzustellen, sondern wir haben versucht zu charakterisieren, welchesdas Eigentümliche der einzelnen Kulturperioden ist. Und wir haben da-durch versucht, ein Verständnis für unsere eigene Zeit zu gewinnen,für die Übergangsimpulse, die in unserer Zeit leben, in unserer fünftennachatlantischen Zeitepoche. Und wir haben uns auch klargemacht,daß keineswegs mit solchen Charakterisierungen irgend etwas Sche-matisches gemeint sein kann, zum Beispiel daß man nicht sagen kann,über die ganze Erde ziehe sich hin das Eigentümliche dieser Kultur-epoche. An gewissen Orten tritt es auf, andere Erdenorte, andere Ter-ritorien bleiben zurück. Nicht absolut brauchen sie zurückzubleiben,aber sie bleiben mit alten Kräften zurück, um diese alten Kräfte spätermit der fortschreitenden Evolution in einer anderen Kulturepocheentsprechend in Zusammenhang zu bringen. Man braucht nicht einmalan Wertigkeiten zu denken, sondern nur an Charaktereigentümlich-keiten. Wie sollte denn den Menschen nicht auffallen die tiefe Ver-schiedenheit, wenn es sich um Geisteskultur handelt, sagen wir dereuropäischen und der asiatischen Völker. Wie sollte denn nicht auf-fallen die Differenzierung, die gebunden ist an die äußere Hautfär-bung! Wenn wir das europäisch-amerikanische Wesen und das asia-tische Wesen anschauen - sehen wir zunächst ganz ab von Wertig-

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keiten -, dann müssen wir den Unterschied ins Auge fassen, daß dieasiatischen Völker zurückbehalten haben gewisse Kulturimpulse ver-gangener Erdenepochen, während die europäisch-amerikanischen Völ-ker hinweggeschritten sind über diese Kulturimpulse. Nur wenn manin einem nicht ganz gesunden Seelenleben befangen ist, kann einemdasjenige besonders imponieren, was als orientalische Mystik die orien-talische Menschheit aus alten Zeiten bewahrt hat, wo die Menschenes notwendig hatten, mit niederen Seherkräften zu leben. Solch un-gesundes Geistesleben hat vielfach Europa allerdings ergriffen; manhat geglaubt, den Weg in die geistigen Welten durch asiatisches Jogi-tum und ähnliches lernen zu müssen. Diese Tendenz beweist abernichts anderes als ein ungesundes Seelenkben. Das gesunde Seelen-leben muß sich aufbauen auf die Überführung der Erlebnisse der fünf-ten nachatlantischen Kulturepoche in spirituelles Leben, in geisti-ges Erkennen, und nicht auf das Herauftragen von irgend etwas inder Menschheit, was ja ganz interessant ist, sozusagen naturwissen-schaftlich zu erkennen, was aber nicht für die europäische Mensch-heit erneuert werden darf, ohne daß sie zurückfallen würde in Zei-ten, die ihr nicht angemessen sind. Aber andere Zeiten werden kommenüber die Erdenentwickelung, folgende Zeiten. In diesen folgenden Zei-ten, da werden veraltete Kräfte mit vorgeschrittenen Kräften wieder-um sich verbinden müssen. Daher müssen sie an irgendeiner Stellebleiben, um da zu sein, um sich verbinden zu können mit den vorge-schrittenen Kräften. Eine sechste wird auf die fünfte Kulturepochefolgen. Abstraktes Denken, dieses schreckliche abstrakte Denken, daseine Tochter ist der rein theoretisch-wissenschaftlichen Überzeugung,kann gar nicht umhin, das sechste Zeitalter höher zu schätzen als dasfünfte, weil das sechste eben spätere Entwickelung ist. Wir sollten unsaber klar sein, daß es Zeiten des Aufgangs und Zeiten des Niedergangsgibt; richtig klar sollten wir uns sein darüber, daß das sechste Zeitalter,welches folgt auf das fünfte in der nachatlantischen Zeit, dem Nieder-gang notwendig angehören muß, und daß dasjenige, was sich in der fünf-ten nachatlantischen Zeitepoche herausentwickelt, der Keim sein mußfür die der siebenten Kulturepoche erst wiederum folgende Erdenzeit.So lebendig muß man die Dinge betrachten, nicht abstrakt-theoretisch,

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so daß man das sechste Zeitalter als ein vollkommeneres auf das fünfteals unvollkommeneres folgen läßt.

In der atlantischen Zeit war die vierte Epoche diejenige, in der dieKeime lagen zu unserer Gegenwart. In unserer Zeit ist es die fünfteKulturepoche, in der die Keime liegen zu dem, was auf die nachatlan-tische Zeit folgen muß. Und was ist das Charakteristische, das sichinsbesondere in dieser fünften Kulturepoche herausentwickeln muß?Das ist das Charakteristische, was vorzugsweise durch das Mysteriumvon Golgatha angefacht worden ist: daß die spirituellen Impulse hin-untergeführt worden sind bis ins unmittelbar Physisch-Menschliche,daß gewissermaßen das Fleisch von dem Geiste ergriffen werden muß.Es ist noch nicht geschehen. Es wird erst geschehen sein, wenn die Gei-steswissenschaft einmal einen größeren irdischen Boden hat und vielmehr Menschen sie im unmittelbaren Leben zum Ausdruck bringen,wenn der Geist in jeder Handbewegung, in jeder Fingerbewegung,möchte man sagen, wenn er in den alleralltäglichsten Handlungen zumAusdruck kommt. Aber dieses Hinuntertragen der spirituellen Impulsewar es, um dessentwillen der Christus in einem menschlichen LeibeFleisch geworden ist. Und dieses Hinuntertragen, dieses Durchimpräg-nieren des Fleisches mit dem Geiste, das ist das Charakteristische der Mis-sion, die Mission überhaupt der weißen Menschheit. Die Menschen ha-ben ihre weiße Hautfarbe aus dem Grunde, weil der Geist in der Hautdann wirkt, wenn er auf den physischen Plan heruntersteigen will. Daßdasjenige, was äußerer physischer Leib ist, Gehäuse wird für den Geist,das ist die Aufgabe unserer fünften Kulturepoche, die vorbereitet wor-den ist durch die anderen vier Kulturepochen. Und unsere Aufgabemuß es sein, mit denjenigen Kulturimpulsen uns bekanntzumachen,welche die Tendenz zeigen, den Geist einzuführen ins Fleisch, denGeist einzuführen in die Alltäglichkeit. Wenn wir dies ganz erkennen,dann werden wir uns auch klar sein darüber, daß da, wo der Geist nochals Geist wirken soll, wo er in gewisser Weise zurückbleiben soll inseiner Entwickelung — weil er in unserer Zeit die Aufgabe hat, insFleisch hinunterzusteigen -, daß da, wo er zurückbleibt, wo er einendämonischen Charakter annimmt, das Fleisch nicht vollständig durch-dringt, daß da weiße Hautfärbung nicht auftritt, weil atavistische

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Kräfte da sind, die den Geist nicht vollständig mit dem Fleisch in Ein-klang kommen lassen.

In der sechsten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit wird dieAufgabe die sein, den Geist vor allen Dingen als etwas sozusagen mehrin der Umgebung Schwebendes zu erkennen als unmittelbar in sich, denGeist mehr in der elementaren Welt anzuerkennen, weil diese sechsteKulturepoche die Aufgabe hat, die Erkenntnis des Geistes in der phy-sischen Umgebung vorzubereiten. Das kann nicht so ohne weitereserreicht werden, wenn nicht alte atavistische Kräfte aufgespart wer-den, die den Geist in seinem rein elementarischen Leben anerkennen.Aber ohne die heftigsten Kämpfe gehen diese Dinge in der Welt nichtab. Die weiße Menschheit ist noch auf dem Weg, immer tiefer undtiefer den Geist in das eigene Wesen aufzunehmen. Die gelbe Mensch-heit ist auf dem Wege, zu konservieren jene Zeitalter, in denen derGeist ferne gehalten wird vom Leibe, in denen der Geist gesucht wirdaußerhalb der menschlich-physischen Organisation, bloß dort. Das abermuß dazu führen, daß der Übergang von der fünften Kulturepoche indie sechste Kulturepoche sich nicht anders abspielen kann denn als einheftiger Kampf der weißen Menschheit mit der farbigen Menschheitauf den mannigfaltigsten Gebieten. Und was diesen Kämpfen voran-geht, die sich abspielen werden zwischen der weißen und der farbigenMenschheit, das wird die Weltgeschichte beschäftigen bis zu der Aus-tragung der großen Kämpfe zwischen der weißen und der farbigenMenschheit. Die zukünftigen Ereignisse spiegeln sich vielfach in vor-hergehenden Ereignissen. Wir stehen nämlich, wenn wir dasjenige, waswir durch die verschiedensten Betrachtungen uns angeeignet haben,im geisteswissenschaftlichen Sinn ansehen, vor etwas Kolossalem, daswir in der Zukunft als notwendig sich abspielend erschauen können.

Da haben wir auf der einen Seite einen Teil der Menschheit mitder Mission, den Geist in das physische Leben so hereinzuführen, daßder Geist alles einzelne im physischen Leben durchdringe. Und auf deranderen Seite haben wir einen Teil der Menschheit mit der Notwendig-keit, gewissermaßen die absteigende Entwickelung nun zu überneh-men. Das kann nicht anders geschehen, als wenn dasjenige, was wirk-lich sich bekennt zur Durchdringung des Leiblichen mit dem Geistigen,

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Kulturimpulse hervorbringt, lebendige Impulse hervorbringt, die fürdie Erde bleibend sind, die von der Erde nicht wieder verschwindenkönnen. Denn was dann nachkommt als sechste, als siebente Kultur-epoche, das muß geistig von den Schöpfungen der fünften leben, dasmuß die Schöpfungen der fünften Kulturepoche in sich aufnehmen.Die fünfte Kulturepoche hat die Aufgabe, das äußere idealistische Le-ben zum spirituellen Leben zu vertiefen. Das aber, was so als spiri-tuelles Leben vom Idealismus erobert wird, das muß später angenom-men werden, das muß weiterleben. Denn im Osten wird man nichtdie Kräfte haben, ein eigenes Geistesleben produktiv hervorzubringen,sondern nur dasjenige, was hervorgebracht ist, in sich aufzunehmen.So muß sich die Geschichte abspielen, daß von der gegenwärtigen, dieeigentlichen Kulturimpulse in sich tragenden Menschheit eine spiri-tuelle Kultur geschaffen wird, welche die eigentliche geschichtlicheNachfolge der fünften Kultur ist, und daß diese Kultur verarbeitetwird von dem, was nachfolgt.

Versuche man einmal, sich ganz objektiv, ohne Voreingenommen-heit den Unterschied zwischen diesen beiden Menschheitsströmungenklarzumachen. Man versuche sich einmal klarzumachen, wie seit demEintritt desjenigen Teiles der Menschheit, den man germanische Völ-ker nennt, gerungen worden ist um ein Durchdringen des äußeren Phy-sischen mit dem Geistigen, und wie die Tiefen des Christentums ange-nommen worden sind. Vom äußeren Physischen ist man ausgegangen,von demjenigen, was gleichsam im Physischen den Keim enthielt zueinem Physisch-Geistigen. Man blicke zurück auf das Sommeropfer,auf das Sonnwendopfer des Gottes Baidur. Sein eigentlicher tiefererSinn ist ja früh verlorengegangen, aber was ist der eigentliche tiefereSinn? Er kann nur durchschaut werden, wenn man die Blicke hinlenktdarauf, wie mit der heraufziehenden Frühlingssonne, im Lichte und inder Wärme, geistige Mächte heraufsteigen, wie der Gott Lenz herauf-zieht, und wie mit dem Anzünden des Johannisf euers der Mensch hin-neigt zu der Verbindung mit den in den Naturkräften herrschendenLenzeskräften, wie er sich Feuer anzündet zum Zeichen dafür, daß ersein Verständnis verbindet mit dem Tode des Gottes Lenz zur Som-mersonnenwende. Das ist die Baldursage: Der Gott Lenz verbrennt

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im Sonnwendfeuer, weil man das Fruchtende, das Keimende in derNatur, in der äußeren physischen Natur empfand, weil man den GottLenz liebte und ihm folgte in seinen Tod hinein. Darum aber, weilman gleichsam in der äußeren physischen Welt das Vorbild hatte vondem Christus, der nicht stirbt in der Sommerwende, aber der geborenwird in der Winterwende - merken Sie diesen Gegensatz des Leiblichenzu dem Geistigen -, weil man das Vorbild hatte an dem Sommerson-nenwende-Gott für den Wintersonnenwende-Gott, weil man das um-gekehrte Leibliche für das Geistige hatte, deshalb durchdrang mansich mit dem Verwandten und doch Entgegengesetzten. Ist der GottBaidur der Gott Lenz, der in der Sommersonnenwende dahinstirbt, soist der Christengott derjenige, der in der Wintersonnenwende geborenwird. Das eine und das andere durchdringen sich wie Leibliches, dassich im äußeren Leiblich-Physischen abspielt, sich durchdringt mit Gei-stigem, das verhüllt ist durch die leibliche Finsternis, durch die Winter-finsternis. Der Wintergeist durchdringt den Sommerleib. Und wiedurchdringen sich diese Dinge? Im unmittelbar persönlichen Ringender Kulturimpulse. Was ist denn die Geschichte Mitteleuropas als einfortwährendes Ringen um das Aufgehen des göttlichen Funkens in derpersönlichen Seele, um das Aufgehen des Geistigen im Physischen?Man kann von allem anderen absehen, aber die Wahrheit muß mandurchschauen, erkennen das Charakteristische dieses mitteleuropäi-schen Wesens.

Und man nehme den anderen Teil der Menschheit. Wie ferne er imGrunde genommen von diesem persönlichen Impuls des Sich-Empor-ringens des Geistigen im Physischen steht! Man möchte sagen: «Na-turhistorisch» ist es im höchsten Grade interessant, zu beobachten, wiedas Chinesentum seine Tao-, seine Konfuzius-Religion bewahrt hat,wie sich überhaupt die asiatischen Religionen die ältesten Formen be-wahrt haben, die abstraktesten Formen, diese Formen, bei denen sichder theoretische Verstand so wohl fühlt, die aber Starrheit sind gegen-über dem persönlichen Erleben, die das persönliche Erleben eben nichtzum Ringen kommen lassen, weil dieses persönliche Erleben aufbe-wahrt werden soll bis zu der Zeit, wo der Menschheitskultur das Er-rungene so einverleibt wird, daß es aufgenommen werden kann. In der

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fünften Kulturepoche muß ein Geistiges aus eigener Kraft errungenwerden; in der sechsten Kulturperiode werden die Menschen kommenund das Erarbeitete, das Errungene annehmen als ihre Anschauung, alsihr Erlebnis, aber als etwas, was sie nicht selbst errungen haben. Siewerden aufbewahrt in den Kräften, die nicht ringen, sondern das Gei-stige als etwas Äußerliches, Selbstverständliches entgegennehmen. Unddas Vorspiel für jenes viel weitere Ringen ist dasjenige, das sich all-mählich entwickeln muß als das Ringen zwischen germanischer undslawischer Welt. Man bedenke doch nur, daß die slawische Welt in ge-wissem Sinne ein Vorposten ist für dasjenige, was sechste Kulturepocheist, ja daß in ihr der eigentliche Keim der sechsten Kulturepoche liegt.Man bedenke das nur recht in wahrem, echtem, geisteswissenschaft-lichem Sinne. Dann wird man sich klar darüber sein, daß in diesemslawischen Element etwas Empfangendes liegen muß, etwas, was nichtsmit diesem Ringen zu tun hat, was das eigene Ringen geradezu abweist.Man kann es mit Händen greifen. Während in Mitteleuropa die Seelengekämpft haben, mit ihrem Inneren gekämpft haben, um im persön-lichen Erringen eine Gott-Erfassung zu bekommen, konserviert dasslawische Element die Religion, die Gott-Erfassung, den Kultus, dereben einmal da ist; es konserviert, es macht den Geist nicht innerlichlebendig, sondern läßt den Geist wie eine Wolke über sich hinziehenund lebt in dieser Wolke, bleibt dem Geist gegenüber mit der Persön-lichkeit fremd.

Nicht hat Mitteleuropa stehenbleiben können bei irgendeiner altenForm des äußeren Christentums, weil es ringen mußte. Stehengeblie-ben ist der Osten, und starr, abstrakt geworden sind selbst seine Kult-formen, weil er sich vorbereiten soll zum äußerlichen Aufnehmen, zumAnnehmen desjenigen, was der Westen im persönlichen Erringen er-wirbt, weil er nicht dazu bereitet ist, dieser Osten, im persönlichen Er-ringen die Dinge zu bekommen. Und wie will man nach dem Musterrein theoretischen Verstandes ein gegenseitiges Sich-Verstehen herbei-führen, wenn ganz verschiedene geistige Impulse vorliegen? Wie willman irgend etwas ausmachen über einen irgendwie gearteten Schieds-spruch zwischen zwei voneinander verschiedenen Geistesströmungen,die sich so verhalten, wie sich eben Differenziertes verhalten muß?

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Mißverstehen Sie den Vergleich nicht: Wie will man ausmachen, ichmöchte sagen, nach Elefantenart dasjenige, was Löwenbrauch ist? DieEreignisse aber bilden sich heraus aus den ewigen Notwendigkeiten undlaufen so ab, wie die ewigen Notwendigkeiten fließen. Sträuben mußtesich der Osten gegen dasjenige, was für ihn notwendig war und immernotwendiger wird: die Verbindung mit dem Westen und seiner Kultur.Denn im Grunde genommen konnte ihm vor seiner Reifung gar nichtdas rechte Verständnis gegeben sein. Und ein äußerer Ausdruck ist derKonflikt zwischen dem, was man das Germanentum, und dem, wasman das Slawentum nennt, dasjenige, was sich im Grunde genommenerst vorbereitet und als eine lange Beunruhigung über dem europäischenLeben schweben wird: die Auseinandersetzung zwischen Germani-schem und Slawischem. Man möchte sagen, wie sich ein Kind dagegensträubt, die Errungenschaften der Alten zu lernen, so sträubt sich derOsten gegen die Errungenschaften des Westens, sträubt sich dagegen,sträubt sich so weit, daß er ihn haßt, selbst wenn er sich gezwungenfühlt, zuweilen seine Errungenschaften anzunehmen. Mit dem Lichteder Wahrheit in diese Dinge hineinzuleuchten erfordert eben etwasanderes als das, was man heute liebt; obwohl man dieses andere zu-weilen verspürt, aber man ist abgeneigt, die Augen auf diese Dingehin zu richten und sie wirklich aus ihren innersten Impulsen herauszu verstehen. Denn wird man nur ein wenig von diesen innersten Im-pulsen berührt, dann hört bald vieles von dem Geschwätz auf, mußaufhören, was vollbracht wird und was bloß der Konfusion entspringt,der Konfusion, die in der äußeren Maja befangen bleiben will.

Was wird man unter der sechsten Kulturepoche zu verstehen haben?Man wird darunter eine Kulturepoche zu verstehen haben, innerhalbwelcher ein großer Teil der östlichen Menschen ihr Menschentum dem-jenigen zum Opfer gebracht haben wird, was in der Volkskultur errun-gen worden ist, indem gleichsam wie ein Weibliches das östliche sichwird haben befruchten lassen von dem männlichen Westlichen. Das-jenige, was leben wird in den Seelen der sechsten Kulturepoche, wirddasselbe sein, was von den Seelen der fünften Kulturepoche errungenworden ist. Das bedingt, daß von Osten her das Unreife und nochnicht Gereifte sich wälzt, sich wehrt gegen dasjenige, was ja doch ge-

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schehen muß. Genau ebenso, wie das Griechisch-Römische sich einmalzu wehren hatte gegen das Germanische, so muß sich das Slawischegegen das Germanische wehren; aber genau ebenso wie beim Über-gang vom Griechisch-Römischen zum Germanischen in der aufstei-genden Entwickelung, so bei dem Übergang vom Germanischen insSlawische in der absteigenden. Indem die eigentliche Mission der fünf-ten Kulturepoche von dem germanischen Element übernommen wor-den ist, war dieses germanische Element dasjenige, welches für diesefünfte Kulturepoche das eigentliche Verständnis des Christentums iminneren Erringen in die Erdenevolution einzufügen hatte und nochhaben wird. Und es wäre das größte Unglück geschehen, wenn auf dieDauer das germanische Element besiegt worden wäre von dem römi-schen, denn dann hätte nicht geschehen können, was durch die fünfteKulturepoche geschehen ist: Dieses germanische Element hatte ebendas persönliche Erringen darzuleben. Und es wäre das größte Unglück,wenn jemals das slawische Element das germanische besiegen würde.Merken Sie den Unterschied. Der trostloseste abstrakteste Schematis-mus wäre es, wenn man das als ein Unglück bezeichnen würde beimÜbergang von der fünften zur sechsten Kulturepoche, was man als einUnglück bezeichnen müßte beim Übergang von der vierten zur fünf-ten Kulturepoche. Der Sieg der Römer würde bedeutet haben: das Un-möglichmachen der Mission der fünften Kulturepoche; der Sieg desslawischen Elementes würde ebenso diese Unmöglichkeit bedeuten fürdie sechste Kulturepoche. Denn nur im passiven Annehmen desjenigen,was die fünfte Kulturepoche hervorbringt, kann der Sinn der sechstenbestehen.

Man muß fühlen, was ganz unabhängig von Ambitionen, von na-tionalen Aspirationen aus diesen Erkenntnissen heraus folgt, wenn dieseErkenntnisse Leben werden. Man muß aber auch sich klar sein dar-über, wie schwer das Verständnis wird für die Menschen, wenn dieWahrheit ihren Leidenschaften widerspricht, wenn eben die Wahrheitihren Aspirationen widerspricht. Wenn man durch menschlichen Ver-stand heute etwa von Mitteleuropa aus einen Westeuropäer oder einenEngländer überzeugen will, so tut man etwas, dessen Erfolglosigkeitman einsehen sollte, wirklich einsehen sollte, sofern es sich um natio-

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nale Gegensätze handelt. Auf rein geisteswissenschaftlichem Bodenverstehen wir uns als Menschen. Aber wenn man diesen Boden verläßtund auf die Völkerkämpfe eingeht, sollte man sich klar sein, welcheSchwierigkeiten dem gegenseitigen Verständnis gegenüberstehen. Eswird nur einen Weg geben, damit man zum Beispiel im französischenWesten Europas Verständnis gewinnen wird für das, was man eigent-lich tut. Es ist der Weg, der einmal aus der Erkenntnis entspringenwird, welche Unnatur es eigentlich ist, daß man jetzt im französischenWesten am Gängelband des europäischen Ostens sich vorwärtstreibenläßt. Erst die Erkenntnis dessen, was man selbst getan hat, wird einigesVerständnis über die Sache bringen, aber nicht das Wort, das von an-deren kommt, das von denen kommt, die auf einem anderen nationalenBoden stehen. Gefühlt, geahnt werden ja solche Dinge zuweilen, aberwieder vergessen. Denn die charakteristischsten Dinge, die sich abspie-len, die werden in der Regel vergessen. Wenn es doch gelungen wäre,daß man in den letzten vierzig Jahren immer wieder und wiederumjenen bedeutungsvollen Briefwechsel gedruckt hätte, der sich einmalabgespielt hat zwischen Ernest Renan, dem Franzosen, und DavidFriedrieb Strauß, dem württembergischen Deutschen! Es wäre nütz-lich gewesen, wenn man die maßgebenden Briefe, die gewechselt wor-den sind, nun, sagen wir, alle vier Wochen einmal den Menschen wie-derum ins Gedächtnis gerufen hätte: man würde dann einiges geahnthaben von dem, was da kommen mußte. Man braucht ja nur auf daseine in einem Brief Renans hinzuweisen, wo die Sehnsucht ausgespro-chen wird, mit Mitteleuropa zusammenzuwirken für die westeuropäi-sche Kultur: das war ein Impuls, der aus den Ewigkeitskräften her-ausfloß. Aber dann sagt Renan sogleich: Das widerspricht aber mei-nem Patriotismus. Denn wenn den Franzosen Elsaß-Lothringen abge-nommen wird, so kann ich als Franzose nur dafür sein, daß die west-liche Kultur gegen den Osten geschützt werde. Alles Spätere liegtschon in einem solchen Ausspruch im Keim; das ist der Keim dessen,was später geschehen wird. Es zeigt eben, daß auch ein aufgeklärter,erleuchteter Geist im Grunde genommen offen gestand: Ja, einsehenkann ich, wo der Weg liegt, der durch die ewigen Notwendigkeitenvorgezeichnet ist, aber mitmachen will ich ihn nicht, weil ich mehr

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Franzose als Mensch sein will. - Ich sage, man hat gefühlt, geahnt, wiedie Dinge liegen im Sinne der ewigen Notwendigkeit; aber man mußdurch Geisteswissenschaft allmählich lernen, den Ahnungen, den Ge-fühlen mit seinem Urteil nachzufolgen. Man muß lernen, wirklich mitdem Urteil dahin zu kommen, wo die wirklichen Tatsachen sind. Unddie wirklichen Tatsachen überschaut man nicht, ohne die geistige Weltzu durchschauen. Man kann es nicht, wenn man nicht zu dem seineZuflucht nimmt, was aus der geistigen Welt den Tatsachen ihre Evo-lutionsimpulse gibt.

Wir sehen, wie für uns das fruchtbar werden kann, was aus derGeisteswissenschaft heraus kommt, wie wir das Leben beleuchten kön-nen in seinen ernstesten Ereignissen, wenn wir das mit unserem Gemütvereinigen, was aus der wirklichen geisteswissenschaftlichen Erkennt-nis zum Beispiel über die nachatlantischen Kulturepochen folgt. Dagewinnen wir einen objektiven Maßstab, da gewinnen wir die Mög-lichkeit, über persönliche Aspirationen, auch auf dem heiklen Bodendes nationalen Erlebens, hinauszukommen. Und das ist das Eigentüm-liche des mitteleuropäischen Erlebens, daß dieses mitteleuropäischeErleben dem Menschen wirklich die Möglichkeit gibt, hinauszukom-men über das, was bloß national ist. Man versuche nur einmal sich klar-zumachen, wie in den aufeinanderfolgenden Kulturepochen gerade Mit-teleuropa - in jenem Ringen der menschlichen Seele in Mitteleuropa -im Persönlichen das Persönliche zugleich überwindet, da, wo es nichtauf den Boden von Leidenschaften und unmittelbar triebartigen Im-pulsen sich stellt.

Was Schönheit ist, haben gewiß auch andere Völker empfunden: soinnig nachgedacht über die Schönheit und die Stellung der Schönheitim menschlichen Erleben, wie Schiller in seinen «Ästhetischen Briefen»darüber nachdachte, hat man nur in Mitteleuropa. Kämpfe ausgefoch-ten haben gewiß auch andere Völker und werden es tun: so eingegrif-fen in einen Kampf, daß er die tiefsten philosophischen Impulse auf-gerufen hat, um den Kampf mit diesen Impulsen zu durchseelen, wiedas Fichte in seinen «Reden an die deutsche Nation» getan hat, das hatman nur in Mitteleuropa getan. Religiöse Kämpfe hat man auch an-derswo ausgefochten: so verbunden mit allen Zweigen menschlichen

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Erlebens, wie das der Fall war bei den religiösen Kämpfen in Mittel-europa, waren sie nirgends in der Welt.

Und nehmen Sie unsere anthroposophische Bewegung selbst, neh-men Sie sie so, wie wir sie unter uns entwickelt haben, wie wir in ihr -wenigstens eine Anzahl von uns - gerungen, gekämpft und auch ge-litten haben in den letzten Jahren. Wir waren eine Zeitlang verbun-den mit der theosophischen Bewegung englischer Färbung. Was wardenn der tiefe Impuls, der diese Verbindung mit jener theosophischenBewegung nicht weiter zuließ? Werden wir uns über das klar, meinelieben Freunde, was war der tiefe Impuls? Schauen Sie sich die Bewe-gung doch an. Was konnte dort zu jener Absurdität von dem Krishna-murti und dergleichen Torheiten führen? Das hat dazu geführt, daßdort die Überzeugung von dem spirituellen Leben wie ein äußeresElement angekoppelt ist an die übrige Kultur. Das sind zwei Dinge:da ist die äußere Lebensauffassung und die philosophische Lebensauf-fassung Englands, und dann angekoppelt daran, ohne daß die beidenviel miteinander zu tun haben, eine spirituelle Überzeugung. Man hatgar nicht einmal das Bedürfnis, die beiden miteinander zu durchdrin-gen. Hier verspüren wir, daß wir zu einer spirituellen Überzeugungnur kommen können, wenn sie uns sozusagen wie der Kopf aus demLeibe herauswächst, herauswächst aus alledem, was getrieben wurdedurch Johannes Tauler, Meister Eckhart, Angelds Silesius in der Mystikder mittelalterlichen Zeit, was durch deutsche Philosophie, durch deut-sche Dichtung hindurchgegangen ist an spirituellem Vorbereiten, wenndaraus notwendig herauswächst wie ein neues organisches Glied das-jenige, was wir wollen und wollen müssen. Wir können nicht das spi-rituelle Leben ankoppeln an das übrige, wir brauchen Lebensorganis-mus, nicht Lebensmechanismus. Man kann, ohne in Hochmut zu ver-fallen, solche Dinge sich klarmachen, denn man braucht Klarheit dar-über, wie das Spirituelle drinnenstehen muß im Leben, und wie mandurch das Spirituelle das übrige Leben erfassen, ergreifen kann. Wirmüssen als Bekenner der geisteswissenschaftlichen WeltanschauungSeelen werden können, welche so wollen, wie es im Sinne der ebengegebenen Charakteristik im mitteleuropäischen Geistesleben sein muß.Gewiß, auch da handelt es sich um ein Ringen; wirklich, darum han-

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delt es sich, daß man sagen möchte: Das Wahre muß erst dadurch er-rungen werden, daß die Irrtümer an beide Wegesränder gedrängt wer-den. - Wie manchmal ist es schwer zu erkennen, daß man die Irrtümeran beide Wegesränder drängen muß! Man konnte da im Erleben derletzten Jahrzehnte tragische Erfahrungen machen.

Ich möchte Ihnen anschaulich etwas hinstellen. Es hat ja insbeson-dere jetzt eine gewisse Bedeutung, so etwas hinzustellen, wie die natur-gemäße Verbindung der beiden mitteleuropäischen Länder zu unsererZeit heraufgekommen ist. - In Österreich lebte in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts einer der deutschesten Poeten, Robert Hamerling.Deutsch war er auch dadurch, daß er wirklich die ganze Welt in dereigenen Seele wieder zu gebären suchte. Bis auf Kain leitet er zurückdie irrende Menschenseele in seinem «Ahasver in Rom», und in derGegenüberstellung des Ahasver mit Nero versuchte er tiefe Rätsel derMenschenseele zu lösen. Das griechische Kulturleben versuchte er ausder deutschen Seele wiederzugebären in seiner «Aspasia». Jene Vertie-fung, welche zu einer gewissen Zeit gesucht worden ist im religiösenLeben, suchte er in seinem Wiedertäufer-Epos «Der König von Sion»für sich als Lebensrätsel zu lösen. Dasjenige, was an fortbewegendenImpulsen in der Französischen Revolution war, versuchte er sich klar-zumachen in seinem Drama «Danton und Robespierre». Und endlich,die in die Zukunft hineingehenden, das Geistige überdämmenden Im-pulse versuchte er klarzulegen in seinem «Homunculus». Aber ichkönnte vieles anführen, um zu zeigen, wie Robert Hamerling so rich-tig ein mitteleuropäischer, ein deutscher Geist war. Dieser Robert Ha-merling hat einen großen Teil seines Lebens im Bette zugebracht; diedrei letzten Jahrzehnte war er fast immer krank. Die größten Werkeschrieb er unter Schmerzen im Bett. Aber niemand merkt es diesenWerken an, daß ein Schwerkranker sie geschrieben hat. Alles ist ge-sund; man kann sonst darüber urteilen, wie man will, aber alles istgesund. Gewiß, die Werke haben eine größere Anzahl von Auflagenerlebt; aber in den achtziger Jahren - ich könnte sagen, da trat mirgeradezu wie symbolisch anschaulich vor Augen, was ein solcher Geistfür einen Teil der Menschheit Mitteleuropas hätte werden können,wenn seine Impulse in die Seelen eingeflossen wären. Als man einmal

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gerade über solche Dinge, wie sie durch Robert Hamerling eintratenin die Geistesentwickelung, in einer Gesellschaft sprach, da kam einMensch herein, der gewohnt war, gerne hauptsächlich sich selbst zuhören und nicht viel zu achten auf das, was die anderen sagen - es gibtja solche Menschen, die sich gerne selbst hören. Wie mit einem Bom-benschlag erklärte er: das Größte, was in die Menschheit eintrete, dassei «Raskolnikow» von Dostojewskijl Gewiß, man braucht nicht dieeigenartige Größe des Raskolnikow von Dostojewskij zu verkennen,aber das Hängen am Materiellen, an der Seele, die im Materiellen stecktund das Geistige außen läßt, das kontrastiert gewaltig gegen die Durch-dringung von Geistigem und Materiellem, die Hamerling suchte. Esmag gewiß interessanter und sensationeller sein, die Seele anzuschauen,die nicht aus dem Materiellen heraus will und die Dostojewskij sograndios schildert, aber für den mitteleuropäischen Menschen bedeutetdas Erkennen der Durchdringung des Geistigen und des Leiblichen einErkennen seiner ganzen Wesenheit und seiner ganzen Aufgabe. Auchda muß gerungen werden.

Zu dem äußeren Kampf wird der innere kommen, jener innereKampf gegen die widerstrebenden Mächte, die sich aufbäumen, dasSpirituelle anzuerkennen. Erleben wir doch jetzt schon die sonder-barsten Tatsachen: Von einer Seite her sind wir ermahnt worden,doch nicht gar zu sehr darauf zu achten, wie sich jetzt die geistigenPotenzen in Europa gegenüberstünden; denn wenn das rein Deutschesiegte - von deutscher Seite sind wir ermahnt worden! -, so würde mandann ja auch wiederum ein Aufleben befürchten müssen solcher Ideen,wie sie ein Hegel, Fichte, Schelling, Goethe hervorgebracht haben: einmetaphysisches Träumen würde man befürchten müssen. - Es ist eineeigentümliche Furcht, von der da gesprochen wird; aber diese Furchtkönnte immer größer werden, und diejenigen, die diese Furcht haben,die werden das Spirituelle allerdings nicht annehmen können. In Wahr-heit aber muß eingesehen werden, daß der Idealismus Mitteleuropas,so wie das Kind zum Manne, sich entwickein muß zum Spiritualismus;denn dieser Idealismus Mitteleuropas ist das Kind des Spiritualismus,das Kind, das zum Spiritualismus werden soll. Als Fichte sprach, spracher noch bloß vom Idealismus, aber von einem solchen Idealismus, der

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zum Spiritualismus hinstrebt. Dieser Impuls des Spiritualismus darfnicht aus der Erdenevolution verschwinden.

Mit diesen einfachen Worten kann man vieles vom Sinne der Zeitzum Ausdruck bringen. Geahnt, gefühlt haben ja einzelne Menschensolche Dinge. Aber diese Ahnungen gehen vorüber, ohne in ihrer Tiefegenommen zu werden, ohne daß das Schwergewicht darin gesehenwird. Man versäumt, Nebensächliches an Hauptsächliches anzuknüp-fen. Und darum handelt es sich, daß man die großen Linien nicht ausden Augen verliert, daß man wirklich sieht, was in den Strömungen,die über die Erdenentwickelung hingehen, das Wesentliche ist. Undzum Wesentlichsten kommen wir, wenn wir uns belehren lassen durchdasjenige, was diese Erdenentwickelung uns im spirituellen Lichtezeigt. In dem besonderen Fall, wenn wir wirklich ernst nehmen dieLehre von den aufeinanderfolgenden nachatlantischen Kulturepochen -immer wieder und wiederum muß es gesagt werden -, sollten die Men-schen über jenen engen Standpunkt hinauskommen, welcher die Haupt-sache nicht sehen kann.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Unter uns ist es notwendig,auf solche Dinge aufmerksam zu machen. Nehmen wir an, es würdejemand heute das Folgende sagen, und versuchen wir dann, uns Ge-danken darüber zu machen, daß jemand heute das sagen würde: Wasmich betrifft, so bin ich keinen Augenblick im Zweifel, daß ein Kon-flikt zwischen der germanischen und slawischen Welt bevorsteht, daßderselbe sich entweder durch den Orient, speziell die Türkei, oderdurch den Nationalitätenstreit in Österreich, vielleicht durch beide,entzünden, und daß Rußland in demselben die Führerschaft auf dereinen Seite übernehmen wird. Diese Macht bereitet sich schon jetzt aufdie Eventualität vor; die nationalrussische Presse speit Feuer undFlamme gegen Deutschland. Die deutsche Presse läßt schon jetzt ihrenWarnungsruf erschallen. Seitdem nach dem Krimkriege Rußland sichsammelte, ist eine lange Zeit verflossen, und wie es scheint, wird esjetzt in Petersburg zweckmäßig gefunden, die orientalische Frage wie-der einmal aufzunehmen.

Wenn das Mittelmeer einst, nach dem mehr pompösen als wahrenAusdruck, «ein französischer See» werden sollte, so hat Rußland die

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noch viel positivere Absicht, aus dem Schwarzen Meer einen «russi-schen See» und aus dem Marmarameer einen «russischen Teich» zu ma-chen. Daß Konstantinopel eine russische Stadt, Griechenland ein di-rekter Vasallenstaat Rußlands werden müsse, ist ein feststehender Ziel-punkt der russischen Politik, die ihren Unterstützungshebel in der ge-meinsamen Religion und in dem Panslawismus findet. Die Donauwürde dann am Eisernen Tor etwa von dem russischen Schlagbaumgeschlossen werden. -

Nehmen wir an, einer würde so sprechen. Man könnte dann sagen:Nun ja, dann ist er eben jetzt belehrt worden durch das, was geschehenist -, und es könnten doch diejenigen recht haben, die emphatisch pre-digen, der Krieg sei nur von Mitteleuropa gewollt worden und habesich nicht vom Osten aus mit Notwendigkeit vorbereitet. - Aber dasist geschrieben 1870! Und überhaupt ist nicht ein Jahr vergangen, wonicht solches hätte geschrieben werden können. Wie töricht ist es zuglauben, daß man nicht bei den werdenden Kräften, die durch langeZeiten gespielt haben, die Ursache zu suchen habe zu dem, was heutesich abspielt! Diese Worte sind 1870 geschrieben, während des fran-zösischen Krieges. Zu glauben, daß die Dinge nicht hätten kommenmüssen, und zu glauben, daß nicht alle Impulse gegeben waren vomOsten her, das ist, im gelindesten gesagt, unhistorisch, ein Verkennenall desjenigen, was wirklich wirksame Kräfte sind. Das darf eben nichtsein und muß durch Geisteswissenschaft verhindert werden, daß immerwieder und wiederum die Menschen, auch die Journalisten, so urteilen,als ob vor fünf oder sechs Monaten erst die Anfänge derjenigen Ereig-nisse sich gebildet hätten, die sich jetzt abspielen! Wenn die Menschendurch Geisteswissenschaft dahin geschult werden, zu wissen, daß dasGroße sich im Kleinen vorbereitet, und daß nur aus dem Großen her-aus das Kleine beurteilt werden kann, dann wird für das gewöhnlicheLeben auch etwas aus der Geisteswissenschaft errungen werden kön-nen, dann wird in diesem gewöhnlichen Leben vorbereitet werden das-jenige, was uns die Geisteswissenschaft zum Erleben macht.

Ich habe sprechen wollen, ja, ich könnte sagen, ich habe zu Ihnen

sprechen müssen in diesem heutigen einleitenden Vortrag wiederum von

einem gewissen Gesichtspunkte, der herausgefordert ist durch die Erleb-

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nisse der Zeit, ich habe von dem sprechen müssen, was uns Geisteswis-senschaft für die Beurteilung der Welt und unsere Stellung zur Weltwerden soll. Ich habe davon sprechen müssen. Im Grunde genommenmüssen wir uns immer wieder und wiederum diese Mahnung zuteil wer-den lassen: ernst, tiefernst dasjenige zu nehmen, was Geisteswissenschaftuns geben will, und nicht sozusagen zwei Leben leben zu wollen: das-jenige Leben, wo wir einmal uns die Dinge der Welt im geisteswissen-schaftlichen Sinne erklären, und dasjenige Leben, wo wir wiederum inder Alltäglichkeit aufgehen und es so machen wie andere Leute auch.Aber weniger durch Worte als durch die Art, wie ich die Dinge ausein-andergesetzt habe hier in diesem engeren Kreise, möchte ich in Ihnen dasGefühl und die Empfindung hervorrufen, daß diese Worte wirklichnicht sein wollen etwas anderes als ewige Wahrheiten in dem Sinne, daßewige Wahrheiten auch die individuellsten sind. Zu Ihnen, meine lie-ben Freunde, mit Ihren Gefühlen hier in Süddeutschland, sind dieseWorte gesprochen, mit jener Gefühlsnuance, die diesen Worten hierzukommen muß. Und wenn es genügte, daß diese Worte nun einfachnachgeschrieben werden und überall vorgelesen werden vor Leuten mitanderen Lebenszusammenhängen, dann könnte es ja auch genügen,wenn ich bloß meine Worte aufschriebe und nicht herumreiste. Daßdie Worte aus Gefühls- und Empfindungszusammenhängen heraus ge-sprochen werden müssen, weil überall da, wo sich Menschen zusam-menfinden, eine gemeinsame menschliche Aura ist, aus der heraus ge-sprochen werden muß, das müssen wir endlich im spirituellen Lebeneinsehen. Darauf kommt es an, daß wir die Dinge ins Leben überfüh-ren, nicht daß man die Phrase mache, man müsse die Dinge ins Lebenüberführen, sondern daß man sie wirklich ins Leben überführt. Unddazu gehört, daß man sie wirklich individuell nimmt. Die Dinge ge-schehen ja individuell, weil sie individuell geschehen müssen. Und esist ein abstrakter Glaube, wenn man annimmt, daß zum Beispiel das-jenige, was ich übermorgen im öffentlichen Vortrage sagen werde injenem Hause, das vis-a-vis liegt dem Hause, an dem sich die Gedenkta-fel für Hegel befindet, daß das, was im lebendigen unmittelbar Indivi-duellen drinnen steht, daß das abstrakt für alle Empfindungsnuancen,gleichsam zur Bekehrung der ganzen Welt gesprochen sein soll. Man

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muß auch einsehen, daß das, was der eine begreifen kann, der anderenicht begreifen kann. Und müssen schon die anthroposophischen Vor-träge einen gewissen individuellen Charakter da und dort tragen, soist das dann in einem noch erhöhteren Maße der Fall, wenn man soernsten Dingen gegenübersteht, wie wir es jetzt tun. Nur dann aber,wenn man es mit der Wahrheit ernst nimmt, und wenn man nichtglaubt, daß dasjenige, was lebt, mit Worten erfaßt werden kann, dieleblos und regungslos sind und deshalb überall hingetragen werdenkönnen, nur dann wird man gerade das allgemein Gültige verstehen,das im Allerindividuellsten ist. Ich mochte, daß Sie auch einmal überdiese Seite des Lebens nachdenken. Es wird ein Weg dazu sein, daßdasjenige, was ich in meiner Art aus der geistigen Welt zu holen habe,in Ihren eigenen Seelen sich auf Ihre Art belebe, daß es nicht bloß eineWiederholung desjenigen ist, was in mir auf meine Art auftreten muß.Denn wie sich das Sonnenlicht in jedem Steinchen anders spiegelt unddoch immer dasselbe Sonnenlicht ist, weil es im Leben drinnensteht,so muß Geisteswissenschaft etwas werden, das in jedem einzelnen an-ders lebt und doch immer und immer dasselbe ist. In dem Engländer,Franzosen, Russen, Deutschen kann nicht auf eine Art, wenn es sichum die nationalen Dinge handelt, Geisteswissenschaft leben, und durchdasjenige, wodurch sich die Empfindung des einen am fruchtbarstenbelebt, kann der andere nicht bekehrt werden. Solche Bekehrungssuchtentsteht aus dem theoretischen Hang unserer Zeit. Was die äußere reinmaterielle Wissenschaft tun kann, daß sie alles über einen Leistenschlägt, das kann beim Spirituellen nicht der Fall sein, weil es ein Le-bendiges ist, und weil ich zu Ihnen so sprechen muß, wie es von mirnicht ein abstrakter wissenschaftlicher Geist fordert, sondern wie essich in mir belebt, indem ich gerade vor Ihnen stehe. Denn nicht ausmeinem Herzen, aus Ihrem Herzen heraus tue ich es, so gut ich eskann. Und dienen möchte ich dem geisteswissenschaftlichen Impuls,der denjenigen, welcher in die geistige Welt etwas hinaufschauen kann,anweist, sich auszuschalten und auszusprechen, was in den Tiefen derSeelen derjenigen liegt, die ihm zuhören. In gewissem Sinne darf ge-sagt werden: Was ausgesprochen wird in dieser oder jener Betrachtung,es entspringt aus den Tiefen der Seelen der Zuhörer. Denken Sie auch

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über dieses nach! Wir müssen die Geisteswissenschaft nehmen als etwas,was lebt, und nicht als ein Abstraktes gewußt wird. Das abstrakt Ge-wußte spricht zu unserem Hochmut, spricht zu unserem Eigensinn, dersich so gern in Überredungskunst auslebt. Was spirituell ist, will ein-fach mitgeteilt sein. Und es wollte mitgeteilt sein, was ich mitzuteilenhabe, und wenn hier kein einziger säße, der mir auch nur ein Sterbens-wörtchen glaubte. Wenn wir hingehen zu dem anderen mit der Mei-nung, ihn durchaus überreden zu wollen, mit der Meinung, daß er un-sere Meinung annehmen soll, so erleben wir schon nicht richtig spiri-tuell. Und dieses Erleben, dieses Erfassen im unmittelbaren Erlebender geistigen Welt, das wird die Aura hervorbringen, die die Mensch-heit in der Zukunft haben muß.

Immer wieder und wieder muß es gesagt werden: Was wir jetztunter Strömen von Blut erleben, es wird für die Menschheit nur dasbedeuten, was es bedeuten soll, wenn sich wirklich etwas ganz Neuesauch in der Kultur, in der Menschheit zeigt. Dieses Neue aber wirdaufsprießen, wenn Menschen da sind, aus deren Seelen spirituelle Ge-danken aufsteigen; diese Gedanken sind Mächte. Und in die Atmo-sphäre, die erzeugt wird, wenn die Dämmerung des Krieges vergangenund die Friedenssonne wieder leuchten wird, müssen die Gedankeneinfließen, die in den geistigen Horizont hinein sich ergießen. Dannwerden diejenigen, deren Seelen hinunterschauen, diejenigen, die früh-zeitig ihre Leiber verlassen mußten auf den Schlachtfeldern, die wer-den wissen, wofür sie eigentlich gefallen sind auf den Schlachtfeldern.Und der Anthroposoph muß sich sagen, er durchlebt diese Zeit nur imrichtigen Sinne, wenn er diesen Charakter des geisteswissenschaftlichenStrebens eben lebendig aufnimmt. Wenn gewisse Seelen im Bewußtseindes Geistes ihren Sinn ins Geisterreich schicken, dann wird wirklichaufsteigen aus unserem Blutes-Horizont ein Lichtes-Horizont für diezukünftige Entwickelung der Menschheit.

Davon wollen wir dann, ein spezielles Thema besprechend, morgenweiter fortfahren. Für heute aber wollen wir die Gedanken vor unsereSeele rücken, die Gedanken, die uns zusammenbringen mit den ernstenEreignissen der Zeit:

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Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen GeistesfruchtLenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

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D R I T T E R VORTRAG

Stuttgart, 14. Februar 1915

Ich kann mir leicht vorstellen, daß jemand aus den Betrachtungen,die gestern hier angestellt worden sind, die Schlußfolgerung zieht, daßdiejenigen Persönlichkeiten, welche den Menschengruppen, den Völ-kern angehören, die erst in der sechsten Kulturperiode ihre besondereMission empfangen sollen, weil sie - wie der gestrige Ausdruck lau-tete — der Zeit angehören, in der die Entwickelung bereits in absteigen-der Linie erfolge, geringer bewertet seien als diejenigen, die Angehö-rige sind von Menschengruppen der aufsteigenden Entwickelung. Ichsage, ich kann mir leicht vorstellen, daß jemand diese Schlußfolge-rung zieht. Mit anderen Worten: Ich kann mir leicht vorstellen, daßgerade aus all dem, was gestern gesagt worden ist im Anschluß anandere Bemerkungen, jemand erst recht ein Werturteil fällt unter demEindruck von allerlei Emotionen und Gefühlen. Und so kann es sicherfüllen, worauf ich ja aufmerksam machte, daß dasjenige, was insbe-sondere in bezug auf diese Dinge an einem Orte gesprochen wird, ananderen Orten mißverstanden werden muß. Nicht etwa deshalb, weiles gefärbt ist nach den Bedürfnissen eines Ortes oder bestimmter Men-schen, sondern weil es nicht aufgefaßt wird mit der nötigen Objek-tivität, sondern mit Leidenschaft und allerlei nationalen Aspirationen.Es könnte dann jemand sagen: Also hast du ja doch nur Worte ge-braucht, um gewissermaßen der mitteleuropäischen Kultur zu schmei-cheln, und wir fühlen uns, die wir der osteuropäischen Kultur ange-hören, tief beleidigt von dem, was da gesagt worden ist. - Ja, wenn einsolches Urteil gefällt wird, so beweist es nur, daß dasjenige dann ein-tritt, was ich gestern gerade versuchte so darzustellen, daß es eben vomgeisteswissenschaftlichen Empfinden abgelöst werden muß, so abge-löst werden muß, daß sich rein theoretisches, rein abstraktes Denkenumwandelt in unmittelbares Erleben, daß uns dasjenige, was sonstbloß unserem Wissen angehört hat, empfindungsgemäß und erlebens-gemäß nahetritt.

Wer so urteilen würde, wie eben angedeutet, der würde nur theo-

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retisch abstrakt urteilen. Denn wie würde das konkrete, das ins Erlebenübertretende Urteil in einem solchen Falle lauten? So würde es lauten,daß wir eben - wenn das, was auseinandergesetzt wurde, wahr ist -einer Zeit entgegengehen, wo diejenigen, die da folgen wollen demFortschritt der Kulturmission, nicht mehr aufgehen dürfen in dembloß nationalen Erleben. Die fünfte Kulturepoche war gerade durchihre Eigentümlichkeit dazu geeignet, daß die ihr angehörigen Persön-lichkeiten in einer gewissen Weise aufgingen in dem nationalen Emp-finden und sich wiederum persönlich aus ihm hinausrangen. Die sechsteund siebente Kulturepoche werden so sein, daß diejenigen, die bloßnational sein wollen, zurückbleiben hinter den Aufgaben der Mensch-heit. Aber dies ist ja der Grund, warum wir geisteswissenschaftlicheWeltanschauung treiben: daß die Menschheit sich herausringe aus dembloß nationalen Empfinden, aus demjenigen Empfinden, das nicht all-gemein menschliches Empfinden ist. Also, was geschlossen werden mußaus dem gestern Gesagten, es ist etwas ganz, ganz anderes. Es ist: daßdie mitteleuropäischen Nationalkulturen diejenigen sind, die als Na-tionalkulturen Impulse in sich haben, welche zusammenfallen mit dergroßen Sendung der nachatlantischen Kultur, daß aber dann Kulturenkommen, die ein Herauswachsen der Menschen aus den nationalen Im-pulsen notwendig machen, und daß es nicht geht, wenn diejenigen, dieheute die Vorzügler sind - man sagt ja «Nachzügler», warum sollteman nicht sagen «Vorzügler» - der späteren Kulturen, ganz in ihremnationalen Erleben, und zwar mit Prononcierung, aufgehen, wie es vonder Bevölkerung Osteuropas geschieht. Mit anderen Worten: Da sie indiesem nationalen Empfinden noch nicht ihre Sendung empfangenhaben, sind sie darauf angewiesen, das, was als Geisteswissenschafterzeugt wird, in sich aufzunehmen, um über das Nationale hinauszu-wachsen. Lebendiges Verstehen ist auch da notwendig.

Allerdings, man wird schwerlich in unserer heutigen Zeit, in dersich die Leidenschaften und Vorurteile so gegenüberstehen, dasjenigefinden können, was notwendig ist, damit die Menschen auf den Bodender ja wahrhaftig Objektivität erstrebenden Geisteswissenschaft sichvoll stellen können, sich voll stellen können auf den Boden des reinMenschlichen. Geisteswissenschaft, wir treiben sie, damit gerade etwas

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sich ausbreite über die ganze Erde, was über alle Differenzierungenhinausgeht, und deshalb sollten diejenigen, die sich der Geisteswissen-schaft zuwenden aus allen Nationen heraus, objektives Verständnis ge-winnen können für so etwas, wie es ja auseinandergesetzt worden istin jenem Vortragszyklus, der den Titel trägt «Die Mission einzelnerVolksseelen», der überall, wo es Anthroposophen gibt, studiert werdensollte. Seine Bedeutung hat er ja auch gerade dadurch, daß er Jahrevor diesem Krieg gehalten worden ist, so daß ihm niemand vorwerfenkann, er sei aus der Stimmung dieses Krieges heraus erzeugt worden.Nicht darauf kommt es eben an, daß, was da oder dort gesprochenwird, nicht allgemeingültige Wahrheiten enthielte, sondern daraufkommt es an, daß man einsehen muß, wie man diese Wahrheiten nichtüberall verträgt. Als ich vor Monaten hier gesprochen habe, da habeich darauf aufmerksam gemacht, daß wir in Mitteleuropa es gewisser-maßen leicht haben, objektiv zu sein, leichter als die anderen. Warumwir es leichter haben, das geht gerade aus jenem Vortragszyklus auchhervor. Alles, was die tieferen Lehren unserer ernsten Ereignisse sind,weist uns darauf hin, daß aus den verschiedensten Untergründen un-serer gegenwärtigen Weltenkultur etwas sich herausentwickeln muß,das zusammenfällt mit unserem geisteswissenschaftlichen Streben. Ingewisser Beziehung kann man sagen: Diese ernsten Ereignisse sindetwas wie eine mächtige Hindeutung auf die Notwendigkeit geisteswis-senschaftlichen Erlebens in der Welt. Sie beweisen, daß dieses geistes-wissenschaftliche Erleben kommen muß. Daher kann selbstverständ-lich das doch nur etwas Sekundäres für uns sein, was zu den unmittel-baren Empfindungen eines Ortes gehört; unsere eigentliche Aufgabeist, dasjenige in unser seelisches Erleben überzuführen, was jetzt schonüberall verstanden werden kann ohne innere Anstößigkeit, trotzdemauf so vielen Gebieten eben Vorurteile über Vorurteile vorhanden sind.

Dasjenige, was Anschauungen sind aus der Geisteswissenschaft her-aus über das allgemein Menschliche im Menschen, das bereitet uns jaauch vor, objektiv all das übersehen zu können, in das wir durch dieErdenentwickelung, die Weltenentwickelung hineinversetzt sind. Denndieses, wohinein wir versetzt sind, ist gewissermaßen der Boden, ausdem wir herauswachsen, und dasjenige, wodurch wir herauswachsen

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sollen, sind die Impulse, die wir durch die Geisteswissenschaft auf-nehmen. Im Grunde genommen sind wir ja doch nur mit der einenHälfte unseres Wesens in all den Differenzierungen drinnen, die überdie Erde hin verbreitet sind, mit unserem physischen Leibe und unseremÄtherleibe, die wir gewissermaßen der Erde auch zurücklassen, wennwir in den anderen Bewußtseinszustand eintreten, den wir als Schlafbezeichnen können. Mit dem Ich und dem Astralleib aber gehen wirdann heraus aus unserem physischen Leib und Ätherleib und sind dannmit unserem Ich und Astralleib in der Welt, die der Mensch sonst be-tritt, wenn er durch die Pforte des Todes geht, in der Welt, wo alleirdischen Differenzierungen aufhören, in der Welt, in welche uns dieErkenntnisse der Geisteswissenschaft eben einführen sollen. Wer In-itiationserkenntnisse zu seinen eigenen Erkenntnissen machen kann, derist durch diese Initiationserkenntnisse wahrhaftig schon geschützt da-vor, in einseitiger Weise irgendeinem der Volksgeister einen besonderenVorzug zu geben. Denn, wie kommen wir denn mit dem besonderenVolksgeist in Berührung, dem wir angehören?

Wenn wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen in der geistigenWelt weilen mit unserem Ich und Astralleib, da sind wir mit unseremVolksgeist, mit dem Volksgeist, der unserer Nationalität gewisser-maßen vorsteht, nicht in Berührung, sondern wir sind nur in Berüh-rung mit diesem Volksgeist während unseres wachen Tageslebens, vomAufwachen bis zum Einschlafen. Unter den Kräften, in die wir unter-tauchen, wenn wir in den physischen Leib und den Ätherleib unter-tauchen, sind auch die Kräfte, in die hineinarbeitet der Volksgeist desVolkes, dem wir angehören. Wir betreten sozusagen das Feld diesesVolksgeistes, indem wir aufwachen; wir verlassen es wieder, wenn wireinschlafen. Derjenige aber, welcher Initiationserkenntnisse sich er-wirbt, der muß ja gerade während dieser Erwerbung in der Welt wei-len, in der sein Volksgeist gerade nicht ist, denn er muß eintreten indie Welt, in der wir leben zwischen Einschlafen und Aufwachen. Undda stellt sich denn etwas Besonderes heraus. Nehmen wir an, einMensch gehört also einem ganz bestimmten Volke an. Jeder gehörtja einem solchen an, indem er sich zu einer bestimmten Nationalitätrechnen muß. Wenn der Mensch nun mit dem Einschlafen die Sphäre

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seines Volksgeistes verläßt, dann steht er eben mit diesem Volksgeistnicht mehr in Berührung, bis er wieder aufwacht. Da hinein begibtsich auch derjenige, der sich Initiationserkenntnisse erwirbt, und erkommt zusammen während der Zeit vom Einschlafen bis zum Auf-wachen mit den anderen Geistern der Völker, die sonst auf der Erdeleben, nur nicht mit seinem eigenen Volksgeist. Also man durchlebt einZusammensein mit den anderen Volksgeistern in der Zeit zwischenEinschlafen und Aufwachen, und mit seinem Volksgeiste in der Zeitzwischen Aufwachen und Einschlafen. Nur ist das Zusammenlebenmit den anderen Volksgeistern nicht so, daß man mit jedem einzelnenlebt, sondern man lebt mit ihrer Verbindung, gleichsam mit ihrer Ge-nossenschaft, mit dem, was sie im Verhältnis zueinander vollbringen,mit der Gesamtheit der übrigen Volksgeister.

Also denken Sie sich, das menschliche Leben wechselt ab - so sagtuns die Initiationserkenntnis - zwischen einem Erleben mit dem Volks-geiste im Wachzustand und einem Erleben mit der Gesamtheit der an-deren Volksgeister im Schlafzustand. Nur gibt es ein Mittel gleich-sam, wodurch wir ein abnormes Zusammenleben haben mit den ande-ren Volksgeistern, wodurch wir nicht mit ihrer Gesamtheit zusammen-kommen im Schlafe, sondern mit einem besonderen Volksgeiste zusam-menkommen. Das ist, wenn wir ein Volk besonders leidenschaftlichhassen. Das ist das Abnorme: Wir können dem nicht entgehen, wennwir ein Volk besonders hassen, daß wir während des Schlafes in dieSphäre seines Volksgeistes kommen. Und derjenige, der sich Initia-tionserkenntnisse erwirbt, der würde, wenn er ein Volk aus rein per-sönlichen nationalen Gründen besonders haßt, in die Sphäre seinesVolksgeistes sich begeben, gerade wenn er in das Feld der Initiation ein-tritt, und es würde sich für ihn sehr bald die Unmöglichkeit ergeben,da drinnen ordentlich zu weilen. Trivial ausgedrückt, könnte ich sagen:Wer aus nationalen persönlichen Leidenschaften heraus ein anderesVolk besonders haßt, ist dazu verurteilt, mit dessen Volksgeist zu schla-fen. Das ist trivial ausgesprochen, aber ganz wörtlich zu nehmen.

Die Tatsachen der geistigen Welt, die sorgen schon dafür, daß dasganze Menschengeschlecht eine Einheit ist, und daß ein Sich-Her-aussondern nicht möglich ist. Aber wenn wir solche Tatsachen ins Auge

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fassen, dann können wir daraus so manches lernen. Wir sprechen jadavon, daß die Welt, in der wir äußerlich mit unseren Sinnen und mitunserem Verstande, der an das Gehirn gebunden ist, leben, eine großeTäuschung, eine Maja ist; aber auch diese Wahrheit, daß die Welt eineMaja ist, wir nehmen sie allzu abstrakt, wir nehmen sie bloß theore-tisch. Ich möchte sagen, wir lassen uns noch herbei, diese Wahrheit ver-standesmäßig zu fassen. Sie lebensvoll zu erfassen, dem widerstrebt nichtnur unser Verstand, sondern oftmals sogar unser Wille. Denn dasje-nige, was hinter der Welt der Täuschung ist, es sieht so aus, daß wirnicht wollen, daß es so ausschaue. Wir scheuen uns davor, wir fürchtenuns davor, weil uns die Wahrheit unbequem ist. Zu wissen, daß dieganze Menschheit im konkreten Sinne eine Einheit ist, das ist ja nichtbequem, denn es gestattet nicht, daß man in einseitiger Weise Gefühleund Enthusiasmen so betrachtet, wie sie heute vielfach betrachtet wer-den, sondern es belehrt uns darüber, was das in der Welt der Wirklich-keit bedeutet. Das aber ist unbequem. Der Wille scheut oftmals nochmehr vor der Wahrheit zurück als die Einsicht, als der Verstand. Dar-um braucht man sich nicht zu wundern, wenn in unserer Zeit die Wahr-heiten der Geisteswissenschaft noch vielfach als Narretei gelten, denndie Narretei der Zeit fürchtet sich vor der Weisheit der Welt. Hinterdie Erscheinungen zu blicken, das gibt aber erst die Möglichkeit, zuverstehen, was eigentlich geschieht. Ich habe gestern bereits daraufhingewiesen und will nun in einem speziellen Falle es noch ausführen.

Wenn wir den Menschen verfolgen, wie er durch die Pforte desTodes in die geistige Welt hineingeht, in der er die Zeit zwischen demTode und einer neuen Geburt durchlebt, um sich vorzubereiten für einneues Erdenleben, dann müssen wir uns klar werden, inwiefern er inseinem Leben zwischen Tod und neuer Geburt beeinflußt wird vonseinem letzten Erdenleben, inwiefern er gleichsam mitbringt durch diePforte des Todes in das geistige Leben hinein die Nachklänge, dasNachtönen des letzten Erdenlebens. Wir wissen ja, daß der Mensch,wenn er durch die Pforte des Todes schreitet, hindurchträgt durch diesePforte des Todes zunächst, nachdem er seinen physischen Leib denErdenelementen übergeben hat, seinen Ätherleib, den Astralleib unddas Ich. Wir wissen auch, daß dieser Ätherleib sich bald, sehr bald

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trennt von Ich und Astralleib, mit Ausnahme eines Extraktes, der da-von zurückbleibt, und daß der Ätherleib sich mit dem allgemeinenWirken des Kosmos ätherisch verbindet. Das alles haben wir ja öftersins Auge gefaßt. Nun aber ist es so, daß der Mensch nach dem Todedurch seine Erkenntnisse, seine nach dem Tod ihm bleibenden Erkennt-nisse dennoch zurückschaut auf die Schicksale des Ätherleibes, und daßdiese Schicksale für ihn etwas bedeuten. Es bedeutet für den Menschennach dem Tode etwas, wenn er anschaut die Schicksale seines Äther-leibes, die so verlaufen, daß dieser Verlauf eine Art Resultat des Er-denlebens ist. Und dieses Resultat, dieses Ergebnis des Erdenlebensstellt sich verschieden heraus für die verschiedensten Verhältnisse derErde, unter anderem auch für das verschiedene Erleben im Nationalendarinnen. Ganz anders stellen sich die Erdenreste, die für den Men-schen eine Bedeutung haben nach dem Tode, sagen wir, bei einer Seele,die aus einem französischen Körper herausgeht und übergeht in diegeistige Welt, und ganz anders bei einer solchen Seele, die heute auseinem russischen Leibe in die geistige Welt übergeht. Seelen, die auseinem französischen Leibe heute herausgehen, gehören einer Kulturan, die gewissermaßen reif und überreif geworden ist, die vieles die-sen Ätherleib erleben laßt auf der Erde. Das Eigentümliche der fran-zösischen Volkskultur - nicht die Kultur des einzelnen - besteht darin,daß der Ätherleib selber durcharbeitet wird, durchtränkt wird mitKräften und Kraftwirkungen, und in einer sehr scharf geprägten Weisedaher durch die Pforte des Todes tritt, und dann drinnen ist in dergeistigen Welt. Solche Ätherleiber lösen sich lange nicht auf, sie blei-ben lange als Spektren vorhanden. In seiner Vorstellung hat der An-gehörige des französischen Volkstums, insofern er ihm angehört, eineganz bestimmte Meinung von sich, von dem, was er gilt in der Welt.Das ist aber nichts anderes als die Spiegelung von den fest arbeitendenKräften im Ätherleibe. Der Ätherleib ist plastisch fest gebildet undtritt so über in die geistige Welt.

Ganz anders ist das bei einem Ätherleib eines russischen Menschen.Der hat nicht eine so feste Prägung, der ist gewissermaßen elastischer,er löst sich in der geistigen Welt leichter auf; daher sind die Seelendurch ihn weniger gefesselt. Während durch das Hinschauen auf den

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aus einer Hochkultur hervorgehenden Ätherleib des Franzosen diefranzösische Seele länger sozusagen verbunden ist mit dem Ätherleibe,ist die Seele des russischen Menschen nur kurz verbunden mit demÄtherleibe. Es bedeutet das, was der Ätherleib durchmacht nach demTode, weniger für diese Seele des Ostens. Das aber hat eine sehr be-stimmte, tiefgehende, bedeutsame Wirkung für das, was gewisserma-ßen hinter den Kulissen unseres Daseins in der Gegenwart geschieht.Die Schicksale der russischen Seele sind ja ganz andere als die Schick-sale der französischen Seele in der Zeit zwischen dem Tode und einerneuen Geburt.

Nun wissen wir ja aus den verschiedensten Betrachtungen, daß wirentgegengehen im 20. Jahrhundert dem ätherischen Wirken des Chri-stus-Geistes. Hingewiesen ist darauf schon im exoterischen Sinne ander entsprechenden Stelle des Mysteriendramas «Die Pforte der Ein-weihung» von der Wiedererscheinung des Christus als ätherische Kör-perlichkeit. Und hingewiesen ist darauf auch schon in verschiedenenBetrachtungen, daß dieses Erscheinen des Christus für diejenigen Men-schen, die fähig sein werden, ihn zu schauen, vorbereitet wird seitdem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, indem der wirkende Zeitgeistseit dieser Zeit ein anderer ist als früher. Durch Jahrhunderte vorherwar Gabriel der wirkende Zeitgeist; seit dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts ist Michael der wirkende Zeitgeist. Michael ist es, dergewissermaßen die Erscheinung des Christus als ätherische Wesenheitvorzubereiten hat. Das alles muß aber vorbereitet werden, das allesmuß gewissermaßen in der Entwickelung gefördert werden, und eswird gefördert. In der Art wird es gefördert, daß Michael für die Er-scheinung des Christus gewissermaßen den Kampf führt, daß er dieSeelen in dem Erleben zwischen Tod und neuer Geburt vorbereitet aufdasjenige, was in der Erdenaura zu geschehen hat. Nun würden scharfgeprägte Ätherleiber, die in der elementarischen Welt um uns herumsind, immer störend sein in der Zeit, die herankommen muß, wo reingesehen werden soll diese Äthergestalt, die der Christus annehmen muß.Naher stehen einer reinen Auffassung dieser Äthergestalt diejenigenSeelen, die nach dem Tode durch ihre ätherischen Leiber weniger be-rührt sind. Daher stellt sich folgendes heraus.

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Wir sehen, wie ein Teil der Arbeit des Michael dahingeht, beizu-tragen zur Auflösung der westeuropäischen hochkultivierten Äther-leiber, die eine feste Gestalt haben, und wir sehen, wie sich Michaelbedient in diesem Kampfe der osteuropäischen Seelen. Und so sehenwir Michael, gefolgt von den Scharen der osteuropäischen Seelen,kämpfend gegen die westeuropäischen Ätherleiber und die Eindrücke,welche die Seelen nach dem Tode haben. So gibt es einen lebendigenKampf hinter den Kulissen des heutigen Daseins. Dieser Kampf istvorhanden, dieser Kampf in der geistigen Welt. Dieser Kampf imHimmel gleichsam, er spielt sich ab zwischen Rußland und Frankreichin der geistigen Welt, ein lebendiger Kampf zwischen Osten und We-sten. Und dieser Kampf ist die Wahrheit, und dasjenige, was sich inder physischen Welt abspielt, das ist die äußere Maja, das ist die Ent-stellung der Wahrheit. Und man bekommt auch da, wie so oft, wennman die geistigen Tatsachen betrachtet, auf diesem Gebiet den erschüt-ternden Eindruck, daß oftmals dasjenige, was hier im Felde der Täu-schung sich vollzieht, das gerade Gegenteil von dem ist, was in dergeistigen Welt als Wahrheit sich vollzieht.

Denken Sie sich das ungeheuer Erschütternde für denjenigen, derInitiationserkenntnis erwirbt, daß ein Bündnis besteht zwischen Völ-kern, die sich in der geistigen Welt aufs heißeste bekämpfen! SolcheDinge dürfen natürlich nicht verallgemeinert werden, nicht etwa darfdie Schlußfolgerung gezogen werden, daß in der geistigen Welt alles

entgegengesetzt ist der physischen Welt. Jeder einzelne Fall muß unter-sucht werden. Aber für diesen Fall bekommen wir auch diesen erschüt-ternden Eindruck, diesen unsere Erkenntnis, man möchte sagen, zu-nächst zermalmenden Eindruck. So sieht es eben vielfach anders aushinter den Kulissen des Daseins, als es in der äußeren Welt aussieht.Aber begreiflich werden uns die Dinge in ihrem wahren Zusammen-hang nur, wenn wir hinter die Kulissen des Daseins mit dem Gesichts-punkte der Geisteswissenschaft leuchten können. Dann aber werdensich auch in unsere ganze Auffassung hineinprägen diejenigen Gefühle,welche gleichsam in die Wahrheit untertauchen lassen unsere Herzengegenüber den Vorurteilen, in denen wir befangen sein müssen, wennwir uns den Strömungen der äußeren physischen Welt hingeben. Wirk-

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lieh ist Mitteleuropa heute hineingeschoben zwischen zwei kämpfendeMächte und muß gewissermaßen sie auseinanderhalten. Daraus ergibtsich aber der Zusammenhang zwischen demjenigen, was ich gestern alsdas Ringen der mitteleuropäischen Kultur bezeichnet habe, gegenüberdem, was links und rechts, wie umklammernd, diese mitteleuropäischeKultur bedrängt. Das ist das Karma der mitteleuropäischen Kultur:ihre Entwickelung sich abspielen zu sehen zwischen dem, was sich be-kämpfen muß durch eine erdengeschichtliche Notwendigkeit. Die rech-ten Gefühle für den tragischen Konflikt der Verhältnisse, insofern siejetzt Mitteleuropa betreffen, gehen ja erst aus einer solchen Betrach-tung hervor. Dann erst, wenn wir eine solche Betrachtung zugrundelegen, merken wir, daß im Grunde genommen Nichtbeteiligung an denHändeln, die eigentlich auszufechten sind, das wirklich Charakteristi-sche für Mitteleuropa ist, unschuldiges Verhalten zu diesen Händelnund in das Karma mit hinein verwickelt sein. - Und wir haben nunauch gesehen, wie der genaue Zusammenklang dessen ist, was da in derEvolution enthalten ist: wir haben gesehen, wie beteiligt ist der Ostenund Westen Europas an dem kommenden Christus-Ereignis. Wenn wirdas Ringen der mitteleuropäischen Kultur mit ihrer Vereinigung, wie iches gestern charakterisiert habe, von Geistigem und Leiblichem ins Augefassen, dann haben wir auch die besondere Ausgestaltung des Christus-Impulses, der ja der Träger dieser Vereinigung des Geistigen und Leib-lichen ist. Mitten also in Europa das Phänomen, das Christentum über-zuführen in die Erdenereignisse. Hier, sich abspielend auf dem physi-schen Plan, etwas von ungeheurer Bedeutung, und rechts und links et-was, was erst erkämpft wird auf den höheren Planen. Physischer Planund geistiger Plan schließen sich zusammen, wenn wir sie so betrachten.

Das ist die Ergänzung zu dem gestern Auseinandergesetzten. Undso ist es im Grunde genommen mit aller Evolution, soweit sie sich unterdem Einfluß des Christus-Impulses nach und nach entwickelt hat.Denn was jetzt im 20. Jahrhundert geschieht, hat sich ja nach und nachentwickelt. Der Christus-Impuls ist eingezogen durch das Mysteriumvon Golgatha in die irdische Menschheitsentwickelung, und er hat dar-innen gewirkt. Aber wenn er nur hätte so wirken können, der Christus-Impuls, wie ihn die Menschen verstanden haben, hätte er wenig wir-

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ken können bisher. Wir fangen ja erst an mit dem Verständnis, wirfangen erst an, durch Geisteswissenschaft etwas zu begreifen von dem,was das Mysterium von Golgatha ist. Der Christus-Impuls hat ge-wirkt. Aber wahrhaftig wirkte er am wenigsten in dem, was das Ge-zänk und Geschrei der Theologen war. Schlimm wäre es gewesen,wenn nur so viel von dem Christus-Impuls hätte hereinkommen kön-nen in die Erdenentwickelung, wie die Menschen begriffen haben inden verschiedenen Epochen mit ihrem Verstande. Aber ich habe daraufhingewiesen, wie der Christus-Impuls durch die Jahrhunderte in un-bewußte Seelenkräfte gewirkt hat. Ich habe Ihnen geschildert, wie am28. Oktober 312 Konstantin gegenüberstand dem Maxentms, und wieda eine Schlacht geschlagen wurde, durch die das Schicksal von Eu-ropa entschieden worden ist. Nicht durch die Kunst der Feldherrenwurde diese Schlacht geschlagen, sondern durch dasjenige, was sich imUnterbewußtsein der Menschen zugetragen hat. Maxentius befragtedie sibyllinischen Bücher. Die verführten ihn, statt seine Heere in Romin Sicherheit zu lassen, sie aus den Toren Roms zu führen, den HeerenKonstantins entgegen. Konstantin aber hatte den Traum: das Mono-gramm Christi seinem Heere vorantragen zu lassen. Man folgte alsonicht den Gescheitheiten der Feldherren, sondern man folgte Träumen,das heißt den Impulsen des Unterbewußtseins. Von dem, was darausentstand, hat Europa seine Gestaltung bekommen. Nicht von dem lei-tete sich her die wirkliche Gestaltung des Christus-Impulses, worüberdie Theologen zankten, sondern von dem, was der lebendige Christusauf den Feldern war, wo er wirken kann. Nicht die menschlichen Be-griffe vom Christus - auf die kommt es nicht an -, sondern der leben-dige Christus, der durch die Impulse wirkt, die die seinigen sind. Wennihn die Menschen nicht verstanden, ging er in das hinein, wo man nichtzu verstehen braucht, wo man in Träumen aufnimmt, was in die Wil-lenssphäre übergehen soll.

Und wiederum einmal war es in Europa, daß der Christus-Impulshereingedrungen ist und Europa eine bestimmte Gestaltung gegebenhat: im 15. Jahrhundert, als durch das einfache Landmädchen, dieJungfrau von Orleans, Europa eine ganz andere Gestaltung bekommenhat. Hätte dazumal England über Frankreich gesiegt - was die Jung-

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frau von Orleans verhindert hat -, so wäre aller spätere geschichtlicheVerlauf ein anderer geworden. Aber wahrhaftig, das Hirtenmädchenvon Orleans hat nicht menschliche Weisheit gehabt, sondern in ihr hatgewirkt der Christus-Impuls durch seinen michaelischen Vorläufer,äußerlich zugunsten Frankreichs, in Wirklichkeit zugunsten Englands;denn England hätte sonst nicht die Entwickelung durchmachen kön-nen, die es durchgemacht hat. Aber es wirkte mit ungeheurer Deutlich-keit für denjenigen, der die Welt geistig durchschauen will, der Chri-stus-Impuls dazumal in dasjenige hinein, was geschehen sollte.

Ich habe öfters darauf aufmerksam gemacht, wie jene alten Legen-den, jene alten Sagen und Mythen Wahrheiten enthalten, die daraufhinweisen, daß in den dreizehn Nächten zwischen Weihnachten unddem Fest der Erscheinung, dem Dreikönigsfest, daß in diesen Nächtender tiefsten Winterfinsternis die Zeit ist, in der die Erdenkräfte demHellsehertum ganz besonders günstig sind. Da, wo sozusagen die phy-sischen Kräfte sich am meisten zurückziehen in Untätigkeit, da wir-ken die geistigen Kräfte ganz besonders. Diese dreizehn Nächte, vonWeihnacht bis zum 6. Januar - so erzählt uns eine alte norwegische Le-gende -, schlief Olaf Ästeson. Und in diesem Schlafe hat er all dasje-nige in Imaginationen durchgemacht, was wir nun anthroposophischerkennen als Kamaloka, als Seelenwelt, als Geisteswelt. Das ist eineWahrheit. Und gar mancher, der, ich möchte sagen, am Tor steht derInitiation, er kann dieser Initiation die letzte Vollendung geben, wenner es zu einem ganz besonderen konzentrierten inneren Erleben in die-ser Zeit bringt, in die hinein deshalb mit Recht versetzt ist die Geburtdes Christus, des geistigen Sonnenlichtes. Man könnte sagen: Wennjemand eine unbewußte Initiation erleben soll, wann würde er sie ambesten erleben? - Dann würde er sie am besten erleben, wenn er zube-reitet wird in diesen Nächten, wenn er in einem Schlafzustand ist, einerArt weltentrücktem Zustand, bis zum 6. Januar. Könnten wir nichtvoraussetzen, daß auch das ganz gewiß nicht gelehrte oder geisteswis-senschaftlich geschulte, aber innerlich spiritualisierte Hirtenmädchen,die Jungfrau von Orleans, am besten initiiert hätte werden können,wenn sie diese Nächte in einer Art Schlafzustand durchgemacht hatte,einem Zustand, wo sie nicht durch die Sinne und den Verstand begrif-

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fen hätte die äußere Welt? Das hat sie! Man ist in der Zeit, bevor diephysische Geburt eintritt, ganz gewiß nicht dazu veranlagt, durch dieäußeren Sinne die umliegende Welt wahrzunehmen, denn diese Sinnewachen ja erst auf bei der Geburt im physischen Dasein. Man ist auchnicht geeignet vor der Geburt, durch den Verstand nachzudenken, aberder geistige Teil ist dann in Berührung mit der kosmischen geistigenUmwelt.

Nun, die dreizehn Tage vor dem 6. Januar hat die Jungfrau vonOrleans im Leibe der Mutter zugebracht, denn am 6. Januar ist sie ge-boren. Dies ist eine Tatsache, die tief bedeutsam über Weltenzusam-menhänge spricht. Der die Evolution führende Weltengeist brauchtein der Jungfrau von Orleans eine Menschenseele, die gerade die drei-zehn letzten Tage der Schwangerschaft im Leibe der Mutter zubrachtebis zum 6. Januar und dann geboren worden ist. Da sehen wir tief hin-ein in jene Zusammenhänge, die hinter den Kulissen des Daseins sind.Da sehen wir, wie die Welt geführt wird in geistiger Beziehung. Dawurde eine Seele geboren, die gewissermaßen durch den Weltengeistselbst initiiert worden ist bis zu ihrer Geburt hin. Es handelt sich daherdarum, daß wir uns eine Empfindung erwerben dafür, wie gewisser-maßen vor uns der Teppich des äußeren Majadaseins ausgebreitet ist:wenn wir ihn an verschiedenen Stellen zerreißen, so blicken wir in dieGeheimnisse des Daseins erst hinein. Und das muß Gefühl und Emp-findung werden für das Umgestaltende der Geisteswissenschaft fürdie Kultur der Menschheit. Das muß Empfindung werden, daß man,um hineinzuschauen in die Geheimnisse der Welt, eben radikal wirdbrechen müssen mit der bloßen Beobachtung der äußeren Maja, die jaselbstverständlich eintreten mußte seit dem Glänze und dem Ruhmdes naturwissenschaftlichen Forschens. Aber dieser Glanz und Ruhmmuß für die Zukunft abgelöst werden von der Geisteswissenschaft.Dasjenige, was die Menschheit zum wirklichen Einleben der Geistes-wissenschaft in die Seelen braucht, wird aber vor allen Dingen seinein wirklich guter Wille für die Verbindung der eigenen Seele mit dengeistigen Welten. Das aber muß alles ausgehen von einer gewissenSelbsterkenntnis. Doch Selbsterkenntnis ist gar nicht so leicht, und esgehört zu den größten Täuschungen, denen man sich im gewöhnlichen

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Leben hingeben kann, wenn man denkt, daß Selbsterkenntnis, die derAnfang aller wahren Erkenntnis sein muß, leicht ist.

Selbst in bezug auf das Alleräußerlichste ist sie nicht einmal be-sonders leicht. Ich habe hier ein Buch; es ist mir zufällig - was manso zufällig nennt -, karmisch in diesen Tagen wieder in die Hände ge-kommen: das Buch eines Philosophen der Gegenwart, der Philosophie-professor an der Universität in Wien war: «Analyse der Empfindun-gen.» Derjenige, der das Buch geschrieben hat, macht Selbstgeständ-nisse, die sehr interessant sind. Auf Seite 3 sagt er: Als junger Menscherblickte ich einmal in einer Spiegelniederlage, als ich über die Straßeging, mein Gesicht im Profil, aber ich erkannte es nicht als mein eige-nes Gesicht. Ich dachte: Was für ein widerwärtiges, unsympathischesGesicht! - Also Sie sehen, selbst bis zu diesem Grade ist Selbsterkennt-nis der rein äußeren Gestalt nicht einmal gar so sehr verbreitet. Dergute Mann gesteht ganz offen: es kommt ihm entgegen ein höchst un-sympathisches Gesicht, das einen abstoßenden Charakter hat, und dannentdeckt er, daß es sein eigenes ist. So wenig hat er sich gekannt seineräußeren Gestalt nach. Sie sehen, nicht einmal äußere Selbsterkenntniskann man leicht erwerben. Universitätsprofessor kann man dabei sein,ungehindert; das bezeugt dieses Beispiel. Ernst Mach, so heißt der Pro-fessor, macht aber noch ein ähnliches Geständnis. Er ist ganz aufrich-tig. Er sagt: Ich kam einmal recht ermüdet von einer Reise zurück undbestieg einen Omnibus. Zu gleicher Zeit stieg ein anderer in den Omni-bus ein. Ich dachte: Was für ein herabgekommener Schulmeister steigtdenn da ein! - Und siehe da, ich war es selbst. - Er hatte sich im Spie-gel gesehen. — Der gute Mann wußte, wie ein herabgekommener Schul-meister aussieht, da sah er einen einsteigen, aber er konnte sich nichtdamit identifizieren, er wußte nicht, daß er so aussah. Er fügt seinerErzählung hinzu: Also kannte ich den Standeshabitus besser als meineneigenen!

Noch viel schwieriger als das Wissen über die äußere Gestalt istdas Wissen über die Seele, das Wissen desjenigen, was wir eigentlichin unserem seelischen Wesen sind. Aber ohne dieses geht es nicht ab,wenn man wirklich auf dem Felde der Initiation etwas vorwärtskom-men will. Die Täuschung über sich selbst, sie gehört zu den verbreitet-

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sten Eigentümlichkeiten des Menschen, und was in den Tiefen derMenschenseele sich abspielt, man weiß es in der Regel nicht. Man denktsehr leicht: Ja, ich kenne mich, ich weiß, was ich will! - Man machtsich gewisse Vorstellungen über sich selbst; nur sind diese meistensnicht dazu angetan, wirklich auszudrücken, was wir in Wahrheit sind.Da unten in der Seele sieht es oftmals ganz anders aus, als es in derRegion aussieht, wo wir uns die Vorstellungen über uns selbst machen.Einige Beispiele seien angeführt, die sich nicht nur ereignen können,sondern die oft sich ereignen im menschlichen Zusammenleben: ZweiMenschen leben miteinander. Der eine hat gegen den anderen etwas,so daß es ihm eigentlich gefällt, den anderen manchmal zu quälen, zupeinigen, manchmal intensiver, manchmal weniger. Dasjenige, was dieUrsache dieses Quälens sein mag, kann ein ursprünglicher Trieb derGrausamkeit sein. Ein Mensch kann nämlich scheinbar ganz harmlosin der Welt herumgehen und doch eigentlich ein ganz grausamer Kum-pan sein, der es als ein Bedürfnis empfindet, einen Nebenmenschen zuquälen. Spricht man nun mit diesem Menschen, so wird er es einemnicht verzeihen, wenn man ihn für einen grausamen Kumpan, für einenekelhaften Kerl hält, der sich nur befriedigt fühlt, wenn er seinen Ne-benmenschen quälen kann, sondern er wird sagen: Ach, ich habe die-sen Menschen so unendlich lieb, so furchtbar lieb, aber er macht haltdas und das und jenes, und gerade weil ich ihn so lieb habe, kann ich esgar nicht ausstehen, daß er das tut! - Das ist im Oberbewußtsein desMenschen, im Unterbewußtsein aber ist die Grausamkeit. Und dieVorstellungen des Oberbewußtseins sind nur da, um zu verhüllen, umuns vor uns selbst zu entschuldigen. Die Art, wie wir uns Vorstellun-gen im Oberbewußtsein machen, ist nur da, um uns richtig vor unsselbst zu entschuldigen. So habe ich einen Herrn gekannt, der bei jederGelegenheit betonte, daß er eine gewisse geistige Richtung nur ein-schlüge aus reiner Selbstlosigkeit, daß sie ihm gar nicht besonders sym-pathisch sei, diese Richtung, aber aus Pflichtgefühl und Selbstlosig-keit müsse er diese Richtung einschlagen. Ich sagte ihm: Was Sie füreine Ansicht haben über die Dinge, die Sie tun, und warum Sie sie tun,darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, warum Sie eswirklich tun. Und Sie tun es, weil es Ihnen Wollust macht, gerade dies

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zu tun, weil es Ihrer Eitelkeit ganz besonders schmeichelt, dies zu tun. -Es ist unangenehm, sich zu gestehen: Ich bin eigentlich recht eitel, des-halb tue ich dies oder jenes. — Deshalb lieben wir unsere Maja, diemacht das anders. Die Maja, die wir in unserem Bewußtsein tragenüber uns selbst, ist oft noch unähnlicher der Wirklichkeit als die Maja,die wir über die Geisteswissenschaft haben. Liebe ist ganz gewiß einewunderbare Sache, mit Recht auch, vor der menschlichen Meinung;sie wird aber häufig mit Unrecht im Munde geführt, die Liebe! Alswir noch mit der anderen Theosophischen Gesellschaft verbunden wa-ren, da hörten wir immer wiederum, wie es darauf ankomme, daß dieMenschen sich ja, ja recht lieben! Oftmals war diese Liebe nur derSchleier, der über die dogmatischen Zänkereien hinübergelegt war.Denn Liebe kann oftmals die Maske sein für den allerstärksten Egois-mus. Wenn man sich besonders wollüstig etwas darauf zugute tut, diesesoder jenes zu tun, fälscht man oft das, was man tut und was einem ei-gentlich Wollust bereitet, in Liebe um; und man entschuldigt sich wie-derum vor dem, was man eigentlich niemals gestehen würde, was inden Tiefen des Unterbewußtseins bleibt. Ja, wenn wir hinuntersteigenin dieses menschliche Wesen, dann tauchen wir wirklich bald in einenAbgrund hinunter. Wirklich erkennen kann der Mensch sich eigent-lich nur dadurch, daß er sich hineinlebt in die Geheimnisse des geisti-gen Daseins, daß er sich bekanntmacht mit dem, was die großen Ge-setze dieses geistigen Daseins sind. Denn das menschliche Wesen istkompliziert, und der größte Irrtum ist es, wenn man glaubt, diesesmenschliche Wesen sei irgendwie einfach. Ich möchte sagen: Alle Wel-tengeheimnisse sind zusammengenommen, um das menschliche Wesenzusammenzubringen. Aber nur recht verstanden müssen die Dingewerden.

Das Spielen mit der Selbsterkenntnis hört sehr bald auf, wennman etwas erkennt von den geistigen Geheimnissen des Menschenda-seins. Nehmen wir einmal an, ein Mensch beginnt durch irgend etwas,durch Schulung oder durch irgend etwas anderes, mit einem gewissenHellsehen, und er bringt es sogar dahin, daß ihm ganz wunderbare Ge-bilde erscheinen, die er fixieren kann, so daß die Menschen kommenund ganz entzückt sind über den bedeutungsvollen Zusammenhang

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dieses Menschen mit der geistigen Welt. Der ist auch zweifellos vor-handen, der Zusammenhang, aber man muß diesen geistigen Zusam-menhang nur in seiner Wahrheit durchschauen, man muß durchschauen,was er wirklich sein kann. Sehen Sie, demjenigen, was wir als physi-schen Leib haben, liegt als sein Bildner der Ätherleib zugrunde, dannder Astralleib, dann dasjenige, was wir den Ich-Träger nennen. Dasarbeitet alles am physischen Leibe, und jedes Höhere arbeitet wieder-um an dem Niedrigeren. Wenn Sie den Ätherleib nehmen und unmittel-bar hellsichtig erforschen, so ist er ein wunderbares Gebilde ineinanderflutender und schimmernder Farben. Was sind denn diese Farben, dieim Ätherleib fluten? Ja, das sind die Kräfte, die am physischen Leibebauen, die Kräfte, die nicht nur ihm Organe aufbauen, sondern auchwirken in dem, was während des Lebens von den Organen des physi-schen Leibes vollzogen wird. Aber die menschlichen Organe sind vonverschiedener Bedeutung. Nehmen wir zwei solcher Organe wie dieEingeweide und das Gehirn. Die äußere Anatomie untersucht die Ge-webe und alles, was in Betracht kommt, als gleichwertig. Das sind dieDinge aber nicht, sie sind ganz verschieden. Wenn wir das menschlicheGehirn anschauen, ist es als physisches Organ etwas Vollkommenes; daskommt davon her, daß im Gehirn jene Farbenfluten verarbeitet sind.Wenn wir den Ätherleib des menschlichen Gehirns anschauen, dannsehen wir ihn in verhältnismäßig blasser Farbe, denn die Farben sinddazu verwendet worden, den Bau des Gehirns hervorzubringen. Wennwir die Eingeweide anschauen, so finden wir die flutenden Farbenhellschimmernd wunderbar ineinanderfluten, denn die Eingeweide sindwirklich gröbere Organe, da muß noch nicht so viel von Geistigemverwendet werden, da bleiben die Kräfte noch zurück im Ätherleibe,da wird ein kleinerer Teil nur zum Ausbau verwendet. Daher ist derÄtherleib des Gehirns blaß, der Ätherleib der Gedärme aber von wun-derbaren, flutenden Farben, schön.

Denken Sie nun, es kommt jemand, wie ich es geschildert habe, zumHellsehen. Da kann zweierlei eintreten: Es kann ein Hellsehen eintre-ten dadurch, daß der Ätherleib des Gehirns gelockert wird, aber eskann auch eintreten ein Hellsehen dadurch, daß der Ätherleib der Ein-geweide gelockert wird. Beim Hellsehen wird nun der Mensch oft-

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mals sein eigenes Innere gewahr. Derjenige, der den Ätherleib des Ge-hirns herausbekommt, wird zunächst eine ziemlich blasse Welt vor sichhaben; aber der, welcher den Ätherleib seiner Eingeweide herausbe-kommt, kann wunderbar flutende Farben in die Ätherwelt hinausspie-geln. Um nämlich das Blasse des Gehirnätherleibes mit den flutendenFarben des Kosmos in Berührung zu bringen, ist es nötig, daß wir dieflutenden Farben von der ganzen Sphäre des Kosmos erst heranziehen.Um die flutenden Farben des Ätherleibes der Gedärme zu entwickeln,können wir sie aus uns herausstrahlen, und so kann ein ganz wunder-bares Gebilde geschaut werden auf dem Wege des Hellsehens. Gewiß,es ist ein echtes hellsichtiges Gebilde, aber wenn man es untersucht, wasist es? Es ist nichts anderes als der eigene Verdauungsprozeß, es ist das-jenige, was der Ätherleib während des Verdauungsprozesses des Men-schen tut; das projiziert sich in den Ätherraum hinaus. Das ist anato-misch betrachtet höchst interessant, aber man muß sich klar sein dar-über, daß man erst, wenn man herandringt an die Geheimnisse der gei-stigen Welt, wirklich eine Ahnung bekommt von dem, was eigentlichvorliegt in der geistigen Welt. Man bekommt ja erst dann eine Ahnung,daß aus einem wunderbar flutenden Farbenmeer des Ätherleibes auchdasjenige heraus entspringt, was im Ätherleib vorgehen muß, damitdie Gedärme in der richtigen Weise funktionieren. Wenn man dasdann hellsichtig schaut, so ist es gewiß ein hellsichtiger Vorgang; aberes ist nichts, was mit himmlischen Geheimnissen zusammenhängt, es istnichts, was die großen kosmischen Tatsachen der Welt uns irgendwienahebringt, sondern es ist etwas, was uns unser gewöhnlichstes niederesSelbst nahebringt.

Und gerade dann, wenn wir hellsichtig zur Selbsterkenntnis auf-steigen, dann finden wir, daß das erste, was wir an wunderbaren Ge-bilden erleben, unser Niedrigstes hinausspiegelt. Und erst dann, wennwir durch größere Anstrengung diejenigen Teile des Ätherleibes losbe-kommen, die als geringere zurückgeblieben sind in uns selbst, weil dieMehrzahl zu Herz und Gehirn verwendet worden ist, dann erst ge-langen wir dazu, dasjenige, was in uns ist, hinauszustrahlen und einenEindruck zu machen durch die stärker angewandten Kräfte auf denäußeren Äther. Und dann kommt es zu folgendem: Wenn wir den

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Ätherleib der physischen Organe hinausprojizieren, stoßen wir dashinaus in den Raum. Wenn wir höheres Hellsehen entwickeln, da ar-beiten wir auch hinaus, aber wir arbeiten hinaus dasjenige von uns, waswir uns aufbauen zwischen Geburt und Tod, auf daß es vorbereite das-jenige, was zwischen Tod und neuer Geburt sich in uns entwickelt. Dasschreiben wir hinein in den Raum, da bilden wir eine Wirkung hinausin die ätherische Welt. Und da gehen wir entgegen demjenigen, wasdurch diese Wirkungen gebildet wird, den kosmischen Wirkungen, denkosmischen Tatsachen.

Gerade darauf wird durch uns unausgesetzt hingearbeitet. DieSchrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» will dasim eminentesten Sinne zum Ausdruck bringen, daß die rechten Wegegefunden werden, um eben nicht die niedere Wesenheit des Menschendurch ein berückendes Hellsehen zu finden, sondern um die Geheim-nisse der Welt zu ergründen. Immer wieder wird darauf aufmerksamgemacht, daß dieses Hellsehen schwierig ist, daß es blaß auftritt, daßman sich erst durch große Anstrengungen derjenigen Kräfte, die dieKräfte sind des Menschen zwischen Geburt und Tod, zu dem wahrenHellsehen hin entwickelt, daß einem dann die Weltengeheimnisse sichenträtseln können. Wo diese Kräfte liegen, kann man sich vorstellen,wenn man sich einläßt auf dasjenige, was im Wiener Zyklus 1914 ge-sagt ist. Da ist von den Kräften gesprochen, die der Mensch zwischenTod und neuer Geburt entwickelt, von den Kräften, für die es nurmöglich ist, stammelnd Worte zu gebrauchen, weil die Worte ja für diephysische Welt geprägt sind, und man nur durch Wortzusammenset-zungen das herausbringt, was in der geistigen Welt ganz anders ist alsin der physisch-sinnlichen Welt. Aber die Menschen finden es beque-mer, in der geistigen Welt sich auch nichts anderes vorzustellen als eineArt Fortsetzung der physischen Welt, nur etwas dünner, etwas flüch-tiger. Die Menschen fänden es bequem, in der geistigen Welt die Ge-stalten auch herumgehen zu sehen wie in der physischen Welt; aber siefinden es unbequem, daß man sich eine neue Art des Auffassens ange-wöhnen muß, wenn man in die geistige Welt eintreten will. All das sollIhnen beweisen, daß nicht nur das menschliche Verstehen, sondern vorallen Dingen der menschliche Wille sich sträubt gegen dasjenige, was

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Geisteswissenschaft jetzt in unserer Zeit in die Welt bringen muß.Wir können wirklich sagen: Nicht bloß deshalb, weil die Menschenheute noch in weiten Kreisen Geisteswissenschaft nicht verstehen, wei-sen sie sie zurück, sondern weil sie sie nicht wollen, weil es ihnen imGrunde genommen schrecklich ist, daß die Welt so ist, wie Geistes-wissenschaft sie darstellen will und muß.

Ein besonders wichtiger Begriff ist derjenige, den man von Weisheitund von Bewußtheit haben muß, wenn man das Erleben zwischen Todund neuer Geburt verstehen will. Im Grunde genommen kann man garnicht sagen, der Mensch, der durch die Pforte des Todes gegangen ist,habe kein Bewußtsein und sein Bewußtsein müsse erst erwachen. Dasist nicht einmal richtig, sondern richtig ist, daß er ein zu starkes Be-wußtsein hat, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, daß ervon Bewußtsein ganz umflutet ist, daß er sich nicht auskennt, daß erganz betäubt ist yon dem geistigen Sonnenlicht des Bewußtseins underst anfangen muß sich zu orientieren, wie ich es ja des näheren ausge-führt habe in dem eben erwähnten Zyklus. Hier auf der Erde müssenwir uns Weisheit notdürftig erwerben; drüben aber sind wir von Weis-heit allseitig umflossen, da müssen wir sie dämpfen, daß wir sie an-schauen können. Die Teile, die wir herabgedämpft haben bis zur mensch-lichen Schwäche, die sind es, die wir anschauen können. So müssen wiruns erst hineinfinden in das Herabdämpfen unseres Bewußtseins, bis wiruns zurechtfinden können. Dies ist etwas, was einem ganz besondersbemerkenswert vor Augen tritt, wenn man die Erscheinungen wirk-lich betrachtet. Sehen Sie, man versucht dann allmählich die Worte sozu prägen, daß sie ordentlich ausdrücken diese Erscheinungen. Vor nichtlanger Zeit ist ein liebes Mitglied unserer Gesellschaft in Zürich gestor-ben. Das Karma hat es dahin gebracht, daß, obwohl ich das Mitgliednoch habe sehen wollen im physischen Leben, ich zu spät gekommenbin und es nicht mehr sah. Dann aber hatten wir in Zürich nach einigenTagen die Kremation. Ich war veranlaßt, bei dieser Kremation zusprechen, und ich versuchte in Worte zu fassen dasjenige, was sich mirinnerlich darstellte als das Wesen dieses unseres lieben Mitglieds. Ichversuchte mit einigen Worten festzuhalten dieses Wesen. Dann wurdedie Kremation vollzogen. Und zu bemerken war nun, daß das erste

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orientierende Auftauchen aus dem überflutenden Bewußtsein herausin dem Moment eintrat, als der Körper überging in die Verbrennung,als scheinbar die Flamme, in Wirklichkeit die Wärme diesen Körperergriff. In diesem Moment stand vor der Seele der Hingestorbenen dieSzene, die wir vorher gehabt hatten. Vorher hatte sie, während der Be-stattungsrede, nicht daran teilgenommen, aber hinterher, als die Ver-brennung anfing, da blickte sie zurück. Und wie man im physischenLeben den Raum vor sich hat, so sieht der Tote die Dinge in der Zeit.Was vergangen ist, ist neben dem Toten. Er sieht die Szenen vor sichstehen. Die Zeit wird wirklich zum Räume. Das Vergangene ist nichtvergangen, es bleibt da, es wird angeschaut. Dann ging die Tote wiederhinab in ein allgemeines Betäubtsein, und es dauert dann längere Zeit,bis das Orientieren stattfindet. Aber es bereiten sich solche Momentevor, man möchte sagen, lichte Augenblicke, die dann weiter verarbeitetwerden. Dann kommt wieder ein Untertauchen in die allgemeine Über-flutung des Bewußtseins, bis später ein vollständiges Orientieren ein-tritt.

Und so muß man sagen, daß es ein wichtiger Begriff ist, der dieWeisheit, die Bewußtheit in anderer Weise denkt nach dem Tode alsvor dem Tode. Es ist nicht so, daß uns ein Grad von Bewußtheit ersterwachsen müsse nach dem Tode, sondern es muß das unermeßlicheBewußtsein bis zu einem gewissen Grade herabgedämpft werden. Dasmüssen wir beachten. Und dann müssen wir ernst machen, richtig ernstmachen mit der Erkenntnis, daß für die Wahrheit die Dinge oftmalsgerade umgekehrt liegen gegenüber dem, was sich äußerlich darstellt.Ich habe das ja schon öfter veranschaulicht an einem Beispiel. EinMensch geht am Rande eines Baches, er fällt hinein in den Bach undertrinkt. Wir gehen ihm nach und finden ihn ertrunken, und an derStelle, wo er in den Bach hineingefallen ist, finden wir einen Stein.Wir können dann mit vollem Recht den Schluß ziehen, der Menschsei über den Stein in den Bach hineingefallen und dadurch ertrunken.Wenn wir nichts weiter tun, kommen wir zu keiner anderen Anschau-ung. Hier kann aber mit Bezug auf die physischen Tatsachen die Tat-sachenlogik falsch sein. Bei der Sektion kommen wir vielleicht dar-auf, daß den Menschen der Schlag getroffen hat, und daß er infolge-

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dessen ins Wasser gefallen ist, daß also Ursache und Wirkung sich um-kehren. Wir meinten, der Mensch ist tot, weil er ins Wasser fiel; inWirklichkeit ist er ins Wasser gefallen, weil er tot war. Da war in be-zug auf die äußeren Tatsachen die Logik falsch. So können wir oft garnicht zurechtkommen mit der Logik für die äußere Maja.

Nehmen wir den Fall, den wir im Herbst zu unserem Schmerz inDornach erlebt haben. Das Söhnlein eines Mitgliedes gerade des hie-sigen Zweiges, der in Dornach ansässig geworden ist, das siebenjährigeSöhnchen wurde eines Abends vermißt. Und nachdem man sich klargeworden war, daß das Kind unter einem umgefallenen Möbelwagenliegen könnte, mußte mitten in der Nacht der Wagen gehoben werden,und der kleine Theo Faiß wurde unter diesem Wagen hervorgezogen,tot. Was war geschehen? Dort in der Gegend fährt sonst kein Möbel-wagen, fährt überhaupt kein Wagen. Es ist der äußerste Ausnahmefall,daß da ein Wagen fährt- Es ist lange vorher und nachher keiner ge-fahren. Und der kleine Theo hat sonst immer, was er zu holen hatte,eine Viertelstunde früher geholt. An jenem Abend war er veranlaßtworden, eine Viertelstunde zu warten. Er hätte auch, während er an derlinken Seite des Wagens gegangen ist, an der rechten Seite gehen kön-nen, aber man hatte ihn veranlaßt, zu einem anderen Ausgang hinauszu-gehen als sonst. Alles hat sich so zusammengezogen, daß es auf die Se-kunde hin sich so abgespielt hat, daß der Knabe gerade just unter diesenWagen kam. Untersucht man den Fall geistig in seinem karmischen Zu-sammenhang, dann hat sich die Seele des Knaben diesen Wagen bestellt,um den Tod zu finden in diesem Zeitpunkt; da war das alles so einge-richtet, da ist das physische Ereignis eine Folge der geistigen Zusammen-hänge. Dann begreift man die Dinge in einer ganz anderen Weise, dannversteht man allerdings auch den Zusammenhang zwischen dem, wasgeschehen ist, und dem weiteren Verlauf nach dem Tode. Der kleineTheo hatte ja einen Ätherleib, den er im normalen Leben noch siebzig,achtzig Jahre und noch länger hätte haben können. Das alles geht janicht verloren, das bleibt da. Ein Ätherleib von einem siebenjährig ge-storbenen Kinde hat noch die Kräfte in sich, die verwendet wordenwären im Leben, die sind in der geistigen Welt vorhanden. Und das istauch denjenigen, die mit der Ätheraura unseres Baues zu tun haben, sehr

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wohl bemerklich; denn da ist der Ätherleib des kleinen Knaben seitdem Tode drinnen, da sind die Kräfte, die starken geistigen Kräfte die-ses klugen, lieben, gutgearteten Knaben. Das sind Hilfs- und Helfer-kräfte desjenigen, was mit der Aura des Dornacher Baues zusammen-hängt.

So hängen geistige und physische Wirkungen zusammen. Die Zeitensind nicht vergangen, wo man hinblicken mußte auf die geistigen Wel-ten bei dem, was in der physischen Welt geschieht; die Zeiten sind nochimmer da. Einiges beginnen wir zu begreifen durch unsere Geisteswis-senschaft. Vieles aber ist darin, wozu wir Hilfskräfte brauchen vondenen, die mit unverbrauchten Ätherkräften fortgehen aus dem phy-sischen Leben. Denken Sie an die Tausende und Tausende, die drau-ßen auf den großen Feldern der ernsten Zeitereignisse heute durch diePforte des Todes gehen, durchwegs Menschen mit unverbrauchtenÄtherleibern. Das alles sind geistige Kräfte, die noch lange hätten wirk-sam sein können, wenn die betreffenden Menschen in der physischenWelt geblieben wären. Für die Physik erkennt man heute schon an, daßkeine Kraft verlorengeht. Im eminentesten Sinne ist dieses Gesetz vonder Erhaltung der Kraft aber in der geistigen Welt vorhanden. DieKräfte, die ein Ätherleib hat, um ein Leben zwischen Geburt und Todbis zum achtzigsten, neunzigsten Jahre zu versorgen, die gehen nichtverloren, wenn jemand früh durch die Pforte des Todes geht. DieKräfte sind da. Neben dem, was durch das Ich und den Astralleib indie geistige Welt eingeht und für die Individualität einen Wert hat,hat der Ätherleib einen allgemeinen Wert für dasjenige, was übergehtin die allgemeine Aura der Menschen-Erdenentwickelung. So könnenwir hinauf schauen zu den frischen, vollkräftigen, unverbrauchtenÄtherleibern, die hinunterwirken aus den geistigen Welten in die kom-menden Zeiten.

So wie wir heute vielfach sehen, daß Tote mitkämpfen mit denLebenden, so sehen wir auf der anderen Seite das ätherische Feld, dieelementarische Welt durchsetzt mit Kräften, mit starken Menschen-kräften, welche erworben werden in hoher Zuversicht in dem Glaubenan ideelle Menschheitsziele, welche zurückgelassen werden von Men-schen, die mit diesem Glauben durch die Pforte des Todes gegangen

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sind. Diejenigen, welche später leben werden, die werden aber hinauf-schauen müssen zu diesen unverbrauchten Ätherkräften, die fortwir-kend sein werden. Diese Ätherkfäfte Frühverstorbener, sie werden ganzsicher verlangen, daß sie nicht umsonst den Übergang gefunden habenin die geistige Welt und von dort aus herunterschauen. Sie werden ver-langen, daß sie wirklich ihren Teil beitragen können zur Neugestal-tung der geistigen Erdenwelt, welche von der Menschheit verlangtwird. Wie Mahner sind sie da, diese Ätherleiber, Mahner, die da sagen:Wir sind in die geistige Welt gegangen, damit euch von hier aus Kräfte,die in eure Herzen und Seelen gehen können, zufließen können, mitdenen ihr noch stärker arbeiten könnet für den im geisteswissenschaft-lichen Sinne gehaltenen Fortschritt der Erdenentwickelung. — Zusam-menwirken des Leiblichen mit dem Geistigen, wir müssen es verstehen,nicht nebulos, verschwommen, sondern als konkrete geistige Verbin-dung zwischen den Menschen, die hier auf Erden im physischen Leibeleben und den Seelen, die hinaufgegangen sind in die geistige Welt.Eine Gemeinsamkeit wird da sein, wenn wir die Tatsachen verste-hen und uns richtig erfüllen mit dem, was die Geisteswissenschaft ge-ben kann. Ja wahrhaftig, die Einsicht in den Zusammenhang zwischenGeistigem und Physischem, sie kann uns in der richtigen Weise stellenauch zu dem großen Ernste unserer Zeit, und uns ganz fühlen lassen,wie dasjenige, was geschieht, nur allein wird gerechtfertigt werdenkönnen von uns vor der Zukunft, wenn es genommen wird zum An-lasse eines großen, bedeutsamen Menschheitsringens und Menschheits-arbeitens auch auf dem physischen Plan. Erfüllen muß sich dasjenige,was wir schon gestern betonten, aus dem richtigen Verständnis zwi-schen geistiger und physischer Welt, erfüllen muß sich dasjenige, wasin den Worten liegt:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht -Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

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VIERTER VORTRAG

Stuttgart, 22. November 1915

Es sind ja durch die großen Ereignisse der Zeit schon viele derjenigenSeelen, die ihr Streben dem unsrigen verbunden haben, durch die Pfortedes Todes gegangen. Wie ich bereits im Verlaufe dieser kriegerischenZeiten hier von diesem Orte Ihnen andeuten durfte: gerade durch das-jenige, was mit diesen Seelen erlebt worden ist, hat es sich bestätigenkönnen, daß die Seelen, die aus dem Kampfe heraus durch die Pfortedes Todes gegangen sind, weiterhin mitleben dasjenige, was die großeZeit von ihnen fordert. Sie leben verbunden mit dem Geiste ihres Vol-kes, sie kämpfen weiter mit den geistigen Waffen. Gerade das aber,meine lieben Freunde, obliegt uns insbesondere diesen Seelen gegen-über: unsere liebenden Gedanken, unsere innigsten, uns in Liebe mitihnen verbindenden Impulse zu vereinigen. Es wird, wenn der Sturmder Ereignisse vorbei ist - in den ja insbesondere diese Seelen, auch wennsie schon durch die Pforte des Todes gegangen sind, hineinverflochtensind, allerdings im besten Sinne -, oder wenn die Zeit überhaupt ge-eignet ist, die Möglichkeit kommen, gerade mit jenen Gedanken undVorstellungen, die uns beseelen müssen für diese teuren Toten, derenTotenfest zu begehen.

Auch sonst hat gerade in dieser sturmbewegten Zeit die Macht desTodes ihre Mahnungen ausgebreitet innerhalb unserer Reihen. Geradeam heutigen Tage haben wir den Elementen der Erde übergeben dieirdische Hülle unserer lieben Freundin Sophie Sünde. Zahlreiche See-len auch aus dieser Stadt werden sich ja im tiefsten Sinne mit dieser,einer der treuesten Mitarbeiterinnen innerhalb unserer Reihen, tief ver-bunden fühlen. Es wird, wenn ich in den nächsten Tagen in Münchenin der Lage sein werde zu sprechen, zu meinen Pflichten gehören - aberzu den Pflichten, die in tiefster Liebe geleistet werden -, auch noch in-nerhalb unserer Geistesströmung der teuren Sophie Stinde zu gedenken.

In vieler Beziehung, meine lieben Freunde, sind wir so an dasjenigegemahnt worden, was ja, all die anderen Lebensrätsel wie zusammen-fassend, in der Mitte vieler Rätselfragen des Daseins steht: an den Tod.

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An den Tod, der oftmals so schmerzvoll, immer aber so rätselhaft ge-rade für diejenigen, die für Lebensrätsel Empfindung haben, sich hin-einstellt in das irdische Dasein, und der innerhalb des irdischen Da-seins selber etwas ist, was seine Aufklärung niemals durch dieses irdi-sche Dasein selber finden kann. Es ist gewiß im tiefsten Sinne begrün-det, wenn die beiden Gedanken zusammengebracht werden, welcheeinmal gebracht wurden in dem Thema auch eines der öffentlichenVorträge «Das Geheimnis des Todes und die Rätsel des Lebens». Denneine Betrachtung, welche sich über den Tod ergeht, bezieht sich nicht,wie so manche gerade im materialistischen Lager glauben, nur aufetwas, was dem Erdenleben ferne steht, was den Erdenmenschen ei-gentlich nichts angeht. Sondern auch eine Weltanschauungsbetrach-tung über den Tod bringt aus den Tiefen des Daseins solche Erkennt-nisse heraus, welche, gerade vom Todesgeheimnis aus, das Leben auchhier auf der Erde zu einem starken, zu einem sinnvollen machen. Unddeshalb muß man sich auch nicht vom Gesichtspunkte der Weltan-schauung aus abhalten lassen, gerade zur Erklärung, zur Aufhellungdes Lebens an das Rätsel, an das Geheimnis des Todes heranzugehen.

Und so sei denn in dieser Zeit, wo der Tod auf der einen Seite unsgerade im letzten Jahr so viel auch in unseren Reihen nahegestandenhat, und wo er außerdem so hundertfältig uns entgegentritt durch diegeschichtlichen Ereignisse, in denen wir stehen, das Geheimnis des To-des in die Betrachtungen dieser Tage in mancherlei Weltanschauungs-fragen hineinverwoben. Wir können, indem wir an das Geheimnis desTodes herantreten, den Tod da betrachten, wo er sich sozusagen nochvoll in das unmittelbare Leben hineinstellt. Der Tote selber nimmtja Abschied von diesem Sinnenleben, er betritt eine neue Sphäre. Aberer bleibt vorhanden in dem Schmerze derer, die er verlassen hat; erbleibt vorhanden in den Gedanken, die in jenen leben, bei denen durchden Toten Gedanken, Empfindungen, Gefühle angeregt werden durf-ten, solange der Tote unter den Lebenden weilte. Und es war nicht nureine schone, aus den tiefsten menschlichen Bedürfnissen hervorgehendeSitte, allüberall, wo das menschliche Herz nicht kalt und dürr ist, auchim allgemeinen für die Toten Feste anzusetzen, Totenfeste. Auch inunsere Zeit ragen sie herein, die Totenfeste, im Allerseelentag der Ka-

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tholiken, in dem Totenfeste der evangelischen Konfession, und man-ches andere Totenfest ragt mehr oder weniger individuell auch in un-sere Zeit herein. Wer sollte nicht das Gefühl haben, daß in dem Herein-ragen dieser Totenfeste selbst eine materialistische Zeit ihren Tribut ab-trägt an das spirituelle Leben? Selbst wenn der Materialismus die See-len schon so angefressen hat, daß sie es nur unbewußt tun: auch ma-terialistische Seelen werden davor zurückschrecken, anders als mitvertiefter Seele, mit vertieftem Herzen an dasjenige heranzutreten, wassich mit den üblichen Totenfesten verbindet. Die Toten bleiben in dem,was die noch Lebenden für sie fühlen, empfinden und denken können,im Leben herinnen. Und so können wir auch, wenn wir den Tod imallerengsten Sinne betrachten, diese Betrachtung des Todes noch mittenim Leben beginnen.

Wir wissen ja aus den allgemeinen Betrachtungen, die durch vieleJahre hindurch gepflogen worden sind, daß wir niemals sagen dürfen:Hier steht die physisch-sinnliche Welt, und abgesondert von ihr stehtdie geistige Welt. - Die physisch-sinnliche Welt reicht in die geistigeWelt hinauf, und die geistige Welt reicht in die physisch-sinnliche Weltherunter. Und wenn auch die äußeren Sinne des Menschen die physisch-sinnliche Welt nur im Sinnensein sehen, so ist doch, wie die Luft imgroben Sinne sich unmittelbar ausbreitet, der Geist allüberall ausge-breitet und durchwellt und durchwogt alles das, was der Mensch imphysischen Leben mit normalen Sinnen eben nur sinnlich sieht. Unddiejenigen, die durch die Pforte des Todes hindurchgegangen sind, diein der geistigen Welt sind, ragen herein in unsere sinnliche Welt mitihren Impulsen und Kräften. So daß wir sagen können: Wenn auchhinter der Schwelle des normalen Bewußtseins das Band liegt, das dieim physischen Leibe Lebenden mit den im Geiste lebenden Toten ver-bindet, so ist dieses Band doch ein reales. Und demjenigen, der in Gei-steswissenschaft sich vertieft, muß so manches Rätsel aufgehen, dasnotwendig gelöst werden muß, um das Leben zu verstehen da, wo esverstanden werden muß nicht vom theoretischen, sondern vom Le-bensstandpunkt aus selber, von dem Lebensstandpunkt aus, den nichtnur das Denken, den die Seele in ihrem ganzen Inhalt und in ihremganzen Umfange einnimmt.

