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Rudolf Steiners Wirken um das Jahr 1910 Von den Anthroposophie-Vorträgen des Jahres 1909 zum Frag- ment des Buches «Anthroposophie» (1910) im Lichte bisher un- veröffentlichter Notizbucheinträgen Ein Blick in Christoph Lindenbergs «Chronik» zeigt, wie vielschichtig Rudolf Steiner im Jahr 1910 tätig war. Im Dezember 1909 schloss Steiner die Arbeit an seinem zentralen Buch «Die Geheimwissenschaft im Umriß» durch Schrei- ben seines Vorwortes ab. Das Buch wurde in den Folgejahren als Grundwerk immer wieder neu aufgelegt (zur 16. bis 20. Auflage schrieb Steiner eine letzte Vorrede noch in seinem Todesjahr 1925). Im Oktober 1909 hatte er bei der achten Generalversammlung der deutschen Sektion der Theosophischen Ge- sellschaft in Berlin fünf Vorträge 1 unter dem Titel «Anthroposophie» gehalten, in denen er Anthroposophie zwischen der gewöhnlichen Sinneswissenschaft, hier Anthropologie genannt, und der Theosophie ansiedelt: Anthropologie nimmt ihren Ausgangspunkt «von dem Herumwandeln unter den Dingen», sie «geht von Einzelheit zu Einzelheit». Somit beschäftigt sich Anthropologie mit vielen Einzelbetrachtungen und ist daher wie in den Niederungen eines Tales beheimatet, im Gegensatz zur Theosophie, die wie von einem «hohen Berggipfel aus das ganze Land überschauen» kann. Der «Gipfel, von dem aus die Theosophie zu schauen vermag, liegt über dem Menschen, das gewöhn- liche menschliche Erkennen hingegen liegt eigentlich unterhalb des Menschen, und der Mensch selber steht mitten zwischen Natur- und Geistwelt drin- nen». Zugleich warnt Steiner: «Theosophie unterliegt der Gefahr, dass […] das Menschliche überflogen wird und dass der Mensch die Möglichkeit verliert, überhaupt noch etwas Zureichendes zu erkennen. Bei der Theosophie liegt die Gefahr nahe, zu ihren Füßen nicht mehr die Wirklichkeit zu sehen.» Zwischen dem Berggipfel und den mannigfaltigen Niederungen der Täler ist «Anthro- posophie das Stehen in der Mitte, so dass man hinauf- und hinunterschaut». Anthroposophie ist somit dadurch zu charakterisieren, dass man sagt: «Stelle dich in die Mitte zwischen Gott und Natur, lass den Menschen in dir sprechen über das, was über dir ist und in dich hineinleuchtet, und über das, was von 1 Die ersten vier Vorträge sind in «Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie» (GA 115), der fünfte in «Kunst und Kunsterkenntnis» (GA 271) veröffentlicht.

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RudolfSteinersWirkenumdasJahr1910VondenAnthroposophie-Vorträgendes Jahres1909zumFrag-mentdesBuches«Anthroposophie»(1910)imLichtebisherun-veröffentlichterNotizbucheinträgen

EinBlickinChristophLindenbergs«Chronik»zeigt,wievielschichtigRudolfSteinerimJahr1910tätigwar.ImDezember1909schlossSteinerdieArbeitanseinemzentralenBuch«DieGeheimwissenschaftimUmriß»durchSchrei-benseinesVorwortesab.DasBuchwurdeindenFolgejahrenalsGrundwerkimmerwiederneuaufgelegt(zur16.bis20.AuflageschriebSteinereineletzteVorredenoch in seinemTodesjahr1925). ImOktober1909hatte erbeiderachtenGeneralversammlungderdeutschenSektionderTheosophischenGe-sellschaftinBerlinfünfVorträge1unterdemTitel«Anthroposophie»gehalten,indenenerAnthroposophiezwischendergewöhnlichenSinneswissenschaft,hier Anthropologie genannt, und der Theosophie ansiedelt: Anthropologienimmt ihrenAusgangspunkt«vondemHerumwandelnunterdenDingen»,sie«gehtvonEinzelheitzuEinzelheit».SomitbeschäftigtsichAnthropologiemitvielenEinzelbetrachtungenund istdaherwie indenNiederungeneinesTalesbeheimatet, imGegensatzzurTheosophie,diewievoneinem«hohenBerggipfelausdasganzeLandüberschauen»kann.Der«Gipfel,vondemausdieTheosophiezuschauenvermag, liegtüberdemMenschen,dasgewöhn-lichemenschlicheErkennenhingegenliegteigentlichunterhalbdesMenschen,und der Mensch selber steht mitten zwischen Natur- und Geistwelt drin-nen».ZugleichwarntSteiner:«TheosophieunterliegtderGefahr,dass[…]dasMenschlicheüberflogenwirdunddassderMenschdieMöglichkeitverliert,überhauptnochetwasZureichendeszuerkennen.BeiderTheosophieliegtdieGefahrnahe,zuihrenFüßennichtmehrdieWirklichkeitzusehen.»ZwischendemBerggipfelunddenmannigfaltigenNiederungenderTälerist«Anthro-posophiedasSteheninderMitte,sodassmanhinauf-undhinunterschaut».Anthroposophieistsomitdadurchzucharakterisieren,dassmansagt:«StelledichindieMittezwischenGottundNatur,lassdenMenschenindirsprechenüberdas,wasüberdiristundindichhineinleuchtet,undüberdas,wasvon