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Versuchen wir uns das, was wir uns ja aus dem gewöhnlichen Le-ben klarmachen können in bezug auf den Tod, einmal vorzustellen.Der Tote geht von uns fort. Was sich äußerlich ändert, ist, daß unsereAugen ihn nicht mehr sehen, daß wir unseren Händedruck nicht mehrmit ihm tauschen können, unsere Worte gehen nicht mehr von uns zuihm, von ihm zu uns. Das, was von seinen Gefühlsströmen als Wärme inunser Herz sich ergossen hat, strömt nicht mehr in der sinnlichen Weltzu uns. Er hat uns während der Zeit, in der wir mit ihm zusammen-leben konnten, mit Hilfe seines sinnlichen Leibes, desjenigen, womit ersich umkleidet hat in der physischen Welt, das Bild immer von neuemvorgezaubert, das wir von ihm haben konnten. Die eingetretene Ver-änderung besteht darin, daß wir nun, wenn die Seele, der wir nahe-gestanden haben, durch die Pforte des Todes von uns gegangen ist,nicht mehr die Hilfe haben für unsere Verbindung mit dieser Seele, diedadurch bewirkt wird, daß das Bild dieses Menschen mit Hilfe dersinnlichen Impulse, die von ihm ausgehen, in uns erzeugt wird mitalledem, was es wachruft an Empfindungen, Gefühlen, Willensimpul-sen, an Liebefähigkeit, an Sympathie und Antipathie. Was von die-sem Zeitpunkte an, wo die Seele von uns durch die Pforte des Todeshinweggeschritten ist, in uns weiterlebt, ist das Bild, das nun in unsselber sein muß, das uns innerlich durchdringt. Wenn wir dieses Bildaus der Imagination, als welche es ja fortlebt in unserem Ätherleibe,insbesondere aber im Astralleibe und im Ich — was uns allerdings imnormalen Bewußtsein unbewußt bleibt -, wenn wir dieses zum Be-wußtsein des physischen Daseins erheben wollen, so müssen wir es voninnen heraus erstehen lassen. Das, was wir bewahrt haben in uns vonunserem Verhältnis zu dem Toten, müssen wir aus dem innersten See-lengrund, das heißt aus dem Ich und Astralleib ergießen in die Teileunseres Menschenwesens, die uns das Bewußtsein und die Vorstellungerzeugen: in den Ätherleib und physischen Leib.

Als die Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen ist, noch beiuns war, erzeugte sie noch das Bild; das Bild strahlte uns von außenan, wir brauchten mit dem, was unsere Seele zu geben hat, nur demBild entgegenzukommen. Wenn der Tote von uns gegangen ist, dannsind wir darauf angewiesen, selber dasjenige, was wir von ihm bewahrt

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haben, in unsere äußere Menschenhülle hineinzugießen, damit der Be-griff, die Vorstellung, das Bild von ihm vor unsere Seele treten kann.Uns unterstützt dann nicht mehr - wie bei der Erinnerung an den Be-kannten, der noch im Leben auf der Erde weilt - der Gedanke, daß wirdiese Erinnerung nicht als einziges haben, daß wir ihn auch nochäußerlich erblicken können. Das ist für uns eben der gewaltige Ein-schnitt, daß wir uns von nun an, solange wir nicht selber durch diePforte des Todes gegangen sind, auf die Erinnerung angewiesen sehen.

Diese Erinnerung an unbewußte Kräfte in uns kann ja nimmer-mehr ausgelöscht werden in unseren tiefen Seelengliedern, im Ich undAstralleib. Und wenn wir des Nachts in den Schlaf hineingehen, wennaus unserem gewöhnlichen Tagesbewußtsein die Eindrücke der phy-sischen Außenwelt versinken, wenn versinken alle die Gedanken, diewir vom Aufwachen bis zum Einschlafen haben können, dann leuchtenauf in dem, was wir in unserem Ich und Astralleibe aus unserem Leibeheraustragen, die Imaginationen, die lichten Bilder derjenigen Persön-lichkeiten, mit denen wir verbunden waren und die von uns hinweg-gegangen sind durch die Pforte des Todes. In dem Teile unseres We-sens, der in uns lebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen, da lebendie Toten mit uns, wie die Lebendigen der Erde mit uns leben vomAufwachen bis zum Einschlafen. Unser waches Tagesbewußtsein ver-danken wir eben dem Umstand, daß wir mit unserem physischen Leibe,der uns mit dem Ätherleibe zusammen das Tagesbewußtsein vermittelt,durch vier Stadien unserer Erdenentwickelung gegangen sind. Undes entzieht sich uns das nächtliche Bewußtsein aus dem Grunde, weilunser Ich ja erst während der Erdenentwickelung in uns eingezogenist und der Astralleib erst während der Mondenentwickelung. Waswir erleben können, wenn wir unsere Toten erheben in das Ich und denAstralleib, das werden wir erst in späteren Epochen unserer Erdenent-wickelung so erleben wie jetzt das Leben der Lebendigen der Erde, dasheißt im normalen, wachen Tagesbewußtsein. Das Ich ist das jüngsteGlied, das muß sich erst durchringen zu einem Bewußtsein, welchesso Wachbewußtsein sein kann wie das jetzige Tagesbewußtsein, dasdadurch errungen, verursacht wird, daß unser Ich und Astralleib ver-bunden sind mit dem physischen und Ätherleib. Der physische Leib ist

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durch vier Stadien der Erdenentwickelung gegangen, der Ätherieib istdurch drei Stadien gegangen, der Astralieib aber nur durch zwei Sta-dien, und das Ich ist erst durch ein Stadium gegangen.

So ruhen diejenigen, die Geister geworden sind, die unverkörperteSeelen geworden sind, in dem Elemente, das wir selbst durchlebenwährend unseres Schlafes. Aber in unser Tagesbewußtsein herein kön-nen wir sie nurmehr aus unseren Erinnerungen zur Vorstellung bringen.Es ist ja eine andere Kraft, die da bewirkt, daß ein geistiger Impuls inuns lebt, und eine andere Kraft, die bewirkt, daß ein solcher geistigerImpuls in uns zum Bewußtsein kommt. Die Eindrücke auf unsereSinne entstehen dadurch, daß sie von außen auch in den physischenLeib und den Ätherleib einfließen können. Für dasjenige aber, wasim Ich und Astralleibe nur sein kann, hat unsere jetzige normale Ent-wickelung noch nicht genügend Kraft, es so in den Ätherleib und phy-sischen Leib hinein zu drängen und zu pressen, daß es für uns Vorstel-lung wird. Dennoch ist eine Verbindung tief geistiger Art vorhanden.Denn gerade in den zartesten Gliedern unserer Wesenheit sind wir un-zertrennlich verbunden mit den sogenannten Toten. Für diese Ver-bindung bildet der äußere Tod keinen Einschnitt, kaum eine Umwand-lung. In diesen zarten Gliedern, in dem Ich und Astralleibe, da lebendie Toten so wie die Lebendigen, da leben diejenigen, die aus unserenReihen heraus Geisteswesen geworden sind.

Blicken wir ihnen nach mit den Mitteln der Erkenntnis, die wirhaben gewinnen können im Laufe des Lebens. Es ist ja hier öfter betontworden, wie ganz andersartig das Verhältnis eines Wesens überhaupt,also auch eines Menschenwesens, ist zu seiner Umgebung, wenn diesesWesen nicht wie wir in der physischen Welt einen physischen Leiboder einen Ätherleib hat. Wenn derjenige, der durch die Pforte derInitiation gegangen ist, für seine Erkenntnis den physischen und denÄtherleib verläßt, dann lebt er in seiner geistigen Umgebung; so lebter darin, wie auch der Tote darinnen lebt. Und ich habe es öfter be-tonen müssen, wie ganz andersartig das Verhältnis zu der geistigenWelt ist, welcher der Wahrnehmende dann selbst angehört, wenn erein entkörpertes Menschenwesen ist oder ein Wesen der Hierarchienoder ein Wesen der elementaren Welt. Wir haben betonen müssen, daß

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wir selbst die Worte anders wählen müssen, die andeuten sollen, wiedann das Verhältnis ist des geistigen Wesens zu seiner Umgebung ge-genüber dem Verhältnis eines im physischen Leibe verkörperten We-sens zu seiner Umgebung.

Hier in der physischen Welt machen die Dinge und Wesenheitender Außenwelt auf uns einen Eindruck. Wir stehen da, die Wesenheitenstehen außer uns. Das, was sie ausstrahlen, zieht durch unsere Sinne inunsere Seele hinein. Und wir sagen, indem wir ein Bewußtsein davonhaben: Wir stehen hier eingeschlossen in die Grenzen des Leibes. Dieanderen Wesen stellen wir vor; wir nehmen sie wahr. — Wenn wir indie geistige Welt hineinkommen, müssen wir schon das Wort anderswählen: Als geistiges Wesen werden wir wahrgenommen von den an-deren geistigen Wesen. Tiere nehmen wir wahr, insofern sie sinnlicheVerkörperungen sind, Pflanzen nehmen wir wahr, die Menschen neh-men wir wahr. Indem wir nun selbst in die geistige Welt hineingehen,werden wir wahrgenommen von den Wesen der Angeloi, der Archan-geloi, der Archai und so weiter. Und während wir hier sagen: Wirsehen die Pflanzen, die Tiere, die Menschen -, haben wir zu sagen,wenn wir in die geistige Welt eintreten: Wir erleben in uns etwas, unddieses Erleben bedeutet, die Geistesaugen eines anderen Wesens ruhenauf uns. Wir werden wahrgenommen. - Dieses Wahrgenommenwerden,dieses Wissen, daß auf uns geschaut wird, das unterscheidet unser Le-ben in der geistigen Welt von dem Leben in der physischen Welt.

Die Worte schon müssen, wenn man im eigentlichen Sinne spricht,umgewandelt werden, denn es ist alles ganz anders in der geistigenWelt. Und um es figürlich und doch wiederum mehr als figürlich aus-zudrücken: Wenn ein Wesen aus der geistigen Welt in die sinnlicheVerkörperung kommt, dann muß es sich darauf gefaßt machen, daßes allmählich lernen muß - auch das Kind muß das ja lernen -, durchdie physischen Sinne nach außen zu schauen, eine Welt von außen zuempfangen, ein Ich zu werden, das die Welt von außen empfängt.Wenn ein Wesen durch die Pforte des Todes oder auf eine andere Artin die geistige Welt aus der sinnlichen Welt eintritt, muß es sich darangewöhnen, sich zu sagen: Du bist ein Ich, aber ein Ich, das nicht iso-liert in der Welt lebt, das innerlich immer wiederum etwas erlebt, so wie

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es etwa die Erinnerungsvorstellungen erlebt hat, die aus dem Unter-grunde der Seele herauf tauchen. Aber jetzt weißt du: Was da auf-taucht, sind die in dich hineingetretenen Vorstellungen, Gedanken,Empfindungen der anderen Wesen, die mit dir in der geistigen Weltzusammenleben. — So wie von außen in uns hereintreten die Eindrücke,die wir von der Sinnenwelt, von den Sinneswesen bekommen, so tretenin unserem Inneren die Vorstellungen und Empfindungen von Wesenauf, die in der geistigen Welt sind. Aber wir wissen, diese Vorstellungenund Empfindungen, die in uns auftreten aus dem dann für uns wesent-lichen Inneren, die rühren her von geistigen Wesen, die mit uns sind.Da sind wir in der geistigen Welt, da tritt in uns eine Vorstellung auf,die Vorstellung eines Wesens, das wir lieben müssen, eines Wesens,das uns die Anregung gibt, dies oder jenes in der geistigen Welt zu voll-bringen. Woher rührt diese Vorstellung, wie kommt es, daß sie in unsauftritt, wie hier die Erinnerungen? Das rührt davon her: Ein anderesWesen, ein Wesen der geistigen Welt hat sich uns genähert. Wir schauenes nicht von außen an, wir wissen, daß es da ist, weil es das, was in ihmlebt, in uns hineinsendet. Wir werden vorgestellt, wir werden wahrge-nommen, so müßten wir sprechen gegenüber dem, was in der geistigenWelt lebt. Dadurch wird das Erleben in der geistigen Welt nicht etwaabstrakter, nebelhafter, damit wird es nur um so lebendiger. Es wirdso lebendig, was wir in der geistigen Welt erleben, wie nur lebendigsein kann das, was wir in der physischen Welt in unserer unmittelbarenUmgebung gegenwärtig haben. So müssen wir uns bekanntmachen mitdem ganz andersartigen Zusammenleben mit den Wesen, die in dergeistigen Welt sind.

Und nun blicken wir von diesem Gesichtspunkte aus nach jenen,die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Sie treten ein in dieWelt, von der sie sagen müssen: Ich lerne immer mehr kennen, wie ichwahrgenommen werde, wie in mich ihre Vorstellungen, Empfindungenund Gefühle hineinsenden die entkörperten Menschen, die Elementar-wesen, die Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, der Archangeloi.Alle diese Wesen leben in mir. - Und wir blicken hinauf zu einemsolchen Toten, und wir ahnen: So wie uns ein Mensch hier in der Sin-nenwelt entgegentritt und wir durch seine Haut das Blut erahnen, wir

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in seinen Zügen die Arbeit seiner Nerven erahnen, so erahnen wir,indem wir den geistigen, den entkörperten Menschen schauen, wiedurch das, was von uns erlebt wird an ihm, die Gedanken, die Emp-findungen der Angeloi, der Archangeloi, der Archai wirken.

Hier in der physischen Welt tritt uns der physische Mensch ent-gegen. Er hat durch seine Seele und seine Entwickelung das tierische,pflanzliche und mineralische Sein geadelt. Aber dieses tierische, pflanz-liche und mineralische Sein, es tritt uns in ihm dennoch entgegen. Wennuns ein Mensch hier im physischen Dasein entgegentritt: tief verborgenin seinem Inneren und leuchtend durch die Leibeshülle ist sein Seelisch-Geistiges. Doch das, was von seinen Impulsen in unser Auge hinein-strahlt, das, was in der Sinnenwelt auf uns wirkt, ist durchsetzt mitder bis zum Menschentum veredelten tierischen Natur; es tritt uns imMenschen die Tierheit geadelt entgegen, aber doch die Tierheit. Auchdie Pflanzenwelt und das Mineralische, sie treten uns entgegen im Men-schen. Wir wissen: Die Reiche der Natur leben im Menschen auf einerhöheren Stufe. Und würde das Mineralreich nicht im Menschen leben,so würde uns niemals an der Stelle, wo uns der Mensch entgegentrittim Physischen, wirklich ein Mensch entgegentreten können, denn nurdurch das, was er an Mineralischem in sich schließt, kann er ja einenEindruck in uns hervorrufen. Stehen wir als Geist einem geistigen We-sen gegenüber, so blicken wir - wie wir hier bei dem physischen Men-schen die Tierheit sehen - bei dem geistigen Menschen in der geistigenWelt auf dasjenige, was in ihn, in diesen geistigen Menschen hinein-strömen lassen an Empfindungen, an Gedanken, seelenhaft die Ange-loi. Es ist herunterorganisiert bis zum Menschenleibe, was die Angeloierleben. So wie hinauforganisiert ist die Tierheit in dem Menschen,so ist herunterorganisiert in der geistigen Welt dasjenige, was die An-geloi durchzuckt im Seelenleben des Menschen. Und wie hinauf orga-nisiert ist das Pflanzenreich im Menschen, so ist herunterorganisiertin der geistigen Gestalt des Menschen dasjenige, was die Archangeloiin ihn hineinströmen lassen. Und ebenso wie das Mineralreich im sinn-lichen Menschen in uns aufglänzt und dadurch der sinnliche Menschin uns wahrnehmbar wird, so ist dasjenige, was uns als geistiger Menschin der geistigen Welt entgegentritt, dadurch eine in sich geschlossene

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Imagination, daß die Archai das, was sie an formgebender Kraft, anbildender, gestaltender Kraft haben, hineingießen in den Menschen.So wie die drei Naturreiche hier den physischen Menschen durchsetzen,so durchsetzen die Angeloi, Archangeloi und Archai den Geist desMenschen in der geistigen Welt.

"Wenn dann der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist,so ist er ja — mit Ausnahme der allerersten Zeit — durch lange Zeitenverbunden mit seinem Astralleib und mit seinem Ich. Aber so, wie erda nun ist der Mensch in der geistigen Welt und von der Erde sich be-wahrt das Ich und den Astralleib, so können in ihn zunächst herein-wirken, so daß sie ihn eigentlich wahrnehmbar machen, die Geisterder Form und diejenigen Geister, die wir kennenlernen als die Ange-hörigen der Hierarchie der Archai. So wie das eigentliche Mineralreichden Menschen hier sichtbar und fühlbar macht, so macht das Reich derArchai und Geister der Form den Menschen zum festgeschlossenen We-sen in der geistigen Welt. Und so wie das Pflanzliche schon nicht mehrgeschaut wird, sondern wie es hier in der physischen Welt im Menschennur erahnt wird, so wird erahnt in der festgeschlossenen Gestalt desMenschen in der geistigen Welt dasjenige, was die Hierarchien in ihneinströmen lassen. So wie das Tier im Menschen uns hier nicht mehrtierisch entgegentritt, und nur die Geisteswissenschaft darauf aufmerk-sam macht, inwiefern die Tierheit einen Anteil hat am Menschen, soerkennt man in der geistigen Welt zunächst auch nicht den etwas ver-borgen bleibenden Anteil der Angeloi, der noch stark ist, solange derMensch den Ätherleib nicht abgelegt hat. Der verborgene Anteil derAngeloi bleibt, aber er kommt weniger zum Ausdruck, wenn man dieGeistgestalt des Menschen in der geistigen Welt sieht. So begegnet unsin der Tat der Tote, wenn wir nach einiger Zeit zu ihm in Beziehungtreten, so daß wir sagen können: Er ist es; aber das, was ihm die fest-geschlossene Wesenheit gibt, das ist die Art und Weise, wie in ihn hin-einwirken die Geister der Form. Und was noch stark erahnt werdenkann an ihm, das sind die Geister der Persönlichkeit. - So gleichsamvon oben, von den Hierarchien her organisiert, tritt uns dann der Toteentgegen, wie uns hier das Physische, durchorganisiert von der mine-ralischen Welt, entgegentritt.

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Wenn wir nun von einer Menschenseele verlassen worden sind, da-durch daß sie durch die Pforte des Todes gegangen ist, dann bewah-ren wir hier im Rahmen unseres physischen Bewußtseins das Erinne-rungsbild. Alles das, was uns teuer ist an dem Toten, bewahren wir inuns. Das ist eine andere Erinnerung, als die Erinnerungen sind, diewir sonst im äußeren Leben haben. Denken Sie nur, wie unsere ande-ren Erinnerungen sind. Was sind sie denn? Sie sind Gedanken überetwas, was nicht mehr da ist, denn dadurch sind sie gerade Erinnerun-gen. Dasjenige, an das wir uns erinnern, das ist nicht da, es geschiehtnicht in dem Augenblicke, in dem wir uns erinnern. Der Inhalt un-serer Erinnerungsvorstellungen ist nicht da, wirkt jetzt nicht. Wennwir uns desjenigen erinnern, was das Wesen einer Seele ist, die unsverbunden war und die durch die Pforte des Todes gegangen ist, dannhaben wir den Gedanken an diesen Toten; aber er selbst, der Tote, istda, ist in unmittelbarer Gegenwart da, ist ein reales Wesen der gei-stigen Welt. Da haben wir nicht bloß eine Erinnerungsvorstellung, dahaben wir eine Vorstellung in der Seele, die zwar auch eine Erinne-rungsvorstellung ist, der aber ein reales geistiges Wesen entspricht. Inuns lebt die Vorstellung, und draußen in der geistigen Welt lebt derTote. Das Wesen ist da, und die Vorstellung ist da. In uns also, wennwir verehrend dem Toten nachblicken, wenn wir in treuem Gedenkendasjenige in uns gegenwärtig machen, was der Tote uns war, in un-serem Wachbewußtsein tritt die Imagination, tritt das Bild des Totenauf. Da ist es. Was heißt das? Das heißt: es ist da in einem lebendigtätigen Prozeß in unserem physischen und Ätherleibe.

In unserem physischen und in unserem Ätherleibe stellen wir fürdas andere Leben, das nicht gewidmet ist der Erinnerung an teureTote, das vor, kombinieren in unseren Gedanken dasjenige, was inder physischen Welt ist. Rufen wir das Bild, das Gedanken- oderEmpfindungsbild oder das Gefühlsbild des Toten in uns hervor, dannlebt für dieses Bild in unmittelbarer Gegenwart ein Wesen, durch dasblicken, ihre Vorstellungen in ihm verbindend, Engel und Erzengel.Bedenken Sie, wenn wir die Gedanken, die Empfindungen auf liebeTote hinrichten, da ist mehr, viel mehr vorhanden, als im gewöhn-lichen normalen Zusammenleben vorhanden ist an Beziehungen zwi-

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sehen der geistigen und der sinnlichen Welt. Da ist etwas vorhanden,was auch, ich möchte sagen, nicht vorhanden sein könnte. Und eineFrage richtet sich auf vor dem Geistesforscher: Was bedeutet nun fürdie Toten die Tatsache, daß wir leben in der Welt, die sie verlassenhaben, in dem Reiche, dessen Hülle sie abgelegt haben, was bedeutetfür diese Toten, die da leben, der Umstand, daß wir in unserem Wach-bewußtsein, das heißt im physischen und Ätherleibe das, was uns mitihnen verbindet, hervorrufen? Für den Geistesforscher entsteht dieseFrage, eine Frage, die scheinbar recht intimer Natur ist, die aber, wennder Geistesforscher sie löst, ich glaube, viele Lichter wirft auf die Ge-heimnisse des Lebens.

Denn wir können diese Frage noch anders, von dem Gesichtspunktedes unmittelbaren Lebens aus stellen, des Lebens, das allerdings nichtimmer vorhanden ist, das aber die Menschen dennoch suchen auf dieArt, wie ich es vorhin angedeutet habe. Stellen wir die Frage so: Wasbedeutet es denn eigentlich für die gesamte Realität, wenn an einemTotengedenktage, am Allerseelentage oder einem anderen Totenfest-tage, die Seelen der Menschen, die hier auf Erden in ihren Leibeshüllenleben, nach den Gräbern gehen oder in Gedanken sich mit ihren Totenvereinigen? Was bedeutet es, wenn wir uns selber unsere Erinnerungs-tage oder Erinnerungsstunden an die Toten machen? Wenn wir ihnenin unserem Sinne vorlesen? Wenn wir etwas tun, um uns mit ihnen zuvereinigen und besonders das lebendig zu machen, was uns mit ihnendauernd verbindet? Mit anderen Worten jetzt: Was bedeutet es, wennwir uns im Wachbewußtsein das wach rufen, was uns mit den Totenverbindet? - So kann auch diese Frage vor das Bewußtsein des Geistes-forschers hintreten.

Da muß er es ausdrücken durch etwas anderes, was sich ihm nunaus der Geistesforschung heraus ergibt. Man kann gerade die wichtigstenTatsachen der geistigen Welt im Grunde nur bildlich ausdrücken. Manmuß nach Vergleichen suchen, wenn man die Dinge der geistigen Weltausdrücken will. Denn für das gewöhnliche Leben sind ja unsere Wortegeprägt, für die physische Welt, und so unmittelbar mit den Wortender physischen Welt können wir nicht sprechen über die geistige Welt,wenn wir ihre Tatsachen ausdrücken wollen. Wir müssen versuchen,

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auf dem Umweg eines Vergleichs in unseren Seelen solche Vorstel-lungen wachzurufen, welche uns das gegenwärtig machen, was wiruns vorstellen wollen über die geistige Welt. Und es bietet sich demGeistesforscher etwas hier in der physischen Welt, wodurch er eineVorstellung hervorrufen kann von dem, was eben wie eine Frage voruns aufgetaucht ist. Wir finden hier in der physischen Welt etwas, das,ohne daß der äußere, der Naturprozeß der sinnlichen Welt gestörtwürde, auch nicht da sein könnte, das aber doch diejenigen Menschennicht missen möchten, die das Leben in seiner Gänze durchzulebenstreben. Was ist es, was wir hier in der physisch-sinnlichen Welt fin-den, was nicht zum fortlaufenden Naturprozeß gehört, was wir abernicht missen möchten? Nun, wenn wir uns von dem, was da ist undwas sich auf das Natürliche bezieht, Bilder machen, seien es künst-lerische Bilder, seien es solche, wie sie in neuerer Zeit durch die äußerePhotographie hervorgerufen werden, so ist das, was uns so in Bildernder physisch-sinnlichen Welt von Wesen, die dieser Welt angehören,entgegentritt, etwas, das zu dem Naturprozeß hinzukommt; der Na-turprozeß würde auch ohne sie sein können.

Versuchen Sie einmal, sich das recht vorzustellen, wie das Lebenbereichert wird dadurch, daß wir uns Bilder machen von dem, wassonst im Naturprozeß da ist. Wie sehr lechzen wir danach, außer demNaturprozeß noch die Kunst in unserer Welt zu haben. Wie sehr wol-len wir von irgend etwas, was erlebt worden ist, ein Bild haben! DerWeltenlauf könnte auch ohne das weitergehen. Ein Wesen bleibt, wases ist, auch wenn wir kein Bild davon haben, aber wir brauchen ingewissem Sinne ein Bild. An dieses nun wird der Geistesforscher er-innert, wenn er sich Vorstellungen machen muß über das, was dieToten dadurch haben, daß die Lebendigen sie in ihrer Seele auflebenlassen.

Das, was der dem Naturprozeß entsprechende Geistesprozeß ist,auf den die Toten, also die geistigen Wesen hinblicken, das wäreda, auch wenn nicht in den Seelen der Menschen die teuren Erin-nerungen auflebten. Aber öde und leer wäre dann für die Toten, fürdiese geistigen Wesen der fortlaufende Geistesprozeß, so wie wir Leereempfinden würden, wenn wir nur den Naturprozeß um uns hätten,

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und nichts von Bildlichem hineingestellt wäre in das Menschenleben,in den Naturprozeß.

Wahrhaftig, man kann folgenden Vergleich ziehen: Wenn eineteure Freundin, ein teurer Freund lange von Ihnen abwesend waren,Sie liebend ihrer gedenken und sie nicht sehen können, und nun schickenIhnen diese ein Bild, so ist Ihnen dieses Bild lieb. Es ist etwas, was IhrHerz mit Warme erfüllt, etwas, was Sie brauchen. So wie Ihnen dasBild teuer sein muß, so sind die Gedanken an die teuren Toten, die imwachen Tagesbewußtsein der Menschen leben, für diese Toten, wennsie herunterschauen auf die Welt, die sie sonst nur als fortlaufendenGeistesprozeß empfinden, den sie aber nun durchsetzt fühlen von dem,was nicht da sein könnte und doch da sein muß - in dem einen oderanderen Sinn sind die Worte zu nehmen -, wenn sie das, was fort-laufender Geistesprozeß ist, mit dem durchsetzt fühlen, was ihnenaus den Seelen, die hier geblieben sind, hinaufgestrahlt wird, etwa wieein Bild eines lieben Menschen. Darum kann man sagen: Wenn manauf einen Friedhof geht, am Totensonntag oder am Allerseelentag,und dort viele Menschen sieht, die in dieser Zeit erfüllt sind von demBilde ihrer teuren Toten, und man blickt dann hinauf in die Seelenderer, an die da erinnert wird, dann sind das die Dome, die Kunst-werke für diese Toten. Dann durchleuchtet das, was ihnen da von derErde hinaufstrahlt, für diese Toten die Welt wie ein herrlicher Dom,der uns Geheimnisse kündet, uns die Welt durchleuchtet, oder wie einBild, das uns lieb und wert ist, einen lieben Menschen vergegenwärtigt.Öde und leer wäre für die Toten die Welt, in die sie immerdar blickenmüssen; von ihrem Gesichtspunkte aus wäre diese Welt der Erde ödeund leer, wenn sie herunterblicken würden, und in den Seelen der hierauf Erden Lebenden nicht das zu ihnen hinauf blickte, was ja auchnicht sein kann, und doch sein muß: die Gedanken, welche die auf derErde Lebenden mit den geistig Lebenden, den Toten, verbinden.

Ein tief ergreifender Gegensatz kündet sich uns da an, zwischendem Erdenleben und dem Leben im Geiste. Wir müssen, um das Erden-leben zu erhöhen, dasjenige, was nicht ist, im Bilde zum Erdenlebenhinzufügen für die auf der Erde Lebenden. Eine von allem Bild-lichen entblößte Erde, eine bloße Naturerde, wie öde, wie leer wäre

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sie! Und jetzt erheben wir uns zu dem Standpunkt der Toten. Sie wür-den den fortlaufenden Geistesprozeß wahrnehmen, aber öde und leerwäre er für sie, so öde und leer wie das bildlose Naturdasein für dieErdenkinder, wenn die Erinnerungen an die Toten nicht lebendig wä-ren, wenn das treue Gedenken nicht wach wäre in den Wachbewußt-seinen, wenn innerhalb des fortlaufenden Geistesprozesses nicht dieGedanken wären, die für die geistige Welt gleich Kunstwerken sind,insofern sie schöne Gedanken sind, und nicht verwoben sind demErdenprozeß, sondern hingerichtet werden auf die nicht mehr im Er-denprozeß Lebenden. Und was hier auf der Erde ein Kunstwerk zumKunstwerk macht, was seine Schönheit erhöht, es ist ja etwas, was inviel geringerem Sinne mit dem menschlichen Innersten zusammen-hängt als das, was unsere Gedanken an die Toten für die geistige Weltsind. Denn auch in der geistigen Welt gibt es in diesem Sinne eineSchönheit, eine wirkliche, echte Schönheit. Sie entsteht aber nicht indem gleichen Maße durch Äußerlichkeit, wie sie doch vielfach hier inder physischen Welt durch Äußerlichkeit in dem Bilde entsteht. Daßdie Gemälde von Raffael, von Leonardo, von Dürer schöner sind alsandere, rührt davon her, daß diese Meister eben mehr konnten alsandere Meister. Daß ein Toter ein schöneres Kunstwerk - analogischgesprochen - von der Erde hinauf sich entgegenstrahlen fühlt, dasrührt her von der Tiefe der Innerlichkeit, von dem heiligen geistigenGefühl der Erinnerung, die wir an ihn fortdauernd hegen. Die Stärkeder Empfindung für die Toten greift ein in unser Seelenleben und ver-tieft es im Anblick der Toten selber. Dies macht unsere Seele schönerund schöner.

Verfolgen Sie diesen Gedanken in Ihrer eigenen Seele, meine liebenFreunde, und Sie werden durch diese Vertiefung manches sich er-meditieren, was Ihnen Aufschluß geben kann über den Zusammen-hang zwischen der geistigen und der sinnlichen Welt und über dasspezielle Kapitel der geistigen Welt, in der die Toten leben, und dersinnlichen Welt, in der die Erdenmenschen leben. Wir werden andereBetrachtungen aufbauen, die uns in weitere Kreise der geistigen Welteinführen können, nach diesem ersten Kapitel, das wir heute durch-gearbeitet haben.

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F Ü N F T E R VORTRAG

Stuttgart, 23. November 1915

Wenn man an das Geheimnis des Todes herantritt, dann muß mansich vor allen Dingen immer gegenwärtig halten, wie es auch gesternwieder betont worden ist, daß zur Charakteristik der geistigen Weltenschon notwendig ist, den Sinn, der in unseren gewöhnlichen, für diephysische Welt zugeschnittenen Worten liegt, zu wandeln. Denn derTote, der sogenannte Tote, tritt ein in die geistige Welt, und wie wirja schon wiederholt angedeutet haben, ist es eben in der geistigen Weltvon Grund aus anders als in der physischen Welt.

Nicht nur nach geisteswissenschaftlichen Einsichten, sondern schonin Gemäßheit der gewöhnlichen physischen Vernunft kann gedachtwerden, daß beim Eintreten in die geistige Welt durch die Pforte desTodes das erste für den Toten ist: das Lösen des physischen Leibes vondetüy was innerhalb dieses physischen Leibes seine andere Menschen-wesenheit ist. Das ist ja natürlich eine ganz triviale Wahrheit. Wirwollen nun heute in dem Sinne, wie das für die Geisteswissenschaft er-forschbar ist, auf die Vorgänge, die in Betracht kommen beim Be-schreiben der Pforte des Todes und dem weiteren Verfolg des Wegeszwischen dem Tod und einer neuen Geburt, auf die inneren Erlebnissedes Toten hinschauen.

Für den Menschen, der hier im physischen Leben zurückbleibt, istes ja so, daß er die Empfindung hat, dasjenige, was so in der physischenLeibeshülle eingeschlossen ist, verlasse den oder die Zurückbleibenden,der Tote gehe fort in eine andere Welt. Die Wahrnehmung, die derTote - wie gesagt, nach dem, was für die Geisteswissenschaft erforsch-bar ist - zunächst hat, ist die, daß er seinerseits verlassen wird vonden Erdenbewohnern und auch von seinem physischen Leibe, von dem,was das Werkzeug war für seine Wahrnehmung, für sein Denken undFühlen und seine Willensfähigkeit zwischen Geburt und Tod. Diesealso, die um ihn waren, die mit ihm verbunden waren, gehen von ihmweg: das ist seine erste Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist zunächstverknüpft mit den Vorgängen, die wir oft beschrieben haben: daß die

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Erde selber in einem gewissen Sinne weggehe, so daß sie die physischeLeibeshülle von dem durch die Pforte des Todes Gehenden wegnimmt.Es ist durchaus so, als ob gewissermaßen der Tote das Gefühl bekäme,er bleibe hinter einer Bewegung zurück, die er eigentlich hier auf derErde gar nicht wahrgenommen hat, er bleibe hinter der eigenen Be-wegung der Erde zurück; die Erde gehe von ihm fort und mit derErde alles dasjenige, was ihn auf der Erde umgeben hat. Und er werdenun einer ganz anderen Welt eingegliedert, aber einer Welt, durch dieer nunmehr etwas wahrnimmt, was ihm vorher ganz verborgen war,durch die er wahrnimmt, daß dasjenige, was ihm als Leibeshülle ge-geben war, gebunden ist an die Erde, auch an die Bewegungen der Erde.Er hat so gewissermaßen das Gefühl - obwohl das recht ungenau aus-gedrückt ist -, er könne den Weg nicht mehr mitmachen, den die Erdeund ihre Geister machen; daher verlassen sie ihn. Er bleibe in einergewissen größeren Ruhelage zurück, er gliedere sich gewissermaßeneiner ruhigeren Welt ein.

Auf diese Wahrnehmung des Verlassenwerdens, namentlich auchvon der physischen Leibeshülle, von alledem, was man von Menschenerfahren hat, was man mit den Menschen erlebt hat zwischen Geburtund Tod, gründet sich nun für den Toten gar mancherlei. Der Besitzseiner physischen Leibeshülle war ihm etwas Selbstverständliches wäh-rend des Erdenlebens. Daher ist das, was er jetzt wahrnimmt, etwasganz Neues, und wir werden sehen, wie verschieden diese Wahrneh-mungen sind, je nachdem man eines sogenannten natürlichen Todesdurch Krankheit oder Altersauflösung stirbt oder eines gewaltsamenTodes, zum Beispiel eines solchen Todes, den jetzt viele Tausendesterben müssen.

Diese Wahrnehmung, von demjenigen verlassen zu werden, waseinem selbstverständlich als Eigentum gehörte, bedingt, daß etwas ganzNeues im Seelenleben auftritt. Es bedeutet, daß etwas im Seelenlebenauftritt, was man eben nicht hat kennenlernen können, solange man imLeibe weilte. Das erste, was da im Seelenleben auftritt, ist, ich möchtesagen, das umgekehrte Gefühl gegenüber dem Leben. Hier auf derErde hat man das Gefühl, daß einem das Leben von außen gegeben ist,daß man lebt durch die Lebenskräfte, die einem vom Äußeren der

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Erde gegeben sind. Nun geht sozusagen die Erde mit dem, was sieeinem gegeben hat, fort und sogleich tritt durch dieses Verlassenwerdendas Gefühl auf, daß von innen heraus nunmehr die Kraft des Belebenssprudelt. Das erste also ist die Wahrnehmung des Sich-Belebens. Esist der Übergang zu einer gewissen Aktivität, während man bisher inder Passivität verharrt hat: Du belebst dasjenige, was du nun bist.Du bist in dir selber. Was du bisher Welt nanntest, das ist von dir fort-gegangen. Das, in dem du jetzt lebst, indem du es aber ganz ausfüllst,das erzeugt in sich selber die Kraft des Belebens, das belebt sich. - Undim Konkreten ist das so, daß sich eben das ergibt, was ich oftmals dasLebenspanorama genannt habe, das flutende Leben in alledem, wasman zwischen Geburt und Tod erlebt hat. Die Bilder dieses Lebenstreten ja vor die Seele. Es steigt gleichsam aus dem Punkte, in dem manselber ist, wie ein mächtiger, sich erzeugender Traum das ganze letzteLeben zwischen Geburt und Tod auf. Aber Kraft braucht dieses Bild,damit es nicht ein Traum sei. Es wäre wie ein dahinflutender Traum,wenn man nicht dadurch, daß man dieses Bewußtsein errungen hat:die eigene Leibeshülle löst sich los von dem Geistig-Seelischen -, dieKraft des Belebens bekommen hätte. Der Traum belebt sich. Es wird,was sonst nur flutende, dunkle Traumesbilderwelt wäre, von dem-selben Punkte aus belebt, es wird lebendige Welt, lebendiges Lebens-panorama. Man ist selber Quell des Belebens für das, was also alsTraum auftaucht. Das ist ja das unmittelbare Erleben nach dem Tode.

Das alles ist so, während der Mensch noch kaum das Bewußtseinhat, er sei aus seinem früheren Bewußtsein heraus, sondern als habesich nur in ihm etwas geregt wie aus dem Mittelpunkt seines Wesens,das sich ausbreitet und dem entflieht jenes Leben, dem er sich bis nunpassiv hingegeben hat. Was man nicht gewußt hat zwischen Geburt undTod: daß Gedanken, die sonst bloß wie ein Ich-Traum auf und abwogen, leben, das weiß man jetzt. Und man lebt sich nun aus demfrüher fremden Leben heraus in dieses Eigenleben hinein. Man erlebt,was es bedeutet, daß das, was bisher mehr äußerlich mit einem ver-bunden war, das Innerste ergreift. Was bisher eben nicht Leben, son-dern Bild des Lebens war, ergreift das Vorstellen, das Denken. Undwährend man sich in diese Vorstellung hineinfindet, geht allmählich

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eine weitere auf. Das ist diese, die man nennen könnte: ein Sich-Hin-einleben in ein Durchtönen des Lebenspanoramas mit dem Weltenall. -Mehr im allgemeinen habe ich diese Dinge schon beschrieben. Man mußsie aber immer genauer betrachten, damit man hinter die Geheimnisseder Welt kommt.

Zuerst belebt sich gewissermaßen der innerste Lebenstraum, wirdselbst ein lebendes Universum, ein lebender Kosmos. Dann füllt ersich gleichsam aus mit dem, was man nennen kann: Es durchtöntdie Sphärenmusik des Weltenalls diesen Lebenstraum. Man erlebt,wie das, was man selber war zwischen Geburt und Tod als ein Aus-schnitt aus dem Kosmos, nunmehr aufgenommen wird von dem Kos-mos, wie sich das eingliedert demjenigen, was jetzt nicht irdisch ist.Denn das Irdische hat man durchgemacht zwischen Geburt und Tod.Und dann ist das Nächste, daß man fühlt, wie intim der Kosmos das-jenige durchzieht, was man so als ein Ausschnitt war. Man hat dasGefühl, wie wenn ein inneres Licht aufginge und dasjenige erhellte,was man war. Das alles aber strömt und tönt sozusagen in das Lebens-panorama hinein. Dann löst sich der Ätherleib ab - denn diese Vor-gänge geschehen ja alle, solange der Mensch mit dem Ätherleibe ver-bunden ist -, und es geschieht das, was man nennt die Loslösung desÄtherleibes.

Nun ist dieses, was man da erlebt, dieses Wahrnehmen des Lebens-panoramas, dieses Auskleiden des Lebenspanoramas mit den tönendenund leuchtenden Substanzen des Kosmos, ähnlich dem Sich-Einglie-dern des physischen Leibes in die menschliche Wesenheit, wenn mandurch die Geburt ins Dasein tritt. Wie da sozusagen die menschlicheSubstanz, die einem von der Erde gegeben ist, sich in das menschlicheSeelenwesen hineingliedert, so gliedert sich nach dem Durchschreitender Todespforte hinein das Kosmische, das Allmäßige. Dieses Erleben,das da beschrieben worden ist, es ist nötig. Und wenn man wirklichgeisteswissenschaftlich das Leben zwischen Tod und neuer Geburt ver-folgt, dann bemerkt man, welche Bedeutung für dieses ganze Leben zwi-schen Tod und neuer Geburt dieses erste Durchleben nach dem Durch-schreiten der Todespforte hat. Hier im physischen Erdenleben - dasmüssen wir uns ganz klarmachen, ich habe es Öfters betont - haben

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wir unser Ich-Bewußtsein dadurch, daß wir eben in dem physischenLeibe leben. Ich betone ausdrücklich: das Ich-Bewußtsein, nicht dasIch. Unser Ich ist uns ja zugeteilt von den Geistern der Form, das istetwas anderes. Aber unser Ich-Bewußtsein haben wir dadurch, daßwir im physischen Leibe untergetaucht sind. Dieses Ich-Bewußtseinim wachen Erdenzustand müssen wir uns nur seinem Wesen nach ganzklarmachen. Sie können es sich am besten so klarmachen: Denken Siesich, Sie bewegen sich durch einen Raum. Zunächst spüren Sie nichts;jetzt stoßen Sie an etwas. Die Außenwelt stößt an Sie, aber Sie werdensich gewahr. Sie werden den Stoß, den Ihnen die Außenwelt versetzt,in sich gewahr, Sie werden sich an der Außenwelt gewahr, Sie spürensich, der an die Außenwelt anstößt.

In der Tat haben wir unser Ich-Bewußtsein in der physischen Weltdadurch, daß wir überall an die Außenwelt stoßen. Natürlich nichtnur mit dem Tastsinn, sondern wenn wir die Augen aufmachen, stoßenwir auch an, das heißt, wir stoßen auf das äußere Licht; wenn Tönean unser Ohr dringen, so werden wir uns gewahr, indem unser Gehöran die Töne anstößt.

So aber werden wir uns auch selbst gewahr dadurch, daß wir jedenMorgen aus der geistigen Welt herauskommen und untertauchen in diephysische Welt. Dieses Untertauchen in unseren physischen Leib, dasheißt dieses Zusammenstoßen unseres Ich und Astralleibes mit demÄtherleibe und physischen Leibe, das erzeugt unser Ich-Bewußtsein.Daher in der Regel das Fehlen des Ich-Bewußtseins in der Traumes-welt: weil wir zum Ich-Bewußtsein eben dieses Zusammenstoßen mitdem physischen Leibe und dem Ätherleibe brauchen.

Zum klaren, deutlichen, wachen Ich-Bewußtsein brauchen wir die-ses Zusammenstoßen. Nun ist dem, der durch die Pforte des Todes ge-gangen ist, der äußere physische Leib genommen. Auf dieselbe Weise,wie zwischen Geburt und Tod, kann er das Ich-Bewußtsein nicht er-zeugen. Er würde ohne Bewußtsein seines Ich den Weg zwischen demTode und einer neuen Geburt schreiten müssen, wenn nicht dieses Ich-Bewußtsein nun auf einem anderen Wege erzeugt würde. Dieser andereWeg ist der, daß alles dasjenige, was wir nun unmittelbar im Äther-leibe durchleben, nachdem wir durch die Pforte des Todes geschritten

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sind, die ganze Zeit über zwischen dem Tod und einer neuen Geburtbestehen bleibt.

Auch in dieser Beziehung ist das Erleben in der geistigen Welt zwi-schen dem Tod und einer neuen Geburt entgegengesetzt dem physi-schen Erleben hier zwischen Geburt und Tod. Hier in der physischenWelt kann sich im normalen Bewußtsein keiner des Momentes seinerGeburt erinnern; das Erinnern setzt erst später ein. An sein Geboren-werden erinnert sich der Mensch nicht, das steht sozusagen in einergrößeren zeitlichen Ferne, als der Erinnerungsweg rückwärts durch-machen kann. Das aber, was der Mensch innerlich jetzt erlebt vonder anderen Seite des Todes aus, das bleibt das ganze Leben hindurchzwischen dem Tod und einer neuen Geburt für die Seele bestehen. DasTodeserlebnis, das bleibt ebenso gewiß bestehen, wie das Geburtser-lebnis verschwindet, wenn der Mensch in die physische Welt eintritt.Zu seiner Geburt sieht der physische Mensch nicht zurück in der phy-sischen Welt, auf den Tod sieht er zurück in der ganzen Zeit zwischendem Tod und einer neuen Geburt. Dieses Zurückschauen, dieses Tref-fen auf das Todeserlebnis, das ist es, was das Ich-Bewußtsein erzeugtzwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dem verdanken wir es.

Der Anblick des Todes ist ja nur von der Seite des physischen Er-lebens aus gesehen, wenn überhaupt, etwas Schreckliches. Nur da hat erGrausen und Schrecken, wenn man ihn von dieser Seite aus sieht. DerTote sieht ihn aber von der anderen Seite. Und von dieser Seite ausgesehen, hat das Wissen wirklich nichts Furchtbares, daß gewisser-maßen der Moment des Todes bleibend ist für das ganze Leben zwi-schen Tod und neuer Geburt. Denn wenn er auch Vernichtung ist, an-gesehen von dieser physischen Seite des Lebens, so ist er das Herrlichste,das Größte, das Schönste, das Erhabenste, was immerfort gesehenwerden kann von der anderen Seite des Lebens aus. Da bezeugt er fort-während den Sieg des Geistes über die Materie, die selbstschöpferischeLebenskraft des Geistes. In diesem Erfühlen der selbstschöpferischenLebenskraft des Geistes ist das Ich-Bewußtsein vorhanden in den gei-stigen Welten.

In den geistigen Welten hat man also dieses Ich-Bewußtsein geradedadurch, daß man fortwährend sich innerlich selbst erzeugt, daß man

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niemals an ein bestehendes Sein appelliert, sondern immer sich selbsterzeugt, und in diesem Selbst-Erzeugen gewissermaßen sich berührtrückwärts hin nach dem Momente, da der Tod eingetreten ist. Alsowir können auch angeben, auf welche Weise das Ich-Bewußtsein, dasSelbst-Bewußtsein in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt er-zeugt wird. Diese große Bedeutung der Geburt des Ich-Bewußtseins hatdieses Erleben in der ersten Zeit nach dem Tode. Und natürlich istgerade dieses erste Erlebnis auch verschieden, je nachdem der Mensch,sagen wir, ein höheres Alter erreicht, dann auf naturgemäße Weisedurch die Pforte des Todes geht, oder vielleicht im zartesten Kindes-alter schon dahingerafft wird oder in der Blüte seiner Jahre. Und voneiner ganz besonderen Bedeutung in bezug auf den Unterschied aufdiesem Gebiet ist annähernd — natürlich nicht pedantisch genau - dasfünfunddreißigste Lebensjahr. Was jetzt in so tausendfältiger Weisestattfindet, daß junge Leute in der Blüte ihres Lebens durch die Pfortedes Todes schreiten: es wird sich uns morgen zeigen, wie sich das nochweiter modifiziert dadurch, daß der Tod von außen an sie herantritt.Aber wenn ein Mensch überhaupt jung durch die Pforte des Todesschreitet, dann ist das Erblicken dieses geschilderten Lebenstableausmit seinen belebenden Vorgängen schon anders, als wenn man etwanach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr durch die Pforte des Todesschreitet.

Man kann etwa so sagen - obwohl es natürlich schwierig ist, fürdiese Verhältnisse die richtigen Worte zu finden -, jemand, der injugendlichem Alter dahinstirbt, der hat das Gefühl: Das Traumbilddeines Lebens taucht auf, du belebst es aus dem Mittelpunkt deinesLebens heraus. Aber indem du deine eigenen belebenden Kräfte aus-gießest über dieses Lebenstableau, steht hinter. diesem Lebenstableaunoch etwas wie ein Rest aus der Welt, aus der du herausgeschrittenbist, indem du durch die Geburt gegangen bist.

Stirbt ein Kind, dann ist das Lebenstableau ja außerordentlich kurz.Wenn zum Beispiel ein sechsjähriges Kind stirbt, so ist das Lebens-tableau noch wenig inhaltsreich. Dafür tritt aber gewissermaßen hin-ter diesem Tableau, in dasselbe hereinschattierend, von hinten noch vielesvon dem auf, was vor der Geburt durchlebt wurde in der geistigen

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Welt, oder, wie man auch in der deutschen Sprache früher gesagt hat -Goethe hat den Ausdruck gebraucht —, bevor man «jung geworden»ist. Ein schöner Ausdruck, der jetzt verlorengegangen ist. Und wennein Kind stirbt, das noch keine Rückerinnerung besitzt, bei dem nochnicht der Zeitpunkt eingetreten ist, bis zu dem man sich zurückerinnert,so hat es eigentlich noch nicht ein solches Lebenstableau, in welchem essich so unmittelbar darinnen fühlt, wie der Mensch sich drinnen fühlt,wenn er spater stirbt; sondern es tritt durch das ganze Lebenstableauheraus, bloß ein wenig modifiziert, dasjenige, was es um sich gehabthat vor der Geburt. Man kann sagen: Dieses Erschauen bestimmterReste der geistigen Welt, die man vor der Geburt durchlebt hat, verliertsich erst für die Rückschau nach dem Tode, wenn man das fünfunddrei-ßigste Lebensjahr durchschritten hat.

Man soll niemals — dieses sei in Einschaltung gesagt — in die Ver-suchung kommen, ich betone das ausdrücklich, sich dem gar nicht un-gefährlichen Gedanken hinzugeben, was nun für einen Menschen bes-ser sein könnte: vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr zu sterben,oder nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahr zu sterben und das-jenige durchzuleben, was wir noch beschreiben werden. Diesen Gedan-ken soll man nicht nachgehen, man soll sie nicht hegen, sondern mansoll erwägen: Wann man durch die Pforte des Todes schreitet, dassoll man im strengsten Sinne des Wortes einzig und allein dem Karmaüberlassen.

Aber diese Dinge verstehen, das ist wichtig. Stirbt man nach demfünfunddreißigsten Lebensjahr, dann ist allerdings nicht die Möglich-keit gegeben, etwas von dem Reste des der Geburt vorangehenden gei-stigen Lebens noch zu schauen. Das ist abgedunkelt. Aber das Lebens-tableau tritt dennoch auf. Nur hat man ein starkes Gefühl, daß manvon innen heraus es erzeugt, daß man es gewissermaßen selber spinnt;aber es wird durchbelebt, dieses Gespinst. Dadurch unterscheiden sichganz wesentlich das Sterben vor dem fünfunddreißigsten Jahr unddas Sterben nach dem fünfunddreißigsten Jahr in bezug auf das Le-benstableau. Das vorfünfunddreißigjährige Lebenstableau hat nochviel mehr den Charakter, daß es wie von außen an einen herankommt,wie aus einer geistigen Welt heraus, und man ihm nur entgegenschiebt

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dasjenige, was man selber erlebt hat. Das nachfünfunddreißigjährigeLebenstableau ist so, daß einem eigentlich von außen entgegenkommtzuerst mehr ein Leeres, ein Verdunkeltes, und daß man diesem Dun-kel entgegenbringt, was man sich im Leben erworben hat. Aber esentzündet sich dadurch nicht minder lebendig. Es ist das innere Er-leben modifiziert dadurch, daß man es das eine Mal so wie das Her-ankommen einer Fata Morgana hat, der man entgegengeht, währenddas andere Mal der Mensch seine Welt in die Welt des Kosmos hin-einträgt. Das alles hat für das Leben eine große Bedeutung, wie wir mor-gen noch sehen werden. Dieser karmische Vorgang, daß uns unser phy-sischer Leib in einem bestimmten Alter des physischen Lebens ent-rissen wird, hat eine große Bedeutung für die Art des Lebens nachdem Tode. Aber das hängt innig zusammen mit unserem ganzen Karma.

Dann kommt die Zeit, in der wir das Gefühl haben: Jetzt bist dueigentlich erst draußen, aus dem Irdischen heraus. — Wenn man grobsprechen würde, so könnte man so sagen: Unmittelbar beim Durch-schreiten der Pforte des Todes hat man das Gefühl, der irdische Leibgeht von einem fort. Die Freunde, die Menschen, mit denen man zu-sammen war, gehen von einem fort. Die Erlebnisse, die man mit ihnenhatte, gehen von einem fort. Man ist für eine Weile mit sich allein,allein mit dem, was man erlebt hat. Natürlich ist da alles in dem Le-benstraum drinnen, was man mit den Menschen erlebt hat; man be-schaut es als das, was die Menschen in einen eingegraben haben, aberso, daß man die Tage über in sich lebt und in sich den Lebenstraum be-lebt. Man hat da den Eindruck, auch die Erde gehe von einem fort, aberman lebe noch durchaus in derselben Sphäre, in der sich die Erde befin-det, in der Sphäre, die noch zur Erde gehört. - Und das Ablegen desÄtherleibes erlebt man eigentlich auch so, daß man das Gefühl hat:Jetzt bist du nicht nur aus der Erde und ihrer Substanz heraus, sondernauch aus dem, was die unmittelbarste Umgebung der Erde ist, aus demLicht; du bist auch aus dem fort, was auf der Erde als dichte Substan-tialität die Sphärenmusik unhörbar macht. Du bist - das ist der letzteEindruck vielleicht, der sehr bedeutsam ist, der dann etwas Bleiben-des ist -, du bist fort aus der Gewohnheit, gewissermaßen dich und deineUmgebung beleuchten zu lassen von äußerem Licht. - Ich bemerke ein-

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schaltungsweise: Die dümmste Vorstellung haben diejenigen, die glau-ben, wenn man von der Erde zur Sonne wegfliegen würde, so würdeman immerfort durch Licht fliegen. Diese phantastische Vorstellunghaben gegenwärtig die materialistischen Physiker. Der Glaube, daß dieSonne in der Weise, wie man es in der Physik beschreibt, Licht ver-breite, daß durch den Weltenraum das Licht gehe und auf die Erdefalle, das ist einer der ärgsten Aberglauben. Man merkt das nach demTode dadurch, daß man, sich von dem Ätherleib frei wissend, die Er-fahrung macht, daß nur in dem Gebiet, das zur Erde gehört, das ist, waswir als Sonnenlicht hier im physischen Leben haben. Man hat die Wahr-nehmung: Jetzt stört dich dieses Licht nicht mehr. Jetzt ist es die in-nere Erzeugung des Lichtes, die sich ausbreitet in dem erst Durchtönten.Das innere Licht kann nun wirksam werden, weil das äußere Lichtdas innere nicht mehr stört.

Und nun beginnt eben mit dem Ablegen des Ätherleibes der Ein-tritt in jene Welt, die so oft die Kamalokawelt genannt wird. Wirwollen sie die Seelenwelt nennen, denn nachdem zuerst die innere Be-lebekraft aufgetreten ist, erlebt man dann etwas wie inneres Durch-tönen dessen, was man ist, da man nun mit sich allein ist. Und nachdem inneren Durchleuchten tritt nun das auf, was wie ein inneresDurchwärmen sich ausnimmt. Hier auf der Erde hat man das Durch-wärmen, indem man Wärme von außen empfängt und darauf ange-wiesen sich fühlt im physischen Leibe. Und nun tritt das innere Durch-wärmen auf, und dieses Durchwärmen ist so, daß man nun wiederfühlt: Du bist jetzt imstande, in dem Elemente, in dem du lebst, dieEmpfindung in dir selbst hervorzurufen, die du früher auch hattest,aber in der Form: Wärme wirkt auf dich. - Das durchzieht das Le-benstableau mit Wärme. Dadurch tritt man in ein völlig neues Ele-ment ein. Man hat das Gefühl, daß der Ätherleib einen nun verläßt.Und das ist eben der Eintritt in die Welt, die mit vollem Bedacht inmeinem Buche «Theosophie» die Welt der Begierdenglut genannt wor-den ist, weil die Wärme, die von innen auftritt, zugleich Begierde ist,sich erzeugende, fließende Begierde, Empfinden des Wollenselementes.Und in sie mischt sich schon hinein dasjenige, was uns jetzt für einegewisse längere Zeit bleibt: das Erleben der Seelenwelt, die ich ja öfters

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geschildert habe - wir können diese Dinge nur nach und nach genauerschildern - als ein Zurückerleben des Lebens. Man schreitet von demErleben des Todes zurück gegen die Geburt hin. Und nun erlebt manalles das von der anderen Seite wieder, was man hier im physischen Le-ben durchlebt hat. Aber nicht so durchlebt man es, wie man es hier inder physischen Welt durchlebt hat, sondern man erlebt es auf moralischeWeise. Wenn man, sagen wir, an einem gewissen Zeitpunkt zwischen Ge-burt und Tod jemandem eine Verletzung zugefügt hat, so hat man dazu-mal in sich dasjenige gespürt, was man getan hat, nicht aber das Leid,das der andere empfunden hat. Jetzt erlebt man dieselbe Sache wieder,aber nicht das, was man selber an Zorn oder Antipathie in sich durch-lebt hat, sondern so, wie der andere es erlebt hat. Man breitet sein eige-nes Erleben, wenn ich mich so ausdrücken will, auf die Wirkungen sei-ner Taten aus, die da waren zwischen Geburt und Tod. Man lebt sichin alle Wirkungen der Taten hinein.

Das ist gewissermaßen die Grundlage des Lebens zwischen dem Todund einer neuen Geburt, daß man sich während des Erlebens in derSeelenwelt nach und nach in das, was man bewirkt hat zwischen Ge-burt und Tod, hineinlebt, daß man in dieses allmählich untertaucht.Wirklich so, wie man nach und nach hier von Kindheit auf sich in dieNatur hineinlebte, wie man lernte, die Natur wahrzunehmen, die Na-tur zu verstehen, so lebt man sich in der Zeit nach dem Tode in dieWirkungen seiner eigenen Taten, in die Wirkung seiner eigenen Ge-danken und Worte, kurz in die gesamte Welt der Wirkungen hinein;man strömt sich aus in die Welt der Wirkungen. Gewiß tauchen ausdiesem Untergrund schon geistige Wesen nach und nach auf: die Wesender höheren Hierarchien, die Wesen der Elementarwelt. So wie wirhier nicht bloß die Natur erleben, sondern Tiere, Pflanzen, Mineralienauftauchen auf dem Boden der Natur, so tauchen auf innerhalb diesesZurückerlebens, wo wir uns in die Wirkungen unserer Taten hinein-leben - denn das ist eigentlich dann der Grundboden unserer Welt -,die geistigen Wesen in der geistigen Welt. Da kommen uns dann auchentgegen, wie in der physischen Welt die physischen Wesen, unter dengeistigen Wesenheiten der Elementarreiche und der höheren Hierar-chien die Seelen, die mit uns in Zusammenhang gestanden haben, die

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Seelen, die schon früher verstorben und in der geistigen Welt sind, oderdie Seelen, die noch im physischen Leibe verkörpert sind, mit denen wirhier Zusammenhang gehabt haben. Mit alledem belebt sich dieserGrundboden des nachtodlichen Seins, dieses Sich-Auflösen in die Weltseiner eigenen Taten.

Und da ist in einer gewissen Weise wahrzunehmen, daß ein Unter-schied besteht zwischen dem Wahrnehmen einer Seele, die noch aufErden weilt, und einer Seele, die auch schon durch die Pforte des To-des gegangen ist. Der Tote weiß natürlich, ob er es mit der einen odermit der anderen Seele zu tun hat. Wenn er es mit einer Seele zu tunhat, die noch im irdischen Leibe weilt, dann hat der Tote das Ge-fühl, daß diese Seele mehr wie von außen an ihn herandringe, daß sichdas Bild, die Imagination selber formt. Bei einer Seele, die auch schonzu den entkörperten gehört, ist ein viel aktiveres Erleben da. Da hatman das Gefühl, daß die Seele an einen herankommt, daß man aberdas Bild für diese Seele formen muß. Der Tote kommt mit seiner Wesen-heit an einen heran, sein Bild muß man selber formen; der noch Le-bende bringt einem sein Bild heran, wenn man auf ihn hinunterschaut.

Und nun durchlebt man also in einer gewissen Weise mit moralischerBetonung dasjenige, was man seine Taten nennen kann, das heißt dieWirkungen desjenigen, was man getan, gedacht, gewollt hat. Da tauchtman unter, da lebt man sich hinein. Und in einer ganz bestimmtenWeise taucht man ein, nämlich so, daß man eben zum Beispiel das Er-leben hat: Du hast jemanden verletzt, jetzt erlebst du, was der andereerlebt hat durch die Verletzung! - Das ist wirklich jetzt eigenes Er-leben, was der andere hier in der physischen Welt erlebt hat. Das machtman durch. Und indem man es durchmacht, taucht ganz wie durchinnere, elementare Notwendigkeit in einem die Kraft auf: Das mußtdu ausgleichen, das mußt du gutmachen! - Es ist wirklich so, daß Sieden Vergleich gebrauchen können: Eine Stechmücke fliegt Ihnen ent-gegen, Sie schließen die Augen. Sie führen eine Tätigkeit aus unter ei-nem Eindruck. - Nach dem Tode erleben Sie das, was irgend etwas,das Sie begangen haben, bewirkt hat; dann antworten Sie in sich selberin dem Erzeugen der Kraft, das auszugleichen, also das auszugleichen,was der andere durch die Verletzung erlitten hat. Das heißt, indem Sie

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das durchleben, rückläufig im Seelenland erleben, nehmen Sie in sichauf die Kraft, in diesem Menschen, der das durch Sie erlitten hat, daswiederum wegzuschaffen. Damit ist der Wunsch erzeugt, mit ihm zu-sammenzusein im Erdenleben, um das, was man ihm erwiesen hat, wie-derum auszugleichen. Da erzeugen sich während dieses Rückerlebensdie ganzen Kräfte zum Karma, zum ausgleichenden Karma. Die nimmtman da auf.

Also schon in diesen ersten Jahren oder Jahrzehnten nach demDurchgang durch die Todespforte erzeugt man das Ausleben desKarma. Und so wahr, als im Keime eine wachsende Kraft ist, die spatererst in der Blüte sich auslebt, so wahr ist, daß jetzt schon, in der Zeitnach dem Durchschreiten der Todespforte, in dem Toten die Kraftals Wurzelkraft besteht, die dann bleibt fürs ganze Leben zwischen demTod und einer neuen Geburt, und die im neuen Erdenleben oder in spä-teren Erdenleben sich auslebt als karmischer Ausgleich dessen, was manverübt hat. So erzeugt sich der Wille, der dann unbewußter Wille zumKarma wird.

Und nun kann man noch etwas näher betrachten, was wichtig istfür die Erkenntnis dieses Bildes des Lebens zwischen dem Tode undeiner neuen Geburt. Man kann es betrachten, wenn man noch einmaleinen Blick wirft auf Wechselwirkungen zwischen den Verhältnissendes irdischen Lebens hier, die uns in ihrer äußeren Erscheinung gut be-kannt sind und über die wir manche Betrachtung angestellt habenihrem inneren Geheimnisse nach, wenn wir auf die Wechselwirkungblicken zwischen wachem Tagesleben und nächtlichem Schlafesleben.

Wir wollen heute von einem gewissen Punkte aus noch einmal aufdieses Wachen und diesen Schlaf sehen. Äußerlich betrachtet bestehtja der Schlaf darin, daß wir mit unserem Ich und Astralleibe außer-halb des physischen und des Ätherleibes sind. Das Schlafesleben bleibtzunächst, wenn es nicht auf eine gewisse Art vom Traumesleben durch-setzt ist, unbewußt, doch bedeutet dies nicht Untätigkeit. Im Gegen-teil, dieses Schlafesleben ist ein innerlich viel tätigeres Seelenleben -wenn es auch zunächst während des normalen Erdenlebens unbewußtbleibt - als das wache Seelenleben. Das wache Seelenleben ist nur des-halb so intensiv, weil die Tätigkeit des Ich und des Astralleibes an dem

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Ätherleibe und physischen Leibe einen Widerstand erfährt, und in die-sem gegenseitigen Sich-Stoßen von Ich und Astralleib einerseits undphysischem und Ätherleib andererseits etwas entwickelt wird wie fort-währende Stöße und Gegenstöße. Dieses ist es, was uns als waches Ta-gesleben erscheint, während wir im normalen Erdenleben noch nichtin der Lage sind, die fortwährende, aber intensive Tätigkeit des Nacht-lebens zum Bewußtsein zu bringen. Dieses stoßt nicht an den physi-schen und Ätherleib, daher wird es nicht bewußt. Aber an sich ist dasTagesleben schwächer; es wird nur bewußt dadurch, daß es fortwäh-rend antrommelt an Ätherleib und physischen Leib. Dieses Antrom-meln nimmt man wahr, während die intensivere Tätigkeit des Schla-feslebens ins Unbestimmte hinausgeht, nicht antrommeln kann an ir-gend etwas und dadurch unbewußt bleibt.

Aber womit beschäftigt sich der Mensch während dieses Schlafes-lebens? Wenn Träume auftreten im normalen Leben, so sind dieseTräume ja nicht die wirkliche Tätigkeit während des Schlafeslebens,sondern sie sind eigentlich eine Verbildlichung der Tätigkeit durch dieErinnerungen des gewöhnlichen Lebens. Die Bilder des Traumlebensentstehen dadurch, daß das Leben seinen Teppich breitet über die ei-gentliche innere Tätigkeit; und dadurch wird mancherlei wahrgenom-men im Traumesleben. Da sind das Ich und der Astralleib in einer le-bendigen Tätigkeit; wenn sich das berührt mit dem Ätherleibe undder Mensch anstößt an den Ätherleib, dann entsteht der Traum. Aberder Traum benützt aus dem Ätherleib heraus die physischen Lebens-erinnerungen, um die unsichtbar bleibende Tätigkeit des Ich und desAstralleibes sichtbar zu machen. Hinter den Traum kommt man dahernur, wenn man diese Bilder in bezug auf ihren Charakterablauf nimmt,wenn man also diese Bilder verstehen lernt. Träume müssen erst in derrichtigen Weise gelesen werden, es muß erst die richtige Auslegekunstdazukommen. Dann weisen sie allerdings in diese bedeutungsvollsteWirklichkeit hinein, die vom Ich und vom Astralleib im Schlafe aus-geführt wird. Diese Tätigkeit also, die da der Mensch ausführt, ent-hüllt sich dann der ernsten und würdigen Geistesforschung.

Worin besteht nun diese Tätigkeit vom Einschlafen bis zum Auf-wachen? Sie besteht darin, daß man in viel intensiverer Weise inner-

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lieh die Tageserlebnisse noch einmal durchlebt, daß man gewisserma-ßen zum Selbstbeurteiler wird der Tageserlebnisse. Es ist trivial ausge-drückt, aber tief innerlich wahr: man lebt in dem normalen Bewußt-sein in den Tag hinein, man läßt die Ereignisse, die um einen sich ab-spielen, abfluten. In der Nacht aber nimmt man ichlich und in demAstralleib - ichlich und seelisch - die Tagesereignisse viel ernster, vielbedeutungsvoller. Man wägt sie, prüft sie in bezug auf ihren Welten-wert. Man beschäftigt sich damit, was sie für eine Bedeutung haben imganzen Weltenzusammenhang. Eine ungeheure innerliche Gründlich-keit in der Lebensbetrachtung ist ausgegossen über die Tätigkeit vomEinschlafen bis zum Aufwachen; nur bleibt sie eben im normalen Le-ben unbewußt. Alles dies, was da der Mensch wie ein nochmaligesDurchleben des Tageslebens jede Nacht durchmacht, das hat eine großeBedeutung als Vorbereitung für das Leben nach dem Durchschreitender Pforte des Todes.

Betrachten Sie doch einmal mit den Mitteln der gewöhnlichen phy-sischen Betrachtung dieses fortlaufende Leben zwischen Geburt undTod. Man sagt natürlich nur, man erinnere sich bis zu einem gewissenZeitpunkt zurück in diesem Leben. In Wahrheit erinnert man sich nichtan das ganze Leben zurück, sondern man erinnert sich am Abend andas, was bis zum Morgen geht. Dann reißt die Erinnerung ab. Dannkommt erst wiederum der vorhergehende Tag, dann wieder die Nacht,an die man sich nicht erinnert. So erinnert man sich zurück, aber esist gleichsam Kettenglied an Kettenglied, ein weißes und ein schwarzesGlied. An die Nacht erinnert man sich nicht in dem Leben zwischenGeburt und Tod. Das Eigentümliche ist nun, daß man sich gerade er-innert in dieser Zeit, in der man im Seelenlande lebt, an die Art, wieman nun in den Nächten, Nacht für Nacht zurückgehend, die Tages-erlebnisse durchlebt hat. Hier im physischen Leben erinnert man sichan seine Tage; im Seelenland erinnert man sich an dasselbe, aber manerinnert sich, wie man die Tage durchwirkt und durchlebt hat in denNächten. Man schreitet seine Nächte zurück. Dadurch blicken Sie hin-ein in die ganze Art des Erlebens im Seelenlande.

Wenn Sie sich das im einzelnen klarmachen, ist es so: Sie habeneinen Menschen getroffen an einem bestimmten Tage des Lebens, Sie

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haben mit ihm dieses oder jenes erlebt. Sie erleben es nicht nur mitihm am Tage, sondern auch in der Nacht noch einmal, auch in denfolgenden Nächten; dann ist es eine Art von Reminiszenz. Sie erlebenes da innerlich im Ich und Astralleib. Alles, was Sie hier erlebt habenim Tagesbewußtsein, erleben Sie wiederum im Nachtbewußtsein. Undso wie Sie es im Nachtbewußtsein erlebt haben, so gibt es Ihnen dieHandhabe für das, wie Sie es in der Seelenwelt brauchen. Sie erlebenIhre Nächte zurück. Das ist eine sehr bedeutungsvolle Wahrheit derGeistesforschung, und man kann durch eine solche Sache immer wie-derum der Tatsache gedenken, daß das Forschen im Geistigen nicht soist, wie viele glauben. Viele glauben, daß wenn man einmal die geistigeWelt betreten hat, dann kenne der Geistesforscher auf einmal die ganzegeistige Welt und wisse über alles Bescheid. Dieser Glaube ist ebensonaiv, wie es naiv ist zu glauben, daß einer, der über einen Teil der Erdegegangen ist, die ganze Erde kennt. Stücke der Erde kennt er ganz gut,aber von anderen Stücken der Erde weiß er nichts. Ebensowenigbraucht einer, der die geistige Welt an irgendeinem Punkte kennt,alles von der geistigen Welt zu wissen. Das ist Gegenstand einer lang-samen Forschung. Daher ist es so schwierig, über die Geisteswissen-schaft zu sprechen, weil man immer wieder diesem Vorurteil begegnet.Wenn geisteswissenschaftliche Vorträge gehalten werden, dann ver-langen die Leute in der Fragenbeantwortung, daß über alle DingeAuskunft gegeben werde. Solche Fragen sind ebenso zu beurteilen, wiewenn irgend jemand zum Beispiel eine bestimmte Anzahl von Mine-ralien, von Pflanzen kennengelernt hätte, und man würde ihn dannüber die Geheimnisse der Tierwelt fragen und sagen: Er kennt daseine, da muß er auch das andere kennen!

Es ist durchaus so, daß alle Einzelheiten der geistigen Welt ersterarbeitet werden müssen. Und vor allem muß man warten können,bis sich einem die eine oder die andere Sache ergibt. Nun haben Sieersehen können, daß ich in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß»und «Theosophie» gesprochen habe über die ungefähre Länge des so-genannten Kamalokalebens, des Lebens in der Seelenwelt. Von einemgewissen Gesichtspunkte aus kann man das auch durchaus so sagen,wie es da geschehen ist. Aber nun kommt der Geistesforscher in einen

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bestimmten Zusammenhang, der sich wirklich vergleichen läßt mit demBereisen von Ländern. Man kommt von einem Ort zum anderen, undso kommt man hier von einem Gebiet zum anderen. So kann der Gei-stesforscher zu einem anderen Gesichtspunkte kommen; und diesemGesichtspunkt ergibt sich auf die Frage: Womit beschäftigt sich dieTätigkeit des Ich und des Astralleibes in der Nacht? - als Antwort:Die Erlebnisse der Nacht können so betrachtet werden, daß sie einenochmalige Verarbeitung der Tageserlebnisse sind. - Die Frage kannsich aufwerfen: Wie nimmt sich da das Leben in der Seelen weit aus,wenn man weiß, die Nächte werden durchlebt in der Seelenwelt? - Ichhabe angegeben, daß das Leben in der Seelenwelt ungefähr ein Drittelausmacht des letzten Erdenlebens. Wenn man die Nächte durchlebt,wie lange wird das Leben in der Seelenwelt dauern? Nun, man durch-schläft ungefähr ein Drittel seines Lebens hier auf der Erde; einigeLeute verschlafen mehr, andere weniger, aber ungefähr ein Drittel desErdenlebens verschläft man.

So sind die ungeheuer bedeutungsvollen Eindrücke, die man habenkann in bezug auf die Bewahrheitung der Geisteswissenschaft. Dennso ist es ja in der Geisteswissenschaft: Da wird einem einmal von einemgewissen Gesichtspunkte aus etwas gegeben, von dem aus man hinein-schaut in die geistige Welt. Da ergibt sich eine Wahrheit. Es könnte sieeiner bezweifeln, diese Wahrheit. Nun geht man von einem anderenGesichtspunkte aus und kommt zu derselben Wahrheit, so wie es jetztmit dem Durchleben der Nächte der Fall ist. Das ergibt die Bewahrhei-tung. Das ist ein wichtiges Kriterium, dieses innerliche Zusammen-stimmen. Und das werden Sie überall in der Geisteswissenschaft, da wosie ernst und würdig betrieben wird, finden: daß von verschiedenenGesichtspunkten aus dieselbe Sache gesucht wird, und daß sich die-selbe Wahrheit ergibt von diesen verschiedenen Gesichtspunkten aus.Wenn die Menschen einmal ein Gefühl dafür bekommen, welcherWahrheitswert in dieser Art und Weise liegt, der geistigen Wahrheitsich zu nähern und diese geistige Wahrheit dann zu finden, so werdensie auch empfinden, wie ungeheuer viel wahrer dasjenige ist, was aufdiesem Gebiete erforscht werden kann, als alles das, was in der phy-sischen Welt erforscht werden kann.

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Das ist das Wesentliche, das Wichtige, daß wir hier im physischenErdenleben ein Gedächtnis haben für dasjenige, was im tagwachen Be-wußtsein erfahren ist, und daß wir in der Zeit, in der wir durch dieSeelenwelt gehen, ein Erinnerungsvermögen haben für das, was in denNächten weitergearbeitet wird auf Grundlage dessen, was das tag-wache Bewußtsein erlebt.

Damit wir recht fruchtbar uns den bedeutungsvollen Wahrheitennahen können, die wir morgen noch abzuhandeln haben, wollen wiruns eines in die Erinnerung rufen, was ich auch hier schon in einemanderen Zusammenhange mit Bezug auf die großen Ereignisse unsererZeit erwähnt habe: Wenn der Mensch so durch die Pforte des Todesgeht, daß sein Leben gewissermaßen von außen abgerissen ist, über-haupt wenn er in jugendlichem Alter dahinstirbt, dann tritt, nachdemer durch die Pforte des Todes gegangen ist, nach kurzer Zeit auch dieTrennung vom Ätherleibe ein. Aber dieser Ätherleib hätte ja in sichdie Kraft, den Rest des Lebens noch zu versorgen mit äußeren Lebens-kräften. Normal bekommt der Mensch an Kräften des Ätherleibes das-jenige mit, was ihn bis ins hohe Alter mit Lebenskräften versorgenkann. Reißt nun das Leben ab, dann bleiben doch diese Kräfte. Imabgelegten Ätherleibe sind diese Kräfte auch vorhanden. Und ge-radeso wie in der physischen Welt nichts verlorengeht an Kräften, son-dern nur verwandelt wird, so gehen auch diese Kräfte nicht verloren,sondern sie bleiben vorhanden. Wenden Sie das konkret an, dann wer-den Sie sich sagen: Wenn der Mensch im jugendlichen, im blühendenAlter hinstirbt, hinterläßt er der Welt das, was er noch an Lebens-kräften in seinem Ätherleibe hat, die er selber hätte verbrauchen kön-nen. - Stellen Sie es sich noch konkreter vor. Nehmen Sie einen Men-schen an, der, sagen wir, im fünfundzwanzigsten Lebensjahre durcheine Kugel getroffen worden ist: er hinterläßt der Welt an Lebensäther-kräften das, was er hätte aufbrauchen können vom sechsundzwanzig-sten Lebensjahre ab für den Rest eines langen Lebens. Das bleibt, dasist eine Gabe, die der Tote überläßt der geistigen Lebensatmosphäre, inder wir sind. Von diesen Kräften bleiben wir umgeben. Und in diesenKräften stecken die Opfergesinnungen, von denen der also Geendeteseine Ätherkräfte durchzogen hat. Das bleibt. Und die Nachkommen-

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den wissen gar nicht, wie sie in den von den Vorfahren auf diese Weisehinterlassenen Kräften eigentlich leben, wie sie von denen umgebensind, und wie unsere geistige Lebensluft davon durchtränkt ist. Sieachten nicht auf das, was zurückbleibt von den Hingegangenen in ei-ner solchen Zeit, wo in verhältnismäßig kurzer Zeitspanne so vielenoch lebensbrauchbare Ätherleiber der geistigen Erdenatmosphäreübergeben werden. - Von da ausgehend, werden wir morgen weiter-sprechen.

Wir wollen nur noch den Bück hinlenken auf dasjenige, was sichuns erschließt aus solchen tiefen Zusammenhängen, durch die wir indie geistige Welt hineinblicken können, und nicht mehr in bloß ab-strakter, trivialer Weise in der Sinneswelt auch noch verschwommenden Geist schauen, sondern darin konkret Geistiges wesenhaft schauen.Wir schauen darin - neben dem, was sich an Schicksal abspielt bei denMenschen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind - Wesen derhöheren Hierarchien, Wesen der Elementarwelt. Aber wir schauenauch, was innerlich verbunden bleibt mit der Erde: das, was in denÄtherleibern zurückgeblieben ist. Es wird das in konkreter Weise wir-ken, was die auf den großen Feldern der Ereignisse den Tod Finden-den auch noch den Erdenkindern an unverbrauchten Ätherkräften zu-rücklassen. Das wird sich verbinden mit dem, was diesen Keimenan Verständnis entgegengebracht wird für die Zukunft von Seiten derErdenkinder. Und auf das blickend, sagen wir, was wir schon öfteram Schlüsse unserer Betrachtung gesagt haben:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht -Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

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SECHSTER VORTRAG

Stuttgart, 24. November 1915

Diesen Abend wollen wir noch dazu verwenden, einige Betrachtun-gen anzustellen über das Zusammenwirken der geistigen und der phy-sischen Welt. Es hat dies ja schon den Gegenstand anderer Betrach-tungen in diesen Tagen gebildet. Es wird die Hauptsache sein, auf diees uns ankommt, das Thema, das wir angeschlagen haben, weiter aus-zubauen. Ich möchte aber von einer allgemeineren Betrachtung aus-gehen, die uns zeigen wird, wie im Abstrakteren, im Allgemeineren ge-dacht werden kann, mit einem einfachen Gedanken umfaßt werdenkann das Zusammenwirken des Geistigen und Physischen, des Über-irdischen und des Irdischen. Und von dieser allgemeineren Betrachtungwollen wir dann übergehen auf das, worauf es ankommt: auf die Be-ziehung des entkörperten, durch die Pforte des Todes gegangenen Men-schen, zu jenen Menschen, die verkörpert in diesem irdischen Leben sind.

Wir wollen einmal unsere Erde als den Schauplatz dessen betrach-ten, was sich zunächst für unsere Sinne zum Ausdruck bringt. Ich willganz hypothetisch beginnen, will Gedanken, Vorstellungen anschlagen,welche zunächst so wie erdacht sind, bloß erdacht sind, oder wenigstensso aussehen. Nehmen wir einmal an, der ganze Umfang desjenigen,was von einem gewissen Gesichtspunkt aus unsere Erde an Kräften hat,sei wie konzentriert, sei wie zusammengedrängt in ein kleines, irgend-wie geartetes Abbild der Erde. Also das wollen wir voraussetzen, daßwir gewissermaßen eine kleine Erde hätten, einen kleinen, winzigenKörper, der aber dasjenige, was die Erde an gewissen Kräften im Gro-ßen birgt, im Kleinen in sich enthielte. Wir wollen uns das schematischdarstellen. Wir wollen also denken, wir hätten eine kleine Erde, dasheißt einen kleinen, winzigen Körper, der in sich enthielte diejenigenKraftverhältnisse, die sonst im großen Inhalt des Erdenleibes, wirkönnen sagen, verteilt sind. Stellen wir uns vor, irgendwie sei dieserkleine Erdenkörper mit der Erde in Verbindung.

Nun müssen wir, wenn wir uns die Erde richtig vorstellen, sie unsnicht denken als ein beliebiges lebloses Wesen, so wie sie sich etwa dem

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Geologen, dem Mineralogen darstellt, der sich diese Erde nur als einlebloses Wesen vorstellt. Denn wenn die Erde so mineralisch nur wäre,wie sich der Geologe das vorstellt, so würde sie niemals Pflanzen, Tiere,Menschen auf sich beherbergen können. Gewiß hat der Geologe recht,sich das herauszuschälen, was tot ist, aber er müßte sich bewußt sein,daß er damit nur einen Ausschnitt des Erdendaseins hat. Wenn wir unsaber diese Erde als ein Lebendiges vorstellen, dann müssen wir sie unsauch im Leben so vorstellen, daß der lebendige Verlauf in der Zeit zudem Sein der Erde dazugehört. So daß diese Erde im Winter - wirhaben das öfter besprochen — in einem ganz anderen Zustande ist alsim Sommer, ebenso wie der Mensch im Schlafe in einem anderen Zu-stand ist als im Wachen. Wir müssen uns das nicht so vorstellen, daßWinter und Sommer einfach über die Erde hinstreichen, sondern daßsie etwas sind, was den Zustand der Erde, also das lebendige Wesenergreift, wie uns die Zustände von Wachen und Schlafen ergreifen.Also dieser zeitliche Ablauf gehört zum Erdendasein dazu, wenn wirdieses Erdendasein als ein Lebendiges betrachten. Damit aber sagenwir zugleich, daß jedes Wesen, welches mit dieser Erde in Zusammen-hang steht — also auch diese kleine Erde, von der wir hier sprechen -,mit der ganzen Erde in diesem wechselnden Zustande ist, daß es diesenmitmacht.

Was bedeutet nun dieser Wechsel von Zuständen für unsere Erde?Sagen wir zum Beispiel, es tritt der Frühling ein. Wenn der Frühlingeintritt, so bedeutet es, daß die Sonne in ihrer Wirksamkeit für dieErde in ein ganz anderes Verhältnis tritt, als es während des Wintersbesteht. Wir könnten auch sagen: Wenn der Frühling eintritt, wird dieErde ergriffen von den Sonnen Wirkungen. Wenn während des Win-ters unsere kleine Erde mit der großen Erde gewissermaßen auf sichselbst angewiesen war, sich die Sonne nicht kümmerte um unsere kleineErde, wird jetzt von den Sonnenwirkungen, von dem, was außerhalbunserer Erde ist, auch unsere kleine Erde ergriffen. Es wird die Summevon Kräften, die in der kleinen Erde ist, der Erde entrissen. Unserekleine Erde ist sozusagen nicht mehr auf die Erde allein angewiesen; siewird von der Sonne in Anspruch genommen, sie wird der Erde ent-rissen. Ja, wenn so unsere kleine Erde nun der Erde entrissen wird,

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dann spielen in unsere kleine Erde eben andere Kräfte hinein als diebloßen Erdenkräfte, dann teilen sich unserer kleinen Erde die Außen-kräfte mit.

Nun müssen wir uns diese kleine Erde mit Stoffen ausgekleidet den-ken. Was Stoff ist, kommt dabei jetzt nicht in Betracht. Vom Herbstbis zum Frühling ist diese kleine Erde also mit sich allein, da kann siein sich ihre Kräfte entfalten. Dann aber kommt die Sonne, die reißtdie Kräfte heraus, so daß unter dem Einfluß der Sonnenwirkung das-jenige, was zuerst in unserer kleinen Erde eingeschlossen war, jetztin außerirdische Wirkungskreise hineinkommt. Es wird herausgeris-sen und kommt in außerirdische Wirkungskreise hinein. Das, was zu-sammengedrängt war, kann sich ausdehnen und bekommt ein Ver-hältnis auch zum umliegenden Weltenraum unter dem Einfluß derSonnenwirkung.

Jetzt hören nach einer gewissen Zeit, gegen den Herbst zu, die Son-nenwirkungen wieder auf. Dann kann diese Entfaltung nicht statt-finden, dann entziehen sich wiederum die Sonnenwirkungskräfte denErdenwirkungskräften, das heißt, diese Kraftzusammensetzung stelltsich wiederum her. Sie sammelt den Stoff zusammen: die Erde ergreiftgleichsam das wieder, was sie eine gewisse Zeit der Sonne überlassenmußte. Die Sonnenwirkungen bleiben jetzt eine Zeitlang weg, derWinter kommt. Es würde, wenn das der Erde überlassen bliebe, einekleine Erde in der großen Erde die Sonne ganz in Anspruch nehmen.Während des ganzen Winters muß das System der Erdenkräfte drinnenwirksam sein. Die Sonne würde sonst diese kleine Erde ganz für sicheinheimsen. Es muß dafür gesorgt werden, daß die Sonne, wenn siewieder erscheint, diese kleine Erde ergreifen kann; sonst wird sie ein-fach zu einem Kügelchen, das aufgezehrt wird von der großen Erde.Es muß eine Kraft sich geltend machen, damit die Sonne, wenn siekommt, wieder heran kann an diese kleine Erde. Dafür aber muß vor-gesorgt werden.

Wenn die Erde ihre eigene Kraft nur in diesem da jetzt drinnen hat(es wird gezeichnet), so ist das eben eine kleine Erde. Die Sonne hatsich zurückgezogen, jetzt ist diese kleine Erde mit der großen Erde fürsich allein. Wenn die Sonne wieder kommen würde, was soll sie jetzt

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machen mit dem, was nur Erde geworden ist? Es muß in Wirklichkeitdie Sonne wiederum hereingreifen können - hier ist kein Unterschied,ob die Sonne um die Erde geht oder die Erde um die Sonne -, es mußdie Sonne, wenn sie so in einem neuen Verhältnis zur Erde steht, ein-greifen können. Sie können sich das etwa auf folgende Weise vorstellen:Denken Sie einmal, ein Mensch stellt sich fest auf und wendet alle seineKräfte an, um stehenzubleiben. Sie kommen von der Seite und wollenihn weiterstoßen. Wenn er die Stehkraft in sich genügend erhärtet hat,so werden Sie ihn nicht weiterbringen. Wenn er aber anfängt sich zubewegen, so werden Sie eingreifen können in seine Bewegungsrichtung.Nehmen Sie an, es wäre da drinnen eine Kraft, welche die umkreisendeBewegung der Sonne, respektive der Erde selber, wie eine innereSchwungkraft da drinnen hätte; nehmen wir an, es würde der kleinenErde diese Schwungkraft der Sonne mitgeteilt: dann könnte die Sonnewiederum in diese Bewegung, die sie erteilt hat, eingreifen. Dadurchkönnte sie wiederum diese kleine Erde der Erde entreißen, und derVorgang könnte sich wie beschrieben abspielen. Wir hätten da, mitanderen Worten, gegen den Frühling zu eine kleine Erde, in welchedie Sonne eingreift durch Bewegungsimpulse, die sie im vorigen Herbstschon erteilt hat. Die Sonne greift ein, entreißt die kleine Erde denbloßen Erdenkräften, entfaltet in Gemäßheit der Sonnenwirkung imGrößeren das, was nur auf die kleine Erde beschränkt ist. Die Kräftemüssen sich zusammenziehen, und der kleinen Erdkugel muß dieSchwungkraft der Sonne verliehen werden. Sie ahnen schon, um wases sich handelt: ich habe skizzenhaft geschildert, was geschieht wäh-rend des Wachstums der Pflanzen, der Entfaltung der Pflanzen inBlätter, Blüten und Früchte. Ich habe Ihnen hier beschrieben die Mit-wirkung des Sonnenschwunges: das ist die Befruchtung; der Same istbefruchtet und bleibt so bis zum nächsten Jahre, wo er wiederum vonder Sonne ergriffen wird. Das kleine Körnchen, das die Befruchtungbei der Pflanze ausführt, das ist das Wesen, in welches durch die Son-nenreifung die Möglichkeit gelegt ist, diese Schwungkraft dem irdi-schen Teile zu vermitteln.

Sie sehen, wir haben hier eine lebendige Wechselwirkung zwischenIrdischem und räumlich Außerirdischem. Wir können uns nicht vor-

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stellen, daß der Pflanze Wachstum weiter gedeihe, ohne daß die Sonneihr übrigläßt eine Nachbildung ihrer Schwungkraft, in die sie dasnächste Jahr wieder eingreifen kann. Mit anderen Worten: Wenn wirdie Pflanze betrachten, so betrachten wir wirklich nicht bloß etwas,was mit der Erdenwirksamkeit zusammenhängt, sondern wir sehen indem ganzen Zyklus des Pflanzenvorganges eine Wechselwirkung vonSonne und Erde. Es kommen noch andere planetarische Zustände inBetracht; davon wollen wir aber jetzt absehen, wir wollen den Sinndes ganzen Vorganges auffassen. Wir wollen uns vergegenwärtigen,wie das, was wir auf der Erde sehen, nicht bloß ein irdisches Produktist, sondern wie es auch ein Sonnenprodukt ist. Der Umstand, daß sichdas menschliche Wissen gewöhnlich beschränkt auf das, was auf derErde innen und außen vorgeht, verhindert, daß man zu einer wirk-lichen Anschauung, zu einer wirklichen Erkenntnis über die Dingekommt. Denn mit bloßen Erdenkräften werden bloß unsere Mineraliengeformt. In dem Augenblick, wo wir über das bloß Mineralische hin-ausgehen in das Pflanzliche, da müssen wir sagen, daß in dem Irdischenselber nicht mehr die Kräfte sind, welche die Dinge formen.

Die Materialisten hoffen immer, daß sie einmal den Pflanzensamenso wie irgendeine andere chemische Zusammensetzung im Laborato-rium erzeugen werden. Nicht um dieses Erzeugen handelt es sich bei derGegnerschaft gegen den Materialismus, sondern darum, daß, indemman vom Mineral zur Pflanze vorrückt, vom chemischen Produktzum Lebendigen, das Erzeugen nur durch einen überirdischen Prozeßvor sich gehen kann. Und bevor es gelingen wird, dieses Ideal des Ma-terialismus auszuführen, Pflanzensamen ebenso herzustellen wie mine-ralische Produkte, chemische Substanzen, werden die Materialisten ler-nen müssen - wenn ich mich grotesk ausdrücken will -, an die Astro-logie zu glauben, zu glauben, daß sie einen Vorgang, den sie werden be-wirken wollen, unter den Einfluß der Sternenwirkungen stellen müs-sen. Es wird Laboratorien geben müssen, welche so arbeiten, daß siemit dem Gang des Jahres arbeiten, und daß sie ebenso berücksichtigenmüssen die Konstellation der Gestirne, wie draußen in der Natur dieKonstellation der Gestirne berücksichtigt wird. Man muß sich von derErde erheben, wenn man sich vom Toten zum Lebendigen erhebt. Denn

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es muß mitarbeiten bei der Entstehung des Lebendigen das Ätherisch-Leibliche. Dieses ist aber niemals bloß abhängig von dem bloß Irdi-schen, sondern von dem, was in der ganzen Welt draußen verbreitetist. Dasjenige, was bloß physisch ist, das überschauen wir, wenn wirunser Irdisches überschauen; vom irdischen Standpunkt überschauenwir das Physische, indem wir das Irdische überschauen. Dasjenige, wasfür unsere Erde ätherisch ist, das ist noch immer ausgesetzt dem ge-samten Weltenall.

Wenn wir nun noch weitergehen zum Astralischen, dann kommenwir zu einem Elemente, das überhaupt nicht mehr dem Sichtbaren aus-gesetzt ist. Und würde ich Ihnen das, wie ich es für die Pflanze ent-wickelt habe durch ein Schema, für das Tierische zu entwickeln haben,so würde sich das komplizierter ausnehmen; aber Sie würden sehen,daß da zu dem Irdischen nicht nur das Außerirdische und noch in derSternenwelt Sichtbare in Betracht kommt, sondern daß überhauptÜbersinnliches in Betracht kommt, das nicht einmal beschlossen ist inder Sternenwelt. Man muß aus dem Reiche des Sichtbaren hinausgehen.

Ich wollte eine solche Betrachtung vor Ihnen anstellen, damit Siesich einen Einblick verschaffen in das wirklich tief innerlich Geheim-nisvolle desjenigen, was auch in der Alltäglichkeit, im täglichen Pflan-zenwachstum vor sich geht, damit Sie einen Einblick gewinnen, wiees in den befruchtenden Körnern der Pflanzenblüte, die um den Frucht-knoten herum kreisförmig oder sonst verteilt sind, im wesentlichendarauf ankommt, daß außerirdische Wirkungen in ihnen enthaltensind, und wie es bei dem Samen selber darauf ankommt, daß er imGrunde ein Abbild der ganzen Erdenwirkung ist, daß er eine kleineErde ist. Die Wechselwirkung, die in der Pflanzenblüte durch die Be-fruchtung geschieht, ist ein Abbild des Vorganges, der sich abspielt zwi-schen der Erde und der gesamten Sternenwelt des umliegenden Welten-raumes.

Wir sind ja im Grunde überall von Geheimnissen umgeben, und dieErkenntnis und das Erkenntnisstreben spornt immer zur tiefsten Be-scheidenheit an. Denn denken Sie sich, wie weit der Weg ist von derAnschauung einer solchen Sache im allgemeinen bis zu der konkretenAnschauung der Einzelheiten von alledem, was als Pflanzendecke die

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Erde bedeckt. Das Feld der Erkenntnis eröffnet sich damit wirklich alsein unendliches. Wir stehen sozusagen an jedem Punkte unseres Da-seins der Unendlichkeit gegenüber. Und es gehört zu der rechten Stim-mung, die der Mensch entfalten soll der Welt gegenüber, einen Sinnzu haben dafür, daß man überall eigentlich in ein unendliches Daseinhineinblickt. Dadurch fühlt man aber auch ein gewisses Band zwischendem einzelnen endlichen Menschendasein und dem Unendlichen, derganzen Welt. Und diese Stimmung müßte man eigentlich ausgießenüber alles einzelne, was die Geisteswissenschaft uns bringen kann, dennohne diese verehrungsvolle Stimmung gegenüber dem Unendlichen läßtsich eigentlich nichts mit der richtigen Empfindung in der Geisteswis-senschaft erfassen. Man muß zuweilen eine solche Stimmung in sicherneuern, damit man aufhört, die Erkenntnis als etwas zu betrachten,was so wie ein auch im Leben Verlaufendes nebenher aufgesucht wird,während sie in der Tat zum allerheiligst Geistigen gehören muß, dasin unser Leben eingreift.

Wenn man sich solchen Stimmungen hingibt, dann wird man auchdasjenige mit der richtigen Gesinnung entgegennehmen, was in unsererGegenwart aus den Quellen der Geisteswissenschaft heraus für dennotwendig in die Welt kommenden Fortschritt von unserer Gegenwartan in die Zukunft hinein immer mehr wird verkündet werden müssen.Und wenn man sich eine solche Gesinnung entwickelt hat, dann istdiese Gesinnung in unserer Seele etwas Wirksames. Sie ist da wirklichnicht bloß etwas Abstraktes, sondern sie ergreift unsere Seele, sie durch-wärmt, sie durchleuchtet unsere Seele. Und dadurch kann erst das Rich-tige aus der Geisteswissenschaft hervorgehen, daß unsere Seele gewis-sermaßen eine andere wird dadurch, daß also durchfühlt werde das,was durch die Geisteswissenschaft erforscht werden kann. Wenn wirsolche Stimmung in unsere Seele hineinbringen, dann gehen uns erstin der rechten Weise über das, was sonst im Leben an uns vorbeifließt,ohne daß wir in der rechten Weise uns dazu stellen können, die Rät-sel auf.

Es ist wirklich ein innerer Seelenzusammenhang zwischen diesenallgemeinen Betrachtungen, die ich jetzt angestellt habe, und dem, wasich nun weiter mit Bezug auf das Menschenleben sagen will. Man kann,

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wenn man den Blick hinrichtet zur Pflanze, wenn man sie hervorsprie-ßen sieht aus der Erde, die Seele so stimmen, daß sie das Gefühl hat:Was da als Grünes hervorsprießt, es nimmt seinen Ausgang von einemso komplizierten kleinen Wesen, dem Samen, daß dieses kleine Wesen -von gewissen Gesichtspunkten aus - ein Abbild der ganzen Erde ist,daß bei dem, was ich da emporsprießen sehe vom Blatt zur Blüte, vonder Blüte zur Frucht, das ganze Weltenall mitwirkt. Wenn ich ein grü-nes Pflanzenblatt am Stengel mir ansehe, so wird mir bewußt: In die-sem Blatt, so wie es sich ansetzt, wie es grünt, wird von der Sonnen-wirkung umspielt, was zuerst eingeschlossen war in der kleinen Erde,was entrissen worden ist der Erde, bis die Sonnenwirkungen es ergrif-fen haben. Dann lassen die Sonnenwirkungen ihr aber zurück ihreSchwingungsimpulse, nachdem sie unmöglich gemacht haben, daß sichdas, was in der kleinen Erde war, ausbreitet, wenn es sich wiederum zu-sammenziehen muß. Wir sehen gewissermaßen in der aufsprießenden,sich entfaltenden Pflanze ein Bild gewisser Wirkungen des ganzen gro-ßen Kosmos. Wir müssen das, was sich unseren Sinnen darbietet, in die-ser Weise als etwas betrachten, das uns in jedem Punkte Geheimnisseenthüllt, die den ganzen Kosmos durchwallen und durchweben.

So aber steht auch das Menschenleben selber mit dem ganzen Kos-mos im Zusammenhang und jetzt auch mit dem, was von den außer-irdisch-sichtbaren Körpern und Vorgängen uns gegenüber da ist.Ganz besonders bedeutsam aber tritt uns das, was da in den irdischenVorgängen erscheint, vor das Auge, wenn wir, ich möchte sagen, dieAbweichungen von dem ins Auge fassen, was sich uns eingewöhnt als dasnormale Erdenleben, das normale Menschenleben. Zwar sehen wir fort-während viel mehr Abweichungen als eigentlich Normales im Leben,aber das gewöhnliche Erkennen, das sich auf die Sinnenwelt beschränkt,läßt sich nicht ein auf diese Abweichungen, man möchte sagen, es läßtsich nicht ein auf den Sinn dieser Abweichungen. Wir leben in einerZeit, in der sich uns, zusammengedrängt, viele Abweichungen zeigen,die zu gleicher Zeit so rechte Rätselfragen sind. Sehen wir nicht in die-ser Zeit einer schweren Prüfung der Menschheit zahlreiche unsererMenschenbrüder frühzeitig durch die Pforte des Todes gehen? Wirsehen sie so durch die Pforte des Todes gehen, daß sie nun nicht durch

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irgendeine Krankheit, also durch etwas,, was im eigenen Organismusist, durch die Pforte des Todes gehen, sondern gewaltsam sehen wir siedurch diese Pforte des Todes gehen. Denn es ist etwas anderes, ob eineMenschenseele durch die Pforte des Todes geht so, daß sie durch eineKrankheit im jugendlichen Alter stirbt oder dadurch, daß ihr Organis-mus von einer Kugel getroffen wird, oder auf irgendeine andere Artgewaltsam hinweggenommen wird von dem Seelisch-Geistigen. Aberich habe schon gestern davon gesprochen: Was sich hier vollzieht zwi-schen Geburt und Tod, das ist alles bedeutsam im ganzen Zusammen-hang des Lebens; wir müssen es als Karmazusammenhänge hinnehmen,wir müssen uns in das Karma hineinfügen, wie es gegeben ist. Aber esist bedeutsam das, was geschieht.

Nun betrachten wir einmal den Fall, daß der physische Organismusvon dem Seelisch-Geistigen hinweggenommen wird durch eine Kugelin verhältnismäßig jugendlichem Alter. Gegenüber dem, was wir inuns eingewöhnt haben - daß der Mensch seinen Organismus selberaufbraucht -, ist das ein Abnormes. Es ist daher eine doppelte Rätsel-frage. Ist schon der Tod allein für das unmittelbare Anschauen einRätsel, das eben durch die Geisteswissenschaft sich enthüllt, ein dop-peltes Rätsel entsteht noch, wenn nun der Verlauf des Lebens nicht soist, daß durch innere organische Vorgänge der Organismus dem Gei-stig-Seelischen weggenommen wird, sondern wenn dies etwa durcheine Kugel geschieht.

Es gehört dem Universum, dem Kosmos gegenüber eine innere Stim-mung in die Seele hinein, die sich erzeugt durch solche einfache Erwä-gungen, die aber, mit aller Tiefe erfaßt, uns ergreift mit einem innerenStimmungszusammenhang gegenüber den Geheimnissen des Univer-sums. Und dann, wenn die Seele so ergriffen ist, dann treten wir auchmit der nötigen verelirungsvollen Stimmung und Würde und mit demnötigen Ernst dem Ereignisse entgegen, das ich eben angedeutet habe:daß auf gewaltsame Weise dem menschlichen Geistig-Seelischen dasPhysisch-Leibliche weggenommen wird. Und dann tritt diese Frage wieeine Rätselfrage vor unserer Seele auf. Denn wie eine solche Frageauftritt, darauf kommt es an, ob man irgend etwas beitragen kann zuihrer Lösung oder nicht. Wenn ein Mensch eben noch ein Festmahl durch-

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gemacht hat und sich dann ausgeruht hat und nun an seine geistigeArbeit sich setzt, dann wird er die tiefe Rätselfrage nicht lösen, dannwird er nicht die Stimmung finden, auf die es ankommt. Wenn er aberder Rätselfrage entgegentritt und seine Seele von der rechten Stimmungdurchtränkt hat gegenüber dem Universum, dann können ihm die Rät-sel aufgehen.

Wenn nun der Geistesforscher mit einer solchen Stimmung der Seelesich vor das Todesrätsel hinstellt, das so an uns herantritt, daß auf ge-waltsame Weise dem Seelisch-Geistigen der physische Leib entrissenwird, dann taucht allerlei in der Seele auf, was zur Lösung des Rätselsbeitragen kann. Dann kommen einem die richtigen Impressionen, dieman braucht, um eine solche Sache aufzuklären. Nicht aus jeder See-lenstimmung können sie hervorgehen, diese Impressionen, sondern nuraus der richtigen Seelenstimmung. Damit Sie dieses innerlich anschau-lich vor sich haben, wählte ich gerade diesen Weg, den ich heute ge-wählt habe, indem ich Ihnen gleichsam zeigte, wie dem Geistesforschersich eine solche Aufgabe vor seine Seele stellt. Dem Geistesforschertritt also, wenn er sich so gestimmt hat, die angedeutete Rätselfragevor die Seele. Dann taucht aber etwas ganz anderes auf: Wie sonst ge-setzlos Gedanke neben Gedanke sich stellt, so stellt sich dann gesetz-mäßig eine Impression vor die Seele hin, neben die Frage. Und dannkann sich hinstellen, wenn man empfunden hat dieses Rätsel, das To-desrätsel, dann kann man, wie etwas, was dazu gehört, empfinden dieandere Frage: Ja, wie nehmen die Menschen eigentlich - je nach ihrerbesonderen Artung - das Leben hin? - Und da entwickeln sich einemallerlei Gedanken, Gedanken, die ich jetzt vor Ihrer Seele selber aus-breiten will.

Gerade in unserem gegenwärtigen Zeitenzyklus lassen ja die Men-schen nur das so recht als eine Wirklichkeit gelten, was nicht ein«bloßer Gedanke» ist. Der Gedanke ist für sie eigentlich nichts Wirk-liches. Und sie mögen von ihrem Standpunkt aus recht haben, aber esist eben eine gewisse Stimmung der Seele. Das, was wirklich ist, dasmuß schon derber an den Menschen herantreten als ein bloßer Ge-danke, recht sehr derb. Ein bloßer Gedanke ist eben - ein bloßer Ge-danke! Aber das, was man als seiend bezeichnet, das darf für die ge-

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genwärtigen Menschen nur ja kein bloßer Gedanke sein. Was sich alsbloßer Gedanke gibt, das bezeichnet der Mensch heute eben als nichtseiend. Das Seiende muß derb sich hineinstellen in die Welt, mußnicht bloß zum Gedanken sprechen. Aus dieser Stimmung heraus glau-ben die Menschen nur dann in der Wirklichkeit zu stehen, wenn sievon dieser Wirklichkeit als einem Seienden, einem Sein sprechen kön-nen, wenn sie gezwungen werden, diese Wirklichkeit durch das Seinanzuerkennen.

Nun, wenn wir von dieser Welt, in der wir hier stehen, in die gei-stige Welt hinaufsteigen, die der Mensch bewohnt, wenn er durch diePforte des Todes gegangen ist, so ist der unbehaglichste Gedanke,möchte man sagen, der Gedanke des Seins, der sich hier in der phy-sischen Welt gebildet hat. Ein Sein, das so ist wie das Sein in der phy-sischen Welt, das stört den entkörperten Menschen in der geistigenWelt. Gerade das, was man hier in der Wirklichkeit als das Unwirk-liche im Gegensatz zum Seienden bezeichnet, ist das Wirkliche in dergeistigen Welt. Was dort an einen herantreten würde so wie hier dasSeiende, das würde man abweisen, das würde schreckhaft sein, daswürde etwas sein, was nicht in die geistige Welt hineingehört. Es istdas ein ungeheuer bedeutungsvoller Gedanke. Wenn man so trivial re-den würde in der geistigen Welt wie hier, so könnte man als Geist etwasagen, wenn einem so etwas entgegentritt, wie die Dinge einem hierentgegentreten: Was soll ich denn damit machen? Das ist ja gar nicht! -Denn in der geistigen Welt muß ich die Möglichkeit haben, alles das,was mir als Imagination entgegentritt, mitmachen zu können - es istdas auf der untersten Stufe der Erkenntnis in der geistigen Welt -, dasheißt, es überführen zu können in die Anschauung durch meine eigeneTätigkeit. Während in unserer Zeit die Menschen nur das als die Wirk-lichkeit anerkennen, wozu sie nichts getan haben, kann man das jetzt

' nicht anerkennen in der geistigen Welt. Sondern in der geistigen Weltist es so, daß man etwas dazu tun muß, daß man mitarbeiten muß, da-mit das entsteht, was einem dort als die Wirklichkeit erscheinen soll,man muß überall mittun.

Es ist so, daß derjenige, der entkörpert in der geistigen Welt ist,die geistige Weit um sich herum insoweit schaut, als er darinnen tätig

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ist. Und was er schaut, ohne daß er tätig ist, das ist dort jenseitige Welt,die Welt, die unsere diesseitige Welt ist. Wenn der Entkörperte auf dieErde schaut, so sieht er das, was da ist, ohne daß er mittut. Wie wirhier auf der Erde unsere sichtbare Welt, unsere wirkliche Welt, unsereseiende Welt als das Diesseits bezeichnen und das, was nicht gesehenwird, als Jenseits, so ist es gerade umgekehrt von dem Standpunkte dergeistigen Welt aus. In der geistigen Welt ist rein nichts außer dem, waswir dadurch aus dem Nichts in die Gegenwart schaffen, daß wir mit-tun: Das ist dann das Diesseits. Sonst ist das Diesseits in der geistigenWelt finster und stumm und öde, wenn wir nicht darinnen handelnseelisch-geistig. Das Jenseits aber ist da, ohne daß wir arbeiten. Wäh-rend wir hier hinaufblicken zum Unbekannten, blicken wir von dergeistigen Welt auf das, was uns hier bekannt ist, aber das ist gerade dasJenseits, das keine Wirklichkeit hat, weil es ist, ohne daß man etwasdazu tut. - Mit solchen Vorstellungen muß man sich schon einmal be-kanntmachen.

Nun gibt es jetzt innerhalb unseres physischen Diesseits, unsererphysischen Wirklichkeit etwas, was nicht alle, aber doch gewisse Men-schen als etwas Bedeutungsvolles gelten lassen, trotzdem es nicht isty

etwas, was einzelne Menschen hereintragen in diese sonst seiende Wirk-lichkeit, und demgegenüber diejenigen, die ein Verständnis dafür ha-ben, sich so verhalten, daß sie es gelten lassen, trotzdem es keine derb-seiende Wirklichkeit hat: Das sind die Ideale, welche die Menschenhaben. Die Idealisten tragen in unsere sinnliche Wirklichkeit etwashinein, was wertvoll ist: die Ideale, nach denen sich der Mensch rich-tet, die nicht derbe, materielle Wirklichkeit haben, und die nur dergrobe Materialist eben nicht gelten läßt. Nun sind diese Ideale aberzu gleicher Zeit etwas ungeheuer Wertvolles im diesseitigen Leben, dieIdeale sind das, was die Richtungsimpulse für unser Leben gibt, sie sinddas, was wir begehren, damit wir uns daran halten können. In gewis-ser Beziehung machen diese Ideale das Leben wertvoll, indem sich derMensch nach ihnen richtet. Es muß mit den Idealen etwas im materia-listischen Sinne Unwirkliches in unsere sinnliche Wirklichkeit hinein-getragen werden, damit nicht das entstehe, was wir etwa in dem Sinnecharakterisieren müssen: Das bloße Dasein wäre öde, wenn nicht die

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Ideale da wären, wenn der Mensch sie nicht darinnen finden würde.Unter diejenigen, welche keine Ideale haben, müssen die Idealisten tre-ten, die gleichsam etwas entwickeln in unserer Wirklichkeit, was einAbbild ist der jenseitigen Wirklichkeit, was nicht ein Seiendes ist, wasnicht das Seiende beansprucht und dennoch ein Wertvolles ist, ja, einenabsoluten Wert hat.

Nachdem der Geistesforscher nun diese seine ihm naturgemäße Im-pression entwickelt hat, führt ihn seine Forschung wiederum zurückzu der Rätselfrage nach dem von einer Kugel im jugendlichen Altergetroffenen Menschen. Und er muß nun fragen: Gibt es für die vonhier aus jenseitige Welt, in der die entkörperten Menschen und diegeistigen Wesen, die seelischen Wesen leben, etwas, was dem Idealis-mus hier auf der Erde entspricht? Gibt es für die jenseitigen Wesenetwas Ähnliches wie die Ideale hier auf der Erde? - Und siehe da, esstellt sich das Folgende heraus. Nehmen wir einen Menschen, der imjugendlichen Alter von einer Kugel getroffen worden ist: sein Äther-leib trennt sich von dem physischen Leibe, der physische Leib ist aufgewaltsame Weise weggegangen. Selbstverständlich muß die Gewaltvon außen kommen. Es kann niemals das, was ich gesagt habe, gelten,wenn der eigene Entschluß vorliegt. Der Vorgang muß von außenkommen. Der Ätherleib hat also, wie ich schon betonte, Kräfte in sich,die noch weiter, vielleicht jahrzehntelang das Leben hätten versorgenkönnen hier auf der Erde. Diese Kräfte vergehen nicht, sie bleiben.Derjenige, der so seinen Ätherleib nun ablegt, übergibt die Kräfte sei-nes Ätherleibes der allgemeinen Welt. Er ist aber auf die angedeuteteWeise in die geistige Welt hineingekommen, beziehungsweise es ist ihmsein Leib genommen worden. So geht er nun in die geistige Welt alsein Entkörperter hinauf. Es bleibt von ihm etwas in der physischenWelt zurück, was er selber noch hätte verbrauchen können, aber nichtverbraucht hat. Bedenken Sie, was da vorliegt! Das betreffende Men-schenwesen geht in die geistige Welt hinauf, ohne verbraucht zu ha-ben etwas, was es hätte verbrauchen können.

Wir lenken jetzt den Blick auf die Individualität des Menschenselber. Der Mensch kommt hinauf in die geistige Welt, ohne etwasverbraucht zu haben, was er hätte verbrauchen können. Damit kommt

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er in die geistige Welt hinauf mit etwas, was hier unten in der physi-schen Welt hätte Wirklichkeit sein können, aber nicht Wirklichkeitgeworden ist im äußeren Sinn. Solche Menschen, die mit der Anlagefür einen längeren Verbrauch des Ätherleibes hier eingetreten sind indie physische Welt, auf die Erde gekommen sind, aber diesen Verbrauchnicht gehabt haben, die kommen anders in die geistige Welt hinauf alsdiejenigen, die bis zur Neige des Daseins diesen Ätherleib verbrauchthaben. Sie kommen hinauf so, daß sie einverleibt haben dieser hiesigenErde etwas, was sein könnte, was aber nicht seiend geworden ist. Dasaber bewirkt in ihnen eine Stimmung, durch die sie etwas Ähnlicheswerden für die geistige Welt wie die Idealisten hier für die physischeWelt. Derjenige also, der in dieser Weise durch die Pforte des Todestritt, tritt ein in die geistige Welt, indem er etwas hereinbringt, wasdort für die geistige Welt Idealismus ist, was ähnlich ist den Idealen,die hier in die physische Welt durch die Idealisten hereingebracht wer-den. Ein bedeutungsvoller Lebenszusammenhang!

Es treten also in die geistige Welt in solchen Märtyrerzeiten, wiedie jetzige ist, Seelen ein, die ein kürzeres Dasein durchmessen haben.Sie haben hier auf der Erde so gelebt, daß etwas, das seiend hätte wer-den können, nicht für sie zum Sein gekommen ist, und sie treten so einin die geistige Welt, daß sie dort den Zusammenhang mit der irdischenWelt so darstellen, wie die Idealisten hier für die Erde den Zusammen-hang mit der geistigen Welt darstellen in den Idealen. Mit anderenWorten, diese Menschenwesen, die so durch die Pforte des Todes ge-gangen sind, haben die Aufgabe, in der geistigen Welt zu verkündigen,daß auf der Erde nicht alles so derbseiend ist wie dasjenige, was manhier unter gewöhnlichen Umständen die Wirklichkeit nennt, daß dieErde auch etwas birgt, das zwar zum Sein veranlagt ist, aber nichtdieses Sein in derber Weise auslebt. Daß solches inneres Gestimmtseinder Seele auch hinaufgetragen wird in die geistige Welt, das gibt in derZeit zwischen Tod und neuer Geburt etwas Ähnliches, wie der Idealis-mus hier auf der Erde ist. Und wenn wir vom Standpunkt der Weis-heit der Welt ein solches Zeitalter betrachten, wie das unsrige ist, dannblicken wir - wenn wir uns die rechte Stimmung erzeugt haben beidem Anblick der Tode, die in dieser Weise entstehen - so in die Welt

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hinein, daß wir uns sagen: Innerhalb des ganzen, weisheitsvollen Wel-tenlaufes nehmen wir auch dieses so hin, daß wir uns ehrfurchtsvoll zuseinem Verständnis emporarbeiten. - Wir erkennen dann: Den geisti-gen Welten wird dadurch in einem großen, umfassenden Sinne in einemsolchen Märtyrerzeitalter dasjenige gegeben, was bei ihnen leben muß,so wie bei uns der Idealismus auf der Erde leben muß, damit die Men-schen, die als solche überhaupt hinaufgehen in die geistige Welt unddas Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchleben,etwas Ähnliches finden in dieser Welt, wie wir hier den Idealismusfinden. Daher müssen diese Zeitalter entstehen. Ob sie immer entstehenmüssen in der Zukunft, davon braucht heute nicht die Rede zu sein,denn das hängt davon ab, in welcher Weise, nicht allein ob, sondern inwelcher Weise das Erkenntnisleben der Menschheit auf der Erde ver-geistigt wird. Es soll niemand den Schluß aus dem Gesagten ziehen, daßunbedingt für immer solche Zeitalter verteidigt werden sollen; aberwenn man ihren Sinn erforscht, stellt sich für die Menschheitsgegen-wart dar, was gesagt wurde.

Da blicken wir hinein in den weisheitsvollen Zusammenhang derWelt und sagen uns: Wie gliedert sich da zusammen die Furcht undder Schrecken, das Leid und der Schmerz und das, was notwendiger-weise diejenigen finden müssen in der geistigen Welt, die durch diePforte des Todes gehen! - Wir sehen wie Leid, Schmerzen, Blut undMärtyreropfer, die sich uns hier von der einen Seite zeigen, sich vonder anderen Seite ausnehmen. Man kann sich ja denken, daß es Men-schen gibt, die gescheiter sein wollen als die Götter und die deshalb dieFrage auf werfen: Hätten die Götter nicht auch ein solches dem Idea-lismus auf der Erde Entsprechendes in der geistigen Welt zustandegebracht, ohne daß sie über die Erde verhängt hätten, was in einemsolchen Märtyrerzeitalter der Erde auferlegt wird? - Solche Fragenwerfen nur diejenigen auf, die gescheiter sein wollen als die Götter. DieMenschen, welche in der richtigen Weise in das Menschenzeitalter hin-einblicken, wollen die Welt verstehen, weil sie überzeugt sind, daß esso, wie es ist, eben sein muß, und daß alles das, was der Mensch aus-spintisiert über etwas, was besser wäre für diese Welt, nur schlechtersein könnte für sie.

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Wir sehen hin auf die Idealisten, vielleicht auf einen so recht idea-listisch gearteten Menschen in dieser Welt; wir sind vielleicht versucht,wenn wir für Ideale einen Sinn haben, zu sagen: Seht den Menschen,er trägt den Himmel in die Erde hinein, denn was nicht im derbenSinne seiend ist, das bringt er als Wertvolles für das Seiende, als eineRichtschnur an die Menschen heran! - Die Seelen, die normalerweisedurch die Pforte des Todes getreten sind und das Leben zwischen demTode und einer neuen Geburt durchmachen, sie erblicken in diesemLeben auch solche Seelen, die in irgendeiner Weise einen Opfertoddurchgemacht haben, denen der physische Leib von außen genommenist durch irdische Notwendigkeit. Sie blicken auf diese Seelen hin alsauf diejenigen, die ihnen zu verkünden haben, daß da drunten aufder Erde nicht bloß derb Seiendes ist, sondern daß mit der Erde ver-bunden werden auch Menschenanlagen, welche seiend sein könntenund dennoch nicht zum vollen Sein kommen, sondern, statt daß siedieses volle Sein verbrauchen, hinübergehen an einem früheren Zeit-punkte ihres Lebens zwischen Geburt und Tod in die geistige Welt.

Gewiß entsteht dabei eine bedeutsame Frage, nämlich die nach demUnterschied zwischen einem solchen gewaltsamen Tode und einemTode, der durch eine frühe Krankheit erzeugt wird. Denn das, was ichjetzt gesagt habe, ist nichts als das Konstatieren von Tatsachen. Ge-rade diejenigen, die auf diese Weise das physische Leben beendet haben,wie beschrieben, das sind gleichsam die Idealisten der geistigen Welt,und sie sind Idealisten aus dem Grunde, weil ihnen — das zeigt sichdurch fernere Betrachtung - der physische Leib genommen wordenist durch irdische Ereignisse, durch Ereignisse, die dem Erdenlebenbloß angehören.

Wenn der Mensch eine Krankheit durchmacht, so wird ihm derLeib noch durch andere Kräfte genommen als durch Erdenkräfte.Denn denken Sie, schon in dem Pflanzenwachstum wirken nicht bloßErdenkräfte, sondern außerirdische Kräfte wirken mit. Beim Tier istdas natürlich auch der Fall und beim Menschen erst recht. Wir habenunsere Krankheiten auch durchaus nicht bloß von der Erde. Bloß vonder Erde wird uns der Tod niemals auf andere Weise gebracht als da-durch, daß wir gewaltsam sterben. Wie der Tod auch eintreten mag,

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er ist niemals ein bloß durch irdische Verhältnisse herbeigeführter,wenn er nicht auf die angedeutete Weise ein gewaltsamer ist. Ob derTod durch eine Krankheit an uns herantritt - auch Selbstmord ist keinirdisches Ereignis, er kommt ja durch Seelenentschluß -, es gibt keinenTod, der bloß durch Erdenkräfte bewirkt wird, außer dem, der durchOpfertode, durch Kräfte, die auf der Erde spielen, den Leib losmachtvom Seelisch-Geistigen. So daß hier in Wechselverhältnisse treten ir-dische Kräfte und Beziehungen mit demjenigen, was geistig ist. Sonstist der Tod immer etwas, was über die Erde vollständig hinausragt;er ist niemals ein bloßes Wechselwirken zwischen der Erde und dem,was in der geistigen Welt ist. Gerade rein irdischen Verhältnissen, ge-rade etwas, was bloß irdisch ist, was bloß irdisches Geschehen ist, wirdhingegeben der früh seiner Tätigkeit entzogene Ätherleib; daraus ent-steht, was man eben den Idealismus der geistigen Welt nennen kann.Denn der Tod ist so - halten Sie das, was ich jetzt zu sagen habe, mitmanchen Gedanken dieser Tage zusammen —, daß er, wenn man ihnvon der physischen Seite anblickt, sich ganz anders ausnimmt, als wennman ihn von der geistigen Seite anblickt. Ich habe in verschiedenerWeise darauf hingedeutet. Aber immer ist der Tod, wenn er nicht aufdie Weise eintritt, wie ich es jetzt angedeutet habe, von der anderenSeite gesehen etwas, was von dieser anderen Seite verständlich ist.Tritt man durch einen Krankheitstod, durch einen Alterstod, auchdurch Selbstmord in die andere Welt, dann hat man dort, was manbraucht, um den Tod zu verstehen. Wenn der Tod durch eine Kugelauf dem Schlachtfeld herbeigeführt wird, dann muß man auf rein ir-dische Verhältnisse blicken, um ihn zu verstehen. Bei Unglücksfällenist es auch so. Man muß von der geistigen Welt hinabsehen, daß manirdisch gewesen ist; der Tod ist aus irdischen Verhältnissen zu erklä-ren. Und das macht, daß man aus dem Diesseits der geistigen Welt indas Jenseits der physischen Welt hinunterblicken muß, um einen sol-chen Tod zu verstehen.

Wie uns hier die Ideale mit dem Himmel verbinden, so verbindendie himmlischen Ideale diese Toten mit der Erde. Daher ist dann der-jenige, der also durch die Pforte des Todes schreitet, in dem Lebenzwischen Tod und neuer Geburt ein solcher, der all dem Geschehen,

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das sich abspielt zwischen den Menschenseelen, die wiederum zur Ver-körperung kommen, einverwebt dasjenige, was auf unserer Erde dannGeistiges ergibt, was auf unserer Erde das ergibt, daß die Erde selberauch aus unseren Gedanken, Gefühlen und nicht bloß aus Irdischembesteht.

Es ist zuzugeben, daß die Charakteristik dieser Dinge, die ich dabesprochen habe, schwierig ist. Aber es ist begreiflich, daß das schwie-rig sein muß, denn man redet mit solchen Worten, die für die physi-schen Verhältnisse geprägt sind, über das, was weit, weit über die phy-sischen Verhältnisse hinausragt. Es ist jedenfalls etwas anderes, obman, ich möchte sagen, stumpf und unverstehend hinblickt auf dasRätselvolle solcher Ereignisse, die aus dem Schöße der Geschichte insMenschenleben eintreten, wie unsere jetzige schwere Prüfungszeit derMenschheit, oder ob man so auf sie hinblickt, daß man sich sagt: Waseinem solchen Ereignis Sinn gibt, das hat nicht nur Bedeutung für un-sere Erde, sondern für das Gesamtleben! - Und man wird wiederumauch in diesem Fühlen hineingeführt in den tiefen Sinn und den weis-heitsvollen Gang der Gesamtheit. Man lernt allmählich ahnen, wasalles mitwirken muß dazu, daß der Mensch in seinem gesamten Lebens-verlauf in diese Welt hineingestellt ist.

Dieses wollte ich andeuten in dem zweiten Mysteriendrama aus demMunde des Capesius heraus, der davon spricht, daß vieler Götter Sin-nen und vieler Götter Zusammenarbeiten notwendig ist, um den Men-schen aus allen Welten heraus als ihr Ziel erscheinen zu lassen. Das,was sich in diesem Drama herauslöst als eine Weltempfindung ausder Seele des Capesius, es kann vielleicht gegenständlich werden, wennman versucht, sich solche Vorstellungen anzueignen, wie wir sie auchheute wiederum in unsere Seelen haben versetzen wollen. In solchenPersönlichkeiten wie Capesius treten solche Stimmungen aus demGrunde tragisch auf, weil sie sich auch ergeben können, ohne daß mangleich in vollem Umfange die Lösung des Rätsels findet. Das ist daseine, was dabei zu bemerken ist, das andere ist, daß immer darauf Rück-sicht genommen werden muß, wie sehr zur Bescheidenheit und zurDemut, nicht zum Hochmut, nicht zum menschlichen Größenwahnwir durch solches Studium aufgefordert werden.

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Im rechten Sinne sich das menschliche Selbstbewußtsein anzueig-nen heißt doch, es sich bewußt innerlich zu vergegenwärtigen. Undwenn wir anfangen zu ahnen, worüber wir unser Bewußtsein erstrek-ken können, wie weit der Horizont der Weltenrätsel ist, so werden wiruns hüten, auf den stolzen Gedanken zu verfallen: O Mensch, wie bistdu eigentlich eine Zusammenfassung des ganzen Kosmos! - Ich glaube,gerade ein solcher Gedanke wird uns recht ferne liegen müssen.. Da-gegen wird uns nahe liegen der andere Gedanke: Wie wenig wissenwir in unserem Bewußtsein von dem, was wißbar ist! - Unendlichesist notwendig, um den Menschen zusammenzusetzen; wir aber habenes niemals weiter gebracht, als ein sehr kleines Stück davon zu wissen.Bescheidenheit und Demut ist das, was sich gerade aus dem Wissenheraus, wenn es sich erweitert, in unsere Seele hineinsenkt. Niemalskann man mehr erfahren, als man schon weiß über die. geistige Welt,ohne zugleich zu erfahren, daß das Wißbare ein Unendliches ist. Undimmer lebendiger wird die Empfindung von dieser Unendlichkeit, jemehr man weiß. Und man lernt verstehen, wie ein Teil des Lebensdarin besteht, daß man sich also ergreifen läßt von den großen, ge-waltigen Rätseln und Geheimnissen, die das Dasein durchpulsen.

Vieles von dem, was die Menschheit sich jetzt wieder erringen muß,haben in uralten Zeiten innerhalb einer uralten Weisheit die Menschengewußt wie ein Erbgut. Was die Menschen heute besitzen, ist nur er-rungen worden dadurch, daß diese Erbschaft aus den Seelen geschwun-den ist. Damit die Menschenseelen sich wiederum diese Weisheit an-eignen können, mußte sie zunächst verschwinden. Sie mußte verschwin-den, damit sie erarbeitete Weisheit werden kann. Wir müssen uns wie-derum hinaufarbeiten, um uns das zu erringen im ferneren Erdenleben,im ferneren Dasein der Erde, was als Erbweisheit aus den Seelen ver-schwunden ist. So müssen wir also in die Perspektive der menschlichenZukunft hineinsehen; dann werden wir die Notwendigkeit begreifen,daß Geisteswissenschaft in die Welt eintritt. Gerade dieses lebendigeSich-in-Verhältnis-Setzen zu dem Unendlichen, wie es charakterisiertworden ist, gibt uns die Möglichkeit, das Geheimwissenschaftlichewirklich als ein innerlich Lebendiges aufzufassen, das auch in unskraf tet und tätig ist, das uns zu wirklichen Mitarbeitern der Gestaltung

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der Erde machen kann, zu denen wir werden müssen, wenn die Erdesich weiterentwickeln soll.

Um das zu bekräftigen, möchte ich noch eines erwähnen. Es gibtLeute, auf die wir wohl hinhorchen sollen, weil sie von dem Stand-punkte der Gegenwart das Richtige sagen. Sie sagen: In früheren Zei-ten hat man nicht gewußt, was ein Verbrecher ist, warum ein Menschals Verbrecher sich in der Welt entwickelt. Heute aber weiß man das.Wenn man einen Verbrecherkopf seziert, so findet man, daß er einegewisse Eigenschaft hat: der Hinterhauptlappen bedeckt das Klein-gehirn nicht völlig wie beim normalen Menschen. - Es war eine große,bedeutsame Entdeckung, die Moriz Benedikty der berühmte Kriminal-anthropologe, machte, die zeigt, wie eine gewisse einfache Physiologiedes Hinterhauptes bedingt, daß man ein Verbrecher ist. Also beden-ken Sie: Ein Verbrecher ist man dadurch, daß der hintere Gehirnlap-pen Teile des Gehirnes nicht bedeckt, die bedeckt werden sollen! Gegendiese Wahrheit ist nichts einzuwenden. Sie ist einmal da, und es wäreganz einfältig, sich dagegen aufzulehnen, denn es ist eben eine Wahr-heit. Aber denken Sie: Wenn man nun Materialist ist, was muß mandann sagen? — Ja nun, es werden eben Menschen so geboren, daß sie zukleine Gehirnlappen haben; die sind dann prädestiniert, Verbrecherzu werden. Bedenken Sie - ich brauche das nicht weiter auszuführen -das unendlich Trostlose einer solchen Anschauung der Welt! BedenkenSie, wie alles menschliche Fühlen verändert werden muß, wenn mannichts anderes weiß als dieses, und wenn man sich sagen muß: Warumwerden Menschen zu Verbrechern? Weil sie von der Natur eben so hin-eingestellt werden ins Leben, daß sie nicht anders können als Ver-brecher werden. - Beginnt man aber zu wissen, daß der Mensch einenÄtherleib hat, so weiß man zu der Sache etwas anderes zu sagen, manweiß etwas anderes dazu. Man weiß, daß dieser Ätherleib alle Teileumfaßt, und daß bei dem Menschen, der einen zu kurzen Hinterhaupts-lappen hat im physischen Sinne, noch immer die entsprechenden Äther-teile ihre volle Entwickelung erlangen können. Wie es sich dann auchmit dem Physischen verhalten mag, die Korrektur kann auch mit demÄtherleib erreicht werden. Wenn es uns nun gelingt, solch eine Pädago-gik zu haben, daß wir für sie nicht nur die physische Wissenschaft zu

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Hilfe rufen, sondern die Geisteswissenschaft, dann können wir unseinen Blick dafür aneignen aus der Art und Weise, wie sich ein Kindverhalt, um zu erkennen, was notwendig ist zu seiner Erziehung, undwas wir vorkehren müssen, damit der Ätherleib sich so entwickelt,daß er die Wirkung der zu kurzen Hinterhauptslappen paralysiert.Dann kann der Mensch, wenn im Ätherleibe sein Hinterhirn normalausgebildet ist, trotzdem ein guter Mensch werden, wenn er auch phy-sisch prädestiniert ist zum Verbrecher. Hier sehen Sie, wie Geistes-wissenschaft praktisch in das Leben eingreifen kann und muß. Denndie rein physische Wissenschaft muß das Verbrecherhirn eben Ver-brecherhirn sein lassen, weil sie nur eine Wissenschaft vom Physischenist. Nimmt man aber auf die Geisteswissenschaft Rücksicht, so para-lysiert man die physischen Mängel. Hieraus ergibt sich Ihnen das, wasin die Zukunft hinein sich entwickeln muß.

Und stellen Sie sich jetzt vor: Diese Geisteswissenschaft bestündenicht! Dann wird niemals die Möglichkeit entstehen, den Ätherleib ineiner solchen Weise zu entwickeln, wie ich gesagt habe. Das heißt, der-jenige, der geboren wird in Zukunft mit einem verkümmerten Gehirn,der wird sich so ausleben, wie es diesem Gehirn entspricht. Es wirdkeine Möglichkeit geben, dies pädagogisch auszubessern. Die Folge da-von wird sein, daß die Menschen so werden, wie es ihrer physischenOrganisation gemäß ist. Und das wird immer weitergehen. Und dieMenschen werden zum Jupiterzustand kommen, und das wird wahrsein, was die Materialisten heute erträumen. Wenn durch Geisteswis-senschaft nicht dasjenige, was aus der bloß materiellen Organisationfolgt, überwunden wird, so werden die Menschen nach und nach sichso entwickeln, daß diese materielle Organisation maßgebend sein wird;die Menschen würden dann bloß ein Ergebnis ihrer materiellen Ent-wickelung sein. Dadurch, daß Geisteswissenschaft eingreift in das Le-ben, wird das auf dem Jupiter nicht so sein, es wird der Ätherleib wie-derum umgestalten den physischen Leib. Denn wenn dann in einemLeben, in dem durch das Karma frühere Lebensursachen das physischeGehirn verkümmert haben, der Ätherleib richtig entwickelt wird, sowird sich in der nächsten Inkarnation das physische Gehirn richtigentwickeln. Das berührt sich alles. So daß Geisteswissenschaft wirk-

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lieh eine Realität wird, daß sie die Menschheit wiederum umgestaltet.Wenn Sie diese Gedanken zusammenfassen, werden Sie sich sagen

können: Das, was die Materialisten heute denken von dem Menschen,es ist heute noch keine Realität, denn heute ist der Mensch noch so ver-anlagt, daß das Geistige eingreifen kann. Aber es könnte so werden,wie die Materialisten denken, wenn es nach den Materialisten ginge,wenn Geisteswissenschaft durch die Materialisten ausgerottet werdenkönnte. So bloß als Folge ihrer materiellen Organisation würden dieMenschen auf dem Jupiter leben, wenn die Träume der Materialistensich erfüllen könnten. - "Was sind denn die Materialisten eigentlich?Sie haben eine Weltanschauung, welche heute nicht der Wirklichkeitentspricht, welche aber einmal der Wirklichkeit entsprechen könntebei den Menschen. Diese Materialisten sind Propheten, nur falschePropheten! Sie träumen von einer Welt, die, wenn es nach ihnen ginge,in ihrem Sinne hergestellt werden könnte. Die Materialisten sind Träu-mer, aber man muß ihren Träumereien entgegenarbeiten. Wenn maneinsehen wird, daß die Materialisten Träumer sind, daß man zu ihnensagen muß: Ihr geht durch die Welt und seht die Wirklichkeit nicht,ihr träumt von einem Dasein, das höchstens durch eure Einsichtslo-sigkeit gegenüber der Welt herbeigeführt werden könnte, ihr seid fal-sche Propheten, ihr macht euch allerlei Hirngespinste! - in dem Mo-ment wird man den Materialismus richtig taxieren. Also das entge-gengesetzte Urteil von dem, was die Materialisten, nun, sagen wir, vonsich aus erträumen, das wird man haben müssen. Dann wird die Zeitgekommen sein, wo man die Geisteswissenschaft wirklich verstehenkann. In einem gewissen Sinne wird die Geisteswissenschaft schon vondiesem Gesichtspunkte aus die Welt umgestalten.

Ich habe versucht, Ihnen in diesen Tagen in einigen Andeutungendieses oder jenes zu sagen von dem Zusammenhange der physischenmit der geistigen Welt. Ich habe es gesagt aus Impulsen heraus, die vonden bedeutsamen Ereignissen unserer Zeit ausgehen. In einer Zeit, inder uns so tausendfältig, täglich, möchte man sagen, der Tod vor derSeele steht, sind wohl gerade solche Betrachtungen, wenn sie als Mög-lichkeit geboten werden, der Menschenseele naheliegend. Denn wiekönnte man absehen vom Forschen nach Sinn und Zweck des Daseins

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in solch schweren Prüfungszeiten, wie die heutigen es sind! Daß wir ge-rade über solche Fragen hier sprechen konnten, macht, daß es mir zurtiefen Befriedigung gereicht, auch in dieser schweren Zeit wiederumunter Ihnen sein zu können. Ich mochte damit nur die Bemerkung ver-binden, daß in der Gegenwart schon einmal manches nach dem Cha-rakter dieser Gegenwart angesehen werden muß. Es ist jetzt nicht soeinfach, überall hinzureisen wie sonst in Friedenszeiten. Daher müssenschon auf unserem Gebiet unsere Mitglieder sich bewußt werden, wiesich ja alle Menschen dessen bewußt sein müssen, daß kriegerische Zei-ten andere sind als die normalen Zeiten, und daß wir nicht alles so ver-langen können wie in den normalen Zeiten. Ich sage das ganz beson-ders mit Rücksicht darauf, daß das oftmals gerade von unseren Mit-gliedern sehr übersehen wird, während doch gerade unsere Mitgliederrecht viel Verständnis haben müßten für unsere Gegenwart, leben-digen Zusammenhang damit haben müßten. Vielfach zeigt es sich,daß unsere Mitglieder gar nicht begreifen können, daß man darandenken muß, in welch schwerer Zeit man lebt, und daß nicht alles inderselben Regelmäßigkeit geschehen kann wie sonst. Daran aber müs-sen wir festhalten, daß wir auch treu in unserer Sache sind. Was einjeder von uns in dieser Zeit tun kann dadurch, daß die einzelnenZweige unserer Gesellschaft recht viel, recht gründlich in unserer Sachearbeiten, das wird wirklich nicht nur zum Heile unserer Sache getan,sondern das wird zu einem viel weiteren Heile getan.

Es ist natürlich, daß die Gemeinschaft jetzt eine losere sein muß;um so intensiver muß das Arbeiten in unseren Zweigen sein, besondersin Hinsicht der seelischen Vertiefung. Das ist es, was ich gerade in die-ser Zeit und heute Ihnen besonders in die Seele und ans Herz legenmöchte. Versuchen wir, ein jeder, gerade in dieser Zeit heilig und treuzu unseren Idealen zu halten, heilig und treu zu dem zu halten, was alsGesinnung sich herausbilden konnte im Laufe der Zeit durch die Gei-steswissenschaft. Geisteswissenschaft muß sich nicht nur in leichten,sondern auch in schweren Zeiten bewähren. Es muß das, was man jafreilich banal, aber doch als einen Grundton unseres ganzen Strebensangeben kann, sich jetzt besonders tief mit unserer Seele verbinden:der Versuch einer allseitigen Erfassung des Lebens. Im Gegensatz zu so

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vielem, was jetzt in der Außenwelt, in der dem Materialismus zunei-genden Außenwelt gegeben wird - oftmals in solcher Einseitigkeit -,wollen wir Vielseitigkeit des Lebens anstreben. Wir wollen wissen, daßwir uns, weil wir in jedem Augenblick einer Unendlichkeit gegenüber-stehen, vor jeder bequemen Einseitigkeit in jedem Augenblick hütenmüssen.

Der eine oder andere von Ihnen hat vielleicht gehört, daß an einemOrte, an dem unsere Geisteswissenschaft gepflegt wird, über allerleiMängel gesprochen werden mußte, die da oder dort sich herausgestellthaben. Wenn mit gewissen Worten diese oder jene Menschen getroffenworden sind, so darf man darum nun nicht zur anderen Einseitigkeithinneigen. Ich sage das jetzt nicht, um auf diese Dinge näher einzu-gehen, sondern nur als Beispiel. Wenn zum Beispiel Menschen, die vonallerlei okkulten Ereignissen, okkulten Erlebnissen sprachen, über dieseErlebnisse nicht in der richtigen Weise gesprochen haben, so darf dar-aus nicht der Schluß gezogen werden, daß etwa in unserer Gesellschaftdie okkulten Erlebnisse nicht die Hauptsache wären. Gewiß sind sie es,denn wir streben ja aus dem Äußerlichen in das Innerliche hinein. Eswar auch nicht ein Bedürfnis vorhanden, gegen okkulte Erlebnisse ansich etwas einzuwenden. Auf welcher Stufe diese Erlebnisse aber auf-treten, das ist es, auf was man innerhalb unserer Bewegung sehen muß,was zu gelten hat. Denn ein anderes ist es, in einer gewissen leichtenWeise über okkulte Erlebnisse zu sprechen, ein anderes wäre es, zu sa-gen, man wolle überhaupt nichts mehr davon hören. Wir haben dreiTage lang von den intimsten okkulten Erlebnissen gesprochen. Einebloße Denkwissenschaft kann das nicht sein, was in unserem Kreisegeschaffen wird. Dazu ist unsere Gesellschaft nicht da. Wir dürfennicht von einer Einseitigkeit in eine andere kommen.

Ich möchte namentlich auf das Intime, auf das so recht mit demInnersten unseres seelischen Empfindens Zusammenhängende unsererGeisteswissenschaft aufmerksam machen. Daß wir unsere Seele zuetwas anderem machen als sie vorher war, wenn wir durch die Geistes-wissenschaft durchgehen, darauf kommt es an. Und das muß sich auchin schweren Zeiten bewähren. Deshalb wollte ich einmal solche Be-trachtungen anstellen, die vielleicht geeignet sind, uns in jene ehrfürch-

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tige Stimmung gegenüber dem geistigen Leben zu versetzen, die demrichtigen Geisteswissenschafter angemessen ist. Denn im Grunde ge-nommen ist das größte und das kleinste Ereignis des Lebens, alles imLeben, etwas, was uns mit tiefer Ehrfurcht erfüllt, wenn wir nur vondiesem Einzelnen tief genug in die geistigen Hintergründe hineinzu-gehen in der Lage sind. Und auch die schmerzlichen Ereignisse des Le-bens, die kleinsten und die größten, sie können durch die Geisteswissen-schaft in ein solches Licht gestellt werden, daß ihre Betrachtung dazubeiträgt, unsere Seele in das rechte Verhältnis zu der durch die Weltwallenden und webenden Weisheit zu bringen.

Vom Gesichtspunkte der Weltenweisheit wollten wir einmal Le-bensereignisse betrachten, die zusammenhängen mit dem, was so groß,aber auch so prüfungsreich sich heute in unserer Umgebung abspielt.Wenn wir so fühlen gegenüber unserer Zeit, dann fühlen wir recht ge-genüber dem, was wir andeuten wollten mit den Worten:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht -Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

Seien wir die Seelen, die in dieser Weise ihren Sinn ins Geisterreichlenken! Dann werden wir beitragen können zu den Früchten, die son-nenhaft heilsam für die Menschheit aufgehen müssen aus den Saaten,die sich blutgetränkt über die Erde hinstreuen in unseren schicksals-schweren Tagen.

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SIEBENTER VORTRAG

Stuttgart, 12. März 1916

Ich möchte heute eine geisteswissenschaftlich-geschichtliche Betrach-tung geben, die uns wichtig sein kann gerade mit Bezug auf die schwer-wiegenden Ereignisse, innerhalb welcher wir stehen, innerhalb welcherdie ganze europäische Menschheit steht, und am nächsten Mittwochdann eine intimere Angelegenheit des geistigen Lebens des Menschen be-rühren. Wenn vielleicht manchem von uns dasjenige, was heute betrach-tet werden soll, scheinbar ferne liegen könnte, so ist das doch nur schein-bar und sollte uns nicht fernliegen, denn gerade Geisteswissenschaftsollte unsere Seelen mit tiefster Aufmerksamkeit erfüllen für alles das,was beitragen kann zu dem Verständnisse unserer Zeit. Wie gesagt,am Mittwoch werden wir dann wiederum zu einer rein menschlichengeisteswissenschaftlichen Angelegenheit kommen.

Ausgehen möchte ich heute von einer Frage. Aber erschrecken Sienicht, glauben Sie nicht, wenn ich diese Frage an die Spitze unsererBetrachtungen stelle, daß ich auch nur im allergeringsten alte Streit-fragen unserer Bewegung irgendwie aufwerfen möchte. Es wird sich,wie Sie sehen werden, um etwas ganz, ganz anderes handeln, trotzdemich einleitend von vielleicht zunächst leicht mißzuverstehenden Fra-gen ausgehen werde. Die Frage nämlich möchte ich auf werfen: Warumverleumdet Mrs. Besant, gerade während dieser Zeit des Krieges, inihren englischen Zeitschriften weiter unsere deutsche Bewegung? War-um hat sie gleich in den ersten Monaten des Krieges es für notwendigbefunden, davon zu sprechen, daß unsere deutsche Bewegung nur dieAbsicht gehabt habe, eine Art Agentur zu sein für englandfeindlichepolitische Bestrebungen Deutschlands? Warum hat sie es für notwen-dig befunden, zu sagen, daß diese unsere deutsche Bewegung die Ab-sicht gehabt habe, ihre eigene - Mrs. Besants - Absetzung als Präsiden-tin der Theosophischen Bewegung zu bewirken, um sich in Indien fest-zusetzen und von da aus eine Art von englandfeindlicher, pangermani-stischer Bewegung gegen England zu organisieren? Warum setzt Mrs.Besant diese Verleumdungen, die sie gegen unsere deutsche Bewegung

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während der Zeit dieses Krieges in so häßlicher Weise anbringt, jetztweiter fort und wird sie wahrscheinlich auch weiter fortsetzen?

Innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung ist uns nichtsnotwendiger, als einen klaren, einsichtsvollen Blick zu haben für das-jenige, was in der Welt vorgeht. Dasjenige, was so leicht gerade demgefallen kann, der oftmals glaubt, so recht innerhalb unserer Bewegungzu stehen, eine gewisse - verzeihen Sie den harten Ausdruck - geistigeSchlafsucht gegenüber den Vorgängen der Welt, das ist gerade inner-halb einer solchen geistigen Bewegung von großem, großem Nachteil.Der klarste Blick auch in bezug auf die Angelegenheiten des äußerenDaseins muß angestrebt werden. Denn nichts ist leichter, als daß sichan eine solche Bewegung anhängen alle möglichen scharlatanhaften,schwindelhaften Bestrebungen innerhalb der Menschheitsentwicke-lung. Und da ja in den Grenzen, die wir oftmals betont haben, in demgewiß kleinen Häuflein derer, die hier gewisse Dinge verstehen wollen,schon einmal ein gewisses Vertrauen nötig ist, so liegt es auch nahe,daß, verführt von einer gewissen Vertrauensseligkeit, gerade Persön-lichkeiten unserer Bewegung gewissermaßen umnebelt werden von den-jenigen, die ihnen doch nichts Rechtes sagen wollen, sondern die nurin ihre Seele allerlei hineinpfropfen wollen, um auf dem Umwege dertheosophischen oder sonstigen geistigen Gläubigkeit gewissermaßeneine geistige Leibgarde zu züchten für allerlei Bestrebungen, die imrichtigen Sinne doch nicht wahrhaft geistige Bestrebungen der Mensch-heit sind.

Wir haben öfter darauf aufmerksam gemacht, welche Stellung dasrussische Volk hat innerhalb der Entwickelung der fünften nachatlan-tischen Kulturzeit, und ich will, da ich gerade in diesem Zweige hierin Stuttgart das Diesbezügliche oftmals auch schon während dieserKriegszeit erörtert habe, auf das, was Sie ja in einzelnen Zyklen lesenkönnen, heute nicht zurückkommen. Vielmehr möchte ich aber dar-auf aufmerksam machen, daß es gewisse Grundeigentümlichkeiten desrussischen Volkes gibt, welches dieses russische Volk ganz besondersgeeignet erscheinen lassen, gerade in der oftmals charakterisiertenWeise sich in den Entwickelungsgang der fünften nachatlantischen oderauch sechsten nachatlantischen Kulturentwickelung hineinzustellen.

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Da haben wir zuerst eine Eigenschaft des russischen Volkes, welcheman nennen könnte eine ganz besonders weitgehende Anpassungsfä-higkeit der Seele an Geistiges, das dem russischen Menschen in irgend-einer Weise entgegentritt, eine gewisse Anpassungsfähigkeit der Seele.Es ist so, daß der russische Mensch weniger produktiv, weniger schöp-ferisch in der eigenen Seele ist als der mitteleuropäische oder west-europäische Mensch, daß er gewissermaßen darauf angewiesen ist, ent-gegenzunehmen und das Entgegengenommene zwar intensiv zu durch-leben, aber es nicht aus Eigenem heraus selbständig weiter zu gestal-ten. So können Sie ja sehen, wie der russische Mensch die byzantinischeReligion entgegengenommen und auf dem Standpunkt gelassen hat, aufdem sie war, als er sie entgegengenommen hat. Und heute kann mannoch immer aus den Zeremonien der russischen Kirche ersehen, wiealtorientalisches Wesen durch diese Zeremonien hindurchleuchtet.Man kann, ich möchte sagen, durch die Form der russischen Kircheauf uralt heiliges Orientalisches schauen und dieses uralt heilige Orien-talische empfinden.

Vergleichen Sie damit dasjenige, was im Abendlande aufgetretenist, wo in einer ja, wie Sie wissen, vielfach angefochtenen Dogmen-entwickelung und Zeremonienentwickelung ein fortwährendes Um-gestalten, Umwandeln, also ein schöpferisches Eingreifen in das statt-gefunden hat, was einstmals jene Gemeinschaft übernommen hat, diedann zur römisch-katholischen Kirche, zum Protestantismus und soweiter geworden ist. Diese Anpassungsfähigkeit, diese Aufnahmefä-higkeit, das ist gewissermaßen die erste Grundeigenschaft des russi-schen Volkstums.

Eine zweite Grundeigenschaft ist eine gewisse Abneigung des russi-schen Menschen gegen das, was wir die Durchdringung des Lebens mitIntellektualität nennen. Der russische Mensch liebt es nicht, einge-spannt zu sein im sozialen Leben in viele genau umschriebene Gesetze.Er verlangt gewissermaßen eine Art willkürlichen Dahinlebens des Ich.Daß der Verstand ein Netz von Gesetzlichkeit ausspannt und daß sichdann der einzelne streng an solche Verstandesformen im sozialen Le-ben hält, das will der russische Mensch, praktisch wenigstens, nichtbegreifen, wenn er auch theoretisch zuweilen darauf eingeht. Er fragt

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mehr nach dem, was das Ich aus der Eingebung des Augenblicks herausgerade will.

Ein drittes im Charakter des russischen Menschen ist - Herder ins-besondere hat in gründlicher Weise darauf hingewiesen; die Slawo-philen haben dann diese Herdersche Anschauung, also eine deutscheAnschauung, aufgenommen und bis zu einer Art von Größenwahnentwickelt -, daß der russische Mensch bewahrt hat dasjenige, wasman überhaupt im ganzen orientalischen Wesen findet, eine gewisseFriedfertigkeit. So sonderbar es klingt, es ist schon im Wesen des russi-schen Menschen, denn der russische Mensch hat diesen Krieg nicht alssolcher gemacht: den haben seine Machthaber angezettelt. Er hat einegewisse Friedfertigkeit. Er hat den tiefen Glauben, daß durch die Artund Weise, wie sich die westeuropäische Religion entwickelt, Streitund Zank entwickelt wird. Es liegt nicht im Charakter des orientali-schen Menschen, wegen religiösen Dogmen seine Mitmenschen zu be-kriegen. Das ist sogar etwas - sonderbar ist es ja, aber wahr ist esdoch -, was jetzt den Leuten so unendlich stark auffällt bei den Tür-ken, die ja auch dieses Orientalische haben, daß sie nicht aggressiv wer-den in bezug auf das religiöse Leben selber.

Wie gesagt, das liegt in dem Glauben, im Bewußtsein des russischenMenschen. Diese drei Eigenschaften sind auf der anderen Seite ganzbesonders geeignet, mißbraucht zu werden von denjenigen, die sieeben mißbrauchen wollen. Man kann eine Anpassungsfähigkeit, wie sieder russische Mensch hat, sehr leicht, so wie die Slawophüen das getanhaben und jetzt wiederum die Panslawisten es in reichem Maße tun, da-zu verwenden, dem russischen Volke einzureden, daß es berufen sei,die abgelebte, greisenhafte, dem Tod doch verfallende europäische Kul-tur abzulösen und das russische Leben an deren Stelle zu setzen.

Man kann wiederum, wenn man mißbraucht die zweite Eigen-schaft, die ich angeführt habe, dem russischen Menschen einreden, daßdie ganze west- und mitteleuropäische Kultur greisenhaft gewordensei wegen ihrer besonderen Vorliebe zum Intellektualismus, zu einergewissen Verstandesmäßigkeit, daß diese westeuropäische Kultur barsei jedes wirklich wahren mystischen Zuges.

Und man kann drittens, wenn man mißbrauchen will die dritte

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Eigenschaft des russischen Volkes, die angeführt worden ist, geradedie friedlichste Eigenschaft verkehren dahin, daß man die sonst fried-liche Masse organisiert und zum blutigsten Kampfe aufruft. Denn wirk-lich, die Gegensätze berühren sich in der Welt, und insbesondere solcheGegensätze, von denen hier die Rede ist. Dasjenige aber, was das russi-sche Volk zu bedeuten hat im Entwickelungsgange der europäischenKultur, das hängt nicht zusammen mit dem, was jetzt russische Macht-haber aus diesem russischen Volke machen, sondern das hängt zusam-men mit den genannten drei Eigenschaften.

Und diese genannten drei Eigenschaften bestimmen daher das russi-sche Wesen, eine gewisse Verbindung einzugehen mit dem mitteleuro-päischen, westeuropäischen Wesen. Weil das russische Volkswesen an-passungsfähig ist, ist es zunächst berufen, dasjenige, wovon wir oftgesprochen haben, was es zu leisten hat im sechsten nachatlantischenKulturzeitraum, zunächst nicht durch Schöpferisches, sondern durchsein Erleben zu leisten, indem es aufnimmt das, was ihm vom Westenkommt. Eine Art von geistiger Ehe habe ich es oftmals genannt, Jahre,ja ich darf sagen, Jahrzehnte vor dem Ausbruch dieses Krieges, eineArt Ehe, die notwendig ist zwischen dem mitteleuropäischen Wesenund zwischen dem russischen Wesen in bezug auf die seelische Ent-wickelung.

Dadurch, daß das russische Volk eine gewisse Abneigung gegen denIntellektualismus hat, werden gewisse soziale Einrichtungen geschaf-fen werden können mit dem russischen Volke, die nur möglich seinwerden, wenn die eben angedeutete Ehe wirklich stattfindet.

Und in einer ähnlichen Weise wird sich das russische Volkswesen zuverhalten haben gegen das, was innerhalb Mitteleuropas überhaupt ge-geben werden kann. Morgen werden wir im öffentlichen Vortrag wie-derum von solchen Dingen zu sprechen haben, die aus dem mittel-europäischen Wesen zu folgen haben, und die als etwas Großes, Ge-waltiges, Unvergängliches einverleibt werden müssen dem ganzen Ent-wickelungsgange der Menschheit. Aber das russische Volk wird an-nehmen müssen dasjenige, was vom mitteleuropäischen Wesen geleistetwird. Selbstschöpferisch ist es zunächst nicht innerhalb dieser nach-atlantischen Zeit.

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Nun aber besteht demgegenüber, was man so als das Wesen desrussischen Volkstums charakterisieren kann, das mitteleuropäischeVolkstum und das westeuropäische Volkstum, jenes westeuropäischeVolkstum, das nach der Regierung der Königin Elisabeth von Englandim wesentlichen ja ein britisches Volkstum, ein angelsächsisches Volks-tum geworden ist. Und unter den mancherlei Ergebnissen dieser gegen-wärtigen bedeutsamen Ereignisse, die selbstverständlich irgendwie aus-zumalen nicht mein Beruf sein kann, wird aber ganz gewiß diesessein, daß die anderen westeuropäischen Staaten, ganz gleich wie auchder Ausgang dieser Ereignisse sein wird, allmählich Vasallen, abhän-gige Völker Englands werden. Insbesondere werden die Franzosen diebittersten Enttäuschungen zu erleben haben. Aber das sind nicht dieDinge, auf die es eigentlich ankommt, sondern das, worauf es uns heuteankommt, ist, hervorzuheben den großen Gegensatz, der besteht zwi-schen mitteleuropäischem Wesen und westeuropäischem, namentlichbritannischem Wesen, angelsächsischem Wesen.

Es hat vielleicht niemals - wenn es auch heute nicht bemerkt wirdvon denjenigen, die nicht denken wollen, die namentlich nicht beob-achten wollen -, einen größeren Gegensatz gegeben in der weltge-schichtlichen Entwickelung als diesen Gegensatz zwischen mitteleuro-päischem und angelsächsischem Wesen. Nicht als ob der einzelne, dieeinzelne Persönlichkeit sich nicht darüber erheben könnte. Davon kannnicht die Rede sein; vom Volkstum ist die Rede. Gewiß, es ist niemalsdie Rede, wenn solche Dinge charakterisiert werden, von dem einzel-nen Engländer, der sich selbstverständlich erheben kann über dasje-nige, was dabei zu charakterisieren ist. Man braucht ja auch nichtgleich zu denken, daß man irgendwie in die Fehler unserer kriegerischenGegner verfallen und das englische Wesen, weil es ein anderes ist, nundurchaus beschimpfen müsse, sondern darum muß es sich handeln, inscharfer Weise den Gegensatz zu charakterisieren. Freilich wäre vielesnotwendig, wenn ich versuchen würde, Ihnen alle möglichen Bau-steine zusammenzutragen, die eigentlich nötig wären, um den ange-deuteten Gegensatz voll zu verstehen. Aber es kann uns dieser Gegen-satz klar werden von dem Gesichtspunkte aus: wenn wir einmal aufder einen Seite das mitteleuropäische Wesen, in dessen Mittelpunkt

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eben das deutsche Wesen steht, im Verhältnis zum russischen Wesendes Ostens betrachten, und auf der anderen Seite das britannische,französische Wesen in seinem Verhältnisse zum russischen Osten be-trachten. Da ist eben einer der größten Gegensätze in der Mensch-heitsentwickelung vorhanden. Ich muß Sie allerdings auf manches da-bei heute nur hinweisen, was ich hier gerade im morgigen öffentlichenVortrage auszuführen habe. Aber ich mochte, daß das kleine Häufleinderer, die der geisteswissenschaftlichen Bewegung angehören, solches,wie das, was morgen genauer gesagt werden wird, eben tiefer verste-hen, als es zunächst verstanden werden kann, wenn man nicht tiefer indie Geisteswissenschaft eindringt.

Sehen Sie, dieses mitteleuropäische Wesen ist ein solches, das inganz anderer Art national ist als irgendein anderes Volkstum in derganzen Menschheitsentwickelung. Nehmen Sie alle westeuropäischenVölker: Sie sind gewissermaßen national aus dem Blute heraus. DerDeutsche ist national aus der Seele heraus. Der Deutsche ist national,indem er sich unablässig bestrebt, gewisse Inhalte des Seelenlebens ausdem allgemeinen Seelenleben herauszuheben und in die eigene Seelehinein zu verpflanzen. Daher erleben wir innerhalb des deutschen We-sens etwas so Großes, wie die Goetheschen Kunstwerke, die Herder-sche Geschichtsbetrachtung oder die WeltanschauungsbestrebungenHegels, Scbellings, Fichtes sind.

Wenn diese Dinge auch heute noch weniger bekannt sind in weite-ren Kreisen - sie werden schon bekannt werden. Denn entgegen allenMeinungen, die darüber geäußert werden, muß ich das sagen: Sie kön-nen populär werden, sie können so dargestellt werden - trotzdem mandas heute nicht glaubt -, daß jedes Kind sie verstehen kann. Das wirdschon geschehen. Alles dasjenige, was echte deutsche Weltanschauungist, wächst hervor aus dem tiefsten Seelenwesen des deutschen Volks-tums. Und es würde niemals eine geisteswissenschaftliche Bewegung in-nerhalb des deutschen Wesens entstehen können-wenn sie fruchtbar seinsoll -, welche einen ähnlichen Charakter hätte, wie ihn die geisteswissen-schaftlichen Bestrebungen des Westens haben. Wir dürfen diesen Un-terschied schon einmal nicht verschlafen, wir müssen ihn klar ins Augefassen. Innerhalb des deutschen Volkstums muß alles, was Inhalt der

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Geisteswissenschaft ist, in harmonischem Zusammenhang stehen mitdem, was das Volk als solches hervorbringt. Daher habe ich das letzteMal bei meiner Anwesenheit hier in Stuttgart gesagt: Wenn man dieWeltanschauung Schellings, Fichtes und Hegels betrachtet, so ist es,wie wenn das ganze Volk meditieren würde. Man fühlt sich immer hin-eingestellt in das Volkstum, aber in das Seelische des Volkstums, wennman vom deutschen Volkstum spricht. Man kann von deutschem Volks-tum nicht anders sprechen, als indem man auf die seelischen Eigen-schaften dieses deutschen Volkstums Rücksicht nimmt, auf dasjenige,was erstrebt werden muß. Und es ist innerhalb des Deutschtums unmög-lich, wie es in England möglich ist, daß die Wissenschaft auf der einenSeite existiert und auf der anderen Seite diese Wissenschaft den Glau-ben durchaus links liegen lassen will. Das ist innerhalb des deutschenVolkstums auf die Dauer nicht möglich. Der Deutsche will Einheithaben. Er will eine Geistigkeit haben, die voll auf dem Boden der Wis-senschaftlichkeit stehen kann, und er will eine Wissenschaft haben,welche sich zu rechtfertigen weiß vor dem geistigen Leben.

Am offensten tritt ja dieser Gegensatz zutage in der Goetheschenund in der Newtonschen Farbenlehre. Seit mehr als dreißig Jahren be-mühe ich mich, die Goethesche Farbenlehre zur Geltung zu bringengegenüber der Newtonschen. Während die Goethesche Farbenlehreganz hervorgeht aus dem tiefen Verwachsensein der Seele mit der Welt,geht die Newtonsche von der mechanischen Betrachtung der Welt ausund erstrebt nichts anderes. Und die Physik ist heute so verenglandert,daß sie gar nicht merkt, um was es sich auf diesem Gebiet handelt,daß sie selbstverständlich jeden für einen Dummkopf ansieht, der dieGoethesche Farbenlehre ernst nimmt.

Es ist innerhalb des deutschen Volkstums ein Streben zur Geistig-keit hin. Daher ist man auch verpflichtet innerhalb des deutschenVolkstums, zu rechnen mit demjenigen, was in heißem Seelenstrebenvon den Besten dieses Volkes, von denen, die wir schon genannt haben,und von denjenigen, die wir morgen wieder nennen werden, gerade alsein Weg zur Geisteswissenschaft hin gesucht worden ist. Aber es kanndann dieses deutsche Volkstum nicht anders als sachlich streben, derSache selbst zugewendet sein. Das ist dasjenige, was englisches, franzö-

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sisches Wesen nicht so verstehen kann. Der Franzose will ein schönesWort haben, in eine schöne Phrase alles geprägt haben, und ist dannzufrieden. Der Engländer will nachfragen, wo der Nutzen von einemWissen oder dergleichen liegt. Daß aber erstrebtes Wissen etwas ist,was aus der Seele herauswachsen muß wie die Blüte aus der Pflanze,ohne das der Mensch sich nicht als ein ganzer Mensch fühlt, das ver-stehen weder die Franzosen - als Franzosen selbstverständlich, vomeinzelnen ist nicht die Rede -, noch verstehen es die Angelsachsen.

Dasjenige, was seit dem Griechentum, das ein Höchstes geleistethat für die vierte nachatlantische Kulturperiode, zu leisten ist an Her-ausgestaltung des seelischen Erlebens in eine Ideenwelt hinein, das istAufgabe des deutschen Wesens. Und man braucht wirklich kein Na-tionaler im engherzigen Sinne zu sein, sondern ein ganz objektiver Be-trachter des Entwickelungsganges der Menschheit, wenn man dieseshervorhebt. Und Sie wissen ja auch: Ich hebe es nicht erst bei Gele-genheit dieses Krieges hervor, sondern diese Betrachtungen lagen invielem darin, was seit Jahren, seit anderthalb Jahrzehnten unter unsvon mir gesagt worden ist.

Dadurch aber, daß dieses deutsche Wesen so ist, dadurch ist es ausseelisch-sachlichen Gründen berufen, die angedeutete seelische Ehe ein-zugehen mit dem russischen Osten. Und niemals wird die Kulturauf-gabe der Zukunft anders erfüllt werden können, als indem die russi-sche Anpassungsfähigkeit das annimmt, was aus dem deutschen Volks-tum heraus kommen kann. Und alle Kulturentwickelung der Zukunftist eine Frage dieser Verbindung Mitteleuropas mit Osteuropa.

Anders liegt das mit Westeuropa. Westeuropa hat dasjenige, was dievierte nachatlantische Kulturperiode gebracht hat, übernommen und esselbständig entwickelt, aber in der Weise, wie ich das oftmals darge-stellt habe: nur durch die drei Seelenkräfte: Empfindungsseele, Ver-standesseele, Bewußtseinsseele. Es ist nicht produktiv, was diese viertenachatlantische Kulturperiode im wesentlichen hinausschickt, und ins-besondere die britannische Volksseele, die angelsächsische Volksseelehat die Aufgabe, die Bewußtseinsseele auszubilden, auszubilden das-jenige, was vor allen Dingen auf die Nützlichkeit in bezug auf den phy-sischen Plan hingeordnet ist.

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Daher alle die Erscheinungen, die wir auftreten sehen innerhalbWesteuropas, besonders innerhalb des angelsächsischen Volkstums.Aber nun fühlt besonders dieses angelsächsische Volkstum instinktiv,daß das eigentlich Fruchtbare das Mitteleuropäische ist, im wesent-lichen der deutsche Einschlag Mitteleuropas ist. Und diejenigen, wel-che die sogenannten okkultistischen Bewegungen Westeuropas, nament-lich des angelsächsischen Volkes leiten, die wissen, um was es sich han-delt. Von zwei Gedankengängen sind diejenigen zunächst erfüllt, diedie okkultistischen Bewegungen im angelsächsischen Volkstum leiten:Der eine Gedankengang ist der, daß sie sich sagen: Das römisch-katho-lische Wesen ist abgetan, das gehört im wesentlichen der vierten nach-atlantischen Zeit an. An die Stelle desjenigen, was im römischen Kult-wesen war, muß das angelsächsische Wesen treten. - Und jeder Okkul-tist einer gewissen Sorte, das heißt jeder Okkultist, der in seinem Volks-tum aufgeht, und das sind, mit Ausnahme weniger, alle im Angelsach-sentum, der weiß - das heißt, er bildet sich das ein, ein richtiges Wissenzu haben -, daß die «angelsächsische Rasse», wie er sagt, an die Stelledes römischen Wesens treten müsse. Das wird in allen okkultistischenSchulen dort gelehrt. Das ist ein festes Dogma.

Und ebenso wissen die Leute instinktiv, daß gewissermaßen dieRekruten für das Einführen in das Leben alles desjenigen, was die Kul-tur bringen muß, die Rekruten, die aufnehmen müssen passiv durchihre Anpassung, die russischen Menschen sind.

Diese zwei Dinge wissen gerade die angelsächsischen Okkultistensehr genau, das heißt, sie sehen die Sache so an, das ist ihre Überzeu-gung. Ihre Überzeugung ist auf der einen Seite: Angelsachsentum hatabzulösen das römische Wesen; alles andere, Protestantismus, Calvi-nismus und so weiter, das sind nur Anhängsel. Das Angelsachsentummuß etwas erzeugen in der Welt - wie gesagt, ich spreche jetzt von denOkkultisten -, was für die fünfte nachatlantische Kultur so sich hin-stellt, wie sich das römisch-katholische Wesen hereingestellt hat in diezweite Zeit der vierten nachatlantischen Kultur, selbst noch bis ins14., 15., 16. Jahrhundert.

Und nun ist jeder Okkultist auf dieser Seite davon überzeugt, daßvor allen Dingen die Brücke geschaffen werden muß zwischen dem-

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jenigen, was das Angelsachsentum sich so zuschreibt, und dem russi-schen Wesen. In die russische Seele hineingießen dasjenige, was an-gelsächsischer Okkultismus lehren will, das ist dasjenige, was aus demzweiten, das ich angeführt habe, wie ein Ideal hervorgeht für jedenangelsächsischen Okkultisten: die russische Seele zu benützen als eineArt von Wachs, in das eingeprägt wird dasjenige, was der angelsäch-sische Okkultismus will. Dieses Ideal überwuchert in den Kreisen, vondenen ich jetzt rede, weitaus alles dasjenige, was uns hier die Haupt-sache ist.

Uns ist die Hauptsache wirkliche Erkenntnis, wirkliches Dringenzur Wahrheit, und unsere ehrliche Grundüberzeugung ist die, daß,wenn wir die Wahrheit finden, diese Wahrheit den Menschen gebenwird, was sie brauchen, und daß diese Wahrheit, wenn wir sie in derrichtigen Weise erstreben und suchen, auch in der richtigen Weise diezukünftigen Kulturepochen befruchten wird, daß schon das gesche-hen wird, was geschehen muß mit den Völkern Europas, wenn in derrichtigen Weise ehrlich die Wahrheit gesucht wird. Man braucht nichtsanderes, als ehrlich die Wahrheit suchen; das ist der wahre Grundsatzder Geisteswissenschaft.

Aber dem steht gegenüber ein solcher Grundsatz, wie ich ihn ebencharakterisiert habe, eine besondere Rasse an die Spitze zu bringen,eine besondere Rasse mächtig zu machen, mächtig vor allen Dingenin bezug auf das Seelenleben. Nicht von Politischem sprechen wir jetzt,wir sprechen von dem, was als okkultistische Wege in den Tiefen wur-zelt: mächtig zu machen das angelsächsische Seelentum und zu benüt-zen das, was anpassungs- und aufnahmefähig ist, das osteuropäischeWesen, und in es hineinzugießen das, was man hineingießen will, damiteine Ehe. entstehen könne zwischen Angelsachsentum und Russentum.Die inneren Impulse der Menschheitsentwickelung sprechen von einerEhe des deutschen Wesens mit dem Russentum. Der egoistische Willedes angelsächsischen Okkultismus redet davon, daß das Russentumdurchdrungen werden muß mit Angelsachsentum in bezug auf see-lische okkulte Entwickelung.

Fassen Sie diese Dinge nur ganz klar ins Auge; sie sind außerordent-lich wichtig. Sie werden von mir so angeführt, wie sie immer mehr

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und mehr gelehrt werden in allen möglichen okkultistischen Richtun-gen des Westens, namentlich in den angelsächsischen okkultistischenSchulen. Dasjenige, was aber doch im Grunde genommen nur die Be-wußtseinsseele zu pflegen hat, kann zu einem wirklichen Inhalt nichtkommen. Wirklicher Okkultismus aber, der nicht Machtgelüste ent-faltet, sondern nach der Wahrheit sucht, steht ganz im organischen, imlebensvollen Zusammenhange mit der deutschen Entwickelung und istganz innerhalb der deutschen Entwickelung verankert.

Aber was hat sich zugetragen, meine lieben Freunde? Wäre die Ent-wickelung seit dem Mittelalter bis in unsere Zeit herauf nicht durchahrimanische Kräfte gestört worden, hätte sich dasjenige, was in Eu-ropa für die Geisteswissenschaft geschehen ist - von einigem sehr spä-ten Geschehen werden wir wiederum morgen zu reden haben -, orga-nisch, ohne ahrimanische Einflüsse entwickelt, dann würde man heuteleichter ersehen, daß alles das, was das Abendland an Geisteswissen-schaft geleistet hat, aus deutschem Wesen hervorgegangen ist. Aberdurchflutend Angelsächsisches, wurde deutsche Geisteswissenschaft inMasken ins Angelsachsentum und auch nach Frankreich hineingetra-gen. Nur die Terminologie, die Namengebung der einzelnen Tatsachenhat man angepaßt der französischen, der englischen Sprache. Wennman aber auf den Grund geht, so ist all dasjenige, was im französischenOkkultismus und im englischen Okkultismus enthalten ist, nur mas-kiertes deutsches geisteswissenschaftliches Forschen, mitteleuropäisch-geisteswissenschaftliches Forschen.

Auf eine Weise, die ich gleich erörtern werde, hat auch dasjenige,was sich Theosophical Society genannt hat, nichts anderes enthalten,als mit indischen oder sonstigen Namen belegte Tatsachen, die inner-halb der deutschen Geisteswissenschaft gefunden worden sind. Unddas Bestreben der Theosophical Society war, den Deutschen diese Tat-sache möglichst zu verschleiern. Denn darauf geht das Angelsachsen-tum aus, die Wahrheit der mitteleuropäischen Entwickelung in bezugauf die Geisteswissenschaft überall auszulöschen und sich selbst andessen Stelle zu setzen. Hier ist es das eminenteste Machtgelüste, dasdem Okkultismus entspringt. Und es war eine einfache Notwendig-keit, daß jene Abschälung stattfand, die sich nun wirklich seit der

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Jahrhundertwende vollzogen hat, daß wiederum zurückgeführt wor-den ist das, was ursprünglich deutsch war und was leider unsere Deut-schen nur allzusehr mit Kußhand empfangen haben vom Engländer-tum, daß das wiederum hingestellt wurde in seiner ursprünglichenReinheit. Eine Wahrheit ist festgestellt worden. Die mußte festgestelltwerden. Daß diese Wahrheit festgestellt worden ist, das wird die eng-lische Theosophische Gesellschaft unseren deutschen Bestrebungen, wiesie vom Anfange an waren, niemals verzeihen. Das läßt sich nur miteinem Nebel umhüllen durch Verleumdung.

Aber sehr systematisch, sehr zielbewußt, gehen alle diejenigen vor,die innerhalb der okkultistischen Bestrebungen gerade Macht entfal-ten wollen. Deshalb ist es so notwendig, daß man diesen Bestrebungengegenüber nicht schläft, sondern einige Klarheit entwickelt. Klarheitist vor allen Dingen gerade den bedeutenden Erscheinungen gegenübernotwendig. Und Klarheit ist zum Beispiel ganz besonders notwendiggegenüber der für die Theosophical Society ja ausschlaggebenden Per-sönlichkeit von Helena Petrowna Blavatsky.

Was der Klarheit auf diesem Gebiete zugrunde liegt, das läßt sichanknüpfen an zwei Tatsachen: Die erste Tatsache ist diese, daß HelenaPetrowna Blavatsky eine Russin war, aus dem Russentum herausge-wachsen ist. Die zweite Tatsache ist diese, daß sie hinterlassen hat inenglischem Gewände eine Art Geheimwissenschaft, daß sie nach undnach vollständig, aber auf Umwegen verschiedener Art, hineingewach-sen ist in das, was der angelsächsische Okkultismus anstrebt, zum Teilauf Umwegen, die bedingt waren durch die große Begabung dieserFrau. Helena Petrowna Blavatsky war eine, ich mochte sagen, in ei-nem gewissen Sinne mediumistische Persönlichkeit, die in einer solchenAnpassungsfähigkeit auch der okkult-seelischen Eigenschaften eben nuraus dem russischen Volkstum heraus sich entwickeln konnte. Dasje-nige, was der Russe sonst als allgemein menschliche Eigenschaften hat,hatte Helena Petrowna Blavatsky gerade mit Bezug auf okkulte Ei-genschaften. Und daher kam es, daß sie in Westeuropa zuerst von demfranzösischen Okkultismus, dann von dem britischen Okkultismus ei-ner gewissen Sorte geeignet befunden worden ist, gerade in ihre Seelehineinzugießen angelsächsisch-okkultes Wesen. Man glaubte der Welt

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etwas geben zu sollen, was gleichsam vorausgenommen darstellt an-gelsächsischen Okkultismus, sich offenbarend aus der russischen Seeleheraus. An die Stelle desjenigen, was kommen soll und kommen muß,der Verbindung des mitteleuropäischen Wesens mit dem russischenWesen, wurde bewußt, absichtlich gestellt die Durchdringung der russi-schen Natur - in Helena Petrowna Blavatsky als Repräsentantin desrussischen Volkstums — mit angelsächsischem Machtokkultismus. Dar-an waren diejenigen Menschen nicht unbeteiligt, welche gewisserma-ßen die Fäden des Lebens, wie es sich außen nach dem physischen Planentwickelt, in der Hand haben wollen. Um die arme Persönlichkeitder Helena Petrowna Blavatsky hat sich mancherlei Tragisches ab-gespielt, auf das ich heute nicht eingehen kann. Gerade wegen ihrertiefgehenden und umfassenden Medialität, in die alles mögliche hin-eingegossen werden konnte, hat sich vieles, vieles abgespielt. Und eswar ein langer Weg von dem Ausgangspunkt, wo zunächst versuchtworden ist, Mitteleuropäisches direkt der armen Blavatsky zu über-mitteln, was dann in einer allerdings kaleidoskopartigen, fast un-brauchbaren Weise in der «Entschleierten Isis» zutage getreten ist. Abersehr bald kam sie, indem sich andere Persönlichkeiten ihrer bemächtig-ten, unter ganz andere Einflüsse, und an die Stelle desjenigen, der ihrLeiter war, und der sie zu mitteleuropäischem Wesen anleiten wollte,trat später, indem sie in der Maske des ursprünglichen Leiters auftrat,die sogenannte spätere Koot-Hoomi-Individualität, die aber nichtsanderes war, nach der Aussage der wirklich wissenden Okkultisten,als ein Mensch, der im Solde des Russentums stand und in einer be-wußten Weise zusammenschmieden wollte dasjenige, was hervorge-hen konnte aus der seelischen Befähigung der Blavatsky und dem an-gelsächsischen Okkultismus. Man hat es direkt zu tun mit dem Zu-sammenstoßen, möchte ich sagen, einer ursprünglichen Individualität -manche nennen es Meister, man kann es nennen, wie man will — undeinem späteren Wicht, einem Schwindler, der die Maske des erstenangenommen und von Seiten Osteuropas aus die Aufgabe erhalten hatte,die ich eben angedeutet habe.

Dann begann die Zeit, wo die Blavatsky sich verbinden sollte mitdem okkultistischen Franzosentum, wo sie rasch zu gewissen Zielen

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kommen wollte und deshalb einer Okkultistenloge in Paris solche Be-dingungen stellte, die dann nicht erfüllt werden konnten, so daß siebald wieder ausgeschlossen werden mußte, weil sie unter dem Einflußder hinter ihr stehenden Individualitäten immer verquickte okkulti-stische Absichten mit politischen Machtimpulsen. Dann folgte die ame-rikanische Episode, die wiederum einen politischen Hintergrund hatte.Alle diese Dinge gingen darauf aus, vor Europa etwas hinzustellen, wasEuropa überzeugen sollte, daß aus der Verbindung des seelischen Rus-sentums und des angelsächsischen okkultistischen Machtgelüstes eine Artneuer Weltenreligion für Europa hervorgehen könne. Das sollte vorEuropa hingestellt werden. Und überrannt sollte werden dasjenige,was aus dem deutschen Wesen hervorgegangen ist.

O meine lieben Freunde, ich erinnere mich wohl - und es könnte man-chen unangenehm sein, wie deutlich solche Dinge vor meiner Seele ste-hen -, wie Mrs. Besant ihre allererste Versammlung innerhalb Deutsch-lands in Hamburg hielt, und wie ich sie innerhalb eines kleinen Kreisesdamals interpellierte, wie sie über die Entwickelung des Okkultismusim 19. Jahrhundert denke, und wie sie damals in Hamburg die Antwortgab: An der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert hat sich in Deutsch-land so etwas geltend gemacht wie ein okkultes Streben, aber dieDeutschen sind steckengeblieben in reinen Abstraktionen, und es hatsich gezeigt, daß die große - wie sie sich ausdrückte, sie drückte sich jaimmer groß aus -, daß die große Welle des spirituellen Lebens dembritischen Volke zuerteilt war. - Selbstverständlich sagte sie das eng-lisch; aber es war im Englischen noch größer!

Für Blavatsky kam dann die Zeit, wo es notwendig wurde, daßalle diejenigen, die es mit der Geisteswissenschaft ernst meinten unddie sich nicht einlassen konnten auf angelsächsische Machtgelüste, etwastaten. Und dadurch wurde das herbeigeführt, was man später in okkul-ten Kreisen genannt hat die «okkulte Gefangenschaft» der Blavatsky.Man konnte es auf keine andere Weise bewirken. Und der Beschluß,die okkulte Gefangenschaft, wie man sagt, über die Blavatsky zu ver-hängen, wurde durch eine Versammlung ehrlicher Okkultisten, wenig-stens zum größten Teil ehrlicher Okkultisten, im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts gefaßt.

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Die okkulte Gefangenschaft besteht darin, daß man - durch ge-wisse Vorgänge ist das möglich - das Streben eines Menschen wie ein-schließt in einer Sphäre, aus der er nicht hinaussehen kann, so daß seinStreben zurückgeworfen wird und er gewisse Schäden, die er anrichtenwürde, nicht anrichten kann.

Der Vorgang, den ich jetzt erzähle, dieses Verhängen der okkultenGefangenschaft, ist nicht einwandfrei; aber, wie gesagt, die Leute konn-ten sich auf eine andere Weise nicht helfen. Blavatsky war eine starkepsychische Persönlichkeit und konnte stark wirken. Daher hat sieauch jene auf der einen Seite überwältigende, auf der anderen Seiteübertölpelnde Kraft in ihren Schriften.

Dann stellte sich ja das ein, was man so schildern kann, daß gewisseindische Okkultisten, die sich auf diese Weise ein wenig rächen wolltenwegen der englischen Umklammerung, sich der Persönlichkeit der Bla-vatsky bemächtigten, und dadurch kam dann der indische Einschlaghinein. Ich habe an anderen Orten das genauer auseinandergesetzt, hierwill ich das nur andeuten.

Da kam dann also der indische Einschlag, und dadurch entstandjene bedenkliche okkulte Wissenschaft, die in der Theosophical Societylange Zeit gepflegt worden ist und von der gereinigt werden mußtedasjenige, was in Mitteleuropa als Geisteswissenschaft auftreten sollte.Denn dasjenige, was in Mitteleuropa als Geisteswissenschaft auftretensoll, das muß in dem Sinne, wie ich es angedeutet habe, grund-, grund-ehrlich sein, das heißt, die Wahrheit als solche anstreben und überzeugtdavon sein, daß die Wahrheit, indem sie hinfließt durch unsere Seelenund durch die Entwickelung der Menschheit, das rechte innerhalb vonVölkern und auch innerhalb des Daseins der Menschen, der sozialenOrdnung der Menschen, bewirken werde: reines, ehrliches Wahrheits-suchen! Und dieses reine, ehrliche Wahrheitssuchen ist ja zunächst nochunsere Hauptaufgabe.

Ich wollte, man verstünde das gerade innerhalb unserer geisteswis-senschaftlichen Bewegung hier genauer, dann würde man mir auch ge-wisse Nebenbedingungen, die ich schon einmal stellen muß, vergeben,würde sehen, daß diese Bedingungen genauer genommen werden müs-sen. Wie oft ermahne ich unsere Freunde, man soll, damit rein bleiben

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kann dasjenige, was als Geisteswissenschaft der Welt zu bringen ist,damit das von keiner Seite eine Anpassung erfahren kann, mir nichtkommen mit allerlei anderen Dingen, die man so leicht verquickt mitgeisteswissenschaftlichen Bestrebungen. Selbstverständlich, man tutalles ganz gern, was Menschenwollen erfordern kann, und in freund-schaftlicher Weise kann ja manches geschehen, aber jedenfalls muß zumBeispiel einmal begriffen werden, warum ich immer wieder und wie-derum ermahne: Man soll nicht glauben, daß ich auch nur im entfern-testen — ebensowenig wie in andere, nicht direkt geisteswissenschaft-liche Gebiete — mich in die Arzneikunde hineinmische. Es wäre schonnotwendig, daß sich unsere Mitglieder angewöhnten, das ernst zu neh-men, daß ich sage, im wesentlichen dürfte man mir eigentlich nichtmit ärztlichen Dingen kommen. Es ist wesentlich, daß man diese Dingeversteht, weil es wenigstens für heute noch notwendig ist, das geistes-wissenschaftliche Bestreben, soweit ich es zu vertreten habe, fernzu-halten von den anderen Dingen. Es sind genug ärztliche Persönlich-keiten innerhalb unserer Bewegung, denen sich unsere Mitglieder an-vertrauen können. Da ich das immer wieder und wieder betone, sosollte man wenigstens im Prinzip das wirklich ernst nehmen, wenn ichsage: Ich will mich in keiner Weise irgendwie aufs Kurieren einlassen;denn dadurch wird die Welt dasjenige, was zunächst die geisteswissen-schaftliche Bewegung durch mich tun soll, nur verkennen, und das sollnicht verkannt werden.

Wie wenig im Grunde genommen im Angelsachsentum richtigesVerständnis für das reine, objektive Wahrheitsstreben war, das konn-ten diejenigen wissen, die einmal einen merkwürdigen Vortrag vonMrs. Besant über «Theosophie und Imperialismus» gehört haben. Dakonnte man durch diesen Vortrag durchfühlen vieles von dem, wasich heute aus den Tatsachen heraus sagen mußte: Niemals dürfte ver-quickt werden mit irgendwelchen Machtgelüsten, mit irgendwelcher un-mittelbar politischen Bestrebung dasjenige, was Geisteswissenschaft ist,obwohl selbstverständlich derjenige, der ein guter Geisteswissenschaf-ter ist, der beste Politiker sein kann. Aber darauf kommt es nicht an,sondern es darf Geisteswissenschaft nicht so werden, wie es im Angel-sachsentum der Okkultismus ist, den ich zu charakterisieren versuchte;

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es darf Geisteswissenschaft nicht so etwas werden, was gerade durch dieBlavatsky, und dann in vieler Beziehung auch durch Mrs. Besant ange-strebt worden ist, durch Mrs. Besant nur mit weniger Talent und mitweniger Begabung als durch Helena Petrowna Blavatsky. Das Bestre-ben war ja doch von Seiten des Angelsachsentunis, in blendender Weisedurch die Seelenerfahrungen einer solchen Persönlichkeit, wie die Bla-vatsky es war, eine Art okkultistischer Religion zu begründen, die dasAngelsachsentum mit Überrennung des Deutschtums unmittelbar hin-einträgt in das Russentum. In den Schulen, in denen jetzt nicht aufBlavatskys Weise, sondern überhaupt in der Weise des angelsächsischenOkkultismus die Dinge gelehrt werden, die ich ja auch schon angedeu-tet habe, wurde immer wieder und wieder von diesem Kriege, in demwir jetzt drinnenstehen, als einem notwendigen gesprochen. Und im-mer wieder und wiederum wird in solchen Schulen sehr suggestiv vondem Ausgang dieses Krieges so gesprochen, daß man sagt: Das und dasmuß geschehen durch diesen Krieg. - Man sagt es nicht aus einer Pro-phetie heraus zunächst, sondern weil man es will, weil man möglichstEinfluß gewinnen will, weil man möglichst die Menschen präparierenwill durch alle Kanäle, die gerade sich erreichen lassen. Denn wennman den Menschen allerlei Okkultismus in Masken beibringt, will mandie Menschen präparieren nach einer gewissen Richtung hin. Darummuß ich fragen - ich muß diese Dinge besprechen, weil sie schon öffent-lich besprochen werden, und weil derjenige, der Geisteswissenschaft sozu vertreten hat wie ich, begreiflich machen muß, wie er zu diesen Din-gen steht -: Warum ist denn eine okkultistische und den Okkultistenbekannte Persönlichkeit von Paris, unmittelbar nachdem der Kriegzwischen Deutschland, Rußland, England und Frankreich ausgebro-chen war, immer wieder und noch im Oktober 1914 nach Rom gereist?Warum spielte sie in Rom eine Rolle, die später auf die Verhältnissevon Italien einen Einfluß hatte, eine ähnliche Rolle, wie sie gewisseLeute spielten, die angehörten dem «Grand Orient de France» oderin Verbindung stehen mit Freimaurern des Angelsachsentums, die ei-nen tiefgehenden Einfluß hatten auf die ganze Gestaltung der gegen-wärtigen Ereignisse, viel mehr als man glaubt?

Aber noch anderes muß ich fragen: Warum steht denn in dem Jahr-

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buch, das dieselbe Persönlichkeit, die von gewissen Strömungen desOkkultismus gebraucht wird, man könnte auch sagen, mißbrauchtwird für allerlei Zeug - wie gesagt, weil das schon in der Welt bespro-chen wird, so muß ich zeigen, auf welcher Seite ich in diesen Dingenstehe -, warum steht in dem Jahrbuch von 1913, das diese Persönlich-keit herausgab und das eigentlich schon 1912 erschienen ist: Derjenige,der glaubt Österreich zu regieren, wird nicht regieren, aber ein anderer,jüngerer wird regieren, der jetzt noch nicht zum Regieren bestimmtist? — Warum steht das 1913 in einem Jahrbuch eines Mediums, das ineiner gewissen okkulten Strömung drinnensteht? Warum ist 1914 das-selbe in dem Jahrbuch wiederholt - also bevor das Jahr 1914 kam, für1914, aber schon 1913 erschienen: Die Tragik des Habsburger Hauseswird sich schneller, als man meint, erfüllen. - Warum steht das in diesenJahrbüchern? Und noch mehr: Warum steht in einem Pariser Blatt,das man in deutscher Sprache «Paris-Mittag» nennen könnte, 1913schon der Wunsch ausgedrückt, daß der österreichische ThronfolgerFranz Ferdinand ermordet werden müsse? Es entspricht dieses Blattungefähr dem, was in Berlin «B. 2. am Mittag» ist: «Paris midi» istdas, viel gelesen. Warum steht in dem Almanach auf der einen Seitedasjenige, was ich angeführt habe: Derjenige, der glaubt zu regieren,wird nicht regieren, aber ein jüngerer wkd regieren, und auf der an-deren Seite geradezu der Wunsch, daß dieser Erzherzog ermordet wird?Warum steht in diesem selben Blatt, als gerade die Debatte über diedrei Jahre Dienstzeit in Frankreich stattfand, mit zynischen Worten:Wenn es einmal in Frankreich zum Mobilisieren kommen sollte, sowird der erste, der ermordet werden wird, Jaures sein? - Halten Siedas, meine lieben Freunde, für Prophetie? Ich möchte Ihnen eben zei-gen, daß ich nicht auf Seiten derjenigen stehe, die das für Prophetiehalten, sondern daß das alles hinweist auf tiefgehende, schauderhafteUntergründe im Mißbrauch des scharlatanhaften, aber geradezumenschheitsgefährdenden Okkultismus.

Ich wollte Ihnen heute etwas vielleicht nicht Erhebendes sagen,aber etwas um so Ernsteres. Ich wollte Ihre Seele fragen, ob der Menschnicht wirklich recht klaren Blick sich aneignen müsse, wenn er geradein einer okkultistischen Strömung drinnenstehen will, und ob es da

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nicht schlimm stehen könnte, wenn man die wichtigsten Dinge ver-schlafen wollte. Meine lieben Freunde, wer auch die Verbindung derTheosophical Society - wie sie nach und nach immer mehr gewordenist - mit solchen Dingen studieren will, der braucht nur auf die Tätig-keit solcher Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Mrs. Catherine Tmgley,einmal ein scharfes Auge zu werfen. Und auch das ist lehrreich, daß,als aus einer gewissermaßen noch mehr christlichen Anschauung, so-gar auf einem stark medialen Wege etwas eingeführt werden sollte indasjenige, was allein angelsächsisch sein sollte, in dem Büchelchen«Licht auf den Weg» von Mabel Collins, daß da die Verleumdung los-ging. Denn das meiste, was gegen das Medium vorgebracht wurde,durch welches «Licht auf den Weg» der Menschheit gegeben wordenist, ist Verleumdung.

Mit etwas Ernst wollte ich heute zu Ihnen sprechen, damit aus die-sem Ernst heraus recht viele unter uns einen Begriff davon bekommen,wie notwendig es ist, sich bewußt zu werden der mitteleuropäischenSendung in bezug auf Geisteswissenschaft, und daß unbedingt not-wendig ist, daß diese mitteleuropäische Sendung Weltensendung werde.Diese mitteleuropäische Sendung muß vor allen Dingen reines, ehr-liches Wahrheitsstreben sein. Aber dieses reine, ehrliche Wahrheitsstre-ben wurde in einer sonderbaren Weise aufgefaßt, und die Entstellun-gen gegenüber der Wahrheit wurden auch in einer sonderbaren Weiseaufgefaßt. Sie wissen, daß die Beziehungen zwischen der deutschengeistigen Bewegung, der wir angehören, und der Theosophical So-ciety lange vor dem Krieg gelöst worden sind. Das alles, was ich an-deutete, wurde in einer sonderbaren Weise aufgefaßt. Bedenken Sienur, daß zum Beispiel Mrs. Besant es zustande gebracht hat, zu sagen,daß ich angestrebt hätte, Präsident der Theosophical Society in Indienzu werden, um sie von diesem Präsidentenstuhl zu verdrängen, und umvon dort aus pangermanische Strömungen auf dem Umwege durch In-dien in englandfeindlicher Weise zugunsten des Deutschen Reicheswirksam zu machen! Das werden Sie wirklich glauben, daß das nichtwahr ist, daß das eine objektive Unwahrheit ist!

Dem steht folgendes gegenüber: 1909 war es, da begründete sichgegen die Schreckensherrschaft des Herrn Leadbeater, und später auch

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gegen den Humbug des Alcyone eine Gesellschaft, die internationalalle Länder der Erde umfassen und gewissermaßen ein Gegengewichtgegen die von Mrs. Besant Irregeführten sein sollte. Und dazumalwurde ich von Indien her aufgefordert, Vorsitzender, Präsident dieserinternationalen Gesellschaft zu werden, und ich habe nicht nur abge-lehnt, sondern 1909 in Budapest vor Zeugen Mrs. Besant erzählt, daßich niemals innerhalb der geistigen Bewegung der neueren Zeit etwasanderes sein will als derjenige, der innerhalb des deutschen Volkswesensdiese Bewegung leite. Das sagte ich vor Zeugen 1909 in Budapest Mrs.Besant. Nun nimmt sie es mit der Wahrheit so, daß sie jetzt in ihrerenglischen Zeitschrift schreibt, ich hätte angestrebt, nach Indien zugehen und so weiter, um sie von dort aus zu verdrängen! Da kann mannicht mehr sprechen von objektiver Unwahrheit, da handelt es sichselbstverständlich um bewußte Lüge. Aber es ist schon notwendig, daßmit solchen Mitteln gearbeitet wird, wo das auf dem Spiele steht, daßman gegen den Gang der Wahrheit selber zu kämpfen hat; und dashat im Grunde genommen der angelsächsische Okkultismus. Denn dieWahrheit ist diese: Grundverbunden ist mit mitteleuropäischem We-sen dasjenige, was als Geisteswissenschaft die Menschenkultur zudurchdringen hat. Das aber muß verschleiert, das muß verhüllt, dasmuß maskiert werden in irgendeiner Weise von England aus. Undimmer mehr und mehr ist auch Mrs. Besant im 20. Jahrhundert zumInstrument dieser Verschleierung geworden.

Notwendigkeit zum Nachdenken über dasjenige, was in unsererBewegung fließen soll, ist hinreichend vorhanden. Die geistig-irdischeAufgabe ist wirklich da. Dazu haben wir ja keine Veranlassung, ohnezu prüfen, dem einen oder dem anderen blinde Gefolgschaft zu leisten.Das aber ist heute noch nicht gerade etwas, was sehr verlockend seinkann: nichts anderes zu wollen als ehrlich bloß die Entwickelung derWahrheit. Sie wissen, wie von allen Seiten innerhalb und außerhalbunserer Gesellschaft die Angriffe und auch der Spott und der Hohnnur so hereinhageln. Aber zu alldem kommt ja noch etwas anderes: Zudem kommt, daß immer mehr und mehr dies aus unserer geisteswissen-schaftlichen Bewegung auch draußen in diese oder jene Seele hinein-fließt - wer einen Blick dafür hat, der fühlt es schon, was von unseren

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Büchern oder unseren öffentlichen Vorträgen so hineinfließt in dieSeele der Menschen. Aber wenn diese Menschen, die zuweilen rechtgern das vertreten, was sie so einfließen lassen, sich rückhaltlos beken-nen sollten zu dem, was in so ernster Weise sich gerade als unsere Be-wegung hineinstellen soll in den Geistesgang der Menschheit, danntreten eigentümliche Erscheinungen zutage. Es ist manchmal wirklichso, daß die Menschen zwar manche Wahrheit gern auffassen, die ge-rade auf unserem Boden erzeugt wird, daß sie aber jedes ehrliche, voll-kräftige Stehen zu uns so auffassen, als ob sie sich zum Beispiel durcheine wirkliche Berührung mit mir selber die Finger verbrennen würden.Es ist eine sehr häufige Erscheinung, häufiger als man meint! Unterdenjenigen, die es ehrlich nicht mit irgendeiner Persönlichkeit, sondernmit dem meinen, was eben ehrliches geisteswissenschaftliches Wahrheits-streben ist, von denen ist schon vorauszusetzen, daß sie auch in unbe-dingter Weise sich dazu bekennen. Denn, meine lieben Freunde, derErnst ist groß, der Ernst ist ungeheuer.

Die Dinge, die ich gesagt habe, sollten nicht aus irgendeinem natio-nalen Gefühle heraus gesprochen sein. Ich habe Ihnen ja im Grundegenommen nur Tatsachen erzählt; sie sollten charakterisieren das, wasals okkultistische Gegensätze in Europa vorhanden ist und was für den,der sehen will, vieles von den Gegensätzen des physischen Planes schonauch erklären kann.

Und immer wieder möchte ich es betonen: Ernst brauchen wir,Ernst, um in einer ernsten Zeit die rechte Richtung zu finden, damitdas werde, was ich auch schon hier betont habe, was in den Wortenliegt:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht -Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

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ACHTER VORTRAG

Stuttgart, 15. März 1916

Als wir das letzte Mal hier miteinander gesprochen haben bei meinervorigen Anwesenheit, da betrachteten wir einige geistige Tatsachen,die sich auf das Leben der Menschenseele beziehen, nachdem derMensch durch die Todespforte hindurchgegangen ist. Wir wollen heutezunächst einige mit diesem Ereignisse zusammenhängenden Tatsachender geistigen Welt betrachten, die ein weiteres Verständnis auf diesesEreignis werfen können, Tatsachen, die aber ebenso, wie sie auf dasTodesereignis Licht zu werfen geeignet sind, zugleich erhellen könnendas, was im Leben sich abspielt zwischen Geburt und Tod des Men-schen, was sich abspielt in dem physischen Leben, in dem wir darin-stehen. Ich muß ja immer wieder und wiederum betonen, daß Geistes-wissenschaft den Versuch machen muß, nicht bloß bei einer äußerenSchematik in der Auffassung der Menschenwesenheit stehenzubleiben,sondern immer tiefer und tiefer in die verschiedenen Glieder dermenschlichen Wesenheit einzudringen.

Nun wollen wir einmal unsere Betrachtungen auf das hinwenden,was wir oftmals den menschlichen Ätherleib genannt haben. Schon imöffentlichen Vortrage gestern habe ich darauf aufmerksam gemacht,daß man sich diesen Ätherleib nicht nur wie einen verdünnten phy-sischen Leib vorstellen soll - das wäre ja eine materialistische Auffas-sung -, sondern daß man sich ihn als das vorstellen soll, als was er er-scheint durch ein inneres Erlebnis. Und da kommen wir darauf, daßsich dasjenige, was wir im engeren Sinne Denken, Vorstellen nennen,so wie der Mensch hier auf dem physischen Plan lebt, eigentlich ab-spielt im Ätherleib. Aber damit sich Gedanken bilden durch diesesDenken, durch dieses Vorstellen, ist der physische Leib notwendig,denn der physische Leib muß seine Eindrücke bekommen, wenn Ge-danken hier im physischen Leben erinnerungsmäßig festgehalten wer-den sollen.

Der Vorgang ist also der: Wenn wir denken, so geht natürlich dasDenken vom Ich aus, geht durch den astralischen Leib, aber es spielt

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sich dann hauptsächlich in den Bewegungen des Ätherleibes ab. Waswir immer denken, was wir vorstellen, spielt sich in den Bewegungendes Ätherleibes ab. Diese Bewegungen des Ätherleibes drücken sichförmlich ein in den physischen Leib. Das ist grob gesprochen, denn eshandelt sich um viel feinere Vorgänge als um ein grobes Einprägen,aber man kann die Sache vergleichsweise so nennen. Und dadurch, daßdiese Bewegungen des Ätherleibes in den physischen Leib eingeprägtwerden, spielen sich für unser Bewußtsein die Gedanken ab, und da-durch auch erhalten sich die Gedanken in der Erinnerung. Gewisser-maßen ist es so: Wenn wir einen Gedanken haben und den später ein-mal aus der Erinnerung hervorholen, so kommt bei dieser Arbeit desSich-Erinnern-Wollens unser Ätherleib in Bewegung, und er paßt sichmit seinen Bewegungen dem physischen Leib an, und indem er hinein-kommt in jene Eindrücke, die dieser Ätherleib bei dem entsprechen-den Gedanken in den physischen Leib gemacht hat, kommt der Ge-danke wieder herauf ins Bewußtsein. Also Erinnerung ist daran ge-knüpft, daß die Bewegungen des Ätherleibes sich in den physischenLeib einprägen können. Natürlich ist das Gedächtnis an den Äther-leib gebunden, aber der Ätherleib muß eine Art von Bewahrer seinerBewegungen haben, damit im physischen Leben das Erinnern zustandekommen könne. Und so leben wir denn unser Leben zwischen Geburtund Tod, haben unsere Erlebnisse und erinnern uns unserer Erlebnisse,das heißt, es läuft unser Gedankenleben in uns ab. Im wachen Zustandehaben wir immer mehr oder weniger dieses in unserem Inneren ab-laufende Gedankenleben.

Man hat nun als Mensch im physischen Leib so die Empfindung,das, was sich da abspielt in unserem Denken, in unserem Vorstellungs-leben, das ist inneres Erleben, etwas, was sich in uns selber abspielt, wasunser Eigentum ist. Und für das physische Leben ist ja das auch zu-nächst richtig, denn äußerlich ist ja für andere Menschen wirklich das-jenige, was sich innerlich als Gedankenerlebnis abspielt, nicht sichtbar.Es ist also unser Eigentum. Aber gegenüber der geistigen Welt ist dasgar nicht unser Eigentum, was sich da in unserem Gedankenleben ab-spielt.

Ja, unser Gedankenleben hat noch eine ganz andere Bedeutung, als

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wir oftmals vermeinen, wenn wir es so als unser Eigentum anspre-chen. Und wir wollen einmal ein bißchen nachfragen nach dieserWeltbedeutung unseres Gedankenlebens. Damit ich mich ganz gut ver-ständlich machen kann, muß ich von einem Vergleich ausgehen: Wirphysischen Menschen arbeiten hier in der physischen Welt. Nehmenwir an, unsere Arbeit bestünde darin, daß wir Maschinen machten. Siekönnte ja auch in etwas anderem bestehen, aber nehmen wir an, sie be-stünde darin, daß wir Maschinen machen. Um die Maschinen zu ma-chen, die dann in den Dienst des menschlichen Lebens gestellt sind,brauchen wir Holz oder Eisen oder was immer, woraus eben die Ma-schinen gemacht werden. Wir brauchen die entsprechenden Materialiendazu, und wir müssen diese Materialien bearbeiten. Die Materialienmüssen da sein in der Natur. Wir können als physische Menschen nichtEisen erschaffen, Holz erschaffen, diese Materialien müssen da sein.Wir nehmen diese Materialien, formen sie, bearbeiten sie und setzen siezu unseren Maschinen zusammen. Da üben wir Menschen eine gewisseTätigkeit aus. Wir bewirken gewissermaßen, daß ein Reich der Ma-schinen da ist, aber wir schaffen dieses Reich der Maschinen auf Grund-lage der Materialien, die wir der Erde entnehmen.

Stellen Sie sich nun vor, wir hätten es nicht mit Menschen zu tun,die aus irdischen Materialien, aus Eisen oder Holz Maschinen her-stellen, sondern mit den Wesenheiten der nächsthöheren Hierarchie,den Wesenheiten, denen wir die Namen geben: Angeloi, Archangeloi,Archai. Man könnte nun fragen: Was haben denn diese Wesen eigent-lich zu tun? Haben sie auch so etwas zu tun, was sich vielleicht ver-gleichen ließe mit der Tätigkeit, von der eben gesprochen worden ist,und die dazu führt, daß ein Reich der Maschinen geschaffen wird? -Ja, diese Angeloi, Archangeloi und Archai, sie haben auch ihre Tätig-keit. Diese Tätigkeit spielt sich eben nur in der geistigen Welt ab. Undgeradeso wie wir Menschen aus den untergeordneten Reichen, also zu-nächst aus dem mineralischen, aus dem pflanzlichen Reiche unser Ei-sen, unser Holz nehmen müssen, um unsere Maschinen zusammenzu-stellen, so brauchen die Angeloi, Archangeloi, Archai auch Materialien,um dasjenige, nun, sagen wir, zu erbauen - obwohl der Ausdruck na-türlich sehr grob ist -, was sie erbauen sollen. Und was sind ihre Ma-

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terialien? Zu vielem, was die Angeloi, Archangeloi, Archai zu leistenhaben in der geistigen Welt, sind die Materialien gerade die Gedanken,die die Menschen als ihr Eigentum betrachten. Und es ist schon so:Während wir durch die Welt gehen und unsere Gedanken hegen, unserGedankenleben gleichsam vom Inneren anschauen und als unser Eigen-tum betrachten, arbeiten an unseren Gedanken, ohne daß wir es wis-sen, die Angeloi, Archangeloi und Archai. Das allerwenigste, was inunseren Gedanken lebt, kommt uns zum Bewußtsein, denn die Ge-danken bedeuten noch viel anderes, als was uns zum Bewußtseinkommt, viel anderes, als was in unseren Seelen lebt. Während wir den>-ken und unsere Gedanken erinnern, arbeiten gleichsam von außennach ihrer Art, so wie sie unsere Gedanken brauchen können, die ge-nannten Wesenheiten der höheren Hierarchie, der nächsten Hierarchie.Also stellen Sie sich durchaus jeden Menschen so vor, daß das nureine Seite seines Gedankenlebens ist, was sich für sein Bewußtsein ab-spielt. Während er denkt, umschweben ihn fortwährend die Wesen-heiten der genannten Hierarchien und arbeiten mit Hilfe seiner Ge-danken. Das sind ihre Materialien. Und das, was sie auf diese Art ar-beiten, das gehört zu dem dazu, was gebraucht wird, damit aus derErde einmal Jupiter, Venus, Vulkan hervorgehen können. Das gehörtzu dem, was den Fortschritt in der Entwickelung des Weltenalls be-wirkt. Und unser ganzes Leben bis zum Tode hin arbeiten an den Ge-danken, insofern sie von unserem Wesen gleichsam umschlossen wer-den, von außen herein die genannten Wesen der höheren Hierarchie.

Und wenn wir durch die Pforte des Todes gehen, dann wird ja, wiewir schon bei meiner vorigen Anwesenheit angedeutet haben, einigeZeit nachdem wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, unserÄtherleib von uns genommen und dem allgemeinen Weltenäther ein-verwoben. Da wird nicht nur dasjenige einverwoben, was wir zuletztsehen, indem wir auf die eine Seite unseres Gedankengewebes hinsehen,sondern da wird einverwoben dem allgemeinen Weltenäther auch das,was die genannten Wesenheiten erarbeitet haben. Während sie gewis-sermaßen an unserem einzelnen Gedankengewebe während unseresLebens arbeiten, fügen sie dann die einzelnen Gedankengewebe deseinen, des anderen, des dritten Menschen zusammen, so wie sie sie brau-

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chen können, damit Neues entstehe im Fortentwickelungsgange derWelt. Das muß hineinverwoben werden in den allgemeinen Welten-äther, was sie da erwerben können durch das Zusammenfügen der ein-zelnen Ätherleiber der Menschen, die sie während der Zeit des physi-schen Lebens bearbeitet haben.

Sie sehen daraus, wie ernst es eigentlich steht mit unserem gedank-lichen Innenleben. Recht ernst steht es damit. Je nachdem wir den-ken, werden wir brauchbar gefunden für den allgemeinen Welten-entwickelungsgang. Derjenige, der sein ganzes Leben sich nur bemühthat, Dummheiten zu denken, oder sich nur bemüht hat, die Dinge zudenken, die Abbilder der physischen Welt sind, der wird nicht sehrgute Baumaterialien liefern für dasjenige, was aus seinem Ätherleibdem allgemeinen Weltenäther einverwoben werden soll. Eine ernsteSache ist es um das innere Leben, um das innere Gedankenleben, dasuns während des Lebens zwischen Geburt und Tod wie unser Eigen-tum erscheint. Es gehört auf diese geschilderte Weise eigentlich derganzen Welt an. Und so wenig wir Menschen Maschinen ohne Holzund Eisen machen könnten, so wenig könnten die höheren Wesenheitenfortarbeiten an dem Weltenwerdegang, wenn sie nicht ihre Baumate-rialien finden würden an dem, was wir während unseres physischenLebens an Gedanken ihnen geben können. Wir sind für sie der Grundund Boden, aus dem sie ihr Holz, ihr Eisen und so weiter, das heißt un-sere Gedankengewebe, nehmen. Ihre erhabene Tätigkeit mit diesenMaterialien üben sie aus ihrer die menschliche Wesenheit überragendenWeisheit aus; aber die Materialien muß ihnen das liefern, was in unsliegt.

Dasjenige, was wir so diesen Wesenheiten, den Angeloi, Archangeloi,Archai zu geben vermögen, das bildet für die ganze Zeit, die wir danndurchleben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, etwas, das wiranzuschauen haben, auf das wir hinzublicken haben. Wir wissen ja, eswird von uns genommen wenige Tage schon, nachdem wir durch diePforte des Todes geschritten sind. Aber so, wie wir weiterleben zwi-schen dem Tode und einer neuen Geburt, ist unser seelischer Blick unab-lässig hingerichtet auf dasjenige, was wir so imstande waren hinzuge-ben zu dem allgemeinen Weltenäther-Gewebe. Und wie wir selber nun

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wiederum mitzuarbeiten haben an der Herstellung dessen, was sichdann mit der physischen Materie verbindet, um uns eine neue Inkar-nation zu geben, so wirkt in diese unsere Arbeit hinein der Anblickdessen, was wir so der großen Welt gegeben haben. Kurz, ob wir aufetwas zu blicken haben, woraus wir neue Antriebe für eine nächsteInkarnation schöpfen können in diesem, dem Weltenäther einverwo-benen Gedankengewebe, oder ob wir das nicht können, davon wirdvieles abhängen in bezug auf die Art, wie wir imstande sein werden,für unsere neue Inkarnation vorzuarbeiten.

So sind unsere Gedanken an unsere Körperlichkeit gebunden, be-vor wir durch die Pforte des Todes gehen. Dann werden sie uns ineiner gewissen Weise genommen, und sie werden in dem, was die ge-nannten Wesenheiten aus ihnen gemacht haben, dem allgemeinen Wel-tenäther einverwoben, um nun nicht ein Dasein in uns zu haben, son-dern ein Dasein außer uns. Daher kann man in der Geisteswissenschaftdiesen Vorgang, um ihn sich immer zu merken, um ihn gewissermaßenzur Meditation immer vor sich zu haben, mit den Worten bezeichnen:Das Innere wird ein Äußeres. Denn genau so, wie wir hier mit demphysischen Auge auf Berge, Flüsse, Wolken, Sterne sehen, so sehen wirnach dem Tode auf das aus unserem Denken Gewobene hin als auf dasÄußere, das von uns genommen und dem allgemeinen Weltenäthereinverwoben ist. Außenwelt ist es jetzt, uns erhebende oder uns be-trübende, uns stärkende oder schwächende Außenwelt. Das Innereist ein Äußeres geworden.

Dann wissen wir, daß es eine fernere, sehr lange Zeit dauert, in derwir rückwärtsgehend auf eine gewisse Art dasjenige zu durchleben ha-ben, was wir hier im Erdenleben durchgemacht haben, aber anders, alswir es im Erdenleben durchgemacht haben. Wir durchleben ja, wie wirwissen, mit dreifacher Schnelligkeit das abgelaufene Leben zwischendem Tode und der Geburt in umgekehrter Reihenfolge, also das, waswir im letzten Jahre erlebt haben, zuerst, dann das vom vorletztenJahre und so weiter. So leben wir das Leben nach dem Tode in Ima-ginationen zurück, aber anders, als wir es hier im physischen Leib ge-lebt haben. Nachdem unser Ätherleib von uns getrennt ist, leben wirdas Leben zurück, so aber, daß wir jetzt nicht das erleben, was wir in

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unserem Fühlen, in unseren Willensimpulsen während unseres phy-sischen Daseins erlebt haben. Nehmen wir den extremen Fall, wirhätten während unseres physischen Daseins jemanden verletzt, be-leidigt, so haben wir etwas gefühlt, indem wir ihn beleidigt haben.Aber er hat auch etwas gefühlt. Das, was wir gefühlt haben, ist das-jenige, was uns aus unserem Fühlen heraus getrieben hat, ihn zu belei-digen, dann auch, was wir gefühlt haben vielleicht sogar als eine ge-wisse Befriedigung über die Tat. Kurz, Sie können sich ausmalen, wasein Mensch fühlt, im guten oder im schlimmen Sinne fühlt, wenn erirgend etwas auf dem physischen Plan bewirkt. Aber der andere, aufden sich das richtete, was wir getan haben, der fühlt etwas anderes.Derjenige, der beleidigt wird, fühlt etwas anderes als der, der beleidigt.Nach dem Tode, bei diesem Zurücklaufen, das jetzt charakterisiertwerden soll, da fühlen wir die Wirkungen, die wir mit unseren Taten,mit unseren Willensimpulsen, ja auch mit unseren Gedanken in ande-ren Menschen, aber auch in anderen Wesenheiten angerichtet haben.Also nicht das, was wir schon gefühlt haben, während wir im physi-schen Leibe waren, fühlen wir jetzt, sondern das, was wir bewirkt ha-ben in anderen Seelen, in anderen Wesenheiten. Das Äußere, das, wasÄußerliches geblieben ist während unseres physischen Lebens, das wirdjetzt Inneres. Wie durch die Abtrennung des Ätherleibes das Innere einÄußeres wird, so wird durch dieses Zurückleben das Äußere ein Inne-res. Unsere Seele erfüllt sich mit dem, was wir innerhalb unseres phy-sischen Daseins als Wirkungen angestellt haben. Das wird jetzt unserInnenleben: das Äußere wird ein Inneres. So wird das Innere einÄußeres und das Äußere ein Inneres. So wird der Mensch gleichsamgewendet, nachdem er durch die Pforte des Todes getreten ist.

Stellen Sie sich vor, wie Sie sich vorhin die Angeloi, Archangeloiund Archai in einem gewissen Verhältnisse zur menschlichen Gedan-kenwelt vorstellen mußten, jetzt die Geister der höheren Hierarchienvor: die Geister der Form, die Geister der Bewegung, die Geister derWeisheit, ja sogar noch die Geister des Willens, die Throne, die stellenSie sich so vor, daß sie nun auch in einer Art Verhältnis zu dem stehen,was ich jetzt charakterisiert habe, wie der Mensch ein neues Innereserwirbt, das jetzt aus dem Äußeren zusammengeschweißt wird. Mit

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ihrem geistigen Auge - wenn ich das Bild gebrauchen darf - sehen dieFormgeister, die Geister der Bewegung, die Geister der Weisheit, dieGeister des Willens herab auf jenes merkwürdige, bedeutungsvolleSchauspiel, das sich abspielt, nachdem der Mensch zwischen der Ge-burt und dem Tod dies oder jenes durch seine Taten, durch seine Wil-lensimpulse innerlich erlebt hat; was er jetzt erlebt, nachdem er durchdie Pforte des Todes geschritten ist, wo er die Wirkungen aufsammeltgleichsam, um sie zu einem neuen Inneren zu machen, zu jenem Inne-ren, das dann im Karma sich weiter ausleben kann bei dem Aufbau derspäteren Inkarnation. Wie da alles, was sich draußen in der Welt alsunsere Wirkungen ausbreitet, Inneres wird, das schauen die genanntenGeister aus ihren geistigen Höhen an. Und das, was sie so anschauen,ist für sie nun Material, um noch etwas anderes als die genanntenniedrigeren Geister der fortlaufenden Weltenentwickelung einzuverlei-ben, um vor allen Dingen Hilfe zu leisten, damit das Karma bewirktwerden kann, damit dasjenige, was so von außen nach innen gedrängtwird, die Grundlage abgibt in einem langsamen Aufbau, der dazwischen dem Tod und einer neuen Geburt jenes Gewebe vereinigt,das sich dann herabsenkt zu der physischen Vererbungssubstanz, umsich als Geistiges mit dem zu verbinden, was der Mensch von Vaterund Mutter ererbt. Es ist vieles notwendig, damit das zustande komme,was. sich so herabsenkt aus den geistigen Höhen und sich verbindenmuß mit der Vererbungssubstanz, die von den Vorfahren abstammt.Nachdem der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist, seinenÄtherleib abgelegt hat, nachdem er jenen Rücklauf durch die Seelen-welt bewirkt hat, von dem gesprochen worden ist, da beginnt ja bereitsdie Arbeit, die verrichtet werden muß zwischen dem Tode und einerneuen Geburt, damit eben die neue Geburt, die neue Inkarnation zu-stande kommen könne.

Was wird da gearbeitet? Es ist eigentlich unendlich schwierig, dieArt, wie da an uns gearbeitet wird im geistigen Weltenall draußen, zucharakterisieren. Sollte ich das charakterisieren, so könnte ich es viel-leicht in der folgenden Weise durch eine schematische Skizze tun.Nehmen wir an, der Mensch tritt durch die Pforte des Todes. SeinÄtherleib wird dann abgelegt. Dasjenige, was er selber noch überblickt,

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bleibt ja verhältnismäßig lange Zeit irgendwie in der Umgebung derErde. Ich habe Ihnen solche Dinge im Laufe der Zeit charakterisiert.Das aber, was die Angeloi, Archangeloi, Archai gewoben haben, gehtso weit hinaus, indem es der allgemeinen Ätherwelt einverwoben wird,daß es sich in einer weiten Kugel entfaltet, deren Mittelpunkt die Erdeist. Also wie eine Geistatmosphäre umgibt der Weltenäther die Erde.Und diesem Weltenäther wird einverwoben, was wir aus unseren Ge-danken gesponnen haben. Seien Sie nicht ängstlich darüber, wo Platzsein könnte für alle diese Gewebe: das Geistige durchdringt sich, undin dieser Sphäre sind alle diese Gewebe drinnen.

In seinem weiteren Verlauf sieht der Mensch nun, nicht von innen,sondern von außen, dieses Gewebe. Und sein weiteres Leben ist eineArt Vergrößerung, ein Aufgehen im Weltenall. Und während der gan-zen Zeit, wahrend sich das Leben zwischen dem Tod und einer neuenGeburt abspielt, sieht der Mensch immer von außen herein, sieht er:Das bist du -, wie eine noch mächtigere, ausgedehntere Kugel, und aufdieser Kugel stellen Sie sich vor so etwas wie eine mächtige Land-karte. Es ist natürlich alles bildlich und grob ausgedrückt, aber es gibtschon die Tatsachen wieder. - Da, an dieser Landkarte, an diesemGlobus wird gearbeitet, indem alles eingezeichnet, geistig eingearbeitetwird: Erstens dasjenige, was da vom Menschen selber erarbeitet wor-den ist in seinem Ätherleib, auf den der Mensch hinblicken kann, dannaber auch das, was jetzt menschliches Inneres geworden ist auf dieArt, wie ich es geschildert habe. Das wird alles da eingearbeitet, in-dem an dem Menschen zwischen Tod und neuer Geburt Formgeister,Geister der Bewegung, Geister der Weisheit, Willensgeister arbeiten.Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wo sich die neue Inkarnationergeben soll, dann ist dieses Gewebe fertig. Dann ist also eine mächtigeKugel da. Sie brauchen wiederum keine Angst zu haben, daß keinPlatz da wäre für alle diese Kugeln; die können alle ineinander sein.Es ist natürlich ein Bild für eine geistige Sache. - Dann beginnt dieseKugel immer kleiner und kleiner zu werden, und sie wendet sich, sowie Sie einen Handschuh umwenden, daß das Innere Äußeres wirdund das Äußere Inneres. Das, was gleichsam außen ist, das geht allesnach innen hinein, das wendet sich vollständig und wird so klein, daß

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es sich vereinigen kann mit dem menschlichen Keim, wie er sich aus-bildet im Leibe der Mutter. Das ist auch ein Bild.

Man kann diese Dinge natürlich auch noch in einer anderen Bild-lichkeit darstellen. Das ist ja hier auch schon geschehen. Aber wir wol-len uns die Sache heute so vorstellen, daß nach Maßgabe desjenigen,was der Mensch den Wesenheiten der höheren Hierarchien währendseines Lebens zwischen der Geburt und dem Tode hingegeben hat, dieseGeister der höheren Hierarchien sowohl an der Welt wie auch an derHerstellung der geistigen Grundlagen für die neue Inkarnation desMenschen arbeiten. Das, denke ich, ist ein gewaltiger Gedanke, wenner sich in gefühlsmäßiger Art festsetzt in unserer Seele, wenn wir ge-wahr werden, was eigentlich, so betrachtet, unser Leben für das ge-samte Weltenall bedeutet, wie wir drinnenstehen in diesem Weltenall.Und notwendig ist es, daß immer mehr und mehr die Menschen sichvon der Gegenwart an mit dem Bewußtsein durchdringen, so im Zu-sammenhange zu stehen durch ihr ganzes Leben mit einer geistigenWelt.

Die sehr gescheiten Leute von heute, die Gegner der Geisteswissen-schaft sind, werden sagen: Das menschliche Leben geht ja weiter,auch wenn man nicht solche Kenntnisse unter den Menschen verbrei-tet, sondern Kenntnisse viel einfacherer Art. Denn das wären doch nurDinge, die eben für das Denken da seien, womit man sich sein Denkenbeschweren könne; aber man brauche ja nicht das Leben mit solchenGedanken zu belasten. - So sagen gewiß die ganz gescheiten Leute.Und sie fügen dann vielleicht auch noch hinzu: Die Menschen habenja früher auch nicht solche unnötige Weisheit gewußt und haben auchvorwärtskommen können. - Die Menschen, die solches sagen, habengar keine Ahnung, wie dumm das ist, was sie so sagen, weil nämlich einesolche Behauptung unter der Voraussetzung getan wird, daß es wirk-lich wahr sei, daß die Menschen immer so unwissend über die geistigenGeheimnisse des Daseins waren, wie sie es jetzt sind. Aber es ist garnicht so lange her, daß die Menschen nicht so unwissend waren. Daskann man sogar an Äußerlichkeiten überall zeigen.

Ich will Ihnen eine solche Äußerlichkeit anführen. Hier habe ichnoch niemals Gelegenheit gehabt, irgendeine Bildergalerie zu besuchen,

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um nachzusehen, ob sich auch hier in Stuttgart ähnliche Stücke be-finden. Aber vor kurzem besuchten wir einmal eine Bildergalerie inHamburg, und da stellte sich folgendes heraus. Sehen Sie, wenn heutedie Maler kommen und das malen sollen, was wir als ein großes, ge-waltiges Bild kennen, aber ein Bild für eine Wahrheit, wie wir jawissen, den Sündenfall im Beginne des Alten Testaments, wenn dieMaler diesen Sündenfall malen sollen auf Grund dessen, was sie heutefür das Richtige halten, nun, da malen sie einen Baum, auf der einenSeite Eva, auf der anderen Seite Adam. Je nachdem sie Expressionisten,Impressionisten oder andere «isten» sind, malen sie diese menschlichenGestalten mehr oder weniger aus, ich will sagen, an; aber jedenfalls ma-len sie dann an dem Baum eine Schlange. Das ist naturalistisch, nichtwahr, das ist realistisch. Genauer zugesehen für den, der wirklich den-ken kann, ist das aber gar nicht realistisch. Denn ich möchte das Weibkennen, selbst wenn es eine Eva wäre, die sich von so einer gewöhn-lichen Schlange mit einem richtigen bloßen Schlangenkopf verführenließe zu dem, wozu sich die Eva hat verführen lassen. Ich meine, dasgibt es ja nicht. Von einer solchen Schlange wird sich auch eine Evanicht verführen lassen. Wir wissen ja, daß es sich um eine Verführungdurch den Luzifer handelt. Aber kann denn Luzifer durch eine ge-wöhnliche Schlange dargestellt werden? Diese kann höchstens das Bildsein. Aber wir wissen von Luzifer, daß er sein Dasein eigentlich da-durch erhalten hat, daß er zurückgeblieben ist auf der Mondenstufe.Da hat es noch nicht solche Schlangen gegeben, wie sie sich währendder Erdenzeit gebildet haben. Es ist also ganz unnaturalistisch, einereine Schlange mit einem riesigen Schlangenkopf zu malen. Wie müßteman denn Luzifer eigentlich malen, wenn man ihn richtig, realistischim Sinne unserer Geisteswissenschaft malen wollte? Man müßte ihnso malen, daß man ausdrückte, wie Luzifer für eine, noch das Imagi-native ausdrückende Entwickelung während der Mondenzeit war, sowie ich es geschildert habe in der Akasha-Chronik. Das heißt, wennman näher darauf eingeht, wird man finden, daß das, was als Erden-kopf beim Menschen jetzt physisch geworden ist, mit der dicken,manchmal sehr dicken knöchernen Hirnschale, dazumal noch dünnwar. Es war imaginativ zu sehen. Aber das, was daran hängt - Sie

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können es am Skelett sehen, wie der Mensch eigentlich aus den zweiTeilen besteht, aus dem Hirn und dem Rückgrat -, das hängt darannur wie ein ganz dünner Streifen. Das andere ist eigentlich Erdenwerk.Und vom Menschen ist wesentlich dasjenige, was eigentlich Schädel ist,vom Monde, und das Rückenmark ist als Anhänger herübergekommen.Das andere alles ist durch das, was wir als Erdensein ausgebildethaben, darangesetzt worden. Wie wird also Luzifer auszusehen habenfür ein imaginatives Erkenntnisschauen? Er wird einen menschlichenSchädel gehabt haben, und daran hängend so etwas wie einen Schlan-genleib, als damals Bewegliches ausgebildet, das Rückgrat. So wirder ausgesehen haben. Wenn man realistisch malen wollte, müßte manalso den Baum malen, und an dem Baum den menschlichen Kopf mitdaranhängendem Schlangenleib, andeutend das Rückgrat. Dann würdeman wahr malen. Aber man müßte dann etwas wissen von dem Ge-heimnis des Daseins, von den geistigen Welten, mit denen der Menschim Zusammenhang steht.

Im Hamburger Bildermuseum finden Sie ein Bild aus dem 13., 14.Jahrhundert von dem sogenannten Meister Bertram. Da ist der Sün-denfall genau so gemalt, wie ich es Ihnen jetzt geschildert habe. Da istnicht jenes Abbild einer bloßen Schlange gemalt, sondern da ist all dasgemalt an dem Baum, wie ich es Ihnen soeben geschildert habe. Washeißt das? Das heißt, es ist höchstens ein paar Jahrhunderte her, seitdie Menschen nicht mehr wissen, wie sie mit der geistigen Welt im Zu-sammenhang stehen und daß es eine geistige Welt im gekennzeichnetenSinne überhaupt gibt. Also die Menschen sind so töricht geworden, daßsie glauben, so wie die Menschen jetzt mit den bloßen physischen Sin-nen und mit dem bloßen Verstande, der an das Gehirn gebunden ist, dieWelt anschauen, so hätte man sie immer angeschaut; sie wären nuretwas kindischer gewesen und hätten sich allerlei Mythen ausgedacht.So denkt heute die Universitätswissenschaft. Aber Unsinn ist das ganze,denn ein paar Jahrhunderte ist es erst her, seit die Menschheit das le-bendige Anschauen der geistigen Welt verloren hat. Und gegenüberden großen Aufgaben der Erkenntnis ist die materialistische Wissen-schaft der Gegenwart nichts anderes als der herumwandelnde Stumpf-sinn gegenüber der geistigen Welt. Und dieser Stumpfsinn ist dasjenige,

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was als das Autoritative unter den Menschen heute herumwandelt, das,was als der große Fortschritt angestaunt wird. Er mußte einmal kom-men. Wir wissen, warum er kommen mußte: damit die Menschen ge-schützt sind durch ihre bloße physische Entwickelung und frei werdenkönnen. Und das muß durchschaut werden. Und selbst von solchenäußeren Dokumenten, wie ich sie Ihnen angeführt habe, könnten dieMenschen, wenn sie nur ein klein wenig, verzeihen Sie das, Grütze inihren Köpfen hätten, ersehen, wie kurze Zeit es erst her ist, daß dasgeistige Anschauen den Menschen verlorengegangen ist. Aber es fälltden Menschen heute gar nicht ein, diese Dinge wirklich denkend anzu-schauen. Man wählt lieber äußere Machtmittel, weil das bequem ist,weil man dabei nichts Besonderes zu lernen, sondern sich nur hinzu-stellen braucht an irgendeinen Laboratoriumstisch und sich gewisseMethoden eintrichtern lassen kann; und man erklärt dann durch äußereMachtsprüche, daß alles Irrtum und Unsinn und Phantasterei ist, wasvon der geistigen Welt redet. Das ist dasjenige, was statt des wirklichenHinneigens zur geistigen Welt gegenwärtig den Menschen gegebenwerden soll.

Aber, meine lieben Freunde, gegenwärtig ist es noch so, daß allesdas, wozu Erfindungsgabe gehört, noch als ein Erbgut von jenen altenZeiten, in denen man in die geistige Welt hineingeschaut hat, geblie-ben ist. Wenn das auch einmal weg sein wird, dann werden die Men-schen keine Erfindungen mehr machen. Und wenn Geisteswissenschaftdas menschliche Denken nicht wiederum neu erflammen würde, sowürde es keine fünfzig Jahre mehr dauern, dann würde alles, was soarbeitet in dem bloßen Materialismus, ein Reden über die äußere Ma-terie sein, und niemandem würde mehr etwas einfallen, das die Kunstoder die Ideologie oder irgendwie das äußere Leben bereichern könnte.Daher ist es die strengste Forderung der Zeit, nicht eine bloße Vorliebefür irgendwelche spirituelle Träumerei, daß Platz greife ein Bewußt-sein des Zusammenhanges der Menschheit mit der geistigen Welt, daßdie Menschen wiederum hinaufschauen können. Und das können sie,nachdem das alte atavistische Hellsehen vergangen ist, indem sie durchdie Geisteswissenschaft hindurchgehen.

Und in diesem Sinne ist es schon notwendig, daß die Menschen

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lernen, wie befruchtend nicht nur für ein Wissen von der geistigenWelt, sondern für ein richtiges Denken auch über das ganze Leben dasHerantreten an die Geisteswissenschaft ist. Immer wieder und wiedererfährt man, wie eigentlich die Menschen in der gegenwärtigen Zeitganz abgeneigt sind, sich in jenes etwas komplizierte innere Seelen-leben einzulassen, das schon einmal entwickelt werden muß, wennman der geistigen Welt nahetreten will. Denken Sie sich doch nur ein-mal: so ein richtiger Durchschnittsprofessor von heute - selbstver-ständlich kann es Ausnahmen geben, es soll niemand getroffen werden,und um so mehr muß es gelobt werden, wenn einer da sein sollte indiesem Kreis -, so ein richtiger heutiger vortragender Universitätspro-fessor, der wird diesen Dingen in der Regel gar nicht zuhören wollen,das ist ihm viel zu fad. Wenn man heute nämlich von geistigen Din-gen redet, dann muß man in allgemeinen, verschwommenen Redens-arten reden, die möglichst wenig besagen, die dann aber auch möglichstwenig bedeuten für das wirkliche Leben.

Als ich vor kurzem einmal in Leipzig denselben Vortrag gehaltenhabe, den ich vorgestern hier über einen verklungenen Ton im deut-schen Geistesleben hielt, da kamen zwei Herren nach dem Vortrag aufmich zu, zwei Herren von der gescheiten Sorte der genannten Men-schen natürlich, und der eine sagte, er hatte sich eigentlich gewundert,daß ich so gesprochen hätte, denn er hätte erwartet, daß, wenn manvon theosophischen Gesichtspunkten aus redet, man mehr in seine Denk-weise hineinschlüge; er sei nämlich Pazifist und müsse insbesondereals Pazifist den gegenwärtigen Krieg betrachten.

Pazifismus, das ist diese Anschauung, welche seit einiger Zeit unterder Ägide verschiedener Leute, der Bertba von Suttner, aber auch jenesWesens, das in Petersburg als Cäsar und Papst zugleich gilt, gepflegtwird. Vor vielen Jahren habe ich in Berliner Vorträgen schon gesagt,charakteristisch für die Friedensbestrebungen sei, daß, seit wir sie ha-ben, die größten und blutigsten Kriege in der Weltgeschichte geführtwerden. Aber diese Bewegung ist gerade eine von denjenigen, die davonleben, möglichst unklare Phrasen unter die Menschheit zu bringen, diesich aber einschmieren in das menschliche Gefühlsleben, weil man sienur zu verbreiten braucht, und man verbreitet ja lauter Liebe und

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lauter Güte. Ich erlaubte mir, dem Herrn zu sagen: Sehen Sie, wirleben jetzt in dem furchtbarsten der Kriege, den die Weltgeschichtebisher erlebt hat, wir haben es erlebt, daß im Juni oder Juli 1915 inner-halb eines einzigen Tages mehr Munition verschossen worden ist wie imganzen Deutsch-Französischen Krieg! Wir haben bereits den Punkterreicht, daß jetzt in diesem Kriege so viel Munition verschossen ist wiein allen Kriegen, die bisher mit dieser Munition überhaupt in der Welt,in der Menschheitsentwickelung, geführt worden sind. Ich sagte: Istdenn da nicht einzusehen, daß dasjenige, was sich nunmehr durchJahrhunderte als Kultur abgespielt hat, sich selbst ad absurdum geführthat, daß sich gezeigt hat, wozu es führt? - Nun, da wandte er ein: Ichsehe diesen Krieg als eine Krankheit an, und die muß eben geheilt wer-den; es ist ja nur eine Krankheit, die kann eintreten.