1 DieerstenvierVorträgesindin«Anthroposophie–Psychosophie–Pneumatosophie»(GA115), derfünftein«KunstundKunsterkenntnis»(GA271)veröffentlicht.

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untenindichhineinragt,dannhastdudieAnthroposophie,dieWeisheit,diederMenschspricht.»

NachdieseneinleitendenAusführungenseineserstenVortragssetztSteinerin den folgenden drei Vorträgen die Sinnesorganisation des Menschen in Be-zugzudenTätigkeitengeistigerHierarchienundsprichtdanndarüber,wiederMenscherstdurchdasindiesenVorträgengeschilderteZusammenwirkenvonSinnlichem,SeelischemundGeistigemseinenLeibformt.DerfünfteundletzteVortragwarnichteigensangekündigtwordenundschließtdenZyklusmitei-nerimVortragswerkSteinerseinzigartigenimaginativenBetrachtungüber«DasWesenderKünste».DarinwerdendieErlebnissezweier«allegorischer»Frauen-gestaltenineinerSchneelandschaftgeschildert,vondenendieeinesichvereinigtmitverschiedenenGeistgestaltenunddamitderMenschenseeledieFähigkeitzudenverschiedenenKünstenermöglicht,beginnendmitdenKünstendesTanzes,derMimikundderplastischenKunst,dieinBezugzumGleichgewichts-,Ei-genbewegung-undLebenssinngeschildertwerden.

EineSeiteausRudolfSteinersNotizbuch(NB208,Seite3)enthältAufzeich-nungen,diemitdiesemVortragkorrespondieren.Dortfindetsicheinenumme-rierteAuflistungvonzehnSinnen,miteinem11.,12.und13.Bereichnebendem«statischen Sinn», dem «Bewegungssinn» und dem «Lebensgefühl». DanebennotiertSteinerdasWort«Kunst»und führt fünfKünsteals«losgelöste»Sin-nesbereicheauf,allerdingsnichtganzso,wieeresimVortragvom28.Oktober1909über«dasWesenderKünste«ausführte.IndemNotizbuchNB211findetmanerneutdieZahlen1bis13sowiediejenigeZuordnungzudenKünsten,wieSteinersieimVortragvom28.Oktoberdarstellte.

Das unvollendete Buch «Anthroposophie»

SteinerwurdedamalsvondenMitgliederngebeten,dieInhalteseinerVorträgeniederzuschreiben.ErselbstschildertedasimJahre1921ausführlichimZusam-

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menhang seiner Vorträge über «Naturbeobachtung, Experiment, MathematikunddieErkenntnisstufenderGeistesforschung»(GA324,S.109f.):«IchhabeeinmalvorgetragenfürdieAnthroposophischeGesellschaftdasjenige,wasichgenannthabeindenVorträgen‹Anthroposophie›.Ichhabedamalssovielvorge-tragenvondieserAnthroposophie,alssichebenmeinerGeistesforschungerge-benhatte.EswurdendanndieseVorträgegedrucktverlangt,undichgingdaran,dieSachenniederzuschreiben.ImNiederschreibenwurdewiederumetwasan-deresdaraus.Nichtdassirgendetwasindem,waszuerstgegebenwar,verän-dertwordenwäre,sonderneswurdenurnotwendig,einigeshinzuzufügen,wasweitereErklärungenabgab.Abereswurdeauchnötig,dieSachenochgenauerzuformulieren.DasnahmeinJahrinAnspruch.»

Es ist nicht klar, ob Steiner damals sogleich mit der Niederschrift seinerVorträgeüber«Anthroposophie»begann.NachdemerimDezember1909dieArbeitander«Geheimwissenschaft»abgeschlossenhatte,entfalteteerimJahr1910einefulminanteVortragstätigkeitinganzEuropa,beginnendinStockholmmitVorträgenüber«DasJohannes-EvangeliumunddiedreianderenEvange-lien»,woerzumerstenMalüberdasWiedererscheinenChristiimÄtherischensprach.EsfolgtenVorträgeundVortragszyklenzuzentralenBereichenderAn-throposophiewie«MikrokosmosundMakrokosmos» inWien (GA119),dieersteErwähnungdes5.EvangeliumsbeieinemVortraginPalermo(inGA188),«DieOffenbarungendesKarma»inHamburg(GA120),«DieMissioneinzelnerVolksseelen»inOslo(GA121),imAugustdieUraufführungdeserstenMys-teriendramas«DiePfortederEinweihung»,dazuderVortragszyklus«DieGe-heimnissederbiblischenSchöpfungsgeschichte»(GA122)inMünchensowieeinZyklusüber«DasMatthäus-Evangelium»(GA123)imaltenRathausvonBern. NachEndediesesZyklusschriebMarievonSiversam13.September1910anJohannaMücke:«NunsindwiramEndedesZyklusangelangt.Mankönntedenken,dasseinMonatwirklichnotwendigsei,umvondiesemAuseinanderge-rissenwerdenauszuruhen,–abereswerdenwohlnur10Tagedaraus.Undstatt

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stillinBerlinAltesaufzuarbeitenzudürfen,müssenwir,vorMenschenflüch-tend,strawanzen.Ichwürdesogern inBerlinallesruhigeinrichten,aberderDr.hättedortkeinenFrieden[…].»2NacheinemBesuchbeiEdouardSchuréinBarrfüreinigeTageistderAufenthaltRudolfSteinersvom24.Septemberbis1.Oktoberunbekanntundvom10.bis16.Oktoberungewiss.3HaterindieserZeitfürseinBuch«Anthroposophie»geforscht?

Die Arbeit an seinemBuch«Anthroposophie» ist –nebendenvielfältigenNotizbucheinträgenausdieserZeit–durcheinhandgeschriebenesManuskriptdokumentiert, das er in der letzten Oktoberwoche im Jahres 1910 stückwei-seundfasttäglichderDruckereiA.W.HaynsErbeninPotsdamzukommenließ,diedenTextdann sofort setzte.DieKorrekturfahnedes erstenKapitels(«DerCharakterderAnthroposophie»)unddeserstenTeilsdeszweitenKa-pitels («DerMensch als Sinnesorganismus») trägtdenStempelderDruckereimitDatumdes24.Oktober1910(einMontag).BereitseinenTagspäterhattedieDruckereiauchschonfastdasganzedritteKapitel(«DieWelt,welchendenSinnenzuGrundeliegt»)gesetzt,undnocheinenTagspäter,alsoamMittwoch,schondasgesamtevierteKapitel(«DieLebensvorgänge»)sowiedenAnfangdesfünftenKapitels(«VorgängeimmenschlichenInnern»),inwelchemderastra-lischeMensch,derLebensprozessegefühlsmäßigspiegelt,durchdieErlebnisseder«Bewegungsfähigkeit»,der«instinktivenBegehrungen»undder«Bildemp-findungen»ergänztwird.

AmDonnerstag,dem27.OktoberentstandjedochkeineneueDruckfahne.AndiesemTagwarRudolfSteinerdamitbeschäftigt,wieüblicheinenVortragimBerliner«Architektenhaus»(inderam20.OktoberbegonnenenVortragsrei-he,GA60)zuhalten.Mankannsichvorstellen,dassihndieVorbereitungaufdiesenVortragdavonabhielt,derDruckereiandiesemTageinenweiterenTeilseinesSkripteszukommenzulassen.AmFreitagundSamstagfolgtendannje-

2 «NachrichtenderRudolfSteinerNachlaßverwaltung»Nr.17,S.93 ChristophLindenberg,«RudolfSteiner.EineChronik»,Stuttgart1988,S.296.

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weilsdieletztenbeidenDruckfahnendessechstenundsiebentenKapitels(«DasIch-Erlebnis»und«DieWelt,welchedenSinnesorganenzugrunde liegt»)so-wie des achten und neunten Kapitels («Die Welt, welche den Lebensorganenzugrunde liegt» und «Die höhere Geisteswelt»). Die letzte Seite des neuntenKapitelsträgtnocheineSeitenzahl(81)undwärezugleichdieersteSeiteeinesneuen,sechstenDruckbogens.DieseSeitebleibt jedochalleinaufeinemBlattmitStempelvom31.Oktober1910sowiedemhandschriftlichenVermerkderDruckerei:«WeiteresM[anu]skr[ipt]istnichtinunseremBesitz.»