Es ist nun ein solcher Satz besonders tief einleuchtend aus demGrunde, weil er so selbstverständlich ist und weil er von irgendeinerSeite her ganz selbstverständlich richtig ist. Aber darauf kommt esnicht an, daß die Dinge richtig sind, sondern ob sie mehr oder wenigeroberflächlich sind, darauf kommt es an. Richtig ist der Satz selbstver-ständlich: es ist eine Krankheit. Aber ich sagte ihm: Wenn Sie dochdie Krankheit tiefer betrachten würden, warum tritt sie denn in denMenschen auf? Weil vorher etwas nicht in Ordnung ist! Die Krank-heit ist ja erst die Reaktion gegen etwas, was vorher nicht in Ordnungwar. Also wenn Sie nur etwas weiter denken würden von Ihrem Ge-sichtspunkte aus, so würden Sie darauf kommen, daß das eine Krank-heit ist, die aber aufgetreten ist, weil vorher die Dinge nicht in Ordnungwaren. Weil das gerade nicht in Ordnung war, ist die Krankheit auf-getreten, das stimmt. - Aber die Leute vermischen eben alle möglichenrichtigen Dinge, weil sie trivial und selbstverständlich sind und weilsie eigentlich an tiefere Dinge nicht herankommen können. Das ist dasErnste, das man einsehen muß in der gegenwärtigen Zeit.

Wenn Sie eine solche Tatsache nehmen, wie die, die ich vorgesternvorgebracht habe mit Bezug auf Karl Christian Planck, dessen geistigeKapazität einfach daraus hervorgeht, daß er im Jahre 1880 genau vor-aussah, was sich heute abspielt, werden Sie aus der Art, wie er geschätztund anerkannt worden ist, einsehen, daß diese Kultur, die sich da her-

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anentwickelt hat, ganz dazu angetan ist, die Herrschaft der alles wahr-haftige Streben unterdrückenden Macht der Unfähigen gerade zurWeltenmacht zu machen. Darüber sollte man sich nur keiner Unklar-heit hingeben. Das ist dasjenige, was man im tiefsten Sinne einsehenmuß.

Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ein Mensch hörteeinmal, daß Goethe einen «Faust» geschrieben hat, und er sagte, erwollte kennenlernen, was eigentlich dieser Goethesche «Faust» ent-hält. Da fand der, den er also befragt hat, er müsse die bequemste,leichteste Methode herausfinden, damit der andere erfahren könne,was dieser «Faust» eigentlich enthält, und er dachte tief nach: Wiekann ich denn diesem Menschen, der nun keinen Sinn hat für die ein-fachste Idee des Goetheschen «Faust», eigentlich beibringen, was erenthält? - Da ging ihm ein Licht auf. Ihm fiel ein: es wird jetzt jagerade eine neue «Faust»-Ausgabe in einer bestimmten Buchdruckereigedruckt, da führe ich den Kerl hin, der wissen will, was im «Faust»steht. Und da sagte er ihm: Sieh einmal, in drei Wochen wird hier der«Faust» gedruckt. In all den Hunderten von Setzkästen liegen die ver-schiedensten Buchstaben, und nun gib einmal acht, du wirst sehen, derSetzer nimmt diesen und jenen Buchstaben heraus und setzt die ein-zelnen Buchstaben zu Wörtern zusammen. Da wirst du genau sehen,wie man Seite um Seite zusammensetzt, und wie dann zum Schluß der«Faust» aus den einzelnen Buchstaben zusammenkommt. Da setztesich der andere also durch Wochen hin und sah, wie der ganze «Faust»durch die Hände der Menschen durch die Buchstaben zusammenge-kommen ist!

Ja, sehen Sie, ich kann das auch in etwas anderer Art erzählen. Eskam die neuere Zeit herauf. Da wollten die Leute wissen, was eigent-lich im geistig-seelischen Leben vorhanden ist, und sie hatten ein Be-dürfnis danach, einzusehen, wie Vorstellungen, Gedanken, Willens-impulse und Gefühle in der Menschenseele verwoben werden, was siefür die Gesamtwelt bedeuten. Sie fragten - die Menschen. Nun, dakam die neuere Wissenschaft, diese bloß naturalistische Wissenschaft,und die sagte: Nun, das werden wir schon machen! Da schauen wir,daß wir, soweit es jetzt schon sein kann, die einzelnen Gehirnbahnen,

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die Nervenfäden, die Ganglien und das alles untersuchen, wie das mit-einander verwoben ist. Und da haben wir das Seelenleben drinnen. -Genau dasselbe hat man, was man vom Goetheschen «Faust» hat, wennman ihn so kennenlernt, wie der betreffende Mensch, der drei Wochenin der Druckerei gesessen hat, genau dasselbe! Nehmen Sie alle dieErzeugnisse, die heute fabriziert werden von den sogenannten Psycho-Physiologen, da haben Sie in bezug auf die geistigen Erkenntnisse derWelt dasjenige, was Sie über den ganzen «Faust» wissen, wenn Siezugesehen haben, wie der «Faust» fabriziert wird aus dem Setzerkastenheraus. Das ist nur notwendig einzusehen, dann wird schon das er-schütternde Gefühl die Seele überkommen, das nötig ist, um vorwärts-zukommen im Entwickelungsgange der Menschheit.

Ihr seid schöne Gegner, werden nun die Leute vom Naturalismussagen, indem ihr unsere Wissenschaft, die wahre Wissenschaft, diestreng naturgemäß vorgeht, so anschwärzt! - Aber es fällt uns garnicht ein, sie anzuschwärzen. Wir stellen sie nur auf den rechtenPunkt, an den richtigen Lebenspunkt hin. Wenn der «Faust» zustandekommen soll, muß für die «Faust»-Ausgabe selbstverständlich die Set-zerarbeit gemacht werden; aber sie muß in ihrer richtigen Weltenlageerkannt werden.

Das alles, was ich damit andeuten kann, gehört in dem Sinne, wie iches auch gestern gemeint habe, zu den ernsten, bedeutsamen Aufgaben,die Mitteleuropa noch erwachsen werden. Das alles deutet auf dieseernsten Aufgaben hin. Und dieser Dinge zu gedenken in unserer heu-tigen ernsten Zeit, das ist schon dringend notwendig. Denn es ist un-bedingt nötig, daß ein tieferer Sinn für wirkliche Wahrheit durch dieWelt gehe, als er wehen kann unter dem Einfluß der materialistischenoder naturalistischen oder streng naturwissenschaftlichen Weltan-schauung. Man braucht gar nicht Gegner davon zu sein, daß die Leutesetzen lernen, damit «Faust»-Ausgaben gemacht werden können. Manbraucht gar nicht Gegner davon zu sein, daß die Leute das Hirn, dasNervensystem studieren. All das soll studiert werden, was heute wirk-lich sehr wichtig ist zu studieren. Aber man muß in einer entschiedenenWeise Gegner davon sein, daß jene anmaßende Hochmütigkeit auf-tritt, die heute gerade in der materialistischen Wissenschaft ist, daß

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in einer so furchtbaren Weise das Gefühl dafür leidet, wie ernst undwürdig gerade von Mitteleuropa aus - denn Westeuropa ist in bezugauf diese Dinge abgestorben - die Vergeistigung der Kultur geleistetwerden muß. Ich sage das nicht bloß, um irgend etwas Paradoxes, ir-gend etwas Starkes zu sagen, sondern ich sage das aus der Notwendig-keit heraus, die für das Aussprechen solcher Dinge in unserer Zeitwirkt. Es wird eine Zeit kommen, wo man wahrheitsgemäß auf ver-schiedene Dinge wird hinsehen müssen; aber es ist heute noch nichtviel Sinn vorhanden für ein solches wahrheitsgemäßes Hinschauen.Tausende und Tausende von Beispielen für die innere Unwahrhaftig-keit des gegenwärtigen Wissenschafts- und Literaturbetriebes könnteich Ihnen anführen. Lassen Sie mich eines wenigstens anführen, dasich gern schon im gestrigen öffentlichen Vortrag angeführt hätte, aberdie Zeit ist ja immer zu kurz, und die Vorträge müssen leider so sehrkurz gehalten werden.

Sie können zum Beispiel in vielen Büchern von Ernst Haeckel - Siewissen, ich schätze Ernst Haeckel sehr auf dem Gebiet, wo er zu schät-zen ist - immer wieder und wiederum angeführt finden, daß er sichberuft auf Karl Ernst von Baer, den ausgezeichneten Naturforscher,den er seinen Lehrer nennt. Die Menschen nehmen heute selbstver-ständlich Haeckels Bücher in die Hand, studieren sie, betrachten sieals eine Art neuer Bibel oder wenigstens als eine Art von Schriftenneuer Kirchenväter. Denn der Unterschied ist ja nicht der, daß manheute an ein eigenes Urteil glaubt, während man zur Zeit der Kirchen-väter sich eben auf die Kirchenväter verlassen hat, sondern der Unter-schied ist ein ganz anderer. Zu Tertullians, Gregors von Nazianz Zei-ten, da waren diese die Kirchenväter, und auf sie haben die Leute ge-schworen. Heute schwören namentlich diejenigen, die Monistenvereineoder Vereine für eugenetische Weltanschauung oder ähnlich schoneDinge gründen, auf den heiligen Darwin, den heiligen Haeckel oder aufden heiligen Helmholtz. Es ist - nur auf einem etwas anderen Gebiete -ganz dasselbe! Man nennt es nicht heilig, aber das macht ja den Unter-schied nicht aus. Also die Leute lesen Haeckel und haben, wenn er soKarl Ernst von Baer anführt, die Meinung: Nun ja, man sieht schon,dieser große Naturforscher Karl Ernst von Baer war in bezug auf die

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Ablehnung jeder geistigen Welt mit Haeckel vollständig einig. Ichmöchte manchem, der heute, nachdem er so ein bißchen hineingerochenhat in Haeckels, in Darwins Bücher, raten, bevor er daran geht, eineFiliale für einen Monistenverein zu gründen, mancherlei anderes vor-her zu tun: so zum Beispiel wenn Haeckel Ernst von Baer anführt, sel-ber einmal Karl Ernst von Baer in die Hand zu nehmen und zu lesen.Ich will Ihnen nur eine Stelle aus Karl Ernst von Baer vorlesen, wo ersich darüber ausspricht, wie es mit der geistigen Welt im Verhältniszur Erdenwelt bestellt ist. Da sagt Baer: «Der Erdkörper ist nur dasSamenbeet, auf welchem das geistige Erbteil des Menschen wuchert,und die Geschichte der Natur ist nur die Geschichte fortschreitenderSiege des Geistigen über den Stoff. Das ist der Grundgedanke derSchöpfung, dem zu Gefallen, nein, zu dessen Erreichung sie Individuenund Zeugungs-Reihen schwinden läßt und die Gegenwart auf dem Ge-rüste einer unermeßlichen Vergangenheit erhebt.»

Was sagt also dieser Baer? Der Erdenkörper, die Erde ist das Sa-menbeet, und da hinein werden versenkt die geistigen Keime, damitsie sich umhüllen. - Die reine Wahrheit hat dieser Baer gesagt im Be-ginne des 19. Jahrhunderts! Ernst Haeckel sucht sich diejenigen Sätzevon Baer heraus, die ihm genehm sind. Diejenigen, die nichts tun, alshöchstens Monistenvereine begründen, um die Weltenweisheit zu be-fördern, die wissen ja von alledem nichts anderes, als was Haeckelüber Baer sagt, und leben in der Lüge weiter, ohne auch nur die leisesteNeigung dazu zu haben, sich von der Sache, die zugrunde liegt, selbstzu überzeugen. Von solchen Lügengeweben ist heute unsere Literaturüberall durchzogen. Und überall kommt, namentlich in unserer populä-ren wissenschaftlichen Literatur, das über Europa ausgegossene Strebennach möglichster Verwaschenheit und Verspieltheit, könnte man sogarsagen, der geistigen Bestrebungen und eine möglichste Ungeneigtheitzum Ausdruck, mit klaren, sicheren Menschenurteilen in diese Dingehineinzuschauen und zu urteilen.

Da gibt es zum Beispiel, um Ihnen konkrete Dinge anzuführen, imWesten unter den Franzosen, unter den Briten, unter den Italienern,allerlei Freimaurerorden mit hohen Graden, solche mit dreiunddreißigGraden, aber es gibt auch solche mit über neunzig Graden. Gerade in

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solchen Orden ist im Laufe der letzten Jahrhunderte viel im trüben ge-fischt worden. Und wenn man einmal mit nüchternem, gesundem Urteilden Einfluß allerlei ungesunder, törichter, aber wohl in bezug auf diepersönlichen und politischen Absichten bewußter Spielerei untersuchenwird, wenn man die Einflüsse und die Strömungen der Freimaurerei,die im Westen Europas existiert, auf den Anteil Italiens an diesemKrieg studieren wird, dann wird man erst von mancherlei Unklarhei-ten und Im-trüben-Fischereien in unserer sogenannten Kultur eine Ah-nung bekommen! Das, was sich abgespielt hat, namentlich in solchenfreimaurerischen Orden seit dem Ausbruch des Krieges, das wird einst-mals ein kurioses Kapitel werden. Die deutschen Freimaurer, werdendabei verhältnismäßig am besten wegkommen, denn von ihnen wirdman das einzige sagen können: daß sie bei dem ganzen Spiel der Dummegewesen sind. Sie haben nämlich, insofern sie mit den anderen in Bru-derschaft gelebt haben, nichts gemerkt. Und das ist ja etwas, wasnoch - nun ja! - zu ihren Gunsten gesagt werden kann. Aber man sollnur ja nicht glauben, daß das, was sich von solchen Seiten geltendmacht, ohne Einfluß sei auf das, was um uns herum lebt und wirkt irider sogenannten Kultur, und was nur wirken und leben kann, so langeals die anderen Menschen nicht wollen, daß ihr Urteil geklärt, gekräf-tigt wird durch den Einblick in die geistige Welt.

Ich habe in meinem Buch «Gedanken während der Zeit des Krie-ges» aufmerksam gemacht, soweit man es in der öffentlichen Literaturkann, um verstanden zu werden - es ist ja auch wenig verstanden wor-den -, auf gewisse Strömungen, die überall im Osten und im Westensind. Diese Strömungen, sagen wir zum Beispiel die östliche der Sla-wophilen, auf die ich in dem genannten Schriftchen hingewiesen habe,wurzeln aber viel tiefer. Am Ende des 18. Jahrhunderts schon, und na-mentlich am Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch schon Jahrzehntefrüher, haben besonders die westlichen Freimaurerorden größeren Ein-fluß auf das russische Geistesleben gehabt, haben da hinübergepflanzt,haben da infiziert, eingeimpft dasjenige, was da auftauchen sollte.Und in vieler Beziehung ist der Slawophilismus und der Panslawismuswirklich die aufgegangene Saat dessen, was viele gerade aus diesenFreimaurerorden gepflanzt haben. Unter der Maske, unter dem Man-

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tel der Zeremonie wurden die Leute zunächst sozusagen benebelt, wurdeihnen allerlei Firlefanz vorgemacht, damit sie dann geneigt sein könnenfür gewisse Pläne. Und welche Dinge gespielt haben im Osten Europasvon dieser westlichen Seite, davon wird sich die Menschheit dann,wenn einmal an die Stelle der kriegerischen andere Ereignisse getretensein werden, entsprechend überzeugen!

Wenn diese Orte, an denen wir in unseren Zweigen beisammensind, die einzigen Orte sind, an denen man eben heute sprechen kann,so muß es wenigstens hier besprochen werden.

Ich wollte heute anknüpfen an jenes Große, Erhabene des Zusam-menhanges des Menschen mit ganzen Hierarchien, das vor unsere Seeletreten kann, wenn wir bedenken, daß das, was wir im Gedanken-, imGefühlsleben in uns tragen, schon innerhalb unserer physischen Hüllezwischen Geburt und Tod, aber dann auch zwischen Tod und neuerGeburt in einem Gewebe darin ist, einer Weltenarbeit, an der ganzeHierarchien arbeiten im Weitenzusammenhange. Nicht darauf kommtes an, daß wir so sehr das einzelne wissen, sondern darauf, daß wir unsmit einer solchen Weltempfindung durchdringen können, und daß Sie,meine lieben Freunde, aus einer solchen Betrachtung weggehen mit demGefühl dafür, was der Mensch innerhalb der Welt eigentlich ist, undwas er wissen sollte über diesen seinen Zusammenhang mit der Welt.Darauf kommt es an. Daß alles dies in Ihren Seelen, in Ihren Herzenzusammenfließt in eine Weltenempfindung, und daß auf diese Weiseetwas in Ihnen aufleuchtet von der Kraft, die sich anfeuern kann daran,was unserer Kultur einverleibt werden soll, soweit jeder es vermagnach dem Platze, auf den er gestellt ist in der Welt. Offizielle Gelehrtehaben heute nicht gearbeitet an diesen Dingen; sie werden es nicht tun.Daher muß den Menschen auch das Auge aufgehen über die Stellung,die den offiziellen Gelehrten gebührt in der Welt: daß sie, insofern sieLaboratoriumsarbeit machen, zu vergleichen sind mit den Setzern, odermanche, die nicht Laboratoriumsarbeit machen, bloß mit Leuten, diedie Setzerei beschreiben. Das sind zumeist heute die Philosophen, diean den Universitäten predigen.

Daß das so ist, das soll doch in einzelnen Seelen gewußt werden.Denn das ist keine Kritik der Zeit, das ist eine Charakteristik. Nur da-

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durch, daß man in den verschiedenen Zeitaltern gewußt hat, wie dieDinge stehen, fanden sich die Kräfte, um die Entwickelung weiterzu-bringen, nur dadurch.

Das wollte ich insbesondere in dieser schweren Zeit - wo man janicht immer sagen kann, man wird sich wieder sehen — auf Ihre Seelenlegen: etwas von Erkenntnis, was sich, wenn wir es in der richtigenWeise empfinden, verwandeln kann in eine heilige innere Pflicht derMenschenseele gegenüber dem Weitenzusammenhange. Tode über Todeumgeben uns heute in dem Ereignisse, das auf der einen Seite im an-gedeuteten Sinne die Frucht der vorhergehenden Entwickelung ist, dasaber ein Merkzeichen sein muß für mancherlei, was zu geschehen hat,damit die Menschheit nicht in der Weise vorrückt, wie es die Beschrei-ber des Setzerkastens wollen, sondern so vorrücke, wie es der Notwen-digkeit der Weltentwickelung entspricht.

Gewiß, ich habe gestern von dem Vater alles Materialismus, vonLamettrie, angeführt, daß er gesagt hat — selbstverständlich, Wahrheitist auch das -, Erasmus hätte bloß notwendig gehabt, daß ein kleinesRädchen in seinem Nervensystem anders geworden wäre, dann wäreer vielleicht kein Erasmus, sondern ein Tor geworden. Ich habe gesagt,daß man das nicht zu widerlegen braucht. Aber wir, die wir vielleichtein wenig vorbereitet sind, müssen ja auch noch ein wenig anderes dar-über wissen.

Alles, was wir heute betrachtet haben, nehmen wir zusammen, las-sen es Gefühl und Empfindung in uns werden, und wir sagen uns dann,wie wahr das ist, daß die zahlreichen Opfertode, die gegenwärtig ge-bracht werden, wirklich sich zum Erdendasein so verhalten, daß dieÄtherleiber, die in frühem Lebensalter den Menschen genommen wer-den, lange, lange verbunden bleiben mit dem Erdendasein, und daßnun Menschen da sein müssen, die sich bewußt werden können dessen,was in diesen unverbrauchten Ätherleibern lebt, die alles dasjenige,was diese Menschen noch hätten in ihrem irdischen Leben verwendenkönnen, wenn sie noch Jahrzehnte gelebt hätten, noch in sich enthiel-ten. Das ist in dem Geistig-Ätherischen der Erde. Aber Menschen wer-den da sein müssen, die sich dessen bewußt sind in der Folgezeit, damitdie Erdenkultur und nicht Ahriman die Früchte dessen bekommt, was

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in diesen Ätherleibern enthalten ist. Durchdringen wir uns also wirk-lich angesichts dessen, daß wir uns vorzubereiten haben in unseren See-len für dasjenige, was geschieht, mit den Worten, die hier öfters aus-gesprochen worden sind:

Aus dem Mut der Kämpfer,Aus dem Blut der Schlachten,Aus dem Leid Verlassener,Aus des Volkes OpfertatenWird erwachsen Geistesfrucht —Lenken Seelen geist-bewußtIhren Sinn ins Geisterreich.

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N E U N T E R VORTRAG

Stuttgart, 11. Mai 1917

Es ist meine Absicht, Ihnen bei dieser meiner Anwesenheit von Dingenzu sprechen, welche die Ereignisse der Gegenwart dem suchenden Men-schensinn ein wenig tiefer verständlich machen können. Nicht inäußerlicher Weise sollen diese Dinge besprochen werden, sondern essoll auf einiges hingedeutet werden, wodurch der Mensch gewisser-maßen in geistiger Erweiterung Verständnis dieser unserer Gegen-wart gewinnen kann. Diese Absicht, welche bei mir seit langem bestandfür diesen Stuttgarter Besuch, wollen wir auch durchführen. Es stehtuns ja auch noch der Vortrag am nächsten Sonntag zur Verfügung.

Mit Rücksicht auf mancherlei, das, ich möchte sagen, wie Wellen-schläge unserer Zeit - ich sage das mit vollem Bedacht - von außenhereinspielt in unsere Bewegung, erscheint es mir aber zunächst notwen-dig, heute in einer Art Einleitung einiges Prinzipielle vorzubringen,das geeignet sein kann, manche Mißverständnisse zu zerstreuen, dienur allzuleicht, in unserer die Tiefe des Gedankens und des Empfindensja hassenden Zeit, über Anthroposophie entstehen können, das auf deranderen Seite geeignet sein kann, in uns selbst ein richtiges Verhältniszu dem, was uns Anthroposophie sein kann, zu gewinnen.

Versuchen wir einmal, uns die Frage so recht vorzulegen: Wassuchen wir, wenn wir den Weg wählen in die anthroposophische Be-wegung hinein? - Wir suchen auf diesem Wege die Möglichkeit zu ge-winnen, ein Verhältnis zur Geisteswelt zu finden, das den Bedürfnissennach dieser geistigen Welt entspricht, die in uns geboren werden ausden Kräften, aus den Lebensverhältnissen der Gegenwart heraus. Kei-ner kommt ja, wenn er nicht oberflächlich ist, zu uns, der auf gangba-rerem Wege als bei uns ein Verhältnis zur geistigen Welt gewinnenkann. Keiner kommt zu uns, der ein Verhältnis zur geistigen Welt ge-winnen kann auf denjenigen Wegen, die seit Jahrhunderten draußenvoll anerkannt sind, und die ihre Gangbarkeit dem Umstände ver-danken, daß die Menschen nachzudenken vergaßen über die Berech-tigung dessen, was sich den allgemeinen Lebensnotwendigkeiten ein-

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gefügt hat. Dagegen wird viel diskutiert über die Berechtigung, wennetwas gewissermaßen zuerst auftreten muß in der Welt. Wir könnennicht oft genug uns dasjenige, was aus dem Geiste unserer Zeit herausAnthroposophie sein soll und sein will, vor Augen halten und es inZusammenhang bringen mit dem in uns, was nach Anthroposophiedrängen kann, was uns zur Anthroposophie bringen will.

Sehen Sie, meine lieben Freunde, Anthroposophie würde nicht dasein, wenn es nur den einen oder anderen Menschen gäbe, der es sym-pathisch findet, für solche Ideen, wie sie in der Anthroposophie leben -nun, gebrauchen wir den offiziösen Ausdruck -, zu agitieren. Anthro-posophie entspringt durchaus der Erkenntnis, daß es in unserer Zeitsuchende Seelen gibt, die nur auf dem Wege der Anthroposophie das-jenige finden können, was sie eben suchen. Nicht weil irgend jemandAnthroposophie haben will, wird Anthroposophie getrieben, sondernweil die Seelen nach Anthroposophie verlangen. Dagegen spricht nicht,daß manche dieses leugnen, denn in der Seele lebt viel Unterbewußtesund Unbewußtes, das, richtig gedeutet, nichts anderes darstellt als ge-rade die Sehnsucht nach Anthroposophie. Die Sehnsucht vor allenDingen - wenn wir eines aus dieser Anthroposophie herausheben -,die Sehnsucht danach, den größten Impuls der Erdenentwickelung,den Christus-Impuls, auf dem Wege zu erkennen, der dem Bedürfnisder Gegenwart angemessen ist, den Weg zum Christus-Impuls auf dieArt zu finden, die das Herz ersehnen muß, wenn es sich wirklich inner-halb der Lebensverhältnisse der Gegenwart verstehen will. Nun sindsolche allgemeinen, abstrakten Sätze, wie ich sie eben jetzt ausgespro-chen habe, für denjenigen gewiß einleuchtend, der jahrelang auf demBoden der Anthroposophie steht. Aber um was es sich handelt, das istdieses: wirklich seine Seele so mit dem Geiste dieser Worte zu durch-dringen, daß diese Worte nicht bloß abstrakt, nicht bloß theoretischin uns bleiben, sondern daß sie zum Inhalt unseres ganzen Lebens, vorallen Dingen zum Inhalt unserer Gesinnung werden.

Ich habe wohl auch hier schon ein Beispiel erzählt, das besonderscharakteristisch ist: Ich hielt in einer süddeutschen Stadt einmal einenVortrag über das Thema «Bibel und Weisheit», worin ich versuchteauseinanderzusetzen, wie auch der positiv christliche Mensch, gerade

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wenn er sich recht versteht, den Weg zur Anthroposophie finden kann,indem ich schilderte, wie Anthroposophie durch ihre Voraussetzungentiefer eindringen kann in die großen, ja niemals auszuschöpfenden Ge-heimnisse des Urbuches der Menschheit, der Bibel. Nach dem Vortragekamen zwei katholische Priester an mich heran, die an dem Vortragteilgenommen hatten. Und aus ihren Worten ging klar hervor, daßsie eigentlich aus ihrer christlichen Lehre, so wie sie sie auffaßten, wiesie sie als Theologen kannten - vielleicht nicht so sehr als auf irgend-welche Dinge hin verpflichtete Priester, sondern als Theologen kann-ten -, nichts Besonderes einwenden konnten. So begaben sie sich dennauf einen Seitenweg und sagten: Ja, sehen Sie, es ist ja nichts Beson-deres zu sagen von unserem Standpunkte aus gegen das, was Sie geradeheute vorgebracht haben, als dieses: Wenn wir reden, dann reden wirso, daß jeder auffassen kann, was wir sagen. Sie reden allerdings auchvom Christentum, aber nur für diejenigen, die einen gewissen Bil-dungsgrad erreicht haben oder sich besonders für diese Art vorbereitethaben. - Ich erwiderte darauf: Ja, sehen Sie, Hochwürden, daraufkommt es nicht an, was Sie oder ich denken über die Frage, was zuallen Menschen gesprochen werden soll, denn das führt das ganzeThema auf den Abweg der persönlichen Meinung. Es ist gar nicht be-sonders wunderbar, daß ein jeder von dem, was er treibt, glaubt, daßes allgemein-menschlich gültig ist. Warum sollte man sich denn darüberwundern; sonst würde er es ja nicht treiben! Aber darauf kommt eseben nicht an, was Sie oder ich denken, daß es richtig ist. Unsere Art,über den Geist zu forschen, fängt damit erst an, daß wir uns erhebenüber diese persönliche Meinung, und die Wirklichkeit, die wahre Wirk-lichkeit ins Auge fassen. In unserem Falle liegt diese Wirklichkeit sehrnahe. Sie liegt einfach in der Antwort auf die Frage: Kommen heutealle Leute, für die Sie zu reden glauben - Sie glauben ja für alle Leutezu reden -, noch zu Ihnen in die Kirche? Die Frage beantwortet eineTatsache - die Frage, ob Sie meinen, daß Sie für alle Leute reden. Daßdas allen Leuten gelten soll, das entspricht nur Ihrer Meinung; dasandere entspricht nur einer Tatsache. Sagen Sie mir, ob alle Leute indie Kirche gehen! - Darauf konnten sie mir nichts anderes erwidern,als daß eine Anzahl von Leuten eben nicht in die Kirche gehen. Das

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widerlegt Sie, sagte ich, denn dann sprechen Sie gerade für die nicht,die nicht in die Kirche gehen. Und unter denen sind zahlreiche Men-schen, zu denen ich zu sprechen habe, und die auch das Recht haben,den Weg zum Christus in der Gegenwart zu finden.

Das heißt, sein Urteil nicht richten nach dem, was man persönlichfür wahr oder falsch hält, sondern sein Urteil den Forderungen undAufgaben der Wirklichkeit unterstellen. Es ist allerdings viel beque-mer zu theoretisieren, was richtig oder falsch ist, als in allen Einzel-heiten konkret die Wirklichkeit zu studieren, immerfort mit aufmerk-samem Ohr hinzulauschen auf dasjenige, was die Wirklichkeit von unsfordert. Anthroposophie will nicht etwas anderes sein, als was Ant-wort gibt auf Fragen, die sie nicht selber stellt, sondern die die Herzen,die Seelen in der Gegenwart stellen, wenn sie sich richtig verstehen.Und ich bin mir bewußt: die Fragen, die in meinen ja allerdings schonsehr zahlreich vorliegenden Schriften gestellt werden, sind nicht vonmir gestellt. Die Antworten sind vielfach von mir gegeben, die Fragenaber sind nicht von mir gestellt. Die Fragen werden gerade von dem-jenigen gestellt, was die Zeitkultur hervorbringt, was gerade zum Bei-spiel die Naturwissenschaft in der Zeitkultur hervorbringt, was jederfragen muß, der Interesse hat an den Forderungen der Zeit, und demvor allen Dingen es ernst ist um die wichtigsten Bedürfnisse der Seelender Gegenwart.

Wenn man sich diese Voraussetzungen einmal einigermaßen vordie Seele ruft, dann zeigt es sich uns als wahr, daß eine Grundintentionin der ganzen Ihnen vorliegenden anthroposophischen Literaturherrscht, eine Grundansicht, eine Grundtendenz und eine Grundge-sinnung. Geht man alle diese Schriften durch, nicht mit der wohlwol-lenden Gesinnung, die wir vielleicht innerhalb unseres Kreises gewon-nen haben, sondern mit dem kritischen Blick, den man gerade aus dergegenwärtigen Zeitkultur heraus gewinnen kann, dann wird man einesals den Kernpunkt dieser ganzen anthroposophischen Literatur finden.Das ist, daß alles darauf ausgeht, der Menschenseele dasjenige zu brin-gen, wonach diese Menschenseele vor allen Dingen in der Gegenwartverlangen muß: Selbständigkeit, Urteilskraft aus dem eigenen Innerenheraus. Ich habe öfter dem Drängen widerstehen müssen, das von die-

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ser oder jener Seite an mich gestellt worden ist, populär zu schreiben.Ich habe diesem Drängen immer widerstanden, aus dem einfachenGrunde, weil es sich nicht darum handeln kann, innerhalb der anthro-posophischen Literatur den Menschen Glaubensartikel zu geben, diesie, wenn sie wollen, in leichtgeschürztem Verständnis entgegenneh-men, sondern weil es sich nur darum handeln kann in dieser Literatur,eigene Urteilsfähigkeit, das eigene Seelensuchen aufzurufen. Dasherrscht, wie sich jeder, der will, überzeugen kann, innerhalb dieserganzen anthroposophischen Literatur.

Nirgends wird darauf ausgegangen, einen blinden Glauben hervor-zurufen. Gewiß, es werden Dinge erzählt, die nicht ohne weiteres nach-geprüft werden können, aber sie werden erzählt als Tatsachen der gei-stigen Welt, die jeder als Mitteilungen entgegennehmen kann und andie er immer weiter und weitergehend seinen kritischen Maßstab schonanlegen kann, wenn er will. Und wir haben ja gesehen, daß in derletzten Zeit verständnisvoll auf die Sache eingehende Freunde es da-hin gebracht haben, bis zu einem hohen Grade selbst an die subtilstenDinge mit der Sonde einer vorurteilslosen Kritik heranzugehen. Vordieser vorurteilslosen Kritik braucht dasjenige, was in der hier gemein-ten anthroposophischen Literatur enthalten ist, niemals zurückzu-schrecken. Diese vorurteilslose Kritik wird es bestehen; es wird sie umso besser bestehen, je vorurteilsloser diese Kritik ist. Niemals wird vonmir jemand etwas anderes hören, wenn es sich um diese Frage handelt,als dieses: Prüfet, prüfet, prüfet, aber bleibt nicht beim Prüfen, sondernsuchet gerade vor allen Dingen dadurch zu prüfen, daß ihr immertiefer und immer tiefer mit den Mitteln des gegenwärtigen Denkens indie Dinge hereinzukommen versucht. - Weil dies angestrebt wird,können die Schriften dieser Literatur die Menschen gerade selbständigmachen.

Nun allerdings erlebt man gar mancherlei, wenn man die Art undWeise überblickt, wie Anthroposophie entgegengenommen wird. DieMenschen begegneten mir ja immer wieder und wiederum, die den einenoder anderen Vortrag sich anhörten, die eine oder andere kleine Schriftlasen, und dann sich nicht mehr sehen ließen. Das ist ihr gutes Recht,selbstverständlich, es soll das niemandem vorgeworfen werden. Und

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wenn sie dann von einem Bekannten gefragt wurden, warum sie nichtmehr erschienen sind - in aller Freundschaft selbstverständlich, nichtwie mit irgendeinem Vorwurf -, dann gaben sie zur Antwort: Ja, wennwir näher auf die Sache eingehen, fürchten wir, überzeugt zu werden. -Es ist dies ganz gewiß ein bedeutsames Wort, es weist aber auch auf be-deutsame Tatsachen hin. Was versucht wird, ist ja gerade: loszukom-men von dem Erbübel unserer Zeit, dem Aufstellen von persönlichenMeinungen, dem Aufstellen von persönlichen Theorien, und die Seelenhinzulenken auf dasjenige, was die Geistigkeit der Welt selber sagt,wenn wir die Möglichkeit finden, uns dieser Geistigkeit der Welt mitganzer Seele hinzugeben und von den Methoden zu sprechen, von denMitteln zu sprechen, durch welche die Seele dahin gelangt, gewisser-maßen die Geistigkeit der Welt selber anzuhören.

Eine in dieser Weise zwar aus den tiefsten Bedürfnissen der Zeithervorgehende Weltanschauung, die jedoch dem, was die Leute derGegenwart glauben, so gründlich widerspricht, nun, solche Weltan-schauung wird nur langsam und allmählich sich in die Seelen der Men-schen hineinfinden. Die Seelen der Menschen hängen an dem Gewohn-ten, die Seelen der Menschen haben es am liebsten, wenn sie ihre eigeneWasserklarheit von der Kanzel hören und sich sagen können von dem,was sie hören: Das habe ich schon lange gedacht. — Solche Wahrheiten,die «schon lange gedacht» worden sind, sind allerdings die in der Ge-genwart auftretenden anthroposophischen Lehren nicht. Aber das istin den Augen vieler Menschen gerade der Hauptfehler, daß sie sichnicht sagen können: Das habe ich schon lange gedacht —, und daß siesich nicht sagen wollen: Wenn ich recht tief in meinem Inneren schürfe,dann wird da nichts ausgesprochen, was eine persönliche Meinung ist,sondern was zusammenhängt gerade mit den Entwickelungsfaktorender Menschheit. - Auf solche Entwickelungsfaktoren der Menschheitwerden wir während meines diesmaligen Aufenthaltes in Stuttgartnoch mannigfaltig zurückkommen. So ist es begreiflich, daß mancher-lei Hindernisse und Hemmnisse entstehen, wenn die Menschen ver-suchen, an die Anthroposophie, an die Geisteswissenschaft heranzu-kommen.

Mein Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»

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wird im Laufe der Zeit viel gelesen, nicht nur innerhalb derjenigen, dieden verschiedenen Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft an-gehören, sondern es wird in der Gegenwart auch draußen viel gelesen.Beim Lesen gerade dieses Buches kann immer wieder und wiederumeine Erfahrung gemacht werden, die außerordentlich charakteristischist. Es liest da oder dort jemand das Buch «Wie erlangt man Erkennt-nisse der höheren Welten?» und schreibt mir einen Brief darüber. Undselbstverständlich, ich bin jedesmal erfreut darüber, wenn mir jemandeinen verständigen Brief schreibt über irgendein Buch oder über ir-gend etwas anderes, insbesondere aber über das Buch «Wie erlangtman Erkenntnisse der höheren Welten?». Aber das gewöhnliche ist,daß der Brief, der geschrieben wird, der klarste Beleg dafür ist, derallerklarste Beleg, daß der Betreffende das Buch nicht verstanden hat,überhaupt die aller wichtigsten Dinge des Buches sich in die materia-listischste Gesinnung der Gegenwart umgesetzt hat. Denn dasjenige,worauf die Menschen zumeist anbeißen, wenn sie an dieses Buch kom-men, das ist das Folgende. Aber schicken wir noch etwas voraus: Eskann eine ganze Summe von Zweifeln demjenigen aufstoßen, der dasBuch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» liest, undes wird schon viele Menschen geben, welche Zeugnis davon ablegenkönnen, daß ich immer bereit bin, über diese Zweifel mit den Menschenmich zu unterhalten, und daher möchte ich durchaus nicht, daß, wasich jetzt sage, so erscheint, als ob es irgend jemand abschrecken sollte,den Brief, von dem ich eben sprach, zu schreiben. Es soll nicht abge-schreckt werden von dem Schreiben dieses Briefes, aber der Brief wirdsehr häufig geschrieben, indem die Menschen an eine besondere Sacheanbeißen, wo ihnen unmittelbar das Ding sich ins Materialistische um-setzt. Es ist vieles gesagt in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisseder höheren Welten?», das bei richtiger Beobachtung den Menschengerade dazu führt, von sich aus, von seiner Seele aus den Weg in diegeistige Welt hinein zu finden. Gerade dieses Buch ist daraufhin an-gelegt, den Menschen so selbständig wie möglich zu machen, ihm garnicht irgend etwas aufzudringen auf irgendeinem subjektiven Weg,sondern ihm nur die Hindernisse hinwegzuräumen, damit er selber dieWahrheit finden kann. Das beste Mittel zunächst, dieses Buch aufzu-

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nehmen, das wäre: seinen Inhalt sich in innerer Tat anzueignen. Aberda haken die Menschen ein bei dem Satz: Derjenige, bei dem die nötigeReife eingetreten ist, der findet schon, wenn er nur richtig sucht, seinengeistigen Lehrer. - Also, da haben wir es! Da schreibe ich einen Briefan denjenigen, der das Buch geschrieben hat, da wird er mein geistigerLehrer; das ist das einfachste! - Da haben wir die Übersetzung insMaterialistische. Daß diese Stelle gerade für einen nach Selbständig-keit suchenden Menschen der heiligste Antrieb sein könnte, weiter zusuchen, um den Weg zu finden, der vielleicht in etwas ganz anderembestehen könnte, als einen Brief an jemand zu schreiben: Du, gib mirAnweisungen -, das ist sehr vielen Lesern des Buches eben unbequem.Sie suchen nicht genügend in dem Buche. Und so gehört denn diesesBuch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», trotzdemes unter den so geschriebenen Büchern heute vielleicht zu den gelesen-sten gehört innerhalb der deutschen Welt und sogar vielfach in fremdeSprachen übersetzt ist, es gehört zu den Büchern, die am meisten miß-verstanden werden. Und es ist doch kinderleicht zu verstehen, wennman es nur vorurteilslos auf sich wirken läßt und nicht es sich ins mate-rialistisch Bequeme übersetzt.

Gewissermaßen suchen die Menschen heute auch hier dasjenige, wassie gewohnt sind auf anderen Gebieten zu suchen. Wie sehr sind dieMenschen heute von der Gewohnheit durchdrungen, sich nicht selberzu helfen, das heißt, nicht dasjenige zu lernen, womit man sich in dereinen oder anderen Lage helfen kann, sondern sich helfen zu lassen undsich nicht zu bekümmern um die Prinzipien, nach denen ihnen geholfenwird. Wozu braucht man sich heute viel zu bekümmern über die Artund Weise, wie man gesundheitlich am besten lebt? Man läßt es sichverschreiben von einem, der dafür da ist, und man braucht dann nichtnachzuprüfen, nach welchen Prinzipien er verschreibt, man übergibtsein Schicksal demjenigen, der als Autorität aufgestellt ist. Warumsollte man denn nicht gerade auf dem geistigen Wege, auf dem mensch-lich wichtigsten Wege zunächst den Drang haben, auch sein Schicksalirgendeinem anderen zu übergeben? Aber wenn nun gerade dasjenigeWerk, wodurch man dazu angeregt wird, am allermeisten sich zur Auf-gabe macht, die Menschenseele selbständig zu machen!

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Man darf sagen: Gerade die naturwissenschaftliche Forschung hatheute einen bestimmten Stand erreicht, und dieser Stand der natur-wissenschaftlichen Forschung wäre zugänglich denjenigen, die heuteberufen sind, die naturwissenschaftlichen Fächer zu vertreten, wennnicht die meisten einfach sich in ihr Fach einspinnen und nicht überdie Grenzen ihres Faches hinausgehen würden. Wenn sich nur, ich willsagen, ein Dutzend der offiziellen Vertreter — und nur diese werden jaheute gehört - aufraffen würden mit innerster Ehrlichkeit, und dannmit dem, was sich ergibt aus diesem naturwissenschaftlichen Stand,dasjenige prüfen würden, was in meiner «GeheimWissenschaft im Um-riß», in meiner «Theosophie» steht, dann würden sie alles von der Seiteher bewahrheitet finden, die man charakterisieren kann, indem mansagt: Seht euch das Leben an, ob das Leben dasjenige nicht bestätigt,was durch Geisteswissenschaft erfahren werden kann, was hier ausder geistigen Welt heraus gesucht wird! - Wer heute Naturwissenschaftwirklich beherrscht, kommt zur Beglaubigung desjenigen, was anthro-posophisch orientierte Geisteswissenschaft gibt. Dies ist durchaus eineWahrheit. Aber wir stehen vor der eigentümlichen Tatsache, daß sichgerade diejenigen, die eine solche Prüfung vornehmen könnten, absolutnicht darum kümmern, bis jetzt nicht sich darum gekümmert haben,daß niemand diese Fragen auch nur aufgeworfen hat - von denjenigensehe ich ab, die aus unseren Kreisen die Anregung dazu empfangen ha-ben -, daß niemand die Aufgabe sich gestellt hat, die geisteswissen-schaftlichen Resultate der Anthroposophie an der, aber voll verstan-denen, naturwissenschaftlichen Forschung der Gegenwart wirklich zuprüfen! Vor dieser Prüfung braucht die geisteswissenschaftliche For-schung wahrhaftig nicht die geringste Angst zu haben, die wird sie be-stehen. Sie soll nur angestellt werden, sie wird bestanden werden. Aberallerdings, in einer Zeit, in der man nicht einmal die Geneigtheit hat,auf die allerprimitivsten Wahrheiten einzugehen, wird diese Prüfungvielleicht noch lange auf sich warten lassen.

Den Drang, nicht nur logisch zu sein, sondern wirklichkeitsgemäßzu sein, das heißt, sein Urteil sich nicht nur nach abstrakter Logik,sondern durch Versenkung in die Wirklichkeit zu bilden, diesen Dranghaben wenige in unserer Gegenwart. Logisch zu sein, das streben ja viele

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an, aber erst ein gewisses Gehen hinter die Logik macht es möglich,auch die Tragweite der Logik selber einzusehen, sonst merkt man garnicht, welche Konfusion man gerade mit solchen sehr zusammenstim-menden Urteilen machen kann. Sehen Sie, mit seinem eigenen Urteilimmer übereinstimmend sein, oder mit dem Urteil eines anderen über-einstimmend sein, ist gewiß logisch, es kann aber zu recht sonderbarenKollisionen führen. Zum gleichen Gedanken kamen Karl V., der Öster-reicher, und der französische König Franz I. Sie waren gewissermaßenvöllig einverstanden mit Bezug auf einen bestimmten Gedanken, densie verwirklichen wollten. Franz sagte: Mein Heber Bruder will ja ganzgenau dasselbe wie ich. Wir beide wollen genau dasselbe. — Sie wolltennämlich beide Mailand erobern! Ja, sehen Sie, da merkt man es - näm-lich wenn man den Nachsatz sagt. Aber daß solche Urteile ungeheuerviel herumschwirren und gerade das Denken der Gegenwart beherr-schen, zum Unheil dieser Gegenwart, darauf auch nur zu kommen, ha-ben wenige in der Gegenwart die Neigung.

Es ist merkwürdig, wie - verzeihen Sie das philiströse Bild - er-leuchtete Geister zuweilen die Urteilsfähigkeit heute beim Schwanzaufzäumen, wie wenn einer ein Pferd aufzäumte am Schwanz, stattvorne am Haupte. Aber solch ein Aufzäumen wird sofort gelten ge-lassen, wenn der Betreffende offiziell autorisiert ist. Wer einen Sinn fürdas Lebendige im Denken, Fühlen und Wollen hat, der konnte seitlangen Jahren wahre Qualen ausstehen bei der ganzen Art und For-mung, wie manches Denken in der Gegenwart ist. Ich weiß mich jetztnoch zu erinnern, wie ich meine erste Vorlesung in Wien über ellip-tische Funktionenlehre hörte - verzeihen Sie das Wort, es kommt aberauf den Geist desjenigen an, was ich ausdrücken will, und nicht darauf,daß der eine oder andere das, was ich jetzt heranziehe, versteht. Ichhörte also bei dem damals schon berühmten Professor Leo KönigsbergerVorlesungen. Er war so berühmt, daß er, als er zum Professor ernanntwar, gleich an die Regierung schreiben konnte, daß er zum Hofrat er-nannt werden wolle, nicht bloß zum Professor. Als ich also die ersteVorlesung bei ihm hörte, kam er auf die Frage: Wie verhält es sich mitden Zahlen? Die Menschen nehmen an positive und negative Zahlen.Positive Zahlen entsprechen dem Geld, das ich habe, negative Zahlen

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dem Geld, das ich nicht habe, das ich schuldig bin. Es gibt aber nochandere Zahlen. Nun bezeichnen die Mathematiker durch eine Linie, inderen Mitte sie eine 0 schreiben, die positiven und negativen Zahlen:plus 1, plus 2; minus 1, minus 2. Und dazu hat dann der berühmte Gaußnoch eine neue Zahlenlinie hinzugefügt, so daß man die Ebene anfüllenkann mit verschiedenen Arten von Zahlen. Ich will über die Berechti-gung dieser Zahlenebene nicht sprechen, aber Leo Königsberger beganndazumal seine Vorlesung über die elliptischen Funktionen damit, daßer sagte: Es könnte nun sein, daß jemand heute sagen würde, mankönne auch ebensogut senkrecht zu dieser Ebene Zahlen annehmen. —Als ich als ganz junger Dachs von sechzehn, siebzehn Jahren die Ge-schichte mit der Zahlenebene kennengelernt habe, da machte ich dazu-mal schon einen Einwand: Ich sagte, dann könne man ja auch denRaum mit Zahlen ausgefüllt denken. - Der Lehrer beruhigte michfreundlich, indem er sagte: Na, warten's bis in die nächsten Jahrhun-derte! — was selbstverständlich auf mich, den jungen Dachs, einen gro-ßen Eindruck machte. Nun hörte ich Leo Königsberger in Wien die-selbe Frage behandeln. Er sagte: Nehmen wir an, es gäbe diese dreiArten von Zahlen, nicht nur die Zahlen, die in der Ebene der beidenLinien liegen, sondern die Zahlen, die in der dritten Dimension liegen.Wir nehmen hypothetisch an, solche Zahlen gäbe es, und ich würdeeine solche Zahl multiplizieren mit einer anderen Zahl. Nun werde ichIhnen zeigen, daß, wenn man sie multipliziert, das Produkt unter Um-ständen null sein kann. Da das aber niemals sein kann, so kann es keinesolche Zahl geben. - Nun, sehen Sie, so etwas anzuhören ist eine Qual.Ich will jetzt nicht davon sprechen, ob die ganze Geschichte richtigist oder nicht, aber wenn man das eine annimmt, das andere nicht an-zunehmen, sondern die Behauptung aufzustellen: weil das Produkt nullsei, könne es keine solche Zahl geben -, so etwas anzuhören, das isteine Qual, weil selbstverständlich das Richtige dies ist, daß wenn manzwei Zahlen hat, die null geben, man annehmen muß, daß dann nullentstehen könne durch Multiplizieren, nicht das Umgekehrte; das istdas Nächstliegende. Aber ob diese Urteile nun in der Mathematik le-ben, ob diese Urteile in politischen Noten leben, zum Beispiel in denNoten des Herrn Wilson, sie führen eben immer auf dieselben Gedan-

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kenformen zurück. Wenn aber diese Urteilsformen leben in denjenigenUrteilen, die da wirksam sein wollen für das Schicksal der Menschheit,dann bedeutet ein Irrtum im Urteil noch etwas ganz anderes als einIrrtum in einer bloß eingeschränkten wissenschaftlichen Spekulation,wie es in vieler Beziehung die Lehre des Leo Königsberger ist.

Man muß schon darauf aufmerksam machen, wie es zur Charak-teristik unserer Gegenwart gehört, daß sich die Menschen mit ihremUrteil nicht der Wirklichkeit anpassen wollen. Sie wollen nicht in derWirklichkeit leben, weil sie es in den einfachsten Dingen nicht wollen.Sie wollen bei den einfachsten Dingen dasjenige voraussetzen, wasihnen lieb ist, nicht was sich aus der Wirklichkeit ergibt. Daß man invieler Beziehung lernen muß, anders zu denken, um aus manchem Un-heil der Gegenwart herauszukommen, daß man lernen muß, nicht bloßüber alles zu denken, sondern anders zu denken, darauf kommt unge-heuer viel an. Wenn die Menschen mit ihren alten Denkgewohnheitenanthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft so recht begreifenkönnten, dann würden sie sich schneller einleben können in die geistes-wissenschaftlichen Wahrheiten. Die aber sollen nicht mit den altenDenkgewohnheiten, sondern sie müssen gerade mit dem neuen Denkenerfaßt werden, und darauf lassen sich die Leute so ungeheuer schwerein.

Nun, das sind so Teile der Gründe, warum es in der Gegenwart soschwierig ist, mit der anthroposophisch orientierten Geisteswissen-schaft durchzukommen, einfach weil sie stoßen muß an die alleraller-nächstliegenden Vorurteile. Aber gerade weil diese Sache so ist, wirdGeisteswissenschaft nicht eigentlich bekämpft, denn das Bekämpfender Geisteswissenschaft steht ja, das muß man gestehen, auf sehrschwachen Füßen. Suchen Sie sich diejenigen wissenschaftlichen Er-örterungen einmal auf, welche versuchen, in ernster Weise und aufdie Sache eingehend, Geisteswissenschaft, wie sie vorliegt, zu behan-deln, suchen Sie sich Abhandlungen oder dergleichen dieses Kalibersauf! Wer sich jemals damit befaßt hat, wird sehen, wie wenig es nachdieser Richtung gibt. Aber es mag ja vielleicht auch gar nicht bequemsein, auf diesem Wege vorwärtszugehen. Denn sehen Sie, mir erzähltevor einigen Jahren einmal ein Student, der eben sich anschickte, an

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einer sehr bekannten Universität als Philosoph seinen Doktor zu ma-chen: er wollte eine Dissertation schreiben, die ihm geraten wordenwar von einem berühmten Professor. Diese Dissertation sollte handelnüber den großen russischen Denker Solowjow. Dazumal war von So-lowjow nicht viel mehr gedruckt als ein paar Sachen, die von NinaHo ff mann herausgegeben worden sind; später kam ja viel mehr heraus.Ich früg den Studenten: Warum gibt Ihnen der Professor gerade denRat, über diesen Solowjow die Dissertation zu machen? - Ja, sagte derStudent, der Professor weiß von diesem Philosophen gar nichts undmöchte etwas erfahren. - Das ist also der beste Weg: Man läßt denSchüler eine Doktorarbeit über Solowjow schreiben, wenn der Schü-ler russisch kann; dann erfährt man etwas über ihn. So entstand denndie Doktorarbeit über Solowjow. Aber ungefähr aus derselben Ge-sinnung heraus entstehen sehr viele Doktorarbeiten. Es ist geradezudies vielfach eine Maxime, wie Themen für Doktorarbeiten gegebenwerden. Damit aber wird eine gewisse wissenschaftliche Gesinnungherangezogen, herangezüchtet, könnte man sagen. Der betreffende Pro-fessor hätte natürlich nur einen Weg haben können, den Solowjowwirklich kennenzulernen, wenn er die Absicht gehabt hätte, nicht nurProfessor der Philosophie zu sein, sondern auch die Philosophie derGegenwart kennenzulernen in einem ihrer hervorragendsten Vertreter:Er hätte versuchen müssen, Solowjow selber zu studieren, so gut esgeht, wenn auch das wenigste von Solowjow übersetzt ist, und er nichtselbst russisch kann. Es ist ein unbequemer Weg, man darf aber schonsagen: Für viele, die zu einem eigenen Urteil über Geisteswissenschaftkommen wollten, ist heute der Weg viel unbequemer, Geisteswissen-schaft kennenzulernen. Denn es ist noch ein Unterschied, ob nun einProfessor eine Dissertation machen läßt über Solowjow, oder ob eretwa eine Dissertation machen ließe über die Geisteswissenschaft. ÜberSolowjow geht es noch halbwegs, ein Urteil zu gewinnen, wenn dieDissertation fertig ist, denn der Schüler ist ja ohnehin gut dressiert,dieses Urteil nur abzugeben in dem Sinne, wie eben Philosophie gelehrtwird. Aber was sollte denn ein heutiger Professor zum Beispiel miteiner Dissertation über Geisteswissenschaft anfangen? Er könnte jagar nichts damit anfangen. Er würde absolut ratlos davorstehen. Und

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noch unbequemer ist natürlich der Weg, nicht auf dem Umweg einerDissertation die Sache kennenzulernen, sondern etwa gar irgendwie er-schöpfend die Sache selbst zu studieren.

Aber alle diese Dinge sind für den ehrlich Suchenden, nach Wahr-heit Strebenden der Gegenwart kein Hindernis; er lechzt vielleichtgerade nach Geisteswissenschaft. Viele von Ihnen wissen das, meinelieben Freunde. Aber sie sind ein Hindernis für die meisten, die heuteim gewohnheitsmäßigen Leben stehen, diese Geisteswissenschaft anzu-erkennen, irgendwie etwas anderes zu tun, als diese Geisteswissenschaftin Grund und Boden zu bohren. Sie geht nicht von ihnen aus, und dasie nicht von ihnen kommt, muß sie in Grund und Boden gebohrt wer-den. In sachlicher Weise kann man das nicht tun; das zeigen heuteschon die Tatsachen. Denn diejenigen, die es versucht haben, an dieGeisteswissenschaft heranzukommen, sind in der Regel nicht Gegnergeworden, sind gewiß keine blinden Anhänger geworden, aber auchkeine Gegner. Es gibt ja solche auch. Aber ein großer Teil unserer Zeit-genossen hat eben einfach das persönliche Interesse, diese Geisteswis-senschaft auszutilgen, ihr zunächst das Leben in der Gegenwart un-möglich zu machen. Wird er es auf dem Wege versuchen, den manselbstverständlich, wenn man auf dem Boden der Geisteswissenschaftsteht, voll anerkennen kann, wird er es versuchen, auf dem Wege desehrlichen literarischen Kampfes das ins Feld zu führen, was man da-gegen zu sagen hat, was ein anderer zu sagen hat, so ist selbstverständ-lich gar nichts dagegen einzuwenden. Allein das will man eben nicht,das ist zu unbequem. Viel bequemer ist es, die ganze Sache auf daspersönliche Gebiet hinüberzuspielen, nicht über dasjenige zu sprechen,was in der Geisteswissenschaft gesagt wird, sondern über allerlei an-deres zu sprechen. Und das, sehen Sie, ist es gerade, was in unserer un-mittelbaren Gegenwart heute versucht wird und in den nächsten Zei-ten immer mehr versucht werden wird, und worauf ich einmal dochIhre Aufmerksamkeit hinlenken möchte. Denn das wird dazu führen,daß zahlreiche Unzufriedene, die immer wiederum aus persönlichenGründen unzufrieden werden innerhalb unserer Gesellschaft, leichtzu Werkzeugen gemacht werden können für diejenigen, die Anthro-posophie aus der Welt schaffen wollen, aber es nicht auf dem ehrlichen

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Wege anstreben - sie würden auch nicht ans Ziel gelangen auf dem ehr-lichen Wege -, die nicht wissenschaftliche Diskussionen anstreben, son-dern den ehrlichen Weg meiden, dafür aber danach streben, der geistes-wissenschaftlichen Bewegung irgendeinen Skandal anzuhängen undalles ins Persönliche zu übersetzen.

Da ja meine Zeit, über Sachliches zu sprechen, abgelaufen ist, so daßniemand sagen kann, daß ich Ihre Zeit in Anspruch nehme für das, wasmit der Gesellschaft und ihren Interessen zu tun hat, statt die sach-lichen Fragen zu behandeln, darf ich das Folgende jetzt hinzufügen:Jene Menschen finden sich immer zahlreicher, welche sich geeignet er-weisen, von den also charakterisierten Personen gebraucht zu werden,und man hat die Verpflichtung, wenn man es mit der anthroposophischorientierten Geisteswissenschaft ehrlich meint, auf diese Dinge genauerhinzuweisen.

Da ist ein Mensch — vor vielen Jahren kam sein Name zum ersten-mal vor unsere Augen -, er stammt aus einer kleinen Stadt, und FrauDr. Steiner empfing eines Tages ein Schreiben, wie sie so oft vorkom-men: Ich fühle mich unglücklich in meiner Lage, ich möchte meineLage verbessern. - Und einer der Briefe, die diesen Ton hatten, stelltedie Frage nach einem Rat, der dem betreffenden Menschen gegebenwerden sollte: ob er besser täte, in irgendein Haus, in ein Geschäft ein-zuheiraten, oder aber auf irgendeine andere Weise seinen weiteren Wegin der Welt zu suchen. Ja, man muß schon die Wahrheit ungeschminktsagen, wenn man den Dingen auf den Grund kommen will, und wennman nicht blind demjenigen, was sich in der nächsten Zeit abspielenwird, gegenüberstehen will. Nun wurde dem Manne zwar begreiflichgemacht, daß wir uns mit der Frage nicht beschäftigen können, ob erirgendwo hineinheiraten solle oder nicht, aber da er nicht nachließ,so wurde ihm auch bereitwillig manches zur Verfügung gestellt, wasgeeignet war, seinen Bedürfnissen nach geistiger Belehrung, die er zuhaben vorgab, entgegenzukommen. Indem er sich solchen geistigenDingen hingab, wie er sie sich vorstellte, kam er sehr bald darauf, daßes doch für einen so großen Geist nichts wäre, in einer kleinen Stadtein Geschäft zu versorgen. Er sehnte sich nach größeren Kreisen. Erhatte sich offenbar einiges erspart und kam nach Berlin. Er fand, daß

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es ja ganz schön ist, Geisteswissenschaft zu treiben, allein erfühlte in sichauch ein besonderes künstlerisches Talent, und er verlangte nun von derGesellschaft, daß sie dieses fördere. Man kommt ja gerne den Leutenzu Hilfe, nicht wahr. Die Proben, die der Betreffende aus seiner Kunstgab, sprachen zwar gegen alles Talent, aber mancher lernt ja auch ohneTalent so viel, daß es knappen Ansprüchen manchmal genügt. Und sokam es denn, daß der Betreffende an verschiedene Mitglieder, die dasoder jenes ihm schaffen konnten, empfohlen wurde, daß man ihn för-derte. Allein immer stellte es sich heraus, daß die Sache namentlichdaran scheiterte, daß der Betreffende zwar eine Kunst ausüben, abernichts lernen wollte, weil er der Ansicht war, mehr zu können als alledie Lehrer, die für ihn sorgen wollten. Und die Folge war, daß, weil erjedem Lehrer davonlief, man am Schlüsse gar nichts mehr tun konnte.Man hatte Nachsicht über Nachsicht, konnte aber nichts Besonderesmehr tun, es gefiel dem Betreffenden nichts. Denn selbstverständlichwar das wiederum in seinen Augen so ein eklatanter Fall, wie die Weltdas werdende Genie verkennt! Daß niemand anderer diese Ansicht inehrlicher Weise teilen konnte, ja, meine lieben Freunde, es war wahr-haftig nicht unsere Schuld. Das ist die Hauptsache, alle anderen Dingesind Nebensache. Und so ging es denn bei diesem Menschen so, wie esbei vielen geht. Sie suchen zuerst eine Förderung innerhalb unsererGesellschaft, und wenn ihnen diese Förderung nach ihrem Sinn nichtzuteil wird, werden sie Gegner. Und dann treten sie mit allerlei Din-gen auf. Von dem, was hinter den Dingen steht, davon reden sie nie,selbstverständlich. Sie treten mit allerlei Dingen auf, die man dannam besten widerlegt, wenn man erst die Gründe darlegt. Selbstver-ständlich war es die purste gekränkte Eitelkeit und Unfähigkeit in die-sem Falle. Und alles übrige, was nun als Brimborium darauf aufge-richtet wurde, war die allertörichteste Erfindung, die allertÖrichtestePhantasterei. Aber heute findet man selbstverständlich die Journale, diediese Dinge aufnehmen. Denn der Betreffende, den ich meine, heißtErich Bamler. Und wenn man den Dingen bei solchen Unternehmungenwahrhaftig auf den Grund geht, dann hat man nicht nötig, sich solcheinen Aufsatz herzunehmen, der zumeist gar nichts besagt, weil alleeinzelnen Dinge ja gar nicht das ausdrücken, was sie sagen, sondern

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sie gehen ja aus ganz anderen Dingen hervor. Und man ist eigentlichtöricht, wenn man das Wesenlose ernsthaftig widerlegen will. Denndarauf kommt es ja gar nicht an, sondern auf dasjenige, was dahinterliegt.

Nehmen wir einen anderen Fall: Ein Mann, dem es auch nicht ge-rade an Eitelkeit fehlt, fand sich vor Jahren, nachdem er erst gegen dieAnthroposophie allerlei einzuwenden hatte, bei dieser Anthroposophieein. Ich war der allerletzte, der gerade diese Persönlichkeit geholt hätte.Er fand sich ein. Es zeigte sich mancherlei, das nicht gerade daraufhinauslief, daß diese Persönlichkeit ganz unpersönliche Zwecke in un-serer Gesellschaft anstrebte. Das kann man ja auch nicht verlangen,daher kann es auch nicht getadelt werden, wenn man manchmal auchpersönlich angestrebten Zwecken schon einigermaßen entgegenkommt.Es wird auch solchen persönlichen Zwecken zuweilen entgegengekom-men, weil man gerade auf diesem Umweg manche Menschen doch zumRichtigen führen kann. Und so kam es denn, daß der Betreffende zu-erst mit uns recht zufrieden war. Er schrieb nämlich eine Schrift. Ichließ mich sogar herbei, ein Nachwort dazu zu schreiben, und die Schriftwurde auch aufgenommen in unseren Verlag. Er war gut mit uns; wirwaren Leute, mit denen sich reden ließ. Dann ließ der Betreffende eineandere Schrift drucken, und nachdem diese Schrift mancherlei Schick-sale gehabt hatte, die uns jetzt nichts angehen, bot er diese wieder demPhilosophisch-Anthroposophischen Verlag an. Es war aber unmöglich,diese Schrift im Philosophisch-Anthroposophischen Verlag aufzuneh-men. Auf den ersten Seiten dieser Schrift steht, ich hätte gewisse Sachenüber das Christus-Problem nur angedeutet, und der betreffende Herrmöchte das Nähere ausführen. Ich sage das wahrhaftig nicht aus ge-kränkter Eitelkeit, obwohl in diesem Falle mir dies vorgeworfen wird;aber der Satz, in dem sie mir vorgeworfen wird, ist eine dreiste Un-wahrheit, denn die Sache, die da erwähnt wird, hat nicht stattgefunden.Ohne Rücksicht darauf, daß ich vielleicht Grund hatte, nicht weiter-zugehen, werden dann Dinge weiter ausgeführt in einer Weise, die ei-nen erinnern kann an eine andere Geschichte, die sich zugetragen hat,und von der diese Geschichte wenigstens eine Miniaturausgabe ist. Aufdiese andere Geschichte muß ich auch wiederum zurückkommen und

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werde es nachher kurz tun. In dieser Schrift des betreffenden Herrnwurden allerlei Dinge, die nur in Vorträgen von mir gesagt waren, ein-fach mitgeteilt. Frau Dr. Steiner nahm mit Recht daran Anstoß undwies diese Schrift für den Verlag zurück. Und der Herr entwickeltesich, weil ihm diese Schrift zurückgewiesen wurde, zu einem Gegner.Nun kann man freilich nicht sagen, wenn man für ein Journal einenAufsatz schreibt: Die Anthroposophische Gesellschaft ist von Grundaus schlecht, weil mir von dem Philosophisch-AnthroposophischenVerlag meine Schrift zurückgewiesen worden ist. Das geht nicht! Aberdas wäre die Wahrheit gewesen! Also, man erfindet - trotzdem derBetreffende unzählige Male über die Sache unterrichtet worden ist -das Märchen über die Widersprüche. Der Betreffende weiß sehr gut,wie es sich mit diesen Widersprüchen verhält, aber er macht darüberZeitungsartikel! Was in diesen Zeitungsartikeln steht, hat keinerlei Be-deutung, denn Gegner ist der Betreffende nicht geworden wegen die-ser Sache. Die Sache hätte er ja längst wissen können, als er eingetretenist. Gegner ist er geworden aus dem angegebenen Grunde. Manche be-zweifeln ja, daß man so ohne weiteres die Hypothese aufstellen darf:Was nachher ist, das ist auch kausal durch das Vorhergehende bedingt;aber auffällig bleibt es immerhin, daß die Gegnerschaft des Herrn MaxSeiling unmittelbar auf die Zurückweisung seiner Schrift durch unse-ren Verlag folgte. Selbstverständlich ist es, daß man eine solche Sacheleicht ableugnen kann, daß man allerlei einwenden kann, aber es kommteben nicht darauf an, was der eine oder andere einwendet, sonderndarauf, welches die Tatsachen sind.

Es erinnert das ja tatsächlich an einen etwas genialeren Fall; dies istnur eine Miniaturausgabe davon. Der genialere Fall ist der, daß einHerr, der früher in Amerika war, aber ein guter Europäer ist, vor eini-gen Jahren durch ein altbewährtes Mitglied gerufen, hier in Deutschlandsich aufhielt und sich alle möglichen Vorträge angehört hat, überallauch mit großer Emsigkeit die Vorträge zu bekommen suchte, die seitJahren gehalten worden waren, indem er sie dem oder jenem abver-langte. Nachdem er alles getreulich eingepackt hatte, was er abge-schrieben hatte, ging er wieder nach Amerika. Er sagte dort, daß erhier gewesen sei, daß er sich mit meiner Lehre bekanntgemacht habe,

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daß er aber nicht zufrieden sein könne mit meiner Lehre, sondern vieltiefer gehen müsse, daher würde man bei ihm manches finden, was inmeinen Büchern noch nicht zu finden ist. Denn als er alles ausgeschürfthabe, was bei mir zu finden ist, da wäre er berufen worden zu einemMeister, der da irgendwo in den Transsilvanischen Alpen haust; derhabe ihm dann vieles mitgeteilt, das er jetzt seinem Buche einverleibe.Nun war aber alles das, was er seinem Buche einverleibte, dasjenige, waser hier in den Vorträgen abgelauscht und was er abgeschrieben hatte!Und dann wurde das Buch genannt: «Rosenkreuzerische Weltanschau-ung». Es erschien in Amerika und machte dort großes Aufsehen: dasBuch also, das kombiniert war aus dem, was er hier von mir gehörthatte, und dem, was der Meister dann in den Transsilvanischen Alpenihm gesagt haben soll. Nachzuprüfen brauchten die Leute nicht, wasvon mir war, konnten es auch nicht, denn es war ja zum Teil in un-seren interneren Vorträgen gesagt worden. Aber damit nicht genug,daß das nun als ein englisch-amerikanisch geschriebenes Buch erschien,sondern es fand sich eine deutsche Buchhandlung, die das Buch über-setzte und als «Weltanschauung der Rosenkreuzer» herausgab. DerHerausgeber war Dr. Vollrath.

Das sind nur so einige Proben der Praxis, wie man es macht, meinelieben Freunde! Auf diese Dinge darf schon hingeschaut werden. Esmuß darauf hingeschaut werden, denn das sind die Mittel, mit denenman auf der einen Seite benutzt, was auf unserem Boden wächst, undwie man es auf der anderen Seite bekämpft. Es darf schon gesagt wer-den: Vielleicht wurde niemals mit schlimmeren Mitteln gegen irgendetwas zu kämpfen gesucht, wie jetzt angefangen wird gegen uns zukämpfen, gerade gegen die anthroposophisch orientierte Geisteswissen-schaft! Daher werden Sie es begreiflich finden, wenn, gewissermaßeneiner eisernen Notwendigkeit folgend, zu dem einzigen Mittel gegriffenwird, das die Sache zwar nicht abwenden, aber vielleicht einige Besse-rung bringen kann, wenn auch alles sich zusammentun wird, um denPersönlichkeiten, die mit der Sache verknüpft sind, die denkbar größ-ten Schwierigkeiten zu machen. Allein das eine muß doch bedacht wer-den: Geredet ist über diese Sache zuviel worden, aber immer eigentlichfür taube Ohren, Daher bleibt nichts anderes übrig, als - um der Sache,

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der wir ja alle ergeben sein müssen, in entsprechender Weise zu dienen -sich einer gewissen eisernen Notwendigkeit zu fügen. Diese eiserneNotwendigkeit ergibt sich einfach. Nehmen Sie an, Geisteswissen-schaft würde als Literatur auftreten, würde da sein als Literatur. Eswäre dann ganz unmöglich - in der Theorie ist es möglich, aber gegen-über den konkreten Tatsachen wäre es ganz unmöglich -, daß sich alldiese Dinge an die Geisteswissenschaft anschlössen, die sich angeschlos-sen haben, und die sich in wahrhaft schlimmster, unwürdigster Weiseanschließen werden. Dasjenige, was wir unterscheiden müssen von dergeisteswissenschaftlichen Bewegung, die eine reine Erkenntnis-, eineWeltanschauungsbewegung der Gegenwart sein will, ist die Anthro-posophische Gesellschaft. In der Idee ist diese Anthroposophische Ge-sellschaft sehr gut, aber in der Praxis entwickelt sie sich - nicht wie mirscheint, sondern wie die Tatsachen lehren - vielfach so, daß jeden TagDinge an uns herantreten, welche zeigen, es ist dies keine Übertrei-bung, wie innerhalb dieser Anthroposophischen Gesellschaft sich miteiner gewissen Leichtigkeit Cliquenwesen, speziell persönliche Inter-essen pro und kontra, in der ausgiebigsten Weise entwickeln. Es istschwierig, die persönlichen Interessen von den rein sachlichen zu tren-nen auf dem Boden einer Gesellschaft. Aber denken Sie, daß geradedurch den gesellschaftlichen Betrieb Tür und Tor geöffnet wird den-jenigen Leuten, die nicht durch ehrliche Diskussion der Geisteswissen-schaft entgegentreten wollen, sondern die auf dem Umwege der per-sönlichen Anschwärzung, durch persönliche Verleumdungen Geistes-wissenschaft zu Fall bringen wollen. Denn das darf man schon sagen:sie wollen Geisteswissenschaft zu Fall bringen.

Vor Jahren habe ich mich entschlossen, den Wünschen der verschie-denen Mitglieder nach persönlichen Besprechungen entgegenzukom-men, den jüngsten und ältesten Mitgliedern gegenüber in der weitge-hendsten Weise. Nur in den letzten Jahren, als die Sachen schon so her-ankamen, mußte von der alten Gepflogenheit manchmal sporadischabgegangen werden; aber eben nur sporadisch, in Ausnahmen. Trotz-dem öfter betont worden ist, daß in dem, was in der Literatur vorliegt,und in dem, was hier in den Vorträgen gesagt wird, reichlich vorhan-den ist, was der einzelne gerade zu seiner selbständigen Entwickelung

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braucht, so daß persönliche Rücksprachen sich nur beziehen konntenauf ein Aussprechen eben von Mensch zu Mensch, wird es immer wie-der vorkommen, daß an den persönlichen Verkehr der Mitglieder mitmir das tollste Geflunker - verzeihen Sie den Ausdruck - innerhalbder Gesellschaft sich angliedert, und von den Außenstehenden danndie Wege gesucht werden zu allerlei Verunglimpfungen und Verleum-dungen. Mit dem Geflunker meine ich, daß nur allzuoft innerhalb desKreises der Gesellschaft die Menschen recht geneigt sind, wenn sie soein gut klingendes Wörtchen haben, dieses gutklingende Wörtchen zuihrer eigenen tiefen Befriedigung zu brauchen. Wie wohl tut es zumBeispiel doch manchem, wenn er sagen kann: Ich bin ein esoterischerSchüler geworden. - Und wie wohl erst tut es manchem, wenn er sagenkann: Ja, weißt du, das ist etwas ganz Geheimnisvolles, das darf ichdir nicht sagen; darüber darf ich dir ja nichts sagen. - Sich in Szene zusetzen, sich ein gewisses Ansehen zu geben, das steckt hinter manchemAusdruck, der gebraucht wird, und der dann von den Draußenstehen-den oft in recht böswilliger Weise mißbraucht wird. Alle diese Dinge,die jetzt gerade in böswilliger Absicht gebraucht werden, hatten nie-mals sich abspielen können, wenn nicht in ein falsches Licht gerücktwürde dasjenige, was zwar berechtigten Wünschen und vielleicht ei-nem ebenso berechtigten Entgegenkommen dieser Wünsche entspricht,das aber nun angesichts dessen, was die Außenwelt daraus macht, nichtweiter aufrechterhalten werden kann, so schwer es mir auch wird,meine lieben Freunde. Selbstverständlich, in der Gesellschaft kannjeder freundschaftliche Verkehr bestehen, aber die eiserne Notwen-digkeit zwingt mich dazu, Privataudienzen einzustellen. Mir tut dasinsbesondere deshalb leid, weil mancher sagen wird: Warum sollendenn die Unschuldigen mit den Schuldigen leiden? - Aber wenn manin einer Gesellschaft ist, so ist das selbstverständlich ein Karma der Ge-sellschaft, und es läßt sich die Sache gar nicht anders machen. Allesdasjenige, was sich abgespielt hat in Privatgesprächen, die gesucht wor-den sind, das ist etwas, was angesichts jener böswilligen Verleumdun-gen einfach aufhören muß.

Glauben Sie nicht, daß mir das weniger leid tut als Ihnen, aber ichweiß, daß, wie alles, was ich über solche Dinge gesprochen habe, in den

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Wind gesprochen war, auch mein heutiges Sprechen in den Wind ge-sprochen sein würde, wenn nicht Maßnahmen getroffen würden, dieeinfach zwingen, sich den Ernst der Sache zum Bewußtsein zu bringen.

Es ist leicht, Verleumdungen anzuknüpfen an dasjenige, was imPrivatgespräch mit den einzelnen Mitgliedern gesagt wird, wenn dieseVerleumdungen den Grad erreichen, daß zum Beispiel da oder dortgesagt wird, dieses oder jenes Mitglied sei hypnotisiert worden. Nun,meine lieben Freunde, gegenüber diesen Dingen werde ich gleich eineandere Maßregel ergreifen müssen, aus der Sie ersehen werden — undich rede wirklich aus einfachem Pflichtgefühl gegenüber unserer Be-wegung heraus -, daß es mir heute und jetzt in dieser Sache der aller-bitterste Ernst ist um der Heiligkeit der Geisteswissenschaft wegen.Wenn einer Bewegung wie dieser einfach als Prinzip zugrunde liegt,in niemandes Freiheitssphäre einzugreifen, und wenn dies streng be-folgt wird, wenn alles streng abgelehnt wird, was in eines MenschenFreiheitssphäre eingreift, und man dann gerade mit diesen Dingenkrebsen geht, dann ist es notwendig, daß einmal das eintrete, daß alles,was auf unserem Boden wachsen soll, im vollsten Lichte der Öffent-lichkeit wächst. Wenn die Dinge in voller Öffentlichkeit wachsen wer-den, dann wird den Verleumdern der Boden entzogen werden. Abereine andere Methode gibt es in der Zukunft nicht mehr. Daher werdeich, soweit es an mir ist, danach trachten, daß die anthroposophischorientierte Geisteswissenschaft sich in der Zukunft immer mehr undmehr im vollen Lichte der Öffentlichkeit abspielt. Sie hat die Öffent-lichkeit nicht zu scheuen. Und am heutigen Tage erkläre ich Ihnen aus-drücklich: In bezug auf diejenigen Privatgespräche, die seit Jahren mitden Mitgliedern stattgefunden haben, entbinde ich jeden des Verspre-chens, nicht über den Inhalt des Gespräches zu sprechen. Jeder kann,soviel ihm selber lieb ist, dasjenige mitteilen, was jemals vorgekommenist in einem Privatgespräch mit einem Mitglied. Nichts wird sich fin-den, was das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hätte. Dann wirdman auch nicht mehr krebsen gehen können mit Dingen, die etwa aufdem folgenden Boden stehen. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, wie mandiese Dinge brauchen kann vor der krassesten Unwissenheit und demWillen zur krassesten Unwissenheit,

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Nicht nur jener Erich Bamler, sondern auch noch andere, die aberebenso «ehrlich» wie er kämpfen, haben vorgebracht und glauben imGrunde, daß ihnen unter allerlei esoterisch genannten Grundsätzenauch dieser gegeben worden wäre: «Sieh alles, was dich umgibt, an imLichte der Notwendigkeit, wie wenn es notwendig wäre, als ein gege-benes notwendiges Geschick.» Es tut eine Zeitlang wohl, solange mansich innerhalb der Gesellschaft gefördert glaubt, wenn man eine solcheRegel bekommen hat, zu sagen: Ich bin ein esoterischer Schüler, denn ichmeditiere immerfort: «Sieh alles, was dich umgibt, an im Lichte derNotwendigkeit.» - Aber warum ist denn gerade jenen Leuten diese Re-gel gegeben, diese Regel angeraten worden? Aus dem einfachen Grunde,weil sie es nach ihrer Seelen Verfassung brauchten! Es war ein durchausnicht in ihre Freiheit eingreifender Ratschlag, sondern ein Ratschlag,dessen Tragweite und dessen Esoterik Sie beurteilen wollen, wenn ichSie auf folgendes hinweise: Schopenhauer sagt in seiner Preisschriftüber die Freiheit des Willens gegen den Schluß seines Aufsatzes, unserVerhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend: «Alleswas geschieht, vom größten bis zum kleinsten, geschieht notwendig»;und er spricht von der beruhigenden Wirkung der Erkenntnis desUnvermeidlichen und Notwendigen. Es ist also den Leuten nichtsanderes angeraten worden als dasjenige, was selbst Schopenhauer fürein erprobtes Mittel hält, über gewisse Seelendepressionen hinauszu-kommen.

Nun, bei der Spekulation auf die krasseste Unwissenheit und aufden Willen zur krassesten Unwissenheit lassen sich natürlich den Leu-ten allerlei schöne Märchen erzählen: daß man grün und blau, beson-ders an den Beinen, geworden ist, indem man solche Grundsätze be-folgt hat. Und bei jenen, die bei allem etwas Esoterisches aus den Fin-gern saugen wollen, lassen sich diese Dinge natürlich als Verleumdun-gen anbringen. Aber eben gerade wenn wir wissen, daß die Dinge, diein der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft getriebenwerden, von notwendigen Bedürfnissen tatsächlich gefordert werden,dann werden wir es begreiflich finden können, daß eine solche Maß-regel, wie die vorher erwähnte, einmal wirklich ergriffen werden muß;einfach aus dem Grunde, damit man sieht, daß die Dinge ernst gemeint

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sind, um welche es sich handelt. Beklagen Sie sich nicht bei mir, der esebenso hart empfindet wie Sie; beklagen Sie sich bei denjenigen, auf dieich Sie deutlich hingewiesen habe, und die es unmöglich machen, daßeine solche Maßregel vermieden werde. Mir ist es heute sehr schwer,Privatgespräche, die ja zahlreiche Mitglieder wünschen, aus diesenprinzipiellen Gründen ablehnen zu müssen. Ich weiß selbstverständlichauch, daß dieses auch wiederum als Verleumdung gegen mich ausge-nützt werden wird, aber ich kann mich nicht nach persönlichen Grün-den richten, sondern nach dem muß ich mich richten, was für unsereBewegung notwendig ist. Das heißt, ich muß mich fügen dem Prinzip,ernst zu machen mit dem, was immer wieder und wiederum auf dereinen Seite Anlaß gibt zum Geflunker, auf der anderen Seite der An-laß ist zu den Verunglimpfungen und Verleumdungen von seiten der-jenigen, die nicht ehrlich Geisteswissenschaft widerlegen wollen, son-dern die sie auf andere Weise aus der Welt schaffen wollen.

Prüfen Sie vieles von dem, was vorgegangen ist, Sie werden finden:die Anlässe stammen immer aus der Gesellschaft heraus. Angegriffenwird sehr selten die Gesellschaft, der Angriffspunkt bin gewöhnlichich oder meine allernächste Umgebung. Prüfen Sie die Dinge. Aber in-dem man mich angreift, ist es schon so, daß man gerade in mir die Gei-steswissenschaft treffen will. Denn es ist dem einen oder anderen höchstgleichgültig, ob da oder dort ein törichter esoterischer Ratschlag ge-geben wird; die werden in der Welt genug gegeben. Was den Leutenaber nicht gleichgültig ist, das ist, daß Geisteswissenschaft in der an-throposophischen Orientierung ein Kulturfaktor unserer Zeit ist, daßsie mitsprechen will. Das ist den Leuten nicht gleichgültig. Winkeleso-tenker, die sind den Leuten gleichgültig; derjenige aber nicht, der nachseinem Schicksal nicht ein Winkelesoteriker bleiben kann. Den Winkel-esoteriker würde man nicht treffen wollen, wenn er in Berlin vor fünf-zig Leuten sitzt und denen Ratschläge geben würde. Man hat erst mitden Angriffen angefangen, als die Bücher über eine gewisse Zahl hin-ausgingen. Es wäre eine Sünde wider den Geist der anthroposophischorientierten Geisteswissenschaft, sie zugrunde gehen zu lassen, wennes sich vielleicht verhindern laßt dadurch, daß einmal, vielleicht nurfür eine Zeitlang, einiges entbehrt werden muß, weil sich die Mora-

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lität der Menschen der Gegenwart so entpuppt, wie sie sich jetzt ent-puppt hat.

Man hat oft erlebt, daß Dinge falsch dargestellt werden; aber wiees den Dingen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaftgegenüber gemacht wird, wie Dinge erfunden werden, die gar nicht dasind und etwas ganz anderes, als stattgefunden hat, erzählt wird, dasgehört doch zu den allergrößten Seltenheiten, selbst in der Geschichteder Menschheit. Und eine Neigung muß man haben, nicht bloß dieLawine zu sehen, wenn sie die Dörfer unten verschüttet, sondern dieNeigung muß man haben, den Schneeball zu sehen, der von oben fällt,denn der wird zur Lawine. Gewiß, ich habe lange zugesehen und im-mer wieder und wiederum ermahnt, aber man hat die Ermahnungennicht recht gehört oder jedenfalls sich nicht viel daraus gemacht. DieMenschen außerhalb unserer Gesellschaft werfen mir vor, einer mei-ner größten Fehler sei - heute zählen sie schon größere auf, das warvor einem Jahr -, daß ich blinde Anhänger mache, daß ich blind auto-ritätsgläubige Anhänger habe. Ich darf wohl sagen: Wenn es auf irgendetwas ankommt, wo man mir etwas Vertrauen von seiten der Mitglie-der der Gesellschaft entgegenbringen und auf das Vertrauen hin daseine oder andere tun sollte, da finde ich in der Regel nicht sehr vielAnhängerschaft. Da geschieht in der Regel das Gegenteil von dem, wasmeine Meinung ist. So war es die ganzen Jahre hindurch. Es ist eigent-lich immer das Gegenteil von dem geschehen, was meine Meinung war.Nur merkt man es nicht, weil ja in vielen Kreisen eine besondere Me-thode befolgt worden ist: Man hat weniger nach meiner Meinung ge-fragt, sondern nach der eigenen Meinung und hat dann den Leuten er-zählt: Das hat er gesagt. - Ich war sehr weit entfernt davon, das ge-sagt zu haben, aber der Betreffende hätte gerne gehabt, daß ich es ge-sagt hätte; so hat er denn erzählt, ich hätte es gesagt. Es ist schon so:Wenn in der Außenwelt erzählt wird, daß ich blinde Anhänger habe,so zeigt die Praxis der Gesellschaft, daß das vollständige Gegenteil derFall ist, in bezug auf die Dinge wenigstens, wo man mir mit einigemVertrauen entgegenkommen müßte, weil ich mich manchmal jahrelangum ein Urteil bemüht habe, und der andere nicht.

Das alles wird wirklich nicht ausgesprochen, um, wie man in öster-

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reich sagt, zu raunzen oder zu greinen, oder gewissermaßen zu zetern,sondern das wird gesagt, weil die Symptome sich täglich jetzt zeigen,die darauf hinausgehen, daß auf dem angedeuteten Wege unserer gei-stigen Bewegung der Garaus gemacht werden soll, und weil die Neigungentstehen muß, den Schneeball oben zu sehen, und nicht erst die La-wine, wenn sie unten angekommen ist. Gerade ein paar Stunden bevorich hierher gekommen bin, wurde mir unter anderem ein Brief vorge-lesen, in dem wieder einmal erzählt wird, daß zwei aneinander gekom-men sind; ich will keine Namen nennen, so kann man einen solchenFall einfach als Fall anführen. Dem einen wird zur Last gelegt, daß ermit dem anderen Hypnose treibe, daß er sogar sich hinter den anderengesetzt und meditiert habe in dessen Genick hinein, damit dem Betref-fenden allerlei Schädliches in der Seele entstehe. Und die Sache wirddann weiter verfolgt. Es ist nur ein Fall, der letzte, nein, nicht derletzte, es kam hinterher noch ein anderer, aber es ist der, den ich vordrei Stunden gelesen habe. Das ist heute eine harmlose Sache, in einpaar Jahren braucht sie es nicht mehr zu sein: daß der eine sich hinterden anderen gesetzt haben soll, um ihm allerlei Schädliches ins Genickhinein zu meditieren und dadurch Einfluß auszuüben. Daß der Be-treffende so harmlos in der Sache ist, wie nur möglich, daran bestehtkein Zweifel. Aber heute, meine lieben Freunde, spielt das zwischenzwei Mitgliedern; in ein paar Jahren ist es zu einem «Fall Steiner» ge-macht, der wiederum für solche «Studien» einen ganz netten Fall ab-gibt. Vielleicht geht es auch schneller und bedarf nicht erst der paarJahre.

Also, begreifen Sie es, daß wirklich eine für mich außerordentlichharte Notwendigkeit vorliegt, wenn ich für die nächsten Zeiten zu demgreifen muß, daß ich auf der einen Seite eben sage: Es muß versuchtwerden, daß sich Geisteswissenschaft in der vollen Öffentlichkeit ab-spielt. Niemand wird dadurch irgendwie zu kurz kommen, niemandwird irgendwie das nicht finden, was er suchen muß, weil sich alles involler Öffentlichkeit abspielt. Aber all das Geschwätz: Das ist etwasgeheimnisvoll Mystisches, das darf man nicht sagen und so weiter -,das soll keine Veranlassung mehr geben können zu allerlei Verleum-dungen. Unser Verkehr mag noch so freundschaftlich sein, er darf kein

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anderer sein für die nächste Zeit als ein solcher, der von Freund zuFreund stattfindet, denn Privatgespräche müssen prinzipiell für dienächste Zeit aufhören. Vielleicht finden sich dadurch unsere liebenMitglieder genötigt, wenn es auch unbequem ist, den Dingen dochetwas mehr nachzugehen und sich zu kümmern um die Dinge, um dieman sich bisher ja recht wenig gekümmert hat.

Wie gesagt, verzeihen Sie es, daß ich diese Sachen heute hier ange-bracht habe; ich habe sie ja angebracht in der Zeit, als der eigentlicheVortrag schon vorüber war, aber ich habe sie anbringen müssen, weilsie mit den Lebensfragen der Anthroposophischen Gesellschaft, der an-throposophischen Bewegung zusammenhängen. Dies, und nicht eineUnfreundlichkeit ist es, wenn ich sehr, sehr bedauern muß, in dernächsten Zeit die immer bereitwillig abgehaltenen Privatgespräche mitden lieben Mitgliedern nicht abhalten zu können. Dann wird dasjenigenicht entstehen können, wirklich im Konkreten nicht entstehen können,was so gerne von den böswilligen Feinden gesucht wird. — Denn, meinelieben Freunde, einen Einwand könnten Sie selbstverständlich machen,und es macht ihn jeder von sich aus in begreiflicher Weise, indem ernämlich findet: Mit mir könnte er aber sprechen. - Das hat jeder vondenjenigen gesagt, die jetzt in der unflätigsten Weise ihre Angriffe er-folgen lassen; und manche von denjenigen, die jetzt die Werkzeuge ihrerProtektoren sind, wurden von sehr, sehr angesehenen Mitgliedern derGesellschaft an die Gesellschaft herangebracht. In gewisser Beziehungmuß es schon anders werden, aber es kann nur durch die Mitglieder an-ders werden.

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Z E H N T E R VORTRAG

Stuttgart, 13. Mai 1917

Es ist gewiß nur zu verständlich, wenn in der Seele des gegenwärtigenMenschen, mehr als es vielleicht sonst der Fall ist, das Bedürfnis auf-taucht, die Zeit in ihrer Eigentümlichkeit etwas zu verstehen. Wir le-ben ja in diesen Jahren innerhalb von Ereignissen, welche nicht nur dieungeheuerlichsten Opfer von vielen Menschen verlangen, sondern wel-che wahrhaftig dem menschlichen Denken schwere Rätsel aufgeben,Rätsel der mannigfaltigsten Art. Warum mußten denn diese Dinge sichin unserem Zeitalter gerade in einer so furchtbaren Katastrophe offen-baren, wie sie nun durch die Entwickelung der Menschheit zieht? Dasist gewiß eine Frage, die den heutigen Seelen nahegeht. Die äußerenEreignisse sehen wir wohl; wir müssen nur versuchen, immer mehr undmehr uns bereit zu machen, nicht bloß die allernächsten Ursachen fürso schwerwiegende Ereignisse zu suchen, sondern zu den tieferen Kräf-ten der Zeit unsere Augen hinlenken, und darauf, wie diese tieferenKräfte in der Gesamtentwickelung der Menschheit begründet sind.Dann können wir für unser Gefühl, für unsere Empfindung vielleichtauch manches verstehen, was uns sonst unverständlich bleibt, was wirgewissermaßen nur anstarren können.

Fragen wir uns einmal: Welches ist denn im tiefsten Sinn ein schwer-wiegendes Charakteristikon unserer Zeit? - Nun, wir können ja ausAuseinandersetzungen, die hier des öfteren gepflogen worden sind, ge-wiß uns nicht verhehlen, daß auf allen Gebieten in der neueren Zeitsich heraufgedrängt hat das, was wir den Materialismus, den Mate-rialismus im weitesten Sinne des Wortes nennen. Materialismus! -fassen wir es wirklich gerade heute nicht so auf, daß wir nur unser Ge-fühl, unsere Sympathie und unsere Antipathie dem zuwenden, was wirmit dem Ausdruck Materialismus belegen; sondern versuchen wir zuempfinden, daß schon einmal ein Zeitalter kommen mußte, in dem derMaterialismus gewissermaßen tonangebend ist in der Menschheitsent-wickelung. Die Menschheit brauchte schon den Materialismus, dasDurchgehen durch den Materialismus. Sie darf sich nur innerhalb des

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Materialismus nicht verlieren; sie darf sich nicht gewissermaßen diesemMaterialismus so stark hingeben, daß sie den Zusammenhang mit dergeistigen Welt nicht nur aus den Augen, sondern auch aus der Seeleverliert. Daß dies nicht geschehe, dafür zu sorgen, daß der Zusammen-hang mit der geistigen Welt erhalten bleibe, ist ja gerade die Aufgabeder Geisteswissenschaft. Nun möchte ich heute versuchen, einiges vorIhre Seele zu führen von Entwickelungsgesetzen des Menschenge-schlechts, welches, wenn wir es in der richtigen Weise verstehen,beitragen kann zum Begreifen desjenigen, was rings um uns herumwirkt.

Daß wir im Zeitalter des Materialismus leben, verdankt man ja kei-neswegs etwa bloß der Schlechtigkeit und Schändlichkeit der mensch^liehen Seele im großen, sondern eben gewissen Entwickelungsgesetzen.Allerdings, das Angesicht des Materialismus in unserem Zeitalter istkein schönes, namentlich dann erscheint es nicht schön, wenn man die-ses materialistische Antlitz mit dem Kulturantlitz älterer Zeitperiodenvergleichen kann. Es darf deshalb doch nicht jemand in die reaktio-näre Gesinnung verfallen, daß er etwa glauben wollte, die alten Kultur-entwickelungen müßten wiederum heraufgetragen werden. Ganz be -deutsam ist ja für uns diese Eigenschaft des Materialismus unserer Zeit,daß auch hervorragende, geistig bedeutendste Persönlichkeiten ihreSeelenimpulse gar nicht bis zu dem Verständnis der geistigen Weltbringen können. Sie können einfach nicht. Man muß sich das einmalganz vorurteilslos gestehen. Nehmen wir einen charakteristischen Geistaus dem 19. Jahrhundert, von dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts viel im internationalen Geistesleben Europas gesprochenwurde, Ernest Renan, der sich bemühte, den Christus-Impuls so zuverstehen, wie es eben seinem Zeitalter möglich war. «Das Leben Jesu»von Ernest Renan hat ja in den weitesten Kreisen großes Aufsehen ge-macht und großen Einfluß bekommen. Aber Ernest Renan ist auf dereinen Seite schon ein Geist, dem es ernst war um geistige Angelegen-heiten, der aber auf der anderen Seite gar nicht sich Vorstellungendarüber bilden konnte, daß der Mensch einen Weg finden könne zueiner Anschauung über geistige Welten. Nehmen wir einen Ausspruch,den Ernest Renan in ziemlicher Jugend getan hat; da sagte er: Der

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Mensch der Gegenwart ist sich bewußt, daß er niemals etwas über diehöchsten Ursachen des Universums und über seine eigene Bestimmungwissen wird. -Das ist ein führender Geist der Gegenwart, der so spricht,der es geradezu als eine wichtige Erkenntnis hinstellt, wenn der Menschsich bewußt wird, daß er niemals etwas über die Ursachen des Univer-sums und über seine Bestimmung wissen kann. Und er war kein ober-flächlicher Mann, dieser Ernest Renan. Er lebte ein Leben der Erkennt-nis. Und charakteristisch ist es, daß der alte Renan, der Greis gewor-dene Renan, einen anderen charakteristischen Ausspruch getan hat.Dieser Mann, der sich sein ganzes Leben hindurch in den Glauben hin-eingelebt hat, der Mensch könne nicht den Weg in die geistige Welthinein finden, ja er müsse sich das gerade als eine höhere Erkenntniseinprägen, er sagte am Schlüsse seines Lebens: Ich wollte, ich wüßtegewiß, daß es eine Hölle gäbe, denn besser die Hypothese der Hölle alsdie des Nichts. - Da sehen Sie etwas aus dem gepreßten Herzen derGegenwart heraus gesprochen. Das Nichts starrt den Menschen an,wenn er die Sehnsucht hat, das Verlangen hat, eine geistige Welt zugewinnen, eine geistige Welt, in die der Mensch etwa eintreten könnte,wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Und ein Mensch, dersich errungen zu haben glaubt, daß der Mensch darüber erhaben ist,daß er auf ein solches Wissen verzichtet, der sagt am Ende seines Le-bens: Besser wäre es zu wissen, daß es eine Holle gibt, als das Nichtsanzuschauen. - Man muß solche Dinge nachfühlen, wenn man Cha-rakteristisches für unsere Zeit empfinden will.

Nicht wahr, wir müssen ja doch uns klar sein: führende Geisterbraucht die Menschheit in jedem Zeitalter. Waren es in alten Zeiten dieMysterienpriester, so sind es für unser Zeitalter gewisse Philosophen,die immer mehr und mehr einen naturwissenschaftlichen Charakterannehmen. Ein Philosoph, den ich noch persönlich sehr gut gekannthabe, hat in seinem letzten Werk, «Die Tragikomödie der Weisheit»,folgende Aussprüche getan. Er sagt: Wir haben nicht mehr Philosophieals ein Tier und unterscheiden uns nur von dem Tier durch die rasen-den Versuche, zu einem Wissen kommen zu wollen, und durch dieschließliche Ergebung in das Nichtwissen. — Der Betreffende, der alsoaus seinem Schürfen im Geistesleben zur Überzeugung gekommen ist,

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der Mensch könne nicht mehr Philosophie haben als ein Tier, ist einHerr Professor der Philosophie und ein Universitätsprofessor gewor-den. Daher ist es nicht zu verwundern, daß wiederum tiefer angelegteNaturen doch irgendeinen Weg suchen wollen in die geistige Welt hin-ein, und daß sie sich gewissermaßen, weil sie sich nicht dazu aufraffenkönnen aus den Impulsen, die ihnen die Zeit aus dem Materialismusheraus bietet, sich dem Nächstliegenden in die Arme werfen. Das sehenwir aus zahlreichen solchen Beispielen in unserer Gegenwart, wie etwaMaurice Barres eines ist, der Franzose, der ja jetzt auch während derKriegszeit unter den rasend gewordenen Deutschenhassern eine gewisseBerühmtheit erlangt hat. Vor dem Kriege war er charakteristisch alsder Führer jener Jungfranzosen, welche, so viel es möglich ist, einenWeg zum Geistigen zu suchen, das eben versuchten. Maurice Barressuchte lange, und nachdem er lange gesucht hatte, da warf er sich demlandläufigen Katholizismus in die Arme, der katholischen Kirche, wiedas ja viele Jungfranzosen getan haben. Es ist das schließlich nur einbesonderes Beispiel für einen weitgehenden Zug, wie er in unserer Zeitlebt und in seinem Katholischwerden zum Ausdruck gekommen ist.

Aber versuchen wir nun einmal, in solche Seelen wie die des Mau-rice Barres hineinzuschauen, wie sich der nun zu dem Suchen nach demgeistigen Leben stellt. Da muß ich sagen, ist schon ein charakteristischerAusspruch dieses Maurice Barres der folgende. Also einem Geistsucherder Gegenwart ist das folgende Wort entschlüpft: «Es ist vergeblicheMühe, das Jenseits zu suchen. Es existiert vielleicht nicht einmal!»Und dann sagt er weiter: «Und wie wir es auch anpacken, wir könnennichts davon erfahren. Überlassen wir jedweden Okkultismus den Er-leuchteten und den Gauklern. Welche Form der Mystizismus auch an-nehmen mag, er widerspricht der Vernunft. Aber geben wir uns den-noch der Kirche hin, erstens, weil sie untrennbar verbunden ist mit derTradition Frankreichs, und dann, weil sie mit der Autorität der Jahr-hunderte und großer praktischer Erfahrung das Wollen jener Ethikformuliert, die man die Völker und die Kirche lehren muß, und end-lich, weil sie, weit davon entfernt, uns dem Mystizismus auszuliefern,uns direkt gegen ihn verteidigt, die Stimme der geheimnisvollenHaine» - mit den geheimnisvollen Hainen meint er alles das, was etwa

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aus den Mysterien heraus gekommen ist — «zum Schweigen bringt, dieEvangelien auslegt und den großmütigen Anarchismus des Heilandsden Bedürfnissen der modernen Gesellschaft opfert.»

Warum soll man sich der katholischen Kirche ergeben? Weil sie esverstanden hat, meint er, die großmütige Weltanschauung des Hei-lands dem lauwarmen Bedürfnis der modernen Menschheit zu opfern,das heißt: das Christentum recht gut denen anzupassen - nun ja, dieeben mit dem Christentum dasjenige wollen, was heute etwa ein Durch-schnittschrist mit seinem Christentum erlebt. Würde man nicht ver-stehen, daß zu einer solchen Anschauung zu kommen eine gewisse Not-wendigkeit vorliegt, so würde man doch eine solche Anschauung imäußersten Sinne frivol nennen müssen, zynisch und frivol. Aber daßgerade tiefere Geister zu einer solchen Anschauung kommen, das sollteman empfinden, und das ist schon notwendig zu empfinden. Nur kön-nen wir uns eine Frage vorlegen: Was ist denn die tiefere Ursache? Wasist die tiefere Ursache, daß es den Menschen heute so schwer wird, denWeg in die geistige Welt hinein zu finden? — Da müssen wir schon ein-mal wiederum unseren Seelenblick hinlenken zu der Entwickelung derMenschheit, wenigstens in derjenigen Zeit, die verflossen ist nach dergroßen atlantischen Katastrophe und in deren fünftem Zeitraum wirleben.

Wir haben ja bis jetzt diese Entwickelung der Menschheit eingeteiltin den ersten Zeitraum, den wir den uralt indischen genannt haben,den zweiten, den wir den urpersischen genannt haben, den dritten, denwir genannt haben den ägyptisch-chaldäisch-babylonischen, den vier-ten, den wir den griechisch-lateinischen nannten, und endlich habenwir unseren fünften Zeitraum; darin leben wir. In diesem fünften Zeit-raum sind eben diejenigen Dinge heraufgezogen, über die wir wieder-um von einem gewissen Gesichtspunkte aus Andeutungen gemacht ha-ben. Ich habe zu verschiedenen Zeiten versucht, Ihnen die Entwicke-lung der Menschheit zu charakterisieren, um gerade die Gegenwart indiese Entwickelung der Menschheit hineinzustellen. Ich will es heutenoch von einem anderen Gesichtspunkte aus tun. Dieser andere Ge-sichtspunkt wird wiederum, wenn man ihn so das erstemal ins Augefaßt, recht paradox erscheinen können, wirklich paradox, aber fassen

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wir es doch zunächst wenigstens einmal vorurteilslos auf. Versuchenwir uns auszurüsten mit derjenigen Art, die Dinge anzusehen, die wirja schon haben können, nachdem wir so viele Jahre Anthroposophieentwickelt haben.

Aus dem, was wir bis jetzt schon in unsere Seelen aufgenommenhaben, können wir wissen, daß nicht nur der einzelne Mensch zwischenGeburt und Tod in der physischen Welt eine Entwickelung durchmacht,sondern daß auch die Menschheit selber eine Entwickelung durch-macht. Wir fassen heute ins Auge jenes Stück Entwickelung, das in dereben charakterisierten Weise auf die atlantische Katastrophe folgt, indessen fünftem Zeitraum wir stehen. Das Paradoxe wird sich einstellenwollen, wenn wir uns fragen: Können wir bei der Menschheit, bei ei-nem Stück Menschheitsentwickelung in einer genaueren Weise sprechenvon einer Entwickelung in der Zeit, so wie wir beim einzelnen Men-schen von einer solchen Zeitentwickelung sprechen? — Wir sagen: EinMensch wird zunächst so sich entwickeln, daß er die ersten siebenJahre durchlebt vom ersten bis siebenten Jahre. Dann durchlebt erden Zeitraum vom siebenten bis vierzehnten Jahre - approximativ ge-nommen, Sie wissen, was damit gemeint ist -, dann vom vierzehntenbis einundzwanzigsten Jahr und so weiter. Der Mensch entwickeltsich gewissermaßen etappenweise, indem er von der Geburt bis zumTode immer ein Jahr zusetzt, wenn ein Jahr vergangen ist.

Wie können wir nun denken, wenn wir über das angedeutete StückMenschheitsentwickelung einmal Betrachtungen anstellen wollen? Eswird nützlich sein, wenn wir uns auch fragen: Wie alt ist denn eigent-lich die Menschheit, wenn wir ihr Alter mit unserem einzelnen mensch-lichen Alter vergleichen wollen? In welchem Lebensalter steht denneigentlich die heutige Menschheit? Es wird nicht uninteressant sein, daseinmal geisteswissenschaftlich ins Auge zu fassen. Und gerade diesesgeisteswissenschaftliche Ins-Auge-Fassen, das wird uns auf manches brin-gen. - Vor Jahren habe ich schon dieselbe Sache charakterisiert. Esist in der Geisteswissenschaft so, daß man manches wissen kann underst nach Jahren es ordentlich formulieren kann oder wieder neu for-mulieren kann. Eine Neuformulierung möchte ich Ihnen heute vondem angedeuteten Rätsel geben.

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Fassen wir zunächst schematisch ins Auge, wie die Entwickelungwar:

Erster Zeitraum, die urindische Entwickelung;zweiter Zeitraum, die urpersische Entwickelung;dritter Zeitraum, die ägyptisch-chaldäisch-babylonischeEntwickelung;vierter Zeitraum, die griechisch-lateinische Entwickelung;der fünfte Zeitraum ist der unsrige; dann kommt der sechste.

Wenn wir nun das Alter der Menschheit vergleichen mit den einzelnenAltern des Menschen, wie alt ist dann die Menschheit im ersten Zeit-raum nach der atlantischen Katastrophe eigentlich gewesen? Wie altwar sie da? Sehen Sie, wenn wir wüßten, wie alt die ganze Menschheitwar, dann könnten wir vergleichen, wie wir uns selbst ansehen müssen,wie wir uns hineinstellen in die Menschheitsentwickelung mit unserenLebensaltern. Es war gar nicht so leicht, geisteswissenschaftlich dieseFrage zu untersuchen. Man mußte zunächst auf die rein geisteswis-senschaftliche Tatsache sehen, mußte einen Sinn verbinden mit dieserrein geisteswissenschaftlichen Tatsache des ersten Zeitraumes. Undwenn man eine Ansicht gewonnen hatte über die besondere geistigeKonfiguration der Menschheit, wie sie damals war, dann mußte manfragen: Mit welchem individuellen, persönlichen Lebensalter wärediese Konfiguration der damaligen Zeit zu vergleichen? Und da kriegtman heraus, daß die Menschheit als Menschheit - nicht der einzelneMensch, von dem sprechen wir später -, daß die Menschheit in diesemersten nachatlantischen Zeitraum ein Alter habe, das sich vergleichenläßt mit dem heutigen menschlichen Alter zwischen dem achtundvier-zigsten und sechsundfünfzigsten Jahr. Also denken Sie, wenn man dieGeisteskonfiguration desjenigen nimmt, was damals Kulturleben ist,so kommt man darauf: die Menschheit hatte dazumal ein Lebensalter,das man vergleichen kann mit dem heutigen Mannesalter, selbstver-ständlich auch Frauenalter, von dem achtundvierzigsten bis zum sechs-undfünfzigsten Jahr. Es war nicht sehr leicht, diese Sache herauszube-kommen; aber hat man sie dann einmal, so ist sie eben ein tatsächlichesErgebnis der Geisteswissenschaft.

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Nun ist die Frage: Wie steht es mit dem zweiten, dem urpersischenZeitraum? Da mußte man wiederum dieselbe Betrachtung anstellen.Da stellt sich denn heraus: wenn man die Geistesbeschaffenheit des-jenigen, was dazumal Kultur war, ins Auge faßt, so läßt sich das nurvergleichen mit dem Lebensalter von heute zwischen dem zweiund-vierzigsten und dem achtundvierzigsten Jahr. Und geht man jetztweiter zum ägyptisch-chaldäisch-babylonischen Zeitalter, das ja etwaim Jahre 747 endet, dann entspricht das dem menschlichen Lebensaltervom fünfunddreißigsten bis zum zweiundvierzigsten Lebensjahr.Kommt man nun zum griechisch-lateinischen Zeitraum, so entsprichtdas dem menschlichen Lebensalter vom achtundzwanzigsten bis zumfünfunddreißigsten Lebensjahr. Und kommt man zu unserem fünftennachatlantischen Zeitalter, so entspricht das dem einzelnen mensch-lichen Lebensalter zwischen dem einundzwanzigsten und achtund-zwanzigsten Jahr. Und im sechsten Zeitraum wird das so sein — daskann man gewissermaßen voraussehen -, daß das sechste Zeitalter ent-spricht dem Lebensalter zwischen dem vierzehnten und einundzwan-zigsten Jahr; und im letzten Zeitraum, vor einer neuen großen Ka-tastrophe, dem Lebensalter vom siebenten bis vierzehnten Jahr.

Ich darf Ihnen wohl gestehen, meine lieben Freunde, daß mir dasErgebnis, das da herausgekommen ist, als es formuliert war, wirklichzu dem Überraschendsten gehörte, zu dem ich eigentlich gekommenbin, zu dem Überraschendsten. Denn, nicht wahr, es liegt ja eine merk-würdige Tatsache zugrunde: während der Mensch aufwärtsgeht in denZahlen, geht die Menschheitsentwickelung zurück. Die Menschheitwird merkwürdigerweise immer jünger! So ist es: die Menschheit wirdimmer jünger.

Nun, natürlich muß man sich fragen: Was bedeutet das ganze ineinem weiteren Umfang? Mit dieser Sache sind ja sehr viele Entwicke-lungsrätsel verbunden. Ich habe mich zunächst gefragt: Was bedeutetes denn für den ersten Kulturzeitraum, daß die Menschheit zwischendem achtundvierzigsten und sechsundfünfzigsten Jahre alt war? Daergibt sich das Folgende: Selbstverständlich, die Menschen, die damalsgeboren worden sind und gelebt haben, die wurden zunächst ein, zwei,drei Jahre alt. Das ist ja klar. Dann wurden sie aber auch achtund-

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vierzig Jahre alt. Für jeden kam der Zeitpunkt, wo er zwischen demachtundvierzigsten und sechsundfünfzigsten Jahr der einzelnen indi-viduellen Entwickelung lebte. Und da konnten sich diese Menschensagen: Jetzt rücken wir persönlich in ein Lebensalter ein, wo wir diepersönlichen Alterseigenschaften haben, die ringsherum um uns imGruppengeiste der ganzen Menschheit enthalten sind. Wir wachsenhinein in das, was in unserer Umgebung ist. Früher, vor dem achtund-vierzigsten Lebensjahr, hatten wir gewissermaßen eine Entwickelungabgeschlossen, die uns angehörte, die für uns war; aber mit dem acht-undvierzigsten Jahr wachsen wir hinein in das, was in unserer Umge-bung ist. Wurde man dann älter als sechsundfünfzig Jahre, dann ent-wickelte man sich weiter, man lebte eben weiter und wuchs gewisser-maßen zurück, hinein in das, was vor der atlantischen Katastrophe dawar. Man machte dann etwas durch, was hinausging über das, wasringsherum in der Gruppenseele der Menschheit sich offenbarte. Manfand also mit dem achtundvierzigsten Jahr den Anschluß an die Grup-penseelenhaftigkeit der Menschheit.

Im nächsten, im zweiten Kulturzeitraum, da fand man diesen An-schluß schon früher. Da wurde man zweiundvierzig Jahre alt undwuchs hinein in das, was in der Umgebung war, wuchs hinein in das,was aurisch in der ganzen Menschheit war.

Und dann wuchs man da hinein mit dem fünfunddreißigsten Jahr,so daß man zwischen dem fünfunddreißigsten und zweiundvierzigstenLebensjahr sich sagen konnte: Es stimmt jetzt das, was in mir ist, mitdem was um mich ist, überein. - Nach dem zweiundvierzigsten Lebens-jahr, da konnte einem das, was um einen war, nichts mehr geben, damußte man sozusagen aus sich heraus weiterleben, denn das Alter derMenschheit war um so viel jünger geworden. In der Zeit vom zweiund-vierzigsten Jahr an war man nicht mehr in der Umgebung; da wuchsman darüber hinaus, da war man auf sich angewiesen.

So war der alte Grieche, der alte Römer auf sich angewiesen, wenner ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahren erreicht hatte. Zwischendem achtundzwanzigsten und dem fünfunddreißigsten Lebensjahr lebteer mit der Umgebung, dann hatte die Menschheit nichts mehr hinzu-zugeben von ihrem Alter, denn das war abgelebt; die Menschheit

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konnte nicht mehr achtundvierzig Jahre alt werden, wenn sie beimfünfunddreißigsten angelangt war bei ihrem Rückwärtsgang.

Und wir im fünften Zeitraum: denken Sie einmal, wir leben unshinein in den Gruppengeist der Menschheit, in das, was unsere Umge-bung ist, zwischen dem einundzwanzigsten und achtundzwanzigstenJahr. Von da ab gibt die Umgebung nichts mehr her. Was des weite-ren kommt, müssen wir durch unsere eigene Entwickelung erlangen,müssen wir aus unserem Inneren heraus schöpfen, denn von außenfließt uns nichts mehr zu. Die Menschheit hat die Jahre bis zum acht-undzwanzigsten Jahr zurückgelegt, und wenn wir achtundzwanzigJahre alt geworden sind, dann, ja dann müssen wir einen Fond, dannmüssen wir etwas in uns haben, was wir weitertragen können; sonstwerden wir nie älter als achtundzwanzig Jahre. Und jetzt sogar istschon so viel vom fünften Zeitraum vergangen, daß die Menschheitgerade zurückgekommen ist zum siebenundzwanzigsten Jahr. So daß,wenn nichts dafür getan wird, daß sie ihr Inneres energisch entwickelnund durch sich vorwärtskommen, die Menschen nur siebenundzwanzigJahre alt werden. Das heißt viel, meine lieben Freunde! Das heißt:wenn alles gelassen wird, wie es ist, so erreicht die heutige Menschheitnicht eine intellektuelle oder eine sonstige seelische Entwickelung, alsnur eine solche bis zum siebenundzwanzigsten Jahr. Und wird in ihreSeelen nicht etwas gegossen, daß sie sich weiter entwickeln, dannbleiben sie den ganzen Rest ihres Lebens siebenundzwanzig Jahre alt.

Sie bleiben den ganzen Rest ihres Lebens siebenundzwanzig Jahrealt: das ist ein großes Geheimnis der gegenwärtigen Menschheitsent-wickelung. Im sechsten nachatlantischen Zeitraum werden die Men-schen überhaupt nicht älter als einundzwanzig Jahre. Wird dann nichtsgetan, daß ihr Inneres sich erweitert, kräftig wird an Intellekt, anInitiative, an Wille, dann würde eine allgemeine Dementia praecoxausbrechen. Die Menschen müßten bei einer Lebensentwickelung blei-ben, die mit dem einundzwanzigsten Jahre schließt. Das Spätere wärelediglich eine wesenlose Draufgabe.

Fassen wir das einmal im Zusammenhang mit dem Individuellendes Menschen. Denken Sie doch nur einmal, daß man ja nach seinenindividuellen, nach seinen persönlichen Anlagen immer reifer und rei-

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fer wird. Das Kind ist eigentlich immer Materialist; der Jüngling wirddann Idealist, aber seine Ideale sind abstrakt, sie gehen ins Wesenlose.Erst in späteren Lebensjahren paßt man sich an, sich solche Ideale zumachen, welche in die Wirklichkeit untertauchen, mit der Wirklich-keit leben, die richtig wirklichkeitsgemäß sind. Nehmen Sie an, es istnun ein Mensch heute ganz ein Kind seiner Zeit. Was wird er dennfür eine Eigenschaft zeigen können, wenn ihm nicht in seiner Jugenddie Möglichkeit geboten worden wäre, daß er etwas Spirituelles auf-genommen hat? Das allein bringt ja die Seele vorwärts. Wenn er demüberlassen bleibt, was heutiger Zeitgeist ist, dann ist eines solchen Men-schen Schicksal: nicht weiterzukommen als bis zu einer Entwickelungvon achtundzwanzig Jahren. Was später ist, bleibt stehen beim acht-undzwanzigsten Jahr. Man kann ja, wenn man angeregt wird, schonhinauskommen über das achtundzwanzigste Jahr, aber das andere istdie Regel; was ich dargestellt habe, das ist das, was aus dem Gesetz derEntwickelung folgt. Ein Mensch, der nun nicht über das achtundzwan-zigste Lebensjahr hinauskommt, der achtundzwanzig Jahre alt bleibt,trotzdem er fünfzig, sechsundfünfzig, sechzig Jahre alt wird, ein sol-cher Mensch wird unter Umständen große abstrakte Ideale entwickelnkönnen, aber er wird nur sozusagen die Lehrjahre des Lebens mit ihrenabstrakten Idealen durchgemacht haben, nicht die Prüfungsjahre, dieja im geistigen Sinne jene zu praktischen Menschen machen, die solcheIdeen bergen, wie sie sich verwirklichen lassen, die nicht nur die Men-schen blenden durch Jugendkraft, sondern die sich verwirklichenlassen.

Da tritt natürlich die Frage nah: Könnte denn ein Beispiel ange-führt werden eines so richtigen Kindes unserer Zeit, das alt gewordenist und doch nicht über das achtundzwanzigste Jahr hinausgekommenist? Selbstverständlich, wenn man ein solches Beispiel draußen heuteanführt, in der Welt, die nichts wissen will von geistigen Gesetzen,welche auch in der Entwickelung der Menschheit wirken, wird manals ein Narr verlacht. Aber hier unter uns, wo wir so vieles geisteswis-senschaftlich entwickelt haben, darf vielleicht zum besseren Verständ-nis unserer Zeit doch auch ganz konkret gesprochen werden. Warumsollte denn der Geisteswissenschafter zu denjenigen, die seine Freunde

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sind und die etwas hören möchten über die Geheimnisse der Zeit, nichtim Konkreten sprechen dürfen?

Es ist mir nach wirklich reiflichen Untersuchungen unserer Zeit alsein ganz charakteristisches Beispiel eine Persönlichkeit aufgefallen, dieganz dazu verurteilt ist, so alt sie werden mag, nicht älter werden zukönnen als achtundzwanzig Jahre, und das ist der Präsident der Ver-einigten Staaten, Woodrow Wilson. Ja, Sie lachen, meine liebenFreunde, für mich ist das eine sehr bedeutsame Erkenntnis gewesen,die mir ungeheuer viele Rätsel unserer Zeit löst. Ich mußte mich im-mer fragen: Warum blenden denn die Ideale dieses Menschen, die erin verschiedenen Noten an die Menschheit gerichtet hat, so sehr, undwarum verwandeln sie sich denn gerade zum Gegenteil von dem, wasan Worten in ihnen steht? Weil es Jugendideale sind, die als solchestehenbleiben, trotzdem der Mensch, der sie ausspricht, älter wird.Weil sie abstrakte Jünglingsideale sind, die nicht eingehen wollen aufdie Wirklichkeit, die sich nicht von Wirklichkeit sättigen wollen, unddie daher nicht anwendbar sind auf das wirkliche praktische Leben,in dem nicht bloß das äußere Materielle, sondern auch das Geistigewirkt, insbesondere wenn es auf die Ordnung der sozialen Strukturder Menschheit ankommt. So viel man heute denken kann, ohne das,was nur im Inneren begründet werden kann, so viel kann er denken,Woodrow Wilson, mehr nicht!

Ein Wilson des sechsten Zeitraumes würde gar nur einundzwanzigJahre alt werden können, und wenn er auch hundert Jahre alt würde.Aber sehen Sie, immerhin liegt die Sache so: Wenn wir den viertenZeitraum ins Auge fassen, begegnen sich sozusagen das individuelle,persönliche Lebensalter des Menschen im Mittelpunkt dieses fünfund-dreißigsten Jahres mit dem herabsteigenden Lebensalter der Mensch-heit bis zum fünfunddreißigsten Jahr. Da trifft es in der Mitte zusam-men. Daher auch das merkwürdig harmonische Leben noch bei denGriechen, daher dieses Zusammenstimmen des einzelnen Lebens desGriechen mit dem Leben der griechischen Menschheit. Aber nun istdie Menschheit zurückgegangen und macht nicht mehr die Jahre vomachtundzwanzigsten Lebensjahr an durch. Und der Mensch muß sieindividuell durchmachen, richtig individuell durchmachen.

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Sehen Sie, das hängt allerdings zusammen mit Dingen, die hinterder sinnlich-physischen Welt stehen. Einiges von diesen Dingen, diehinter der physisch-sinnlichen Welt stehen, können Sie entnehmen ausmeiner Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Mensch-heit». Von einem anderen Gesichtspunkt aus will ich das heute dar-stellen.

Der Mensch gelangte in der ersten nachatlantischen Zeitperiodedurch seine individuelle Entwickelung, wenn er im achtundvierzigstenJahr war, dahin, den Anschluß zu finden an das Lebensalter derMenschheit. Das hing aber damit zusammen, daß dazumal in diesemersten Zeitraum ein inniger Kontakt noch war zwischen gewissen We-senheiten der höheren Hierarchien und zwischen der Menschheit hierauf Erden. Die.Wesenheiten der höheren Hierarchien, die wir ange-hörig denken der Hierarchie der Archai oder Geister der Persönlich-keit, die stiegen dazumal gewissermaßen noch auf Erden herab undvereinigten sich mit der menschlichen Entwickelung; sie inspirierten,intuitierten eigentlich die Menschheit. Dadurch daß die Menschheit soweit sich entwickeln konnte, daß sie erst hineinwuchs in das Lebens-alter der Menschheit in einem so späten individuellen Alter, dadurchwurde bewirkt, daß die Menschheit hier auf Erden mit den Archai ineiner besonderen Verbindung stand. Im zweiten nachatlantischen Zeit-raum war dieselbe Verbindung mit den Archangeloi, im dritten mitden Angeloi. Im vierten nachatlantischen Zeitraum aber, im griechisch-lateinischen, da war der Mensch auf sich angewiesen. Im dritten Zeit-raum war es also noch so, daß die Engel, die Angeloi herabkamen unddie Menschen inspirierten, intuitierten, ihnen Imaginationen verliehen.Dann kam der griechisch-lateinische Zeitraum: da kamen sie nichtmehr in derselben leichten Weise herab, die Geister der höheren Hier-archien, da mußte der Mensch gewissermaßen anfangen hinauf undhinab zu pendeln, in den Geist und wiederum ins Irdische herunter. Mitanderen Worten: da mußte der Mensch sich selbst finden. Jetzt aber,im fünften Zeitraum, sind wir in eine Epoche eingetreten, wo das Um-gekehrte stattfinden muß. Jetzt müssen wir unser Inneres so starkmachen, daß wir allmählich während dieses fünften Zeitraumes wie-derum durch unsere eigene Kraft in die Nähe der Angeloi kommen,

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daß wir ihnen wieder begegnen, aber durch unsere eigene Kraft, unddaß der Angelos in uns den Entwickelungsimpuls hineinsetzt; daß wirdurch uns das finden können, was uns die Menschheit durch die höhe-ren Hierarchien nicht mehr geben kann.

Da sehen Sie, warum wir den Materialismus in unserer Zeit haben.Da sehen Sie, daß es Zeiten gegeben hat, in denen die Menschheit da-durch, daß sie älter war, daß sie noch nicht so jung war wie jetzt,weiter hinaufreichte in die geistigen Welten, wo sie gleichsam von Ur-sprung an den geistigen Welten näher war als jetzt der Mensch, wenner dem Tode entgegengeht, den geistigen Welten nahe ist. Da sehenSie, wo der tiefere Grund des Materialismus liegt, wo aber auch dernotwendige Impuls liegt, nun wirklich etwas zu suchen, was den Men-schen spirituell, im Inneren individuell anregen kann, was ihn überdasjenige hinausführen kann, das man aus der Umgebung aufnehmenkann.

Auch die Erziehung, die gewissermaßen nur von selbst dem Men-schen zufließt, kann unmöglich das geben, was heute dem Menschenmehr bringt als ein Lebensalter von achtundzwanzig Jahren. Dahermüssen die geistigen Verhältnisse spiritualisiert werden. Wenn dieDinge so fortgehen würden, wenn also Geisteswissenschaft in Grundund Boden gebohrt würde, wenn die Dinge so fortgehen würden, wiealles von selber geht, dann würde ein allgemeines Stehenbleiben Platzgreifen beim achtundzwanzigsten Lebensjahr. Wenn man nur in na-turwissenschaftlichen Laboratorien und Kliniken forschen würde unddas finden würde, was von außen gegeben werden kann, wenn nichtsangeregt würde in den Seelen von innen heraus, wenn keine Wissen-schaft vom Geistigen in die Seelen gesenkt würde, sondern nur das sichfortsetzen würde, was gerade die Größe der neueren Zeit, die Größedes Materialismus gebracht hat: dann würde endlich der Fortschrittso sein, daß die Menschen immer jung bleiben. Das wäre aber nur etwas,wenn sie nicht nur in ihrem Inneren jung blieben, sondern auch mitihrem Körper. Aber mit dem Körper werden sie schon alt. Dadurchstimmt dann das, was in ihnen lebt, nicht mehr überein mit der äußer-lichen Körperlichkeit.

Heute ist es noch so, daß in vieler Beziehung gerade aus der Unan-

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gemessenheit desjenigen, was wir mit der Menschheit erleben, gewisseKräfte angeregt werden in unserem Inneren. Wir können durch dieMenschheit nur achtundzwanzig Jahre alt werden, aber wir müssendoch länger leben in der Welt in den verschiedenen Inkarnationen. Daist es so, daß vorläufig, wo die Menschheit erst siebenundzwanzig Jahrealt ist, noch Kräfte sind, die dann in dem Leben zwischen dem Todund einer neuen Geburt weiter entwickelt werden zum Angelos hin.Heute ist das noch so. Wenn aber der sechste Zeitraum beginnen wird,dann wird der Mensch auf der Erde durch das, was um ihn ist, nurnoch einundzwanzig Jahre alt werden können. Bis zum einundzwan-zigsten Jahr, was ist denn da entwickelt? Der physische Leib bis zumsiebenten Jahr, der Bildekräfteleib bis zum vierzehnten Jahr, der Emp-findungsleib bis zum einundzwanzigsten Jahr: das Leibliche nur ist ent-wickelt. Das Seelische, wenn der Mensch es nicht von innen entwickelt,die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Gemütsseele, die Bewußt-seinsseele: sie werden dann gar nicht entwickelt. Das Leibliche wirdentwickelt bis zum einundzwanzigsten Jahr. Dann verlöre der Menschaus den eigenen Kräften heraus zu vieles, um selbst nach dem Tode,zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, nachholen zu können,was er hier etwa versäumt, wenn er keine spirituelle Anregung emp-fangen hat.

Sie sehen daraus, daß der Standpunkt, den die Menschheit erlangt,nicht einem Zufall entspricht, sondern daß er eine tiefe Notwendig-keit ist, daß er einem überraschenden Entwickelungsgesetz der Mensch-heit entspricht. Man kann im einzelnen das heute vielfach sehen. Eshat in der Tat noch keine Zeit gegeben in der Menschheitsentwickelung,in welcher die Menschen so abgeneigt waren, Erfahrungen als etwasanzuerkennen, Erfahrungen, die das Leben gibt. Jeder will heute schonmöglichst früh gescheit sein. Warum? Weil er es im Verborgenen spürt:er muß mit achtundzwanzig Jahren ein Fertiger sein. Nach achtund-zwanzig Jahren noch irgend etwas aufnehmen, das ist für viele Men-schen heute eine absurde Idee, ein absurde Tatsache überhaupt. Dannwickelt man das Leben so ab, aber aufnehmen will man nur bis zumachtundzwanzigsten Jahr, sogar genau gefaßt - es stimmt mit den Tat-sachen - bis zum siebenundzwanzigsten Jahr.

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Man wird aber auch, wenn man ein solches Geheimnis der Mensch-heitsentwickelung ins Auge faßt, das verständlich finden, daß man esnicht wie eine Willkür ansieht, wenn von der Notwendigkeit einer spi-rituellen Entwickelung gesprochen wird, sondern man faßt das so auf,daß diese Notwendigkeit wirklich vorhanden ist, daß gewissermaßenein Mensch unvollkommen bleibt in unserer heutigen Zeit, wenn ernicht einen spirituellen Impuls aufnehmen würde. Man fühlt das über-all und überall, wo man das Leben heute nicht so anschaut, daß manes auf seine Wirklichkeit hin anschaut. Gerade die merkwürdige Tat-sache, daß viele Menschen so unfähig sind, in gewisse Gedankengängeüberhaupt sich nur hineinzufinden, das beruht ja darauf, daß die Leutegar nicht das fünfunddreißigste Jahr erreichen, daß es so wenige gibt,die einem etwas sagen können, was mit der reiferen Erfahrung des spä-teren Lebens zusammenhängt.

Diese Dinge muß man ganz unbefangen und vorurteilslos ins Augefassen und daraus den Impuls empfangen, Spirituelles in sich aufzu-nehmen. Tut man das nicht, so schließt man sich denjenigen an, dieeigentlich die Menschheit verurteilen wollen zu unreifer Jugendlich-keit.

Ja, gewisse Gedanken, gewisse Erkenntnisse, die uns aus der Gei-steswissenschaft kommen, die sind schon so, daß sie uns, wenn wirVollmenschen sind, tief, tief einschneidend erscheinen, aber wir müssenwirklich nur jeden Augenblick geneigt sein, das Einschneidende zuempfinden. Weil sie aus dem Einschneidenden hervorwächst, die Gei-steswissenschaft, brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn dieseGeisteswissenschaft Widerstände findet. Sie findet sie ja nicht bloß ausdem Eigensinn der Menschen, sondern aus der Natur der Menschheits-entwickelung gehen die Widerstände hervor.

Ich habe Ihnen vielleicht manches Paradoxe jetzt gesagt. Paradoxist jedenfalls für die heutigen Menschen schon, daß wenn man einmalzurückgeht in den zweiten, dritten, vierten Kulturzeitraum, es so ist,als ob dazumal die Menschen, die also wirklich den Anschluß gefun-den haben an die Menschheit, nun, trivial gesprochen, dazumal aufdu und du mit den Engeln, den Erzengeln und Archai gewesen wären,Umgang mit ihnen gehabt hatten. Ja, für den, der heute nicht älter

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wird als achtundzwanzig Jahre, ist das natürlich ein verrückter Ge-danke, zu behaupten: die Menschen haben einmal nicht nur unter sichDinge verabredet, sondern sie haben sich mit Angeloi, mit Archangeloiund mit Archai verständigt, wie wir uns heute auf dem physischenPlan einer mit dem anderen verständigen. Daß diese Ansicht herrschtund die andere Ansicht eine Verrücktheit scheint, das ist aber nur, weildie Menschen alte Erkenntnisse vergessen haben. Bei Plato finden Sieeine merkwürdige, sehr wichtige Stelle, also noch während des Zeit-raumes, in dem die Menschheit dem Menschen achtundzwanzig bisfünfunddreißig Jahre darbot. Da sagte Plato: Bevor der Geistesmenschin Sinnlichkeit versank und seine Schwingen verlor, lebte er unter denGöttern in der vernünftigen geistigen Welt, wo alles wahr und reinist. - Und damit meint Plato nicht nur das Leben vor der Geburt, son-dern das Leben in alten Zeiten, wo die Menschen noch aus dem Um-gang mit den Göttern selber ihre Erkenntnisse hatten. - Ich habe dasauch angedeutet in dem einen Mysterienspiel, wo ein alter Eingeweihtervon den alten Lehrern spricht, die aus dem Umgang mit den Göttern,das heißt mit den Geistern der höheren Hierarchien, ihre Erkenntnisschöpfen.

Aber gewisse Dinge sind mit der Menschheitsentwickelung ver-bunden, die eben, weil die Sache sich so verhalt, ganz und gar nichtmehr verstanden werden. Man macht da sonderbare Erfahrungen.

Lassen Sie mich eine erfreulich-unerfreuliche Erfahrung anführen.Ein sonderbares Wort, nicht wahr, aber es ist schon so. Erfreulich des-halb, weil ich den Namen eines Mannes erwähnen muß, der sehr freund-lich meiner Schrift «Gedanken während der Zeit des Krieges» ent-gegengekommen ist, aus den nördlichen Ländern, ein Mensch, der gerne,soweit er kann, sich in die Welt hineinfindet, Kjellen, der Staatsfor-scher, der jetzt in Uppsala ist. Ich will nicht den Mann angreifen,nicht abkritisieren, sondern im Gegenteil, ich wähle dieses Beispiel,weil Kjellen einer unserer Freunde ist. Er hat nun ein interessantes Buchgeschrieben in der letzten Zeit: «Der Staat als Lebensform.» Da willer darstellen, wie man eine gewisse tiefere Auffassung vom Staate ha-ben könnte. Ja, da versucht nun Kjellen wiederum so eine Art Ansichtzu gewinnen, wie der Staat ein Organismus sein sollte. Für denjenigen,

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der nun diese Dinge durchschaut und der aus der geisteswissenschaft-lichen Untersuchung heraus weiß, wie eine Staatswissenschaft, wennes eine solche jetzt gäbe, aufgebaut werden müßte, damit sie fruchtbarwerden könnte im praktischen Staatsleben, für den ist das Lesen desKjellenschen Buches, wenn man auch den Verfasser sehr gerne hat, ge-radezu eine Qual, eine richtige Qual. Warum? Ja, sehen Sie, Kjelle'nbringt es auch nicht weiter, als zu fragen: Wenn man nun den Staat alseinen ganzen Organismus auffaßt, dann lebt der Mensch innerhalb desStaates. Was ist denn dann der Mensch?- Es liegt nahe: eine Zelle! Alsoder Mensch ist eine Zelle des Staatsorganismus für Kjellen. Auf diesemGedanken wird nun in dem Buche «Der Staat als Lebensform» vielvon Kjellen aufgebaut. Der Mensch ist eine Zelle, wie wir die Zellenin uns haben, und der Staat ist der ganze Organismus, der durch seineverschiedenen Zellen sich organisiert.

Sehen Sie, wenn man bloß auf Vergleiche ausgeht - mehr ist es janicht -, dann kann man eigentlich alles mit allem vergleichen. Mankann wirklich eigentlich jeden Gedanken logisch vertreten, denn wennman keine Konsequenzen zieht, kann man einen Organismus auch miteinem Taschenmesser vergleichen. Es kommt aber überall darauf an,daß man den Sinn hat für das Eindringen in die Wirklichkeit. Daaber gelangt man gleich in sehr merkwürdige Sackgassen, wenn mangerade das Kjellensche Buch ins Auge faßt, in merkwürdige Sack-gassen. In einem Organismus sind die Zellen, die sind nebeneinander,eine grenzt an die andere, und dadurch daß sie aneinandergrenzen unddie Wirksamkeit haben, die daher kommt, ist der Organismus ein Or-ganismus. Das läßt sich schon auf das Zusammenwirken der Menschenim sogenannten Staatsorganismus nicht mehr anwenden. Kurz, mankommt überhaupt, wenn man abstrakt logisch bleiben will, mit jedemgeistreichen Gedanken dazu, daß man ein ziemlich dickes Buch schrei-ben kann darüber, und dann sich der Idee hingeben kann, das sei auchpraktisch. Aber hat man Wirklichkeitsgeist, dann muß der Gedankeweiter ausgebaut werden. Er muß wirklich in die Wirklichkeit hinein-versenkt werden, das ist ja erst die Erkenntnis. Ich empfehle Ihnen,lesen Sie das Buch, es ist ein repräsentatives Buch der jetzigen Zeit.Kaufen Sie es und lesen Sie es und empfinden Sie diese Qual, von der

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ich gesprochen habe. Es kommt mit dazu, daß einem der Gedankeherausspringt: Was darf man denn nun dem Organismus vergleichen,wenn man den Gedanken vom Organismus auf das soziale Leben derMenschheit anwenden will? - Nur das Leben der Menschheit auf derganzen Erde. Und die einzelnen Staaten darf man nur mit Zellen ver-gleichen.

Das Leben der Menschheit auf der ganzen Erde darf als ein Orga-nismus bezeichnet werden, und die einzelnen Staaten dürfen als Zellenbezeichnet werden, nicht aber ein Staat als Organismus und der ein-zelne Mensch als Zelle. Damit aber wird das ganze überhaupt nur so,daß man es vergleichen kann, das staatliche Leben, mit einer Pflanze.Niemals mit etwas anderem als mit einem Pflanzenorganismus. Undwill man nun den Begriff vom Organismus festhalten, so müßte manden Organismus nehmen und der Mensch müßte herausstehen. Dennes entwickelt sich der Mensch über alles Staatsleben hinaus, er kannnicht aufgehen wie die Zelle im einzelnen Organismus in diesem Staats-leben, sondern muß heraus. Das heißt, es muß Gebiete geben in dermenschheitlichen Entwickelung, die nicht in den Staat fallen können.Man wird sehen, daß der Mensch hinausreichen muß in ein geistigesGebiet, daß der Mensch nur in seiner unteren Verankerung in dasStaatsleben hineinragen kann, aber nach oben in die geistige Welt. Undda ist es interessant, wie manche Forscher mit der Nase daraufgestoßenwerden, daß die Menschen in den alten Zeiten, wo die Mysterien nochda waren, etwas davon gewußt haben. Und Kjellen weist selbst hinauf ein interessantes Buch, ein Buch, das vor fünfzig Jahren geschrie-ben worden ist von Fustel de Coulanges: «La Cite antique». Und erkommt zu der merkwürdigen, sowohl dem Verfasser Fustel de Cou-langes wie auch Kjellen unverständlichen Sache: Was war denn deralte Staat? Was war denn das? - Da kommt Coulanges dazu, sich zusagen: Ja, die alten Staaten, die gründeten sich alle auf den Kultus.Warum? Es war der Staat ein Gottesdienst, weil man da noch fühlte,daß der Mensch hinaufragen mußte in die geistige Welt. Da konntejemand nur dann tonangebend im Staate sein, wenn er in die Mysterieneingeweiht war und aus den Mysterien heraus über die soziale StrukturWeisungen bekommen hat. Im dritten, im vierten Zeitraum war es

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noch so. Die Leute kommen durch die äußere Forschung darauf, abersie können nichts damit anfangen, trotzdem sie es in der Geschichtesogar lesen.

Es ist ungeheuer tragisch, die letzte Seite des Buches von Kjellen«Der Staat als Lebensform» auf sich wirken zu lassen, wo man sieht,daß er nun irgend etwas konstruieren will, was Staatswissenschaft ist,aber doch ganz, ganz mutlos vor der Tatsache steht: Was fangen wirdenn nun an mit der Zelle? Man könnte ja, wenn man die Idee vonKjellen verwirklichen wollte, eigentlich nur die Menschen köpfen,denn sie können nicht mit ihrem Kopfe solch einem Staate angehören,der so aufgebaut wäre, wie die Wissenschaft Kjelle*ns ihn aufbaut, da siemit ihrem Geistigen hinausragen müssen über das Staatswesen.

Sehen Sie, da kommt man zu ganz merkwürdigen Dingen, wennman das Leben tiefer betrachtet. Und daher ist es, daß alles das, wassich heute Staatswissenschaft noch nennt, überhaupt noch nicht weiß,was es will. Nirgends gibt es noch für heutige Verhältnisse eine wirk-liche Staatswissenschaft. Das ist alles noch Gerede. Denn eine wirk-liche Staatswissenschaft wird erst entstehen können, wenn man wie-derum hinorientiert ist nach der Art und Weise, wie der Mensch mitder geistigen Welt zusammenhängt, wenn man wiederum wissen wird,wieviel man organisieren kann im irdischen Zusammenleben und wie-viel über die Organisation frei hinausgehen muß. Diese Dinge müssenaus gewissen Tiefen geholt werden. Hier spüren Sie, meine liebenFreunde, wie die Dinge tragisch werden. Die Menschheit muß ihreEntwickelungsgesetze in sich tragen, muß etwas verspüren von die-sen Entwickelungsgesetzen.

Im einzelnen - verzeihen Sie, wenn ich jetzt am Schlüsse auf ein-zelnes komme - stoßt man gerade fürchterlich an, wenn man es alseine Notwendigkeit des Lebens empfindet, real zu denken. Real den-ken heißt auch geistig denken, denn wer den Geist nicht mitdenkt,denkt nicht das Reale, sondern er denkt ein wesenloses Abstraktum.Wenn man es als seine Gewohnheit entwickelt hat, real zu denken, dannstößt man heute vielfach an. Verzeihen Sie, wenn ich scheinbar trivialein naheliegendes Beispiel wähle.

Ich kann zum Beispiel sagen, daß mir nichts weniger imponiert, als

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wenn heute jemand kommt innerhalb des deutschen Sprachgebietes undsogenannte schöne Verse schreibt, tadellos schöne Verse, wie sie den mei-sten Menschen noch gefallen. Etwas, was solch eine Entwickelung hintersich hat wie die deutsche Sprache, und solche Entwickelungsmöglich-keiten vor sich hat wie die deutsche Sprache, in dem bilden sich heutesogenannte schöne Verse wie von selbst, gerade in der unreifen Jugendbis zum achtundzwanzigsten Jahr. Löst man künstlerisch Verspro-bleme, dann kommt man nicht zu dem, was heute die Menschen viel-fach für schöne Verse halten, denn die sind eigentlich zu dem gehörig,was man genießt, wenn man sich in frühere Zeiten versetzt. Dahertreffen es heute sehr viele Leute auch ganz gut, schöne Verse zu ma-chen, aber es handelt sich darum, weiterzukommen in der Entwicke-lung. Da muß es oftmals geschehen, daß jemand vielleicht wenigerschöne Verse schreibt, aber versucht, von einem elementaren Stand-punkte aus eine neue Kunstform zu gewinnen. Da kommen natürlichdann viele und finden es schrecklich, wenn jemand den Versuch macht,eine neue Kunstform zu gewinnen, die vielleicht mit Bezug auf das-jenige, was sie werden soll, noch sehr unvollkommen ist. Sehen Sie, ichmöchte jetzt wiederum etwas Persönliches sagen. Ich will gar nichtvon meinem Urteil sprechen über die Verse, in denen Herr von Bernusanthroposophische Gedanken vorgebracht hat im «Reich». Aber Siekönnen alle ganz sicher sein, wenn auch dem oder jenem die Versenoch so wenig gefallen haben: solche Verse, wie sie hätten gefallenkönnen, die hätte Herr von Bernus aus dem Ärmel schütteln können,wenn er sie hätte machen wollen. Die Dinge sind doch nicht so einfach.Und heute, wo so vieles existiert, was böswillig herabzieht und das-jenige verleumdet, was bei uns gewollt wird, trat diese Zeitschrift «DasReich» hervor mit dem besten Willen, und sie hätte sollen eben wegendieses allerbesten Willens gefördert werden, gleichgültig wie man sichzu dem einzelnen gestellt hat. Daher war es mir selbst schwer, zu hö-ren, daß Herr von Bernus Schocke von Briefen bekommen hat aus demKreise unserer Mitglieder, die dasjenige verlästert haben, was in derZeitschrift stand. Man hätte viel mehr Gelegenheit gehabt, auf das-jenige hinzuschauen, was direkt darauf ausgeht, unsere Bewegung zuvernichten. Und so erlebt man es denn, daß jemand, der sich vorge-

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nommen hat, über alle Dinge bei uns die Unwahrheit zu sagen, be-haupten kann: «<Das Reich>, das im Zeichen Steiners steht.» Nun, ichhabe mit dieser Zeitschrift keine andere Verbindung, als ich eventuellauch mit einer anderen haben könnte; ich habe sie nicht begründet, sieist das eigene Werk des Herrn von Bernus, sie hängt nicht mit meinerPersönlichkeit zusammen. Ich schreibe für diese Zeitschrift Artikelund bin für nichts verantwortlich. Das kann aber derjenige auch wis-sen, der verletzend nach der einen oder anderen Seite hin den verleum-derischen Ausdruck brauchte — in einem solchen Falle ist es ein ver-leumderischer Ausdruck - «diese Zeitschrift dient Steinerschen Zwek-ken». Man sollte sich im Gegenteil doch auch einmal freuen können,wenn auch etwas }üry von ganz außenstehender Seite für uns auftritt.Bis jetzt aber haben wir es vielfach erfahren, daß gerade denjenigenSteine in den Weg geworfen worden sind von Seiten unserer Mitglieder,welche sich für unsere Sache einsetzen wollten, daß aber abgeratenworden ist, sich für unsere Sache einzusetzen in gutem Wollen und inkühner Weise, während man sich nicht gekümmert hat um all dasSchmähende, das geschehen ist im großen ganzen.

Es wäre noch manches zu sagen. Ich wollte dies einmal anführen,weil ich wirklich betonen mochte, daß es mir gar nicht eingefallen ist,über dies oder jenes im «Reich» anders als diskutierend zu sprechen,das heißt, zu sehen, ob vielleicht gerade hinter dem scheinbar Unvoll-kommenen das Ringen nach einer Entwickelung steht, und es war mirwirklich nicht darum zu tun, auf dasjenige zu sehen, worauf viele ge-sehen haben, die sich berufen gefühlt haben zu dem, was ja ohnediesein Unsinn wäre, wenn es auch nicht geschmacklos wäre, ihr Urteilin Briefen an den Dichter zu senden. Das ist der geschmackloseste undschädlichste Weg. Denn an den, der sich angestrengt hat, die Sache aus-zuschreiben, braucht man nicht persönlich mit einem schmähendenBrief heranzutreten. Selbst wenn der Brief berechtigt wäre, könnte erihn nicht verstehen, er lebt in der Sache drinnen. Man sage seine Mei-nung allen anderen, nur sende man sie nicht dem Dichter ins Haus.

Nun, meine lieben Freunde, alle die Dinge, die so gesagt werden,treffen natürlich nur immer nach der einen Seite, nach der Seite vonwenigen. Aber es ist schon einmal so, daß durch die Gesellschaft der

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Unschuldige mit den Schuldigen gefangen ist und nun büßen muß fürsie. Das ist das, was mir schmerzlicher ist als denen, die unter den heu-tigen Maßnahmen leiden.

Aber eines möchte ich noch hinzufügen: Derjenige, der im Kreiseder Gesellschaft bloß die eine Maßregel etwa mitteilen wird, daß ichkeine persönlichen Angelegenheiten in Privatgesprächen in Zukunftmehr besprechen werde, der würde nur Einseitiges sagen. Zum ganzengehört dazu: Ich entbinde ausdrücklich jeden des Versprechens, soweiter es selber will, etwas, was in Privatgesprächen gesprochen wurde, ge-heim zu halten. - Das gehört dazu, und das ist das Wichtige. Beijenem Verleumdungsfeldzug, glauben Sie es, sind diese Maßregeln sonotwendig, daß Ausnahmen nicht gemacht werden können. Aber nie-mand soll etwas verlieren. Das, was esoterisch geleistet werden kann,wird auch geleistet werden können, wenn es in voller Öffentlichkeitsein muß. Und ich werde Mittel und Wege finden, trotzdem ich inPrivatgesprachen keine Ausnahmen machen kann und machen darf,daß jeder die esoterischen Bedürfnisse, die er befriedigen will, auch inder Zukunft wird befriedigen können. Haben Sie nur eine kurze ZeitGeduld. Auch ohne Privatgespräche wird es Mittel und Wege geben,daß alles das, was in berechtigter Weise für das esoterische Leben wirdgefordert werden können, befriedigt werde, ohne daß jene Schädenentstehen, die durch die Verleumdung des Privatgesprächwesens in un-serer Gesellschaft entstanden sind.

Und nun will ich noch sagen, daß ich gerne etwas vorbringenmöchte, was tief zusammenhängt mit dem, was uns zum Verständnisunserer schweren Gegenwart führen kann, daß ich aber wahrhaftignicht fertig bin mit dem, was ich Ihnen während des diesmaligen Auf-enthaltes habe sagen wollen. Für diejenigen, die kommen wollen, werdeich daher am Dienstagabend noch einmal hier sprechen.

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ELFTER VORTRAG

Stuttgart, 15. Mai 1917

Es wird sich in dieser heutigen ergänzenden Betrachtung zu den Aus-einandersetzungen, die ich diesmal hier in Stuttgart geben durfte, dar-um handeln, einiges hinzuzufügen zu dem schon Gesagten, um es ge-wissermaßen abzurunden.

Zunächst wird es am besten sein, wenn ich anknüpfe an dasjenige,was gerade im gestrigen öffentlichen Vortrag einen Teil der Ausfüh-rungen gebildet hat. Da haben wir ja gesehen, wie des Menschen see-lisches Wesen in seiner Dreiheit Beziehungen zum Leiblichen, Bezie-hungen zum Geistigen hat. Und wir haben insbesondere hervorgehoben,daß das Gefühlselement der Seele Beziehungen hat nach dem Leibehin zum Atmungsleben, daß gewissermaßen das, was im Leibe Atmungist, und zwar in umfassendem Sinne, mit allen Verzweigungen undVerästelungen das Werkzeug ist für das Gefühlsleben. Auf der an-deren Seite haben wir darauf hinweisen können, daß zu alledem, wasder Inspiration in der geistigen Welt zugänglich ist, das Gefühlslebeneine besondere Beziehung hat. Was der Inspiration in der geistigenWelt zugänglich ist, das ist aber auch zugleich alles das, was in derWelt enthalten ist, der wir angehören mit dem Teile unseres Wesens,der durch Geburten und Tode geht, der Welt also, die wir durchlebenzwischen dem Tode und einer neuen Geburt, der Welt, in der wir selbst-verständlich auch leben zwischen Geburt und Tod. Nur ist diese Weltverdeckt durch die Sinneswahrnehmungen und das gewöhnliche Vor-stellen, also durch das Leibesleben. So daß uns dasjenige, was derAtmung und dem Gefühl entspricht, eigentlich hinausweist in diegroße, umfassende Welt, in die wir aufsteigen, wenn wir durch diePforte des Todes gehen, in die Welt, der wir angehören, wenn wir unsnicht mehr des Werkzeuges unseres Leibeslebens bedienen. Das Werk-zeug unseres Leibeslebens fesselt uns gewissermaßen an das irdische Da-sein. Aus verschiedenen Vorträgen, die im Laufe der vielen Jahre ge-halten wurden und in den Zyklen niedergelegt sind, wissen Sie, daßdie Seele, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen ist, eben nicht

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gefesselt ist an das irdische Leben, sondern aufsteigt in den Kosmos, umin den geistigen Welten dieses Kosmos zu leben, in demjenigen, waseben die geistige Welt genannt werden kann. Ist es denn da nicht zuerwarten, daß gerade das Gefühlsleben, das leiblich der Atmung ent-spricht, geistig der inspirierten Welt, das Gefühlsleben mit dem At-mungsleben also, in einer viel, viel umfassenderen Beziehung zum Kos-mos, zur großen Welt, zum Makrokosmos steht als unser engbegrenz-tes Wahrnehmen und Vorstellen? Was nehmen wir denn schließlichwahr? Wir nehmen wahr wirklich ein recht kleines Stück Welt; einkleines Stück Welt spielt durch unsere Augen und unsere Ohren in un-ser leibliches Dasein zwischen Geburt und Tod herein. Selbst wenn wirvielgenießende Menschen sind und Umschau halten, was wir alles durchunsere Sinne wahrnehmen und dann in den Vorstellungen verarbeiten:es ist ein kleines Stück Welt, was da in unser Dasein hereinspielt.

Wie ist das nun aber, wenn wir uns wenden von dem Nervenleben,zu dem das Vorstellungsleben gehört, zum Atmungsleben, zu dem dasGefühlswesen gehört? Einen Begriff darüber, der zu gleicher Zeit ge-eignet ist, unser Empfinden zu erheben, kann uns dasjenige geben, wasin der folgenden Weise etwa an unsere Seele herantreten kann: Siewissen ja alle, daß die Sonne im Frühling in einem gewissen Punkteaufgeht. Im Frühlingsbeginn, am 21. März, geht die Sonne am Morgenin einem bestimmten Punkte auf. Aber dieser Punkt ist nicht zu allenZeiten derselbe, das wissen Sie, sondern die Sonne ist in alten Zeitenim Frühlingsanfang aufgegangen im Sternbild des Stieres, dann imSternbild des Widders; der Frühlingspunkt wandert also weiter undist nun in das Sternbild der Fische eingetreten. Wenn man sich wendetzu dem, was ich jetzt meine, dann betrachtet man also den Fortgangdes Frühlingspunktes durch den Tierkreis. Der Frühlingspunkt selberrückt im Tierkreis weiter. Wenn ein Punkt in einem Kreise weiterrückt,so muß er natürlich nach einer bestimmten Zeit wiederum an derselbenStelle ankommen. Nun kennt die ganz gewöhnliche Astronomie diesesWeitergehen des Frühlingspunktes und das Wiederankommen an die-selbe Stelle des Tierkreises. Das heißt, wenn in einem bestimmten Jahrder Vergangenheit der Frühlingspunkt im Widder lag, im nächstenJahr ein Stückchen weiter, und so fort, und dann herausgegangen ist in

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die Fische und so weiter, so wird er nach einer gewissen Zeit wiederim Widder sein. Die Zeit, die so der Frühlingspunkt braucht, um durchden ganzen Tierkreis sich zu bewegen, ist annähernd 25900 Jahre,ungefähr 26 000 Jahre. In dieser Zahl also von 26 000 Jahren liegt einMaß des äußeren Kosmos ausgedrückt: das Maß, in dem eben der Früh-lingspunkt weiterschreitet. Wir haben in dieser Zahl gewissermaßendasjenige, womit der Gang der Sonne im Kosmos ausgemessen wird.So könnten wir annähernd sagen. Halten wir an dieser Zahl fest, sokönnen wir an sie anfügen eine andere Betrachtung, die wir jetzt an-stellen wollen.

Der Mensch atmet ein und aus, macht in einer Minute eine bestimmteZahl von Atemzügen. Wir machen nicht in jedem Lebensalter zwischenGeburt und Tod gleichviel Atemzüge, aber ein gewisses Durchschnitts-maß von Atemzügen ist da in der Minute, die ein mittelkräftiger Manndurchschnittlich aufzuweisen hat. Das sind achtzehn Atemzüge in derMinute. Nun rechnen wir uns einmal aus, wieviel Atemzüge der Menschim Laufe eines vierundzwanzigstündigen Tages macht. Da müssen wirzunächst die Atemzüge, die er in einer Minute macht, multiplizierenmit sechzig und bekommen heraus eintausendundachtzig, und dannnoch mit vierundzwanzig, dann bekommen wir die Atemzüge, dieder Mensch in einem Tage, also Tag und Nacht, macht: da bekommenwir 25920 Atemzüge. Merkwürdig, wir bekommen, wenn wir dieAtemzüge eines Menschen im Verlauf eines vierundzwanzigstündigenTages zählen, dieselbe Zahl, wie wenn wir die Zahl der Jahre berech-nen, die durch das Vorrücken der Sonne im großen Kosmos sich er-gibt. So viele Jahre, immer ruckweise, rückt ja dieser Frühlingspunktvor: soviel mal der vorrückt, soviel mal atmet der Mensch in einemTage. Dieselbe Zahl! Denken Sie sich einmal, wie wunderbar sich dabewahrheitet jener biblische Ausspruch: die Weisheit der Welt habealles nach Maß und Zahl geordnet. - Eine Zahl, die im Kosmos einge-schrieben ist, tritt uns in unserem vierundzwanzigstündigen Atmenwieder entgegen. Man kann also auch auf diese Zahl Rücksicht neh-men, und man wird finden, daß schon das menschliche Atmen mit dergroßen Welt so in Beziehung steht, wie das gestern aus der Geisteswis-senschaft herausgeholt worden ist.

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Aber nun betrachten wir gewissermaßen wiederum etwas, was auchein Atmen ist, denn Atmen ist nichts anderes als ein Spezialfaü des all-gemeinen Weltenrhythmus. Das Wesentliche in dem, was gestern mitdem Atmen gemeint war, ist die rhythmische Bewegung, der Rhyth-mus. Betrachten wir einmal etwas, das dem Atmen recht ähnlich ist,eine andere rhythmische Bewegung, die wir kennen aus unseren geistes-wissenschaftlichen Betrachtungen. Wenn wir einschlafen, geht unserIch und unser Astralleib aus unserem physischen Leibe und Äther-leibe heraus; wenn wir wiederum aufwachen, geht unser Ich und un-ser Astralleib in unseren physischen Leib und Ätherleib herein. Ichhabe öfter das eigentümliche Verhalten des Ich und des Astralleibes,dieses Heraus- und Hereingehen in den physischen und Ätherleib, mitAus- und Einatmen verglichen. So wie wir die Luft aus- und einatmenin einem achtzehnten Teile einer Minute, so atmen wir gewissermaßenim Verlauf von vierundzwanzig Stunden als physischer Mensch unserIch und unseren Astralleib ein, indem wir aufwachen, aus, indem wireinschlafen; indem wir wieder aufwachen, atmen wir sie wieder ein,und indem wir wieder einschlafen, atmen wir sie aus. Es ist nur einumfassenderes Aus- und Einatmen unseres Ich und Astralleibes imVerlauf der vierundzwanzig Stunden eines gewöhnlichen astronomi-schen Tages. Sehr merkwürdig, da atmet etwas also; da atmet etwas!Sehen wir zunächst davon ab, was atmet: es ist eben richtig ein Rhyth-mus gegeben, der gewissermaßen ein langsames Atmen darstellt, wobeiein Atemzug vierundzwanzig Stunden dauert. Nun wissen Sie, in derBibel wird vom Patriarchenalter gesprochen, von siebzig, einundsieb-zig Jahren. Das bedeutet natürlich nicht, daß das etwas anderes ist alsdas durchschnittliche Alter. Manche Menschen sterben sehr früh, man-che werden hundert, ja über hundert Jahre alt, aber es ist etwas Durch-schnittsmäßiges gemeint mit dem Patriarchenalter. So daß, wenn manetwas Durchschnittliches meint beim menschlichen Lebensalter, mansprechen kann von siebzig bis einundsiebzig Jahren. Rechnen wir unseinmal aus, wieviel Tage das sind. Wenn wir das ausrechnen, so würdenwir herausbekommen, wieviel solcher großen Atemzüge wir in einemirdischen Leben machen, wo wir im Verlauf von vierundzwanzig Stun-den das Ich und den Astralleib ausatmen und wieder einatmen. Rech-

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nen wir das aus: Solche Atemzüge machen wir in einem Jahr ungefährdreihundertfünfundsechzig, so viele, wie das Jahr Tage hat. In siebzigJahren also siebzigmal so viel: das würde 25550 geben. Nehmen wiraber an, wir rechnen einundsiebzig Jahre, da kommen wir schon etwasnäher: das macht 25 915. Also der Mensch braucht nur ein wenig übereinundsiebzig Jahre zu leben, so erreicht er 25 920 solcher Atemzüge.Das heißt, wenn der Mensch etwas über einundsiebzig Jahre alt wird,so hat er sein Ich und seinen Astralleib 25 920mal aus- und eingeatmet;so oft also, wie der Mensch im Tage seinen gewöhnlichen Atem aus-und einatmet. Denken Sie: wieder dieselbe Zahl!

Sie sehen also, daß wir ansehen können das menschliche Leben alseinen Tag, und den einzelnen Tag, den wir durchleben, als einen Atem-zug: dann ist unser einundsiebzig- bis zweiundsiebzigjähriges Lebengegeben durch diejenige Zahl, die auch die Zahl des Vorrückens desFrühlingspunktes ist, die die Zahl der Atemzüge in einem Tage ist. Un-ser Leben ist ein großer Tag, und das große Wesen, in dessen Mittel-punkt man sich die Erde vorstellen kann, atmet so oft Ich und Astral-leib aus und ein, wie wir mit unserem einzelnen Atem aus- und ein-gehen. So wäre unser einzelnes Erdenleben ein Tag, ein Tag von irgendetwas. Von was ist denn das ein Tag? Multiplizieren Sie einundsiebzigmit dreihundertfünfundsechzig, so müssen Sie natürlich das Jahr be-kommen für den Tag von einundsiebzig Jahren. Wenn Sie einundsieb-zig Jahre als einen Tag rechnen und fragen: Was ist ein Jahr von die-sem Tag, so ist es dreihundertfünfundsechzigmal so viel. Das ist aberwiederum 25 920 Jahre. Das heißt, wenn wir unser einzelnes Erden-leben mit seinen 25920 Atemzügen, die aber Wachen und Schlafensind, als einen Tag rechnen, ein Menschenleben als einen Tag rechnen,und sehen, welches Jahr diesem einen Menschenleben mit seinen 25 920Atemzügen entspricht: so ist es der Umgang des Frühlingspunktes,25920 Jahre! Wir bekommen einen wunderbaren Zahlenrhythmusheraus.

Deshalb sagte ich: Wir bekommen eine Idee, die für unsere Empfin-dung erhebend sein muß, denn wir dürfen uns durch Maß und Zahlhineingestellt fühlen in den Makrokosmos. Zahlen verraten uns das-jenige, was uns bewahrheitet die Erkenntnis, daß das, was zum Atmen

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gehört, und daher zum Gefühlsleben, die inspirierende Welt ist, diegroße Welt, der wir angehören nicht nur zwischen Geburt und Tod,sondern auch in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburtund in den wiederholten Erdenleben. Wir liegen gleichsam im Schößedes Rhythmus unseres ganzen Sonnensystems, atmen in unseren ein-zelnen Atembewegungen den großen makrokosmischen Rhythmus un-seres ganzen Sonnensystems nach. Das ist ein Gedanke, der uns mitSicherheit hineinstellt in das ganze große Leben unseres Sonnen-Wel-tenalls. Die Menschen werden im Laufe der Zeit noch mancherlei ähn-liche Betrachtungen anstellen müssen, und dann werden sie sich über-zeugen, daß sie auf diesem Wege wiederum zu geisterfüllten Empfin-dungen kommen über die Beziehungen des Menschen zum Weltenall.Geisterfüllte Empfindungen brauchen wir für unser Zeitalter und fürdie folgenden Zeitalter in dem Sinne, wie das vorgestern hier ausge-führt worden ist, als Anregungen des inneren Lebens. In alten Zeitenwar es ja so, daß dem Menschen die Erleuchtungen gewissermaßen vonaußen zukamen. Das ist heute verlorengegangen durch die Art derrückwärtsgehenden Zeitalter der Menschheit. Wir stehen jetzt in ei-nem Zeitalter, in welchem, wenn die Menschheit nicht ganz in dieDekadenz kommen soll, in energischer Weise eine Entwickelung be-ginnen muß des menschlichen Seelenwesens von innen heraus. Undnur derjenige versteht das, was unserer Zeit not tut, der als eine Not-wendigkeit der irdischen Entwickelung begreift, daß geistiges Lebendas Innerste der menschlichen Seele ergreifen muß vom fünften nach-atlantischen Zeitraum an, in dem wir leben, in die Zeit hinein, zu derwir uns weiterentwickeln sollen. Das was die Geisteswissenschaft überdieses sagt, ist nicht aus irgendeiner willkürlichen Idee oder aus eineragitatorischen Empfindung heraus gesagt, sondern es ist gesagt aus derErkenntnis der Notwendigkeit der Menschheitsentwickelung.

Nun betrachten wir heute noch einmal von einem etwas anderenGesichtspunkte aus diese Menschheitsentwickelung. Gehen wir nocheinmal zurück zu dem ersten nachatlantischen Zeitalter, also dem Zeit-alter unmittelbar nach der großen atlantischen Katastrophe. Wir ha-ben vorgestern wiederum, nachdem wir es von einem anderen Gesichts-punkte aus schon öfter getan haben, betont, wie in diesem ersten nach-

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atlantischen Zeitalter der Mensch noch in Beziehung gestanden hat zujener Wesenheitsreihe, die wir in den Hierarchien Archai nennen oderGeister der Persönlichkeit. Das geistige Leben offenbarte sich noch indiesen uralten Zeiten der Menschheit, weil eben das Lebensalter rück-läufig in der damaligen Zeit ein solches war, daß wir es vergleichenkönnen mit dem jetzigen Lebensalter zwischen dem sechsundfünfzig-sten und achtundvierzigsten Jahr, wie ich es vorgestern ausgeführthabe. Der Mensch hatte gewissermaßen die Unterweisung von geistigenWesenheiten. Wie kamen diese geistigen Wesenheiten an den Menschenheran? In der damaligen Zeit sah der Mensch nicht die Natur so an wieheute. Die Natur ist für den Menschen heute eben so eine Art mecha-nischer Ordnung. Abstrakte, fast mathematische Naturgesetze betrach-tet der Mensch heute als sein Ideal, eine abstrakte Ordnung. NehmenSie die Bilder, wie sie um Sie herum ausgebreitet sind, wenn Sie hinaus-gehen in die Natur. Vergleichen Sie dasjenige, was da draußen ist, mitdem, was in den botanischen, in den zoologischen Lehrbüchern stehtüber Pflanzen und Tiere. Vergleichen Sie diese verzerrten, abstraktenVorstellungen mit dem Leben, und Sie können sagen: Was da in diesenBüchern der Botanik, der Zoologie steht, das ist, was heute dem mensch-lichen Geiste sich offenbart. Solche Botanik, solche Zoologie, auf wel-che die heutige Menschheit so ungeheuer stolz ist, war in jenem Zeit-alter nicht vorhanden. Wenn man dasjenige, was heutige Botanik,heutige Zoologie und heutige Biologie über die Natur zu sagen hat,vergleicht mit dem, was für jenes alte Erkennen in der Natur sprießteund sproßte, so kommt man eben zu einer anderen Gesinnung. SolcheBotanik, solche Zoologie gab es damals nicht, aber es gab dafür etwasanderes, etwas, was der heutigen Menschheit noch recht wenig ver-ständlich ist. Es kam aus der Natur selber heraus, und nennen möchteich das, was da aus der Natur herauskam: das lichterfüllte, gestalteteWort. So wie wir durch unsere Sinne und unseren Verstand heute dieNatur sehen, so sahen sie diese Menschen nicht, sondern die Natur ent-sendete ihnen Lichtgestalten, und diese Lichtgestalten tönten zugleich,sagten etwas, sprachen sich aus über das, was sie sind. Und jeder Menschkonnte in gewissen Zuständen seines Bewußtseins dieses atavistischeHellsehen erfahren, wodurch ihm aus der Natur heraus das lichter-

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füllte, gestaltete Wort entgegenkam; man könnte auch sagen Worte,denn es kam eine Fülle von solchen Gestalten, die sich aussprachen,heraus aus der Natur. Der Mensch wußte: Auch du gehörst zu dieserWelt, aus der diese lichterfüllten Worte herauskommen. Du gehörst daauch hinein. Jetzt aber bist du hier in der Natur, wo dich Mineralien,Pflanzen und Tiere umgeben. Du bist dadurch in der Natur, daß dueinen äußeren physischen Leib an dir trägst; dadurch gehörst du zu die-ser Natur dazu. Aber die Natur läßt heraussprießen das lichterfüllteWort: dem gehörst du deinem seelischen Wesen nach so an, wie deinfleischlicher Leib der äußeren mineralischen, pflanzlichen, tierischenWelt angehört. In dieser Welt des lichterfüllten, des lichtgestaltetenWortes bist du gewesen vor deiner Geburt oder Empfängnis, und duwirst darinnen sein nach deinem Tode. Du wirst darinnen wiederleben.

Im ersten nachatlantischen Zeitraum hörte man wenigstens nocheinen Nachklang und sah einen Nachschein der Welt, in der man lebtzwischen dem Tod und einer neuen Geburt, indem man in gewissenBewußtseinszuständen die Natur anschaute. Im zweiten nachatlan-tischen Zeitraum war es schon etwas anders. Da verlor sich für dieseatavistischen Zustände das Wort. Die Gestalten sprachen sich nichtmehr aus, aber sie waren noch da, lichterfüllte Gestalten waren nochda, nur waren sie stumm geworden. Dasjenige, was äußerlich vor denSinnen lag, das empfand man als die Dunkelheit in diesem lichterfülltGestalteten im Inneren, und seinen eigenen Leib empfand man als einStück von der Dunkelheit. So daß man sich sagen konnte: Licht undDunkelheit! Der eigene Leib ist von der Dunkelheit beherrscht. Indemer aus dem Lichte kommt und in die Dunkelheit geht, geht er durchGeburt oder Empfängnis in das Erdenleben hinein; indem er durchdie Todespforte geht, geht er durch die dunkle Welt wiederum insLicht. In der Welt ist ein Kampf zwischen Lichtheit und Dunkelheit,zwischen Ormuzd und Ahriman. So sprach Zarathustra, der der Leh-rer war dieser zweiten nachatlantischen Kulturepoche, zu seinen Schü-lern. Man versteht dasjenige, was der Zarathustrismus mit seiner Or-muzd- und Ahriman-Lehre meint, nicht, wenn man es nicht beziehtauf die Art der damaligen Anschauung der Menschen.

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Wieder anders war die Sache geworden in der dritten nachatlan-tischen Zeitperiode. Wenn man auf das Äußere schaut, so hatten sichdie lichterfüllten Gestalten für diesen äußeren Anblick in der drittennachatlantischen Periode nach und nach verloren. Aber die Menschenhatten noch die Macht, sich, so wie wir uns heute in Schlaf versetzen,in einen Zwischenzustand zu versetzen zwischen Schlafen und Wa-chen. Sie mußten sich dazu nur ein wenig anstrengen. Beim Schlafenbraucht man sich ja nicht anzustrengen, in diesem andersartigen Zu-stand aber mußte man sich etwas anstrengen. Wenn man sich aber an-strengte, dann konnte man eine solche Lichtwelt um sich herauszau-bern, die jetzt aus dem Inneren kam und die ähnlich war derjenigen,die früher von der Natur, von außen kam. Wie war also eigentlichder Fortgang von der zweiten nachatlantischen Kulturperiode zu derdritten, der ägyptisch-chaldäisch-babylonischen Zeit? Wie war derÜbergang? Nun, in der zweiten, in der persischen Kulturperiode sahendie Menschen noch, indem sie nach außen blickten, die Lichtgestaltenund konnten sich sagen: Meine Seele gehörte, bevor sie durch die Emp-fängnis ging, dieser lichtgestalteten Weit an. Von außen hinein schiendiese lichtgestaltete Welt nicht mehr in der dritten Kulturperiode, aberder Mensch konnte sie gleichsam aus sich herauspressen; dann hatteer aus seiner Seele heraus sich selber das vor diese Seele hingezaubert,was vor seiner Geburt oder Empfängnis da war in der geistigen Welt,und was nach seinem Tode da sein wird in der geistigen Welt. So daßwir sagen können: die dritte nachatlantische Zeit hatte die Lichtweltals Seelenerlebnis. Die Menschen hatten die Lichtwelt als Seelenerleb-nis, der Mensch war also gewissermaßen von der Außenwelt mehr aufsein Inneres zurückgewiesen worden. Es war nicht mehr die natur-gemäße Art beim Menschen, in die äußere Welt zu blicken und dieLichtwelt zu sehen, das heißt, die geistige Welt im Umkreis zu sehen.Daher war notwendig geworden in dieser Zeit, immer einen kleinenKreis von Leuten auf Mysterienart einzuweihen, so daß sie in die Lagekamen, wieder zu sehen die äußere Lichtwelt, und daß sie Zeugnis da-für ablegen konnten, daß das, was aus dem Inneren der Seele herauf-geholt wurde, wirklich dasselbe war, was im geistigen Umkreis ge-lebt hat.

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Nun kam die vierte nachatlantische Periode, die griechisch-latei-nische. In dieser vierten Periode kam nicht mehr Licht herauf, wennder Mensch sich in einen besonderen Zustand versetzte, wie in derdritten Periode. Das Licht kam nicht mehr, es kam nicht mehr dasjenigeherauf aus dem Untergrund des Menschenwesens, was ein Nachklanggewesen wäre des Lebens der Seele vor der Empfängnis und des Lebensder Seele nach dem Tode. Aber es kam noch eine Gewißheit herauf, daßdas Innere des Menschen seelenerfüllt ist. Diese Gewißheit kam her-auf. Man verspürte noch etwas von dem, was man früher geschauthatte, wenn man die Seele innerlich zum Schauen brachte. Man schautenicht mehr das Licht, aber man verspürte noch des Lichtes Wärme.So war es in der griechisch-lateinischen Zeit. Da müssen wir sagen: Eswurde nicht mehr die Lichtwelt als Seelenerlebnis im Inneren erfahren,aber es wurde die Seele selbst als Seelenerlebnis erfahren.

Aber naturgemäß mußte das immer schwächer und schwächer wer-den im Verlaufe der Zeit. Und wie drückt sich dann das ganze Verhält-nis überhaupt aus? Es drückte sich aus in der folgenden Art. Nament-lich auf die Griechen werden wir schauen müssen, wenn wir die Sacheverstehen wollen: Die Griechen hatten, wie der Durchschnittsmenschvon heute, das Bewußtsein ihres Leibes. Aber durch das, was ich ge-schildert habe, hatten sie auch das Bewußtsein: die Seele durchseeltden Leib. Sie verspürten die Seele als belebend, den Leib durchlebend.Diese Empfindung, die die Griechen noch hatten, ist verlorengegangen.Daß die Geschichte davon nichts spricht, daß diese Empfindung heuteverlorengegangen ist, das ist nur, weil wir im Zeitalter des Materialis-mus leben. Niemand versteht Homer in Wirklichkeit, niemand ver-steht Sophokles oder Äschylos, wenn er sie nicht liest mit der Empfin-dung, daß der Grieche noch eine andere Seelenerfahrung hatte als derheutige Mensch. Würde man Äschylos mit dieser Empfindung lesen,so würde man andere Übersetzungen liefern als diejenigen, die heutegeliefert und manchmal bewundert werden, und die gerade in denintimsten Dingen dem Äschylos wahrhaftig nicht ähnlich sehen. Aberdaß das so war, hatte für den Griechen eine ganz bestimmte Folge,nämlich daß der Grieche gerade während der Zeit zwischen Geburtund Tod im Leibe das belebende Seelenelement fühlte, und daher auch

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zu einer anderen Empfindung noch kam, zu der Empfindung, daß derLeib und die Seele eigentlich ganz innig zusammengehören. Niemalsin der Menschheitsentwickelung ist diese Empfindung überhaupt sorege gewesen wie in der Griechenzeit. Denn in früheren Epochen, dieder Griechenzeit vorausgingen, hatten die Menschen eigentlich immerdas Gefühl, das Seelische gehöre der Lichtwelt, der Wortwelt, der Weltdes Logos an, in der der Mensch lebt vor der Geburt und nach demTode. Jetzt, im materialistischen Zeitalter, ist es so, daß der Menschdie Seele zunächst überhaupt nicht mehr verspürt. In der Griechenzeit,und etwas abgeschwächt und ins Trockene und Verstandesmäßige um-gesetzt in der römischen, der lateinischen Zeit, war die Empfindungvorhanden des innigen Zusammengehörens von Leib und Seele. DenLeib betrachtete der Grieche als die äußere Gestalt für die Seele. Wachs-tum und Verfall des Leibes erschien den Griechen als Ausdruck fürWachstum und Verfall des Seelenlebens. Der Grieche liebte den Leib,so wie er die Seele liebte. Diese Empfindung, wie sie in dem Griechenvorhanden war, war früher in derselben Weise nicht vorhanden - wieich eben ausgeführt habe - und ist heute wieder nicht vorhanden. Aberdie Folge davon war jene Empfindung, die so tief ausgedrückt ist inden Worten, die Achilleus in den Mund gelegt werden: «Lieber einBettler in der Oberwelt als ein König im Reich der Schatten.» DerGrieche hat die schöne Harmonie, die er empfunden hat zwischen Leibund Seele, zu bezahlen gehabt damit, daß ihm, wenn er nicht Ange-höriger der Mysterien war, eine Vorstellung davon, wie es der Seelein der geistigen Welt nach dem Tode ergeht, ganz geschwunden war.Nun, das Merkwürdige ist eben, daß der große griechische PhilosophAristoteles, der ein großer Denker, aber nicht in die Mysterien ein-geweiht war, in einer grandiosen Weise über das Erleben der Seelenach dem Tode so gesprochen hat, wie man sprechen konnte in derdamaligen Zeit, wenn man die innige Harmonie zwischen Leib undSeele ins Auge zu fassen vermochte nach der Art des griechischen Zeit-alters.

Und als dann im Mittelalter in der sogenannten scholastischen Phi-losophie Aristoteles wieder aufgelebt ist, da haben die Scholastikergesagt: In der Philosophie muß man so denken über die Seele, wie

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Aristoteles gedacht hat. Will man mehr darüber wissen, so kann dasnur aus dem Glauben kommen. Mit der bloßen menschlichen Forschungkann man nicht weiter kommen als Aristoteles. - Wie weit ist Aristo-teles denn gekommen, er, der so recht der philosophische Ausdruck fürdie griechische Art der Anschauung über Leib und Seele ist? Er ist wirk-lich zu dem gekommen, was man so schön mit den Worten des kürz-lich verstorbenen meisterhaften Aristoteles-Forschers Franz Brentanoaussprechen kann, der sagt: Wenn der Mensch ein Glied verloren hat,so kann er sich dieses Gliedes nicht mehr bedienen, er ist gewissermaßennicht mehr ein ganzer Mensch. Wenn er zwei Glieder verloren hat, ister noch weniger ein ganzer Mensch. Wenn er nun den ganzen Leibverloren hat — so sagt Aristoteles und mit ihm Franz Brentano - undnoch nach dem Tode Seele ist, was Aristoteles nicht leugnet, so ist erin einem Zustande der Unvollständigkeit gegenüber dem Zustand, indem er ist zwischen Geburt und Tod. Er ist kein vollständiger Mensch. -Und das ist in der Tat die wahre Unsterblichkeitslehre des Aristoteles,des größten Denkers der Griechenwelt, daß der Mensch nur hier zwi-schen Geburt und Tod ein vollständiger, ein vollkommener Mensch ist.Geht er durch die Pforte des Todes, so ist er nur ein Stück des Men-schen; er ist zwar unsterblich, aber auf Kosten dessen, daß er keinganzer Mensch mehr ist. Das ist in der Tat dasjenige, womit das Grie-chentum seine Schönheit, seine Harmonie zu bezahlen hatte, daß es indasjenige Menschenalter hineinkam - Sie wissen, verglichen mit demmenschlichen Lebensalter -, wo man aus dem Inneren herauf zwar dieSeele verspüren konnte, wo man aber noch nicht das Leben der Seelein der geistigen Welt schauen konnte, wo man von der Seele sagenmußte: sie ist nach dem Tode kein vollständiger Mensch mehr. Nurdenjenigen, die in die Mysterien eingeweiht wurden, denen also Er-kenntniskräfte einverleibt wurden, die über das Normale hinausgin-gen, enthüllte sich dasjenige, was die Seele durchlebt zwischen demTode und einer neuen Geburt. Das ist ja der große Unterschied zwi-schen Plato und Aristoteles, daß Plato in die Mysterien eingeweiht warund Aristoteles nicht. Daher muß Plato in ganz anderem Sinne ver-standen werden als Aristoteles, der zum «Chimborasso des Denkens»kam, aber nicht zu den Geheimnissen der geistigen Welt dringen konnte.

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Daher kam es, daß diejenigen, welche die Macht hatten in diesemZeitalter, nach etwas anderem strebten als das, was man im normalenMenschenleben erreichen kann. Wer waren die Männer, die die Machthatten, die in der Lage waren, diese Macht zu entwickeln? Gewiß, esgab eine große, bedeutsame Welt der Initiation, die durch die Myste-rien da und dorthin ausgebreitet war und die damalige Kulturwelterfüllte; aber diese Mysterien, sie gaben den Menschen dasjenige, vondem Plato sagte, daß es die Menschen über den Schlamm der Vergäng-lichkeit hinweghebe. Diejenigen, welche die Macht hatten in diesemvierten nachatlantischen Zeitraum, suchten vor allen Dingen nach ei-nem solchen in der Seele, wodurch sie teilnehmen konnten an der gei-stigen Welt. Nach dem allgemeinen Menschheitskarma mußte man imSinne des Initiationsprinzips der damaligen Zeit normalerweise war-ten, bis man in die Mysterien hereingeholt wurde. In Griechenland wardas allgemein üblich. Das brauchten die römischen Cäsaren nicht. Dierömischen Cäsaren, die sich allmählich zur Beherrschung der damali-gen Welt aufwarfen, die konnten ihre Macht dazu verwenden, sich ein-weihen zu lassen in die Mysterien. Und so sehen wir denn, daß schonvon Augustus an die römischen Cäsaren die Initiation anstrebten, ein-fach durch ihre Machtfülle. Sie zwangen die eine oder andere Priester-schaft, sie in die Mysterien einzuweihen. So daß in diesem vierten Zeit-raum eine eigentümliche Erscheinung zu beobachten ist: Wir habenauf der einen Seite das Mysterienprinzip, das Mysterienwissen, dasnoch da war, das aber allmählich hinschwand, allmählich niederging -ich habe öfter geschildert, warum das so kommen mußte: weil ebendas Mysterium von Golgatha an die Stelle trat -, auf der anderen Seitewurden die Priester gezwungen, ihre Geheimnisse den römischen Cä-saren zu enthüllen. Augustus war der erste Kaiser, der eingeweihtwurde im vierten nachatlantischen Zeitraum; aber auch seine Nach-folger waren solche Eingeweihte, solche Initiierte. Sie unterschiedensich in ihrem Wesen von den anderen Initiierten, die auf Grund mora-lischer Eigenschaften, moralischer Entwickelung namentlich, in dieMysterien eingeweiht waren. Die römischen Cäsaren wurden aufGrund ihrer Machtfülle eingeweiht dadurch, daß sie die Priesterschaf-ten zwingen konnten, ihnen ihre Geheimnisse zu enthüllen.

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Und so sehen wir denn, daß auch solch ein Nachfolger des Augustuswie Caligula ein Initiierter war. Dadurch aber war ein solcher Menschwie Caligula bekannt mit den Geheimnissen des geistigen Weltenalls.Er war bekannt damit, daß die Impulse dieses geistigen Weltenalls inder Seele wieder aufleben, daß das Ich des Menschen ein Göttliches indem Göttlichen ist. Dasjenige, was eine heilige Wahrheit der Demutbei den initiierten Priestern war, das wurde den Cäsaren ein Symbolumder äußeren Weltenmacht. Denn was wußte solch ein Caligula? Dieanderen starrten dasjenige an, was ihnen an mythologischen Figurender Götter heruntergekommen war aus alten Zeiten; das beteten siean. Solch ein Eingeweihter wie Caligula wußte, was diese Götter zubedeuten hatten. Er wußte vor allen Dingen, daß der Mensch derselbenWelt mit seiner innersten Wesenheit angehört. Aus Erfahrung wußteCaligula, daß er derselben Welt angehörte wie diejenigen Wesen, diein diesen Göttern: Bacchus, Herkules, Merkur, Apollo, Zeus ihre Ab-bilder haben. Caligula wußte das Geheimnis, wie er in einem schlaf-ähnlichen Zustande mit den Göttern der Mondenwelt verkehrenkonnte. Und es ist nicht eine bloße Mythe, sondern durchaus eineWahrheit, wenn gerade von Caligula erzählt wird, daß er, wie mansagte, im Schlafe - es ist aber gemeint, in einem anderen Bewußtseins-zustande - mit Luna, der Mondgöttin, Umgang pflegte, und darausNahrung söge für sein Machtbewußtsein. In mir lebt die Welt - sagteer sich - denn ich bin in ihr drinnen. - Indem er auf die Götter blickte,sah er sich selbst als einen Gott unter Göttern an. Und das war vonden initiierten römischen Kaisern ganz ernst gemeint, wenn sie dassagten. Der initiierte Priester wußte, wie er in die Wohnung der Göt-ter kam, und so erzwang sich der römische Cäsar die Gemeinschaftmit den Göttern. «Mein Bruder Jupiter», «Mein Bruder Zeus»: daswaren Bezeichnungen, die gerade Caligula immer wieder gebrauchte.Und Caligula war es, der einmal an einen Tragöden die Frage richtete,wer größer sei, Jupiter oder er, Caligula. Und als der Tragöde nichtantworten wollte, Caligula sei größer als Jupiter, ließ er ihn geißeln.Das sind keine Mythen, das sind historische Dinge. Daher auch dieAufzüge, in denen Caligula als Bacchus mit Thyrsus und Epheukranzsich vor dem Volke zeigte, weil er das Bewußtsein hatte, daß er sich

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verwandeln dürfe in diejenigen Gestalten, die er als Abbilder der GÖt-ter kannte. Als Herkules erschien er mit der Keule und der Löwenhaut,als Merkur mit dem Hermesstab, als Apollo mit der Strahlenkrone undvon Chören umgeben. So trat er auf, um seinem Volke das Bewußtseinbeizubringen, daß er zu den Göttern und nicht zu den Menschen ge-höre. So war es in jener Zeit, in welcher, möchte man sagen, sich in derrömischen Welt das minder gute Bild dessen zeigte, was in der Grie-chenwelt groß war. Natürlich sah das niemand besser ein als solch einCaligula oder andere initiierte Kaiser wie Commodus und andere.Caligula hörte einmal, daß eine Gerichtsverhandlung stattgefundenhatte, in der ein Richter einen Angeklagten zum Tode verurteilte. Undals ihm die Sache, da es ein besonderer Fall war, berichtet wurde, dasagte er: Ebensogut hätte der Richter zum Tode verurteilt werden kön-nen, denn er sei ebenso viel wert wie der andere. - So sah er die mora-lische Verfassung seiner Zeit an. Im Römertum erscheint wirklich dasGegenteil des Griechentums. Man hat gar keine Vorstellung mehr vonder inneren Verfassung des Römertums der Cäsarenzeit. Man mußsich aber eine Vorstellung davon verschaffen, denn das ist eine derWurzeln, aus denen unsere neue, unsere fünfte Kulturepoche im Fort-strömen sich entwickelt hat.

Auch Nero war ein solcher Eingeweihter, ein initiierter Kaiser. Unddadurch gerade konnte Nero etwas ganz Besonderes einsehen. Dieje-nigen, die in die Mysterien eingeweiht waren in der damaligen Zeit,wußten: die Entwickelung ist bis zu einem gewissen Punkte abwärtsgegangen; sie muß wiederum aufsteigen, aber sie muß sich auch mehrvergeistigen. Das ist ja in Wirklichkeit dasjenige, was gemeint ist mitder «Parusie», mit dem neuen Zeitalter, von dem auch der ChristusJesus spricht.

Wenn Sie das, was in all diesen alten Kulturepochen bis zum Grie-chentum lebendig ist, vergleichen mit der späteren Zeit, so finden Sie:In diesen alten Kulturepochen offenbart sich in einer gewissen Weisedurch das Körperliche noch das Seelisch-Geistige. Dann hört das auf;es offenbart sich nicht mehr, es muß jetzt durch anderes gesucht wer-den. Wenn der Mensch durch das, was er mit Augen sehen, mit Ohrenhören kann, das Geistig-Seelische suchen will, so kann er es nicht mehr

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finden. Die Reiche der Himmel, sie offenbarten sich früher durch dieLeiber, jetzt müssen sie im Geiste heraufkommen. Die Reiche der Him-mel müssen nahe kommen. Das ist die Prophetie des Täufers Johannes.Das ist auch, was der Christus Jesus mit der Parusie meint. Nur stehenin einer gewissen Weise die Theologen bis heute noch immer auf demsonderbaren Standpunkte, daß sie glauben, der Christus hätte mit derParusie gemeint, die Erde müsse sich physisch verwandeln. Auch dieBlavatsky tadelt den Ausspruch des Christus Jesus über die Parusie,das Heraufkommen der Reiche der Himmel, indem sie sagt: Da wurdevorausgesagt, daß die Reiche der Himmel auf die Erde kommen, dasGetreide ist aber nicht besser geworden; die Weintrauben sind nichtreicher als früher; es sind keine Himmel auf die Erde gekommen. —Alle die Leute, die so reden, verstehen nicht, was gemeint ist. Was derChristus Jesus gemeint hat, was Johannes gemeint hat, das war schongekommen: die Reiche der Himmel waren schon auf die Erde herab-gekommen, indem der Christus selber sich in dem Jesus von Nazarethverkörpert hatte. Der Vorgang ist durchaus als ein geistiger aufzu-fassen.

Aber ein Initiierter wie Nero, der wußte das auch aus den Myste-rien heraus; er lehnte sich dagegen auf. Der kam wirklich zu der Wahn-idee, daß er sich sagte: Nun ja, die Welt ist im Niedergang, so soll sieauch untergehen! - Und das ist eigentlich der psychologische Grund,warum der Nero Rom hat anzünden lassen — was er wirklich getanhat -, weil er wenigstens das Schauspiel haben wollte, daß von da ausder Feuerbrand komme, der die ganze Welt verbrennt. Denn er hieltnichts mehr von dieser Welt. Er wollte die Erneuerung nicht zulassen,die durch das Mysterium von Golgatha kam. Nur war er, wenn erauch ein Wahnsinniger war, doch ein Genie. Durch seine Machtfüllehatte er sich seine Initiation erzwungen, daher waren alle die Ideengroß bei ihm, größer als sie bei anderen sind, die nicht diese Vorbe-dingung hatten. Daher ist Nero auch in einem gewissen Sinn der erstePsychoanalytiker, aber ein großzügiger, nicht ein Psychoanalytikerwie diejenigen, die Freud oder anders heißen. Denn Nero vergöttertedas Leibliche, indem er wirklich wie der Psychoanalytiker aus dem Un-terbewußten das Geistig-Seelische heraufholen wollte. Der heutige

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Psychoanalytiker sagt: Was ist denn da unten in der Seele? Enttäu-schungen, allerlei verglommenes Leben und so weiter -, und dann sagter: Der animalische Grundschlamm der Seele ist da unten, viel Schö-nes ist da unten nicht. — Wenn man heute den Psychoanalytiker hört,so ist es so, wie wenn ein Mensch einen Acker beschreibt, der eben ge-düngt worden und dann bebaut worden ist mit den Saaten für dienächste Zeit, aber der Mensch sieht nur den Dünger, den Mist. So siehtder Psychoanalytiker nur das in der Seele, was wirklich Mist ist, ver-gleichsweise gesprochen, selbstverständlich. Er sieht nicht das Ewige inder Seele, das, was von Leben zu Leben geht. Daher ist die Psycho-analyse so gefährlich, weil sie zwar zu dem Unterbewußten hinunter-geht, aber statt des seelisch-geistigen Wesenskernes den animalischenGrundschlamm sieht, wie wenn man nicht die keimende Saat, sondernnur den Mist sieht. Nero war ein großer Psychoanalytiker, indem ersagte: Im Menschen ist überhaupt nichts anderes als der animalischeGrundschlamm, alles andere ist einfach Schein; früher war es anders,als die Menschen noch dem Göttlichen nahe waren, aber jetzt bestehtder Mensch nur noch aus diesem animalischen Grundschlamm, es gibtauch nicht einen kleinsten Teil, der keusch ist, alles ist verlottert imMenschen -, so sagte Nero. Man sieht daraus, man fühlt gerade beidenjenigen, die auf diese Weise sich die Initiation erzwungen hatten,das Materialistisch werden der Welt. Man übersetzte ja überhaupt dasalte, spirituelle Initiationsprinzip in diesen Kreisen recht ins Mate-rielle. Als Commodus, der sich nicht nur zum Initiierten, sondern zumInitiator machte, einem, den er selbst zu initiieren hatte, den symboli-schen Schlag geben wollte, da schlug er ihn gleich tot. Statt ihn demgeistigen Tod, das heißt der Auferweckung zu überliefern, schlug erihn tot! So Commodus, der Initiator. Es ist das eine historische Tat-sache.

Dasjenige, was eingetreten war in diesem vierten Zeitraum, ist ebendas Mysterium von Golgatha. Und da nun nicht mehr vom Äußer-lich-Stofflichen das Geistige kommen kann, so muß das Geistige wie-derum erobert werden. Der Aufstieg im Inneren hat einen Impuls be-kommen durch das Mysterium von Golgatha. Aber wir leben im fünf-ten Zeitraum, wo diese Eroberung noch nicht weit gediehen ist, wo

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gerade jene Kräfte, die in der Römerzeit so grotesk hervortreten, nochstark in den Menschen sind und gegen den Impuls des Aufstiegeskämpfen, der durch das Mysterium von Golgatha gebracht wordenist. Und so ist es denn begreiflich, daß in diesem fünften nachatlan-tischen Zeitraum hauptsächlich das Zeitalter des Materialismus in derDenkungsweise, in der Gefühlsweise heraufgestiegen ist.

Schon hat das Mysterium von Golgatha einen Anstoß gebracht, sodaß die große Verderbtheit der Römer zunächst etwas geschwundenist, aber der Mensch hat es noch nicht dazu gebracht, daß ihm auchnatürlicherweise in seiner Seele das Geistig-Seelische wiederum auf-leuchtet. Dazu bedarf es weiterer Impulse, dazu bedarf es eines inten-siveren, eines gründlicheren Bekanntwerdens mit dem Christus-Im-puls. Der muß sich immer weiter und weiter einleben. Und so stehtdenn in der fünften Kulturperiode der normale Mensch nicht der Seeleselbst gegenüber, wenn er sich erlebt. Das Verspüren, das innerlicheErleben der Seele ist für den normalen Menschen verschwunden. DerMensch empfindet sich im Erleben des Leibes, er empfindet sich alsLeib, als natürlichen Leib.

Selbsterlebnis des Leibes! Und deshalb ist insbesondere der Wissen-schaft das Seelische entschwunden und entschwindet ihr noch immermehr und mehr. Dieses Seelische muß eben von innen heraus wiederumerobert werden. Der fünfte nachatlantische Kulturzeitraum, der an-gefangen hat etwa im Jahre 1413, 1415, er steht ja erst im Anfang.Die Menschheit wird sich so in ihm weiter zu entwickeln haben, daßwirklich das Geistige immer mehr und mehr im Inneren erobert wird.Aber es macht sich das zunächst geltend gerade auf seelischem Gebietdurch eine eigentümliche Erscheinung, durch die Erscheinung, daß imMenschen selber etwas materiell auftritt, was früher nicht so mate-riell war: das Denken selber nämlich. Solch ein Denken, wie wir esim fünften Zeitraum haben, wäre schon den Griechen, erst recht denÄgyptern, Chaldäern oder den Urpersern unmöglich gewesen. Hinterden Griechen standen noch bis zu einem gewissen Grade imaginativeVorstellungen, in älteren Zeiten noch mehr; und wer Aristoteles wirk-lich lesen kann, der merkt selbst bei dem trockenen Aristoteles nochwirksame Imaginationen, weil das Denken noch mehr bewußt im

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Ätherleibe vor sich ging. Jetzt ist das Denken ganz in den physischenLeib hineingezogen, ist ganz Gehirndenken geworden, und da nimmtes denn den abstrakten Charakter an, auf den unsere Zeit so stolz ist.Das Denken, das ganz abstrakt wird, das ist das Denken, das wirklichan die Materie, an die Materie des Gehirns gebunden ist. Und diesesDenken, das zeigt sich gerade in den epochemachendsten Impulsen, diewiederum vertieft werden müssen, sonst wird das Denken immer mate-rialistischer und materialistischer. Und indem das Denken immer ma-terialistischer wird, muß auch das Leben immer materialistischer wer-den. Grundlegende Ideen — das ist das Charakteristische unserer jetzi-gen fünften Epoche, die als Impulse wirken sollen, sie wirken nur alsabstrakte Ideen.

Und es gab eine Zeit, in der die Abstraktion als Lebensprinzip anihrem Höhepunkt angelangt war. Alles ist notwendig - verstehen Siemich recht -, ich will nicht etwa in Grund und Boden kritisieren, ichspreche nicht vom Standpunkte der Sympathie und Antipathie, ichcharakterisiere, wie man wissenschaftlich charakterisiert. Ich will alsonicht tadeln - niemand soll das glauben —, daß es eine Epoche gegebenhat, in der die abstrakten Weltideen ihren höchsten Triumph gefeierthaben. Diese Epoche war damals, als man mit äußerster Abstraktiondrei Ideen aussprach: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Mit deräußersten Abstraktion sprach man sie aus. Nicht aus einem konser-vativen oder reaktionären Standpunkte ist das gesagt, sondern um dieMenschheitsentwickelung zu charakterisieren. Alles ruft nach Freiheit,Gleichheit, Brüderlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts, nicht ausder Seele, sondern aus dem denkerischen Gehirn heraus. Und das hatsich im 19. Jahrhundert so fortgebildet, daß wir es noch heute überallwie eine Gewohnheit nachklingen fühlen. Die Menschen haben sichim Laufe des 19. Jahrhunderts furchtbar an die Abstraktion des Den-kens gewöhnt und sind zufrieden in der Abstraktheit des Denkens, weilsie sich dabei so gescheit vorkommen. Sie glauben, im Denken habensie die Wahrheit und empfinden kein Bedürfnis, in die Wirklichkeitmit ihrem Denken unterzutauchen. Das muß wieder gelernt werden, indie Wirklichkeit unterzutauchen; sonst bleibt es beim Deklamieren vonabstrakten Ideen, die keinen Lebenswert haben.

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Das ist die große Krankheit unserer Zeit, das Deklamieren von ab-strakten Ideen, die keinen Lebenswert haben. Wenn heute gesagt wird,es müsse jetzt eine Zeit kommen, in der dem Tüchtigen freie Bahn ge-boten wird in der Welt, wo der Tüchtige an den rechten Platz gestelltwird, nun, was kann es denn Schöneres geben als diese Idee! Ist dasnicht ein wunderbares Ideal: Freie Bahn dem Tüchtigen! - Man glaubtzuweilen aus der heutigen materialistischen Zeit heraus, indem man einsolches Ideal ausspricht, die ganze Zukunft in seiner Brust zu tragen.Was hilft aber ein solches abstraktes Ideal, wenn es dabei bleibt, daßman seinen Schwiegersohn oder seinen Neffen für den Tüchtigsten hält?Es kommt gar nicht darauf an, daß man ein abstraktes Ideal anerkennt,ausspricht und deklamiert, sondern darauf, daß man mit seiner Seele indie Wirklichkeit einzutauchen vermag, und die Wirklichkeit in ihrerWesenheit zu durchschauen, zu erkennen, zu durchdringen, zu erleben,zu bearbeiten versteht. Schöne Ideen aussprechen und sich wohltunim Aussprechen schöner Ideen wird sich immer mehr und mehr alsschädlich erweisen. Liebe zur Wirklichkeit, Erkenntnis, Anpassen andie Wirklichkeit, das ist dasjenige, was in unsere Seele einziehen muß.Das kann aber nur geschehen, wenn die Menschen wiederum lernen,die ganze Wirklichkeit - denn die sinnliche Wirklichkeit ist nur dieäußere Schale der Wirklichkeit — zu erkennen. Wenn derjenige, dereinen Magneten in Hufeisenform sieht, sagt: Damit beschlägt man ambesten den Huf eines Pferdes -, hat er da die ganze Wirklichkeit? Nein,erst wenn er erkennt, daß da drinnen in dem Eisen Magnetismus ist,erst dann hat er die ganze Wirklichkeit. Aber wie der handelt, der miteinem Magneten nichts anderes zu tun weiß, als ein Pferd zu beschla-gen, so ist auch der, der eine äußere Naturwissenschaft oder Staats-wissenschaft begründen will unter der Voraussetzung, daß alles nursichtbare Welt ist und mit Vorstellungen begriffen werden kann, dieaus der sichtbaren Welt entlehnt sind. Das gehört eben zur äußerstenAbstraktion, zur Schädlichkeit der abstrakten Ideale. Und man er-kennt diese Schädlichkeit nicht, weil die Ideale wahr sind, weil sie auchgut sind, aber sie sind wirkungslos. Sie dienen nur dem menschlichenErkenntnisegoismus, der Wollust dabei empfindet, in solchen Idealenzu leben. Aber damit wird keine Welt regiert. Damit wird höchstens

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eine Welt regiert, wie sie geworden ist in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts.

Man muß schon solchen Empfindungen sich hingeben, wenn manunsere Zeit tiefer verstehen will. Lebendig muß in dem Menschen wer-den das seelische Leben, das so allmählich, wie ich das beschriebenhabe, herausgegangen ist aus unserer Umwelt, aus unserer angeschautenUmwelt. Die Ideen müssen wieder konkret, wieder lebendig werden.Brüderlichkeit ist eine schone Idee, als Abstraktion ausgesprochen be-deutet sie gar nichts. Weiß man erstens, daß das menschliche Seelen-wesen im Leibe, durch den Leib, auf dem physischen Plan hier lebt,also leiblich-seelisch, seelisch-leiblich ist, weiß man zweitens, daß derMensch nicht nur seelisch-leiblich, sondern wirklich Seele ist, weiß mandrittens, daß die Seele geisterfüllt ist, kennt man also die Seele als drei-gliederig und den Menschen als dreigliederig, kennt man den Menschenin seiner Zusammensetzung aus Leib, Seele und Geist: dann hat manden Anfang damit gemacht, die abstrakten drei Ideen von Brüderlich-keit, Freiheit und Gleichheit konkret werden zu lassen. Vom Menschenim allgemeinen, von diesem abstrakten Menschen zu sagen, er solle inBrüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit leben, ist gar nichts als einWortschwall. Notwendig ist, eine lebendige Erkenntnis davon zu er-werben, daß der Mensch, insofern er im Leibe in der physischen Weltlebt, eine soziale Ordnung braucht, die auf Grundlage der wirklichenBrüderlichkeit begründet ist, daß aber Brüderlichkeit nur verstandenwerden kann, wenn man die Menschen als Leib betrachtet. Das ist derBeginn der richtigen Idee von der Brüderlichkeit. Brüderlichkeit hatnur einen Sinn, wenn man weiß, daß der Mensch eine Dreiheit ist unddie Brüderlichkeit anwendbar ist auf das Leibliche. Freiheit: Dazumuß man wissen, daß der Mensch eine Seele hat, denn die Leiber kön-nen nie frei werden. Es gibt keine Einrichtung, wodurch die Leiberfrei werden; die Entwickelung der Menschheit kann nur so sein, daßdie Seelen frei werden. Freiheit, als allgemeine Menschheitsidee aus-gesprochen, ist eine Abstraktion. Freie Seelen zu den brüderlich le-benden Leibern ist eine konkrete Idee. Gleich sind die Menschenim Geiste. Ein altes Volkswort war sich dessen sogar bewußt: Nachdem Tode werden alle gleich. - Man sah dabei auf den Geist. Indem

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die Menschen als Geister leben, sind sie hier für die Erde gleich, abervon Gleichheit zu sprechen hat nur einen Sinn, wenn man von diesemdritten Gliede des Menschen, vom Geiste spricht. Lebendig muß es wer-den, meine lieben Freunde, so daß man sagt: Dasjenige, was hier aufder Erde in irgendeiner Ordnung herumwandelt, lebt in Leib, Seeleund Geist. Die Entwickelung muß so fortschreiten, daß die Leiber inBrüderlichkeit, die Seelen in Freiheit, die Geister in Gleichheit leben. Esreicht heute nicht die Zeit, die Sache weiter auszuführen, aber Sie wer-den heute schon den ganz erheblichen Unterschied merken zwischenabstrakten Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit und denvon Erkenntnis durchdrungenen konkreten Ideen, die dann auf dasRichtige angewendet sind.

Aber worauf beruht denn das ganze, daß man so abstrakt gewor-den ist? Nun, es ist ja der Menschheit dasjenige ganz verlorengegangen,was verhältnismäßig spät noch eine Mysterienwahrheit war: daß derMensch besteht aus Leib, Seele und Geist. Bei den Griechen war es nochallgemein, den Menschen als Leib, Seele und Geist anzusehen. Bei denersten Kirchenvätern war es noch eine Selbstverständlichkeit. Das-jenige, was im Niedergang der menschlichen Entwickelung lag, dieeinen Aufstieg aus dem Christus-Prinzip wiederum braucht, das wurdeim Jahre 869 durch das Konzil zu Konstantinopel dogmatisch festgelegt,indem der Geist abgeschafft worden ist. Verzeihen Sie, daß ich das sogrotesk ausdrücke. Es ist ja nur äußerlich dasjenige konstatiert worden,was im Menschheitsbewußtsein auftrat durch die Verhältnisse, die ichgeschildert habe. Seit jener Zeit durfte man nicht mehr in der Theologielehren: Der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist -, sondern manmußte lehren: Der Mensch besteht nur aus Leib und Seele -, wie es heutedie Philosophieprofessoren noch lehren. Und wenn so ein guter Wundtoder ein anderer Philosophieprofessor unseres heutigen Zeitalters ei-gentlich noch keine Ahnung davon hat, daß der Mensch eine Drei-heit ist, sondern immerfort redet von Leib und Seele, so weiß er garnicht, daß er nur die Anordnungen des Konzils von Konstantinopelvom Jahre 869 befolgt. Er weiß gar nicht, daß seine Lehre nur eineNachbildung dieses Konzilsbeschlusses ist. Ja, diese «voraussetzungs-lose» Wissenschaft, die hat manchmal, wenn man genauer ihre Ent-

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wickelungsgeschichte kennt, ganz merkwürdige Voraussetzungen. Dievoraussetzungslose Wissenschaft unseres jetzigen Zeitalters in der Phi-losophie ist nämlich gar nicht zu denken ohne das Konzil zu Konstan-tinopel, nur wissen es die Herren nicht.

Dasjenige, was da verdunkelt worden ist, daß der Mensch aus Leib,Seele und Geist besteht, das muß durch Geisteswissenschaft wieder ge-wonnen werden. Daher mußte mit vollem Bewußtsein gleich das erste,was ich versuchte symptomatisch geltend zu machen gerade in unserermitteleuropäisch, anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft,struktural durchdrungen sein, in dem Buche «Theosophie» nämlich,von der Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist. Darauf istdas ganze Buch aufgebaut. Das mußte radikal immer wieder und wie-derum vor die Menschheit hingestellt werden; damit hatte sie aus derEntwickelung heraus den dreigliederigen Menschen.

Sie sehen, wie bis ins einzelne herein, wenn man auf dem Boden derGeisteswissenschaft steht, sich alles rechtfertigt, wie aber auch Geistes-wissenschaft dazu geeignet ist, uns solche Vorstellungen, solche Ge-fühls- und Willensimpulse zu geben, die uns zu wirklichen Mitarbei-tern machen können im rechten Fortgang der neueren Menschheits-entwickelung. Und ich möchte immer, daß ich eine Empfindung davonhervorrufen könnte, daß Geisteswissenschaft nicht eine Theorie, nichteine Lehre bleiben darf, daß sie nicht etwas bleiben darf, was man soals eine Wissenschaft pflegt, sondern was wirklich lebendiges, inneresSeelenleben werden kann. Dieses erscheint mir viel wichtiger als diebloße Bereicherung mit Begriffen, die ja selbstverständlich auch not-wendig ist, denn wenn etwas belebt werden soll, so muß es zuerst be-griffen sein. Wir müssen die Begriffe in uns haben, aber die Begriffedürfen nicht tot bleiben, sondern sie müssen lebendig werden. Geistes-wissenschaft wirkt dann schon von selber so, daß wenn sie real er-faßt wird, sie den ganzen Menschen anregt. Aber dann ist es auch not-wendig, daß der ganze Mensch versucht, sie empfindend und willent-lich zu verstehen. Wenn aber der ganze Mensch diese Geisteswissen-schaft empfindend und willentlich versteht, dann kann er entsprechendin ihr leben. Da darf ihm aber die Liebe niemals ausgehen zu der wirk-lichen Erkenntnis und zu der sich fortentwickelnden Menschheit. Ge-

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rade diese Liebe ist in unserer Zeit noch ein zartes Pflänzchen. Undbegreiflich ist es ja, wenn es auch unendlich traurig ist, wenn auf demGebiet der geisteswissenschaftlichen Bewegung, wie wir sie auffassen,dadurch daß persönliche Interessen manchmal nicht schöner Art daszarte Pflänzchen der Liebe zur zeitgeforderten Erkenntnis heute nochentstellen, der Haß seine Orgien gerade bei denjenigen feiert, die nichtaus lauterer Erkenntnissehnsucht an die Geisteswissenschaft heran-kommen, die so herankommen, daß, wenn einmal ihre Eitelkeit nichtbefriedigt wird, sich sogleich ihre Scheinliebe in Haß verwandelt. Dennnur wirkliche Liebe kann zum Sieger werden über den Haß, Schein-liebe ist sogar eine Erzeugerin des Hasses.

Wenn wir dies recht fühlen, dann werden wir auch zurechtkommenmit den Erscheinungen, auf die ich ja schon zweimal hingewiesen habe,mit jenen Erscheinungen, die so traurig heraufziehen über unsere An-throposophische Gesellschaft, in der wir sehen, daß die starken Hassergerade aus den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft hervor-gehen. Besiegen werden wir diese Dinge nicht, solange wir auch einPrinzip unserer materialistischen Zeit anwenden, wie wir das ja heuteso gerne tun, das Prinzip: Ich will meine Ruhe haben! - wenn man sichvor den Dingen verschließt oder die Dinge nicht beim rechten Namennennen will. Wenn jetzt Schmähschriften zahlreich erscheinen, so istnichts getan, wenn man diese Schmähschriften so ernst nimmt, daßman die einzelnen Sätze widerlegt. Denn solchen Herren, wie die,welche jetzt schreiben, kommt es nicht darauf an, ob sie das oder jenesals Satz aufstellen. Solch einem Herrn zum Beispiel, der zurückge-wiesen werden mußte, als er eine Schrift einreichte, die nicht bei unsverlegt werden konnte, der dadurch in seinem Ehrgeiz sich gekränktfühlte, der, während er unserer Anthroposophischen Gesellschaft bisdahin nachgelaufen ist, dann nachher zum Feinde wurde, dem mußman sagen: Was du schreibst, ist einfach Unsinn, du weißt es selberbesser; du schreibst das alles aus dem Grunde, weil deine Schrift zu-rückgewiesen worden ist. — Das ist die Wahrheit. Wenn man der Gei-steswissenschaft zu dienen versteht, kommt es nicht darauf an, daß manalle diese Dinge als Erfindung und Erdichtung im einzelnen widerlegt,sondern daß man denjenigen in seinem wahren Lichte zeigt, der zum

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Schein der geisteswissenschaftlichen Bewegung angehört hat und dannnachher solche Dinge treibt, wie sie jetzt viele zu treiben anfangen,und die noch mehr werden getrieben werden.

Oder es ist einer da - wie ich Ihnen vor einigen Tagen erzählthabe -, der ein großer Maler werden wollte, es aber auf dem Wege ver-suchte, daß er gebettelt hat, lernen zu dürfen; als man sich aber alleMühe gab, ihn vorwärtszubringen, wollte er alles besser wissen. Ermeinte, man werde nicht ein großer Maler, indem man lernt, sondernindem man erklärt, man wäre ein Genie! Wenn man dann das Mal-heur hat, das nicht zu werden, und, trotzdem man Lehrer beschafftbekommt, nicht malen lernen kann, sondern nur kleckst, und wennandere nicht in der Lage sind, die Klecksereien als große Malereien an-zuerkennen, dann kommt man und sagt: das sei Schuld der Übungen.Einen solchen Menschen kuriert man in der richtigen Weise, indemman die Wahrheit sagt. Es darf nicht aussehen, als ob die Geisteswis-senschaft gefährdet wäre und die Dinge nicht zurechtgewiesen werden.

Die Dinge erfüllen sich schon karmisch. Es sollte schon auch inmancher anderen Einzelheit das Richtige in unseren Kreisen geschehen,wie es auf prinzipiell wichtigem Punkte geschehen ist. Denken Sie ein-mal darüber nach, daß seit 1911 alle Fäden mit der TheosophischenGesellschaft der Mrs. Besant durchschnitten worden sind, und daß derKrieg Englands gegen Deutschland erst 1914 begonnen hat. Das istetwas, wo gesagt werden darf: Prophetisch hat die AnthroposophischeGesellschaft gehandelt. - Es wird im allgemeinen viel geschmäht —das ist selbstverständlich nichts, was gegen das englische Volk gerichtetist, sondern gegen die Schmähenden, die heute das Nationalitätsprin-zip in dieser Weise mißbrauchen -, aber so wider alles bessere Wissen,wie Mrs. Besant unsere Anthroposophische Gesellschaft und michschmäht, ist das Schmähen doch eine Seltenheit. Und nachdem wirdas Buch «Die großen Eingeweihten» zuerst in Deutschland populärgemacht haben, wir Schures Stücke aufgeführt haben, müssen wir nun-mehr auch erleben, daß wir von Schure in der unmöglichsten Weiseangegriffen werden. Das sind Dinge, die sich gewissermaßen mehr inden Weiten abspielen. Aber auch in der Enge bilden sich allmählichdie Feinde heraus.

17 257Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 174b Seite: 257

Ein wenig Voraussicht muß sich der Anthroposoph aneignen undein wenig Wille zum Sehen dessen, was vorgeht, dessen, was kommenwird. Man eignet sich diese Voraussicht an, wenn man dasjenige, wasauch in richtiger Weise als Devise, als Motto vorangesetzt worden istunserer Anthroposophischen Gesellschaft «Die Weisheit liegt nur inder Wahrheit», ernst nimmt. Derjenige, der dies tief genug zu fassenvermag «Die Weisheit liegt nur in der Wahrheit», der wird die richtigeStellung einnehmen.

Damit, meine lieben Freunde, muß ich mich Ihnen für diesmal emp-fehlen. Ich hoffe, daß unser diesmaliges Zusammensein der Ausgangs-punkt sein kann eines guten Miteinanderarbeitens im Geiste, wenn wirauch physisch nicht beisammen sein können. Versuchen wir in demGeiste unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zudenken, zu empfinden und zu wollen, dann werden wir richtig zu-sammen arbeiten.

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ZWÖLFTER VORTRAG

Stuttgart, 23. Februar 1918

In kaum einer Zeit der Menschheitsentwickelung war es so notwendigwie in dieser gegenwärtigen, sich in die Rätsel des übersinnlichen Le-bens zu vertiefen, wenn auch kaum eine Zeit so viel Ablehnung hattegegen dieses Vertiefen in die übersinnlichen Probleme wie wiederumdiese gegenwärtige. Gerade die scheinbar entlegensten Fragen müssender heutigen Menschenseele ganz besonders naheliegen. Und so lassenSie uns heute zunächst dasjenige betrachten, was die materialistischeGesinnung der Gegenwart glaubt, dem menschlichen Bewußtsein mög-lichst fernrücken zu müssen, was aber doch dem Menschenleben un-endlich nahe ist. Und zu wissen, daß das Gemeinte dem menschlichenLeben unendlich nahe ist, das gehört eben zu den besonderen Aufgabenunserer Zeit. Wir wollen von uns gut Bekanntem mit ein paar Bemer-kungen ausgehen, um uns einen Stoff, den wir auch schon Öfters vondiesem oder jenem Gesichtspunkte aus betrachtet haben, heute wie-derum von einem anderen Gesichtspunkte aus nahe zu führen.

Wir wissen ja alle, daß es für die geisteswissenschaftliche Betrach-tung eine besondere Bedeutung hat, das gesamte menschliche Lebennach seinen zwei großen Gegensätzen, die in den Alltag hineinspie-len, immer wieder und wiederum zu betrachten, es zu betrachten nachder besonderen Wesenheit der abwechselnden Zustände des Schlafensund des Wachens. Gerade diese polarischen Gegensätze von Schlafenund Wachen haben wir ja von den verschiedensten Gesichtspunktenaus immer wieder und wiederum durch unsere geisteswissenschaftlicheUntersuchung ins Auge fassen müssen.

Nun ist Ihnen ja schon aus den verschiedensten Mitteilungen be-kannt daß diese Unterscheidung, wie man sie gewöhnlich macht zwi-schen Schlafen und Wachen, wonach sich das menschliche Leben ebenso einteilt, daß man etwa zwei Drittel oder mehr des Tages im wachenBewußtsein lebt - oder auch weniger - und ein Drittel in dem schla-fenden Bewußtsein verbringt, eine zunächst nur äußerliche und ober-flächliche Betrachtung ist. Auch wenn man die Sache, so wie sie un-

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mittelbar in dieser Art gegeben ist, weiter ausführt, um hinter den Cha-rakter des Schlafens und Wachens zu kommen, bleibt sie doch gegen-über den Tiefen, die hier erreicht werden können, für geisteswissen-schaftliche Anschauungen noch immer etwas oberflächlich. Denn wirmüssen uns klar sein darüber, daß der Schlafzustand nicht nur dannin unserem Seelenleben vorhanden ist, wenn wir im oberflächlichenSinne schlafen, nicht nur in der Zeit, die zwischen Einschlafen undAufwachen vergeht, sondern daß unsere Seele den Schlafzustand ineinem gewissen Grade auch hineinträgt in den sogenannten Wach-zustand. Wir sind ja eigentlich in Wahrheit auch dann, wenn wir fürdas gewöhnliche Bewußtsein wachen, nur zum Teil wach. Wir sind indiesem gewöhnlichen Bewußtseinszustand niemals vollständig wa-chend. Und wenn wir uns vom geisteswissenschaftlichen Gesichts-punkte aus fragen: Inwiefern sind wir vollständig wach? - so müssenwir uns die Antwort geben: Wach sind wir mit Bezug auf alles das-jenige, was wir Wahrnehmung der äußeren Sinneswelt nennen sowieVerarbeitung dieser Wahrnehmungen der äußeren Sinneswelt durchdie Vorstellungen. In unserem Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben,in unserem Denkleben also sind wir zweifellos wach. Wir würden garnicht darauf kommen, von unserem Wachzustand zu sprechen, wennwir nicht eben als solchen Wachzustand bezeichnen wollten eine ge-wisse innere Seelenverfassung, die vorhanden ist, wenn wir die äußereWelt wahrnehmen im vollbewußten Zustand und über sie denken, übersie Vorstellungen bilden.

Aber wir können nicht sagen, daß wir für unser Gefühlsleben indemselben Sinne wach sind wie für unser Wahrnehmungs- und Vor-stellungsleben. Es ist nur eine Täuschung, wenn der Mensch glaubt, daßer mit Bezug auf sein Gefühlsleben, sein Affektleben, sein Emotions-leben so wach ist vom Aufwachen bis zum Einschlafen, wie er es istin bezug auf sein Wahrnehmen und Denken oder Vorstellen. Wer sichdieser Täuschung hingibt, der tut das deshalb, weil wir ja unsere Ge-fühle immer mit Vorstellungen begleiten. Wir stellen uns nicht nurdie äußeren Dinge vor, stellen uns nicht nur Tisch und Stuhl undBaum und Wolke vor, sondern wir stellen uns auch unsere Gefühlevor; und indem wir uns unsere Gefühle vorstellen, wachen wir in den

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Vorstellungen der Gefühle. Aber die Gefühle selbst wogen aus unter-bewußten Seelentiefen herauf. Für den, der die inneren Seelenvorgängebeobachten kann, wogen die Gefühle, die Affekte, die Emotionen, auchdie Leidenschaften nicht in einer größeren inneren Wachheit heraufals die Eindrücke des Traumes. Die Eindrücke des Traumes sind bild-haft. Wir wissen sie ganz genau zu unterscheiden für das gewöhnlicheBewußtsein von den äußeren Wahrnehmungen. Unser Bewußtsein istden wirklichen Gefühlen gegenüber nicht wacher als dem Traume ge-genüber. Würden wir zu jedem Traum gleich beim Erwachen, ohnedaß wir zwischen dem Traume und der Vorstellung des Traumes un-terscheiden könnten, ebenso eine Vorstellung hinzufügen, wie wir zuunseren Gefühlen einen Gedanken, eine Vorstellung immer hinzufü-gen, so würden wir auch unsere Träume für Inhalt eines wachen Er-lebens halten. An sich selbst sind unsere Gefühle nicht in einem wa-cheren Zustand erlebt als unsere Träume.

Und noch weniger werden unsere Willensimpulse in einem Wach-zustand erlebt. Mit Bezug auf den Willen schläft der Mensch fort-während. Er stellt sich etwas vor, wenn er etwas will; er hat eine Vor-stellung, wenn er - nehmen wir einen einfachen Willensimpuls -, umetwas zu ergreifen, die Hand ausstreckt. Aber was da eigentlich vor-geht im Seelenleben und im Leibesleben, wenn wir eine Hand aus-strecken, um irgend etwas heranzuziehen, das bleibt so im Unbewußtenwie der traumlose Schlaf. Während wir unsere Gefühle verträumen,verschlafen wir in Wirklichkeit unsere Willensimpulse. Als Gefühls-mensch träumen wir, als Willensmensch schlafen wir auch im soge-nannten Wachzustand, so daß wir eigentlich auch dann, wenn wir imWachzustand sind, also vom Aufwachen bis zum Einschlafen, nur mitder Hälfte unseres Wesens wach sind, während wir mit der anderenHälfte unseres Wesens fortschlafen. Wir wachen in bezug auf unsereWahrnehmungen und auf unser Gedankenleben, wir schlafen und träu-men fort mit Bezug auf unser Willensleben und unser Gefühlsleben.Solche Dinge lassen sich kaum durch Stärkeres beweisen, erhärten, alsdurch dasjenige, was jetzt eben schon andeutend gesagt worden ist.Denn daß man solche Dinge anerkennt, das hängt davon ab, ob mandas Seelenleben richtig beobachten kann. Wer dieses Seelenleben rieh-

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tig beobachten kann, der wird unbedingt die innere seelische Gleich-heit von Gefühlen, Affekten, Leidenschaften und Träumen herausfin-den. Es gibt eine sehr schone Abhandlung von Friedrich TheodorViseber, dem ja besonders in dieser Stadt sehr bekannten sogenanntenV-Vischer, über die «Traumphantasie», worin er diese richtige Beob-achtung von der Verwandtschaft des Gefühls-, des Leidenschaftsle-bens mit der Traumwelt in sehr schöner Weise hervorgehoben hat.

Wir gehen also auch wachend durchs Leben, indem wir nicht nurumgeben sind von der Welt, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen,von der Welt, die wir denken, sondern indem wir umgeben sind voneiner Welt, von der wir eigentlich in unseren Gefühlen nur träumenkönnen, von der wir, als mit unseren Willensimpulsen drinnenstehend,nicht mehr erleben, als wir von unserer Umgebung im Schlafe erleben,nämlich eigentlich nichts. Aber eine Welt, von der man schlafend nichtserlebt, ist doch eben um uns herum. So wie die Tische und Stühle unddie anderen Gegenstände in dem Zimmer sind, in dem ein Schlafenderist, der aber von ihnen, während er schläft, nichts weiß, so weiß derMensch nichts von derjenigen Welt, aus der seine Gefühls- und Wil-lensimpulse kommen, weil er mit Bezug auf diese Welt fortwährendschläft. Nun ist aber gerade diese Welt, mit Bezug auf welche wir sofortwährend schlafen, diejenige, die wir gemeinsam haben mit Men-schenseelen, die nicht mehr im Leibe verkörpert sind.

Wir haben von den verschiedensten Gesichtspunkten aus versucht,geisteswissenschaftlich die Brücke zu schlagen zwischen den sogenann-ten Lebenden und den sogenannten Toten. Wir können diese Brückevorstellungsgemäß auch schlagen, indem wir uns bewußt werden, daßwir mit den im physischen Leibe verkörperten Menschen, weil dieseunserem Wahrnehmungsvermögen und unserem Gedankenieben zu-gänglich sind, in unserem gewöhnlichen Wachzustand verbunden sind.Mit den sogenannten Toten sind wir im gewöhnlichen Wachzustandnicht verbunden, weil wir einen Teil der uns umgebenden Welt ja fort-während verschlafen. Würden wir eindringen in diese Welt, die wirso verschlafen, so wären wir nicht mehr getrennt von der Welt, inwelcher der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt lebt.So wie wir umgeben sind von der Luft, so sind wir umgeben von der

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Welt, in der der Mensch sich zwischen dem Tod und einer neuen Ge-burt befindet, nur wissen wir von dieser Welt nichts, eben aus demangeführten Grunde: weil wir sie verschlafen. Das hellsichtige Be-wußtsein, in der Art, wie wir es öfters charakterisiert haben, führt da-zu, diese Welt, die sonst verschlafen wird, anzuerkennen, diese Welt,in der der Mensch sich befindet zwischen dem Tode und einer neuenGeburt. In diese Welt so einzudringen, daß man zu einer gewissen Si-cherheit darüber kommt, daß die eigene Seele durch des Todes Pforteseelisch lebendig geht, um in eine andere Welt einzutreten und in einemneuen Erdenleben wiederzukehren, das ist ja verhältnismäßig nichtschwierig, wenn man sorgfältig dasjenige auf die Seele wirken läßt, wasin dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»oder in ähnlichen Büchern enthalten ist.

Schon viel schwieriger ist es, in diese Welt, die der Mensch durch-lebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, so einzudringen, daßkonkrete, bestimmte Beziehungen sich herstellen können zwischen demMenschen hier im physischen Leibe und konkreten Toten. Diese Be-ziehungen, sie sind in einer gewissen Weise immer da, wenigstens zwi-schen gewissen Lebenden und gewissen Toten. Aber gerade in dem,was ich heute schon gesagt habe, kann man die Gründe sehen, weshalbsich der Mensch nicht bewußt ist, daß Beziehungen zwischen ihm undgewissen sogenannten Toten immer vorhanden sind. Und gerade das-jenige, was das schauende Bewußtsein erlebt, wenn es sich in Bezie-hung bringen kann zu einzelnen Toten, gerade das kann uns Belehrungdarüber bringen, warum der Mensch im gewöhnlichen Wachbewußtseinnichts kennenlernt von seinen Beziehungen zu den Toten, die als wirk-liche Beziehungen, wie gesagt, immer vorhanden sind. Man muß, wennsolche bewußten Beziehungen hergestellt werden sollen zwischen demschauenden, dem aufwachenden Bewußtsein und gewissen Toten, sichgewisse Seelenerlebnisse aneignen, die ganz anders sind als die Seelen-erlebnisse, an die wir uns einmal im Wachbewußtsein gewöhnt haben.Gerade auf diesem Gebiet zeigt es sich, wie man alle Gewohnheiten,die man ausgebildet hat für das Erkennen der physischen Umwelt, ab-legen und durch andere ersetzen muß, wenn man mit schauendem Be-wußtsein in die konkrete geistige Welt eindringen will. Wenn der

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Schauende einem ganz bestimmten einzelnen sogenannten Toten ge-genübersteht, dann kann er sich allerdings mit ihm richtig verständi-gen, aber er muß eben über gewisse Seelengewohnheiten hinauskom-men. Die Art, wie man in einem solchen Falle seelisch erlebt, ruft indem, dem solche Vorstellungen ganz ungewohnt sind, naturgemäß Be-fremden hervor.

Indem wir hier in der physischen Welt einem anderen Menschengegenüberstehen und uns mit ihm besprechen, ist es so, daß wir wissen:Wenn wir zu dem anderen Menschen etwas sagen, dann kommt dasGesagte aus unseren eigenen Stimmorganen, es strahlt gewissermaßenvon uns aus und geht zu dem anderen hin. Und wenn er uns antwortetoder uns wiederum etwas mitteilt, so strahlt das von seinen Stimmor-ganen aus und strahlt zu uns herüber. - Ganz anders ist es, wenn mankonkrete Beziehungen zwischen dem schauenden Bewußtsein und ei-nem ganz bestimmten Toten hat. Da ist es so, daß man sich vollständigumgewöhnen muß. Wenn wir selbst dem Toten etwas mitteilen, wennwir den Toten fragen, wenn wir ihm etwas sagen, dann müssen wir -so sonderbar das klingt - uns die Fähigkeit angeeignet haben, daß das-jenige, was wir selbst sagen, uns von ihm entgegenkommt, daß es vonihm ausgeht und zu uns herstrahlt. Wir müssen in der Lage sein, umeinem Toten eine Mitteilung machen zu können, daß wir uns selber soausschalten und so in ihm leben, daß er eigentlich dann spricht, wennwir ihn fragen, wenn wir ihm eine Mitteilung machen. Und wiederum,wenn er uns antwortet, wenn er uns eine Mitteilung machen will, danndringt das aus unserer eigenen Seele heraus, dann kündigt das sich soan, daß wir wissen: von uns strahlt es gewissermaßen aus. Also wirmüssen uns völlig wenden, umkehren, wenn wir in ein reales Verhält-nis zu einem konkreten Toten kommen wollen. Das ist, wenn es sichauch in einfacher Weise charakterisieren läßt, im seelischen Erlebeneine außerordentlich schwierige Sache. Sich geradezu entgegengesetztzu verhalten zur Umwelt, als man es gewohnt ist in der physischenWelt, das eignet man sich außerordentlich schwer an. Ein echter Ver-kehr mit den sogenannten Toten ist aber nur unter diesen Vorausset-zungen möglich.

Wenn Sie aber andererseits dies bedenken, daß man innerlich voll-

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ständig umlernen muß, so werden Sie begreifen, daß Beziehungen immerda sein können zwischen den sogenannten Lebenden und den sogenann-ten Toten, daß aber die sogenannten Lebenden wenig Neigung zeigenwerden, diese Beziehungen anzuerkennen. Denn die Lebenden sind ge-wöhnt — und eine solche Gewöhnung bedeutet mehr, als man gewöhn-lich denkt —, wenn sie selber etwas sagen, es von sich ausstrahlendwahrzunehmen; wenn der andere etwas sagt, es von dem anderen aus-strahlend wahrzunehmen. Und wer ganz eingerostet ist in die Vor-urteile der physischen Welt, der wird von vorneherein so etwas, wieich es jetzt ausgesprochen habe, selbstverständlich ganz töricht findenmüssen. Aber es ist einmal so: In die geistige Welt kann man nicht ein-dringen, wenn man sich nicht damit vertraut macht, daß eigentlich inder geistigen Welt vieles - ich sage vieles, nicht alles - sich gerade ent-gegengesetzt verhält zu den Gewohnheiten, die wir uns hier in derphysischen Welt angeeignet haben. Und ein so gründlich Entgegen-gesetztes ist dasjenige, was ich eben auseinandergesetzt habe. Erst wennman sich durch eine sehr intime Übung in ein solch Ungewohntes hin-eingefunden hat, kann man ein Urteil darüber haben, wie beschaffendie gewöhnlichen Beziehungen eines jeden Menschen zu gewissen To-ten sind, wie sich diese Beziehungen gestalten.

Wie gesagt, diese Beziehungen sind fortwährend vorhanden. Wirmüssen nur, wenn wir den Blick werfen wollen auf diese Beziehungen,nicht außer acht lassen, daß wir zu den gewöhnlichen polarisch ent-gegengesetzten Erlebnissen des Tages: Wachen und Schlafen -, nochzwei andere hinzuzurechnen haben, die ganz besonders wichtig sindfür die Beziehungen der sogenannten Lebenden zu den sogenanntenToten, die aber bewußt zu erleben wiederum gegen die üblichen Ge-wohnheiten des Menschen geht. Außer dem gewöhnlichen Wachenund Schlafen gibt es nämlich das Einschlafen und das Aufwachen.Diese im Augenblick vorüberhuschenden Zustände des Einschlafensund Aufwachens sind für das gesamte seelische Leben des Menschenebenso wichtig wie das langdauernde Schlafen und Wachen, aber siehuschen eben vorüber. Den Moment des Aufwachens erlebt der Menschaus dem Grunde nicht, weil ja gerade darauf das volle Erwachen folgt,und der Mensch nicht geneigt ist, so schnell wahrzunehmen, wie er

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wahrnehmen müßte, wenn er den vorüberhuschenden Augenblick desErwachens ergreifen wollte; der wird übertönt, übertäubt, durch dasnachherige Wachleben. In naiveren Menschheitsverhältnissen, wo manvon solchen Dingen manches gewußt hat, hat man auch angedeutet,was es in dieser Beziehung mit der menschlichen Seele für eine Be-wandtnis hat. Nur verlieren sich nach und nach, je mehr der Mate-rialismus fortschreitet, diese Dinge. Bei naiven, primitiven Menschenauf dem Lande draußen hört man es öfters noch sagen: Man soll, wennman aufwacht, nicht gleich ins helle Fenster schauen, man soll nichtgleich die Augen aufmachen. - Solch eine Rede geht aus einem sehrtiefen Instinkte hervor, aus dem Instinkte, nicht sogleich durch daswache Tagesleben den Moment des Aufwachens zu übertäuben, umetwas festhalten zu können von dem, was im Moment des Aufwachensda ist.

Ebenso wichtig aber ist der Moment des Einschlafens, nur schläftman meist gleich hinterher ein. Das Bewußtsein hört dann auf. Unddaher wird der Moment des Einschlafens für das gewöhnliche Bewußt-sein auch nicht in gehöriger Weise beachtet.

Gerade wichtig für die Beziehungen des Menschen, der hier in derphysischen Welt verkörpert ist, zu den Toten, erweist sich aber das-jenige, was erlebt werden kann und auch wirklich erlebt wird im Mo-mente des Einschlafens und im Momente des Aufwachens. Solche Dingekönnen ja natürlich nur beobachtet werden mit dem schauenden Be-wußtsein. Wenn aber das schauende Bewußtsein es dahin gebrachthat, solche Beziehungen zu gewissen Toten herzustellen, die nur her-gestellt werden können durch die angeführte vollständige Umwand-lung, Umgewöhnung der Seelenverfassung, dann kann es auch beurtei-len, wie die wirklichen, aber unbewußten Verhältnisse der sogenanntenLebenden zu den sogenannten Toten sind. Am günstigsten, um allerlei,was wir selber in der Seele an Beziehungen zu bestimmten Toten ent-wickelt haben, an die Toten heranzubringen, ist der Moment des Ein-schlafens. Und am günstigsten, um Antworten, um Mitteilungen vonden Toten ins physische Erdenleben hereinzubekommen, ist der Mo-ment des Aufwachens.

Sie müssen sich nicht daran stoßen, daß dasjenige, was ich jetzt ge-

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sagt habe, ja bedingt, daß der Mensch im Einschlafen irgendeine Fragean den Toten richtet, eine Mitteilung an den Toten gelangen läßt, underst im Moment des Aufwachens eine Antwort oder eine Rückmittei-lung bekommt. Mit Bezug auf die übersinnliche Welt sind die Zeit-verhältnisse ganz anders. Was durch Stunden auseinandergerückt isthier für die physische Welt, braucht nicht auch auseinandergerückt zusein im wirklichen übersinnlichen Leben. Man kann durchaus sagen:Während man hier im physischen Leben, wenn man jemand fragt, so-gleich eine Antwort erwartet, empfindet man dort das Verhältnis ge-rade so, daß, wenn man mit dem Einschlafen Fragen an den Totenrichtet, man die Antwort mit dem Aufwachen erhält. Diese Beziehungist wirklich zwischen Lebenden und Toten immer vorhanden.

Eigentlich hat jeder Mensch, der ihm zugehörige andere Menschenfür den physischen Plan dadurch verloren hat, daß sie durch die Pfortedes Todes gegangen sind, solche Beziehungen, die ihre wichtigste Ent-faltung im Einschlafen und Aufwachen erleben. Sie werden nur ausdem Grunde nicht in das Bewußtsein heraufgebracht, weil eben diesegünstigen Momente schnell vorüberhuschen und der Mensch nicht ge-wöhnt ist, das ins Bewußtsein aufzunehmen, was in diesen schnell vor-überhuschenden Momenten an seine Seele herantritt. Um das, was insolchen vorüberhuschenden Momenten an uns herankommt, festzuhal-ten, ist ja nichts geeigneter als die Beschäftigung mit den feineren, sub-tileren Gedanken der Geisteswissenschaft. Wer Geisteswissenschaftsich so aneignet, daß sie nicht ein bloßes Kopfwissen, sondern eineinnere Substanz der Seele selbst ist, etwas, das nicht nur mit Klugheit,sondern mit Liebe ergriffen wird, so daß es ganz in die Seele übergeht,wer nicht nur mit wissenschaftlicher Neugierde oder mit Wißbegierdean den Gedanken der Geisteswissenschaft hängt, sondern mit Liebeihnen nachgeht, dem senkt gerade diese Liebe in die Seele solche Kraft,daß er bei einiger Aufmerksamkeit schon nach und nach der hier an-geführten großen Bedeutung der Momente des Einschlafens und desAufwachens gewahr wird. Und je mehr Geisteswissenschaft in dieSeelen der Menschen sich senken wird, desto mehr werden die Men-schen in das reale Leben nicht nur das aufnehmen, was sie im Wachenerleben, sondern auch dasjenige, was ihnen aus einer übersinnlichen

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Welt zukommt im Einschlafen, namentlich aber im Aufwachen. Wirmüssen uns nur klar sein, daß wir solche realen Beziehungen, wie ichsie jetzt meine, eigentlich nur immer zu solchen Toten herstellen kön-nen, mit denen wir irgendwie karmisch verbunden sind. Aber wir sindmit viel mehr Seelen karmisch verbunden, als wir glauben. Für denbewußten oder unbewußten Verkehr zwischen Lebenden und Totenist allerdings die karmische Verbindung etwas so Notwendiges, wiees notwendig ist, das Auge auf ein Sinnesobjekt zu richten, um es wahr-zunehmen. Wie da die Sinnesbeziehung hergestellt werden muß, soist eine Voraussetzung für einen Verkehr zwischen Lebenden undToten, daß gewisse karmische Beziehungen zwischen ihnen herrschenoder wenigstens hergestellt werden.

Wenn wir nun den Moment des Einschlafens zunächst ins Augefassen, so ist das derjenige Augenblick, der besonders günstig ist, uman irgendeinen, der hinweggegangen ist, und der uns lieb und wertwar, der mit uns sonst karmisch verbunden war, dasjenige heranzu-bringen, was wir zu ihm an Beziehungen entwickelt haben. Der Augen-blick des Einschlafens ist dafür besonders gut. Wir entwickeln natürlichunsere Beziehungen zu den Toten, mit denen wir karmisch verbundensind, in dem wachen Tagesleben vom Aufwachen bis zum Einschlafen.Wir gedenken der Toten. Alles dasjenige, was wir in der Weise im Ver-hältnis zu den Toten denken, daß wir es etwa gerne an sie heran-bringen möchten, daß wir es ihnen gerne sagen möchten, das drängtsich dann im Moment des Einschlafens zusammen und gelangt, wennes uns auch unbewußt bleibt, für das gewöhnliche Bewußtsein, zu denToten hin. Nur ist eine gewisse Seelenverfassung für diese Mittei-lungen ganz besonders günstig, eine andere Seelenverfassung ungünstig.

Sehen Sie, ein bloß trockenes, kaltes Denken an die Toten, das istwenig geeignet, zu den Toten wirklich hinzugelangen, als Mitteilungan sie heranzukommen. Wollen wir, daß gewissermaßen der Momentdes Einschlafens wirklich ein Tor wird, durch das unsere eigenen See-lenerlebnisse, die zu den Toten Beziehungen haben, zu den Toten hin-dringen, dann müssen wir uns mit den Toten in anderer Weise wachendbeschäftigen als durch kalte, trockene Gedanken. Wir müssen versuchen,Gedanken rege zu machen, welche uns mit dem Toten, während er

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noch selbst hier unter den sogenannten Lebenden weilte, verbundenhaben. Aber wir müssen in die Gedanken dann besonders dasjenigehineinlegen, was eine gemüthafte Verbindung herstellen kann. Ingleichgültiger Weise an den Toten denken hilft nicht viel. Alles das-jenige aber, was einen gemüthaft mit ihm verbunden hält, das ist gut,sich vor die Seele zu rufen: Wie man mit dem Toten da oder dort war,wie man gerade sich mit ihm unterhalten hat, dadurch daß man füretwas, was ihn besonders interessierte, aus dem Gefühl heraus selberein reges Interesse entwickelte; oder eine Situation in sich wachzu-rufen, wie man einmal mit dem Toten zusammen war hier im Lebenund etwas, was ihm nahegegangen ist, einem auch naheging, oder um-gekehrt; wie man versucht war, etwas, was man erlebt hat, weil manden anderen gerne hatte, dem anderen mitzuteilen, um es mit ihmgemeinsam zu erleben. Nicht trockene Gedanken, sondern von Liebe,von Gemüthaftigkeit durchsetzte Gedanken! Diese Gedanken, diebleiben dann in unserer Seele bis zum Moment des Einschlafens. Undda findet sich dann das Tor, durch das sie als Mitteilung sicher zu demToten kommen.

Wir sollten uns über diese Dinge eigentlich nicht täuschen. Wirträumen von einem Toten. Wenn wir von einem Toten träumen, so istdas schon in sehr vielen Fällen - natürlich nicht in allen Fällen — her-rührend von einer realen Beziehung zu dem Toten. Aber das, was wirträumen, insofern es dem Moment des Einschlafens folgt, ist eigent-lich nur eine traumartige, bildhafte Umgestaltung desjenigen, waswir dem Toten mitteilen. Wir erleben nicht den Moment des Einschla-fens, wo wirklich solche Gedanken, wie eben charakterisiert, zu demToten hinübergehen, weil dieser Moment des Einschlafens so schnellvorüberhuscht. Aber dieser Moment des Einschlafens klingt eigent-lich nach in dem folgenden Schlafe, klingt in dem Traume aus. Wennwir die Sache richtig verstehen, so werden wir Träume von Totennicht auslegen als Botschaften von den Toten. Sie könnten es sein,werden es aber in der Regel nicht sein. Es sind halb uns zum Bewußt-sein kommende Impulse, die uns das Folgende besagen. Träumen wirvon einem Toten, so bedeutet das: Wir haben an einem vorhergehen-den Tage einen solchen Gedanken an den Toten willkürlich oder un-

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willkürlich gerichtet, wie ich ihn charakterisiert habe. Dieser Gedankehat den Weg zu dem Toten gefunden, und der Traum zeigt uns an, daßwir eigentlich zu dem Toten gesprochen haben. Das, was der Toteuns dann antwortet, was der Tote uns mitteilt, diese Botschaften vomToten, die kommen besonders leicht herein im Moment des Auf-wachens. Und sie würden sich viel leichter einstellen für die soge-nannten Lebenden, wenn diese in unserer gegenwärtigen Zeit nur über-haupt Zeit hätten, Neigung hätten, ein wenig achtzugeben auf das-jenige, was zwischen den Zeilen des Lebens aus tiefen Untergründendes Bewußtseins heraufkommt.

Ja, der heutige Mensch ist eitel und selbstsüchtig, und wenn irgendetwas in seiner Seele aufsteigt, dann ist er sich zumeist klar darüber,daß es seine Genialität ist, die das hat aufsteigen lassen. Bescheidensein, das ist ja eine ins Leben hineingestellte Ermahnung; im Innerenseines Wesens bescheiden zu sein ist für den Menschen nicht so ganzleicht. Bescheiden zu sein bedeutet auch, daß man wirklich unterschei-den lernt zwischen dem, was aus der eigenen Kraft der Seele herauf-kommt, und dem, was von fremden, übersinnlichen Impulsen aus dereigenen Seele heraufkommt. Wie derjenige, der das schauende Bewußt-sein hat, die Antwort des Toten von der eigenen Seele aus aufsteigendempfindet und wahrnimmt, so kommen diese Antworten der Toten,diese Botschaften von den Toten in der Zeit des Wachens vom Aufwa-chen bis zum Einschlafen aus den Tiefen der Seele herauf. Allein, mankann sagen: Ebensowenig wie der Mensch wahrend des Tages die Sternesieht — trotzdem sie fortwährend am Himmel stehen —, weil das Son-nenlicht sie übertönt, ebensowenig nimmt der Mensch im gewöhn-lichen Bewußtsein wahr, was da von dem Grunde seiner Seele fort-während heraufkommt, weil das äußere Leben, das durch die Ein-drücke der Sinne veranlaßt wird, das eben übertönt. Wird man intim,möchte ich sagen, mit seiner eigenen Seele bekannt, lernt man unter-scheiden dasjenige, von dem wir selbst der Ursprung sind, von dem,was als Fremdes herauftönt aus der eigenen Seele, dann lernt mannach und nach auch im wachen Tagesleben Botschaften der Totenerkennen. Dann aber verbindet man mit dieser Erkenntnis etwas außer-ordentlich Wichtiges. Dann sagt man sich: Wir sind ja eigentlich nicht

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von den Toten getrennt, die Toten leben unter uns. Sie kündigen sicheben nicht an so wie andere sinnliche Wesen, die uns von außen herihre Impulse senden, sondern sie kündigen sich von innen heraus an,sie sprechen durch unser eigenes Innere zu uns, sie tragen uns.

Allerdings, die Menschheit der Gegenwart und der nächsten Zu-kunft wird sich, so notwendig sie es hat, schwer daran gewöhnen, nichtmehr zu glauben, daß die Impulse, unter denen sie handelt, nur vonder sinnlichen Außenwelt kommen, zu erkennen, daß in dem, was wirunser soziales, unser sonstiges Leben nennen, nicht nur der sogenannteLebende lebt, sondern auch der sogenannte Verstorbene, daß die Totenimmer da sind und in uns und mit uns wirken. In mythischer Formhaben es die alten Menschen gewußt. Wenn die alten Menschen werteDahingestorbene als Stammesherren, als Ahnengötter verehrt haben,so rührte das davon her, daß die alten Menschen im atavistischen Be-wußtsein Erkenntnisse davon hatten, daß die Toten immer da sind,daß sie durch die Lebenden immer wirken. Dieses Bewußtsein mußteallerdings aus guten Gründen für die Menschheit verlorengehen, aberes muß wiederkommen! Man wird wieder wissen müssen, daß in un-serer Umgebung die Toten sind, daß durch unsere Seele die Totensprechen, daß wir Gemeinschaft mit den Toten haben. Man wird an-erkennen müssen, daß die Geisteswissenschaft gefragt werden muß,wie das Leben eigentlich beschaffen ist, und daß die äußere Wissen-schaft über das Leben irreführen muß, weil sie nicht zu unterscheidenweiß zwischen dem, was aus der sinnlichen Welt kommt, und dem,was aus der übersinnlichen Welt kommt. Unsere Geschichtsschreibungist ja im Grunde genommen allmählich zu etwas ganz grotesk Unsin-nigem geworden. Man spricht von Ideen, die in der Geschichte lebensollen, als wenn die Ideen heranflögen wie Kolibris oder andere Vögel,während in Wahrheit die Impulse, die vielfach als geschichtliche Im-pulse da sind, eben die Impulse der Toten sind.

Dieses Bewußtsein von dem Gemeinschaftsieben mit den Toten,das muß sich ausbilden. Und indem sich das Bewußtsein ausbildet,und indem dann das menschliche Seelenleben verfeinert wird durch dieBegriffe der Geisteswissenschaft, die nur dann das menschliche Lebennicht verfeinern, wenn sie theoretisch und nicht liebevoll gefaßt wer-

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den - indem das alles eintritt, werden gewissermaßen die Toten auchfür das Bewußtsein der Menschheit gegenwärtig werden. Dann wirdderjenige große Teil der Wirklichkeit, der heute unbewußt bleibt undunberücksichtigt bleibt, mitberücksichtigt werden. Man wird dannerst mit der vollen Wirklichkeit und in der vollen Wirklichkeit leben.Das ist eine Aufgabe für die Menschheit von dieser Zeit an. Denn dieMenschheit lebt gegenwärtig in einer großen Katastrophe. Die tie-feren Gründe, warum diese Katastrophe entstanden ist, sind die, daßdie Menschen verlernt haben, in der Wirklichkeit zu leben. Die Men-schen sind durch das materialistische Bewußtsein weit getrennt vonder Wirklichkeit. Sie glauben der Wirklichkeit nahe zu sein, weil sienur den einen Teil der Wirklichkeit, die sinnliche Wirklichkeit geltenlassen und das andere für einen Gegenstand der bloßen Phantastereiansehen; aber gerade dadurch trennt man sich von der Wirklichkeit,daß man die eine Hälfte der Wirklichkeit nicht anerkennt. Dadurchkommt man nicht zu eindringlichen Begriffen von der Wirklichkeit.Wenn man nur einsehen würde, daß mit so etwas, was ich eben jetztausgesprochen habe, sehr, sehr viel und wirklich Praktisches für dieGegenwart gesagt ist!

Unsere Kinder und jungen Leute lernen heute Geschichte. In derheutigen Zeit und schon seit langem haben sich die Menschen darangewöhnt, Geschichte zu lernen, das heißt das, was sie als Geschichteansehen. Aber wieviel haben die Menschen von der Geschichte ge-lernt? Nun ja, die Menschen sind heute sehr häufig aufgerufen gegen-über den Ereignissen, die als Elementarereignisse in jeder Stunde ein-treten, sich zu fragen: Was lehrt uns darüber die Geschichte? - DiePhrase kann man ja immer wieder und wiederum lesen: Aus der Ge-schichte kann man dies oder jenes lernen. - Die Menschen lernen ebennichts von der Wirklichkeit. Noch nie hatte man von der Wirklichkeitso viel lernen können wie in den letzten dreieinhalb Jahren. Aber un-zählige Menschen verschlafen diese unendlich bedeutungsvolle Wirk-lichkeit. Als diese katastrophalen Ereignisse begonnen haben, da ha-ben sich sehr gescheite Leute, die geglaubt haben, gerade von der Ge-schichte viel gelernt zu haben, darüber ausgesprochen, wie lange dieseKriegsereignisse, wie sie sie nennen, dauern könnten. Mit den Grün-

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den, die sie haben konnten, haben sie auch das belegen können, was sieausgesprochen haben; sie haben gesagt: Vier bis sechs Monate; längerkann nach den Kenntnissen, die man haben kann, diese Kriegskata-strophe gar nicht dauern. - Es waren durchaus Fachleute, die sich soausgesprochen haben. Nun, die Tatsachen kamen anders. Und manbraucht wahrhaftig kein unbedeutender Geist zu sein, um, verführtdurch das, was man in der neueren Zeit Geschichte nennt, so zu urtei-len. Ein wahrhaftig nicht unbedeutender Mensch hat im Jahre 1789seine Geschichtsprofessur an der Universität angetreten und eine An-trittsrede gehalten, in der dieser wahrhaftig gar nicht unbedeutendeMensch dazumal gesagt hat, die Geschichte lehre, es sei sehr wahr-scheinlich, daß in der Zukunft die Völker Europas zwar allerlei Hän-del miteinander haben werden, aber daß sie sich nicht mehr zerflei-schen können; dazu sei doch die Menschheit zu fortgeschritten. 1789hat ein nicht unbedeutender Mensch, hat Friedrich Schiller diesen Aus-spruch bei Antritt seiner Professur getan aus der Geschichtsbetrachtungheraus, der sich selbst Schiller hingeben konnte, mit Recht. Aber wasfolgte auf dasjenige, was Schiller da gesagt hat? Die Französische Re-volution; die großen Kriege im Anfang des 19. Jahrhunderts. Undwenn es eine Lehre der Geschichte wäre, daß die Menschen Europasals Mitglieder einer großen Familie sich niemals wieder zerfleischenkönnten, dann wären alle Ereignisse der Gegenwart erst recht un-möglich.

So sonderbar es klingt, notwendig ist es, über diese Dinge umzu-lernen. Dasjenige, was man Geschichte genannt hat, ist eben gar nichtGeschichte. Im geschichtlichen Leben der Menschen wirken die Kräftemit, die die übersinnlichen sind. In das geschichtliche Leben wirkendie Toten herein, und ein Urteil aus der Geschichte wird sich erst dannergeben, wenn dieses Urteil auf geisteswissenschaftlicher Grundlagegefaßt wird. Solange dies nicht geschieht, wird die Geschichte niemalsetwas lehren, wird die Geschichte niemals eine praktische Wissen-schaft, wird sie niemals geeignet sein, Maximen abzugeben für das-jenige, was zu geschehen hat. Daher steht der Mensch heute so hilflosden Ereignissen gegenüber, weil es notwendig ist in unserer Zeit, daßgeisteswissenschaftliche Maximen zu praktischen Lebensgrundlagen

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gemacht werden. Solange dies nicht geschieht, werden die katastropha-len Ereignisse nicht in Wahrheit überwunden werden können.

Ich habe gesagt: Besonders günstig, um an den Toten heranzukom-men, sind die Gedanken, welche aus einer Gemütsbeziehung zu demToten heraus entsprungen sind, und die so erinnert werden, daß mansich an diese Gemütsbeziehung miterinnert. Besonders günstig, umAntwort von dem Toten zu bekommen, besonders günstig dafür, daßder Tote in unser Leben hereinwirkt, ist es, wenn wir den Toten wirk-lich kennen, wenn wir die Möglichkeit haben, uns in seine Wesenheit zuvertiefen. Sich in das Wesen anderer Menschen zu vertiefen, dazu wirdauch Geisteswissenschaft die Impulse geben können. Denn heute ist esgerade durch die materialistische Seelenverfassung wenig möglich, daßsich die Menschen im Leben kennen. Sie glauben einander zu kennen,aber sie gehen nur aneinander vorbei, reden aneinander vorbei. Mankann heute dreißig oder mehr Jahre mit jemandem verheiratet sein —und ihn sehr wenig kennen. Es gehört eine gewisse Verfeinerung derSeele dazu, um das Wesen eines anderen zu kennen. Wenn man des an-deren Wesen kennen kann wie sein eigenes, dann ist die Voraussetzunggegeben, sich sein Wesen vor die Seele zu rufen. Wenn wir das Weseneines Toten, an den wir Fragen stellen wollen, uns dadurch vor dieSeele rufen, daß wir uns etwas vergegenwärtigen, was uns gemüthaftmit ihm verbindet, und sein Wesen recht lebendig uns dazu vorstellen,dann bekommen wir sicher auch Antwort; dann ist es nur an uns, dienötige Aufmerksamkeit zu entwickeln für das Zusammenspiel dessen,was wir an den Toten richten, mit dem, was sicher von dem Toten zu-rückkommt, wenn die angeführten gemütvollen Beziehungen erinnertwerden. Es ist dann möglich, daß das, was wir an den Toten heran-bringen, seine Antwort findet von dem Toten, wenn wir uns lebendigvor die Seele stellen können, was wir von seinem Wesen wirklich ver-ständnisvoll aufgenommen haben.

Über manche andere konkrete Beziehung zu den Toten kann dasschauende Bewußtsein Aufschluß geben. Ich will zunächst heute voneiner noch sprechen. Sehen Sie, diejenigen, die als unsere Angehörigenoder unsere Freunde oder sonstwie karmisch zu uns gehörige Menschendurch die Pforte des Todes gehen, sie gehen entweder als Kinder oder

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junge Menschen dahin oder als ältere Menschen. Wenn man mit demschauenden Bewußtsein beobachtet, wie die Beziehungen zu den ver-schiedenen Toten sind, so kann man in bezug auf dieses Hinweggehenin verschiedenen Lebensaltern das Folgende sagen. Wenn Kinder oderjüngere Menschen durch die Pforte des Todes gehen, so kann man dasVerhältnis, das sie zu den Zurückgebliebenen behalten, mit den Wor-ten bezeichnen: Kinder oder jüngere Menschen haben diejenigen, diehier ihre Angehörigen waren, nicht verloren, sie bleiben eigentlich un-mittelbar da in der Umgebung. Und das, was wir als Schmerz, alsTrauer empfinden, bekommt dadurch seinen Charakter. Wenn derMensch, der mit schauendem Bewußtsein ausgestattet ist, den Seelen-schmerz beobachtet, den eine Mutter oder ein Vater über ein hinweg-gegangenes Kind haben, so ist dieser Seelenschmerz ein ganz andererals der Schmerz, den man empfindet als junger Mensch, wenn einemein Älterer hinwegstirbt. Gewiß, in oberflächlicher, äußerer Bezie-hung sind diese Seelenerlebnisse mehr oder weniger gleich, aber wennman sie intimer auffaßt, sind sie grundverschieden. Die jünger dahin-gestorbenen Menschen gehen nicht weg, sie bleiben eigentlich da - sokann man das Verhältnis bezeichnen -, und sie leben mit unseren See-len weiter, leben in unseren Seelen weiter. Und es ist eigentlich derSchmerz, den wir empfinden, die Trauer, die wir empfinden, das-jenige, was die jünger verstorbenen Toten selber in uns erleben. Dasüberträgt sich in unseren Schmerz, in unsere Trauer. Sie bleiben beiuns. Es ist eine Umsetzung ihres eigenen Schmerzes, der nicht Schmerzsein muß, aber bei uns dann Schmerz wird, wenn er sich umsetzt inunseren. Seelen.

Die Trauer, die man empfindet einem älteren Menschen gegenüber,die ist eigentlich persönlich empfundener Schmerz. Ich möchte sagen,es ist weniger Mitgefühlsschmerz, mehr egoistischer Schmerz, eigeneregoistischer Schmerz. Denn wenn man vom Gesichtspunkte des schau-enden Bewußtseins aus das Verhältnis des hier zurückgebliebenen jün-geren Menschen zu dem älteren Abgeschiedenen bezeichnen will, sokann man sagen: Der ältere Abgeschiedene verliert uns nicht. Wirverlieren nicht den jüngeren Abgeschiedenen; der ältere Abgeschie-dene verliert uns, den Zurückgebliebenen, nicht, er nimmt in gewis-

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sem Grade die Seele mit, er trägt sie auf seinem weiteren Weg in ihrenKräften mit sich. Er verliert die Hiergebliebenen nicht. Und daherist dieses Verhältnis zu einem solchen älteren Dahingeschiedenen auchein ganz anderes als zu einem jünger Dahingeschiedenen. Der älterDahingeschiedene hat nicht die Tendenz, in der Seele des Hiergeblie-benen zu leben, weil er die innere Wesenheit, die Abprägung der in-neren Wesenheit mitnimmt.

Was ich eben sagte, zu wissen, das ist gar nicht unbedeutend im Le-ben, denn dasjenige, was wir das Andenken an die Toten nennen, be-kommt dadurch eine ganz bestimmte Beleuchtung. Beim jüngeren Men-schen ist es gut, dieses Andenken - ich möchte sagen, den Totenkultus -so zu beleben, so auszugestalten, daß wir mehr im Allgemeinen blei-ben, daß wir die Gedanken oder die Kulthandlungen oder sonstigeDinge, welche das Andenken pflegen sollen, so einrichten, daß wir we-niger auf das Individuelle, auf das Persönliche des Toten eingehen, son-dern im Hinblick auf den Toten große Weltempfindungen, Weltgedan-ken haben. Da drinnen fühlt sich dann derjenige, der ja als junger Hin-gestorbener bei uns geblieben ist, wohl. Bei einem älter Dahingestor-benen ist es besonders gut, wenn man auf sein Individuelles eingehenkann, wenn die Gedanken, die man an ihn richtet, so gestaltet sind,daß sie mit seiner Persönlichkeit etwas zu tun haben, auf seine Per-sönlichkeit hin geprägt sind. Bei einem jünger Hingestorbenen, da ist esbesonders gut, wenn die Totenfeier so eingerichtet wird, daß man eineArt Kultus, einen allgemein festgesetzten Kultus, der eine symbolischeBedeutung hat, entwickelt. Für jünger dahingestorbene Menschen istdie katholische Totenfeier besonders geeignet, die in den meisten Län-dern weniger auf die individuellen Verhältnisse oder gar nicht daraufeingeht, sondern eine symbolische allgemeine Totenfeier für jeden ist.Für die jung verstorbenen Seelen, die ja dableiben, ist es das beste, mitRiten, die für alle gleich gelten, allgemeine Weltsymbole, allgemeineWeltempfindungen im Hinblick auf sie zu entwickeln. Für älter Hin-gestorbene ist die protestantische Totenfeier, wo man mehr auf denindividuellen Lebensgang eingeht, sich mehr auf das Persönliche desDahingegangenen bezieht, das bessere. Und auch im individuellen An-denken, das man einem solchen Toten widmet, ist dasjenige für den

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älter Dahingestorbenen vorzuziehen, was mit ihm persönlich zusam-menhängt, was nicht auf jeden Toten anwendbar ist, sondern nurauf ihn.

Weiß man diese Dinge, dann wird auch unser Gefühlsleben mit Be-zug auf die dahingegangenen Toten abgestuft, differenziert. Wir wis-sen zu unterscheiden, wie sich die Seele verhalten soll gegenüber einemjünger oder einem älter dahingegangenen Toten. Das Leben wird inseinen intimsten Verhältnissen bereichert, wenn man so aus der Gei-steswissenschaft den Gedanken aufnimmt, daß einem nicht nur die inden physischen Leibern lebenden Seelen angehören, sondern auch dieentkörperten Seelen. Der Mensch taucht dann erst ein in die volleWirklichkeit. Es muß ja immer wieder und wiederum gesagt werden:Vom Geiste im allgemeinen zu sprechen, das führt nicht sehr weit.Vom geistigen Leben im allgemeinen zu sprechen, wie es gewisse Phi-losophen tun, oder wie es solche Menschen tun, die heute auch glauben,den Materialismus dadurch zu überwinden, daß sie im allgemeinen vonGeist und Geist und Geist sprechen: das führt eben nicht allzu weit.Es muß schon der Mut aufgebracht werden - und es gehört ja heuteein gewisser Mut dazu -, in das konkrete geistige Leben einzudringen.Es muß der Mut dazu aufgebracht werden, solche Verhältnisse, wiewir sie auch heute wiederum besprochen haben, rückhaltlos vor derMitwelt zu bekennen, so groß auch der Hohn der materialistisch Den-kenden gegenwärtig noch sein mag. Man kann es ja heute gar nichtsehen, wieviel unendlich Fatales für die Menschheit, unendlich Ka-tastrophales damit zusammenhängt, daß die Menschen gerade in denwichtigsten Teilen der Welt von diesen Dingen nichts wissen und des-halb nicht darüber denken, und deshalb der Wirklichkeit so ferne-stehen, welche dann verheerend über sie hereinbrechen muß. Allenmöglichen Impulsen wird man die gegenwärtige Erdkatastrophe zu-schreiben, nur nicht denjenigen, in denen sie wirklich im tiefsten Sinneihren Ursprung hat.

Hier ist schon der Ort, sich einmal zu besinnen auf die ganze Be-deutung, die eigentlich im europäischen Geistesleben eine anthroposo-phisch orientierte geisteswissenschaftliche Weltanschauung haben mußwie die, die wir hier meinen. Wie die Menschen sich zum Geiste und

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zum Geistesinhalte stellen, das wird schon eine große Bedeutung ha-ben in einer wahrhaftig gar nicht fernen Zukunft. Denn es bereitensich wichtige, bedeutungsvolle Dinge im Leben der Erdenmenschheitvor. Man kann ja wirklich nicht umhin, wenn man nur ein wenig ausdem schläfrigen Zustande herauskommt, in dem leider so viele Men-schen sind, über gewisse Dinge tiefer nachzudenken, als durch Jahr-hunderte in Europa nachgedacht worden ist. Die Zeiten drängen dazu,daß die Menschen umdenken lernen. Eigentlich sieht man ja, daß dieMenschen umdenken; es fragt sich nur, ob sie dieses Umdenken in ei-ner wirklich tiefen Weise besorgen oder ganz unterlassen, oder ob siees in jener Art besorgen, wie es jetzt sehr viele Menschen tun. Mansieht schon, daß die Menschen umdenken, nur kommt es manchmalganz merkwürdig heraus. Man könnte da nicht Hunderte, sondernTausende von Beispielen angeben.

Sehen Sie, einer derjenigen Menschen, die furchtbar umgedacht ha-ben im Laufe der letzten dreieinhalb Jahre, ist der französische frühereSozialist und Journalist Gustave Herve. Er gibt eine Zeitung heraus,«Gloire» nennt er sie, was auch umgenannt ist aus einem weniger pro-vozierenden Namen. Dieser Herve ist eigentlich einer derjenigen, diegegenwärtig im Sinne des allerwütendsten französischen Chauvinis-mus schreiben. Man kann sagen, selbst gegenüber einem solchen tiger-haften, stierhaften chauvinistischen Menschen wie Clemenceau istHerve* eigentlich noch mehr französisch-chauvinistisch - und der hatumgedacht. Der war vor vier Jahren noch ganz Kosmopolit, hat jedennoch ausgelacht dazumal, der irgendwie, ich will gar nicht sagen,französisch chauvinistisch war, sondern der nur irgendwie franzö-sisch national gesinnt war. Er war ganz Kosmopolit, dieser Herve*.Jetzt ist dasjenige, was er schreibt, so giftig, daß man aus jeder Zeile,die man von ihm liest, herauslesen kann: er möchte eigentlich am lieb-sten, daß die französische Trikolore zu einem Instrument würde, umalles dem Französischen Gegnerische zu erschlagen. Dennoch rührtvon Herve ein bedeutsamer Ausspruch her, den er allerdings vor die-sem Kriege getan hat. Dieser Ausspruch ist der folgende: Die Trikoloregehört auf den Misthaufen! - So wenig war dieser Mann, der jetzt einerder allerchauvinistischsten Franzosen ist, französisch national gesinnt,

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daß er sich dazu aufgeschwungen hat zu sagen: Die Trikolore - diefranzösische meint er - gehört auf den Misthaufen. - So verachtete eralles Nationale. - Er hat schon umgelernt, umgedacht, nur natürlichin einer Weise, die nicht gerade sehr tiefsinnig ist. Dasjenige, was ineiner Zeit geschehen soll, es geschieht — es ist wichtig, daß man das be-achtet -; es fragt sich nur, wie es bei dem einen oder anderen heraus-kommt, wie der eine oder andere seine Menschheitsaufgabe wirklichbeachtet. Das vor allen Dingen ist bei diesem Umlernen notwendig,daß der europäische Mensch nicht die bedeutsamen Dinge verschläft,die sich für die ganze Erdenmenschheit gegenwärtig vorbereiten.

Drüben in Asien, überhaupt im Orient, bereitet sich eine Summevon Urteilen über Europa, namentlich über Mitteleuropa vor - unsinteressiert ja in der gegenwärtigen Zeit vorzugsweise Mitteleuropa —,Urteile bereiten sich vor, die nach und nach tatsächlich sich zu histo-rischen Impulsen verbinden werden. Der Orientale, der Japaner, derInder, der Chinese fühlt sich nach und nach herausgefordert, gewisseImpulse bei sich auszubilden. Und bis zu einem hohen Grade habensich schon solche Impulse herausgebildet. Bis zu einem gewissen Gradegibt es gerade bei führenden Orientalen Urteile, namentlich über mit-teleuropäisches, über deutsches Wesen, die wohl beachtet werden soll-ten, denn was da in diesen Impulsen lebt, wird Geschichte in gar nichtzu ferner Zeit. Es sieht sehr sonderbar aus, aber man sollte eine feineEmpfindlichkeit heute sich ausbilden für solche Dinge; man solltewissen, daß es heute notwendig ist, ein wenig vorauszusehen, was kom-men muß, um mit der Wirklichkeit einherzugehen. Die Orientalen, diesich anschicken, mit Europa in ein Verhältnis zu kommen, die sich ihreUrteile bilden, welche künftig Weltpolitik werden, diese Orientalenhaben ihre uralten Anschauungen über das geistige Leben. Sie sehen,was in Europa seit Jahrhunderten vorgegangen ist, aber sie sehen esnur in einer einseitigen Weise, weil ihnen dieses Europa, namentlichdieses Mitteleuropa, in einer einseitigen Weise das eigene Wesen zeigt.

Ja, was glauben die führenden Orientalen zum Beispiel über diesesmitteleuropäische Wesen? Sie glauben dasjenige, was sie glauben müs-sen nach dem, was sie eigentlich vorzüglich sehen. Sie glauben daran,daß dieses Mitteleuropa besonders begabt ist, staatliche, kommerzielle

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und andere Verhältnisse zu organisieren; daß dieses Mitteleuropa be-sonders begabt ist, sich der äußeren Wissenschaft, wie sie die Schulenin Europa lehren, zu unterwerfen, der Autorität dieser Wissenschaftsich hinzugeben. Diese Orientalen können das nicht besonders schät-zen, weder was aus dieser Organisation noch was aus der Wissenschaftstammt, denn dem gegenüber sind die sich bewußt, daß sie, aus ganzanderen Impulsen heraus als wir Europäer es haben können, eine ur-alte Geistigkeit haben. Gerade dem führenden Orientalen wird nie-mals imponieren, was die europäische Naturwissenschaft zum Beispielgibt; es wird ihm niemals imponieren, was die europäische Industriehervorbringt, wenn er es auch in äußerlicher Weise, wie der Japaner,annehmen wird; es wird ihm niemals imponieren dasjenige, was dieeuropäische Organisation zu bewirken vermag. Denn er ist sich be-wußt: das alles stellt zum wirklichen Wesen der Dinge kein Verhältnisher. Dieses Verhältnis fühlt er hergestellt zwischen seiner Seele undder Seele des Weltenalls. Er fühlt sich der Seele des Weltenalls geistigverwandt. Dessen seien wir uns nur ganz klar. Mit demjenigen, wasgleichkommt solcher Betrachtungsweise, wie wir sie heute hier odersonst gepflogen haben, würde sich der Orientale ganz anders zu stellenwissen als mit dem europäischen Maschinenwesen, mit der europäischenOrganisation, mit der europäischen äußeren Verstandeswissenschaft.Und man darf schon einmal, so sonderbar es aussieht, auch den Sinndarauf lenken: Was würde der Orient sagen, wenn er wissen könnte,daß aus dem, was das Geistesleben in Europa hervorgebracht hat durchHerder, Schiller, Goethe, durch die Romantiker, eine wahre, konkretegeistige Betrachtung der Welt werden kann, die zu der orientalischenGeistesbetrachtung etwas Besonderes hinzugibt, das der Orientaledurch seine Anlage nicht finden kann, das er aber schätzen könnte, mitdem er zusammengehen könnte? - Gewiß, Sie können sagen: Goetheist ja genügend der ganzen Welt bekannt, und die Führer des orienta-lischen Geisteslebens können auch Goethe kennenlernen, und Goetheist ein Quell, ein unendlicher Quell für das geistige Leben Mitteleuro-pas. - Wahr ist das alles, durchaus wahr. Aber hat es Mitteleuropaschon dahin gebracht, Goethe wirklich als solchen Quell anzuerken-nen? Man könnte vieles über diesen Punkt reden. Der Orientale sieht

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auf dasjenige, was Mitteleuropa aus Goethe hat machen können. Nunkönnte vieles angeführt werden; nur als Beispiel will ich eines anfüh-ren: Mitteleuropa hat gewußt, die wichtigsten Impulse Goethes mitStillschweigen zu übergehen, aber es hat eine Goethe-Gesellschaft. Ineinem wahrhaft höchst günstigen Zeitpunkte ist diese Goethe-Gesell-schaft begründet worden. Der Ausgangspunkt war ein vorzüglicher.Man kann sagen, wenige Konstellationen waren für solche Dinge sogünstig wie diese am Ende der achtziger Jahre. Als der letzte Nach-komme Goethes einer Fürstin den Nachlaß übergab, da hätte alles guteingeleitet werden können, wäre auch gut in Angriff genommen wor-den, gab einen Anfangsimpuls, von dem man hätte glauben können:jetzt wird man die geistigen Quellen aus Goethe herausholen! Es istvieles geschehen, auch die Goethe-Gesellschaft ist dazumal gegründetworden. Aber nehmen wir einmal den Orientalen, der da fragt: Wirhaben im Orient ein Leben, welches die Seele unmittelbar an die Welten-seele anschließt. Da drüben haben sie Organisationen von staatlichen,von gesellschaftlichen Verhältnissen, da drüben haben sie Maschinenund eine Industrie, haben eine Wissenschaft, die in der Schule gelehrtwird und mit ungeheurer Autorität auf die Seelen drückt; aber sie ha-ben keine Beziehung der Seele des Menschen zur Seele des Weltenalls. -Wüßte er, welche Beziehungen latent daliegen, wüßte er, was seinkönnte nach dem, was an Goethe erlebt werden könnte, er würde an-ders reden und denken und empfinden. Aber was sieht er? Nun, erfragt sich vielleicht: Ja, dieses Mitteleuropa hat es dahin gebracht, eineGoethe-Gesellschaft zu begründen, um einen seiner allergrößten Gei-ster zu ehren. Es hat es aber auch dahin gebracht, zum Präsidenten die-ser Goethe-Gesellschaft heute einen ehemaligen Finanzminister zu ha-ben. — Es ist nur symbolisch für vieles. Man kann sagen: Es muß in un-serer Seele der Impuls leben, die Welt wissen zu machen: Aus demQuell des deutschen Geistes kann dasjenige hervorgehen, was die Im-pulse der Geisteswissenschaft sind. Die werden nicht übersehen wer-den drüben im Orient. Würden sie übersehen, dann würde sich alshistorischer Impuls im Orient bilden müssen das Urteil: Diese mittel-europäische Kultur ist eigentlich der Menschheit schädlich. - Und die-ses Urteil hat sich in hohem Grade festgesetzt. Es würde ganz gewiß

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korrigiert, wenn gewußt würde, daß dieses mitteleuropäische Geistes-leben imstande ist, selbst das Mechanischste des Mechanismus in Schön-heit, in Seele umzugießen durch jene Impulse, die es in sich hat, unddie es zum wirklichen Erkennen und zum wirklichen Verarbeiten desÜbersinnlichen ausgestalten kann. So könnte es eigentlich nach der ei-nen Seite hin wirken.

Und blicken wir nach der anderen Seite: Im Westen, in Amerikabetrachtet man nicht nur das mitteleuropäische, sondern das ganzeeuropäische Leben auch so, wie man es nur von der Außenseite ken-nenlernen kann, weil man natürlich nicht nur die Goethe-Gesellschaftmit dem gewesenen Finanzminister an der Spitze, sondern auch dieanderen Dinge in einer ähnlichen Weise sieht, nicht aber, was in denSeelen so leben kann wie das, was heute durch unsere Seelen gezogenist. Während man im Orient sagt: Dieses Europa, dieses europäischeLeben ist schädlich -, findet man es drüben in Amerika überflüssig.Denn Maschinen bauen, Industrieorganisation treiben, Goethe-Gesell-schaften begründen mit Leuten, die von Goethe-Wissenschaft so vielverstehen, wie dasjenige ist, was man beim Zusammenstellen von Fi-nanzbudgets nötig hat, das können die Amerikaner auch. Aber das,was aus Goethe als tiefster Quell spirituellen Lebens fließt, das könnendie Amerikaner nicht; das können sie nur dann haben, wenn sie esvon den Mitteleuropäern nehmen.

Es ist nicht bloß irgendeine mystische Verschrobenheit, meine lie-ben Freunde, es ist eine mit den praktischen Lebensbedürfnissen derGegenwart tief zusammenhängende Frage, wie wir uns stellen zu denImpulsen, um möglichst, was an uns ist, zu tun, die Welt wissen zu las-sen, fühlen zu lassen, was innerhalb der europäischen Kultur an Gei-stigkeit leben könnte, welche Wege sie zum Übersinnlichen gegenwärtighaben könnte. Heute mehr als je ist es notwendig, sich darauf zu besin-nen, daß Geisteswissenschaft in unserem Sinn nicht nur etwas ist, wo-mit wir unserer eigenen Seele wohl tun wollen, sondern daß Geistes-wissenschaft etwas werden muß, wodurch wir als Menschen im rech-ten Sinne, als Menschen Mitteleuropas, unsere Aufgabe in der Ent-wickelung der Menschheit erfüllen können.

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D R E I Z E H N T E R VORTRAG

Stuttgart, 24. Februar 1918

Wir haben gestern versucht, des genaueren jene Welt kennenzulernen,die uns so umgibt, daß wir sie gemeinsam haben mit denjenigen, diedurch des Todes Pforte gegangen sind, und die wir auch gemeinschaft-lich haben mit jenen geistig-seelischen Wesenheiten, die wir zu denWesenheiten der höheren Hierarchien rechnen. Damit haben wir unseiner Betrachtung hingegeben, welche geeignet ist, uns einen Teil jenerWirklichkeit zu erschließen, die in das menschliche Leben hereinspielt,ohne daß der Mensch mit seiner sinnlichen Wahrnehmung und auch mitseinem an die sinnliche Wahrnehmung gefesselten Verstand etwas vonihr im gewöhnlichen wachen Bewußtsein wissen kann. Da diese Welteine Wirklichkeit ist, eine bei der Gestaltung des menschlichen Le-bens mitwirkende Wirklichkeit, so ist es wohl begreiflich, daß in derZeit, in die wir uns hineinleben, in welcher der Mensch immer mehrund mehr aufgerufen wird, aus seinem freien Willen heraus - wie wirdas Öfter sagten - das allgemeine Menschheitsentwickelungsgeschickin die Hand zu nehmen, daß in einer solchen Zeit ein Wissen auch überdiese übersinnlichen Dinge sich in die Menschenseele senkt. In der An-deutung, daß in unserer Zeit dies ganz besonders notwendig ist, habenwir gestern die Betrachtung ausklingen lassen, die eben als eine Be-trachtung über das Leben der sogenannten Toten jeder einzelnen Men-schenseele tief eindringlich sein muß. Auf der anderen Seite muß esaber auch wiederum ein intensives Bedürfnis sein, gerade über solcheDinge sich genauere Gedanken zu machen, wie die waren, die wirgestern in unserer Betrachtung haben anklingen lassen. Denn in un-serer Zeit sollten selbst halbwache Menschen, träumende Menschenahnen, daß sich außerordentlich wichtige Entscheidungen bilden.

Ich habe ja da oder dort im Laufe unserer Auseinandersetzungenimmer wieder und wiederum auch Andeutungen gegeben über das-jenige, was man aus den Quellen der Geistesforschung heraus über denCharakter der neueren Zeit, den Charakter unserer Zeit selber und dernächsten Zukunft zu sagen vermag. Solche Dinge konnte man aller-

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dings der gegenwärtigen Menschheit, auch mehr oder weniger der an-throposophisch gesinnten Menschheit nur in vorsichtiger Weise geben.Sehen Sie nur einmal nach, wieviel zum Verständnis gerade dieserunserer schweren, katastrophalen Zeit sich hineingefügt findet in dieVorträge, die viele Jahre vor diesen katastrophalen Ereignissen in Kri-stiania über die Völkerseelen gehalten worden sind. Und vielleichtdarf auch daran erinnert werden, daß in einer Zeit, in der es wohlnötig gewesen wäre, in der einen oder anderen Weise hinzuzeigen aufden Ernst der Impulse, die da vorliegen, in dem Vortragszyklus, derin Wien gehalten worden ist im Vorfrühling 1914 - also vor dem Aus-bruch unserer gegenwärtigen Weltkatastrophe -, von dem sozialenLeben, von dem menschlichen Zusammenleben unserer Zeit so gespro-chen worden ist, daß ich damals einen scharfen, einen starken Aus-druck gewählt habe: Ich habe dazumal in diesen Vorträgen, die imwesentlichen auch handelten von dem Leben des Menschen zwischenTod und einer neuen Geburt, davon gesprochen, daß durch das mora-lisch-soziale Leben der Gegenwart etwas vorgeht, was man als ein so-ziales Karzinom, als eine schreckliche soziale Krebskrankheit bezeich-nen kann. Vielleicht hat das der eine oder andere damals als einenstarken Ausdruck empfunden. Vielleicht hat sich aber auch der eineoder andere seither überzeugen können, daß die Tatsachen schon da-für sprechen, daß dazumal solch ein starker Ausdruck hat gewähltwerden dürfen.

Allerdings, das was ich schon gestern angedeutet habe, ist richtigund sollte tief zu denken geben: Trotz alledem, trotzdem leicht erahntwerden kann, was für schwerwiegende Impulse in unserer ZeitenSchoß liegen, ist die Menschheit heute wenig geneigt, die Erscheinun-gen in ihrer ganzen Schwere wirklich zu fassen. Die Menschheit istheute dazu viel zu bequem, gibt sich viel zu gerne jenen bequemen Be-griffen hin, die man heute in der naturwissenschaftlichen Weltanschau-ung finden kann, weil diese Begriffe am Gängelband der äußeren Er-fahrung gewonnen werden können, weil sie nicht viel innere Geistes-anstrengung erfordern und dennoch der Eitelkeit der Menschen so sehrschmeicheln. Aber was notwendig ist, das ist, daß die Menschheit ge-rade mit Bezug auf sehr vieles, was die Zeit heute lehren muß, auf-

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wache, wirklich aufwache, nicht weiterschlafe. Das Aufwachen wirdallerdings nur möglich sein, wenn gewisse tieferliegende Tatsachennicht mehr als eine Phantasterei, nicht mehr als eine Träumerei, son-dern als eine in unsere Zeitereignisse hereinspielende Wirklichkeit be-trachtet werden. Und so habe ich denn auch öfter im Verlaufe unsererAuseinandersetzungen angedeutet, wie gerade im letzten Drittel des19. Jahrhunderts mit der Menschheit ein bedeutender Umschwung ge-schehen ist. Auch hier in Stuttgart habe ich diese Dinge angedeutet.Wir wollen sie uns von einem gewissen Gesichtspunkt aus heute wie-der einmal vor die Seele rufen.

Ich habe den Herbst 1879 angegeben für die Wende dieser Mensch-heitsentwickelung der neueren Zeit. Will man diese Menschheitsent-wickelung der neueren Zeit genauer verstehen, so muß man sagen: Das-jenige, was da im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschehen ist, dasist nur die Auswirkung von etwas, was vorher in der geistigen Weltsich abgespielt hat. In der geistigen Welt hat es begonnen mit den vier-ziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Und die Zeit von den vierziger Jah-ren bis Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ist eine wichtigeund wesentliche, eine bedeutungsvolle Zeit. Was sich damals zugetra-gen hat, hat sich nicht auf dem physischen Plan zugetragen; aber imJahre 1879 sind die Nachwirkungen auf den physischen Plan herab-gestiegen, und seit jener Zeit tragen sich diese Nachwirkungen auf demphysischen Plane zu. Sie sind eine Art Abbild dessen, was vorher inder geistigen Welt geschehen ist. Soll man dasjenige bezeichnen, wasda zugrunde liegt, so kann man sagen: Es ist auf einem besonderen Ge-biet in einer besonderen Sphäre die Ausgestaltung dessen, was sonstöfter in der Entwickelung der Menschheit geschieht, und was vondenen, die solche Dinge noch zu beobachten wußten, immer bezeichnetworden ist als ein Kampf des Michael mit dem Drachen. Auf den ver-schiedensten Gebieten haben solche Kämpfe normal fortschreitendergeistiger Wesenheiten der höheren Hierarchien gegen Geister der Hin-dernisse, der Hemmnisse stattgefunden. Für die Kulturentwickelungder Menschheit hat ein solcher Kampf in geistigen Höhen, und zwar indenjenigen geistigen Höhen, die unmittelbar an die Erde angrenzen,stattgefunden in den Jahrzehnten von den vierziger Jahren bis zum

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Ende der siebziger Jahre. Damals, 1879, endete dieser Kampf miteinem Sieg, wenn man so sagen will, der guten Mächte gegen gewisseGeister der Hindernisse, die damals - man kann das schon so aus-drücken - aus den geistigen Welten heruntergestürzt worden sind indie irdischen Verhältnisse, so daß sie seither in den irdischen Verhält-nissen wirken und weben. Man hat innerhalb desjenigen, was sich inder geistigen Menschheitsentwickelung ausbildet, Geister der Hinder-nisse, die erst mit dem Ende der siebziger Jahre als besiegte Geister, be-siegt für die obere Welt, in die untere Welt hinuntergestürzt wordensind und nunmehr in den Menschen walten.

Wenn man hinblicken will auf diese Geister der Hindernisse, dieseGeister ahrimanischer Natur, mit denen diejenigen Geister, die manmichaelische Geister nennen kann, einen starken Kampf ausgefochtenhaben, so muß man sagen: Diese ahrimanischen Geister hatten in ver-flossenen Zeiten der Menschheitsentwickelung ihre gute Bedeutung,sie hatten ihre Aufgaben in verflossenen Zeiten der Geistesentwicke-lung. Diese Aufgaben vollzogen sich so, daß sie geleitet wurden vonguten höheren Geistern. Wir dürfen uns die sogenannten bösen Geisternicht so vorstellen, daß wir denken, man müsse sie nur fliehen, um siemöglichst loszuwerden. Das ist nämlich das beste Mittel, sie an sich zuheften, wenn man sie in egoistischer Weise loswerden will, man hatsich vielmehr vorzustellen, daß diese sogenannten bösen Geister ebenauch im Dienste der weisen Weltordnung stehen. Wenn sie nur an ihrenrichtigen Ort gestellt werden, dann verrichten sie Dienste, die notwen-dig sind im Sinne der weisen Weltordnung. Und so kann man sagen:Durch Jahrhunderte, ja durch Jahrtausende verrichteten diese Geisterahrimanischer Natur die Aufgabe, die Menschen zu gliedern in die-jenigen Gemeinschaftszusammenhänge, die mit den Banden des Bluteszu tun haben. Die Menschen hängen ja in ihren irdischen Verbändenso zusammen, daß die Bande des Blutes auch gewisse Bande der Liebeauslösen, bewirken. Die Menschen gliedern sich in Familienzusammen-hänge, in Stammeszusammenhänge, in Völkerzusammenhänge, in Ras-senzusammenhänge. Alle diese Dinge unterliegen ja gewissen Gesetzender Zeiten. Diese werden dirigiert von Wesenheiten der höheren Wel-ten. Dasjenige, was die Menschheit spezialisiert hat, was die Mensch-

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C o p y r i g h t R u d o l f S t e i n e r N a c h l a s s - V e r w a l t u n g B u c h : 1 7 4 b S e i t e : 2 8 6

heit so gegliedert hat, daß dieser Gliederung das Blut zugrunde liegt,das wurde von diesen ahrimanischen Geistern, aber unter der Leitungvon guten Geistern, gelenkt.

Nun sollte aber ein anderes Zeitalter eintreten. Solange die Men-schen gewissermaßen durch das Blut geführt wurden, konnte derMensch nicht in der Weise, wie es öfter angedeutet worden ist, seinGeschick selbst in die Hand nehmen. Dazu war notwendig, daß derDienst von diesen ahrimanischen Geistern, so wie er war, aus der gei-stigen Welt ausgeschaltet wurde. Diese Geister wollten zunächst aus dergeistigen Welt her ihre Tätigkeit der Gliederung der Menschen nachdem Blute fortsetzen; aber die Menschheit sollte zu einer mehr allge-meinen Auffassung ihres gesamten Geistes getrieben werden. Dasje-nige, was öfter gerade auf unserem Gebiet gesagt wird, daß die Mensch-heit sich als eine Gesamtheit über die Erde hin zu begreifen habe, dasist wahrhaftig keine Phrase, sondern eine neuzeitliche Notwendigkeit.Und dem liegt eben die Tatsache zugrunde, daß ein starker, intensiverKampf stattgefunden hat zwischen den michaelischen Geistern undden Geistern ahrimanischer Natur, welche früher die Menschen diffe-renziert haben nach dem Blute.

Dieser Kampf hat damit geendet, daß die ahrimanischen Wesen-heiten heruntergestoßen worden sind und nunmehr unter den Men-schen walten. Unter den Menschen werden sie Verwirrung stiften, denndas ist nach dieser Besiegung ihre Absicht: Verwirrung zu stiften mitalledem, was aus allerlei Begriffen und Ideen, die mit Blutsbanden,Blutsverwandtschaften zusammenhängen, gesogen werden kann. Be-sonders wichtig ist eben, daß seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhun-derts in alledem, was der Mensch hier auf dem physischen Plan durchGedanken und Empfindungen wirken kann, diese Impulse mit tätigsind, und daß man die Wirklichkeit nicht versteht, wenn man dieseImpulse nicht mit in Rechnung zieht. Die Art und Weise, wie heutegesprochen wird über gewisse Völkerbeziehungen und dergleichen, istverwirrt worden durch diese ahrimanischen Geister, die von dem GeisteMichael besiegt worden sind.

Ich habe ja öfter erwähnt, daß wir schon sagen dürfen: Wir habenseit dem Ende der siebziger Jahre das sogenannte Michaelische Zeit-

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alter. Michael haben wir als Zeitgeist anzusehen, der Gabriel als Zeit-geist abgelöst hat. Das bedeutet sehr viel: Michael als Zeitgeist! DieZeitgeister, die in den früheren Jahrhunderten da waren, haben an-ders gewirkt als dieser Zeitgeist. Die anderen Zeitgeister, die in dieMenschheitsentwickelung hineinwirkten in früheren Jahrhunderten,haben doch noch mehr oder weniger ins Unterbewußte hineingewirkt.Die Aufgabe des Zeitgeistes Michael, der seit dem letzten Drittel des19. Jahrhunderts in den Menschheitsgeschicken wirkt, ist diese: immermehr und mehr im menschlichen Bewußtsein selbst dasjenige auszu-lösen, was in der Erdenentwickelung geschehen soll. Dieser michae-lische Zeitgeist ist nämlich eigentlich heruntergestiegen und wirkt aufdem physischen Erdenplan.

Mit alledem hängt etwas zusammen für unsere Zeit, das man unge-mein leicht mißverstehen kann. Unsere Zeit ist eine sehr, sehr zwie-spältige. Unsere Zeit könnte man, wenn man sie so oberflächlich be-zeichnet, leicht eine bloß materialistische nennen. Das ist sie aber nichtallein; die Sache liegt viel komplizierter. Im ganzen kann man sagen:Diese neuere Zeit ist ihrem Grundcharakter nach außerordentlich spi-rituell, gerade außerordentlich spirituell. Und spirituellere Begriffe,spirituellere Vorstellungen als diejenigen sind, die durch die neuereNaturwissenschaft an die Oberfläche gebracht wurden, hat es in derMenschheitsentwickelung überhaupt noch nicht gegeben. Nur sinddiese Begriffe - wenn ich mich so ausdrücken darf - dünn, sind ab-strakt. Sie sind in sich, ihrer Substanz nach, durchaus geistig; aber siesind nicht geeignet, so wie sie auftreten, wenn sie nicht richtig behan-delt werden, Geistiges auszudrücken. Diese naturwissenschaftlichenBegriffe, die heute aller Bildung eingeimpft werden, sind ein sehr zwei-schneidiges Schwert, wenn ich dieses paradoxe Gleichnis gebrauchendarf. Man kann sie so brauchen, wie sie heute von der akademischenWissenschaft gebraucht werden. Da sind sie zwar spirituell, werdenaber nur angewendet auf die äußere materielle Welt, ihre Spiritualitätwird verleugnet. Man kann aber diese naturwissenschaftlichen Begriffeauch so anwenden, daß man sie als Meditationsstoff verwendet, daßman darüber meditiert. Dann führen sie am sichersten in die geistigeWelt hinein. Würden diejenigen, die heute eine naturwissenschaftliche

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Weltanschauung haben, nicht zu faul sein, um ihre Begriffe meditativanzuwenden, so würden diese Menschen mit naturwissenschaftlicherWeltanschauung sehr bald in die Geisteswissenschaft hineinkommen.Nicht an dem Inhalt der naturwissenschaftlichen Vorstellungen, son-dern an der Art und Weise ihrer Behandlung liegt es. Die Begriffe sindfein, sind intim, aber die Anwendung durch die Menschen ist eine immaterialistischen Sinne gehaltene. Das ist allerdings nicht so ohne wei-teres in allen Einzelheiten gleich klarzumachen, aber wir müssen unsverständigen; daher müssen wir schon manche solcher Wahrheiten ge-wissermaßen nur durch eine Spiegelung an uns herantreten lassen.

So leben die Menschen in Begriffen, in Vorstellungen, in Ideen, diedünn sind, die, ich möchte sagen, ganz destillierter Geist sind, so daßman nur eine starke Kraft anzuwenden braucht, um von ihnen zur Gei-steswissenschaft zu kommen; und diese Begriffe sind diejenigen, diegerade durch das Michaelische Zeitalter in die Menschheitsentwicke-lung hineinkommen sollen. Es sind aber auch diejenigen, die am meistenverwirrt werden durch die angedeuteten, man kann schon sagen, vomHimmel auf die Erde gestoßenen, im Himmel von Michael überwun-denen ahrimanischen Geister der Hindernisse. Sie treten ja auf so un-zähligen Gebieten auf, wo der Mensch heute glaubt, ganz richtig zudenken, ganz richtig zu sinnen, wo er aber der Verwirrung dieser Gei-ster in einem hohen Maße ausgesetzt ist.

Gerade bei der Betrachtung einer solchen Sache zeigt sich, wie ei-gentlich die Entwickelung - bleiben wir zunächst bei der Menschheitstehen - vor sich geht. Da müssen wir ein bedeutsames Entwickelungs-gesetz, das wir von anderen Gesichtspunkten aus auch zu betrachtenhaben, uns einmal vor die Seele führen. Es ist ja eine ungeheuer ober-flächliche Betrachtungsart, wenn man meint, daß die Ereignisse imgeschichtlichen Leben einfach so auseinander hervorgehen, daß das,was im Jahre 1918 geschieht, eine Folge ist von 1917, 1916 und soweiter. Das ist eine oberflächliche Betrachtungsweise. Die Dinge voll-ziehen sich doch ganz anders; sie vollziehen sich so, daß immer das-jenige, was auf geistigem Gebiete geschehen ist, in den nächstfolgendenZeiten noch weiter wirkt, aber in einer gewissen Weise. Man kann jedesJahr herausgreifen; sagen wir zum Beispiel das Jahr 1879: so geschieht

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im Jahre 1880 etwas, was dadurch mitbestimmt ist, daß sich das rück-läufig wiederholt, was 1878 geschehen ist; 1881 wiederholt sich rück-läufig in einer gewissen Beziehung dasjenige, was 1877 geschehen istund so weiter. Man kann von jedem Punkte der Menschheitsentwicke-lung, so widerspruchsvoll das erscheint, ausgehen; man wird immerfinden, daß sich frühere Jahresläufe in späteren in wichtigen Impulsenzeigen. Man kann daher erwarten, daß gerade in einem wichtigen Zeit-abschnitt dieses Gesetz auch mit einer besonderen Deutlichkeit undWichtigkeit in die Menschheitsentwickelung eingreift.

Ich habe das öfters schon angedeutet, habe öfters schon vor diesenkatastrophalen Ereignissen gesprochen von dem wichtigen Zeitab-schnitt 1879, und davon, daß er nur die Auswirkung desjenigen ist,was seit den vierziger Jahren in der geistigen Welt sich abgespielt hat.Wenden wir nun einmal dieses Gesetz an, das ich eben ausgesprochenhabe, so können wir folgendes sagen: 1879 ist ein wichtiger Zeitab-schnitt; da sind gewisse Geister heruntergestoßen worden, die als Gei-ster der Hindernisse früher in der geistigen Welt gewirkt haben, dievon da ab hier auf dem physischen Plan unter den Menschen hemmendund verwirrend wirken. Das, was da 1879 geschehen ist, ist gewisser-maßen der Abschluß eines Früheren, das von 1841 bis 1844 seinen An-fang genommen hat und durch die Jahrzehnte dann gewirkt hat. Neh-men wir nun das Jahr 1841, so haben wir von 1841 bis 1879 die Kampf-zeit in der geistigen Welt. Jene Wesenheiten, die unter der Herrschaftdes Geistes stehen, den man Michael nennt - man könnte ihn auch miteinem anderen Namen bezeichnen -, schickten sich also im Jahre 1841an, den starken, intensiven Kampf in der geistigen Welt aufzunehmen,der dann für die geistige Welt 1879 seinen Abschluß gefunden hat. Erdauerte also achtunddreißig Jahre. Nun sagte ich: Dasjenige, was rück-läufig geschieht, wirkt in der folgenden Zeit wiederum zurück. - Rech-nen Sie jetzt weiter von 1879 durch weitere achtunddreißig Jahre:1917. Wie sich also 1880 dasjenige wiederholt, was 1878 geschehenist, 1881 dasjenige, was 1877 geschehen ist, so wiederholt sich in einergewissen Weise 1917 innerhalb der physischen Welt dasjenige, was1841 innerhalb der geistigen Welt aufgenommen worden ist als einerder wichtigsten Kämpfe. Es ist tatsächlich so, daß dieses Jahr 1879

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einen Einschnitt bedeutet, der ganz energische Impulse nach vorwärtsund nach rückwärts der Betrachtung zeigt. Und in gewisser Weisewiederholen sich jetzt auf dem physischen Plan von 1917, 1918 andiejenigen Dinge, die in der geistigen Welt vorgehen mußten in denvierziger Jahren, und die man eben bezeichnen kann als einen Kampfder normalen, vorwärtstreibenden Geister gegen gewisse Geister derHindernisse. Das ist eine Rechnung, die ich nicht heute erst anstelle,sondern viele von Ihnen wissen, daß auf diese Ereignisse immer hin-gewiesen worden ist, und daß von dem Gesichtspunkte dieser Ereig-nisse aus das Jahr 1917 so angesehen werden muß, daß es ein wichtigerAusgangspunkt für folgende Geschehnisse ist.

Die Dinge dürfen natürlich nicht so betrachtet werden, daß mansagt: Nun ja, wir haben das Jahr 1917 erlebt. Gewiß, man hat es erlebt;aber was die Ereignisse eigentlich waren, die sich in diesem Jahr abge-spielt haben, das haben doch nur wenige Menschen erlebt, da wenigeMenschen geneigt sind, sie im wachen Bewußtsein zu werten. Das istes, um was es sich handelt.

Nun, durch alle diese Dinge wollte ich nur darauf hinweisen, daßwir tatsächlich in einem wichtigen Zeitpunkte der Menschheitsent-wickelung leben, und daß es schon notwendig ist, manche Dinge indiesem Zeitpunkte ernster zu nehmen, als sie von der gegenwärtigenMenschheit in ihrer Masse genommen werden. Ich habe ja darauf hin-gewiesen, wie es insbesondere notwendig ist, daß man die normalenspirituellen Impulse in unserer Zeit nicht unbeachtet läßt. So wie dieseneuere Zeit sich herangebildet hat, was ist denn in ihr eigentlich ton-angebend geworden? Was hat denn wirklich Einfluß gewonnen in die-ser neueren Zeit? Was ist denn ausgestrahlt, ich möchte sagen, in diegesamte allgemeine Bildung? Im Grunde genommen nur dasjenige, wasauf dem gröbsten Felde der naturwissenschaftlichen Weltanschauunggewachsen ist. Dieses gröbste Feld der naturwissenschaftlichen Welt-anschauung hat aber nur die Macht, das Tote, das Unlebendige, nie-mals das Lebendige zu erfassen, was gerade in diesem naturwissen-schaftlichen Zeitalter so unendlich notwendig wäre. Den Zusammen-hang solcher Dinge mit den allgemeinen Weltereignissen will man ebendurchaus heute noch nicht einsehen. Man will heute noch nicht ein-

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sehen, daß, je mehr sich die Menschheit bemüht, nur Begriffe auszu-bilden, die sich auf das Tote beziehen, man vom Menschen aus auchdas soziale, auch das Gemeinschaftsleben zerstört. Notwendig ist, daßman die naturwissenschaftlichen Begriffe in Fluß bringt und sie sobelebt, daß sie wirklich anwendbar sein können auf das menschlicheZusammenleben, daß sie gewissermaßen geeignet sind, auch das mensch-liche Zusammenleben zu erklären.

Der Gang der Entwickelung war ja so in dieser neueren, in dieserneuesten Zeit: In dem, was man als eigentliche Wissenschaft hat geltenlassen, bildeten sich nur diejenigen Begriffe aus, mit denen man dieäußere, tote Natur begreifen kann. Ganz ungeeignet waren diese Be-griffe, das menschliche Leben zu erfassen. Man wollte aber mit ihnendas menschliche Leben erfassen. Und so haben die offiziellen Wissen-schafter diese Begriffe angewendet auf die Geschichte, auf die Sozial-wissenschaft, auf die Sozialpolitik und so weiter. Da sind aber dieseBegriffe nicht brauchbar, und so gibt es überhaupt keinen brauchbarenBegriff für das Gesellschaftsleben, und so ist das Gesellschaftsleben derErde dem Menschen über den Kopf gewachsen, ist zu dem geworden,was es seit nahezu vier Jahren jetzt ist. Die Menschen werden lernenmüssen, ihre Begriffe zu verdichten, ihre Begriffe auch zu verleben-digen.

Dasjenige, was die Naturwissenschafter selber ausbilden, das istgewiß geistvoll, brauchbar, ist gewissenhaft methodisch, aber nur fürdie äußere Natur. Heute arbeitet ein jeder auf seinem Felde und dehntgar nicht die Begriffe, die auf irgendeinem Felde erarbeitet werden,über die Gesamtheit der menschlichen Weltanschauung aus. NehmenSie nur eines, da werden Sie gleich verstehen, was ich eigentlich meine.Der gewöhnliche Schulphysiker, der heute die Magnetnadel betrach-tet, die mit dem einen Ende nach Norden, mit dem anderen nach Sü-den weist, erklärt seinen Buben schon, daß dieses ständige Weisen derMagnetnadel nach Norden und nach Süden vom Erdmagnetismus her-rührt, daß die Erde auch ein großer Magnet ist; und es wäre lächer-lich, wenn dieser Schulphysiker in der Magnetnadel selber die Kräftesuchen würde, die bewirken, daß die Nadel nach diesen Richtungenzeigt. Er sucht das aus Eigenschaften der Erde zu erklären, er sucht

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die Ursache im Kosmos draußen. Auf diesem rein toten Gebiet, dataugen schon die naturwissenschaftlichen Begriffe noch etwas, da kannman auf das eine oder andere noch kommen. Daher fällt es niemandemein, von der Magnetnadel zu sagen, sie habe in sich die Kraft, immernach der einen Richtung hinzuweisen. Man nimmt Richtkräfte vommagnetischen Nordpol und Südpol der Erde an. Der Biologe tut dasschon nicht mehr. Dem fällt es gar nicht ein, einen ähnlichen Begriffauszubilden. Der Biologe sieht das Huhn, in dem sich das Ei bildet. Esfällt ihm gar nicht ein, dieselbe Frage so zu stellen, wie der Physikersie bei der Magnetnadel stellt. Der Biologe sagt einfach: Wenn sich dasEi im Huhn bildet, so liegt die Ursache der Eibildung im Huhn. -Würde er vorgehen wie der Physiker mit der Magnetnadel, so würdeer sich sagen: Zwar ist im Huhn der Platz, an dem sich das Ei ausbildet,aber wie an der Magnetnadel der Kosmos mitwirkt, so wirken diekosmischen Kräfte mit, wenn sich das Ei bildet. Ich muß hinausgehenaus der eng begrenzten Natur und muß das, was draußen ist, zu Hilfenehmen. Im Huhn ist zwar der Ort, an dem sich der Eikeim bildet, aberdie Kräfte wirken herein aus dem Kosmos, wie sie aus dem Kosmosder Magnetnadel Richtung geben.

Solch einen Begriff auszubilden, ihn methodisch durchzuführen,wäre dringend notwendig. Aber vor der offiziellen Wissenschaft derBiologie ist er töricht, phantastisch, ist er lächerlich, weil sie sich voll-ständig in eine Sackgasse des Toten bloß verirrt hat. Diese offizielleWissenschaft kann nicht einmal auf solche Dinge die umfassenden Be-griffe anwenden, viel weniger kann sie irgend etwas darüber sagen,wie die Menschen politisch oder sozial in richtiger Weise zusammen-leben könnten. Wie kann man darauf hoffen, daß aus dieser bloßennaturwissenschaftlichen Weltanschauung etwas, was der Menschheitso notwendig ist, herauskommen könne, nämlich eine Belebung, eineAuffrischung dieser Begriffe. Gerade auf dem wichtigen Gebiet desmenschlichen Lebens kann das nicht sein. Wir wollen uns das klar-machen an einem Begriff, den wir geisteswissenschaftlich einmal er-fassen wollen.

Schon die bloße Betrachtung des menschlichen Skeletts zeigt etwasaußerordentlich Wichtiges, etwas, ich möchte sagen, Großartiges zeigt

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sie. Wenn Sie das menschliche Skelett anschauen, so haben Sie dasHaupt, das eigentlich nur aufgesetzt ist auf dem übrigen Rumpfskelett;es ist eine Welt für sich. Der andere Skeletteil ist ganz anders gebildet.Sobald man die Goethesche Metamorphosenlehre anwendet, bekommtman allerdings die Umwandlung des Rumpfes zum Hauptskelett, aberdas Hauptskelett ist kugelförmig gebildet, das Haupt ist ein Abbildder ganzen Weltensphäre. Das andere ist mehr mondenförmig gebildet.Das ist etwas außerordentlich Wesentliches und weist uns darauf hin,daß wir, wenn wir über den Menschen schon aus seiner Gestalt herausfruchtbare Begriffe bekommen wollen, hinschauen müssen auf so etwas,was schon in der Gestalt angedeutet ist. Unsere Naturwissenschaft istja großartig, aber sie ist analphabetisch in bezug auf die Erkenntnis derWelt. Sie geht so vor wie jemand, der die Seiten eines Buches nichtliest, sondern beschreibt: A ist so, B ist so -, der also nicht liest, sondernbloß die Buchstaben beschreibt. Man muß aber zum Lesen vorschrei-ten, man muß verstehen, die Gestalten der Natur nicht bloß so zu be-schreiben, wie es die Naturwissenschaft macht, sondern sie zu deutenin ihren Beziehungen, in ihren Übergängen. Dann kommt man aus demLesen der Naturgestalten und Naturerscheinungen zum Enträtseln desSinnes der Welt. Gewiß, die Menschen, die so etwas heute hören undmit ihren dicken Köpfen ganz in dem Analphabetismus drinnen-stecken, die finden eine solche Sache, wenn man sie sagt, ganz schau-derhaft. Davon könnte man gute Beispiele anführen, wie man etwasschauderhaft findet, was so vom menschlichen Skelett hergeholt ist,was aber auf den ganzen menschlichen Organismus ausgedehnt wer-den kann. Der Mensch ist eine Zwienatur, und diese Zwienatur drücktsich schon aus in dem durchgreifenden Gegensatz des Hauptes und desübrigen Organismus.

Geht man nun durch Geisteswissenschaft ein auf diese zwei Glie-der der Zwienatur - man könnte noch weitere Glieder angeben, aberdarauf kommt es heute nicht an -, so kann man schon ungeheuer Be-deutsames aus der bloßen Gestalt des Menschen herauslesen, wenn mannur wirklich darauf eingeht. Geisteswissenschaftlich kann man näm-lich ersehen, daß dieses menschliche Haupt von der Geburt durch dasphysische Erdenleben eine Entwickelung durchmacht, die sich nun

im

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ebenso von der Entwickelung des übrigen Organismus unterscheidet,wie sich das Haupt schon der Gestalt nach unterscheidet von demübrigen Organismus. Es ist sehr interessant, wenn man verfolgt, daßsich dieses Haupt drei- bis viermal schneller entwickelt als der übrigeOrganismus. Wenn man den übrigen Organismus betrachtet, so kannman ihn mit einem gemeinsamen Namen nennen, insofern er haupt-sächlich durchorganisiert ist vom Herzen, so daß man dann einen Ge-gensatz bekommt zwischen dem Kopforganismus und dem Herzens-organismus. Dieser Herzensorganismus entwickelt sich wirklich drei-bis viermal langsamer als der Kopforganismus. Würden wir nur Kopfsein, so wären wir ungefähr im siebenundzwanzigsten, achtundzwan-zigsten Jahr schon alte Leute, die sich zum Sterben anschicken, weil derKopf sich so schnell entwickelt. Der übrige Organismus entwickeltsich viermal langsamer, und so leben wir bis in die Siebziger-, Acht-zigerjahre hinein. Aber das ändert nichts daran, daß wir tatsächlicheine Kopfentwickelung und eine Herzentwickelung, daß wir diesezwei Naturen in uns tragen. Unsere Kopfentwickelung ist auch in derRegel mit dem achtundzwanzigsten Jahre vollständig abgeschlossen;der Kopf entwickelt sich nicht mehr weiter. Dasjenige, was sich dannentwickelt, ist der übrige Organismus. Der sendet auch von sich ausdie Entwickelungsstrahlen in das Haupt herein. Wer nur anzuschauenvermag die Gestalt, Charakteristisches der Gestaltentwickelung, derkönnte selbst aus äußerlichen Dingen, wenn auch nicht auf diese Sacheselbst kommen, so doch auf die Bestätigung. Darauf kommen muß manallerdings durch Geisteswissenschaft. Aber sehen Sie, wer hat nochnicht ein kleines Kind betrachtet und sich gesagt, wenn er es später wie-der gesehen hat: Dieses Kind ist erst in späteren Jahren dem oder jenemso ähnlich geworden. - Das hängt damit zusammen, daß die Ver-erbungskräfte eigentlich im übrigen Organismus stecken. Der Kopf istganz aus dem Kosmos heraus gebildet; und erst wenn die Vererbungs-kräfte aus dem übrigen Organismus heraus arbeiten, was langsamergeht, dann ähnelt sich auch die Physiognomie des Kopfes dem übri-gen Organismus an. Das ist nur ein Beispiel, wie durch die äußerenTatsachen bestätigt werden kann, was die Geisteswissenschaft findet.Das ist bedeutsam, daß man das festhält: Der Kopf macht in seiner

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Ausbildung einen viel schnelleren Weg durch als der übrige Orga-nismus.

Sehen Sie, das zu wissen hatte keine so große Bedeutung in den frü-heren Zeiten, als die Menschen mehr unfrei waren, mehr geleitet wor-den sind. Da haben die guten geistigen Mächte die Sache geregelt. Dahaben sie gewissermaßen zwischen dem Tempo der Kopf entwickelungund dem Tempo der übrigen Entwickelung den Akkord hergestellt,haben das in Einklang gebracht. Jetzt beginnt die Zeit, wo der Menschselber dafür sorgen muß, daß solche Dinge in Einklang kommen. Da-her muß der Mensch solche Dinge richtig verstehen können, muß aufsie eingehen können, und er sündigt gegen die Entwickelung, wenn erdas nicht kann. Und wir haben ein wichtiges Gebiet des Menschenle-bens, wo gegen diese Dinge furchtbar gesündigt wird. Diese Sündekommt heute, weil wir seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundertsdrinnenstecken, sporadisch schon zum Ausdruck. Sie wird in furcht-barer Weise zum Ausdruck kommen, wenn die Menschen die geistigenImpulse nicht begreifen können. Heute kommen sie zunächst in derfolgenden Art zum Ausdruck: Man berücksichtigt nicht, daß demMenschen etwas gegeben werden muß, wenn er sich normal entwickelnsoll, was darauf Rücksicht nimmt, daß seine Kopfentwickelung drei-bis viermal schneller geht als die des übrigen Organismus. Und ein Ge-biet, auf dem dies ganz besonders schädigend zum Ausdruck kommt,ist das der Erziehung, des Unterrichts, und zwar aus folgenden Grün-den: Unter dem Einflüsse der naturwissenschaftlichen Weltanschauunghaben sich Begriffe herausgebildet, die nach und nach bloße Begriffefür die Kopfbildung geworden sind, die der übrigen Entwickelungnichts geben, Begriffe, die in dem Tempo erworben werden, wie derKopf sich entwickelt, die nicht in dem Tempo aufgenommen werdenkönnen, in dem der übrige Organismus sich entwickelt.

Damit ist außerordentlich viel gesagt. Die Zeit hat allmählich lauterIdeen ausgebildet, die den Kopf beschäftigen, die das Herz kühl undleer lassen. Sie kommen heute schon, wie gesagt, sporadisch; aber dieDinge werden immer mehr und mehr um sich greifen. Sie können dieProbe machen, wenn Sie das Leben beobachten können. Der Mensch istnämlich durch die Zwiespältigkeit seiner Kopf- und Herzensbildung

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darauf angewiesen, daß er in seiner Jugend nicht bloß eine Kopfbil-dung bekommt. In der Jugend kommt ja vorzugsweise der Kopf in Be-tracht, weil das andere sich langsamer entwickelt. Wenn man den Men-schen ebenso erziehen wollte für das übrige wie für den Kopf, so müßteman ihn das ganze Leben in die Schule nehmen. Man kann in derSchulerziehung nur den Kopf behandeln. Aber heute behandelt manden Kopf so, daß dieser Kopf geistig-seelisch nichts zurückgeben kannan den übrigen Organismus. Der übrige Organismus gibt ja seine ver-erbten Impulse das ganze Leben hindurch an denKopf ab, sonst würdenwir mit siebenundzwanzig Jahren sterben, denn der Kopf ist dazu ver-anlagt. Aber ebenso sollte der Kopf das wiederum abgeben, was in ihmherangezogen wird. Daß die heutige Erziehung das nicht trifft, dafürkönnen Sie die Probe machen, indem Sie sich die Frage stellen: Ist esdenn nicht so, daß heute Menschen, welche die schulmäßige Erziehungbekommen, sich im späteren Leben nur an das Gefühlsmäßige erin-nern? - Sie tun meistens nicht einmal das, sondern sie sind froh, wennsie alles rasch vergessen können. Das bedeutet nur, daß der übrige Or-ganismus anschaut die Bildung des Kopfes. Würde der übrige Orga-nismus vom Kopfe als Lebensessenz das erhalten, was er braucht, sowürde man sich nicht nur gedächtnismäßig erinnern, sondern manwürde zurückblicken auf das, was einem der Lehrer gegeben hat, wieauf ein Paradies, zu dem man jede Stunde im späteren Leben mit inni-ger Zufriedenheit, mit Anhänglichkeit zurückdenkt, in das man sichimmer wieder und wiederum versenkt und in dem man eine Quelle vonVerjüngungen hat. Es wäre eine Quelle von Verjüngung, wenn es Her-zensbildung enthalten würde, nicht bloß Kopfbildung. Dann würdeder Mensch sein ganzes Leben hindurch für den übrigen Organismus,der sich viermal langsamer entwickelt, aus der Kindheitslehre etwashaben, aus der Schule etwas haben, was auch zurückwirken würde aufseinen Organismus. Heute fängt das erst an, immer schlimmer undschlimmer wird es werden. Die Menschen werden früh greisenhaft wer-den, weil sie höchstens gedächtnismäßig sich an das erinnern werden,was sie nur für den Kopf aufgenommen haben, und was so nur bis zumsiebenundzwanzigsten Jahre eine Bedeutung hat. Nachher bleibt esstehen, Unbrauchbares, an das man sich zurückerinnert; und der

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Mensch altert. Er wird früh innerlich seelisch-geistig alt, weil die Kopf-bildung nicht geeignet ist, überzufließen in die viermal langsamereHerzensentwickelung.

Diese Dinge müssen berücksichtigt werden. Sollen sie aber berück-sichtigt werden, dann muß unsere Schulerziehung eine total anderewerden, dann muß sie anstelle der toten Begriffe, die heute überallherrschen, lebendige Begriffe haben. Bei einer Kant-Laplaceschen Theo-rie werden sich die Menschen immer so zurückerinnern, daß sie dabeivergreisen. Das, was wirklich ist: der geistig-seelische Ausgangspunktunseres Weltenalls, aus dem sich das Physische erst herausentwickelthat, das wird, wenn es richtig in den Unterrichtsstoff verarbeitet wird,ein lebenslänglicher Quell der Verjüngung sein. Und möglich ist es,den Unterrichtsstoff nicht bloß durch Methodisches, sondern durchvöllige Umarbeitung im anthroposophischen Sinn so zu gestalten, daßder Mensch sein ganzes Leben hindurch etwas hat, an das er sich nichtnur gedankenmäßig zurückerinnert, sondern was ein lebenslänglicherQuell fortwährender Verjüngung ist. Das muß bewußt erreicht wer-den, daß die Menschen nicht, wenn sie kaum fünfzig Jahre alt sind,Greise sind, sondern daß sie innerlich seelisch von dem noch zehrenkönnen, was sie in der Jugend aufgenommen haben; daß sie einen Er-frischungsquell, einen Erfrischungstrank an dem haben können, wassie als Kind aufgenommen haben. Dann muß es aber so gegeben wer-den, daß es nicht bloß taugt für die Kopfentwickelung, sondern daßes taugt für die Entwickelung des ganzen menschlichen Organismus,die drei- bis viermal langsamer vor sich geht als die Kopf entwickelung.

Solche Dinge einsehen heißt: dasjenige, was bei dem Naturwissen-schafter und deshalb auch bei unserer Allgemeinbildung tote Begriffesind, beleben. Unterschätzen Sie nicht die große soziale Bedeutung des-sen, was damit gesagt ist. Sie könnten ja glauben, das habe nur Bedeu-tung da, wo die Naturwissenschaft im engeren Sinne wirkt. Das istnicht wahr. Die Naturwissenschaft wirkt ja auf die ganze heutige Bil-dung, auf die ganze Breite der heutigen Menschheitsentwickelung. Diesenaturwissenschaftlichen Begriffe dehnen sich aus bis in die Sonntags-blättchen hinein; und selbst derjenige, der nur aus seinem Sonntags -blättchen heraus alles dasjenige aufnimmt, was seinen Glauben heute

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ausmacht, den wirklichen und wahrhaftigen Glauben, den er seinerKirche oder seinem Amte gegenüber heuchelt, der ist heute infiziertdurch die Naturwissenschaft, die nur Totes liefern kann, wenn auchdieses Tote in der geistigsten Weise betrachtet werden mag. Diese Dingemüssen klar durchschaut werden.

Sie sehen also: Es handelt sich bei der anthroposophisch orientiertenGeisteswissenschaft wahrhaftig nicht bloß um etwas, was so die sub-jektive Neugierde befriedigen kann, sondern um etwas, was tief einzu-schneiden hat in unsere ganze Zeitentwickelung. Und wiederum, diesesEingreifen in unsere Zeitentwickelung hängt für unser Bewußtsein,das in der Anthroposophie herangeschult werden kann, zusammen mitder Erkenntnis dessen, was da von den Jahren 1841 bis 1879 und bis1917 sich in der Menschheitsentwickelung übersinnlich und sinnlich,über dem physischen Plan und auf dem physischen Plan, abgespielt hat.Man kann diese Dinge nicht ernst genug nehmen. Denn nicht ernst ge-nommen worden ist vieles, recht vieles in der neueren Zeit. Und darinwird gerade die Gesundung der Menschheit bestehen müssen, daß dieMenschen sich wiederum bequemen, Empfindungen, Begriffe, Gefühleüber die Weltentwickelung aufzunehmen. Besinne man sich nur ein-mal über diese Dinge!

Wenn Sie auf die letzten Jahrzehnte zurücksehen: was hat denn,mit Ausnahme von einzelnen Menschen, im Grunde genommen dietonangebende Welt mit Weltanschauungsfragen, mit großen Weltan-schauungsfragen gemacht? Sie hat sich höchstens die naturwissenschaft-lichen Begriffe irgendwie popularisieren lassen, hat sich von diesennaturwissenschaftlichen Begriffen, die sie sich hat popularisieren las-sen mit den Mitteln der neueren Zeit, allerlei möglichst illustrativeDinge vorführen lassen. Wenn man irgendwie hat ankündigen können,daß irgend etwas aus der Naturwissenschaft mit Lichtbildern vorge-führt wird, so hat man damit ganz besonderes Aufsehen gemacht undbesonderen Zuspruch erfahren. Was hat denn eigentlich gerade die ton-angebende Gesellschaftsschicht mit Weltanschauungsfragen in der neue-ren Zeit gemacht? Man hat sich sehr interessiert, wenn irgend jemanderzählen konnte, was er als Nordpolfahrer, was er als Brasilienfor-scher erlebt hat. Das soll nicht getadelt werden, daß man sich dafür in-

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teressiert. Wenn einer darüber spricht, daß er die Geheimnisse des Ei-keimes des Maikäfers irgendwie hat enträtseln können, so hat man dieNotwendigkeit gefühlt, daß man als gut bürgerlich gebildeter Menschder neueren Zeit in solche Vorträge hineingehört, wenn man auch nachfünf Minuten, sofern einen nicht gerade ein Lichtbild aufgeweckt hat,in Schlummer versunken ist. Aber der wirkliche Wille, die menschlicheIdee hinaufzuheben zu einer Weltanschauung, wo ist er denn eigentlichvorhanden? Wo er vorhanden war, das ist sehr charakteristisch, unddarüber nachzudenken ist eigentlich heute jeder gezwungen. Wo gibtes seit Jahrzehnten die regsten Weltanschauungsdebatten, die regstenInteressen für Weltanschauungsfragen? Da, wo die Sozialdemokratenihre Versammlungen hatten. Da bildete man Weltanschauungen aus.Das weiß man nur in anderen Gesellschaftsschichten nicht, weil mansich womöglich, so gut es geht, davor hütet, das Menschenleben wirk-lich kennenzulernen.

Aber was bildet man bei den Sozialdemokraten für eine Weltan-schauung aus? Eine, die nur arbeitet mit denselben Begriffen, welchein die Maschinen hineingeheimnißt sind; eine Weltanschauung, die An-schauungen über die Welt nur ausbildet in dem Mechanischen: histo-rischen Materialismus, materialistische Geschichtsauffassung, materia-listische Auffassung des menschlichen Zusammenlebens. Sie können jaüber diese Begriffe in jeder sozialistischen Zeitschrift nachlesen. Dastun ja die meisten nicht, aber das würde, um sich zu informieren, ganznützlich sein. Diejenigen Menschen, die in die Maschinen hineinge-drängt worden sind, die von morgens bis abends mit nichts anderemzu tun haben, und die, wenn sie am Abend von den Maschinen weg-kommen, es wieder zu tun haben mit einer gesellschaftlichen Einrich-tung, die eigentlich ein Abbild der Maschine ist, die haben eine Welt-anschauung, welche die Welt so ansieht, als wenn sie eine Maschinewäre. Sie haben eine Weltanschauung ausgebildet, welche mit nichtsIndividuellem rechnet, welche alles über den ausgleichenden Begriffdes Toten spannt. Man hat ein recht gutes, ein wahres Sprichwort: DerTod macht alles gleich -; aber man könnte auch sagen: Eine Weltan-schauung, welche sich nur mit dem Maschinellen, dem Toten beschäftigt,macht auch alles gleich, löscht alles individuelle Dasein, alles Leben

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aus. - So würde alles individuelle Dasein, alles Leben ausgelöscht durchdiejenige Weltanschauung, die von der Maschine her ihr Ideal nähme.Solange die Sache nicht sengerig wurde, hat man diese Dinge träu-mend, schlafend über sich ergehen lassen, hat sich so verhalten, daß manalle Weltanschauungsfragen abgelehnt hat und allmählich den Zusam-menhang verloren hat mit all den Impulsen, die das menschliche Ge-meinschaftsleben, das menschliche Erziehungsleben in verständnisvollerWeise durchdringen können. Und im Grunde genommen ist in der neue-ren Zeit in Weltanschauungsfragen nur da gearbeitet worden, wo manmaschinelle Begriffe hatte. Auch die Wissenschaft gab ja nur maschinelleBegriffe her. Wenn Sie das Buch von Theodor Ziehen, das für die mo-derne Wissenschaft ein Musterbuch ist, nehmen und die Schlußkapitellesen, so werden Sie sehen, daß er ja auch zu denjenigen gehört, welchesagen: Naturwissenschaft kann nicht zu Begriffen kommen, die Ethik,Moral, Ästhetik hergeben; aber nachher werden doch Begriffe ausge-bildet, welche besagen, daß alles, was nicht Naturwissenschaft ist, nurerträumtes Zeug sei. Zwischen den Zeilen wird doch alles das, wasnicht naturwissenschaftlich ist, verleumdet. Da sagt Theodor Ziehenam Schlüsse zwar noch gnädig: Begriffe wie Freiheit, wie Ethik, Mo-ral und so weiter, die müssen ja von anderen Seiten kommen; nur denBegriff der Verantwortung, den müßte eigentlich die wirkliche Wis-senschaft ablehnen. Verantwortlich könne der Mensch ebensowenigsein, wie irgendeine Blume für ihre Häßlichkeit verantwortlich ge-macht werden könne. - Das ist naturwissenschaftlich absolut richtig,wenn man einseitig auf dem Boden der Naturwissenschaft steht, wennman bloße Begriffe des Toten anwendet. Aber man wendet dann ebenBegriffe an, die nicht einmal zu dem Lebendigen kommen, erst rechtnicht zum Ich.

Interessant ist ja, wie Theodor Ziehen über das Ich spricht. In die-sen Vorträgen, die nachgeschrieben und dann gedruckt worden sind,so daß sie den Ton des Vortrages festhalten, sagt er über das Ich: MeineHerren, es ist ein komplizierter Begriff, das Ich; wenn Sie nachdenken,was Sie eigentlich bei dem Wörtchen «Ich» denken, auf was kommenSie? Zuerst auf Ihre Leiblichkeit. Nachher auf Ihre verwandtschaft-lichen Beziehungen. Nachher auf Ihre Eigentumsbeziehungen. Dann

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denken Sie an Ihren Namen und Titel - die Orden läßt er aus -, nach-her ..., nun, an lauter solche Dinge. Und dasjenige, meint er, was man-cher Psychologe ausgebildet hat, ist nur eine Fiktion. Ja, der Naturfor-scher kann auch, wenn er über das Ich spricht, zu nichts anderem kom-men als zu dem, woran eigentlich kein Mensch denkt, wenn er ernst-haft die Sache auffaßt, wenn er das Ich ins Auge faßt. Aber es ist ernstmit der Sache, daß dasjenige, was an Begriffen nur aus dem Toten her-aus ausgebildet ist, auch zur Ertötung, zur Zerstörung, zur Verwüstungdes Lebens führen muß. Eine Theorie, die aus der toten Maschine her-aus als soziale Weltanschauungstheorie gemacht worden ist, wirkt,wenn sie ins Leben eingeführt wird, nicht aufbauend, sondern zerstö-rend. Die Menschheit hat sich nicht entschlossen, dies zu begreifen;sie muß es daher am Extremsten erleben. Denn, was ist geschehen? Indemjenigen Gebiete, wo einstmals Quellen ungeheurer Zukunftsim-pulse aufgehen werden, im Osten, wirkt die Toten-Theorie, die Fort-setzung der maschinellen Weltanschauung in sozialen Anschauungen,im Leninismus und Trotzkismus, zerstörend.

Betrachten Sie die Sache nur ganz ernst. Derjenige, der nur das Totegelten läßt, auch im Menschen nur das Tote gelten läßt, mag er auchein so großer Gelehrter sein wie Theodor Ziehen, wenn er über das Ich,über die Verantwortlichkeit so redet wie Theodor Ziehen, dann ist seinrichtiger gesellschaftlicher Interpret nicht er selbst - der sich das nichtgetraut -, sondern Lenin und Trotzkij sind diejenigen, die die richtigeKonsequenz ziehen für die menschliche Gesellschaft. Was Lenin undTrotzkij ausführen, das sind die Konsequenzen desjenigen, was vonder rein naturwissenschaftlichen Weltanschauung schon gepflegt wird.Weil diese naturwissenschaftliche Weltanschauung aber Kompromisseschließt mit dem, was nicht Konsequenz dieser Weltanschauung ist,nur deshalb wird sie, weil sie eben nicht die Konsequenz zieht, nichtLeninismus und Trotzkismus.

Darauf kommt es aber auch an, daß die Dinge dem Sinne der Wirk-lichkeit nach genommen werden. Was nicht wahr ist, das wirkt als et-was Objektives. Gedanken sind Wirklichkeiten, sind nicht bloße Be-griffe. Man kann nicht nur sagen: Auch wenn kein Mensch von einerLüge etwas weiß, so wirkt sie doch als Macht. - Das ist wahr, aber

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noch etwas anderes ist wahr: "Wenn eine Lüge existiert, die man nichtals Lüge ansieht, so ändert das nichts an der Wirkung; sie wirkt in derrealen Welt als Lüge. Und sie mag noch so gut gemeint sein, sie wirktdoch als Lüge.

Es gibt heute schon Werke - ich habe es vielleicht auch hier schonerwähnt -, welche vom Standpunkte der richtigen gegenwärtigen Na-turwissenschaft aus die Christus Jesus-Frage behandein. Sehr interes-sante Bücher, weil sie kompromißlos vorgehen. Vor allen Dingen eindänisches Buch. Es gibt auch andere, die wirklich aussprechen, was dergegenwärtige Psychologe, der gegenwärtige Psychiater, der naturwis-senschaftlich denkt, über den Christus Jesus denken muß. Was wird dader Christus Jesus? Er wird da ein Epileptiker, ein pathologischerMensch, eine krankhaft veranlagte Natur. Und die Evangelien wer-den so interpretiert, daß man in jedem Kapitel sieht: sie sind Krank-heitsgeschichten. Das ist natürlich alles Blödsinn; aber daß es Blödsinnist, das zu sagen, dazu hat heute nur derjenige das Recht, der die Sachegeistig durchschaut. Derjenige, der die naturwissenschaftliche Psycho-logie und Psychiatrie heute gelten läßt, von dessen Standpunkt aus istdiese Christus-Lehre die richtige, weil sie da die richtige Konsequenzzieht. Und ein Mensch, der so als heutiger Psychiater spricht, ist nochimmer ein besserer Mensch, ein wahrerer, ein ehrlicherer Mensch alsderjenige, der die heutige Psychiatrie annimmt und doch im anderenSinne über den Christus denkt, im Sinne jener Pastoren oder Pfarrer,die auch die Naturwissenschaft umfänglich gelten lassen und doch dieKompromisse schließen.

Eine Lüge wirkt, wenn sie auch noch so fromm drapiert ist, dennsie ist eine reale Macht. Vor allen Dingen ist heute notwendig, daß mannicht das Leben zudeckt durch Kompromisse, sondern daß man überalldasjenige ins Auge faßt, was notwendig ist ins Auge zu fassen von be-stimmten Voraussetzungen aus. Will heute der moderne Psychiaternicht den Christus als Epileptiker, als Irrsinnigen ansehen, der er nachder heutigen Psychiatrie wäre, dann muß er die Psychiatrie aufgeben,wie sie heute ausgestaltet ist; dann muß er sich auf den Boden der Gei-steswissenschaft stellen. Würden die Menschen heute imstande sein,sich wirklich scharf umrissen auf die Grundlagen desjenigen zu stellen,

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was erkannt werden kann, dann würden wir mit dem, was erkanntwerden kann, erst die richtigen Impulse haben für das, was weiter wir-ken muß.

In diesen Tagen ist mir ein Zettelchen in die Hand geschoben wor-den über ein Buch, das mir aber schon bekannt war, das ja jedenfallsdas Entsetzen der Dame - denn eine Dame wird es ja wohl sein - her-vorgerufen hat. In dem Zettelchen wird mitgeteilt, was AlexanderMoszkowski geschrieben hat. Ich habe das Buch nicht hier, aber ausdem Zettelchen werden Sie den Inhalt des Buches erkennen können:«Wer jemals die Bänke eines Gymnasiums gedrückt hat, dem werdendie Stunden unvergeßlich sein, da er in Plato die Gespräche zwischenSokrates und seinen Freunden <genoß>, unvergeßlich wegen der fabel-haften Langeweile, die diesen Gesprächen entströmt. Und man erinnertsich vielleicht, daß man die Gespräche des Sokrates eigentlich herz-haft dumm fand; aber man wagte natürlich nicht, diese Ansicht zuäußern, denn schließlich war der Mann, um den es sich handelte, jaSokrates, der <griechische Philosoph>. Mit dieser ganz ungerechtfertig-ten Überschätzung des braven Atheners räumt das Buch <Sokrates -der Idiot> von Alexander Moszkowski (Verlag Dr. Eysler & Co. Ber-lin) gehörig auf. Der Polyhistoriker Moszkowski unternimmt in demkleinen, unterhaltend geschriebenen Werke nichts Geringeres, als So-krates seiner Philosophenwürde so ziemlich vollständig zu entkleiden.Der Titel <Sokrates - der Idiot> ist wörtlich gemeint. Man wird nichtfehlgehen in der Annahme, daß sich an das Buch noch wissenschaftlicheAuseinandersetzungen knüpfen werden.»

Es wird natürlich der heutige Kompromißlermensch sagen: Nun,wir haben ja zur Genüge gelernt, daß Sokrates ein großer Mensch ist,und kein Idiot; da kommt nun Moszkowski und sagt so etwas! - Aberheute ist es notwendig, über eine solche Sache einen ganz anderen Ge-danken zu haben. Wer Moszkowski kennt, weiß, daß dieser Moszkow-ski im vollsten Sinne des Wortes auf dem Boden der naturwissenschaft-lichen Weltanschauung steht, bis zu der Quantentheorie auf diesemBoden steht, daß er also auf dem äußersten Flügel der heutigen natur-wissenschaftlichen Weltanschauung steht. Und gesagt werden muß,daß dieser Moszkowski ein viel ehrlicherer Mensch ist als die anderen,

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die auch glauben, auf dem Standpunkte der naturwissenschaftlichenWeltanschauung zu stehen und doch nicht denken, sie müßten Sokra-tes für einen Dummkopf ansehen, der gar nichts zu sagen hat zu denfür die Weltanschauung wichtigen Begriffen; die trotzdem die Kom-promisse schließen, Sokrates als einen großen Mann hinzustellen.

Das ist es, daß sich die Dinge heute nicht zurechtrücken aus demeinfachen Grunde, weil man nicht den Wahrheitssinn hat, überallkompromißlos die Konsequenz ins Auge zu fassen. Und derjenige, derSokrates heute gelten lassen will, darf eben nicht die Voraussetzungen,die Moszkowski macht, gelten lassen.

Aber das ist heute schwierig, ist schwierig gewesen schon seit dreibis vier Jahrhunderten. Daher hat man die Sache gehen lassen, bis siesich ausgewachsen hat zu dem, was in den letzten drei bis vier Jahrengeworden ist. Die Dinge müssen angefaßt werden bei ihrem seelisch-geistigen Grundcharakter, da wo ihre wirklich tieferen Impulse liegen.Das muß ins Auge gefaßt werden, was heute ganz besonders notwendigist, ins Auge zu fassen: daß Wahrheit und Wahrheitssinn namentlichin die Seelen der Menschen einziehe! Dann werden die Dinge, die indas Licht dieses Wahrheitssinnes gerückt werden, die von dem Lichtedieses Wahrheitssinnes beleuchtet werden, ihr richtiges Gesicht zeigenkönnen. Dann wird man genötigt sein, einfach weil man das richtigeGesicht der Dinge sieht, zur Geisteswissenschaft zu kommen. Denn dieGegenwart spricht viel und spricht eindringlich, und die Dinge kön-nen gelernt werden, wie die Erziehungsfragen, die Unterrichtsfragenheute von der Geisteswissenschaft studiert werden müssen. Wie für denUnterricht, für die Erziehung die Frage über das verschiedene Tempoder Kopf- und Herzensbildung wichtig ist, so gibt es viele Fragen, diefür das soziale Leben, für das historische Leben, für das juristischeLeben grundlegend, wichtig, bedeutsam sind. Wir müssen nur heraus-kommen aus dem, in das wir uns hineingebohrt haben, aus dem furcht-baren Autoritätsglauben gegenüber dem, was die naturwissenschaft-liche Weltanschauung allein gibt. Das ist schon einmal notwendig fürunsere Zeit. Das, was die naturwissenschaftliche Weltanschauung«wirklich» nennt, gibt Begriffe, die niemals hinaufreichen können indas Gebiet des menschlichen Zusammenlebens. Unter diesem Fehler

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lebt heute die Menschheit. Wenn man die Dinge tiefer betrachtet, sosieht man dieses.

Das ist es, was ich heute zu Ihnen sagen wollte. Ziehe nun jedereinzelne daraus den Schluß, daß es darauf ankommt, die Augen auf-zumachen, die Dinge zu beleuchten mit dem Lichte, das wir aus demLichte der Geisteswissenschaft selber finden können.

Ich habe gestern davon gesprochen, wie dasjenige, was unsere Ent-wickelung ist, dem Orientalen erscheint. In vieler Beziehung sieht derOrientale gerade das, was das Kompromißlerische ist, das Unkonse-quente, mit seinem naiven, intuitiven geistigen Vermögen. Und vonhervorragenden Orientalen gibt es gerade jetzt kritische Anschau-ungen, die bedeutsam, interessant zu verfolgen sind. Immer mehr undmehr bilden sich im asiatischen Osten die Anschauungen aus, daß derOrient die weitere Entwickelung der Menschheit in die Hand nehmenmüsse. Diese Anschauungen, wie würden sie zunichte werden können,wenn mehr Sinn wäre für dasjenige, was von hier als Geisteswissen-schaft verkündet wird! Aber dann muß dieser Sinn auch wirklich einlebendiger sein; man muß nicht nur etwas Interessantes an der Gei-steswissenschaft haben wollen, an dem man sich eine innere seelischeWollust bereitet, sondern man muß etwas haben wollen, was das ganzeLeben durchdringt. Und die Anschauung muß man haben können, daßdurch die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft die sozialen, die sittli-chen, die Rechtsbegriffe wirklich erst ins Auge gefaßt werden können.Dasjenige, was die Menschheit gedacht hat unter dem Einfluß der na-turwissenschaftlichen Weltanschauung durch Jahrzehnte, das ist demGeiste, der in der Wirklichkeit waltet, nicht gewachsen. Nein, das isthöchstens gewachsen jenen Anschauungen, die heute Menschen aus-bilden, welche die ganze Welt geistig ertöten möchten, weil sie ihreBegriffe nur von der Welt des Toten hernehmen. Künftige Zeiten, indenen man wieder objektiver denken wird über diese Dinge, in denendie Leidenschaften verglommen sein werden, die heute so vielfach dieUrteile lenken und leiten, künftige Zeiten - ich bin voll davon über-zeugt, daß es so sein kann - werden sagen: Eines der wichtigsten Cha-rakteristika des Zeitalters um 1917 herum war, daß die Weltanschau-ung, die nur für den Kopf gedacht ist und den Menschen eigentlich

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ins Greisenhafte treibt, eine schulmäßige Weltanschauung gewordenist. - Man wird sie künftig einmal - die Zukunft wird vielleicht nochferne liegen — Wilsonismus nennen, anknüpfend an den großen Schul-meister, von dem sich heute ein großer Teil der Menschheit eine so-zialpolitische Weltanschauung einprägen lassen will. Nicht umsonstist die bloße Schulweisheit, die sich vom Geistigen nichts träumen läßt,heute eine der wichtigsten politischen Potenzen in der Form des Wil-sonismus. Das ist wichtig, es ist ein ungeheuer bedeutungsvolles Zeit-symptom. Es ist nur nicht möglich, heute schon über diese Dinge wirk-lich eingehend und umfassend und alles ergreifend zu sprechen. Aberaus meinen heutigen Andeutungen werden Sie entnommen haben, wiewichtig es eigentlich ist, zu versuchen, diese Dinge durchgreifend zuverstehen, wie unendlich wichtig es ist, nicht nur aus Affekten, ausEmotionen heraus, sondern aus der Erkenntnis heraus diese Dinge insAuge zu fassen.

Ich habe vielleicht schon einmal auch hier erwähnt, erwähne es wie-derum, weil es wichtig ist: Jetzt ist es ja nicht schwer, über Wilson sichauszusprechen innerhalb Mitteleuropas; aber ich kann ja hinweisen dar-auf , wie ich in einem Zyklus, der lange vor diesen Ereignissen gehaltenworden ist, als noch die ganze Welt einschließlich Mitteleuropas Wilsonbewunderte, dazumal ihn genau ebenso charakterisiert habe wie jetzt. Eshandelt sich darum, daß man aus viel tieferen Quellen heraus an die Im-pulse, welche die heutige Zeit beherrschen, welche die heutige Zeit auchals Irrtümer beherrschen, herangeht. Gerade auf unserem anthropo-sophischen Gebiete hatten unsere Freunde Gelegenheit, zu sehen, wie,lange bevor eine äußere Nötigung vorlag, die Dinge im rechten Lichtezu sehen, immer wieder und wiederum auf das Richtige hingewiesenworden ist. Möge man diese Dinge in der Zukunft besser verstehen,als man sich in der Vergangenheit entschlossen hat, sie zu verstehen!Und das lege ich Ihnen noch besonders ans Herz: Manches, was aufdem Gebiete unserer anthroposophischen Wissenschaft zutage tritt, esist noch unendlich besser zu verstehen, als man sich bisher entschlos-sen hat, es zu verstehen. Es kann noch tiefer in die Herzen und Seelender Menschen dringen und zu einem intensiveren Leben erweckt wer-den, als es bisher geschehen ist. Möge es geschehen! Denn es wird das,

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was dadurch geschieht, schon mit vielem zusammenhängen, was wahr-haftig nicht zum Unheil, sondern zum Heil der künftigen Menschheits-entwickelung geschehen kann, was geschehen kann zur Ausbesserungvon vielem, das versäumt worden ist, und das vielleicht weiter ver-säumt werden wird, wenn man nur auf dasjenige, was außerhalb derGeisteswissenschaft gewonnen werden kann, hören will. Auch unterunseren Freunden haben viele eine doppelte Buchhaltung ihres Le-bens. Die eine haben sie in den anthroposophischen Betrachtungen undBüchern, um für den Privatgebrauch ihres Herzens und ihrer Seeleetwas daraus zu gewinnen. Die andere Buchhaltung ist für das Lebendraußen, wo sie einzig und allein auf die naturwissenschaftliche Auto-rität etwas geben. Man merkt es oftmals nicht, daß es so ist; es ist abergut, in diesen Dingen ein wenig gewissenhaft mit seiner Seele zu Ratezu gehen, damit Einklang bestehe zwischen diesen zwei Buchhaltungen.

Das Leben des Menschen läßt sich doch nur in einerlei Sinn ver-walten. Auch in die naturwissenschaftliche Weltanschauung muß derGeist eindringen. Und auch das religiöse Leben muß durchdrungenwerden von demjenigen Lichte, das an der Geisteswissenschaft gewon-nen werden kann. Fassen Sie selbst solche Dinge, wie sie heute hier ge-sagt und gemeint waren und die scheinbar die Zeitenbetrachtungen inübersinnliche Höhen hinaufführen, so auf, wie sie in Ihren Vorstel-lungen lebendig ergriffen werden können. Dann werden Sie schonsehen, daß mit anthroposophischer Bildung nicht nur Kopfbildung,daß damit Herzensbildung für die Menschheit gegeben werden kann.Sie ist schon Herzensbildung. Sie dient schon der ganzen Menschheit,nicht bloß derjenigen Menschheit, die eigentlich mit siebenundzwan-zig Jahren sterben könnte. Sie dient schon dazu, den Menschen lebens-mutig, lebenstüchtig das ganze Leben hindurch zu machen. Greisen-haft, nervös, unharmonisch, zerrissen wird diejenige Bildung ihn ma-chen, welche das verschiedene Tempo von Kopf- und Herzensent-wickelung nicht beachtet. Sehen Sie ins Leben, Sie werden dies be-stätigt finden, denn das Leben kann ein großer Lehrmeister sein mitBezug auf die Bestätigung desjenigen, was anthroposophisch orientierteGeisteswissenschaft aus den geistigen Höhen herunterholt. NehmenSie alles zusammen, was gesprochen ist, vor allen Dingen, wenn es von

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solchen Gesichtspunkten aus gesprochen ist wie heute, als zu IhremHerzen gesprochen, meine lieben Freunde, für die Bildung unseres Her-zens durch den Geist der Welt; und halten Sie zusammen dasjenige,was das Band sein soll, das uns gerade als Glieder unserer Bewegungmiteinander verknüpft. So wollen wir zusammenarbeiten, und so wol-len wir uns vornehmen, weiterzuarbeiten, jeder an seinem Platz, so guter es kann.

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V I E R Z E H N T E R VORTRAG

Stuttgart, 23. April 1918

Ich habe hier schon aufmerksam gemacht darauf, daß man immer wie-der und wiederum einen Einwand gegen die Beschäftigung mit geistes-wissenschaftlichen Wahrheiten hören kann, einen Einwand übrigens,der es von vorneherein an der Stirn trägt, daß er aus der Überbequem-lichkeit der menschlichen Seele entspringt. Es ist der Einwand derer,die da sagen: Ich weise es ja nicht ab, daß der Mensch, wenn er durch diePforte des Todes gegangen ist, in eine andere, eine geistige Welt ein-tritt; aber wie diese geistige Welt beschaffen ist, wie es mit dieser gei-stigen Welt steht, das will ich abwarten! Hier auf dieser Erde muß mansich seinen materiellen Pflichten widmen, man wird dann schon sehen,wie es in einer anderen Welt zugeht, wenn man in diese andere Weltversetzt wird. - Es kann nicht bestritten werden, daß dieser Einwandsehr bequem ist. Allein, ihn sorgfältig zu prüfen, das geziemt dem, dersich für geisteswissenschaftliche Wahrheiten interessiert, denn durchsolche Prüfung kann er bestärkt werden in der Anschauung von derNotwendigkeit, sich wirklich mit geisteswissenschaftlichen Wahrhei-ten zu befassen. Um diese Prüfung Ihnen einmal, ich möchte sagen,vor die Seele hinzulegen, wollen wir von einem gewissen Gesichts-punkte aus heute wiederum die Beziehungen uns vergegenwärtigen, dieda bestehen zwischen dem Menschenleben hier und dem Menschenle-ben, das zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verfließt.

Seien wir uns doch klar darüber, daß der Mensch, indem er hier imphysischen Leibe durch das Leben wandelt, nur einen Teil von dem,was mit seinem Leben zusammenhängt, wirklich in das gewöhnlicheBewußtsein aufnimmt, denn fortwährend gehen Dinge vor, welche mitunserem Leben zusammenhängen, die aber nicht so an diesem unseremLeben vorüberrauschen, daß wir sie uns klar und deutlich vor das ge-wöhnliche Bewußtsein brächten. Wir bringen uns manchmal die Tat-sachen halb und halb zum Bewußtsein, nicht aber die ganze Tragweite,die diese Tatsachen des alltäglichen Lebens für uns haben. Denken Sieeinmal am Abend über Ihr Tagwerk nach, denken Sie vor allen Dingen

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darüber nach, welche Orte - wir könnten auch etwas anderes auswäh-len, aber wir wollen einmal dies nehmen - Sie betreten haben, und wel-chen Menschen Sie dadurch nahegekommen sind. Das alles hat ja fürSie eine große Bedeutung, denn Ihre unmittelbare Umgebung spiegeltsich in Ihrer Seele. Und von vielen Dingen, die sich so spiegeln in derSeele, kommt wirklich das allerwenigste zum deutlichen Bewußtseinim alltäglichen Leben. Es ist doch ein großer Unterschied, ob wir, sagenwir, heute um neun Uhr morgens in der Nähe des Stuttgarter Bahnhofeswaren, oder ob wir draußen im Wald waren, denn in beiden Fällen hatsich etwas ganz anderes in Ihrer Seele gespiegelt; etwas ganz andereslebt in Ihrer Seele in beiden Fällen. Wir machen uns gewöhnlich nichtklar, daß das eine tiefgehende Bedeutung hat. Nur aus, ich möchtesagen, leisen Andeutungen des Lebens können wir die Bedeutung sol-cher Sachen oftmals entnehmen. Nehmen wir nur einmal das Folgende;Sie können es konstatieren - natürlich nicht in diesem Falle, sondern inanderen Fällen —, wenn Sie ein wenig auf das Leben achten. NehmenSie an, Sie sind heute abend hergekommen. Irgend jemand in der erstenSitzreihe hätte Veranlassung, den Saal, bevor ich hier zu Ende geredethabe, zu verlassen; er steht auf, bewegt sich durch den Gang und gehthinaus. Jemand in der dritten Sitzreihe hat ihn gesehen, aber, ich nehmedas wenigstens so an, dieser in der dritten Sitzreihe hat aufmerksam zu-gehört - was ja auch vorkommt, nicht wahr —, und er hat an seinemgewöhnlichen Bewußtsein diese Persönlichkeit, die da hinausgegangenist, eigentlich nur so halb, so ein bißchen vorübergehen lassen. Er wirdbemerken können, daß er vielleicht außerordentlich wenig träumt vondem, was ich hier gesprochen habe. Denn wahrscheinlich würden,wenn man darüber eine Statistik aufnehmen könnte, diejenigen derverehrten Zuhörer, die furchtbar viel träumen von dem, was hier ge-sprochen worden ist, doch nicht allzu zahlreich sein. Aber Sie werdenleicht sehen können - vielleicht nicht an diesem Beispiel, aber an einemähnlichen -, daß Sie träumen von dem, der da aufgestanden und hin-ausgegangen ist. Das heißt: Sie werden in zahlreichen Fällen des Lebensbemerken können, daß Sie gerade im Schlafbewußtsein auf diejenigenDinge zurückgreifen, die während des Tages flüchtig an Ihrem Be-wußtsein vorübergehen.

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Darauf beruht es, daß die Menschen so wenig wissen, wovon sie ge-träumt haben. Denn das meiste von dem, was geträumt wird, ist vonsolcher Art, daß es bei Tage ziemlich unvermerkt vorübergeht. Das-jenige, was ganz klar im Bewußtsein aufgefaßt wird, von dem wirdzumeist sehr wenig geträumt. Nur dann wird davon geträumt, wennes verknüpft ist mit gewissen Empfindungen, gewissen Gefühlen, dieman sich auch wiederum nicht klar und deutlich zum Bewußtseinbringt. Und beim Aufwachen erinnert sich der Mensch so wenig an dieTräume, weil er eben das, was er geträumt hat, in der vorhergehendenLebenszeit wenig beachtet. Es hängt das mit der geringen Erinnerungs-fähigkeit an die Träume doch auch zusammen. Kurz, was ich sagenwill, ist dieses, daß Unzähliges an dem Menschenleben vorüberrauscht,das nur ganz flüchtig in das Bewußtsein hereinkommt, das aber einegroße Bedeutung hat, wenn es auch im Unbewußten oder Unterbewuß-ten bleibt, für das menschliche Seelenleben. Alles, was so, ich möchtesagen, zwischen den Zeilen des Lebens verläuft, hat zunächst großeBedeutung, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geschrit-ten ist.

Wir haben ja diese Zeit, die der Mensch zunächst zwischen demTode und einer neuen Geburt verbringt, öfter zu beschreiben gehabtvon den verschiedensten Gesichtspunkten aus. So mischt sich immereines in das andere hinein, und nur dadurch, daß man die verschie-densten Gesichtspunkte wählt, kommt man zu einer gewissen Vollstän-digkeit auf diesem Gebiet. Alles, was unvermerkt am gewöhnlichenBewußtsein vorübergeht, das wird dann entrollt, wenn der Menschdurch die Pforte des Todes geschritten ist. Und ich möchte dasjenige,was da der Mensch zunächst durch lange Zeit hindurch erlebt, nennendas Entrollen der Bilder. Es ist im wesentlichen ein Durchmachen vonErlebnissen des imaginativen Bewußtseins, was da der Mensch durch-macht. Eine große, große Anzahl von Bildern wird entrollt über Le-bensszenen, die wir uns sehr wenig zum Bewußtsein gebracht haben.Und von dem wiederum, was wir uns hier zum Bewußtsein gebrachthaben, wird dasjenige entrollt, was hier vom Bewußtsein auch wenigberührt worden ist. Das andere, was hier deutliches Bewußtsein war,das tritt mehr als Erinnerung nach dem Tode auf, wie Gedächtnisbil-

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der, wie Erinnerung; aber das, was hier wenig beachtet worden ist, ent-rollt sich wie in Gegenwartsbildern.

Heute ist es mir besonders wichtig darauf hinzuweisen, daß das ersteDrittel des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt im we-sentlichen zu tun hat mit diesem Entrollen der Bilder, im wesentlichenzu tun hat mit einem Leben in Imaginationen. Diesen Imaginationenkönnen wir ja dadurch zu Hilfe kommen, daß wir eine Verbindungherstellen zwischen uns, die wir hier übriggeblieben sind, und denen,die als mit uns karmisch verbunden durch des Todes Pforte gegangensind. — Dann kommt das zweite Drittel, in dem dieses geistig-seelischeMenschenleben mehr ausgefüllt ist mit Inspirationen. Da findet dasstatt, daß dem Menschen klar wird, welche Bedeutung die Bilder, dieer zuerst erlebt hat, im ganzen Weltzusammenhange haben, wie er sichdurch diese Bilder in den Weltenzusammenhang hineinstellt. Denn alles,was der Mensch erlebt, hat Bedeutung für den Weltenzusammenhang.Man darf nicht glauben, daß es gleichgültig ist, einen Menschen einmalbegegnet zu haben, den man vielleicht wenig beachtet hat, in seinerNähe gewesen zu sein. Es wird in Bildern entrollt, und das, was es imgesamten Weltengeschehen für eine Bedeutung hat, das kommt in In-spirationen in dem zweiten Drittel des Lebens zwischen dem Tode undeiner neuen Geburt zur Offenbarung.

Im letzten Drittel ist das Leben hauptsächlich ein solches in Intui-tionen. Da hat sich der Mensch hineinzuversetzen in dasjenige, was inseiner geistig-seelischen Umgebung ist. Da lebt der Mensch wie unter-getaucht mit seinem Bewußtsein in das, was in seiner geistig-seelischenUmgebung ist. Und gerade in diesem letzten Drittel, durch dieses Un-tertauchen, bereitet er vor das Untertauchen in den physischen Leibnach der Geburt beziehungsweise der Empfängnis. Die Intuitionen imletzten Drittel des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburtsind die Einleitung jener Intuition, die dann natürlich unterbewußtoder unbewußt ist, die darin besteht, daß der Mensch in den Leib unter-taucht, der ihm überliefert wird in der Vererbungsströmung von El-tern, Großeltern und so weiter. Und es bleibt dem Menschen etwas,wenn er nun aus der geistig-seelischen Welt in die physische Welt über-getreten ist. Denken Sie, wenn Sie das ins Auge fassen, daß der Mensch

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eigentlich durch lange Zeit in geistig-seelischen Intuitionen lebt, ge-wöhnt ist, in solchen zu leben, so wird er an dieser Gewohnheit nochetwas festhalten wollen, wenn er in den physischen Leib hineingegangenist. Das tut er in der Tat. Denn was ist denn - lesen Sie es nach in demBüchelchen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Gei-steswissenschaft» - die hauptsächliche Seelenbestrebung in den erstensieben Lebensjahren bis zum Zahnwechsel? Ich habe gesagt: Nach-ahmungssucht. Das Kind versucht immer dasjenige zu tun, was in seinerUmgebung getan wird; es geht nicht von eigenen Intentionen aus; esversetzt sich in die Handlungen derjenigen, die in seiner Umgebungleben und ahmt diese nach. Das ist der Nachklang der Intuitionen imletzten Drittel des Lebens zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.Wir werden deshalb als nachahmende Wesen geboren, weil wir insphysische Leben übersetzen dasjenige, was wir lange Zeit in geistig-see-lischer Weise in der anderen Welt drüben getan haben. Und man ver-steht das, wie der Mensch hereinwächst in dieses physische Leben, in-dem man den Blick zurückwendet auf das, was der Mensch gewohntgeworden ist in der geistigen Welt zu treiben.

Sie sehen hier einen Gedanken aus der Geisteswissenschaft vor Siehingestellt, der von solcher Art ist, wie viele kommen müssen für dienächsten Jahrhunderte und Jahrtausende des menschlichen Geistes-lebens. Diese Gedanken werden sich ja viel, viel ändern müssen gegen-über dem, was bis jetzt die Menschen geistig beschäftigt hat. BedenkenSie, daß es seit den letzten Jahrhunderten üblich geworden ist, wennder Unsterblichkeitsfrage nachgedacht wird, hauptsächlich an das zudenken, was nach dem Tode ist. Man denkt immer: Kann der Menschdasjenige, was er im physischen Leben entwickelt, über den Tod hin-aus halten? — Das ist den Menschen vor allen Dingen wichtig. DieseUnsterblichkeitsfrage ist gewiß wichtig, aber sie wird ein anderes Ge-sicht bekommen, wenn man, ich möchte sagen, die andere Hälfte derUnsterblichkeitsfrage ins Auge faßt, wenn man sich nicht interessierenwird: Was schließt sich an den Tod an und wie stellt sich das als Folgedes Lebens hier auf der Erde heraus? — sondern wenn man fragen wird:Wie schließt sich das, was wir hier im physischen Leibe erleben, an dasan, was wir vorher erlebt haben? - Für das Leben, das wir vorher er-

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lebt haben, ist unser Leben hier das Jenseits. Vorzugsweise diese Rich-tung wird der Gedanke nach dieser Seite hin empfangen. Die Menschenwerden einsehen, daß sie das Leben auf der Erde hier nur verstehenkönnen, wenn sie es als Fortsetzung begreifen des geistigen Lebens, ausdem sie gekommen sind. Sie werden sich wieder zu interessieren an-fangen für jenes Leben, das dem Erdenleben vorangegangen ist. Mankann ja sagen, mit Ausnahme des letzten Drittels des 19. Jahrhundertshaben sich die Menschen im geistigen Leben doch noch etwas für dieUnsterblichkeitsfrage interessiert, aber sie haben sich nur interessiertfür die Unsterblichkeitsfrage, insofern das geistige Leben in der Un-sterblichkeit eine Fortsetzung des Erdenlebens ist. Die philosophischenGelehrten haben es so getan, aber diese philosophischen Gelehrten wa-ren ja im Grunde genommen, trotzdem sie behaupten, vorurteilsloseWissenschaft zu treiben, in vieler Beziehung rechte Jammermenschen,die, während sie glaubten vorurteilslose Wissenschaft zu treiben, dochnichts anderes getan haben, als die Vorurteile fortzusetzen, die aus ge-wissen Strömungen heraus gekommen sind. Bedenken Sie, daß dieKirche zur Zeit des Origenes die Präexistenz der Seele verdammt hat,daß sie den Origenes deshalb verdammt hat, weil er diese Präexistenzgelehrt hat, so daß die Kirche in einer gewissen Zwangslage war: Dawar Origenes, der größte Kirchenlehrer, und es war nicht zu leugnen,daß Origenes die Präexistenz gelehrt hat. Das ist aber in der Kircheverboten. Da war man in einer großen Zwangslage. Man ist gewöhntworden, das ganze Mittelalter hindurch, von der Präexistenz nichts zulehren. Das haben die Professoren der Philosophie fein fortgesetzt, unddie Schriftsteller der Philosophie auch, aber sie haben geglaubt, vor-aussetzungslos zu denken. In anderen Fragen haben sie es auch so ge-macht, in Fragen, für die ich Beispiele ja schon hier angeführt habe.Nun muß man sich vor allen Dingen klarmachen, daß die Richtungder Gedanken, die Richtung des menschlichen Anschauens durch Gei-steswissenschaft eine ernste Änderung erfahren muß. Dieses Erden-leben wird erst mit dem rechten Werte erscheinen, wenn man sich be-wußt werden wird, daß es eine Fortsetzung ist eines geistigen Lebens.Und es kann nur verstanden werden, wenn es als solches aufgefaßtwird* Dann aber wird man, wenn man die Sache so betrachtet, auch

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für die andere Seite der Frage ein gesünderes Urteil gewinnen. Wennman sich klarer darüber wird, daß dieses Erdenleben eine Bedeutungfür das Leben im Jenseits hat, daß der Mensch im Jenseits danach strebt,hier auf die Erde zu kommen, um dieses Erdenleben zu haben, weil eres braucht, dann wird man viel mehr gerade aus solchen Voraussetzun-gen heraus nach dem Werte dieses Erdenlebens fragen, als man es bis-her getan hat.

Aber eine Sache wird Sie besonders darauf hinweisen können, wiebedeutsam es ist, nach dem Werte dieses Erdenlebens zu fragen. ZweiDinge werden ja häufig nicht sehr voneinander unterschieden, näm-lich: Der Mensch denkt - und: Der Mensch hat Gedanken. - Aber diebeiden Dinge sind wirklich sehr voneinander verschieden. Denken isteine Kraft, die der Mensch hat, eine Tätigkeit; und diese Tätigkeitführt erst zu den Gedanken. Nun, die Tätigkeit des Denkens, dieseKraft, die im Denken lebt, bringen wir uns aus dem Leben zwischendem Tod und einer neuen Geburt in dieses Erdenleben herein. DieseKraft des Denkens betätigen wir an den äußeren Wahrnehmungendurch die Sinne und machen uns die Gedanken über die Umgebung,die wir hier haben. Aber diese Dinge in unserer Umgebung haben jakeine Bedeutung für das Leben zwischen dem Tode und einer neuenGeburt, denn dort sind sie nichts. Sie sind nur hier für die Sinne. Des-halb haben auch die Gedanken, die wir uns hier machen über dieje-nigen Dinge, die vor unseren Sinnen ausgebreitet sind, keine Bedeu-tung für das Leben nach dem Tode; aber eine Bedeutung für das Le-ben nach dem Tode hat es, daß wir der Denkkraft überhaupt etwaszuführen, denn diese Denkkraft, die bleibt uns für das ganze Lebenzwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die Gedanken, die wirvon den sinnlichen Wahrnehmungen hinnehmen, die können uns nichtsfruchten nach dem Tode. Die dienen da nur, um Anhaltspunkte zuhaben zur Erinnerung an das Ich während des Lebens zwischen Ge-burt und Tod.

Denken Sie sich zwei Menschen. Der eine kümmert sich gar nichtum dasjenige, was man durch so etwas wie Geisteswissenschaft überdas Leben in den geistigen Welten erfahren kann. Er macht sich nurGedanken über das, was die Sinne darbieten und das, was die gewöhn-

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liehe Wissenschaft lehrt; das ist aber auch nichts anderes, als was dieSinne darbieten. Und er sagt: Ich will warten, wie es mit der geistigenWelt steht, bis ich in sie eindringe. - Es sind das die, ich möchte sagen,weniger Schlimmen von einem gewissen Gesichtspunkte aus, gegenüberdenjenigen, die im 19. Jahrhundert aufgetreten sind und glaubten,mit aller Kraft der Wissenschaft überhaupt eine geistige Welt leugnenzu müssen, nach dem Ausspruche, den der Dichter einen solchen Men-schen tun läßt: So wahr ein Gott im Himmel ist, bin ich ein Atheist! -Ungefähr aus solcher Gesinnung heraus war ja der Atheismus des 19.Jahrhunderts zuweilen geboren, aus solchen «gedankenvollen Seelen-inhalten» heraus. Aber nehmen wir einen Menschen, der sich einfachnicht einläßt darauf, hier etwas an Gedanken sich zu bilden über diegeistigen Welten. Das wäre der eine Mensch. Der andere läßt sich dar-auf ein, sich Gedanken zu bilden über die geistige Welt. Das sind an-dere Gedanken als diejenigen, die man durch die Sinne aufnimmt.Nicht wahr, daß es andere Gedanken sind, ist ja nicht zu leugnen. Denndas zeigt sich schon darin: Die Gedanken, durch die nicht aufgenom-men wird eine geistige Welt, die sind nach der Ansicht der meistenheute lebenden Menschen die gescheiten Gedanken, die realen Ge-danken; die Gedanken, welche die Geisteswissenschaft beschreibt,sind die verrückten, die phantastischen, die tollen Gedanken und soweiter.

Aber nehmen wir diese beiden Menschen. In welcher Lage sind diesebeiden Menschen, wenn sie durch die Pforte des Todes geschritten sind?Derjenige, der hier keine Gedanken aufgenommen hat über die geisti-gen Welten, der also nichts hat durch seine Seele ziehen lassen von Ge-danken über die geistigen Welten, der ist als seelisches Wesen nachdem Tode in derselben Lage wie einer, der einen physischen Organis-mus hat, aber nichts zu essen, der hungern muß. Denn die Gedanken,die wir uns hier machen über die geistigen Welten, sie sind die Nah-rung für eine der hauptsächlichsten Kräfte, die uns bleiben nach demTode: für die Denkkraft. Die Denkkraft haben wir, wie wir hier dieHungerkraft haben, aber genährt werden kann diese Hungerkraft zwi-schen dem Tode und einer neuen Geburt gar nicht. Wir können zwi-schen dem Tode und einer neuen Geburt Imagination haben, Inspira-

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tion und Intuition, aber wir können nicht Gedanken als solche haben.Die müssen wir uns hier erwerben. Wir müssen eintreten in das Lebenzwischen Geburt und Tod, damit wir uns hier Gedanken erwerben.Von diesen Gedanken, die wir uns hier erworben haben, zehren wirdie ganze Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und wirhungern nach diesen Gedanken, wenn wir sie nicht haben. Das ist derUnterschied. Ein geistiger Hungerleider zu werden, dazu ist derjenigeverurteilt, der sich hier keine Gedanken machen will über die geistigenWelten. Und ein solcher, der sich zu sättigen und dadurch zu lebenvermag zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, ist derjenige, denich als zweiten angeführt habe, der sich solche Gedanken macht, wiewir sie hier treiben. Würde daher der Materialismus einzig und alleindie Anschauung der Menschen werden, dann würden die Menschen,wenn ich den Ausdruck brauchen darf, in der Zukunft zwischen demTode und einer neuen Geburt immer mehr und mehr dem geistigen Hun-gertyphus verfallen. Die Folge davon wäre, daß sie durch die folgendeInkarnation verkümmert hereintreten würden in die physische Welt.Die geistige Welt würde verkümmern, und mit der geistigen Weltwürde die physische Welt verkümmern in der Zukunft, die die Mensch-heit noch durchzumachen hat während dieser Erdenwelt. Es ist ge-lungen, das «Nach uns die Sintflut» zu einer gewissen Gesinnung zumachen für die ahnungslose Menschheit, die nicht weiß, worauf es an-kommt. Dieser Ausspruch: Nach uns die Sintflut -, wenn er auch nichtgetan wird, er liegt auf dem Grunde der Seele in einer materialistischenZeit. Dieser Ausspruch hat gar keinen Sinn für denjenigen, der dieWirklichkeit kennt. Denn dasjenige, was die Menschheit in der Ge-genwart tut, ob sie die Seelen in die geistigen Welten eintauchen willoder nicht, das ist dasjenige, was die Grundlage legt auch für die Zu-kunft der Entwickelung. Das Heil der Erde selber hängt davon ab,daß die Menschheit in der Gegenwart nicht davon abläßt, sich Ge-danken zu machen über die geistigen Welten. Diejenigen, die in derGegenwart leben, müßten dieses immer mehr und mehr einsehen. Denndaß der Gang der Menschheitsentwickelung geistig begriffen werde,davon hängt ungeheuer viel ab.

Wir haben versucht, wichtige Begriffe zu entwickeln über die gei-

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stigen Welten, denn schließlich ragen ja die geistigen Welten in unserephysische Welt herein, und man kann auch die physische Welt nichtverstehen, wenn man nicht die geistigen Welten versteht. Und wirhaben die mannigfaltigsten Begriffe entwickelt. Nun, ein wirklichdenkender Mensch wird schon dazu kommen, gerade das für die Wirk-lichkeit bedeutsame Moment dieses geisteswissenschaftlichen Denkenseinzusehen. Man kann einfach die gesamte Wirklichkeit nicht verste-hen, wenn man nur naturwissenschaftlich denken will, wie man auchdas materielle Dasein nicht verstehen kann, wenn man nur naturwis-senschaftlich und nicht geisteswissenschaftlich denkt. Ich will Ihnendafür ein sehr paradoxes, ein sonderbares Beispiel sagen.

Ich glaube, ich habe ja auch hier vor einiger Zeit hervorgehoben,daß etwa vor anderthalb Jahren ein recht bedeutsames dickes Bucherschienen ist von einem ausgezeichneten Naturforscher der Gegen-wart, von Oscar Hertwig, einem Haeckel-Schüler, «Das Werden derOrganismen; eine Widerlegung der Darwinschen Zufallstheorie». Dasist ein ausgezeichnetes Buch, das ganz auf der Höhe der naturwissen-schaftlichen Forschung der Gegenwart steht. Und ich habe viele Ge-legenheiten ergriffen, in der letzten Zeit, um da und dort das Bedeut-same, das Tonangebende darin hervorzuheben. Denn auch kulturhisto-risch ist es ein merkwürdiges Buch. Sie wissen, daß im Jahre 1869Eduard von Hartmann aufgetreten ist mit seiner «Philosophie des Un-bewußten», damals in der Blütezeit des Darwinismus, der seine mate-rialistische Deutung damals gefunden hat. Eduard von Hartmann hatsich dagegen gewendet. Da haben die Naturforscher geschrien: Nun,es ist ein dilettantischer Philosoph, der von Geist redet und der nichtsversteht von Naturwissenschaft! - Die Sache kam so, wie ich es jaschon öfter beschrieben habe. Es erschien eines Tages ein Buch, vondem sogar der Haeckel-Schüler Oskar Schmidt schrieb: Da ist einmaleiner aufgetreten, der versteht etwas von Naturwissenschaft. Der hates dem Hartmann einmal gegeben! Wir selber könnten es nicht bessersagen; er nenne sich uns, und wir werden ihn als einen der unsrigenbegrüßen! - Sie haben furchtbar Reklame gemacht. Eine zweite Auf-lage wurde notwendig. Da nannte sich der Verfasser: es war Eduardvon Hartmann! Da haben sie aufgehört, dafür Reklame zu machen.

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Es mußte einmal eine solche Abfuhr geschehen, um den Leuten zu zei-gen, daß diejenigen, die vom Geiste reden, noch immer so gescheit sindwie diejenigen, die den Geist leugnen. Eduard von Hartmann hat nochverschiedenes geschrieben und hingewiesen darauf, wie einseitig derDarwinismus denkt. Er hat damit nicht viel Anklang gefunden. Aberman kann sagen: Nach ruhiger, gut geschulter Forschung ist geradeein Mann wie Oscar Hertwig dazu gekommen, nun so zu denken, wieEduard von Hartmann schon 1869 gesprochen hat. Er zitiert ihn so-gar in seinem Werke häufig. Und es ist alles in mustergültiger Weiseaufgebaut in diesem Buch «Das Werden der Organismen». Man kannda tatsächlich einmal ein Musterbeispiel studieren einer Sache, die ausder naturwissenschaftlichen Methode der Gegenwart herauswachsenkonnte, herausgewachsen ist.

Nun sehen Sie, vor einigen Wochen ist von demselben Manne eineArt Fortsetzung dieses Buches erschienen: «Zur Abwehr des sozialen,des ethischen und des politischen Darwinismus.» Man kann sich kaumein dümmeres Buch denken als dieses, das Oscar Hertwig seinem ersten,epochemachenden Werk hat folgen lassen. Man kann sich nichts Un-genügenderes, nichts Blechigeres denken als dieses Buch. Sie sehen,auf dem Boden unserer Geisteswissenschaft ist es schon notwendig,einiges an Autoritätslosigkeit sich anzuerziehen, denn wenn unsere He-ben Freunde, nachdem ich das wirklich epochemachende Buch in alleHimmel gehoben habe und es auch immer tun werde, jetzt auf dieAutorität hin das zweite Buch kaufen und sich sagen würden: Alsomüssen wir das als etwas Großes ansehen -, so werden sie sich sehrtäuschen. Dasjenige, wozu uns Geisteswissenschaft dient, das ist: unswirklich ein freies Urteil anzueignen; nach jeder Richtung und in jedemAugenblick bereit zu sein, frei den Erscheinungen gegenüberzustehen,die uns entgegenkommen. Autoritätsglauben kann selbst bis in dieseEcken hinein innerhalb des geisteswissenschaftlichen Strebens durch-aus nicht irgendwie gepflegt werden, sonst kommt nicht Geisteswissen-schaft, sondern eine Karikatur der Geisteswissenschaft heraus. Woherrührt das, was ich geschildert habe? Das rührt davon her, daß manheute ein großer, epochemachender Naturforscher sein kann, das heißtin der Lage sein kann, alles, was das materielle Geschehen und seine

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Erscheinungen betrifft, nach den Methoden des 19. und 20. Jahrhun-derts zu entwickeln; sobald man dann aber anfängt nachzudenken überdasjenige, was in der Menschensphäre liegt, was im Menschen lebt,wenn die Menschen sozial zueinander stehen, wenn sie ethisch-sittlichmiteinander leben, wenn sie politisch sich entwickeln wollen, politischeIdeen entwickeln wollen, in dem Augenblick, wo man anfängt überdiejenigen Dinge nachzudenken, in die das geistige Element hinein-spielt, kann man, trotzdem man ein genialer Naturforscher ist, ein ab-solut dummer Kopf sein, denn da dient einem die Naturwissenschafteben gar nicht. Und gerade ein solches literarisches Beispiel ist in un-serer Zeit aufgetreten, um dieses, was man ja einsehen kann aus derGeisteswissenschaft heraus, auch wirklich zu erhärten; wirklich in derRealität hinzustellen. Denn man lese dieses zweite Buch von OscarHertwig, und man wird bemerken, daß man eigentlich keinen einzigenGedanken findet über das, was sich auf das soziale, das ethische, daspolitische Leben bezieht, wie es sich ja ganz gut gehört in der Gegen-wart, denn die Gegenwart ist eben wirklich nicht gerade allzu reich anfruchtbaren sozialen, ethischen und namentlich politischen Ideen. Aberdas rührt auch wiederum davon her, daß eben das rein naturwissen-schaftliche Denken völlig überschätzt worden ist. Und dabei liegt beiOscar Hertwig der beste Wille vor; er möchte dieses naturwissenschaft-liche Denken wegbringen von dem sozialen, ethischen und politischenDenken. Da er aber über das letztere gar nichts hat, nützt es nichts,wenn er das andere abwehrt. In diesem Buche finden sich die kurio-sesten geistigen Purzelbäume. Ich will nur auf eines aufmerksam ma-chen, immer unter der Voraussetzung, daß das erste Buch, das ich an-geführt habe, ein ausgezeichnetes ist.

Die Menschen bemerken es nicht: Oscar Hertwig ist eine Autorität;unsere Zeit ist nicht autoritätsgläubig, aber sie fällt auf jede Autoritätherein, die ihr offiziell hingestellt wird. Da lassen sich die Leute be-lehren; manches fällt ihnen gar nicht auf. Aber Oscar Hertwig will indem zweiten Buche dem Menschen klarmachen, was man tun muß, umrichtig naturwissenschaftlich zu denken. Er kann es, aber er verstehtnicht, was es ist. Man kann es ja auch instinktiv. Die Methoden sindgroßartig; man braucht nur dazu erzogen zu sein, braucht nicht in Ge-

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danken entwickeln zu müssen, was man tut. Daher kommt Oscar Hert-wig zu folgendem sonderbarem Denken. Er spricht darüber, wie maneigentlich naturwissenschaftlich forschen soll, um die Dinge in derUmgebung zu erkennen. Da sagt er: Das große Vorbild für das phy-sikalische, chemische und biologische Denken haben die Astronomengeliefert, und es käme darauf an, daß die Menschen lernen, über phy-sikalische, chemische und eigentliche Lebenserscheinungen so zu den-ken, wie die Astronomen über die Himmelserscheinungen denken. -Es ist sehr suggestiv, wenn man dann sagt: Ahmt die Größe des Den-kens bei Kepler, bei Kopernikus, bei Newton nach, um die Erschei-nungen, die um euch herum sind, zu verstehen! - Aber denken Sieeinmal, was dahinter steckt! Die Erscheinungen des Lebens, die physi-kalischen, die chemischen Erscheinungen, die Lebenserscheinungen sindum uns herum; die Tatsachen sind uns ganz nahe, und wir stoßen fort-während darauf. Und nun sollen wir Wissenschaft erhalten dadurch,daß wir uns auf die Tatsachen richten, die uns so fern wie möglich lie-gen; also, weil wir den Tatsachen der Himmelserscheinungen so fern wiemöglich stehen, sollen wir uns davon die Kenntnisse ausbilden für dasje-nige, was uns tatsächlich umgibt. Man kann sich keinen tolleren Gedan-ken bilden als so etwas. Aber Tausende und Tausende von Menschen le-sen über eine solche Tollheit hinweg und ahnen nichts davon, daß solcheTollheiten das ganze Denken der Gegenwart korrumpieren, daß, wennes sich hineinfrißt, es die Menschen wirklichkeitsfremd und immerwirklichkeitsfremder machen muß. Da kann man dann auch nicht inirgendeine soziale oder ethische oder politische Struktur hineinschauen,wenn man von solchem Denken und solchen Sätzen ausgeht. Es gehörtschon mit zu den Aufgaben unserer Geisteswissenschaft, mit klarenBlicken dasjenige zu durchschauen, was im sogenannten Geisteslebender Gegenwart ist.

Ich sagte, wir haben uns damit befassen müssen, auf die geistigenKräfte hinzuweisen, die ja in die gewöhnliche physische Welt hinein-ragen. Und wir haben immer wieder und wiederum davon gesprochen,daß der Mensch gewissermaßen in drei Kraftströmungen darinnenstehtmit seinem Leben, in der luziferischen, in der ahrimanischen und inderjenigen, welche die eigentlich der Menschheitsentwickelung ange-

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messene ist. Ich habe ja auch öfter darauf hingewiesen, daß man nichtsagen darf: Ich meide das luziferische, ich meide das ahrimanische —wenn man es meidet, wird man erst recht hineintauchen, sondern manmuß sich darüber klar sein, muß das Drinnenstehen des Menschen indiesen drei Strömungen wirklich studieren, kennenlernen. Das Wissenvon Luzifer und Ahriman muß man in das Leben hineinnehmen.

Nun war gerade vieles in der sozialen, der historischen Struktur derMenschheit in den letzten Jahrhunderten oder Jahrtausenden sehr starkunter luziferischen Impulsen, die aus dem Menschen herauskamen.Man könnte vieles, vieles anführen, was unter luziferischen Impulsenstand, aber ich will nur eines anführen, bei dem ja jeder das luziferischesogleich durchschauen wird.

Nicht wahr, eine große Rolle in der Art und Weise, wie die Men-schen sich hinstellen auf die verschiedenen Pole ihres Lebens, die ver-schiedenen Standpunkte des Lebens, spielt der Ehrgeiz, die Eitelkeit.Es hätte ja mancher niemals diesen oder jenen Posten angestrebt, wennnicht die soziale Struktur Veranlassung gewesen wäre, daß diese Eitel-keit nach der einen oder anderen Richtung aufgestachelt wird. AllesTitelwesen, alles Rangwesen und Ordenswesen ruht ja schließlich aufdem luziferischen Element. Und versuchen Sie nur einmal, sich un-befangen darüber Gedanken zu machen, wieviel in dem, wie die Men-schen im Leben stehen, rein dadurch bewirkt worden ist, daß sie streb-ten nach diesen Fischangeln des Ehrgeizes, nach diesen Ködern. Ver-suchen Sie einmal zu bedenken, wie die Menschen, der eine über denanderen, der eine unter den anderen gestellt werden; wie die sozialenEinrichtungen mit diesem Ehrgeiz rechnen. Versuchen Sie sich klar-zumachen, wie das die soziale Struktur aufgebaut hat. Auf diesem Ge-biet hat Luzifer eine außerordentlich große Rolle gespielt.

Betrachten wir eine andere Erscheinung, die jetzt anfängt geübtund bewundert zu werden. Und hier, innerhalb der geisteswissenschaft-lichen Arbeit ist die Stätte, solche Dinge in ordentlicher Art sachgemäß,wirklichkeitsgemäß ins Auge zu fassen. Achten Sie unter den verschie-denen jetzt in der Gegenwart beliebt werdenden Dingen auf manches,so werden Sie unter diesem Manchen das finden, was man jetzt die«Begabtenprüfungen» nennt. Begabtenprüfungen dienen dazu, aus der

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Reihe der Kinder und jungen Leute die begabten auszusondern. Esdroht der wahre Götzendienst mit diesen Begabtenprüfungen entwik-kelt zu werden. Wie macht man das? Man hat geschulte Psychologen,die zwar nichts von der Seele verstehen, die aber die Psychologie umso besser verstehen; Psychologen, die nach den Methoden der Gegen-wart ausgebildet sind, und die befähigt sind, dadurch aus einer Reihevon jungen Leuten oder Kindern die begabten auszusuchen, damit derrechte Mann später am rechten Platz stehen kann, selbstverständlich.Man ködert nun weniger, glaubt man, in der Zukunft mit dem Ehrgeiz,mit der Eitelkeit, aber man macht Begabtenprüfungen. Diese Begabten-prüfungen beziehen sich auf die Schnelligkeit des Auffassens, auf dasGedächtnis. Es werden sinnlose Wörter hingeschrieben, und derjenige,der sie schneller behalten kann, hat ein besseres Gedächtnis als derje-nige, welcher sie weniger schnell behalten kann. Intelligenzprüfungenmacht man. Ein Wort, ein zweites, ein drittes Wort, die keinen Zusam-menhang haben, gibt man, und dann läßt man die Schüler einen Zusam-menhang finden. Also man schreibt zum Beispiel auf: «Räuber» und«Spiegel» und sagt: Nun denke du dir einmal etwas zwischen Räuberund Spiegel. - Der eine denkt nun: Der Räuber sieht sich im Spiegel. -Der andere denkt: Ich habe einen Spiegel in meinem Zimmer, ein Räu-ber schleicht sich herein, und ich sehe dies im Spiegel. - Der letztere hatkomplizierter gedacht, der ist also begabter. Dann wird die Sache nochstatistisch gemacht, und es werden diejenigen ausgefischt, welche amallerintelligentesten sind; die werden dann als diejenigen genommen,welche als die richtigen Menschen an den richtigen Platz gestelltwerden.

Sehen Sie, derjenige, welcher von solchen Voraussetzungen aus,wie sie jetzt hier gemacht werden, gegen diese großartige Errungen-schaft der Gegenwart etwas einwendet, der gilt doch als ganz plumperNarr, der nichts weiß von alledem, um was es sich handelt.

Nun, rücken wir einmal diese ganze Sache in unsere Erkenntnisherein. Was prüft man denn, indem man so den Menschen prüft? Nichtsprüft man, was mit seiner Seele wirklich zu tun hat. Man braucht sichja nur eines zu überlegen: daß wahrscheinlich die bedeutendsten Men-schen der Vergangenheit, die das Höchste geleistet haben, nach sol-

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chen Prüfungen als die unbegabten hätten gelten müssen. Denken Siesich sogar den von den heutigen Menschen als Zelebrität angesehenenHelmholtz; wenn er so einer Begabtenprüfung unterzogen wordenwäre, würde er ganz sicher nicht auf den Posten gekommen sein, aufdem er später gestanden hat. Mit der Entwickelung der Seelenfähig-keiten der menschlichen Individualität haben diese Begabtenprüfungengar nichts zu tun, wohl aber mit der Summe der ahrimanischen Kräfte,die im Menschen liegen. Man prüft nicht den Menschen, sondern das,was als ahrimanische Kräfte in ihm steckt, indem man diese Prüfungmacht. Und so, wie man bisher mit luziferischen Kräften gerechnethat, so beginnt man jetzt auf ahrimanische Kräfte zu zählen und einesoziale Struktur zu begründen, die rein auf Ahrimanischem aufgebautist. Allerdings werden solche Dinge nur diejenigen durchschauen kön-nen, die wirklich auf geisteswissenschaftliche Inhalte eingehen, die dieWelt werden geistig durchschauen wollen. Denn das, was ich Ihnenjetzt erzählt habe von den Begabtenprüfungen, das wird von einergroßen Anzahl von Leuten und ihrem journalistischen Nachläufertumgeradezu als eine der bedeutsamsten Errungenschaften der Gegenwarthingestellt, so hingestellt, daß sich auf Grundlage dieser Prüfung diesoziale Struktur der Zukunft aufbauen kann. Und das Publikum, dasja nicht autoritätsgläubig ist, dieses arme Publikum hat gar nicht dieMöglichkeit nachzudenken über das, um was es sich bei einer solchenSache eigentlich handelt. Es hat nicht die Möglichkeit, sich klare Be-griffe über eine solche Sache zu bilden. Das ist es aber, worauf es an-kommt.

Wenn Sie sich heute aus mancherlei von dem, was wir auf unsereSeele haben wirken lassen, Begriffe davon bilden, was zunächst zu ge-schehen hat für die Menschheit, was im Sinne des geistigen Entwicke-lungsstromes zu geschehen hat, dann fragen Sie das Richtige. Dannwerden Sie aber bemüht sein, die menschlichen Individualitäten zuerfassen, um ihnen dasjenige, wofür Interesse sein muß, beizubringen.Da werden Sie nicht dazu kommen, die ahrimanischen Fähigkeiten zuprüfen, denn diese ahrimanischen Fähigkeiten werden ja dahin führen,daß die Menschheit vollständig nur noch als eine Summe von Ma-schinen behandelt würde. Man prüft ja nur den Geist in der äußeren

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Leiblichkeit. Man prüft den Menschen nur, sofern er Maschine ist,wenn man ihn dieser Begabtenprüfung unterzieht. Und man stellt einesoziale Auslese her, die nur die besten Arten der physischen Maschinezu Leitern der Menschheit macht. Man reflektiert nirgends auf das-jenige, was im Grunde der Seele ruht, und was bei solchen Prüfungenniemals an die Oberfläche kommen kann. Aber ich werfe niemandemvor, wenn er heute geradezu götzendienerisch solchen Dingen nach-läuft, denn derjenige, der sich gar nicht mit Geisteswissenschaft befaßt,kann ja nichts anderes tun, als sich dem Urteil hinzugeben, das seidas Gescheiteste, was man in der Gegenwart machen kann. Aber die-ses führt allmählich ganz weg von der realen menschlichen Leben-digkeit, von der menschlichen Wirklichkeit. Es führt in abstrakte Ge-biete, in dasjenige, was im Menschenleben tot ist und nur von der Gei-stigkeit des Ahriman beherrscht wird. Man muß schon den vollenErnst solcher Sachen durchschauen, wie die Menschen abgezogen wer-den von dem Wirklichen. Und das ist etwas, was einem in der Gegen-wart mit besonderer Intensität entgegentritt: das Abgezogenwerdender Menschen von der Wirklichkeit. Wer nämlich keinen Sinn hat fürdie geistige Wirklichkeit, der verliert nach und nach auch den Sinnfür die gewöhnliche äußere Wirklichkeit, die ihn alltäglich umgibt,wenn er nicht durch seinen Beruf oder anderes gezwungen wird, dieWirklichkeit zu beachten.

Ich will Ihnen auch dafür ein Beispiel geben: Da ist etwas sehr Nied-liches in den letzten Tagen passiert. In einer sehr gelesenen Zeitung er-scheint ein Artikel von Fritz Mauthner, dem Kritiker der Sprache. Indiesem Artikel schimpft dieser Fritz Mauthner, der ein außerordent-lich gescheiter Mensch ist, über ein Büchelchen, das in der Sammlung«Aus Natur und Geisteswelt» erschienen ist, und das in einer ganz imSinne der gegenwärtigen materialistischen Wissenschaft gehaltenenWeise entwickelt - und zwar so, wie es ein heutiger Universitätspro-fessor macht -, wie die astrologischen Vorstellungen sind, die sich soergeben haben. Am Schlüsse entwickelt der Betreffende das Horoskopvon Goethe und setzt dabei auseinander, daß man an diesem zeigenkönne, wie die Dinge in Goethes Leben verlaufen sind. Aber eigent-lich macht sich der gute Professor nur lustig über diejenigen, die auf

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Horoskope etwas geben. Er will sie hinstellen als etwas, was so oder sogedeutet werden kann. Fritz Mauthner schimpft und schimpft durchdrei Spalten des «Berliner Tageblattes» hindurch. Man konnte nichtverstehen, warum er denn eigentlich schimpft. Es bestand nicht diegeringste Veranlassung zu schimpfen. Er hat eigentlich die gleicheMeinung wie der, der das Büchelchen geschrieben hat, beide betrachtendie Astrologie von demselben Standpunkte aus. Und sehr bald hatauch das Tageblatt eine Berichtigung des Verfassers gebracht, worindieser sagt, er verstehe Mauthner nicht, er habe zwar nicht auf jederdritten Zeile ausdrücklich gesagt: Ich schimpfe auf Astrologie -, aberer habe eigentlich nicht mehr Interesse an der Astrologie als FritzMauthner auch; er sei ganz einverstanden mit ihm. Das «BerlinerTageblatt» - Zeitungen sind sehr gescheit — setzt hinzu, daß es keineVeranlassung habe, sich des Verfassers anzunehmen und etwa FritzMauthner Mißverständnisse vorzuwerfen. Fritz Mauthner war näm-lich langjähriger Theaterkritiker des «Berliner Tageblattes» undschreibt jetzt eine Art Theaterbriefe für diese Zeitung.

Fritz Mauthner seinerseits sagt, er habe auch nichts zu sagen zu die-ser Antikritik des Autors. Man stand vor der sonderbaren Tatsache,daß da zwei Leute eigentlich ganz miteinander einverstanden sind,aber der eine haut auf den anderen drauf. Fritz Mauthner wird alsoschon wild, wenn er nur etwas hört von Astrologie, oder wenn einervon Horoskop etwas schreibt. Es wäre sonst nicht denkbar, daß erdiesen Artikel geschrieben hätte. Er schreibt so, als wenn der andereder furchtbarste Astrologe wäre, der den Leuten die Gültigkeit desGoetheschen Horoskopes an den Kopf werfen wollte. Da haben Siealso ein Beispiel, wie zwei Leute sich gegenseitig bekämpfen, der einefreiwillig, der Fritz Mauthner, der andere notgedrungen, weil FritzMauthner ihn zuerst angegriffen hat, zwei Leute, zwischen denen nichtdie geringste Differenz ist. Wie kann das sein? So etwas kann doch nurdann eintreten, wenn zwei überhaupt mit der selbst engbegrenztenWirklichkeit, um die es sich handelt, nichts zu tun haben, wenn beideaus etwas anderem heraus leben als aus der Wirklichkeit. Das glori-oseste Beispiel, daß man heute redet und redet, und sehr gescheit re-det - Fritz Mauthner ist ein sehr gescheiter Mensch —, aber hinter dem

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Gerede steckt gar nichts. Es ist nicht die geringste Veranlassung dazu,daß man so redet.

Da haben Sie ein Beispiel für ein ganz logisches Aufbauen von Ge-danken, die überhaupt gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.Dahin kommen Gedanken, die sich abgewöhnen, mit der geistigenWirklichkeit etwas zu tun zu haben, denn dann verliert der Gedankeallmählich überhaupt seine Beziehungen zur Wirklichkeit. Das ist wich-tig, so etwas einzusehen. Das ist auch der furchtbare Ernst der Sache.Denn schließlich, ob der Fritz Mauthner und der Heidelberger Profes-sor aufeinander loshacken und ihre Worte überhaupt keine Bedeutunghaben, weil keine Realität dahinter steckt, oder ob es zwei Politikersind, von denen der eine in Amerika und der andere in Europa redet,und die vielleicht auch einmal einig reden, trotzdem sie total verschie-den sind, darauf kommt es nicht an. Wenn alle Leute, die so reden,absolut fremd sind der Wirklichkeit, nichts zu tun haben mit dem, wasreal in den Dingen lebt, dann kommt eben dieses der Wirklichkeit Ent-fremdetwerden, das breitet sich dann aus. Es hat sich ausgebreitet.Denn das ist nur ein groteskes Beispiel, das ich angeführt habe, diesesBeispiel von Fritz Mauthner und dem Professor Boll. Aber das ist über-all vorhanden. So wird es heute überhaupt gemacht. Und wozu führt es ?Zum Streit führt es. Einig kann man verhältnismäßig leicht sein, wennman sich mit der Wirklichkeit befaßt; wenn man aber so zur Wirklich-keit steht, führt das zum Streit. Nach und nach werden die Menscheneinsehen, wieviel von unseren katastrophalen Ereignissen mit dieserGrundstimmung der Gegenwart zusammenhängt, was das für eine ernsteSache ist. Denn gehen Sie einmal hinaus - es handelt sich um eine dergelesensten Zeitungen in Deutschland -, fragen Sie bei den zahlreichenLesern, ob sie überhaupt auf das Groteske kommen, auf das Paradoxe,das da zutage tritt! Das geht alles an den Menschen vorüber. Aber anden Ereignissen geht es nicht vorüber; da hat es seine bitterbösen Wir-kungen. Denn dasjenige, was da gemacht wird, ist ja nichts anderesals der Mißbrauch menschlicher Geisteskraft. Denken Sie, wenn dieseGeisteskräfte, die da für nichts verbraucht werden, weil sie wirklich-keitsfremd sind, in richtigem Sinne angewendet würden, dann würdedie Wirklichkeit gefördert, dann würde das in der normalen Strömung

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drinnen stehen; so aber kommt es Ahriman zugute. Wirklichkeitsfremdist es für die mittlere Strömung, aber es geschieht, es rutscht in eineSphäre, und das ist es, worauf es ankommt. Das ist der Ernst der Sache.Es geht nicht wie null vorüber, sondern es rutscht in eine andereSphäre und schafft Tatsachen. Tatsachen schafft es, die nicht denwahren Verhältnissen entsprechen. Denn, schon äußerlich, rein ratio-nalistisch, rein denkerisch laßt sich ja ausmalen, wie das Tatsachenschafft.

Nicht wahr, unsere Zeit ist ja nicht autoritätsgläubig. Die Leuteprüfen alles, und das Beste behalten sie! Dennoch kommt es natürlichvor, daß Menschen autoritätsgläubig sind. Ein Mensch wie FritzMauthner hat unzählige Anhänger, die aufs Wort glauben, was ersagt. Die werden natürlich durch solch einen Artikel beeindruckt. Den-ken Sie, wie viele Gedanken angeregt werden durch solch einen Artikel.Die werden alle mit hineingezogen in die ahrimanische Sphäre, in derder Artikel fließt. Die Sache ist unwirklich, und die Dinge werden ineine Unwirklichkeit dadurch gestoßen. Das ist es, worauf es ankommt.

Was man möchte mit solchen Dingen, meine lieben Freunde, ist dies:auf den ungeheuren Ernst, der hinter solchen Betrachtungen steht, im-mer wieder und wieder hinzuweisen. Denn es ist schon so: Dasjenige,was ich in einzelnen Fällen charakterisierte, Sie treffen es heute aufSchritt und Tritt. Wir sind in der Zeit, in der wir nur das Richtige wir-ken, wenn wir uns dazu entschließen, unbedingt klar zu sehen, vorur-teilslos, unbefangen zu sehen, dem Leben uns unbefangen gegenüberzu-stellen. Das ist unsere Aufgabe. Und dazu soll eben Geisteswissenschaftführen dadurch, daß sie in einer richtigen Weise die Brücke baut zwi-schen dem menschlichen Innenleben und der Wirklichkeit. Denn in die-ser Beziehung leben die Menschen in den fürchterlichsten Nebeldünsten.Man kann gar nicht sagen, wenn man sich darauf einläßt, was da zutagetritt, wie die Menschen in dieser Beziehung heute in Nebeldünstenleben. Es muß so sein, denn die Menschen müssen lernen, sich auf sichselbst zu stellen. Die Menschen müssen lernen, sich durch sich selbstKlarheit zu schaffen, nicht auf Autorität hin Klarheit zu bekommen.Das muß eine der besten, eine der wichtigsten Errungenschaften dergeisteswissenschaftlichen Beschäftigungen für die einzelne Menschen-

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seele werden, ein freies, klares, unbefangenes Urteil zu gewinnen überdasjenige, was das Leben ringsherum bietet; sich abgewöhnen dasje-nige, was heute im Grunde genommen die ganze Menschheit beherrscht:das Schlafen gegenüber den Ereignissen. Die Menschen verschlafen das-jenige, was sie vor Augen haben. Und sie in Nebeldünste einzuhüllenist ja gerade das Bestreben derjenigen, die einseitig mit allerlei monisti-schen oder «naturwissenschaftlich fundierten» - wie sie sagen - Ideenkommen, die aber doch nichts weiter sind als Materialisten. Denn dieprätendieren, behaupten ja, daß sie gerade die Brücke zur Wirklichkeitbauen. Sie führen von der Wirklichkeit hinweg. Sagen Sie dem OscarHertwig, daß er auf unreale Art die Dinge betrachte, er wird Sie aus-lachen, und er kann gar nicht einsehen, daß er das tut. Aber als Geistes-wissenschafter müssen Sie etwas wie einen Stich bekommen, wenn Sielesen, es sollen die nächsten Tatsachen des Lebens nach dem Musterder Himmelserscheinungen betrachtet werden, wo einem die Tatsachenso ferne wie möglich liegen. So durch das Leben hindurch zu gehen: aufdas zu achten, was wir nicht in Büchern, sondern was wir vom Morgenbis zum Abend vor unserer Nase erleben - selbstverständlich nicht,wenn wir unter Anthroposophen sind -, das bietet lauter solche Dinge,die wir unbefangen heute beachten müssen. Denn die Menschheit stehtan einem bedeutungsvollen Wendepunkte. Und was ich sagte, ist janicht eine Kritik der Zeit, sondern nur eine Betonung desjenigen, wasnotwendig ist, indem man sagt: Dieses ist so. — Es ist gut, daß es so ge-kommen ist, denn dadurch sind die Menschen aufgerufen, sich auf ihreeigenen Füße zu stellen, selbständig zu werden. Die Gottheit hat sichnicht die Aufgabe gesetzt, die Menschen als unselbständige geistig-see-lische Automaten durch die Entwickelung zu führen, deshalb mußtesie sie auch in Lagen kommen lassen, wie die jetzige ist. Weise und gutist es, aber es muß auch in der richtigen Weise erkannt und danach ge-handelt werden.

Diese Gesinnung hervorgehen zu lassen aus den tiefsten Impulsenunseres Wesens als den innersten Stachel unserer Kraft für das Leben,das muß eines der Ergebnisse unserer geisteswissenschaftlichen Be-schäftigung werden. Dann begründen wir vielleicht nicht ein wollüsti-ges, behagliches Schwelgen in weltfremden Ideen, was so gut tut, wenn

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man das Leben verschlafen will; aber man begründet jenen echten Got-tesdienst des Lebens, der die göttlich-geistigen Kräfte, die die Grund-lage aller Wirklichkeit sind, durch das für diese Erde bedeutsamsteInstrument hinführt zur Verwirklichung dieses Göttlich-Geistigen indiesem Erdenleben.

Davon dann das nächste Mal.

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F Ü N F Z E H N T E R VORTRAG

Stuttgart, 26. April 1918

Eine Grundeigenschaft derjenigen geisteswissenschaftlichen Betrach-tung, die unter uns gepflogen wird, wird auch unter uns selbst ihrervollen Bedeutung nach wenig gewürdigt. Ja es liegt sogar vielen viel-leicht auch unter uns nicht so fern, wenn man auf diese Grundeigen-schaft unseres geisteswissenschaftlichen Strebens zunächst mit abstrak-ten Worten hinweist, zu denken: Das ist ja selbstverständlich, wie solltedas nicht sein! - Und dennoch ist es nicht so. Diese Grundeigenschaft,die ich meine, ist die, daß unsere Geisteswissenschaft bestrebt ist, nichtnur im allgemeinen darauf hinzuweisen, daß die geistige Welt eineWirklichkeit ist, daß innerhalb der geistigen Welt einzelne Weltwesen-heiten als Wirklichkeiten leben, sondern im einzelnen immer wiederund wiederum zu zeigen, wie das, was sich in unserem gewöhnlichenLeben zwischen Geburt und Tod um uns herum und in uns abspielt,eine Schöpfung der geistigen Welt ist. Ich sage: Es könnte die Meinungbestehen, daß, wenn man im Ernste das Geistesauge hinwendet auf diegeistige Welt, es schon mitgegeben sei, dasjenige, was rings um uns her-um ist, als eine Schöpfung der geistigen Welt anzusehen. Aber es istweit, von diesen allgemeinen, ganz abstrakten, leeren, nichtssagendenGedanken hinzudringen bis zu den Geistesorten, wo im einzelnen kon-kret erfaßt wird, wie die sinnenfällige Wirklichkeit eine Schöpfung desGeistes ist. An einem besonderen Beispiel soll sich uns das heute zeigen.An einem Beispiel, das zu gleicher Zeit den Beweis liefern kann, wieweit die gegenwärtige Menschheit davon entfernt ist, auch nur zuahnen, was das bedeutet: Die sinnenfällige Schöpfung um uns herum,wie wir sie erleben zwischen Geburt und Tod, ist eine Schöpfung dergeistigen Wirklichkeit.

Um das besondere Beispiel, dem wir heute nahetreten wollen, imeinzelnen auszuführen, möchte ich Sie erinnern an dasjenige, was ichgenötigt war, schon gestern im öffentlichen Vortrag zu sagen. Wirwollen die Sache heute eingehender und näher mit Bezug auf gewisseNutzanwendungen vor unsere Seele führen.

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Ich sprach gestern und auch schon früher hier in diesem Zweigevon dem, was ich nennen möchte das Jüngerwerden der Menschheit imLaufe der Entwickelung. Wenn wir nämlich - rekapitulieren wirschnell, um was es sich handelt - zurückgehen in der Menschheitsent-wickelung bis zu jener Katastrophe im Erdenwerden, die wir die atlan-tische Katastrophe nennen, wo der Kontinent, der einmal zwischendem heutigen Europa und Amerika lag, unterging und dafür die west-liche amerikanische und die östliche europäische Welt entstand, so fin-den wir, von unserer Epoche ausgehend, fünf Menschheitsepochen. Dieerste nachatlantische Epoche, die unmittelbar als Kulturepoche auf dieatlantische Katastrophe folgte, ist die urindische Kultur. Sie geht weitzurück hinter dasjenige, was man durch äußere historische Dokumenteerkunden kann. Sie finden sie beschrieben, soweit das nötig ist, in mei-ner «Geheimwissenschaft im Umriß». Das Wichtige aber ist für unsheute, daß wir uns klar vor die Seele führen: In jener Kulturepochelebten die Menschen so, daß sie mit ihrem Geistig-Seelischen mitmach-ten ihre leibliche Entwickelung bis in die Fünfziger jähre hinauf. Manversteht unter diesem Mitmachen nicht das, was man heute erlebt.Wenn man sich müde fühlt, wenn man sich alt fühlt, ist dies nicht so einMitmachen, wie das Kind die leiblich-körperliche Entwickelung in denersten Lebensjahren mitmacht. Nein, das, was wir im späteren Alterheute körperlich-leiblich erleben, das wird von dem Geistig-Seelischeneigentlich nicht unmittelbar gewußt. Wir nehmen nicht teil an demAbstieg unserer Entwickelung. Gerade dann, wenn wir leiblich-phy-sisch teilnehmen könnten an dem Abstieg dieser Entwickelung, wür-den wir dadurch, daß wir eine Rückentwickelung durchmachen - einZusammensinken, ein Mineralisieren der Gehirnmasse, ein Skleroti-sieren des Leibes -, ungeheuer viel über die geistige Welt erfahren. Wirwürden durch unseren Leib erfahren, was wir heute durch die Geistes-wissenschaft erfahren müssen, wenn wir überhaupt an dasselbe heran-kommen wollen. In der altindischen Kultur machte man diese abstei-gende Entwickelung bis in die fünfziger Jahre hinein mit. Man warbis in die Fünfzigerjahre hinein Kind, nur eben altwerdendes Kind.

Dann kam die zweite nachatlantische Kultur, die urpersische, wie-derum eine vorgeschichtliche; in der machten die Menschen dasjenige,

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was sie seelisch-geistig durchmachten in Abhängigkeit von dem Leibe,noch bis zum Ende der Vierziger jähre mit. Dann, in der dritten Kultur-periode, war die Menschheit als ganze wieder jünger geworden. In derägyptisch-chaldäischen Zeit emanzipierten sich die Seelen vom Leibeungefähr vom fünfunddreißigsten bis zum zweiundvierzigsten Jahre.Dann kam das Zeitalter der griechisch-lateinischen Kultur, in die dasMysterium von Golgatha fiel. Da machten die Menschen mit demLeibe eine solche Entwickelung durch, wie sie heute nur das Kinddurchmacht, bis in das fünfunddreißigste Jahr hinein. Und heute sindwir in der fünften nachatlantischen Kulturepoche - wir sind ja nunschon seit dem 15. Jahrhundert fortgeschritten in dieser Kulturepoche -,da machen wir bis zum Ende der Zwanzigerjahre das mit, was derLeib erlebt; da erleben wir überhaupt die absteigende Entwickelungnicht mehr. Daher ist der Mensch durch seine natürliche Anlage heuteso wenig geneigt, das Geistige als solches in seine Seele aufzunehmen.

In alten Zeiten hat das Körperlich-Physische selber den Geist gege-ben; heute gibt das Körperlich-Physische den Geist nicht mehr. Dahermuß der Geist durch die Seele selbst aufgenommen werden. Das zutun, weigert sich die Seele. In alten Zeiten war es ein Unsinn für denMenschen, nicht an den Geist zu glauben. Um nicht an den Geist zuglauben, hätte er sterben müssen vor dem fünfunddreißigsten Jahr.Erlebte er die Zeit nach dem fünfunddreißigsten Jahr, so erlebte erdurch das, was in seinem Leibe in absteigender Entwickelung vorging,etwas, das sich unmittelbar als Geist darstellte. Es war gar nicht denk-bar, daß die Menschen in alten Zeiten nicht an den Geist glaubten. Aberindem sich die Sachen so entwickelt haben, ist ein moralischer Impuls,ein großartiger moralischer Impuls der Menschheit, insofern ihre na-türliche Entwickelung in Betracht kommt, verlorengegangen. Ich bitte,nicht zu unterschätzen diesen großartigen moralischen Impuls, derverlorengegangen ist auf naturgemäße Weise, und der auf geistig-ethische Weise, auf spirituell-ethische Weise wieder gefunden werdenmuß. In jenen alten Zeiten wußten die Kinder von den Älteren: Wennman das fünfunddreißigste Jahr überschritten hat, dann erfährt manetwas als Mensch, was man im jüngeren Alter nicht erfahren kann. -Versetzen Sie sich lebendig in dieses Gefühl, daß die Kinder und jun-

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gen Menschen unter dem Eindruck heranwuchsen: Ich habe etwas zuerwarten, wenn ich in die absteigende Entwickelung hereinkomme; ichhabe dann etwas zu erfahren, was ich jetzt nicht wissen kann, was ein-fach jetzt mein Leiblich-Physisches nicht hergibt. - Denken Sie sichdie Empfindung, die ganz anders war als die heutige, in der man dasAltern unter solchen Voraussetzungen erwartete. Es ist ja etwas vondem Heutigen ungeheuer Verschiedenes im Leben, wenn man so dasAltern erwartet, daß man weiß: Da kommt etwas, was früher garnicht kommen kann.

Das ist anders geworden, aber doch nicht in so schroffer Weise, wieman sich vielleicht vorstellt. Nicht wahr, wenn man eine solche Wahr-heit ausspricht, wie die eben angedeutete, dann hat die heutige den-kerische Unart sogleich das Bedürfnis nach einem Entweder-Oder.So liegen aber die Sachen in Wirklichkeit nie, daß man es mit Entwe-der-Oder zu tun hat, sondern man hat es in der Regel mit Sowohl-als-auch zu tun. Von selbst kommt es nicht, das Geistige, wenn man jetztwieder aufsteigt in die Altersentwickelung. Aber wenn der Funke desGeistigen auf die Weise, wie es in der Geisteswissenschaft gemeint ist,in der Seele erregt wird, dann kommt einem doch das zugute, daß manalt wird, dann steigt doch aus dem niedergehenden Leibe etwas auf,was sich besonders hineinlebt in das, was man auf geisteswissenschaft-lichem Wege wissen gelernt hat, kennengelernt hat. Wenn Sie heuteohne eine wissenschaftliche Berührung mit dem Geiste bleiben - diesewissenschaftliche Berührung ist ja nicht in fachmännischer Weise ge-meint, sondern so, daß sie jedem, auch dem einfachsten Gemüte zu-gänglich werden kann, denn die Geisteswissenschaft kann populär wer-den, wenn die Menschheit will —, dann werden Sie nichts Besondereserleben, wenn Sie alt werden; Sie werden nicht zu schätzen wissen dasAltwerden. Sie werden auch gar keine besondere Erwartung hegen inder Kindheit und in der Jugend für das Altwerden. Anders ist es, wennder Funke der Geist-Erkenntnis in der Seele jetzt nicht durch natur-gemäße, sondern durch erzieherische Entwickelung, durch eine an dieSeelen der menschlichen Gemeinschaft herantretende Entwickelung,erregt wird. Da wird, wenn recht verstanden wird dasjenige, was Gei-steswissenschaft in lebendiger Weise für die Seele sein kann, gerade

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durch diese Geisteswissenschaft die Stimmung, jetzt in bewußter Weise,wieder erzeugt werden: Ich habe etwas zu erwarten, wenn ich altwerde. Das Altwerden bedeutet etwas. Wenn ich fünfunddreißig Jahrealt sein werde, wird mir dasjenige, was in mir selber lebt, ein anderessein als jetzt, da ich ein junger Dachs von zwanzig Jahren bin. - DieseStimmung ist etwas Ungeheures für die Menschenseele, diese Stim-mung, die ich als die Stimmung des erwartungsvollen Lebens bezeich-nen möchte, des Lebens, das einfach weiß: Die Schöpfung, die du andir selbst erlebst, die mußt du im Ernste als eine Schöpfung aus demGeiste betrachten.

Betrachtet man heute, wo man sich von dem Wissen vom Geistenicht berühren lassen will, die Menschenschöpfung — selbst wenn manes in phrasenhafter Weise ausspricht - ernsthaft als Schöpfung des Gei-stes? Nein, in Praxis tut man das durchaus nicht. Denn wenn man estäte, würde man sich sagen: Es hat einen Sinn, daß man alt wird. Derganze menschliche Lebenslauf ist eine geistige Schöpfung; man wirdnicht umsonst alt, es lebt sich das Geistige immer neu in uns aus. Das-jenige, was da in uns ersteht, was sich in uns offenbart von innen her-aus, das wird immer neue Seiten zeigen. - Erwartungsvoll leben, etwaserwarten vom Älter- und Älterwerden mit jedem Jahr, das ist eineKonsequenz, die sich ergibt aus dem Ernstnehmen des Satzes, daß das-jenige, was um uns und in uns ist, eine Schöpfung des Geistes ist. Dasist eine Stimmung, dieses Erwartungsvoll-Leben, die sich einbürgernmuß in alles Erziehungswesen, die hineinströmen muß in die ganzeVerfassung, die dem Erziehungswesen gegeben wird. So daß die Kin-der von klein auf und wenn sie Jünglinge und Jungfrauen werden, undnoch später, das Gefühl bekommen: Solange wir jung sind, gibt uns derGeist noch nicht alles; aber indem man alt wird, offenbart er immerNeues und Neues, das in der Seele aufsteigt. - Man braucht nur die An-regung vom Wissen des Geistes, um nicht zu übersehen, um nicht un-berücksichtigt zu lassen dasjenige, was da herauf will aus den Tiefenunseres Wesens, weil es nicht sinnlos, sondern weil es sinnvoll ist, daßwir alt werden. Heute ärgert es die jüngsten Leute schon, wenn manihnen eine solche Empfindung noch zumutet; denn die jüngsten Leuteschon fühlen sich heute reif, in Parlamente und in die Staatsvertretun-

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gen gewählt zu werden, selbstverständlich, obwohl sie da nicht hin-gehören, weil es sich darum handelt, daß man nur aus der reifen Le-bensüberschau heraus über menschliche soziale Strukturverhältnisse einUrteil fallen kann. Hat man überhaupt die Stimmung des erwartungs-vollen Lebens, dann weiß man: Das, was man von den äußeren Ein-richtungen voraussetzt, das kann man noch nicht lebendig wissen, nochnicht empfindend wissen, wenn man nicht ein gewisses Alter erreichthat.

Man sage nicht, daß Geisteswissenschaft, wenn sie richtig verstan-den wird, irgend etwas Abstraktes ist, das nicht ins praktische Lebeneingreift. Geisteswissenschaft wird, wenn sie immer mehr und richti-ger verstanden wird, gar sehr ins praktische Leben eingreifen, dennsie wird sich bis in die konkreten Empfindungen einleben; sie wird be-wirken, daß der Mensch anders heranwächst, anders das erwartet, wasihm jedes neue Jahr seines Lebens wieder bringen kann. Geisteswissen-schaft enthält die energischsten Erziehungsfermente, die energischstenErziehungsimpulse. Sie enthält moralische Impulse, die noch ganz an-ders auf das Menschengemüt wirken als diejenigen moralischen Im-pulse, deren sich die Menschen der Gegenwart rühmen; denn sie ent-hält Impulse, die aus dem ganzen Sinn des Lebens, aus dem univer-sellen Sinn des Lebens der Menschenseele zuströmen. Damit will ichselbstverständlich nicht sagen, daß bei jedem, der Geisteswissenschaftkennt, auch gleich alle Ideale erfüllt sein müßten. Aber so ist es jaüberhaupt mit dem Moralischen, daß es zunächst als ein Ideal überdem Menschen hängt, und daß er es sich selbst einzuverleiben hat nachseinem freien Willensimpuls. Aber Geisteswissenschaft als solche ent-hält diese bedeutsamen moralischen Impulse. Sie ist nicht nur einePflegerin irdischer Moral, sondern sie ist eine Pflegerin universellerMoral. Diese Dinge muß man nur in entsprechender Weise durch-schauen. Das aber ist außerordentlich notwendig, daß eine Gesinnung,die mit dem zusammenhängt, was ich jetzt ausgeführt habe, durch dieGeisteswissenschaft in die Menschengemüter hinein Zugang gewinne.Denn was unsere Zeit in eine solche verhängnisvolle Katastrophe hin-eingeführt hat, das ist eben, daß wir in jenem Übergang leben, der daNeues in die Menschenseele hineingießen will, und daß die Menschen

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das Hängen am Alten noch nicht verloren haben, daß sie nicht solcheneuen Empfindungen aufnehmen wollen, insbesondere nicht in dieErziehungsprinzipien solche Empfindungen aufnehmen wollen. Imäußeren, aus der materialistischen Kultur hervorgehenden Leben fin-det man vielfach geradezu das Entgegengesetzte gepflegt von dem, wasdie Zukunft so energisch von der Menschheit fordert. Es ist notwen-dig, daß vor allen Dingen den heranwachsenden Menschen einverleibtwerde dieses Hinschauen auf den Sinn des werdenden Lebens. Undheute ist in dieser Beziehung jeder noch ein heranwachsender Mensch,denn Geisteswissenschaft hat sich noch so wenig einverleibt, daß jedersich erst mit dem durchdringen muß, was Geisteswissenschaft an Er-ziehung der menschlichen Seele geben kann. Denn heraus muß ausder Menschheit der Glaube, man sei mit dem zwanzigsten oderfünfundzwanzigsten Jahr ein fertiger Mensch, der alles entwickelt hatund der nur noch loszuleben braucht, und für den das Leben höchstensinsofern noch einen Sinn hat, als man dasjenige anwendet, was mangelernt hat, oder indem man das Leben genießt, und dergleichen mehr.

Schaut man tiefer hinein in die Lebenszusammenhänge, so tritt ei-nem das Gesagte in einer sehr, sehr tiefen Weise vor die Seele. Es istdas etwas, was im Menschen in alten Zeiten von selbst sich entwickelthat, was in neueren Zeiten durch die erzieherische Pflege in demmenschlichen Gefühl sich entwickeln soll: das erwartungsvolle Leben.Oh, es ist etwas Bedeutendes, wenn der Mensch sich mit dreißig Jahrensagt: In der Zukunft werden sich mir rein dadurch, daß ich um fünf,um zehn Jahre älter werde, Geheimnisse durch dieses Älterwerden ent-hüllen; ich habe etwas zu erwarten. - Bedenken Sie nur, was das ist undwas es heißt, solches in die Erziehung einzuführen! Aber es ist auchetwas Reales. Es ist ein strömendes Wesen, das da im Menschen zurGeltung kommt, das in alten Zeiten von selbst zur Geltung kam, das inder neueren Zeit gepflegt werden soll. Denn da ist es ja, was im Men-schen auftritt; dadurch daß wir nicht darauf achtgeben, uns nicht dar-um kümmern, dadurch ist es ja nicht etwa nicht da. Glauben Sie nicht,daß Sie dem Weiserwerden, dem Empfangen von Geheimnissen, indemSie älter werden, entgehen, wenn Sie diese Geheimnisse nicht beach-ten. Der Geist wirkt in Ihnen. Alle werden Sie geist-reich! Der Unter-

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schied ist nur der, daß der eine es willentlich aufnimmt, und der andere,wenn er sich dazu entschlossen hat, ein gescheiter Mann schon in denZwanzigerjahren zu werden - heute ist man das ja insbesondere auchin der sogenannten Welt der Intelligenz -, weist es ab, irgend etwasspäter in seine Entwickelung aufzunehmen. Die jüngsten Leute heute,sie schreiben, sie dichten, sie machen noch ganz andere Sachen. Undwas hat man diesen Dingen gegenüber alles für Gefühle! Wie wenighat man Empfindung für den Sinn des Lebens, der in dem Hervorge-hen des Menschwerdens als einer Schöpfung aus dem Geiste besteht.Aber der Geist läßt nicht locker, selbst wenn die jüngsten Leute heuteDramen dichten oder Feuilletons schreiben und dergleichen. Es kanntrotzdem sein, daß sie noch Geist haben, nur wissen sie von dem Geiste,der sich in ihnen entwickelt, nichts.

Was geschieht mit diesem Geiste, mit dem wirklichen Geiste, derin alten Zeiten sich von selbst entwickelt hat? Ja, meine lieben Freunde,dieser Geist muß zerstäuben. Wahrhaftig, er zerstäubt. Er verbreitetsich in der geistigen Atmosphäre, er verbreitet sich in der Menschheits-aura. Und das ist etwas, was unserer heutigen Zeit immer wieder undwiederum gesagt werden muß, woran sie aber natürlich nicht glaubtaus dem einfachen Grunde, weil sie es natürlich als Phantasie ansieht,wenn man ihr sagt: Nun, da ist ein junger Feuilletonschreiber, der sichfür sehr gescheit hält. Er weiß nichts von dem Geiste, aber der Geistgeht in die Menschheitsaura über, er zerstäubt. Sein Geist ist trotz-dem da. - Ganz imprägniert von solchem zerstäubtem Geiste ist heutedie Menschheitsaura. Dieser Geist muß wieder zusammengehalten wer-den von den Menschen, eben durch die Stimmung, von der ich gespro-chen habe. Denn wir sind heute schon hart an dem Punkte, wo einfurchtbares Übel entstehen müßte, wenn dieser zerstäubende Geistweiter und immer weiter entwickelt würde. Denn es ist ein bedeutsamesGesetz des geistigen Lebens, daß ein Geist etwas ganz anderes wird, alser ursprünglich ist, wenn er seinen Träger verläßt. Fassen Sie das nurgenau auf: Ein Geist, der seinen Träger verläßt, der zerstäubt, derwird etwas ganz anderes, als wenn er von seinem Träger zusammen-gehalten bleibt. Er wird im wesentlichen verschlechtert, verschlimmert,er wird in ahrimanischer Art umgestaltet. Und dasjenige, was heraus-

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kommen muß, was heute noch nicht deutlich herauskommt, weil wirim Anfange dessen stehen, was furchtbar werden kann, wenn man esnicht berücksichtigt, das ist eine furchtbare Geistesöde. Die Menschenwerden suchen nach etwas, das sie beschäftigt, weil sie den Geist habenzerstäuben lassen, der sie eigentlich beschäftigen sollte. Ein Suchennach etwas, ohne daß man weiß, was man sucht, das ist etwas, was sichimmer mehr verbreiten muß, wenn dem Übel nicht gesteuert wird.Wir sehen heute schon die Anfänge in mancherlei von dem, was ichauch schon erwähnt habe.

Was tut heute der Mensch, wenn er es unterlassen hat, auf seinenGeist aufmerksam zu sein? Da sucht er vorzugsweise nach irgend etwas;nur kommt dieses Suchen in einer sonderbaren Weise zum Austrag aufden verschiedensten Gebieten. Ein sehr gebräuchliches Gebiet ist: Mangründet Vereine, Vereine mit guten Programmen. Man setzt vor dieMenschen allerlei Forderungen hin. Das können recht gescheite Sachensein, aber es sind zumeist solche Sachen, welche nur dadurch entstehen,daß man stehengeblieben ist bei dem Kindheitsstandpunkt und danndie Kindheitsidee verknöchert, bis man sie in einem spätem Lebens-alter in Form von Vereinsprogrammen auf die Welt losläßt. Auf die-sem Gebiet wissen ja die Menschen heute ungeheuer viel zu tun. Siewissen aber wenig davon, real im Geiste zu wirken, von kleinem Kerneder Geisteswirksamkeit auszugehen, die Menschen von selbst sich an-gliedern zu lassen und lebendig und rege zu erhalten so etwas, was eineMenschengemeinschaft ist.

Sehen Sie, davon rührt es her, daß so viele Konflikte entstehen inunserer Gesellschaft, die ja latent bleiben aus gewissen Gründen und dieich jetzt hier nicht erörtern will. Überall da, wo ich selber irgend-wie einen Impuls ausüben kann, da möchte ich, daß so ferne wie mög-lich alle Statuten, alle Regeln, alle Gesetze bleiben. Denn schließlich,wozu braucht man Statuten, wenn sich eine Anzahl von Menschen zurPflege des geistigen Lebens vereinigen? Man kann solche Statuten auf-stellen, um sie den Behörden zu zeigen; das ist eine andere Sache, dashat nichts zu tun mit der Sache selbst, aber worauf es ankommt, dasist, was uns selber solche Statuten sind. Da handelt es sich darum, daßeine solche Gemeinschaft leben soll, daß jeder neue Mensch Neues hin-

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einbringen kann. Eine solche Gemeinschaft soll leben, sie kann sichnicht festlegen durch irgendwelche Statuten, sie muß, wenn sie fünfJahre bestanden hat, geradeso gut etwas anderes sein, wie ein Kindetwas anderes ist mit zwölf Jahren, als es war mit sieben. Aber dasist nicht eine Denkweise der heutigen Zeit. Die Denkweise der heutigenZeit ist, möglichst unlebendig zu leben, möglichst alles einzuschnürenin Abstraktionen. Das ist eines. Man könnte viele Beispiele anführen,die alle aus dem hervorgehen, daß man kein Bewußtsein hat von demzerstäubenden Geistesleben. Man sucht, man sucht auf alle möglicheWeise. Denken Sie nur, wie viele Frauen- und andere Vereine es heuteschon in einer einigermaßen größeren Stadt gibt! Man sucht und sucht,weil man nicht weiß, daß das, was man halten soll, zerstäubt. Alsosucht man, weil man das nicht hat, worauf man eben keine Aufmerk-samkeit verwendet. Dieses Suchen bedeutet Lebensöde. Diese Lebens-öde würde furchtbar überhandnehmen, wenn es nicht begriffen würdevon der Menschheit, daß die Stimmung des Lebens entstehen muß,von der ich eben gesprochen habe.

Nicht wahr, das ist es ja, was man heute nicht verstehen will: dasunmittelbare Leben! Das Prinzip, daß dasjenige, was da ist, eine Schöp-fung des lebendigen Geistes ist, das fordert allerdings Beweglichkeit desErlebens. Daß man sich nie für abgeschlossen, nie für fertig erklärt,das ist in gewisser Beziehung unbequem. Aber das ist eine Notwendig-keit, wenn die Geistesentwickelung der Menschheit vorwärtsschreitensoll. Und so die Geisteswissenschaft zu verstehen, daß sie die Anregerinist für ein lebendiges Leben, daß sie sich wirklich hineinfindet in das,was die Zeit im gegenwärtigen Entwickelungspunkte der Menschheitfordert, das ist eben die Aufgabe derjenigen, die sich der Geisteswis-senschaft wirklich widmen: mit der Menschheit zu leben und zu er-kennen, was sie im Laufe der Zeitenentwickelung durchzumachen hat,was ihr durchzumachen vorgesetzt ist.

Versuchen Sie eine unbefangene Ansicht zu gewinnen über das,was Sie heute als Ereignisse umgibt. Eigentlich verschlafen ja die mei-sten Menschen dasjenige, was heute um uns herum vorgeht. Sie den-ken nur, es müsse wieder ein solcher Zustand kommen, wie er vor 1914war, und warten darauf, bis ein solcher Zustand kommt. Sie begreifen

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gar nicht, wie tief einschneidend dasjenige ist, um was es sich eigentlichhandelt, und wie notwendig es ist, daß sich die Menschheit zu ganzneuen Begriffen durcharbeitet, die vorher nicht da waren. Das Lebenbegreifen auch im geschichtlichen Werden, das ist vor allen Dingendie Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Denkrichtung.

Das ist das eine: daß der Geist zerstäubt, indem er von den Men-schen nicht beachtet wird, wie es so vielfach heute geschieht. Aber nurein Teil zerstäubt, der andere bleibt zurück, der staut sich im mensch-lichen Organismus, aber er tritt nicht ins Bewußtsein. Er imprägniertunbewußt den Organismus. Er geht ins Blut, ins Fleisch; im Unbe-wußten wirkt er. Teilweise zerstäubt das, dessen sich der Mensch be-wußt sein soll im Laufe seines Lebens, teilweise wird es ins Unterbe-wußte hinuntergetrieben. Was tut es denn in diesem Unterbewußten?

Sehen wir uns noch ein bißchen genauer an, was die besondere Ver-anlassung ist, daß der Geist teilweise ins Unterbewußte hinunterge-trieben wird. Die Veranlassung dazu sind meist jene falschen Erzie-hungsprinzipien, welche bei den Kindern und jungen Menschen nachdem Altklugwerden hinarbeiten, darauf hinarbeiten, daß die Kindermöglichst wenig kindlich bleiben. Wieviel tut man sich doch heute zu-gute, das Kind möglichst früh zu einem eigenen Urteil zu bringen, dasKind möglichst früh in anderer Weise zu erziehen, als wie es dargestelltist in meinem Schriftchen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichts-punkte der Geisteswissenschaft». Es ist notwendig, daß das Kind vorallen Dingen in bildlichen Vorstellungen lebe, daß das Verstandes-mäßige so spät wie möglich an das Kind herantrete. Dafür hat man jaheute recht wenig Sinn. Schon die Kultur selbst hat dafür wenig Sinn.Aber diese Kultur soll man nicht zurückstauen wollen, reaktionär wirdGeisteswissenschaft niemals werden. Sie wird selbstverständlich mitdem äußeren, materiellen Kulturfortschritt rechnen; aber dieser äußere,materielle Kulturfortschritt fordert eben gerade, daß man ein Gegen-gewicht schaffe. Anders war es mit dem Menschen in den Zeiten, indenen man nicht in den Jugendjahren lesen und schreiben gelernt hat.Ich will nicht dem Analphabetismus das Wort reden, mißverstehenSie mich nicht in der Weise, aber heute betrachtet man es als ein Un-glück, wenn die Leute Analphabeten sind, denn man sieht den Wert

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des Menschen nicht in dem, was in der Seele lebendig lebt, sondernin dem, was an den Menschen herangebracht wird, was schließlich mitder eigentlichen Menschenseele furchtbar wenig zu tun hat. In jenenalten Zeiten, als die Schrift noch eine Bilderschrift war, als der Buch-stabe wiedergab ein Wortgeheimnis, da war die Schrift etwas. Aberheute: Jene kleinen Geister, die auf weißem Papier vor die Augen derjüngsten Kinder treten und enträtselt werden müssen, jene kleinenGeister, die die Kinder selber auf das Papier zaubern, was haben siedenn für eine Beziehung zur Seele? Zeichen sind sie doch nur, will-kürliche Zeichen. Man könnte sich denken, daß das ganze, was manda als Schriftwerk hat, ganz anders angeordnet wäre. Manche Leutehaben ja heute schon die Tendenz, daß dies anders eingerichtet werde.Man hat ja auch die Stenographie eingerichtet. Keine Notwendigkeitbesteht, daß das, was da ist, so an die Menschen herantritt, es könnteauch ganz anders sein. Aber das ist ein notwendiges Erfordernis derErdenkultur; gegen das wendet sich der Reaktionär, nicht der Geistes-wissenschafter. Das mußte kommen, selbstverständlich. Aber ein Ge-gengewicht wird kommen. Geisteswissenschaft wird es nicht als einIdeal betrachten, die Schule abzuschaffen; aber ein Gegengewicht wirdsein, daß die Kinder bildhaften Unterricht bekommen, jenen Unter-richt, welcher Hinweis über Hinweis auf die Weltengeheimnisse ent-hält, einen Unterricht, welcher das Gemüt durch alles dasjenige, wasman lernt, in Zusammenhang bringt mit den Weltengeheimnissen. JedesTier, jede Pflanze in ihren Formen, sie drücken etwas aus, was in ge-heimnisvoller Weise mit der ganzen Schöpfung zusammenhängt. Dierechte Frische des Gemütes, um solchen Ausdruck zu empfinden, hatman nur in einem gewissen Lebensalter. Man muß in einem gewissenLebensalter zusammenwachsen mit der Schöpfung.

Nehmen wir auch da ein Beispiel. Ich habe schon früher erinnertan ein Wort, das mein alter Freund Vmzenz Knauer, der Geschichts-schreiber der Philosophie, öfter gebraucht hat. Er sagte aus seinem gutmittelalterlichen Scholastikerbewußtsein heraus denen gegenüber, dieda behaupten, alles ist in gleichartiger Materie: Nun, man soll nur ein-mal anschauen die gleiche Materie, wie sie in einem Wolf und in einemLamm ist; man sperre einmal einen Wolf ein, so daß er keine andere

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Nahrung bekommen kann, und gebe ihm nur Lämmer. Wenn wirk-lich die Lamm-Materie dieselbe ist wie die Wolf-Materie, so müßteder Wolf ja ein Lamm werden nach und nach, wenigstens müßte erlammfromm werden. - Das bezeichnet ganz klar, daß in demjenigen,was den Wolf formt - wir nennen es die Gruppenseele -, in jenem Le-bendigen, das die Struktur des Wolfes bestimmt, etwas anderes liegtals die Struktur des Lammes. Auf die bloße Materie hinzuschauen, nichtauf die geformte Materie, nicht auf die durchgeistigte Materie, das führtnicht in die Schöpfung hinein, sondern aus ihr hinaus. Die Tiere um unsherum sind in den mannigfaltigsten Formen aufgebaut. Man schauenur einmal hin, wie in dieser Beziehung der Mensch anders ist als dieTiere. Man bedenke das recht genau, was da eigentlich vorliegt. DieMenschen sind, von kleinen Unterschieden abgesehen, die in den ver-schiedenen Rassencharakteren liegen, die groß sein können, aber nichtheranreichen an die Unterschiede der Tiergattungen, gleichgeformtüber die Erde hin. Warum? Weil die Gleichgewichtsverhältnisse inihnen anders liegen als bei den Tieren. Das Tier ist ein Ergebnis derGleichgewichtsverhältnisse, die in bezug auf die Erde sich ausbilden.Beim Affen, der nahezu aufrecht sich gestaltet, können Sie das sehen.Das Tier ist so gestaltet, daß sein Rückgrat eigentlich dazu veranlagtist, parallel der Erdoberfläche zu sein, daß sein Hinterleib in der glei-chen Höhe liegt wie der Vorderleib. Das allerbedeutsamste ist, daß derMensch von vorneherein so veranlagt ist, daß dasjenige, was beimTier neben dem Hinterleib ist, über den Hinterleib gebaut ist, daß esden Hinterleib überdeckt. Beim Menschen fällt die Linie, welche durchden Kopf zur Erde geht, in die Schwerpunktslinie hinein, beim Tieraber nicht. Dadurch, daß der Mensch dazu berufen ist, sich seine eigeneGleichgewichtslage zur Erde zu geben, die im Affen zur Karikaturwird, im Menschen die selbstverständliche Wesenheit ist, dadurch hebter sich hinaus aus der bestimmten Gestalt, die jede Tiergattung hat.Der Mensch hat deshalb nicht eine so bestimmte Konfiguration wie dieTiergattungen, weil er sich hinaushebt, weil er die Gestalt aufhebt, denKopf über den Hinterleib setzen kann. Das ist etwas ungeheuer Be-deutsames. Die Darwinisten haben daran noch gar nicht gedacht. Dasist es aber, worauf es ankommt.

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Ich kann es heute nur andeuten; wenn ich es weiter ausführenwollte, müßte ich viele Vorträge halten, und es würde die tief bedeut-same Frage nach dem Unterschied der Tiere von dem Menschen be-leuchten. Aber das interessiert uns heute weniger, uns interessiert heute,daß der Mensch die Tiergestalt in sich überwindet, indem er sich seineaufrechte Stellung gibt, indem er sich eine andere Gleichgewichtslageauf der Erde gibt. Er macht sich dadurch von der Erde unabhängig.Aber das ist er nur als physischer Mensch. Gehen wir zum Ätherleibehin, da ist das anders. Dieser Ätherleib ist in sich beweglich; der istalle Augenblicke in jedem einzelnen Menschen anders gestaltet. Wennjemand einen Löwen anschaut: hellsichtig sehen Sie die Löwengestaltan dem anschauenden Menschen. Sehen Sie eine Hyäne an, so werdenSie im Übersinnlichen selber hyänenartig. Der Mensch überwindet imPhysischen die äußeren Gestaltungen, aber im Ätherleibe paßt er sichdem an, was in seiner Umgebung auftritt. Das ist gerade wiederumdasjenige, was den Menschen so bedeutsam vom Tiere unterscheidet:das Tier hat seine bestimmte Gestalt; der Löwe, der dem Hund gegen-übertritt, kann in seinem Ätherleibe die Gestalt des Hundes nicht nach-ahmen, er bleibt immer, auch innerlich, der Löwe, er erkennt in Wahr-heit nur einen anderen Löwen. Schauen Sie hin, wie das gleichartigeTier dem gleichartigen Tier ganz anders gegenübersteht als dem un-gleichartigen. Der Mensch ist aber versatil, er ist vielseitig, er paßtsich in bezug auf den Ätherleib seiner Umgebung an. Aber darum han-delt es sich, ob diese Anpassung eine regelmäßige oder eine unregel-mäßige wird, ob diese Anpassung sinnlos oder sinnvoll ins Leben ein-greift. Daß die Tiere so mannigfaltig gestaltet sind, daß die Tiere fest-halten in ihrer physischen Gestalt das, was der Mensch, immer wieder,sich verwandelnd, werden kann, das macht, daß das ganze Tierreichnicht nur das ist, was der heutige Zoologe sieht, sondern daß jede Tier-gestalt einen bestimmten Sinn hat, und die Zusammenhänge unter denHeren einen bestimmten Sinn ergeben. Man kann in einer gewissen Weisediesen Sinn des ganzen Tierreiches lesen. Dadurch aber baut man eineBrücke zwischen sich und der geistigen Welt, daß einem der Sinn des-jenigen aufgeht, was draußen in fester Gestalt ist, und was man dannsinnvoll nacherlebt, indem man es selber wird.

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In alten Zeiten haben die Menschen versucht, den Sinn der Um-welt instinktiv zu empfinden. Dasjenige, was in historische Zeitendavon hereinragt, sind die verschiedenen sinnbildlichen Erzählungenüber die Tiere: die Tiermärchen, die Tiersagen, die Tierfabeln undähnliches. Zu dem können wir nicht wieder zurückkehren. Aber etwasanderes muß dafür ausgebildet werden, so daß die Menschen nichtnur das lernen, was sie sich jetzt in ganz abstrakter Weise einochsenüber die Tiergestalt. Wie sind solche Tiere beschrieben in den heutigenSchulbüchern! Die Beschreibungen wirken ja auf die Kinder deshalbso langweilig, weil sie ganz äußerliche sind. Lassen Sie die Beschrei-bung eine sinnvolle sein, lassen Sie den Löwen wieder etwas werden,was sich herausgestaltet in der Schöpfung in anderer Weise als dieHyäne, als das Känguruh. Dann wird der Mensch sich auch wiederumsinnvoll in die Schöpfung hineinleben, dann wird er die Schöpfunglebendig aufnehmen. Es wird allerdings eine bestimmte Folge haben,denn der Geist wird beweglich, der Geist wird inhaltvoll, wenn er sosich in die Schöpfung vertieft. Dann ist er nicht zufrieden mit dem,was ihm die offizielle Wissenschaft heute vielfach gibt. Da können Sieja heute mancherlei erleben. Wenn man die Entwickelung der Tier-reihe verfolgt, so wie sich die heutige offizielle Wissenschaft sie vor-stellt, selbst da, wo sie etwas unbefangener ist, können Sie sonderbareDinge erleben. Man braucht nicht einmal bis zum Darwinismus zugehen, man kann bei Lamarck bleiben, der noch viel gescheiter ist, alswas sich in materialistischer Weise aus dem Darwinismus entwickelthat. Da können Sie auch dargestellt finden, wie sich die verschiedenenTierformen durch Anpassung an die Lebensverhältnisse gebildet ha-ben. Gewisse Tiere haben sich Schwimmfüße gebildet, indem sich fürsie die Lebensverhältnisse herausgestaltet haben, im Wasser zu leben.Andere Tiere haben Greiforgane bekommen, weil sie ihre Nahrungfinden mußten oben an den Bäumen und dergleichen. Ja, wenn sichdurch solche Gewohnheiten die Organe ausgebildet haben, müssen siedoch vorher anders gewesen sein. Tiere, die Schwimmfüße gekriegthaben, müssen vorher keine gehabt haben, müssen andere gehabt ha-ben; die späteren haben sie dann durch ihre Lebensverhältnisse ge-bildet. Man kommt allmählich darauf, daß diejenigen Tiere, denen

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Schwimmfüße eigen sind, sich diese aus anderen Füßen gebildet haben,und die keine Schwimmfüße haben, die haben aus den früheren sichdie andersgestalteten gebildet. - Das ist schon so. Man merkt es nurnicht, man lernt fleißig, aber man merkt es nicht. Wenn die Giraffeeinen langen Hals hat, erklärt man: Aus einem kurzen ist er so gewor-den, weil die Giraffe auf den Baum langen mußte. - Wenn die Giraffeeinen kurzen Hals hätte, würde er aus einem langen Halse zum kurzenHalse geworden sein durch andere Lebensgewohnheiten. Man merktgar nicht, daß man die Dinge herumkugelt und herumkollert. In wel-chen Wirrnissen, in welchem wirrnisvollen Denken eine Weltanschau-ung lebt, die nicht die sinnvolle Brücke herstellt zu dem, was in dermenschlichen Umgebung ist, davon macht man sich heute gar keineVorstellung.

Aber das ist es, was der Erziehung einverleibt werden muß, um nureines zu erwähnen: dieses sinnvolle Miterleben der Umgebung; nichtbloß verstandesmäßig die Umgebung auffassen, sondern sinnvoll mit-erleben, so daß man wirklich mit der ganzen Seele die Formen desTierreiches, des Pflanzenreiches und des Mineralreiches in sich auf-nimmt. Was würde man so einem vierzehn-, fünfzehnjährigen Jungenoder Mädchen für eine Wohltat tun, wenn man sie einmal auf einenSpaziergang mitnimmt und sagt: Sieh einmal diese Wolkenbildungenan! - Dann wieder auf einem nächsten Spaziergang, wo die Wolkenanders gebildet sind: Nun sieh dir diese Wolken an. Präge dir das ein,so daß du ein Bild hast von diesen Formen! - Nachdem man das Kindeine Zeitlang das Ganze hat anschauen lassen, geht man zu seinemRegal und nimmt Goethes «Naturwissenschaftliche Schriften» heraus,wo er die verschiedenen Wolkenformen, wie sie ineinander und aus-einander entstehen, in sinnvoller Weise darstellt. Das Kind wird dassogleich verstehen, wird sogleich in dieses lebendige, sinnvolle Vorstel-len der Wolkenformen sich einleben, wird etwas Wunderbares durch-machen.

Oder man lasse das Kind im Garten eine Pflanze beobachten, wiesie im Frühling, im Sommer, im Herbste ist, und lese ihm dann ausGoethes Gedichten die «Metamorphose der Pflanzen» vor. Da hatman etwas, was sinnvoll in die Natur hineinführt.

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Solche Dinge gehören dazu, die Stimmung des erwartungsvollenLebens zu erzeugen, solche Dinge gehören dazu, wenn erreicht werdensoll, daß nicht der Geist zurückgestaut wird und ins Blut, ins Fleischhineingeht, sondern in entsprechender Weise im Inneren von der Seeleergriffen wird. Gewisse Dinge dürfen eben nicht im Laufe der Ent-wickelung ins Fleisch gehen, sondern müssen in der Seele bleiben. Wasgeschieht denn, wenn sie ins Fleisch, ins Blut gehen? Dann begründensie im Unterbewußten Affekte, Leidenschaften, denen Namen gegebenwerden, denen Masken gegeben werden, und die manchmal etwas ganzanderes sind als die Masken, die ihnen gegeben werden. Heute lebt sovieles - und es kommt in der menschlichen Entwickelung zum Aus-druck -, was dadurch entstanden ist, daß ins Blut, ins Fleisch überge-gangen ist, was in der Seele hätte bleiben sollen. Und was wird dadurchbegründet? Es begründet Streit, Zwietracht, Disharmonie über die Erdehin. Das maskiert sich in allen möglichen Formen, das maskiert sichdarin, daß der Italiener den Germanen, daß der Engländer den Deut-schen, daß der Germane den Romanen nicht ausstehen kann; das mas-kiert sich in diesen Leidenschaften, die über die Erde hin wüten. Manmuß für diese Dinge nur die tieferen Gründe wissen, und man muß ein-sehen, was der Menschheit obliegt, was der Menschheit Mission ist,um dasjenige zu erreichen, was unbedingt erreicht werden muß.

Was in der Gegenwart ist, sollen nur deutliche Zeichen sein für das,was wir lernen sollen, um die Menschheit einer gedeihlichen Zukunftentgegenzuführen. Man soll nicht an der Oberfläche bleiben, wie esdie Menschen heute tun, sondern in die Tiefen der Menschenseelenhineinschauen. Daß das 19. Jahrhundert einen Erziehungsfehler ge-macht hat, weil es eine Übergangszeit war, weil es ins Fleisch, insBlut hat gehen lassen, was in die Seelen hätte gehen sollen, das wirdheute auf den Schlachtfeldern ausgekämpft. Das Blut, das aufgenom-men hat dasjenige, was hätte in die Seelen gehen sollen, waltet heutein den wild über die Erde hinstürmenden Leidenschaften. Das macht,daß sich die Menschen nicht verstehen können. Das macht, daß dieMenschen aneinander vorbeireden. Das macht, daß sie so wenig Sinnhaben für das Miteinander-Empfinden, das Miteinander-Leben.

Die Zeichen der Zeit sind ernst, sehr ernst, aber sie sind eine Auf-

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forderung, in die Tiefen des Weltenwerdens hineinzuschauen, um ausdiesen Tiefen zu erkennen, was unsere Aufgabe ist. Ich habe schon dasvorige Mal gesagt: Das ist nicht ein Einwand gegen die Weltenweisheit,gegen die göttliche Weisheit. Die göttliche Weisheit muß diese Zeichenüber die Menschheit hinführen, weil die Menschheit nicht eine Automa-ten-Wesenheit, sondern selbständig werden soll. Es handelt sich nichtdarum, zu fragen: Warum ist die Menschheit in dieses alles hineinge-kommen? — sondern: Was ist zu tun zum Heile der Menschheit? — Umdie Tat und um die großen universalistisch-ethischen Impulse handelt essich. Das ist dasjenige, was uns von Woche zu Woche, von Stunde zuStunde, von Minute zu Minute obliegt: uns einzulassen darauf, was zugeschehen hat. Und derjenige, der in solcher Weise, wie es heute an-gedeutet worden ist, erwartet hat, daß ihm jedes neue Lebensjahretwas bringt, was ihm vorher Geheimnis war, der entzündet in seinerSeele das, was die Menschheit auch in der Zukunft brauchen wird: denlebendigen, nicht den toten Unsterblichkeitssinn. Derjenige, der weiß,daß ihm jedes neue Jahr neue Geheimnisse bringt, weiß auch, daß ihmdas Leben nach dem Tode neue Geheimnisse bringt; für ihn hat derZweifel an dem Fortbestehen dessen, was der Entwickelung des Leibesentgegen Neues bringt, keinen Sinn. Für ihn wird aber auch diesesLeben nach dem Tode real, recht real: es wird nicht nur jenes egoisti-sche Prinzip, als was es heute so vielfach auftritt, sondern es wirdMenschheitsprinzip.

Wir treten heute durch die Pforte des Todes und bringen vieles mitan Lebensbeobachtungen, was wir hier nicht verarbeitet haben. Dasaber hat noch eine Bedeutung für die Erde. Es kommt unsere Weisheit,die wir uns hier angeeignet haben, der Erde auch noch zugute, wennwir durch die Pforte des Todes geschritten sind. Aber hier auf derErde müssen Menschen da sein, die sie brauchen wollen. Jene, die Er-fahrungen haben, wissen von diesen Erfahrungen zu berichten, öffent-lich muß man, um sich nicht ganz und gar lächerlich zu machen, dieseDinge noch so sagen, wie ich es zum Beispiel gestern tat: daß Planckheute anders denken würde, als er in den achtziger Jahren gedacht hat.Man meint damit als Geisteswissenschafter eigentlich noch etwas an-deres. Man weiß: Die Seele dieses Menschen hat so vieles durch die

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Pforte des Todes hindurchgetragen, daß reichlich vorhanden ist, wasder Erde noch nützlich sein kann. Ja, derjenige, der weiß, daß seinlebendiges Gefühl für die lebendige Seele durch die Pforte des Todesnicht beeinträchtigt wird, weiß auch, daß die sogenannten Toten mituns in fortwährender Verbindung stehen, daß wir nur entgegenzuneh-men haben dasjenige, was von ihnen gewirkt wird.Wer Erfahrung dar-in hat, darf vielleicht auch aus der persönlichen Erfahrung in bescheide-ner Weise von diesen Dingen sprechen. Ich weiß, daß ich nicht nur anGoethes Weltanschauung angeknüpft habe, sondern daß ich dasjenige,was ich über Goethes Weltanschauung in der verschiedensten Weise ge-schrieben habe, nur deshalb geschrieben habe, weil ich wußte, daß esaus der Inspiration der Goetheseele selber herrührt, natürlich soweitman es als schwacher Nachkomme aufnehmen kann.

Aber dazu gehört das lebendige Sich-in-ein-Verhältnis-Setzen mitder lebendiggebliebenen Seele, nicht bloß jenes abstrakte Verehren derToten, sondern das Aufnehmen der lebendigen Wesenheit der Toten inunsere Seelen, die hier im physischen Leibe verkörpert sind. Oh, eswird viel, sehr viel Fruchtbringendes, bedeutungsvoll Wesenhaftes her-einfließen in die Erdenentwickelung, wenn die Toten durch die Ge-sinnung der Lebenden werden die Ratgeber sein können der Mensch-heit. Ich weiß, wie weit unsere Gesinnung noch davon entfernt ist.Ich weiß, daß man zwar heute fragt: Was sagt der Zweiundzwanzig-jährige, der Dreiundzwanzigjährige - oder was sonst die Altersgrenzefür die verschiedenen Parlamente sein mag -, was sagt der Vierund-zwanzigjährige zu irgend etwas, was Gesetz werden soll? - Aber manfragt nicht: Was sagt Goethe heute zu dem, was Gesetz werden soll? -Das wird aber auch noch kommen. Die Toten werden unsere Mitbürgersein. Wenn man die Stimmung in die Seele aufnimmt, daß jedes Jahrein neues Geheimnis für uns enthüllt werden kann, dann wird manauch noch weitergehen: dann wird man auch wissen, was es bedeutet,mit der Summe der Erdenentwickelung den großen Übergang zu ma-chen durch die Pforte des Todes hindurch. Dann werden die Totendie Mitberater der Lebenden sein. Denn nicht auf den Glauben an dieUnsterblichkeit kommt es bloß an, sondern darauf kommt es an, daßdasjenige, was unsterblich ist, auf all den Feldern fruchtbar werden

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kann, wo es wirklich fruchtbar werden solL Kraft braucht der Mensch,um durchzudrücken die Decke, die ihn heute trennt von dem, was diegeistige Welt noch in sich birgt.

Sehen Sie, die heutige Denkweise ist eigentlich mehr oder wenigerdazu da, daß wir in ihr die starke Kraft entwickeln, um zum Geistedurchzudringen. Aber es ist heute schon der Zeitpunkt gekommen, wodie Menschen manches in klarer Weise durchdringen müssen, weil siees selbst verstehen sollen. Daher sind die Zeichen vor die Menschen-seele hingestellt, weil die Menschen lernen müssen: Dieses darf ganzund gar nicht da sein, jenes muß ganz und gar überwunden werden. -Und weil sie es selbst überwinden sollen, deshalb mußte es unter ihnenauftreten.

Zwei Extreme stehen im äußeren Leben - aber es gibt viele solcheExtreme - einander gegenüber: der Wilsonismus und ihm gegenüberder Trotzkismus oder Leninismus, nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Diebeiden Dinge stehen da, herausgeboren aus einer ungeistigen Weltan-schauung, der ungeistigsten Weltanschauung, die sich denken läßt.Aufgabe der Menschheit ist es, zu sehen, daß ausgelöscht werde allesdasjenige, was in den letzten Konsequenzen zum Leninismus oder zumWilsonismus führt. Aber viel Wilsonismus, viel Leninismus ist überallzu finden; sie sind sehr, sehr verbreitet, man merkt es nur nicht. Manmuß den Dingen nur ins Auge schauen. Derjenige aber, der sich einwenig mit Geisteswissenschaft befaßt, der weiß, daß ihm diese Geistes-wissenschaft das Seelenauge gibt, um auch auf diesem Gebiet den Din-gen klar ins Auge zu schauen. Heute ist es für die Menschen eine Le-bensnotwendigkeit, klar in die Welt zu schauen, sich die Dinge anzu-schauen, sie nicht zu verschlafen. Denn nur allzuviel Grund haben dieMenschen, vielfach Masken über das zu breiten, was wahr ist. Undallzu leichtgläubig sind die Menschen; deshalb glauben sie an die Mas-ken und sehen nicht auf dasjenige, was hinter den Masken verborgenist. Man kann nicht jene Denkweise entwickeln, die eine gewisse Be-weglichkeit des Geistes möglich macht, welche für Geisteswissen-schaft notwendig ist, ohne in einer gewissen Zeit, wenn man sich wirk-lich in diese Beweglichkeit hineinfindet, sich eine klare, ruhige An-schauungsweise zu verschaffen über das, was in der Welt vorgeht. Man

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darf nicht die Dinge verschlafen, man muß aufwachen durch die Gei-steswissenschaft, wenn man sich nicht selber aus einer gewissen Le-bensbequemlichkeit heraus einlullen will. Bedürfnis ist viel vorhan-den, solche Geistesart in die Seele hineinströmen zu lassen, aber derWille, namentlich vieler, die sich als Führer der Menschheit fühlen, mitdiesem Bedürfnis zu rechnen, ist nicht vorhanden. Der Wille zum Geisteist heute in den einfachsten Naturen vorhanden; sie verstehen sich nurselbst noch nicht, weil sie irregeführt sind durch dasjenige, was heutevielfach als «öffentliche Meinung» - Schopenhauer nannte sie «privateDummheit» - verbreitet wird. Die Führenden sind vielfach geneigt, davon Grenzen des menschlichen Wesens zu sprechen, wo sie die Men-schen über die Grenzen nicht hinausführen wollen. Auf allen Gebietenfinden Sie das heute. Wie wohl tut es den Menschen - um nur das eineBeispiel zu erwähnen -, wenn so etwas geschehen kann, wie es jetzt mitdem französischen Theologen Loisy geschieht, der auch so eine merk-würdig schwankende Stellung zwischen Modernismus und Nichtmo-dernismus eingenommen hat, obwohl er sich scheinbar eine Zeitlang aufeigene Beine gestellt hatte. Jetzt aber, gegenüber den katastrophalen Er-eignissen, hat er sich die Frage vorgelegt: Ja, was ist denn eigentlichmit dem Christentum geworden bei den Ereignissen der heute geschaf-fenen Weltenlage? Hat dieses Christentum vielleicht nicht versagt? -Nicht den Christus als solchen, meint Loisy, aber er fragt sich: Hatdieses Christentum vielleicht nicht manches versäumt? — Es haben ei-nige über diese Gewissensfrage des Loisy etwas geschrieben. Einer hatgesagt: Nun ja, man muß eben rechnen mit der Unvollkommenheitder Menschen. Das Christentum will zwar etwas anderes, als was jetztüber die Erde hin geschieht, aber das, was geschieht, das muß geschehen,weil die Menschen unvollkommen sind. - Darüber nachzudenken, dasist nicht dasjenige, um was es sich handelt, sondern das, um was essich handelt, ist: nachzudenken und nachzusinnen und nachzuempfin-den, wie der Mensch vollkommener werden kann, wie der Mensch sichveredeln kann, wie der Mensch ethisch höher kommen kann dadurch,daß er sich dem universellen Weltenwesen immer mehr und mehr ein-gliedert. Die Fragen müssen vielfach ganz anders gestellt werden, alsman heute geneigt ist, diese Fragen zu stellen.

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Das sind die Empfindungen, die ich wahrend unseres diesmaligenZusammenseins in Ihre Seelen legen wollte. Mehr noch als früher kommtes mir diesmal darauf an, daß meine Worte nicht nur mit dem Ver-stand begriffen, sondern daß sie so aufgefaßt werden, wie sie gemeintsind: daß sie unser Gemüt anregen, damit sie in unserem Gemüte dieKeime werden für verständnisvolles Eindringen in das, was in derMenschheitsentwickelung, im Menschheitslaufe zu geschehen hat. Dennjeder wird in vielleicht nicht gar zu langer Zeit, nach seiner Art undnach seinem Karma, auf diesem oder jenem Posten sich umringt sehenvon wichtigen Lebensfragen, denen er nicht gewachsen ist, wenn ernur bei den alten bequemen Vorstellungen bleiben will. Lernen müssenwir, neue Vorstellungen uns anzueignen. Geisteswissenschaft wird unseine Führerin sein können zu solch neuen Vorstellungen. Zum Wach-sein die Seelen anzuregen, das haben meine Worte gewollt. Wenn sieauch scheinbar von Tatsachen ausgegangen sind, so waren die Tat-sachen so gewählt, daß sie gerade dasjenige berührten, was mit Bezugauf das Empfindungsleben, mit Bezug auf das ganze Gemütsleben imgegenwärtigen Augenblick für den Menschen das Allerwichtigste ist.

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S E C H Z E H N T E R VORTRAG

Stuttgart, 21. März 1921

Daß ich heute spreche, das ist durch eine Fragestellung der vorange-henden historischen Seminarstunde gefordert. Diese Fragestellung gehtnach der Schuldfrage an der letzten Kriegskatastrophe, und es liegt jagewiß da eine so wichtige, und man kann schon heute sagen, auch durch-aus historisch wichtige Sache vor, daß die Beantwortung dieser Frage,soweit sie in einem so engen Rahmen in einer kurzen Zeit möglich ist,Ihnen nicht vorenthalten werden darf.

Ich möchte nur einige Bemerkungen voranschicken, damit Sie überden Sinn, aus dem heraus ich über diese Frage sprechen will, unter-richtet sind. Ich habe mit den Anschauungen, die ich mir bilden mußteüber das Thema dieser heutigen Auseinandersetzungen, niemals zu-rückgehalten in Vorträgen, die ich im Goetheanum in Dornach ge-halten habe, und ich habe da niemals ein Hehl daraus gemacht, daßmir diese Anschauungen als diejenigen erscheinen, welche vor der gan-zen Welt vor allen Dingen ausgesprochen werden müßten. Ich binnicht der Ansicht, daß in dieser wichtigen Frage die Sachen heute soliegen, daß man immer wieder und wiederum sagen soll, man müssedas objektive Urteil erst der Geschichte überlassen, man werde erst ineiner zukünftigen Zeit ein objektives Urteil über diese Angelegenheitsich bilden können. Es wird im Laufe der Zeit, namentlich durch diefortwirkenden Vorurteile, ebenso viel verloren werden an Möglich-keiten, ein gesundes Urteil über diese Frage zu gewinnen, wie etwavielleicht durch das eine oder andere gewonnen werden könnte. Ichsage ausdrücklich «vielleicht»; denn ich selbst glaube gar nicht, daßman in dieser Frage in der Zukunft wird ein besseres Urteil gewinnenkönnen als schon in der Gegenwart.

Das ist das erste, was ich sagen möchte. Ich muß es aus folgendemGrunde sagen: Wie Sie ja wissen, gehen jene Angriffe - ich möchte siemit keinem Epitheton jetzt bezeichnen —, die sich gerade auf die kul-turpolitische Seite meiner Wirksamkeit beziehen innerhalb der Gren-zen Deutschlands, hauptsächlich von derjenigen Seite aus, die man die

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«alldeutsche» nennen kann, und ich muß natürlich gewärtig sein, daßauf dieser Seite alles, was ich irgendwie vorbringe, in der wildestenWeise ausgedeutet wird. Aber auf der anderen Seite glaube ich es nichtnötig zu haben, nach dieser Richtung hin besondere Worte zur Ver-teidigung zu sagen, denn die albernen Anschuldigungen, daß irgendetwas gegen das Deutschtum geschehe, richten sich ja selbst durch dieTatsache, daß schon während des Krieges hingestellt worden ist in dienordwestlichste Ecke der Schweiz das Goetheanum, also ein Wahr-zeichen für dasjenige, was nicht etwa bloß innerhalb Deutschlands,sondern vor der ganzen Welt durch das deutsche Geistesleben geleistetwerden soll. Wenn man in einer solchen Weise Zeugnis abgelegt hatfür dasjenige, was das Deutschtum ist, so, denke ich, hat man nichtnötig, viele Worte zu machen, um böswillige Anschuldigungen inirgendeiner Weise zu widerlegen.

Was ich weiter zu sagen habe, ist dies, daß ich mich immer bemühthabe, die Urteile derer, die hören, was ich nach dieser Richtung sage,nicht in irgendeiner Weise zu beeinflussen, und ich möchte, soweit dasgeht - selbstverständlich geht es ja nur in beschränktem Maße, wennman sich kurz zu fassen hat —, das auch heute möglichst einhalten. Ichhabe bei allem, was ich gesagt habe, im Auge gehabt, durch die Auf-zählung dieser oder jener Tatsachen, dieser oder jener Momente, fürjeden Grundlagen zu geben zur Bildung eines eigenen Urteils. Und so,wie ich es im ganzen Umfang der Geisteswissenschaft mache, daß ichniemals ein Urteil vorausnehme, sondern nur die Materialien zur Bil-dung eines Urteiles herbeizutragen versuche, so möchte ich es auch indiesen auf die historische Außenwelt bezüglichen Dingen tun.

Nun, ich bemerke jetzt zur Sache selber: Mir scheint, daß die Dis-kussionen, die heute über die Schuldfrage angestellt werden, sich mehroder weniger alle überall in der Welt im Grunde auf unmögliche Vor-aussetzungen stützen. Ich glaube meinerseits, daß man mit diesen selbenVoraussetzungen, wenn man sie nur in der einen und anderen Art an-wendet, ruhig beweisen kann, daß die gesamte Schuld am Kriege deretwas merkwürdige Nikita, der König von Montenegro, trägt. Ichglaube, daß man mit diesen Argumenten schließlich auch sogar denBeweis führen kann, daß Helffericb ein außerordentlich weiser Mann

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ist, oder daß sich der ehemals dicke Herr Erzberger während desKrieges nicht in einer merkwürdig lebendigen Weise durch alle mög-lichen Untergründe und Keller des europäischen Wollens durchge-schlängelt hat. Kurz, ich glaube, daß man mit diesen Argumentenaußerordentlich wenig anfangen kann. Dagegen glaube ich, daß esdurchaus richtig ist, was der gegenwärtige deutsche AußenministerSimons in seiner Stuttgarter Rede neulich gesagt hat; daß es nötig ist,die Schuldfrage ernsthaft zu behandeln. Nur habe ich die dieses er-gänzende Ansicht, daß das nun wirklich auch geschehen sollte. Denndaß man betont, die Sache sei notwendig, damit hat man noch nichtgetan, was zu geschehen hat, sondern es ist eben notwendig, daß esgeschieht. Und daß es nötig ist, die Schuldfrage zu behandeln, dasgeht ja daraus hervor, daß gewissermaßen an die Spitze dieser letzten,unglückseligen Londoner Verhandlungen gestellt worden ist von demdurchtriebensten Staatsmann der Gegenwart, Lloyd George, der - wiesoll man es nur nennen, man ist in Verlegenheit, über dasjenige, wasgegenwärtig da figuriert, zutreffende Worte zu finden -, der Satz:Alles, was wir verhandeln, geht davon aus, daß für die Entente-Ver-bündeten die Schuldfrage entschieden ist.

Nun, wenn alles das, was wir verhandeln können, überhaupt unterdem Aspekt geschieht, daß die Schuldfrage entschieden sei, dann han-delt es sich, wenn sie nicht entschieden ist, erst recht darum, beim An-fang die Verhandlungen damit zu beginnen, daß man ernsthaft dieSchuldfrage aufwirft und sie in ernsthafter Weise behandelt. Es mußdurchaus betont werden, daß im Grunde genommen wirklichkeitsge-mäß bis jetzt nichts anderes geschehen ist, in bezug auf diese Schuld-frage, als ein sehr merkwürdiger Entscheid der Siegermächte. DieserEntscheid begründet sich, ganz nach den Regeln des heutigen Weltge-schehens, nicht auf eine objektive Beurteilung der Tatsachen, sonderneinfach auf ein Diktat der Sieger. Die Sieger haben nötig, um ihrenSieg in entsprechender Weise auszunützen, der Welt zu diktieren, dieandere Seite sei schuld am Kriege. Man kann ja den Sieg nicht aus-nützen, wie man es auf Seiten der Entente möchte, wie man ihn sogar -das kann ja zugestanden werden - von jenem Standpunkt aus aus-nützen muß, wenn man nicht dem anderen die volle Schuld aufhalst.

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Sie werden leicht einsehen, daß man so, wie man da handelt, nichthandeln könnte, wenn man sagen würde: Ja, die Leute sind ja eigent-lich gar nicht so zu beurteilen, wie es, sagen wir, während der Kriegs-katastrophe geschehen ist.

Also es handelt sich darum - denn alles andere ist nur Literatur ge-blieben oder nicht einmal Literatur geworden -, daß vorläufig für dieSchuldfrage nichts anderes getan worden ist, als daß ein Siegerdiktaterflossen ist. Und daß auf unbegreifliche Weise das geschehen ist, wasim Grunde doch niemals hätte geschehen dürfen, daß dieses Sieger-diktat unterschrieben worden ist, damit ist eine Tatsache geschaffen,die man nicht genug bedauern kann. Denn man kann nicht sagen:Diese Unterschrift hat gegeben werden müssen, um das Unglück nichtnoch größer zu machen. - Derjenige, der in die wirklichen Ereignissehineinsieht, weiß, daß man doch durchkommt durch die gegenwärtigeWeltsituation nur mit der Wahrheit und mit dem Willen zur vollenWahrheit. Mag auch vielleicht das, was zunächst durch das Bedürfnisfließt, zu tragischen Situationen führen, man kommt heute doch mitnichts anderem durch. Die Zeiten sind zu ernst, sie rufen zu großeEntscheidungen hervor, als daß sie anders gelöst werden können alsmit dem vollen Willen zur Wahrheit.

Ich möchte betonen: Da ich in der kurzen Zeit, die mir zur Ver-fügung steht, nicht in der Lage bin, die Sache so zu geben, daß aus demInhalt meiner Sätze voll dasjenige, was ich sage, auch beweiskräftigerscheinen könnte, werde ich wenigstens in der Art, in der ich michbemühe, die Dinge darzustellen, im Nuancieren, in der Weise, wie dieDinge gegeben werden, versuchen, Ihnen eine Grundlage zur Bildungeines Urteils auf diesem Gebiet zu geben. Nun, ich habe durch wirk-lich langjährige Erfahrungen, durch ein sorgfältiges Beobachten des-sen, was im weltgeschichtlichen Werden sich vollzieht, herausbekom-men, wie vor allen Dingen bei dem angelsächsischen Volk und insbe-sondere bei gewissen Menschengruppen innerhalb dieses angelsächsi-schen Volkes eine in einem gewissen Sinne durchaus weltgeschichtlichgroßzügig gehaltene politische Anschauung besteht. Bei gewissen Hin-termännern, wenn ich sie so nennen darf, der angelsächsischen Politikbesteht eine politische Anschauung, die ich in zwei Hauptsätzen zu-

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sammenfassen möchte: Erstens besteht die Ansicht - und es ist einegrößere Anzahl von Persönlichkeiten, welche hinter den eigentlichenäußeren Politikern, die zuweilen Strohmänner sind, stehen, durchdrun-gen von dieser Ansicht -, daß der angelsächsischen Rasse durch ge-wisse Weltentwickelungskräfte die Mission zufallen müsse, für dieGegenwart und die Zukunft vieler Jahrhunderte eine Weltherrschaft,eine wirkliche Weltherrschaft auszuüben. Es ist dieses festgewurzelt indiesen Persönlichkeiten, wenn es auch, ich möchte sagen, auf materia-listische Art und in materialistischen Vorstellungen von dem Welten-wirken festgewurzelt ist, es ist aber so festgewurzelt in denjenigen, diedie wahren Führer der angelsächsischen Rasse sind, daß man es ver-gleichen kann mit den inneren Impulsen, welche einstmals das alt-jüdische Volk von seiner Weltmission hatte. Das altjüdische Volk stelltesich allerdings die Sache mehr moralisch, mehr theologisch vor; aberdie Intensität des Vorstellens ist keine andere bei den eigentlich Füh-renden der angelsächsischen Rasse wie bei dem altjüdischen Volk. Wirhaben es also in erster Linie mit diesem Grundsatz, den Sie verfolgenkönnen auch äußerlich, zu tun und mit der besonderen Art der Le-bensauffassung, wie sie bei dem angelsächsischen Volk, bei seinen re-präsentativen Männern gerade, vorhanden ist. Es herrscht die Ansicht,daß dann, wenn so etwas vorliege, alles getan werden müsse, was imSinne eines solchen Weltimpulses liege, daß man vor nichts zurück-schrecken dürfe, was im Sinne eines solchen Weltimpulses liegt. DieserImpuls wird in einer, man muß schon sagen, intellektualistisch außer-ordentlich großartigen Weise hineingetragen in die Gemüter derer, diedann in den mehr unteren Stellungen - wozu aber immer noch die-jenigen der Staatssekretäre gehören - das politische Leben führen. Ichglaube, wer die eben angeführte Tatsache nicht kennt, der kann un-möglich den Gang der Weltentwickelung in der neueren Zeit ver-stehen.

Das zweite, worauf sich diese ja für Mitteleuropa so traurige undverderbliche Weltpolitik richtet, ist das Folgende. Man ist weitsichtig.Diese Politik ist vom Gesichtspunkt des Angelsachsentums aus ebengroßzügig, ist durchsetzt von dem Glauben, daß Weltimpulse die Weltregieren und nicht die kleinen praktischen Impulse, von denen sich oft-

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mals mit Überhebung diese oder jene Politiker leiten lassen. DiesePolitik des Angelsachsentums ist in diesem Sinne eine großzügige; sierechnet auch in einzelnen praktischen Maßnahmen mit dem weltge-schichtlichen Impuls. Das zweite ist dies: Man weiß, daß die sozialeFrage ein weltgeschichtlicher Impuls ist, der unbedingt sich auslebenmuß. Es gibt keinen der Führenden unter den angelsächsischen Per-sönlichkeiten, die in Betracht kommen, der nicht mit einem, ich möchtesagen, außerordentlich kalten, nüchternen Blick sich sagte: Die sozialeFrage muß sich ausleben. - Aber er sagt sich dazu: Sie darf sich nichtso ausleben, daß die westliche, die angelsächsische Mission dadurchSchaden erleiden könnte. Er sagt da fast wörtlich, und diese Wortesind oft gesprochen worden: Die westliche Welt ist nicht dazu ange-tan, daß man sie ruinieren lasse durch sozialistische Experimente. Dazuist die östliche Welt angetan. - Und er ist dann von der Absicht beseelt,diese östliche, namentlich die russische Welt, zum Felde sozialistischerExperimente zu machen.

Dasjenige, was ich Ihnen jetzt sage, ist eine Anschauung, die ichkonstatieren konnte - vielleicht geht sie noch weiter zurück, das weißich vorderhand nicht - bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhundertszurück. Mit kaltem Blicke wußte man im angelsächsischen Volke, daßsich die soziale Frage ausleben müsse, daß man durch diese das An-gelsachsentum nicht ruinieren lassen wolle, daß daher Rußland wer-den müsse das Experimentierland für sozialistische Versuche. Undnach dieser Richtung hin wurde in der Politik tendiert, es wurde mitaller Klarheit nach dieser Politik hin tendiert. Und namentlich alleBalkanfragen, einschließlich derjenigen, durch die man im BerlinerVertrag den ahnungslosen Mitteleuropäern Bosnien und die Herze-gowina zugeschanzt hat, alle diese Fragen wurden schon unter diesemGesichtspunkte behandelt. Die ganze Behandlung des türkischen Pro-blems von Seiten der angelsächsischen Welt steht unter diesem Gesichts-punkt, und man hoffte, daß die sozialistischen Experimente, dadurchdaß sie sich so abspielen, wie sie sich abspielen müssen, wenn die in dieIrre gehende Proletarierwelt sich nach marxistischen oder ähnlichenPrinzipien richtet, daß dann diese sozialistischen Experimente auchfür die Welt der Arbeiter eine deutliche Lehre sein werden in ihrem

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Ausgehen, in der Nichtigkeit, in der Zerstörung eine deutliche Lehresein werden, daß man es so auch nicht machen könne. Man wird alsodie westliche Welt dadurch schützen, daß man im Osten zeigen wird,was der Sozialismus anrichtet, wenn er sich so verbreiten kann, wieman es für die westliche Welt nicht will.

Sie sehen, diese Dinge, von denen es durchaus auch möglich seinwird, sie vollhistorisch zu begründen, sind das, was seit Jahrzehntender europäischen Situation, der Weltsituation überhaupt zugrundeliegt. Und aus diesen Dingen geht dann, ich möchte sagen, das hervor,was eine mehr nun schon gegen die physische Welt zu gelegene Ebenedes weltgeschichtlichen Geschehens zeigt. Wir brauchen nur ganz auf-merksam dasjenige zu lesen, was der Phantast Woodrow Wilson, deraber doch im gegenwärtigen Sinne ein guter Historiker ist, in seinenverschiedenen Reden durch seine Worte hindurchscheinen läßt. Aberwir brauchen das nur, um ein Symptom für das zu haben, was ichsagen will. Durch die ganze neuere Geschichte herauf hat sich ergeben,daß der Orient, wenn man das auch gewöhnlich nicht bemerkt, eineArt von Diskussionsproblem für die ganze europäische Zivilisation ist.Es bleibt dem objektiven Beobachter doch nichts anderes übrig, als sichzu sagen: Durch die weltgeschichtlichen Ereignisse der neueren Zeitist England begünstigt worden in einer gewissen Inaugurierung derIhnen charakterisierten Mission. Das geht weit zurück, zurück bis zuder Auffindung der Möglichkeit, auf dem Seewege nach Indien zukommen. Von diesem Ereignis aus geht eigentlich im Grunde genom-men auf verschiedenen Umwegen die ganze Konfiguration der neuerenenglischen Politik, und da haben Sie - wenn ich Ihnen das kurz sche-matisch andeuten darf; was ich jetzt sage, müßte man natürlich invielen Stunden auseinandersetzen, ich kann aber in dieser Fragenbe-antwortung die Sache nur andeuten —, da haben Sie das, was ich denZug der von der englischen Mission getragenen Weltströmung nennenmöchte, da haben Sie es so: sie geht von England aus durch den Ozeanhindurch um Afrika herum nach Indien. An dieser Linie ist ungeheuerviel zu lernen. Diese Linie ist diejenige, um welche die angelsächsischeWeltmission in Wahrheit kämpft und kämpfen wird bis aufs Messer,auch wenn es nötig ist, gegen Amerika bis aufs Messer kämpfen wird.

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Die andere Linie, die ebenso wichtig ist, das ist diese, die den Landwegdarstellt, welche im Mittelalter eine große Rolle spielte, aber durch dieEntdeckung Amerikas und durch den Einfall der Türken in Europafür die neueren Wirtschaftsentwickelungen eine Unmöglichkeit gewor-den ist. Aber zwischen diesen beiden Linien liegt der Balkan, und dieangelsächsische Politik geht darauf hin, das Balkanproblem so zu be-handeln, daß diese Linie völlig ausgeschaltet wird in bezug auf dieWirtschaftsentwickelung, daß allein die Seelinie sich entwickeln kann.Wer sehen will, kann das, was ich eben jetzt angedeutet habe, in alldem sehen, was sich abgespielt hat vom Jahre 1900 und schon früherbis zu den Balkankriegen, die dem sogenannten Weltkrieg unmittel-bar vorangegangen sind, und bis zum Jahre 1914.

Ein anderes liegt da noch vor, das Verhältnis von England zu Ruß-land. Diese Linie interessiert selbstverständlich Rußland gar nicht;aber Rußland interessiert sein eigenes Verhalten zu dieser Linie. Eng-land hat ja, wie Sie bereits gesehen haben, mit Rußland etwas Beson-deres vor, das sozialistische Experiment, und es muß daher seine ganzePolitik daraufhin anlegen, daß auf der einen Seite diese Wirtschafts-linie zustande komme, und auf der anderen Seite Rußland so einge-engt und eingedämmt werde, daß es zu den sozialistischen Experimen-ten eben den Boden hergeben könne. Das war im Grunde genommendennoch die Welt Situation. Alles dasjenige, was getan worden ist biszum Jahre 1914 auf dem Gebiete der Weltpolitik, steht unter dem Ein-fluß dieser Welttendenz. Wie gesagt, es gehörten viele Stunden dazu,um das im einzelnen auszuführen; ich wollte es aber hier zunächst we-nigstens andeuten.

Dasjenige, was nun dem gegenübersteht, und was ich durchleuch-ten ließ, als ich im Jahre 1919 meinen Aufruf «An das deutsche Volkund die Kulturwelt» schrieb, das ist die andere Tatsache, daß mansich leider immer in Mitteleuropa verschlossen hat dagegen, daran zuglauben, daß man eine politische Einstellung gewinnen müsse unterdem Gesichtspunkt solcher großzügigen historischen Impulse. Mankonnte es innerhalb Europas, innerhalb des Kontinentes leider nichtdazu bringen, daß sich irgend jemand eingelassen hätte darauf, dieMaßregeln, die getroffen wurden, unter dem Gesichtswinkel zu be-

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trachten, daß man es mit solch großzügigen Tendenzen zu tun hatte.Sehen Sie, da kommen dann die Leute und sagen: Du mußt praktischePolitik machen! Der Politiker muß ein Praktiker sein! - Nun lassenSie mich durch ein Beispiel klarmachen, was eigentlich die Praktiksolcher Leute bedeutet. Es gibt zahlreiche Leute, die sagen: Das istalles Humbug, was da die Stuttgarter machen mit ihrer Dreigliederung,mit ihrem «Kommenden Tag» und so weiter. Das ist alles unpraktisch,das sind unpraktische Idealisten! - Nun, stellen Sie diese Leute jetztvor Ihre Seele hin und denken Sie, wie es hoffentlich sein wird, eskämen die Jahre, wo wir - wenn ich mich so ausdrücken darf - Glückgehabt haben, wo wir etwas geleistet haben, errungen haben, was inder Welt dasteht. Dann werden Sie sehen, daß dieselben Leute, die jetztsagen: Das alles ist unpraktisches Zeug —, dann kommen und sich an-stellen lassen wollen, daß sie ihre praktischen Kenntnisse dann aus-nützen wollen, um mit all ihrer Redekraft und Tätigkeit das zu ver-breiten, was sie vorher als das unpraktische Zeug ausgeschrien haben.Dann wird die Sache plötzlich als praktisch angesehen. Das ist dereinzige Gesichtspunkt, den diese Leute für ihre Praxis haben. Worumes sich dabei immer handelt, ist dies: man muß einsehen, daß die Dingean ihrem Ursprung betrachtet werden müssen und daß dasjenige, wasdie «praktischen» Unpraktiker «unpraktisch» nennen, etwas ist, wasoftmals gerade als ihrer Praktik zugrunde liegend gesucht wird. Siewollen sich nur in die Dinge nicht versetzen, und dadurch sind sie zu-nächst unbrauchbar für dasjenige, was in Wirklichkeit geschieht.

Solch eine Praxis ungefähr war auch diejenige, die von den Poli-tikern Europas befolgt worden ist. Das kann schon nicht anders gesagtwerden. Und es handelt sich durchaus darum, einzusehen, daß dieNichtigkeit, das Ankommen auf dem Nullpunkt in bezug auf diesePolitik ein tragisches Verhältnis Mitteleuropas war, als die Dinge sichzur Entscheidung drängten. Das, um was es sich da handelt, ist also, daßman auch einsehen muß: Unbedingt notwendig ist es, daß wir in Mittel-europa dazu kommen, uns auf die Höhe eines großzügigen, vom Geistgetragenen politischen Gesichtspunktes zu erheben. Ohne das könnenwir durchaus aus den Wirren der Gegenwart nicht herauskommen.Entschließen wir uns nicht dazu, dann kommt immer nur das zu-

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Stande, was wir jetzt sich abspielen sehen. Ich bin der Ansicht, daß diepolitischen Probleme, die heute noch immer unter dem Einfluß deralten Maximen behandelt werden, so verknäuelt und so verworren sind,daß sie zunächst eben aus diesen alten Impulsen heraus überhaupt nichtgelöst werden können. Und nehmen wir an, die Entente-Staatsmännerhatten sich zusammengesetzt - ich sage Ihnen das als etwas, was ichmir als ehrliche Ansicht gebildet habe - und hätten, meinetwillen so-gar unter der Führung von Lloyd George, diejenigen Friedensforderun-gen ausgeheckt, die sie vor der Londoner Konferenz in die Welt hin-ausgesetzt haben; aber nehmen wir an, sie hätten dann durch irgend-ein Ereignis die Ausarbeitungen dieser Friedensforderungen verlorenund sie hätten sogar vergessen, wie diese Friedensforderungen gewesenwaren - natürlich ist das eine unmögliche Hypothese, aber ich will da-durch etwas ausdrücken -, und nun nehmen wir an, Simons hätte diesesElaborat zugestellt erhalten und hätte von seiner Seite aus diese selbenForderungen gestellt, ganz wörtlich gestellt sogar, ich bin überzeugt,sie wären zurückgewiesen worden mit derselben Entrüstung, mit derdie Angebote Simons auf der Londoner Konferenz zurückgewiesenworden sind. Denn es handelt sich nicht um lösbare Probleme, sonderndarum, daß man herumredet über Probleme, die zunächst unlösbarsind von diesem Gesichtspunkte aus. Das ist das, was durchaus für den-jenigen, der die Wahrheit sucht auf diesem Gebiete, eben ausgesprochenwerden muß.

Nun, jetzt gehen wir noch, ich möchte sagen, um eine Schichte tie-fer gegen die rein physischen Ereignisse herunter. Sie wissen, den äuße-ren Anfang hat die Kriegskatastrophe genommen mit dem serbischenUltimatum. Über die Veranlassung desselben, über all dasjenige, wasvorangegangen ist diesem Ultimatum, habe ich ja so oft gesprochen,und es wird Ihnen möglich sein, sich über diese Dinge zu informieren,so daß ich eben heute durchaus mehr kursorisch reden darf. Es gingaus von dem österreichischen Ultimatum an Serbien der ganze Kreis,der ganze Zirkel von Verwicklungen. Nun, derjenige, der die öster-reichische Politik kennt, der namentlich die historische Entwickelungdieser österreichischen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts kennt, der weiß, daß dieses österreichisch-serbische Ultimatum

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zwar ein kriegerisches Vabanquespiel war, daß es aber, nachdem mandie Politik, die getrieben worden ist, gemacht hatte, dann eine histo-rische Notwendigkeit war. Man kann nicht etwas anderes sagen alsdieses: Die österreichische Politik spielte sich auf einem Territoriumab, in dem es einfach von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhundertsan unmöglich war, mit den alten Regierungsprinzipien fortzuwursteln,und daß man fortwurstelte, das ist nicht ein von mir erfundener Aus-druck, das hat der Graf Taaffe, dessen Namen man in Österreich oft-mals geschrieben hat «Ta-affe», im Parlament ja selbst gesagt. Er hatgesagt: Wir können nichts anderes machen, als fortwursteln.

Nun, die Notwendigkeit lag eben vor, gerade aus den kompliziertenösterreichischen Verhältnissen heraus, überzugehen zu einer klaren Ein-sicht in die Frage: Wie hat irgendeine Assoziation von Volkstümerndasjenige zu studieren, was geistige Angelegenheiten sind -, und in einemAssoziationsstaate, wie es der österreichische war, lag durchaus in dennationalen Fragen so etwas vor wie die Ausflüsse des geistigen Lebens.Diese Frage hat die österreichische Politik nicht einmal ordentlich an-zuschauen begonnen, geschweige denn in Wirklichkeit studiert. Undwenn ich Überschau halte mit einem gewissen Willen, die Dinge zuwägen, sie nicht nach Leidenschaften bloß zu gruppieren oder aus deräußeren Geschichte herzunehmen, so erscheinen mir doch in der Vor-geschichte des serbischen Ultimatums andere Dinge ausschlaggebendernoch als das, wozu sich dann die Ereignisse zusammengeballt haben,als die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand.Ich sehe da hin zum Beispiel auf den Umstand, daß sich vom Herbstedes Jahres 1911 in das Jahr 1912 hinein wirtschaftliche Debatten imösterreichischen Parlament abgespielt haben, die ja bis auf die Straßehinaus bedeutsam geworden sind, und die immer an die dazumal inÖsterreich bestehenden Verhältnisse anknüpften. Auf der einen Seitewurde dazumal eine ganze Anzahl von Betrieben stillgelegt aus demGrunde, weil die ganze österreichische Politik so in die Enge getrie-ben war, daß sie sich nicht auskannte und in fruchtloser Weise ver-suchte, neue Absatzmärkte zu finden, aber diese nicht finden konnte.Das führte dann im Jahre 1912 zur Stillegung zahlreicher Betriebeund dazu, daß die Preise ungeheuer stiegen. Teuerungsunruhen, die bis

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zum Revolutionären gingen, entstanden dazumal in Wien und in an-deren Gegenden Österreichs, und die Teuerungsdebatten, an denen derverstorbene Abgeordnete Adler einen so großen Anteil nahm im öster-reichischen Parlament, führten dazu, daß von der Galerie aus auf denJustizminister fünf Schüsse abgegeben wurden. Diese waren das Si-gnal; so läßt sich in Österreich nicht weiter fortwirtschaften, so läßtsich das wirtschaftliche Leben nicht aufrechterhalten. Was hat derZwischenminister Gautsch dazumal als einen Hauptinhalt seiner Redegefunden? Er sagte, daß man sich mit aller Energie, das heißt mit denalten administrativen Maßregeln Österreichs, dafür einsetzen müsse,daß die Agitation gegen die Teuerung verschwinde. Das bezeugt Ihnendie Stimmung nach der anderen Seite hin.

Das geistige Leben spielte sich in den nationalen Kämpfen ab. Daswirtschaftliche Leben war in eine Sackgasse getrieben - das können Siein allen Einzelheiten studieren -, aber niemand hatte Herz und Sinndafür, daß es notwendig sei, die Bedingungen der weiteren Entwicke-lung des geistigen Lebens und des wirtschaftlichen Lebens abgesondertvon den alten Staatsansichten, die gerade in Österreich sich in ihrerNullitat zeigten, zu studieren. In Österreich zeigte sich die Notwendig-keit, das Studium der weltgeschichtlichen Angelegenheiten so in An-griff zu nehmen, daß die Sache hinarbeitete auf eine Dreigliederung dessozialen Organismus. Das geht einfach aus solchen Tatsachen hervor,wie ich sie jetzt geschildert habe. Daran wollte niemand denken, undweil niemand daran denken wollte, deshalb spielten sich die Dingeso ab. Sehen Sie, dasjenige, was sich in den achtziger Jahren des vo-rigen Jahrhunderts, im Beginne derselben, unter dem Einfluß der Wir-kungen des Berliner Kongresses abspielte in Österreich, man brauchtes nur mit ein paar Strichen zu beleuchten und man wird sehen, welcheKräfte da spielten. In Österreich waren die Verhältnisse schon im Be-ginne der achtziger Jahre so weit gediehen, ja sogar noch früher, daßder polnische Abgeordnete Otto Hausner im öffentlichen Parlamentedie Worte aussprach: Wenn man so fortarbeitet in der österreichi-schen Politik, so werden wir in drei Jahren überhaupt kein Parlamentmehr haben, sondern etwas ganz anderes. - Er meinte das staatlicheChaos. Nun natürlich, man übertreibt in solchen Auseinandersetzun-

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gen, man macht Hyperbeln. Es kam nicht in drei Jahren schon, es kamaber in einigen Jahrzehnten, was er für die Zukunft der nächsten dreiJahre prophezeit hatte.

Ich könnte Unzähliges anführen gerade aus den Parlamentsdebat-ten Österreichs um die Wende der siebziger und achtziger Jahre, wor-aus Ihnen hervorgehen würde, wie man in Österreich sah, daß auch dasAgrarproblem in furchtbarer Weise heraufrückte. Ich erinnere michzum Beispiel sehr gut, wie dazumal anschließend an die Rechtferti-gung des Baues der Arlbergbahn es ausgesprochen wurde von einzel-nen Politikern der verschiedensten Schattierungen, daß man den Baudieser Bahn in Angriff nehmen müsse, weil sich zeige, daß es einfachnicht mehr gehe, agrarisch richtig fortzuarbeiten, wenn in derselbenWeise wie früher von Westen her die ungeheure Influenz mit land-wirtschaftlichen Produkten so weiterginge. Selbstverständlich war dasProblem nicht in der richtigen Weise angefaßt, aber es war eine rich-tige Prophetie gesprochen. Und alle diese Dinge-man könnte Hunderteanführen - würden zeigen, wie Österreich zuletzt, im Jahre 1914, soweit war, daß es sich sagen mußte: Entweder können wir nicht mehrweiter, wir müssen als Staat abdanken, wir müssen sagen, wir sindhilflos! — oder wir müssen durch ein Vabanquespiel, durch irgend etwas,was einer Oberschichte Prestige schafft, irgendwie aus der Sache her-auskommen. — Wer überhaupt auf dem Standpunkte stand, Österreichsolle weiterbestehen - und ich möchte wissen, wie ein österreichischerStaatsmann hätte ein Staatsmann bleiben können, wenn er nicht diesenStandpunkt gehabt hätte -, selbst wenn er ein solcher Tropf war wieGraf Berchtoldy konnte sich nicht anders sagen als: Es muß so etwasgeschehen —, man konnte eben nicht anders, als ein Vabanquespiel spie-len. Mag es von gewissen Gesichtspunkten aus noch so eigenartig er-scheinen, man muß das in seinen historischen Impulsen begreifen.

Nun, da haben wir sozusagen den Ausgangspunkt an einem Orte.Betrachten Sie diesen Ausgangspunkt einmal an einem anderen Orte,nämlich in Berlin. Nun, da möchte ich Ihnen zunächst ganz objektiv,um Ihnen einen Begriff zu geben von dem, was da wirkte, einiges reinTatsächliche sagen: Sehen Sie - bitte, nehmen Sie es mir nicht übel,wenn ich auch da ganz objektiv charakterisiere -, im Jahre 1905 wurde

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derjenige Mann, auf dessen Schultern 1914 in Berlin dennoch die Ent-scheidung lag über Krieg und Frieden, der damalige General und spä-tere Generaloberst von Moltkey zum Generalstabschef ernannt. Damalsbei der Ernennung hat sich folgende Szene abgespielt — ich schildere sokurz als möglich -: Der General von Moltke konnte seiner Überzeu-gung nach das verantwortungsvolle Amt des Generalstabschefs nichtübernehmen, wenn er sich nicht erst mit dem obersten Kriegsherrn,dem Kaiser, auseinandersetzte über die Bedingungen der Annahme die-ses Amtes. Und diese Auseinandersetzung hatte etwa folgenden Ver-lauf. Es handelte sich darum, daß bis dahin durch die Stellung der Ge-neralität zu dem obersten Kriegsherrn die Sache so war, daß dieser -Sie haben das vielleicht da oder dort schon selber nachgelesen - oftmalsbei den Manövern den Oberbefehl auf der einen oder anderen Seiteführte, und Sie wissen ja, daß dieser oberste Kriegsherr auch regelmäßiggewonnen hat. Nun sagte sich der Mann, der 1905 berufen werden sollte,das verantwortungsvolle Amt des Generalstabschefs zu übernehmen:Natürlich, unter solchen Bedingungen kann man es nicht übernehmen;denn es kann auch einmal ernst werden, und dann soll man sehen, wieman Krieg führen kann unter den Voraussetzungen, unter denen manManöver zusammenstellen muß, wenn man den obersten Kriegsherrnzum Befehlshaber hat, der doch siegen muß. - Nun beschloß der Ge-neral von Moltke, dieses in ganz unverhohlener "Weise offen und ehr-lich dem Kaiser vorzutragen. Der Kaiser war außerordentlich erstauntdarüber, daß ihm seine zum Generalstabschef zu ernennende Persön-lichkeit sagte, es ginge doch nicht, denn eigentlich verstünde der Kai-ser nicht im Ernstfall einen Krieg zu führen. Also müsse man die Dingeso vorbereiten, daß sie im Ernstfalle auch gelten könnten, und erkönne das Amt des Generalstabschefs nur übernehmen, wenn der Kai-ser verzichte auf die Führung irgendeiner Seite. Der Kaiser sagte: Ja,aber wie liegt denn die Sache? Habe ich denn nicht wirklich gesiegt?Ist das so gemacht worden? - Er wußte nichts davon, was seine Um-gebung gemacht hatte, und erst als man ihm die Augen öffnete, wurdeer sich klar darüber, daß das nicht weiterginge, und man muß sogarsagen, er ging dann mit ziemlicher Bereitwilligkeit auf die Bedingun-gen ein; das soll auch durchaus nicht verschwiegen werden.

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Also, meine sehr verehrten Anwesenden, nachdem ich Ihnen dieseTatsache vorgelegt habe zur Bildung eines eigenen UrteÜSj bitte ichSie - und ich darf vielleicht in Parenthese einfügen, es ist heute reich-lich Veranlassung gegeben, daß ich in solchen Sachen nicht irgendwiefärbe, denn ich kann durch eine hier anwesende Persönlichkeit in jedemAugenblick nachgeprüft werden -, nachdem ich Ihnen diese Tatsachevorgelegt habe, bitte ich Sie auch, nun zu erwägen, wo irgendwelcheVerirrungen vorlagen, ob es nicht auch eine ganz eigentümliche Sachewar, daß sich um den obersten Kriegsherrn herum Persönlichkeitenfanden - die auch ihre Nachfolgeschaft gefunden haben -, die minde-stens nicht so gesprochen haben wie 1905 der spätere Generaloberstvon Moltke, sondern die auch nach Übernahme eines Amtes in anderemSinne gehandelt haben. Es ist heute gar nicht nötig, daß man der Weltimmerfort vormacht, man müsse warten bis man die objektiven Tat-sachen feststellen könne; es handelt sich nur darum, daß man denernstlichen Willen habe, auf diese objektiven Tatsachen hinzuweisen.

Und nun braucht man wirklich nicht zu spintisieren über einenKronrat von 1914, von dem es sicher ist, daß Generaloberst von Moltkekeine Ahnung hatte, daß er stattgefunden hat, denn er war im Juli1914 bis kurz vor Ausbruch des Krieges zur Kur in Karlsbad abwesend.Das ist deshalb wichtig zu betonen, weil, wenn die Rede kommt aufDeutschlands Kriegshetzer, man dann folgendes sagen muß: Gewiß,solche Kriegshetzer hat es gegeben, und wenn man das spezielle Pro-blem der Kriegshetzerei in Angriff nehmen würde, so würde es hapernbei solchen Persönlichkeiten, die ich vorhin auch angeführt habe, wennman sie ganz weiß waschen wollte. Und schließlich das, was ich ge-sagt habe, daß man dem - ich weiß nicht, ob er weiß oder schwarz ist -Nikita von Montenegro auch eine harte Last der Kriegsschuld zu-schreiben kann, das mag daraus hervorgehen, daß schon am 22. Juli1914 die beiden Töchter, diese - verzeihen Sie den Ausdruck - dämo-nischen Frauen in Petersburg, in Anwesenheit von Poincare, bei einerbesonders prunkvollen Hoffestlichkeit dem französischen Botschafter,der das Merkwürdige sich geleistet hat, daß er in seinen Memoiren inAltersgeschwätzigkeit die Sache selbst erzählt hat, gesagt haben: Wirleben in einer historischen Zeit; eben kam ein Brief von unserem Vater

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an, und der weist darauf hin, daß wir in den nächsten Tagen Krieghaben werden. Es wird großartig werden. Deutschland und Österreichwerden verschwinden, wir werden uns in Berlin die Hände reichen. -Nun, das haben die Töchter des Königs Nikita, Anastasia und Militza,am 22. Juli - ich bitte das Datum zu beachten - dem französischen Bot-schafter in Petersburg gesagt. Das ist auch eine Tatsache, auf die hin-gewiesen werden kann.

Nun also, man braucht sich, ich möchte sagen, um alle die wenigerwichtigen Details im Grunde genommen nicht zu bekümmern. Dage-gen wird doch eine bedeutsame Rolle das spielen, daß sich die Dingebis zum 31. Juli 1914 in Berlin so zuspitzten, daß eigentlich alle Ent-scheide über Krieg und Frieden in Berlin auf die Schultern von Gene-raloberst von Moltke gelegt worden sind, und der konnte selbstver-ständlich aus keinen anderen als aus rein militärischen Untergründenheraus sich ein Urteil bilden über die Situation. Das ist dasjenige, wasman wird berücksichtigen müssen; denn zur Beurteilung der Lage inBerlin dazumal ist es eigentlich nötig, daß man genau kennt, ich möchtefast sagen, von Stunde zu Stunde dasjenige, was sich in Berlin abspieltevom Sonnabend etwa um vier Uhr nachmittags bis um elf Uhr nachts.Das waren die entscheidungsvollen Stunden in Berlin, in denen sicheine ungeheure weltgeschichtliche Tragik abgespielt hat. Diese welt-geschichtliche Tragik spielte sich so ab, daß der damalige Generalstabs-chef aus dem, was geschehen war, oder wenigstens aus alledem, was manin Berlin über das Geschehen wissen konnte, gar nichts anderes tunkonnte, als den Generalstabsplan ausführen zu lassen und auszuführen,der seit Jahren vorbereitet war für den Fall, daß etwa das einträte, waszum Schluß doch nur als das Einzutretende hat vorausgesehen werdenkönnen.

Die verschiedenen Verbündungen waren durchaus so, daß man inkeiner anderen Weise über die europäische Situation denken konnte,als so: Wenn die Balkanwirren sich nach Österreich herübererstrecken,wird sich Rußland unbedingt daran beteiligen. Rußland hat zu seinenVerbündeten Frankreich und England. Sie müssen sich in irgendeinerWeise daran beteiligen. Dann aber läuft automatisch die Sache so -man braucht gar nicht weiter darüber zu fragen -, daß Deutschland

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und Österreich zusammengehen müssen, und von Italien hatte man diebestimmteste Zusicherung, sogar im einzelnen stipuliert durch eine kurzvorher getroffene Vereinbarung, bis auf die Bestimmung der Divi-sionszahl sogar, wie es sich an einem eventuellen Kriege beteiligenwerde. Das waren die Dinge, die man in Berlin wissen konnte, daswaren die Dinge, die ein Mann, der eigentlich gegenüber der Welt-situation nur zweierlei kannte als Ausgangspunkte, vorliegen hatte.Es waren die zwei Maximen, die Generaloberst von Moltke hatte:Erstens, wenn es zu einem Kriege kommt, dann wird dieser Kriegfurchtbar sein, ein Entsetzliches wird sich abspielen. Und wer die ganzfeine Seele des Generalobersten von Moltke kannte, der wußte, daßnun wahrhaftig leichten Herzens sich eine solche Seele nicht in das-jenige, was sie für das Furchtbarste ansah, würde hineinstürzen kön-nen. Das andere war aber eine grenzenlose Hingabe an das Pflicht-und Verantwortungsgefühl, und das konnte wiederum nicht andersals so wirken, wie es gewirkt hat.

Wenn dazumal dasjenige, was geschehen ist, hätte verhindert wer-den sollen, dann hätte es verhindert werden müssen von Seiten der deut-schen Politik aus; es hätte dasjenige verhindert werden müssen, wasSie vielleicht selbst als zu Verhinderndes heraus urteilen, wenn ich Sieauf folgende Tatsachen aufmerksam mache: Es war am SonnabendNachmittag; da nahte ja dasjenige heran, was zu einer Entscheidungführen sollte, und da traf denn nach vier Uhr der Generalstabschef vonMoltke den Kaiser, Bethmann-Hollweg und eine Reihe von anderenHerren in einer Verfassung, die eigentlich eine ziemlich rosige zu seinschien. Es war eben eine Mitteilung von England gekommen - ichglaube allerdings, man kann diese Mitteilung kaum ordentlich gelesenhaben, denn sonst könnte sie nicht so aufgefasst worden sein, wie sieaufgefaßt worden ist -, diese Mitteilung besagte nach der Ansicht derdeutschen Politiker, daß man England doch noch zurechtkriegenkönnte. Es hatte niemand eine Ahnung von dem unerschütterlichenGlauben an die Mission des Angelsachsentums, dagegen hatte man im-mer Vogel-Strauß-Politik getrieben, das war tragisch. Jetzt glaubteman, leichten Herzens aus einem solchen Telegramm herauslesen zukönnen, daß sich die Dinge auch anders abspielen könnten, und es ge-

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schah das, daß der Kaiser die Mobilisationsurkunde nicht unterschrieb.Also, ich bemerke ausdrücklich, daß zunächst am Abend des 31. Julidie Mobilisationsurkunde vom Kaiser nicht unterschrieben worden ist,obwohl der Generalstabschef aus seinem militärischen Urteil herausdie Meinung gehabt hat, daß man auf solch eine Depesche nichts ge-ben dürfe, sondern unbedingt der Kriegsplan ausgeführt werden müsse.Statt dessen wurde dem Offizier vom Tage der Auftrag gegeben, inGegenwart von Moltke, zu telephonieren, daß sich die Truppen imWesten von der feindlichen Grenze zurückzuhalten haben, und derKaiser hat gesagt: Jetzt brauchen wir ganz gewiß nicht in Belgien ein-zumarschieren.

Nun dasjenige, was ich Ihnen sage, steht in Aufzeichnungen, dieder Generaloberst von Moltke nach seiner sehr merkwürdig erfolgtenVerabschiedung selber aufgeschrieben hat, die veröffentlicht werdensollten im Einverständnis mit Frau von Moltke im Mai 1919, in jenementscheidenden Augenblick, wo Deutschland davor stand, der Weltdie Wahrheit zu sagen unmittelbar vor dem Unterschreiben des Ver-sailler Diktates. Und wer dasjenige liest, das dazumal veröffentlichtwerden sollte und was aus der Feder des Herrn von Moltke selber ge-flossen war, wird keinen Augenblick das Urteil gewinnen können, dadiese Dinge so sehr den Ausdruck der innerlichen Ehrlichkeit und Red-lichkeit durch sich selbst tragen, daß sie vor dem Versailler Diktatauf die Welt nicht einen bedeutsamen Eindruck gemacht hätten. Nun,die Sache war gedruckt, an einem Dienstagnachmittag gedruckt, amMittwoch sollte sie erscheinen. Ich will nicht in die Schilderung weite-rer Einzelheiten mich einlassen. Es erschien bei mir ein deutscher Ge-neral, der mir aus einem dicken Konvolut von Akten klarmachenwollte, daß drei Punkte in diesen Aufzeichnungen unrichtig seien. Ichmußte dem General sagen: Ich habe lange Zeit philologisch gearbeitet.Aktenbündel imponieren mir nicht eher, bevor sie nicht in philolo-gischem Sinne beurteilt sind, denn man muß nicht nur wissen, wasdrinnen enthalten ist, sondern auch, was nicht drinnen enthalten ist,und wer eine historische Untersuchung macht, untersucht auch nichtnur, was drinnen enthalten ist, sondern auch dasjenige, was fehlt. -Aber ich mußte folgendes sagen: Sie haben mitgearbeitet, die Welt nimmt

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selbstverständlich an, daß Sie von den Dingen genau wissen. WerdenSie beeidigen, wenn ich die Broschüre erscheinen lasse mit den Memoirenvon Moltke, daß diese drei Punkte unrichtig sind? - und er sagte: Ja! -Ich bin völlig überzeugt, daß die drei Punkte richtig sind, denn sie sindauch psychologisch als richtig zu konstatieren. Aber es hätte selbstver-ständlich dazumal nichts genützt, wenn man die Broschüre hätte er-scheinen lassen - es kamen alle anderen Schikanen dazu —, die Bro-schüre würde einfach konfisziert worden sein, das sah man ganz ge-nau. Ich konnte eine Broschüre nicht erscheinen lassen, der gegenüberein Eid geleistet worden wäre vor aller Welt, daß die drei Punkte darinnicht richtig sind. Denn wir leben ja in einer Welt, in der es sich nichtum das Richtige und Unrichtige handelt, sondern in der die Machtentscheidet.

Ich weiß, daß man ganz besonders übelgenommen hat, was ich indieser Broschüre auf Seite V geschrieben habe, was ich aber für nötiggehalten habe, um die Situation in der richtigen Weise zu beleuchten.Ich habe geschrieben: Wie auf die Spitze des militärischen Urteils inden Zeiten, die dem Kriegsausbruch vorausgingen, alles in Deutschlandgestellt war, das zeigt der unglückselige Einfall in Belgien, der einemilitärische Notwendigkeit und eine politische Unmöglichkeit war.Der Schreiber dieser Zeilen hat Herrn von Moltke, mit dem er jahre-lang befreundet war, im November 1914 gefragt: Wie hat der Kaiserüber diesen Einfall gedacht? - und es wurde geantwortet: Der hat vorden Tagen, die dem Kriegsausbruch vorangingen, nichts davon gewußt,denn bei seiner Eigenart hätte man befürchten müssen, daß er dieSache aller Welt ausgeschwätzt hätte. Das durfte nicht geschehen, dennder Einfall konnte nur Erfolg haben, wenn die Gegner unvorbereitetwaren. - Und ich fragte: Wußte der Reichskanzler davon? - Die Ant-wort lautete: Ja, der wußte davon. - Es mußte also so Politik getriebenwerden in Mitteleuropa, daß man Rücksicht nehmen mußte auf Ge-schwätzigkeit, und ich frage Sie: Ist es nicht eine furchtbare Tragik,wenn so Politik getrieben werden muß? - Daher kann durchaus ausdiesen Untergründen heraus der volle Beweis geführt werden, daß dasrichtig ist, was der mir sonst unangenehme Ttrpitz über Bethmann-Hollweg sagt, daß dieser in die Kniekehle gesunken wäre und auch

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äußerlich die Nullität seiner Politik schon in der Physiognomie zumAusdruck gebracht hätte. Diese Nullität ist auch später dadurch zumAusdruck gekommen, daß er dem englischen Botschafter gegenüberbetont hat, daß, wenn nun England doch losschlägt, seine ganze Po-litik sich als ein Kartenhaus erweise. Das war sie auch in Wirklichkeit,und dieses Kartenhaus stürzte zusammen, und der Generalstabschefmußte in seinen Memoiren über die Situation, in der er dazumal, Sams-tag abends, war, schreiben: Die Stimmung wurde immer erregter, undich stand ganz allein da.

Das militärische Urteil stand also ganz allein da, die Politik warin die Nullität verfallen. Das hat den Deutschen der Umstand ge-bracht, daß sie sich nicht mehr zu den großen Gesichtspunkten auf-schwingen wollten, zu denen sie ganz besonders berufen gewesen wären,die sich zeigen in den großen, bedeutsamen Epochen der deutschenKulturentwickelung, auf die man nicht hinsehen wollte am Ende des19. und Beginn des 20. Jahrhunderts. Daß aus einer solchen Situationnur Unheil folgen konnte, das lastete nun schwer auf der Seele desGeneralstabschefs, und als ein Offizier zu ihm kam, damit er die Wei-sung unterschreibe, die der telephonischen Zurückhaltung der Truppenvon der belgisch-französischen Grenze nachgeschickt werden sollte,da stieß der Generalstabschef die Feder auf den Tisch, daß sie zerbrach,und sagte, er werde niemals einen solchen Befehl unterschreiben, dieTruppen würden unsicher werden, wenn ein solcher Befehl auch vomGeneralstabschef käme. Und aus der schmerzlichsten, verzweiflungs-vollsten Stimmung heraus wurde der Generalstabschef dann geholt. Eswar mittlerweile weit nach zehn Uhr geworden. Ein anderes Tele-gramm von England war gekommen, und - ich will die EinzelheitenHeber nicht erwähnen - nun fielen die Worte von Seiten des oberstenKriegsherrn: Nun können Sie machen, was Sie wollen!

Sie sehen, man muß schon auf die Einzelheiten eingehen, und ichhabe nur ein paar Hauptzüge angegeben von dem, was gewissermaßenauf dem Kontinente geschah. Ich möchte auch den Gegenzug nun er-wähnen, der auf der anderen Seite geschah. Es wird einmal authentischwerden - wiederum kann ich sagen, daß ich Ihnen nicht leichtsinnigdas erzähle -, es wird einmal authentisch werden, daß die beiden Leute

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Asquith und Grey in derselben Zeit, in der in Berlin das geschah, wovonich jetzt erzählt habe, sagten: Ja, was ist denn das eigentlich? Haben wirbis jetzt mit verbundenen Augen englische Politik gemacht? Sie mein-ten, diese englische Politik wäre von ganz anderer Seite gemacht wor-den; ihnen wären die Augen verbunden gewesen. Und sie sagten: Jetztist uns die Binde abgenommen worden - das war Samstag abends —,jetzt, da wir sehend werden, stehen wir vor dem Abgrund; jetzt kön-nen wir nurmehr in den Krieg hinein. - Das ist das Spiegelbild drübenjenseits des Kanals, und das alles bitte ich Sie so zu nehmen, daß esreichlich vermehrt werden könnte, denn ich kann in der mir zuge-messenen Zeit nichts anderes tun, als eine Art von Stimmung einmalgeben, Ihnen vorlegen dasjenige, was wenigstens einiges Licht wirftauf die Dinge, die geschehen sind.

Und dann, wenn Sie das alles nehmen, dann bitte ich Sie, mit die-ser Voraussetzung dasjenige zu lesen, was ich in meinen «Gedankenwährend der Zeit des Krieges» geschrieben habe, die ich wohl überlegtbetitelte als gerichtet «Für Deutsche und solche, die nicht glauben, siehassen zu müssen». Alles einzelne ist darin überlegt. Ich bitte Sie, vondiesen Gesichtspunkten aus zu bedenken, was ich dort schrieb, daß essich nicht um dasjenige handelt, was man im gewöhnlichen Sinn mo-ralische Schuld oder moralische Unschuld nennt, sondern daß dieDinge hinaufgehoben werden müssen auf die Höhe geschichtlichenWerdens, indem sich außerordentlich Tragisches vollzog, indem sichetwas vollzog, wo man anfangen kann zu sprechen von historischenNotwendigkeiten, in die man im Grunde genommen mit solchen Ur-teilen, wie ich sie anfangs angedeutet habe, nicht hineinschwätzensollte. Die Dinge liegen viel ernster, als die Welt heute hüben und drü-ben noch meint; dennoch liegen sie so, daß sie unbedingt der Welt be-kanntwerden müßten, daß von ihnen der Ausgang zu der Ordnung derWirren eigentlich genommen werden müßte. Aber man findet ja wahr-haftig gegenwärtig keine Möglichkeit, daß dasjenige, was man nachdieser Richtung unternimmt, in irgendeiner Weise anders in die Welthineingestellt wird als dadurch, daß es entstellt, verleumdet wird.

Dasjenige, was ich Ihnen heute über den Generaloberst von Moltkegesagt habe, das gibt eine Möglichkeit, diesen Mann in dieser entschei-

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dungsvollen Stunde zu beurteilen; aber es finden sich ja, wie Sie wissen,Leute, von denen gesagt wird, daß sie selbst im Generalstab tätig wa-ren, die bringen es zustande, die verleumderischsten Dinge über denGeneraloberst von Moltke zu sagen, unter anderem auch die erlogeneAbsurdität, in Luxemburg wären vor der Marneschlacht anthroposo-phische Veranstaltungen getroffen worden, und dadurch hätte der Ge-neraloberst seine Pflicht nicht getan. Wenn diese Dinge gesagt werdenkönnen von solcher Seite her, dann sieht man daraus, in welche mora-lische Verfassung wir heute hineingekommen sind, und es ist schwierig,innerhalb dieser moralischen Verfassung für die Wahrheit eine rechteGasse zu bahnen. Dazu brauchten wir eigentlich viele, recht viele Per-sönlichkeiten, und erst nachdem ich Ihnen die Voraussetzungen gege-ben habe, von denen ich gesprochen habe, erst jetzt möchte ich ausMoltkes Memoiren einen Satz vorlesen, der Ihnen zeigen wird, was inder Seele dieses Mannes lebte erstens in bezug auf seine Meinung überdie Kriegsnotwendigkeit und zweitens in bezug auf sein Verantwor-tungsgefühl. Denn es handelt sich durchaus darum, daß man nicht ei-nen brutalen Begriff von Schuld konstruiere, sondern daß man auf daseingehe, was dazumal in den Seelen gelebt hat. Es ist ein sehr ein-facher Satz, den da Moltke geschrieben hat, ein Satz, der oftmals aus-gesprochen worden ist, aber es ist ein Unterschied, ob er von denNächstbesten ausgesprochen wird oder von demjenigen, auf dessenSeele dazumal die Entscheidung über den Krieg lag. Er schrieb:«Deutschland hat den Krieg nicht herbeigeführt, es ist nicht in ihneingetreten aus Eroberungslust oder aus aggressiven Absichten gegenseine Nachbarn. Der Krieg ist ihm von seinen Gegnern aufgezwungenworden und wir kämpfen um unsere nationale Existenz, um das Fort-bestehen unseres Volkes, unseres nationalen Lebens.»

Wenn man Tatsächlichkeiten untersucht, kommt man nicht auf dasRichtige, indem man irgendwo einsetzt; man muß dort einsetzen, wodie Wirklichkeiten, die Tatsächlichkeiten spielen, und wenn man nach-weisen kann, daß ein Wesentliches von den Tatsächlichkeiten in derSeele eines Mannes spielt, dann gehört es zu den Tatsachen, die dieLage geschaffen haben, wenn ein solches Bewußtsein in dieser Seelewaltete. Es gehört auch zum Wesentlichen dazu, wenn man die Situa-

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tion beurteilen will, gerade hinzuschauen auf dasjenige, was sich beiden vierzig bis fünfzig Persönlichkeiten abspielte, die eigentlich be-teiligt waren an dem Ausbruch dieser entsetzlichen Katastrophe, undwer sich nicht aus Vorurteilen, sondern aus Sachkunde über diese Dingeein Urteil aneignet, der weiß, daß im Grunde genommen eigentlichalle ziemlich ahnungslos waren außer den vierzig bis fünfzig Persön-lichkeiten, die den Kriegsausbruch herbeiführten, die überhaupt Tätig-keiten unter der Konstellation der europäischen Verhältnisse ent-falteten.

Ich habe während des Krieges wahrhaftig Gelegenheit gehabt,mit vielen Menschen, die schon etwas von der Situation beurtei-len konnten, über die Angelegenheiten zu sprechen, und ich habe mirda niemals ein Blatt vor den Mund genommen. Ich habe zum Beispielzu einer Persönlichkeit, die der Lenkung eines neutralen Staates nahe-stand, gesagt: Es kann als notorisch betrachtet werden, daß in unsererdemokratisch sich nennenden Zeit etwa vierzig bis fünfzig Persön-lichkeiten, unter denen - es sind nicht nur innerhalb der Anthroposo-phischen Gesellschaft Frauen - durchaus auch Frauen waren, undzwar in gar nicht so geringer Anzahl, daß etwa vierzig bis fünfzigPersönlichkeiten für diese Katastrophe in der internationalen Weltunmittelbar tätig waren. - Es wäre schon nötig, daß man sich erstetwas heraufschwingen würde zu den Gesichtspunkten, von denen ausman diese Situation erst im Grunde genommen beurteilen könnte. Stattdessen wird ungeheuer viel über diese ernsten, weltumwälzenden Er-eignisse gesprochen aus den Oberflächlichkeiten der Weißbücher undähnlichem heraus, und es ist für denjenigen, der nicht reden würde,wenn er die Dinge nicht anders kennte als viele andere, außerordent-lich schwer immer gewesen, das Nötige da oder dort zur Geltung zubringen, wo seit dem Jahre 1914 über die Situation geurteilt wordenist. Das begann für mich schon in der Zeit, als mir in der Schweiz über-all entgegengeworfen wurden die «J'accuse»-Bücher, und ich den Leu-ten - Sie wissen, wie gefährlich die Situationen manchmal waren -nichts anderes sagen konnte als dasjenige, was wahr ist, obwohl dasoftmals am wenigsten verstanden wurde: Leset, sagte ich, in einemsolchen Buch nicht dasjenige, was mit juristischer Spitzfindigkeit dar-

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innen geschrieben ist, leset dasjenige, was im Stile liegt, leset den ganzenAufbau, die ganze Aufmachung des Buches, und wenn ihr Geschmackhabt, müßt ihr sagen: politische Hintertreppenliteratur! - Ich habees Leuten, die neutralen und nicht neutralen Gebieten angehörten,wiederholt immer wieder und wiederum sagen müssen. Natürlich sageich damit nicht, daß in diesem «J*accuse»-Buch nicht manches Rich-tige drinnensteht; aber am allerwenigsten geht es von einem solchen Ge-sichtspunkt aus, der geeignet ist, die weltgeschichtlich tragische Situa-tion zu beurteilen, in der sich, man kann schon sagen, die Welt imJahre 1914 befand. Und man muß auf die Untergründe hinweisen,wenn man auch nur in einigem genötigt ist, über die Schuldfrage zusprechen.

Ja, diese Schuldfrage soll aber auch noch etwas lehren. Sehen Sie,ich bin gleich, nachdem die unglückselige Friedenswillenserklärung imHerbst oder Winter 1916 von Deutschland ausgegangen war und dannder ganze phantastische Zug mit den Vierzehn Punkten des WoodrowWilson sich vollzog, ich bin gleich dazumal — ich war nirgends auf-dringlich, die Leute sind mir sehr stark, weit über den halben Wegentgegengekommen - herangetreten an diejenigen, die Verantwortunghatten, mit dem Ansinnen, das allerdings manchen paradox erschie-nen ist, es könnte gegenüber diesen weltfremden Vierzehn PunktenWilsons, die aber trotz ihrer Weltfremdheit Schiffe, Kanonen undMenschen reichlich auf den Plan zu bringen vermochten, die Idee derDreigliederung des sozialen Organismus vor der Welt geltend ge-macht werden. Und ich habe es erleben müssen, daß ja manche rechtgut eingesehen haben, daß so etwas geschehen müßte, daß aber nie-mand eigentlich den Mut hatte, nach dieser Richtung hin irgend etwaszu tun, niemand geradezu. Für das Gespräch, das ich mit Kühlmannhatte, ist, wie ich denke, der Zeuge, der dabeigewesen ist, heute wiederda. Ich kann also in diesen Dingen in keiner Art irgendein Geflunkertreiben. Aber ich habe doch das zu erklären, und auch da würde ichheute ganz gewiß Ihnen nicht etwas Unrichtiges erzählen, da man ge-nau weiß, wie sich die Sache vollzogen hat.

Auch da muß ich zum Beispiel folgendes sagen: Sehen Sie, ich hieltschon im Januar 1918 die Frühjahrsoffensive von 1918 für eine ab-

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solute Unmöglichkeit, und ich kam in die Lage auf einer Reise, die ichvon Dornach nach Berlin zu machen hatte, mit einer gewissen Per-sönlichkeit - man wußte, daß, wenn die entscheidungsvollen Augen-blicke herannahen würden, diese Persönlichkeit zur Leitung der Ge-schäfte berufen würde - über die Verhältnisse zu sprechen, die eigent-lich dann erst eintraten im November 1918, und als ich dann auch daeigentlich ein gewisses Verständnis gefunden hatte für die Dreiglie-derung des sozialen Organismus, kam ich nach Berlin. Da hatte ichmit einer Persönlichkeit zu sprechen. Diejenigen, die sich dazumalinformieren konnten über die Art, wie der Hase läuft, die wußten jaschon von der Offensive im Januar 1918; man konnte nur nicht da-von sprechen. Und ich hatte zu sprechen mit einer militärischen Per-sönlichkeit, die dem General Ludendorff außerordentlich nahe stand.Das Gespräch nahm ungefähr die Wendung, daß ich sagte: Ich willmich nicht der Gefahr aussetzen, daß man mir vorwerfen könnte, ichwolle in militärisch-strategische Dinge hineinreden, sondern ich willvon einem gewissen Ausgangspunkt sprechen, von dem aus dieser mi-litärische Dilettantismus, den ich haben könnte, nicht in Betrachtkäme. - Ich sagte, daß in einer Frühjahrsoffensive Ludendorff mög-licherweise alles das erreiche, was er sich überhaupt nur träumen lassenkönne; aber ich halte trotzdem diese Offensive für ein Unding -, undich führte die drei Gründe an, die ich dafür hatte. Der Mann, zu demich sprach, wurde recht aufgeregt und er sagte: Was wollen Sie? DerKühlmann hat ja Ihr Elaborat in der Tasche. Damit ist er ja nachBrest-Litowsk gezogen. So werden wir von der Politik bedient. DiePolitik ist nichts bei uns. Wir Militärs können nichts anderes tun alskämpfen, kämpfen, kämpfen. - Im Jahre 1914 war der Generalstabs-chef in einer Lage, daß er schreiben mußte für die Situation in derAbendstunde: «Die Stimmung wurde immer erregter und ich standganz allein da.» Für die Stimmung zwischen zehn und elf Uhr mußteer schreiben: Der Kaiser hat gesagt: «Nun können Sie machen, wasSie wollen!» - Und im Jahre 1918 konnte einem gesagt werden: DiePolitik kommt überhaupt nicht in Betracht, die ist in der Nullität;wir können nichts anderes tun als kämpfen, kämpfen. - Meine sehrverehrten Anwesenden, es war nicht anders geworden und es ist heute

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nicht anders geworden, und ich möchte Ihnen einen negativen, aller-dings nur subjektiven Beweis liefern, daß es nicht anders geworden ist.

Wiederum ist gesprochen worden mit derselben Weltfremdheit, mitderselben Abstraktheit, mit der Woodrow Wilson gesprochen hat, diebewiesen worden ist durch die Art und Weise, wie Woodrow Wilsonin Versailles gestanden hat. Wiederum ist gesprochen worden von der-selben Stelle aus von Harding, und ich sehe in der Rede Hardings, dieso konfus wie möglich ist, die mit Ausschluß jedes Wirklichkeitssinnesgehalten ist, die wiederum nur die alten Phrasen bringt jetzt, wo wirebenso vor wirtschaftlichen Entscheidungen stehen wie dazumal vorpolitischen, ich sehe in dieser Rede nichts davon, daß sich die Leuteirgendwie beschäftigen mit dem, was da wiederum heraufzieht. Es istfast unmöglich, die Menschen zu einem Urteil zu bringen. Ob wir denersten Wilson haben, der in Versailles seine Konfusion zeigt, oder obwir aus derselben Gegend heraus gesprochen haben etwas später, dar-auf kommt es nicht an. Darauf käme es an, daß man mit Wirklichkeits-sinn ein waches Auge hätte.

Dann würde man auch auf solche Dinge hinschauen wie die Tat-sache, die geradezu unerhört ist für denjenigen, der ein Gefühl hat fürdie Beurteilung politischer Situationen, daß dieser gerade in demheutigen Sinn charakteristische Staatsmann Lloyd George vor kurzemnoch gesagt hat: Man kann nicht in dem alten Sinn Deutschland mo-ralische Schuld am Krieg geben; die Leute sind in ihrer Dummheithineingerutscht. — So hat er gesprochen vor einigen Wochen, und Siewissen, wie er gesprochen hat in London gegenüber Simons. Sie kön-nen daraus ermessen, welcher Wahrheitswert in den Reden liegt, diedie Leute halten, und haben die Menschen noch keinen Impetus, aufdiese Dinge zu schauen - sie müssen ihn bekommen, müssen ihn be-kommen dadurch, daß sie sich Sinn verschaffen für die großen Ge-sichtspunkte. In dieser Katastrophe haben sie gespielt, diese großenGesichtspunkte, und unser Unglück ist, daß niemand eine Ahnunghatte von diesen großen Gesichtspunkten. Es muß die Möglichkeit ge-geben werden, daß die großen Gesichtspunkte, von denen die Dingeabhängen, heute auch in Mitteleuropa in die Entscheidung hineinge-worfen werden.

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Solange aber dasjenige, was wahr ist, von Seiten derer, die dasDeutschtum in einer etwas eigentümlichen Weise gepachtet zu habenglauben, verleumdet wird, solange man von solchen Leuten Verräteram Deutschtum genannt wird, trotzdem dasjenige, was da gesagt wird,wenn es wirklich verstanden würde, einzig und allein geeignet wäre,dem wirklichen deutschen Volkstum seine ihm gebührende Stellungzu verschaffen, so lange kann es nicht besser werden. Die Menschen,die ganz anderen Willens sind, die vor allen Dingen des Willens sind,die Wahrheit zu erkennen, müssen sich zusammenfinden.

Gewiß, es hat auch in Deutschland Kriegshetzer gegeben; aberalles, was von ihnen ausgegangen ist, ist im entscheidenden Augenblickgar nicht von Bedeutung gewesen. Von Bedeutung aber ist gewesen,was ich im letzten Kapitel meiner «Kernpunkte» ausgeführt habe, daßman durch das Verlieren der großen Gesichtspunkte auf dem Null-punkt der politischen Wirksamkeit angekommen war. In dem Deutsch-tum werden wir uns nur dann erheben, wenn wir uns zu großen Ge-sichtspunkten erheben; denn derjenige, der mit warmem Herzen, nichtbloß mit dem Maule - verzeihen Sie den etwas groben Ausdruck - imDeutschtum drinnensteht, der weiß, daß wahres Deutschtum geradeheißt: Mit großen Gesichtspunkten verwachsen sein. — Aber wir müs-sen wiederum den Weg zu den großen Gesichtspunkten des deutschenVolkes zurückfinden. Und es ist im Grunde genommen auch aus einerErfahrung heraus, daß ich diese Dinge heute zu Ihnen spreche. Trotzder Stellung der Frage hätte ich ja vielleicht nicht zu antworten brau-chen; aber ich wollte gerade diese Frage beantworten, und etwas, waszur Beantwortung solcher Fragen führt, das wird sich Ihnen zeigen,wenn ich Ihnen den Schlußpassus vorlege, den mir der Fragestellernoch in einem Nachtrag übergeben hat. Er schreibt: Ich hielte es fürsehr wertvoll, die richtige, klare Anschauung über diese ganze Frageder Kriegsschuld etwa in einer Denkschrift zu veröffentlichen undweit zu verbreiten. - Nun, das hätte im Mai 1919 geschehen sollen.Die Denkschrift war auch gedruckt. Die Welt innerhalb Deutschlandshat verhindert, daß diese Denkschrift erscheinen konnte. Bleiben wirnicht dabei, bloß uns das Urteil zu bilden, so etwas müßte geschehen;unterstütze man diejenigen, die sich nicht bei diesem Urteil beruhigen

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wollen, sondern dasjenige, was hier vorgeschlagen wird, vor langerZeit schon versucht haben, gerade im entscheidenden Augenblick zutun. Dann werden wir weiterkommen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, weil ich doch glaube, daß inder deutschen Jugend Persönlichkeiten sind, die den Weg zu wahremDeutschtum wiederum zurückfinden, die Sinn und Herz und offenesGemüt haben für das Empfangen der Wahrheit, deshalb, weil ich hiervielleicht doch mit einiger Aussicht gerade zu jüngeren Leuten, zu dembesten Teil vielleicht unserer Jugend sprechen konnte, deshalb habeich mich entschlossen, heute zu Ihnen diese Andeutungen zu sprechen.

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HINWEISE

Zu dieser Ausgabe

Zu den Vorträgen: Der vorliegende Band Bibliographie-Nr. 174b der Gesamt-ausgabe (GA) faßt Vorträge zusammen, die während des Ersten Weltkrieges inStuttgart gehalten wurden. Sie waren ursprünglich in folgende Bände derBibliographischen Übersicht, herausgegeben 1961 von der Rudolf Steiner-Nach-laßverwaltung, eingeteilt:

30. September 1914: GA 17313./14. Februar 1915: GA 16022. - 24. November 1915: GA 15912. und 15. März 1916: GA 16711., 13. und 15. Mai 1917: GA 25423./24. Februar, 23. und 26. April 1918: GA 18221. März 1921: GA 174

Die Neugruppierung erfolgte, um Wiederholungen zu vermeiden. Der vorange-hende Band GA 174 a («Mitteleuropa zwischen Ost und West») enthält Vorträgeaus der Zeit des Ersten Weltkrieges in München.

Textunterlagen: Auf wen die einzelnen Nachschriften zurückgehen, ist nur nochteilweise festzustellen. Der 1. Vortrag ist ein Referat, das Adolf Arenson aus demGedächtnis und nach Notizen verschiedener Teilnehmer ausgearbeitet hat. DieVorträge 9 - 15 wurden mitstenographiert von Hedda Hummel (Köln). Wer dieübrigen Vorträge mitgeschrieben hat, ist nicht bekannt.

Der Titel des Bandes wurde von den Herausgebern der 1. Auflage gewählt.

Einzelausgaben

13.-14. Februar 1915 «Der Christus-Impuls als Träger der Vereinigung desGeistigen und Leiblichen», Dornach 1944

22. - 24. November 1915 «Das Geheimnis des Todes. Treue - Wahrheitssinn -Richtungsfestigkeit», Dornach 1945

11., 13., 15. Mai 1917 «Entwicklungsfaktoren der Menschheit. Die gegen dasWissen vom Geist sich auftürmenden Widerstände», Dornach 1941

Veröffentlichungen in Zeitschriften

23. u. 24. November 1915 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaftvorgeht - Nachrichten für deren Mitglieder» 1937, 14. Jahrg. Nr. 37 - 45.

23. Februar 1918 in «Das Goetheanum» 1939, 18. Jahrg. Nr. 27 - 31.

24. Februar 1918 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht -Nachrichten für deren Mitglieder» 1940, 17. Jahrg. Nr. 39 - 41.

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23. April 1918 in «Das Goetheanum» 1940,19. Jahrg. Nr. 45 - 48 (Anfang) und«Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht - Nachrichten für derenMitglieder» 1940, 17. Jahrg. Nr. 50 (Schluß).

26. April 1918 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht —Nachrichten für deren Mitglieder» 1941, 18. Jahrg. Nr. 1 - 5 ; «Die Menschen-schule», Zürich, 1957, 31. Jahrg. Heft 9.

Hinweise zum Text

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mitder Bibliographie-Nummer angeführt. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

zu Seite

13 Vortrag vom 30. Sept. 1914: Der Text folgt einer maschinengeschriebenen Nach-schrift. Eine Überprüfung des ursprünglichen Stenogramms war nicht möglich.Zum Inhaltlichen vgl. den Vortrag vom 13. Sept. 1914 in München (GA 174 a).

in unserem ersten Grundsatz: «Es können in der Gesellschaft alle diejenigenMenschen brüderlich zusammenwirken, welche als Grundlage eines liebevollenZusammenwirkens ein gemeinsames Geistiges in allen Menschenseelen betrach-ten, wie auch diese verschieden sein mögen in bezug auf Glauben, Nation, Stand,Geschlecht.»

14 Der erste Band meines Buches: Innerhalb der Gesamtausgabe ist das Werk «DieRätsel der Philosophie» in einem Bande erschienen (GA 18). Die entsprechendeStelle mit dem Übergang von den französischen Philosophen Boutroux (1845 -1921) und Bergson (1859 - 1890) zu dem deutschen Philosophen WilhelmHeinrich Preuß (1843 - 1909) findet sich auf Seite 564.

15 Maurice Maeterlinck, 1862 - 1949, belgischer Schriftsteller und Dichter. Seinerstes philosophisches Werk «Le Tresor des Humbles» erschien 1896, indeutscher Sprache 1898 unter dem Titel «Der Schatz der Armen». Darin ist einKapitel Novalis gewidmet, das mit den Worten beginnt: «Die Menschen gehenverschiedene Wege, sagt unser Autor; wer ihnen folgt und sie vergleicht, wirdseltsame Gebilde entstehen sehen. Ich habe drei solche Menschen gewählt, derenWege uns auf verschiedene Gipfel führen.» Darauf nennt er den flämischenMystiker Ruysbroeck, Ermerson und Novalis. - Schon 1895 hatte er denunvollendeten Roman «Die Lehrlinge zu Sais» und die «Fragmente» des Novalisin die französische Sprache übertragen und so veröffentlicht.

die Punischen Kriege: Die erwähnte Schlacht bei Mylä fand statt im erstenPunischen Krieg, der von 264 bis 241 v. Chr. dauerte, unter dem römischenFeldherrn C. Duilius.

16 50 hat sich in Lüttich etwas abgespielt: Die Eroberung Lüttichs in der Nacht vom5./6. August durch die 14. Infanteriebrigade unter Ludendorff. Hierdurch wurdedie äußerst gefährdete Durchführung des deutschen Feldzugsplans erst ermög-licht.

17 der lese den Vortragszyklus: «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammen-hange mit der germanisch-nordischen Mythologie», elf Vorträge, gehalten imJuni 1910 in Kristiania (Oslo), GA 121.

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17 als wir im Streite mit Frau Besant waren: Annie Besant (1847 - 1933) war von1907 an Präsidentin der Theologischen Gesellschaft. Als sie den InderknabenKrishnamurti zum Träger einer zur erwartenden irdischen Neugeburt desChristus erklärte, mußte sich Rudolf Steiner gegen diese These stellen. Das führtezum Ausschluß der unter seiner Leitung stehenden Deutschen Sektion aus derTheosophischen Gesellschaft und zur Gründung der AnthroposophischenGesellschaft (1912/13).

18 der «Pforte der Einweihung»: Das erste der vier Mysteriendramen, die in denJahren 1910 - 1913 entstanden (GA 14). Die drei Persönlichkeiten sind Philia,Astrid und Luna, die im Personenverzeichnis «Freundinnen Marias» genanntwerden, «deren Urbilder im Verlaufe als Geister von Marias Seelenkräften sichoffenbaren».

20 Herman Grimms, der noch im geistigen Sinne Goetheblut in seinen Adern hatte:Dazu schreibt Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang»» GA 28, 1961, S. 204: «AlsKunsthistoriker ist Herman Grimm an Goethe herangetreten; als solcher hat eran der Berliner Universität Vorlesungen über Goethe gehalten, die er dann alsBuch veröffentlicht hat. Aber er konnte sich zugleich als eine Art geistigerNachkomme Goethes betrachten. Er wuchs aus denjenigen Kreisen des deut-schen Geistesleben heraus, die stets eine lebendige Tradition von Goethe bewahrthatten und die sich gewissermaßen in einer persönlichen Verbindung mit ihmdenken konnten. Die Frau HermanGrimms war Gisela von Arnim, die TochterBettinas, der Verfasserin des Buches <Goethes Briefwechsel mit einem Kinde>.»Herman Grimm lebte 1828 -1901. Die drei zitierten Wortlaute stammen aus demBuche «Homers Ilias», 2 Bände, 1890-95. Sie finden sich in der 2. in einem Banderschienenen Auflage (1907) auf S. 214.

21 während meines Kursus in Norrköping: Vier Vorträge zwischen dem 12. und 16.Juli 1914, veröffentlicht unter dem Titel «Christus und die menschliche Seele»GA 155. Die erwähnten Ausführungen über die «in der letzten Zeit» eingetrete-nen «Überraschungen» wurden wohl innerhalb einer Ansprache gemacht, dieRudolf Steiner in den Tagen jenes Zyklus1 hielt, von der aber nur ungenügendeNotizen vorhanden sind (Ansprache vom 16. Juli 1914 über den Johannesbau[später Goetheanum]).

zum Münchner Zyklus: In den Jahren 1909 bis 1913 fanden in München jährlichin der zweiten Hälfte des Monats August Veranstaltungen der Theosophischen,1913 der Anthroposophischen Gesellschaft statt. Anschließend an eine dramati-sche Aufführung hielt Rudolf Steiner jeweils einen Vortragszyklus. Auch für denAugust 1914 war eine solche Veranstaltung vorgesehen und angekündigt. Siekonnte dann infolge des Kriegsausbruches nicht stattfinden.

Da kam das Attentat von Sarajewo: Das Attentat war am 28. Juni. Vermutlicheine Lücke in der Nachschrift.

22 als ich ... in Berlin war: Rudolf Steiner hielt dort am I. September einenMitgliedervortrag «Um Menschenschicksale und Völkerschicksale», der in GA157 als erster Vortrag veröffentlicht ist.

24 Als ich kürzlich von Wien zurückfuhr: Im September 1914 hielt sich RudolfSteiner auf der Durchreise kurz in Wien auf, aus Berlin kommend, in die Schweizzurückkehrend. Das Zitat ist aus einem Artikel von Robert Michel in «Österrei-chische Rundschau», 40. Jg., Heft 5, 1. 9.1914, S. 302 - 306.

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26 der am 26. Juli die Worte mitanhörte: Im Vortrag «Die schöpferische Welt derFarbe» in «Wege zu einem neuen Baustil», GA 286.

ein Staatsmann in Deutschland: Gottlieb von Jagow (1863 — 1935) war währendder Jahre 1913 - 1916 Staatssekretär des deutschen Auswärtigen Amtes.

27 in einer Zeitung Sätze lesen: Konnte nicht nachgewiesen werden.

als ersten Satz die Worte: Der Spruch (wörtlich: «Die Weisheit ist nur in derWahrheit») stammt von Goethe und findet sich in «Goethes Naturwissenschaft-liche Schriften», von Rudolf Steiner mit Einleitungen, Fußnoten und Erläuterun-gen im Text herausgegeben in Kürschners «Deutsche National-Litteratur» 1884bis 1897, 5 Bände, Nachdruck Dornach 1975, GA la-e, Band 4, 2, Abteilung,«Sprüche in Prosa», 1. Abteilung «Das Erkennen». - Rudolf Steiner wählte denSpruch als Motto für die Grundsätze, die er 1913 der neu gegründetenAnthroposophischen Gesellschaft gab. Siehe 2. Vortrag in «Die Geschichte unddie Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthro-posophischen Gesellschaft», GA 258.

28 Du meines Erdenraumes Geist: Rudolf Steiner änderte später die vorletzte Zeileum in: «Dich, tönend von Licht und Macht».

31 auch hier in Stuttgart: Außer am 30. September 1914 (siehe den ersten Vortragdieses Bandes) hielt Rudolf Steiner auch am 6. Dezember 1914 in Stuttgart einenZweigvortrag, von dem aber keine Nachschrift vorhanden ist.

43 Und es wäre das größte Unglück: Dieser Satz lautet im Stenogramm und in derfrüheren Ausgabe folgendermaßen: «Und es wäre das größte Unglück, - undwird von keiner Notwendigkeit jemals herbeigeführt werden können , wennjemals das slawische Element das germanische besiegen würde.» Der mittlere Teildes Satzes wurde gestrichen, da er sich inhaltlich und sprachlich nicht ins Ganzeeinfügt.

44 jenen bedeutungsvollen Briefwechsel: David Friedrich Strauß (1808 - 1874),«Krieg und Friede, zwei Briefe an Ernest Renan nebst dessen Antwort auf denersten», Leipzig 1870. Siehe D. F. Strauß, «Gesammelte Schriften», Bonn 1876 -78, Bd. I, S. 31 lf.. Der Brief Renans ist vom 13. September 1870 datiert.

45 wie Schiller in seinen «Ästhetischen Briefen»: Das Werk «Über die ästhetischeErziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen», 1759 - 1805, erschien imJahre 1795.

Johann Gottlieh Fichte, 1762 - 1814, hielt seine «Reden an die deutsche Nation»im Winter 1807/08 in Berlin. Es war die Zeit unmittelbar nach der NiederlagePreußens gegen Napoleon. Die Stadt war noch von französischen Truppenbesetzt.

46 zu jener Absurdität von dem Krishnamurti: Innerhalb der Theosophischen Ge-sellschaft wurde einige Jahre vor dem ersten Weltkrieg der später als derPhilosoph Krishnamurti bekannt gewordene Inderknabe als Träger einer zuerwartenden Wiedergeburt Christi im Irdischen ausgegeben. Daß Rudolf Steinersich gegen diese These stellte, führte zum Ausschluß der unter seiner Leitungstehenden Deutschen Sektion aus der Theosophischen Gesellschaft und zurNeugründung einer Anthroposophischen Gesellschaft. Krishnamurti hat späterdie ihm zugedachte Rolle selbst von sich gewiesen.

Johannes Tauler, um 1300 - 1361.

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46 Meister Eckhart, 1260 - 1327.

Angelus Silesius, 1624 - 1677.

47 Robert Hamerling, 1830 - 1889. Die erste Gesamtausgabe seiner Werke (in vierBänden) erschien erst im Jahre 1900. Zehn Jahre später erschien eine durchMichael Maria Rabenlechner besorgte Ausgabe der «Sämtlichen Werke» in 16Bänden. Der erste Band derselben enthält eine ausführliche Schilderung vonHamerlings Leben und Schaffen.

48 «Raskolnikow» von Dostojewski}: Raskolnikow ist der Name des Haupthelden indem berühmten 1867 erschienenen Roman «Schuld und Sühne» von Dostojews-kij (1818 - 1881).

von deutscher Seite sind wir ermahnt worden: Konnte bisher nicht nachgewiesenwerden.

49 Nehmen wir an ... daß jemand das heute sagen würde: Es handelt sich um CarlVogt (1817-1895), Naturforscher; «Politische Briefe an Friedrich Kolb», Separat-druck aus dem «Schweizer Handels-Courier», Biel 1870.

51 im öffentlichen Vortrage: «Warum nennen <sie> das Volk Fichtes und Schillers einBarbarenvolk?», Stuttgart 15. Februar 1915. Innerhalb der Gesamtausgabe ist derBerliner Parallelvortrag vom 15. November 1914 abgedruckt in dem Band «Ausschicksaltragender Zeit», GA 64.

57 «Die Mission einzelner Volksseelen»: GA 121.

vor Monaten hier gesprochen: Siehe den ersten Vortrag des vorliegenden Bandes.

62 «Die Pforte der Einweihung»: Das erste der vier Mysteriendramen RudolfSteiners, geschrieben 1910. Die erwähnte Stelle findet sich im ersten Bild. -Innerhalb der Gesamtausgabe erschienen die vier Dramen in einem Band, GA 14.

in verschiedenen Betrachtungen: Siehe vor allem den Band «Das Ereignis derChristus-Erscheinung in der ätherischen Welt», GA 118.

65 Ich habe Ihnen geschildert: Z. B. im Vortrag vom 1. Januar 1914, 4. Vortrag in«Christus und die geistige Welt»; GA 149, und in dem vom 17. Januar 1915, 4.Vortrag in «Menschenschicksale und Völkerschicksale», GA 157.

das Schicksal von Europa entschieden worden ist: Konstantin, der von 313 bis 337in Rom herrschte (seit 323 als Alleinherrscher), begünstigte und anerkannte dasChristentum, während seine Vorgänger die Christen noch hatten verfolgenlassen.

die Jungfrau von Orleans: Jeanne d'Arc, 1412 - 1431.

66 so erzählt uns eine alte norwegische Legende: Sie ist uns überliefert als «DasTraumlied vom Olaf Ästeson». Rudolf Steiner hat es ins Deutsche übertragenund mehrfach darüber gesprochen, vor allem in der Weihnachts- und Neujahrs-zeit der Jahre 1912 bis 1915. Die betreffenden Vorträge sind abgedruckt in demBand «Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt», GA158. Dort ist auch der Text des Traumliedes auf den Seiten 155-164 wieder-gegeben.

68 das Buch eines Philosophen: Ernst Mach (1838-1916), «Beiträge zur Analyse derEmpfindungen», erstmals erschienen Jena 1886, viele Auflagen. - Das Zitat istnicht wörtlich.

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70 mit der anderen Theosophischen Gesellschaft: Siehe Hinweis zu S. 46.

73 im Wiener Zyklus 1914: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Todund neuer Geburt», 8 Vorträge, Wien, April 1914, GA 153.

74 ein liebes Mitglied unserer Gesellschaft: Sibyl Colazza, gestorben im Januar 1915.Die Trauerfeier in Zürich fand am 31. Januar 1915 statt. Siehe «Unsere Toten.Ansprachen, Gedenkworte und Meditationssprüche 1912 bis 1924», GA 261, S.116 - 121.

76 der kleine Theo Faiß: A. a. O., S. 101 ff..

79 Sophie Stinde, 1853 — 1915. Sie wirkte seit 1902 im Vorstand des MünchnerZweiges, dann im Vorstand der Deutschen Sektion der TheosophischenGesellschaft. Sie half auch tatkräftig bei der Aufführung der MysteriendramenRudolf Steiner in München und bei der Verwirklichung des Baugedankens.

in den nächsten Tagen in München: Die Gedenkworte wurden am 30. Novemberin München gesprochen, siehe «Unsere Toten», GA 261, S. 162 — 172.

80 eines der öffentlichen Vorträge: Gemeint ist wohl der Vortrag vom 26. November1914, abgedruckt im Band «Aus schicksaltragender Zeit», GA 64.

101 Goethe hat den Ausdruck gebraucht: Im «Faust» II, 2. Akt, Laboratorium, sagtHomuncuhis zu Mephistopheles: «Du aus Norden, / Im Nebelalter junggeworden.».

109 in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» und «Theosophie»: Die betreffendenAusführungen finden sich im Kapitel «Schlaf und Tod» der «Geheimwissen-schaft» (GA 13), und im Kapitel «Die Seele in der Seelenwelt nach dem Tode» der«Theosophie» (GA 9).

129 Ich habe ... darauf hingedeutet: Im vierten und besonders im fünften Vortragdieses Bandes.

130 in dem zweiten Mysteriendrama: «Die Prüfung der Seele», erstes Bild; sieheHinweis zu S. 62.

132 Moriz Benedict, 1835 - 1920, Professor in Wien. Begründete mit Lombroso dieKriminalanthropologie. «Anatomische Studien an Verbrechergehirnen», 1878.

136 Der Abschnitt von «Der eine oder andere ...» bis «... in eine andere kommen.»wurde bei der ersten Auflage 1945 ausgelassen und erst 1974 eingefügt.

138 Mrs, Besant: Siehe Hinweis zu S. 17.

139 in diesem Zweige: Vgl. den zweiten und dritten Vortrag dieses Bandes.

in einzelnen Zyklen: Vgl. u. a. «Die Mission der einzelnen Volksseelen ...», GA121, sowie «Menschenschicksale und Völkerschicksale», GA 157.

141 Herder ... hat ... darauf hingewiesen: Johann Gottlieb Herder, 1744 - 1803.Besonders in dem Kapitel «Slavische Völker» im sechzehnten Band seiner «Ideenzur Philosophie der Geschichte der Menschheit».

142 im öffentlichen Vortrag: Der am 13. März 1916 in Stuttgart gehaltene Vortrag«Ein vergessenes Streben nach Geisteswissenschaft innerhalb der deutschenGedankenentwickelung» ist nicht erhalten. Der in Berlin gehaltene Parallelvor-trag ist jedoch abgedruckt in dem Bande «Aus dem mitteleuropäischenGeistesleben», GA 65.

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143 Königin Elisabeth von England: Sie herrschte 1558 - 1603. Unter ihrer Regierungwurde die mächtige Flotte Spaniens von den Engländern besiegt und der Grundgelegt zur Vorherrschaft von Großbritannien in Westeuropa.

144 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770 - 1831.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775 - 1854.

Johann Gottlieb Fichte, 1762 - 1814.

145 hier in Stuttgart gesagt: In dem öffentlichen Vortrag vom 25. November 1915,abgedruckt in der Zeitschrift «Anthroposophie» 1931/32, Heft 1-2 , unter demTitel «Das Weltbild des deutschen Idealismus. Eine Betrachtung im Hinblick aufunsere schicksaltragende Zeit». Vgl. auch den Parallelvortrag in dem Band «Ausschicksaltragender Zeit»; GA 64.

Seit mehr als dreißig Jahren bemühe ich mich: Rudolf Steiner gab in Kürschners«Deutsche National-Litteratur» Goethes «Naturwissenschaftliche Schriften»heraus und versah sie mit Einleitungen und Anmerkungen (1884 - 1897). DieEinleitungen erschienen als selbständige Ausgabe unter dem Titel «Einleitungenzu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung derGeisteswissenschaft (Anthroposophie)», GA 1. Vergleiche auch das Buch«Goethes Weltanschauung» (1897), GA 6.

149 jene Abschaltung: Vgl. Hinweis zu S. 46.

150 Helena Petrowna Blavatsky, 1831-1891. Gründete zusammen mit H. S. Oleottdie Theosophische Gesellschaft. Vgl. dazu Rudolf Steiner: «Die okkulteBewegung im 19. Jahrhundert», GA 254.

152 Annie Besants erste Versammlung in Hamburg: Annie Besant kam im Herbst1904 auf Einladung Rudolf Steiners nach Deutschland und hielt in Hamburg undin einer Reihe anderer deutscher Städte Vorträge. Siehe den Aüfsatzband«Lucifer - Gnosis», GA 34, 1960, S. 553 ff.

153 an anderen Orten auseinandergesetzt: Vgl. Hinweis zu S. 150.

154 Man soll nicht glauben, daß ich mich in die Arzneikunde hineinmische: Im Vor-trag vom 18. März 1916 sagt Rudolf Steiner: «... es muß von meiner Personfreigehalten werden alles dasjenige, was mit ärztlichen Ratschlägen zusammen-hängt ...» in «Mitteleuropa zwischen Ost und West», GA 174 a, 1971, S. 125.

Besant, Theosophie und Imperialismus: «Theosophy and Imperialism», lecture,London 1902.

155 eine okkultistische Persönlichkeit: «Madame de Thebes», Pseudonym einer an-geblichen Anne Victorine de Savigny, die alljährlich in Paris einen okkultenAlmanach veröffentlichte. Vgl. den folgenden Hinweis.

155/156 Jahrbuch: «Almanach de Mme de Thebes. Conseils pour etre heureux», Paris1912. Vgl. dazu auch den Vortrag vom 24. März 1916 in «Aus dem mitteleuropäi-schen Geistesleben», GA 65, S. 584.

156 Pariser Blatt: «Paris - Midi», vgl. GA 65 a. a. O. sowie den folgenden Hinweis.

Jean Jaures, 1859 - 1914, Führer der französischen Sozialisten. Gegner desEintritts Frankreichs in den Krieg 1914. Wurde in den ersten Kriegstagenermordet. «Paris - Midi» (Maurice de Wallef) und eine ganze Anzahl andererPariser Blätter hatten entsprechende «Voranzeigen» und Drohungen gebracht

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(vergl. Jaures1 Rede in der Kammer vom 4. Juli 1913: «... dans vos journaux, dansvos articles, chez ceux qui vous soutiennent, il y a contre nous, vous m'entendez,un perpetuel appel ä l'assasinat! ... et M. Paul Adam ajoutait pour vous que tousces hommes tomberaient frappes au premier jour de la declaration de guerre»).(«... aus euren Zeitungen, aus euren Artikeln, bei euren Helfershelfern tönt - ihrversteht mich - fortgesetzt die Aufforderung zu einem Attentat gegen uns ...und M. Paul Adam fügte in eurem Sinne hinzu, daß alle diese Männer [dienämlich wie Jaures als Gegner der dreijährigen Dienstzeit nach Ansicht derdamaligen rechtsstehenden französischen Presse «mit dem Feind paktierten»] amTag der Kriegserklärung zu allererst niedergeschlagen würden». VergL La voixd'outre-tombe. Discours de Jean Jaures. Recueillis et commentes par VictorSchiff, Berlin 1919, S. 18: Discours ä h Chambre le 4 juillet 1913). - Jauresstrebte für eine Art Milizsystem die zweijährige Dienstzeit an.

(Die Hinweise zu S. 155/156 gehen auf C. S. Picht zurück, in seiner Herausgabedes Vortrages vom 24. März 1916 in der Zeitschrift «Anthroposophie» 16. Jahrg.1933/34, Buch 2.)

157 Catherine A. Tingley: Gründete 1897 eine Abspaltung der TheosophischenGesellschaft, genannt «Universal Brotherhood», in Point Loma, Kalifornien.

Mabel Collins: «Licht auf den Weg. Eine Schrift zum Frommen derer, welche,unbekannt mit des Morgenlandes Weisheit, unter deren Einfluß zu tretenbegehren.» Übersetzung aus dem Englischen, 2. Aufl. Leipzig 1888. Vgl dazuRudolf Steiners «Exegese» in «Anweisungen für eine esoterische Schulung», GA245.

160 bei meiner vorigen Anwesenheit: Siehe den 4. bis 6. Vortrag dieses Bandes.

im öffentlichen Vortrag: Siehe Hinweis zu S. 142.

171 Meister Bertram, ca. 1345 - 1415. Tafel vom Grabower Altar von 1379, Kunst-halle Hamburg. Vgl. auch «Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste»,GA 167, 1982, S. 45.

173 vor kurzem in Leipzig: 21. Februar 1916: «Ein vergessenes Streben nach Geistes-wissenschaft innerhalb der deutschen Gedankenentwickelung», bisher unge-druckt. Vgl. den Parallelvortrag in Berlin am 25. Februar 1916, in «Aus demmitteleuropäischen Geistesleben», GA 65.

Hertha von Suttner, 1843 - 1914. Pazifistische Schriftstellerin, Verfasserin von«Die Waffen nieder», leitete ein «Internationales Friedensbureau», erhielt 1905den Friedensnobelpreis.

jenes Wesen, das in Petersburg als Cäsar und Papst gilt: Zar Nikolaus II. hatte1908 eine allgemeine Friedenskonferenz in den Haag vorgeschlagen, an der dieBeschränkung der Rüstungen und die Erhaltung des Status quo besprochenwurde.

vor vielen Jahren gesagt: In dem Vortrag «Unsere Weltlage. Krieg, Frieden unddie Wissenschaft des Geistes», vom 12. Oktober 1905, abgedruckt in «DieWelträtsel und die Anthroposophie», GA 54.

174 vorgestern über Karl Christian Planck: Stuttgart, 12. März 1916: «Ein vergessenesStreben nach Geisteswissenschaft in der deutschen Gedankenentwickelung.»Karl Christian Planck (1819 - 1880), von Rudolf Steiner besonders im Jahre 1916häufig erwähnt. Vgl. «Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben», GA 65.

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177 Ernst Haeckel, 1834 - 1919.

Karl Ernst von Baer, 1792 - 1876. Das Zitat auf S. 178 stammt aus «Reden undkleinere Aufsätze vermischten Inhalts», St. Petersburg 1864 - 76,1. Band., S. 71ff.

Tertullian, 160 - 220, Kirchenschriftsteller.

Gregor von Nazianz, 329 - 390, Kirchenvater.

Hermann von Helmboltz, 1821 - 1894.

179 mein Buch «Gedanken während der Zeit des Krieges» (1915): Abgedruckt in«Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage1915 - 1921», GA 24.

181 Julien Offray de Lamettrie, 1709 - 1751. Das Zitat ist aus «L'homme machine»,deutsch «Der Mensch, eine Maschine».

183 Es ist meine Absicht: Dem Vortrag waren vorausgegangen Gedenkworte an dieverstorbenen Mitglieder Barth, Rettich und Dieterle. Sie sind abgedruckt in«Unsere Toten», GA 261, 1963, S. 209 ff.

184 Vortrag über «Bibel und Weisheit»: Wie aus Rudolf Steiners Brief vom 20.November 1905 an Marie von Sivers ersichtlich, handelt es sich um den Vortragin Colmar am 19. November 1905. Vgl. «Briefwechsel Rudolf Steiner / MarieSteiner», GA 262.

190 Satz in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»: (GA 10). Im Ab-schnitt «Bedingungen». Vgl. auch Vorrede zur 5. Auflage 1914 und Nachwortzum 8 . -11 . Tausend.

192 Karl V., 1500 - 1558.

Franz /., 1494 - 1547.

Leo Kö'nigsb ergery 1837 - 1921.

193 Woodrow Wilson: Siehe Hinweise zu S. 221.

195 er wollte eine Dissertation schreiben: Es handelt sich wahrscheinlich um dieDissertation von F. Stepun «Wladimir Solowjew», Heidelberg 1910. In deutscherSprache war 1907 erschienen «Die religiösen Grundlagen des Lebens», übersetztvon Nina Hoffmann. Später kam dazu «Judentum und Christentum» (1911) und«Nationale Ethik» (1912), beide übersetzt von Ernst Keuchel. In den Jahren 1914und 1916 erschienen dann die ersten beiden Bände der «Ausgewählten Werke»,übersetzt von Harry Köhler (Pseudonym von Harriet von Vacano). DieseAusgabe wurde 1921/22 um zwei weitere Bände erweitert; zum 3. Band schriebRudolf Steiner eine Einführung. Wladimir Solowjow lebte 1853 - 1900.

197 Da meine Zeit... abgelaufen ist: Siehe Hinweis zu S. 183.

Frau Dr. Steiner: Marie Steiner-von Sivers, 1867 - 1948.

198 Erich Bamler: Vgl. die Vorträge vom 29. Mai 1917 in GA 176, und 10. Juni 1917,vorgesehen für GA 255.

199 Ein Mann, dem es ... nicht an Eitelkeit fehlt: Max Seiling, 1852 - 1928.

Er schrieb eine Schrift: «Theosophie und Christentum», Berlin 1910.

Dann ließ der Betreffende eine andere Schrift drucken: «Wer war Christus?»,München 1917.

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199 die Sache, die da erwähnt wird, hat nicht stattgefunden: Der erwähnte Zei-tungsartikel von Seiling liegt nicht vor.

200 Herr, der früher in Amerika war: Max Heindel, der sich auch Graßhoff nannte.Über den Plagiator Heindel, der aus Werken und Vortragszyklen Rudolf SteinersBücher zusammenschrieb, die er unter seinem Namen veröffentlichte, und der inKalifornien eine okkulte Gesellschaft begründete, vgl. Rudolf Steiner in«Mitteilungen für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (Theoso-phischen Gesellschaft)», Nr. 1, 1. Teil, Köln März 1913, S. 23.

201 Das Buch: «The Rosicrucian Cosmo-Conception, or Christian Occult Science.Issued by The Rosicrucian Fellowship», 1. Aufl. Chicago 1909. DeutscheÜbersetzung «Die Weltanschauung der Rosenkreuzer, oder mystisches Chri-stentum», Leipzig o. J.

Dr. Hugo Vollrath: Damals Inhaber des «Theosophischen Verlagshauses» inLeipzig.

205 Arthur Schopenhauer, 1788 - 1860. «Die beiden Grundprobleme der Ethik.» I.«Über die Freiheit des menschlichen Willens», Frankfurt 1841. «Alles, wasgeschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht notwendig», S. 93.

211 Ernest Renan, 1823 - 1892: «Das Leben Jesu», zuerst erschienen 1863. DeutscheÜbers. Leipzig o. J. (Reclam).

Nehmen wir einen Ausspruch, den Renan ... getan hat: In «Erinnerungen ausmeiner Kindheit und Jugendzeit», Basel 1883, im Brief an Abbe Cognat vom 6.Sept. 1845, S. 311. Das Zitat ist nicht wörtlich.

212 Philosoph, den ich ... gekannt habe: Richard Wähle, 1857 - 1935. «Die Tragiko-mödie der Weisheit», Wien und Leipzig 1915. Das Zitat lautet wörtlich: «Wirhaben nicht mehr Philosophie als ein Tier, und nur die rasenden Versuche, zueiner Philosophie zu kommen, und die endliche Ergebung in Nichtwissenunterscheiden uns von dem Tier», S. 132.

er sagte am Schluß seines Lehens: Ernest Renan, «Jugenderinnerungen», Frankfurt/Main 1925, S. 318. Nicht wörtliches Zitat.

213 Maurice Barres, 1862 - 1923. Die Zitate sind entnommen einem Artikel in der«Internationalen Rundschau», 1. Jahrg. 3. Heft, Zürich, 20. Juli 1915: «Abschiedvom Führer der Jugend: Maurice Barres.» Eine Plauderei von Andre Germain.

221 Woodrow Wilson, 1856 - 1924, Präsident der Vereinigten Staaten von 1913 bis1921. Wilsons Reden: «Die neue Freiheit», München 1914, Wilsons Noten: in«Der Krieg. Der Friede», Zürich 1918.

226 angedeutet im Mysterienspiel: Im dritten Myteriendrama «Der Hüter derSchwelle», 1. Bild (Worte des Hilarius), in «Vier Mysteriendramen» (1910 - 13),GA14.

Da sagte Plato: In dem Dialog «Phaidros», Kapitel 25 - 29.

Rudolf Kjeilen, 1864 - 1922: «Der Staat als Lebensform», Leipzig 1916.

228 Numa Denis, Fustel de Coulanges, 1830 - 1889. «La Cite antique.»

230 Alexander von Bernus, 1880 - 1965. Herausgeber der Zeitschrift «Das Reich»,München 1916 - 1920.

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231 jemand, der sich vorgenommen hat, über alle Dinge bei uns die Unwahrheit zusagen: Auf wen sich dies bezieht, war nicht festzustellen.

233 gestriger öffentlicher Vortrag: «Menschenseele und Menschenleib in Natur- undGeist-Erkenntnis», 14. Mai 1917, bisher ungedruckt.

235 biblischer Ausspruch: Weisheit der Welt, nach Maß und Zahl geordnet: Moses I15/5,1 22/17. Siehe Rudolf Steiner «Die tieferen Geheimnisse des Menschheits-werdens im Lichte der Evangelien», GA 117, 1966, Seite 43: «In demalthebräischen Volke mußte ... geordnet sein.»

236 in der Bibel wird vom Patriarchenalter gesprochen: Psalm 90, Vers 10.

242 so würde man andere Übersetzungen liefern: In anderen Vorträgen erwähntRudolf Steiner in diesem Zusammenhang den zu seiner Zeit sehr berühmtenAltphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848 - 1931); so z.B. indem Band «Perspektiven der Menschheitsentwickelung», GA 204, S. 144, wo esheißt: «der Urphilister der modernen Zivilisation ..., Wüamowitz, ... der diegriechischen Tragiker in ein modernes triviales Gewand gekleidet hat, das dannunendlich bewundert worden ist von all denjenigen, die ebenso tief eingedrungensind in das griechische Wort, wie sie fernestehen dem griechischen Geiste».

243 «Lieber ein Bettler in der Oberwelt...»: Odyssee, 11. Gesang, Vers 488 ff.

der große griechische Philosoph Aristoteles: Von den Äußerungen des Aristotelesüber das Erleben der Seele nach dem Tode, die in verschiedenen Werken zerstreutsind, gibt es eine zusammenfassende Darstellung durch Franz Brentano in seinemWerk «Aristoteles und seine Weltanschauung» in dem Kapitel «Das Diesseits alsVorbereitung auf ein allbeseligendes und jedem gerecht vergeltendes Jenseits».

244 Franz Brentano, 1838 - 1917. «Die Psychologie des Aristoteles», Mainz 1867. Eshandelt sich um eine freie Wiedergabe der Ausführungen Brentanos auf S. 196.

245 von dem Plato sagte: Im 13. Kapitel des Dialogs «Phaidon». Die Stelle lautet:«Und so mögen auch diejenigen, welche uns die Weihen angeordnet haben, garnicht schlechte Leute sein, sondern schon seit langer Zeit uns andeuten, wenneiner ungeweiht und ungeheiligt in der Unterwelt anlangt, daß er in den Schlammzu liegen kommt, der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt ist,bei den Göttern wohnt.»

246 solch ein Nachfolger des Augustus: Gaius Julius Caligula (12 - 41 n. Chr.),römischer Kaiser 37 - 41 n. Chr. Siehe z.B.: Sueton, «Lebensbeschreibungen derKaiser», ins Deutsche übertragen von Adolph Stahr, Stuttgart 1864 (Neuausgabe1926 - 28) in dem Kapitel «Cajus Caesar Caligula».

248 Parusie: Wiederkunft Christi.

Helena Petrowna Blavatsky, 1831 - 1891. In «Geheimlehre» Bd. III, Kap. 39«Zyklen und Avatare».

254 Konzil von Konstantinopel: Seit diesem Konzil wurde die sog. Trichotomie,wonach der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, in der Kirche als Ketzereiverworfen.

Wilhelm Wundt, 1832 - 1920, Arzt, Philosoph, Psychologe, gründete in Leipzigdas erste Institut für experimentelle Psychologie; schrieb u. a. «Grundzüge derphysiologischen Psychologie» und «Völkerpsychologie».

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256 wenn jetzt Schmähschriften: Siehe Hinweise zu S. 198 und 199.

257 alle Fäden durchschnitten: Im Jahre 1911 fanden die entscheidenden Auseinan-dersetzungen zwischen der Leitung der Theosophischen Gesellschaft in Adyarund der Deutschen Sektion unter Rudolf Steiner statt, und zwar im Zusammenhangmit der Gründung des sog. «Ordens des Sterns des Ostens» durch Annie Besant.Die formelle Trennung erfolgte erst Ende 1912.

Edouard Schure} 1841 - 1929. Schure, seit 1906 mit Rudolf Steiner und Marie vonSivers verbunden, hatte während des ersten Weltkrieges einen gehässigen Artikelgegen Steiner in Frankreich veröffentlicht. Nach Kriegsende bedauerte er seinevon chauvinistischer Leidenschaft diktierte Handkingsweise und bat mündlichund brieflich um Verzeihung. Schure nahm im Herbst 1922 am sog. «Französi-schen Kurs» Rudolf Steiners («Kosmologie, Religion und Philosophie», GA 25)teil

258 «Die Weisheit liegt nur in der Wahrheit»: Stehe Hinweis zu S. 27.

262 Friedrich Theodor Vischer, 1807 - 1887: «Der Traum. Eine Studie zu der Schrift<Die Traumphantasio von Dr. Johannes Volkelt» in «Altes und Neues», Stuttgart1881.

273 Schillers Antrittsvorlesung: Am 25. Mai 1789 für das Lehramt für Geschichte ander Universität Jena: «Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universal-geschichte?»

278 Gustave Herve, 1871 - 1944. Journalist und Schriftsteller.

George Clemenceau, 1841 - 1929, französischer Ministerpräsident mit demBeinamen «der Tiger».

281 ehemaliger Finanzminister: Im Jahre 1918 war Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft der preußische Staats- und Finanzminister a. D., Oberpräsident derRheinprovinz, Georg Kreuzwendedkh Freiherr von Rheinbaben.

284 Vorträge in Kristiania: «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhangmit der germanisch-nordischen Mythologie» (1910), GA 121.

Vortragszyklus in Wien: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Todund neuer Geburt», GA 153.

285 im Verlauf unserer Auseinandersetzungen: Vgl. u. a. «Die spirituellen Hinter-gründe der äußeren Welt. - Der Sturz der Geister der Finsternis», GA 177.

301 das Buch von Theodor Ziehen: «Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15Vorlesungen», 5. Aufl. Jena 1900, S. 161 und 205 (Zitate nicht wörtlich).

302 Wladimir Iljitsch Lenin, 1870 - 1924.

Leo Davidowitsch Trotzkij, 1879 - 1940.

303 dänisches Buch: Es handelt sich wohl um E. Rasmussen: «Jesus, eine vergleichen-de psychopathologische Studie», Leipzig 1905.

304 Alexander Moszkowski: Berliner Journalist, Herausgeber der «Lustigen Blätter».

307 über Wilson in einem Zyklus lange vor diesen Ereignissen: In «Die okkultenGrundlagen der Bhagavad Gita», 5. Vortrag, GA 146.

315 Origines, 182-253.

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317 so wahr ein Gott im Himmel ist, bin ich ein Atheist: Das Zitat stammt aus LudwigAnzengruber (1839 - 1889), «Ein Faustschlag», Schauspiel in drei Akten, 3. Akt,6. Szene, Kammauf: «... Bleiben Sie mir mit allen veralteten Traditionen vomLeibe, das greift bei mir nicht an, denn - so wahr ein Gott lebt! - ich binAtheist!».

318 «Nach uns die Sintflut»: «Apres nous le deluge», ein Ausspruch, der demfranzösischen König Ludwig XV. (1710 - 74) zugeschrieben wird.

319 Oscar Hertwig, 1849 - 1922. «Das Werden der Organismen», Jena 1916.

Eduard von Hartmann, 1842 - 1906. Philosophie des Unbewußten. Versucheiner Weltanschauung.» Berlin 1869.

Es erschien eines Tages ein Buch: «Das Unbewußte vom Standpunkt der Physio-logie und Deszendenztheorie. Eine kristische Beleuchtung des naturphilosophi-schen Teils der <Phiiosophie des Unbewußtem», Berlin 1872, 2. Aufl. unter demNamen Hartmann und mit «Allgemeinen Vorbemerkungen» und Zusätzenversehen, 1877.

Oskar Schmidt, 1823 - 1886, Zoologe, «Die naturwissenschaftlichen Grundlagender Philosophie des Unbewußten», Leipzig 1877. Über die Schrift des Anonymus(Eduard v. Hartmann): «Sie haben alle, welche nicht auf das Unbewußteeingeschworen sind, in ihrer Überzeugung vollkommen bestätigt, daß derDarwinismus im Rechte sei», S. 3.

320 «Zur Abwehr des ... Darwinismus»: Oscar Hertwig: «Zur Abwehr des sozialen,des ethischen und des politischen Darwinismus», Jena 1918.

326 Fritz Mauthner, 1849 - 1923. Autor von «Wörterbuch der Philosophie». DerArtikel «Goethes Horoskop» erschien im «Berliner Tageblatt» 47. Jahrg. 1918,Nr. 161 (Abendausgabe des 28. März).

Büchelchen der Sammlung «Aus Natur und Geisteswelt»: «Sternglaube undSterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie.» Unter Mitwir-kung von Prof. Carl Bezold dargestellt von Prof. Dr. Franz Boll, Leipzig undBerlin 1918. (Aus Natur und Geisteswelt Bd. 638.)

332 gestern im öffentlichen Vortrag: «Die Rätsel des geschichtlichen Lebens derMenschheit nach Ergebnissen der Geisteswissenschaft», 25. April 1918. Abge-druckt in «Die Menschenschule», 1961, 35. Jahrg., Heft 10. Über das gleicheThema spricht Rudolf Steiner auch in dem Vortrag vom 14. März 1918 in Berlin,erschienen in dem Band «Das Ewige in der Menschenseele», GA 67.

343 Vinzenz Knauer, 1828 - 1894, Professor der Philosophie in Wien, mit demRudolf Steiner im Haus delle Grazie in Wien zusammenzukommen pflegte. Vgl.Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», 7. Kapitel. Die erwähnte Stelle findet sich in:«Hauptprobleme der Philosophie», Wien und Leipzig 1892,21. Vorlesung, L DieErkenntnisquellen, S. 136 ff.

346 Jean Baptiste Lamarck, 1744 - 1829, französischer Naturforscher.

347 Goethe über Wolkenbildungen: «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», Bd.II, Meteorologie; siehe Hinweis zu S. 27.

349 Karl Christian Planck, 1819 - 1880. Vgl. Rudolf Steiner «Die Rätsel derPhilosophie», GA 18, und «Vom Menschenrätsel», GA 20.

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352 Alfred Loisy, 1857 - 1940, Religionshistoriker. Wegen bibelkritischer Werke ex-kommuniziert.

Schopenhauer nannte sie: Vgl. «Die beiden Grundprobleme der Ethik», Vorredezur 1. Auflage, und Friedrich Nietzsche, «Menschliches - Aüzumenschliches», 8.Hauptstück 482.

354 Vorangehende historische Seminarstunde: Vom 12. bis 23. März 1921 fand inStuttgart im Rahmen der «Freien anthroposophischen Hochschulkurse» einSeminar «Weltgeschichte im Sinne der Anthroposophie» statt unter der Leitungvon Dr. W. J. Stein, Dr. Karl Heyer und Dr. Eugen Kolisko.

Kulturpolitische Angriffe: Konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

355 Nikita: Nikola oder Nikita, Fürst und König von Montenegro, 1860 - 1918.

Karl Helfferich, 1872 - 1924, deutscher Staatssekretär und deutschnationalerParteiführer, Gegner von Erzberger.

356 Matthias Erzherger, 1875 - 1921, deutscher Zentrumsführer, Gegner vonHelfferich. Wurde von Vorläufern des Nationalsozialismus ermordet.

Walter Simons, 1861 - 1937, 1920 - 1921 Reichsaußenminister, danach Präsidentdes Reichsgerichts in Leipzig.

David Lloyd George, 1863 - 1945. Von 1902 - 1922 dominierende Persönlichkeitder britischen Politik.

359 Berliner Vertrag: Ergebnis des Berliner Kongresses 1878 über den Balkan.Österreich wurde mit der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina (bisdahin türkisch) beauftragt.

360 Wilson in seinen verschiedenen Reden: Vgl. Hinweis zu S. 221.

diese Linie: Die Zeichnung, auf die sich diese Ausführung bezieht, ist nichterhalten.

361 Aufruf: «An das deutsche Volk und die Kulturwelt», abgedruckt in «DieKernpunkte der sozialen Frage» (1919), GA 23.

365 Victor Adler, 1852 - 1918, damals der unbestrittene Führer der Sozialisten inÖsterreich. Vgl. Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», 8. Kapitel.

Zwischenminister Gautsch: Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn, 1851 - 1918,1897 - 98 österreichischer Ministerpräsident.

Otto Hausner, 1827 - 1890. Vgl. «Mein Lebensgang», 4. Kapitel, sowie«Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge», Bd. 2, GA 236.

366 Leopold Anton Graf Berchtold, 1863 - 1942, österreichischer Diplomat, Außen-minister von 1912 - 1915.

367 Helmuth von Moltke, 1S77 - 1916, der jüngere, Neffe des «älteren» Generalfeld-marschalls gleichen Namens (1800 - 1891).

368 eine hier anwesende Persönlichkeit: Es kann sich nur um die Gräfin Eliza Moltke-Huitfeld handeln.

dämonische Frauen in Petersburg: Zwei Töchter, Anastasia und Militza, desmontenegrinischen Königs Nikita waren am Zarenhof verheiratet.

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368 Raymond Poincare, 1860 - 1934, einer der maßgebendsten französischen Politi-ker vor, während und nach dem 1. Weltkrieg. Besuchte Rußland 21. — 23. Juli1914.

französischer Botschafter: Maurice Paleologue, 1859 - 1944, Botschafter inPetersburg 1913 - 1917. Schrieb «Am Zarenhof während des Weltkriegs», 3 Bde.,deutsch 1925.

371 Aufzeichnungen von Moltke: H. v. Moltke, «Erinnerungen, Briefe, Dokumente1877 - 1916», Stuttgart 1922. Die geplante Veröffentlichung im Jahre 1916unterblieb aus den von R. Steiner angegebenen Gründen; die bereits gedruckteBroschüre wurde zurückgezogen. Rudolf Steiners Vorwort ist abgedruckt in«Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage1915 bis 1921», GA 24.

372 Alfred von Tirpitz, 1849 - 1930. Deutscher Großadmiral und Staatssekretär derMarine, Schöpfer der deutschen Sehlachtflotte vor dem 1. Weltkrieg. Schrieb«Erinnerungen», Leipzig 1919.

Theobald von Bethmann-Hollweg, 1856 - 1921. Deutscher Reichskanzler 1909 -1917. Tirpitz über Bethmann: Vgl. dessen «Erinnerungen», 16. Kap. «DerAusbruch des Krieges».

374 Asquith und Grey: Englische Minister (Asquith Ministerpräsident 1908 - 1916,Grey Außenminister 1905 - 1916).

Gedanken während der Zeit des Krieges: Vgl. Hinweis zu S. 179.

375 Satz, den Moltke geschreiben hat: Siehe Hinweis zu S. 371. Moltke a. a. O., S. 14.

377 J'accuse-Bücher: «J'accuse, von einem Deutschen», 2. Auflage Lausanne 1915.Unter diesem Titel Keß ein Anonymus, hinter dem sich ein gewisser Grellingverbarg, während des 1. Weltkriegs deutschfeindliche Pamphlete erscheinen.

FriedenswillenserklärHng: im Dezember 1916 seitens der deutschen Regierung.

Richard von Kühlmann, 1873 - 1948. Deutscher Diplomat, 1917-18 Staatssek-retär des Auswärtigen Amts.

378 Erich Ludendorff, 1865 - 1937. Deutscher Heerführer im 1. Weltkrieg.

Die Stimmung wurde immer erregter: Siehe Moltke a. a. O., S. 20 und 23.

379 Warren Gamaliel Harding, 1865 - 1923, 1920 als Nachfolger Wilsons Präsidentder Vereinigten Staaten.

Walter Simons: Vgl. Hinweis zu S. 356. Simons war Leiter der deutschenFriedensdelegation in Versailles 1919.

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NAMENREGISTER

(* = ohne Namensnennung)

Adler, Viktor 365Äschylos 242Alcyone (Krishnamurti) 158Ahashver 47Aristoteles 243,244,250Asquith, Herbert 374Augustus (römischer Kaiser) 245, 246

Baer, Karl Ernst von 177, 178Baidur 39,40Ball, Professor in Heidelberg 328Bamler, Erich 198, 205Barres, Maurice 213Benedikt, Moriz 132Berchtold, Leopold Anton Graf 366Bernus, Alexander von 230, 231Bergson, Henry 14Besant, Annie 17, 138, 152, 154, 155,

157, 158, 257Bethmann-Hollweg, Theobald von 370,

372Blavatsky, Helena Petrowna 150-153,

155,248Boutroux, Emil 14Brentano, Franz 244

Caligula (römischer Kaiser) 246, 247Clemenceau, George 278Colazza, Sibyl 74*Collins, Mabel 157Commodus (römischer Kaiser) 247,249

Darwin, Charles 177,178, 319, 344Deutscher Kaiser (Wilhelm II.) 367,370,

371, 372, 378Dostojewskij, Fjodor 48Dürer, Albrecht 93

Elisabeth von England (Königin) 143Erasmus von Rotterdam 181Erzberger, Matthias 356Faiß, Theo 76Fichte, Johann Gottlieb 45,48, 144, 145Franz Ferdinand (österreichischer

Thronfolger) 364Franz I. (französischer König) 192Freud, Sigmund 248Fustel de Coulanges, Numa Denis 228

Gautsch und Frankenthurn, Paul Frei-herr von 365

Goethe, Johann Wolfgang von 20, 48,101, 144, 145, 175, 176, 280, 281, 294,326, 347

Gregor von Nazianz 177Grey, Edward 374Grimm, Herman 20, 21

Habsburger 156Haeckel, Ernst 177, 178, 319Hamerling, Robert 47, 48Harding, Warren Gamaliel 379Hartmann, Eduard von 319, 320Hausner, Otto 365Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48,51,

144,145Heindel,Max 200*Helfferich, Karl 355Helmholtz, Hermann von 177, 325Herder, Johann Gottlieb 141, 144, 280Hertwig, Oscar 319-322, 330Herve, Gustave 278Hoffmann, Lina 195Homer 242

Jagow, Gottlieb von 26*, 27*Jaures, Jean 156Johannes der Täufer 248Jungfrau von Orleans (Jeanne d'Arc) 65-

67

Kain 47Kant, Imanuel 298Karl V. (deutscher Kaiser) 192Kepler, Johannes 322Kjellen, Rudolf 226-229Knauer, Vinzenz 343Königsberger, Leo 192-194Konfuzius 40Konstantin (römischer Kaiser) 65Koot-Hoomi 151Kopernikus, Nikolaus 322Krishnamurti 46Kreuzwendedich Freiherr von

Rheinbaben, Georg 2 81 *Kühlmann, Richard von 377, 378

Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 174b Seite:398

Lamarck, Jean Baptiste 346Lamettrie, Julien Offray de 18tLaplace, Pierre Simon 298Leadbeater, Charles 157Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 302Liebknecht, Karl 27Lloyd George, David 356, 363, 379Loisy, Alfred 352Ludendorff, Erich 378

Mach, Ernst 68Madame de Thebes (Savigny, Anne

Victorine de) 155*Maeterlinck, Maurice 15Marx, Karl 359Mauthner, Fritz 326-329Maxentius (römischer Kaiser) 65Meister Bertram 171Meister Eckhart 46Moltke, Helmuth von 367-375*, 378*Moltke-Huitfeld, Eliza von 368*, 371Moszkowski, Alexander 304

Nero (römischer Kaiser) 47,247-249Newton, Isaac 145, 322Nikita (König von Montenegro) 355,

368, 369- Anastasia, Tochter Nikitas 369- Militza, Tochter Nikitas 369Nikolaus II. (Zar) 173*Novalis 15

Origines 315

Paleologue, Maurice 368*Planck, Karl Christian 174, 349Plato 244Poincare, Raymond 368, 369*Preuß, Wilhelm Heinrich 14

Raffael 93Rasmüssen, Emil 303*Renan, Ernest 44,211

Savigny, Anne Victorine de (Madame deThebes) 155*

Scheüing, Friedrich Wilhelm Joseph 48,144,145

Schiller, Friedrich 45, 273, 280Schmidt, Oskar 319Schopenhauer, Arthur 205, 352Schure, Edouard 257Seiling, Max 199*, 200Silesius, Angelus 46Simons, Walter 356, 379Sokrates 304,305Solowjow, Wladimir 195Sophokles 242Steiner-von Sivers, Marie 197Stinde, Sophie 79Strauß, David Friedrich 44Suttner, Bertha von 173

Taaffe, Eduard 364Tauler, Johannes 46Tertullian 177Tingley, Catherine A. 157Tirpitz, Alfred von 372Trotzkij, Leo Davidowitsch (Bron-

stein) 302

Vinci, Leonardo da 93Vischer, Friedrich Theodor 262Vollrath, Hugo 201

Wähle, Richard 212*Wilson, Woodrow 193, 221, 307, 360,

379Wundt, Wilhelm 254

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ÜBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN

Aus Rudolf Steiners Autobiographie«Mein Lebensgang» (35. Kap., 1925)

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnissevor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens einegroße Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und ver-käuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später Anthroposophi-schen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die beiden Vorträgen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die -wegen mangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mirwäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort münd-lich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten denPrivatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt,die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung«Nur für Mitglieder» nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit niem-als einem Jahre ja fallen gelassen.

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wiesich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke indas einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen derAnthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgenwill, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun.In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkennt-nisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in«geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der An-throposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art -wurde.

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und da-bei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus derGeist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat,trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus derMitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sichoffenbarte.

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Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien undden Schrift-Inhalt der Bibel überhaupt in dem Lichte dargestellt zu hö-ren, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte inKursen über diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen hören.

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehaltenwurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vorträgen waren nurMitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposo-phie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorge-schrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieserinternen Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht seinkonnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, dieich für die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang anbestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen.

So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften,in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt.Die ganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mirrang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesell-schaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mit-gliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ichda höre, entsteht die Haltung der Vorträge.

Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nichtreinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Vonirgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mit-gliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sieim vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagenhat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach die-ser Richtung zu drängend wurden, von der Einrichtung abgegangenwerden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Eswird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nichtnachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.

Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja aller-dings nur demjenigen zugestanden werden können, der kennt, was alsUrteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermei-sten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis desMenschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophiedargestellt wird, und dessen, was als «anthroposophische Geschichte»in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

Gliederung nach: Rudolf Steiner - Das literarischeund künstlerische Werk. Eine bibliographische Übersicht

(Bibliographie-Nrn. kursiv in Klammern)

A. SCHRIFTEN/. WerkeGoethes Naturwissenschaftliche Schriften, eingeleitet und kommentiert von R. Steiner,

5 Bände, 1884-97, Neuausgabe 1975 (la-e); separate Ausgabe der Einleitungen, 1925 (1)Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886 (2)Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer <PhiIosophie der Freineit>, 1892 (3)Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, 1894 (4)Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895 (5)Goethes Weltanschauung, 1897 (6)Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen

Weltanschauung, 1901 (7)Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, 1902 (8)Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung,

1904 (9)Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1904/05 (10)Aus der Akasha-Chronik, 1904-08 (11)Die Stufen der höheren Erkenntnis, 1905-08 (12)Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910 (13)Vier Mysteriendramen: Die Pforte der Einweihung - Die Prüfung der Seele - Der Hüter

der Schwelle - Der Seelen Erwachen, 1910-13 (14)Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, 1911 (15)Anthroposophischer Seelenkalender, 1912 (in 40)Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, 1912 (16)Die Schwelle der geistigen Welt, 1913 (17)Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914 (18)Vom Menschenrätsel, 1916 (20)Von Seelenrätseln, 1917 (21)Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen von

der Schlange und der Lilie, 1918 (22)Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und

Zukunft, 1919 (23)Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921 (24)Kosmologie, Religion und Philosophie, 1922 (25)Anthroposophische Leitsätze, 1924/25 (26)Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen

Erkenntnissen, 1925. Von Dr. R. Steiner und Dr. I. Wegman (27)Mein Lebensgang, 1923-25 (28)

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//. Gesammelte Aufsätze

Aufsätze zur Dramaturgie 1889-1901 (29) - Methodische Grundlagen der Anthroposophie1884-1901 (30) - Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901 (31) - Aufsätze zurLiteratur 1886-1902 (32) - Biographien und biographische Skizzen 1894-1905 (33) -Aufsätze aus «Lucifer-Gnosis» 1903-1908 (34) - Philosophie und Anthroposophie1904-1918 (35) - Aufsätze aus «Das Goetheanum» 1921-1925 (36)

III. Veröffentlichungen ans dem Nachlaß

Briefe -Wahrspruchworte - Bühnenbearbeitungen - Entwürfe zu den Vier Mysteriendramen1910-1913 - Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910 - Gesammelte Skizzen undFragmente - Aus Notizbüchern und -blättern - (38-47)

B. DAS V O R T R A G S W E R K/. Öffentliche Vorträge

Die Berliner öffentlichen Vortragsreihen, 1903/04 bis 1917/18 (51-67) - Öffentliche Vor-träge, Vortragsreihen und Hochschulkurse an anderen Orten Europas 1906-1924 (68—84)

II. Vorträge vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft

Vorträge und Vortragszyklen allgemein-anthroposophischen Inhalts - Christologie undEvangelien-Betrachtungen - Geisteswissenschaftliche Menschenkunde - Kosmische undmenschliche Geschichte - Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage - Der Mensch inseinem Zusammenhang mit dem Kosmos - Karma-Betrachtungen - (91-244)Vorträge und Schriften zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und derAnthroposophischen Gesellschaft - Veröffentlichungen zur Geschichte und aus denInhalten der Esoterischen Schule (251-270)

III. Vorträge und Kurse zu einzelnen Lebensgebieten

Vorträge über Kunst: Allgemein-Künstlerisches - Eurythmie - Sprachgestaltung undDramatische Kunst - Musik - Bildende Künste - Kunstgeschichte - (271-292) - Vorträgeüber Erziehung (293-311) - Vorträge über Medizin (312-319) - Vorträge überNaturwissenschaft (320-327) - Vorträge über das soziale Leben und die Dreigliederung dessozialen Organismus (328-341) - Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau (347-354)

C. DAS K Ü N S T L E R I S C H E WERK

Originalgetreue Wiedergaben von malerischen und graphischen Entwürfen und SkizzenRudolf Steiners in Kunstmappen oder als Einzelblätter: Entwürfe für die Malerei desErsten Goetheanum - Schulungsskizzen für Maler - Programmbilder für Eurythmie-Aufführungen - Eurythmieformen - Entwürfe zu den Eurythmiefiguren - Wandtafel-zeichnungen zum Vortragswerk, u. a.

Die Bände der Rudolf Steiner Gesamtausgabesind innerhalb einzelner Gruppen einheitlich ausgestattet..

Jeder Band ist einzeln erhältlich.

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