AmSamstag,dem29.Oktober1910hattenachmittagsbereitsdieneunteGe-neralversammlungderDeutschenSektionderTheosophischenGesellschaftbe-gonnen,derenGeneralsekretärRudolfSteinerwar.AmSonntagundMontaghielt er in diesem Zusammenhang zwei Ansprachen sowie am Montag einenVortragüberdasMysteriendrama«DiePfortederEinweihung».AmTagdaraufbegannderZyklusdervierVorträgeüber«Psychosophie».

AngesichtsdieserDokumentenlagescheintesnaheliegend,dassSteinererstindenletztenTagenvorderGeneralversammlungdasManuskriptStückfürStückerstellte.WelcheVorarbeitenhatteerhierfürinderHand?Kannmananhandeiner vollständigen Übersicht über die Inhalte seiner Notizbücher zu diesemThemadieGenesedesTextes rekonstruierenoder auchnurvermuten?DieseFragensindderzeitnochoffen.HierbeiwärenatürlicheinegenauereDatierungderNotizbuchinhaltesehrhilfreich.Nochistweitgehendungeklärt,welchesei-nerNotizbucheinträgevorundwelchenachderNiederschriftdes«Anthropo-sophie»-Manuskriptszustandekamen.

Erst einen Monat später datiert die vorerst letzte Korrekturfahnemit demStempeldes28.November1910,beginnendmitderletztenSeite(81)desneun-tenKapitelssowieetwadreiweitere,nichtpaginierteSeitendeszehntenKapi-tels(«DieGestaltdesMenschen»).

DieerstenzweiBögenhatSteinerirgendwannkorrigiertderDruckereiwie-derzukommenlassen,diedenTextanhandderKorrekturenneusetzteund–

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ohne Stempel – drucken ließ. Zwei Exemplare jeweils des dritten und vierten Bogens hat Steiner ebenfalls korrigiert, allerdings auf zwei verschiedene Wei-sen. In der letzten Auflage des «Anthroposophie»-Fragments (GA 45, 2002) sind beide Korrekturen dokumentiert. In Rudolf Steiners Notizbuch NB 500 finden sich Anmerkungen, die sich offensichtlich auf die Seiten 33, 38, 40 und wahrscheinlich auf die Seite 55 dieser Korrekturfahnen beziehen. Denn nach der Zahl 55, die unvermittelt auf Seite 5 von NB 500 oben erscheint, steht das Einfügungszeichen Γ. Bei der stärker (und mit mehreren Stiften) korrigierten vierten Korrekturfahne ist am Ende von S. 54 und am Anfang von S. 55 ein grö-ßerer Textabschnitt zum Wärmeerlebnis von Steiner – nach einer zuvor erfolgten Korrektur dieser Stelle − ganz ausgestrichen worden. Am Ende dieser Passage findet man auf S. 55 dasselbe Einfügungszeichen (Γ) am Ende der vierten Zeile – aber dazu keine Entsprechung am Rand der Fahne, wie sonst bei diesen Zeichen üblich. Dies legt die Vermutung nahe, dass Steiner vorhatte, zumindest den auf S. 5 von NB 500 notierten Text an dieser Stelle einzufügen, ggf. auch noch die vorangehenden Texte auf Seite 3 und 4 – inhaltlich würden diese nahtlos passen. Der letzte Satz, den er auf Seite 54 der vierter Korrekturfahne stehen ließ, lautet: «Ein Wärmeeindruck muss als etwas anerkannt werden, was gleichartig ist der im Innern selbst erlebten und dieses Innere erfüllenden Wärme.» Vor diesem Satz fügte er handschriftlich ein: «Nun vergleiche man die Erlebnisse des Wär-mesinnes mit dem Lebensvorgang der Wärmung.»

Man lese einmal den ausformulierten Text auf den Seiten 3, 4 und 5 von NB 500 bis zum Strich auf Seite 5. Er beginnt auf Seite 3 mit den Worten: «Der den Leib erfüllende Lebensprozess der Wärmung erfordert eine gewisse Gestaltung der Lebensorgane; das Erlebnis der Wärmeempfindung erfordert ein Sinnes-organ als Wärmesinnorgan […]». Steiner tut hier also genau das, wozu er mit dem auf der Druckfahne eingefügten Satz auffordert: er vergleicht die Erleb-nisse des Wärmesinnes mit dem Lebensvorgang der Wärmung. Es scheint also wahrscheinlich, dass Steiner beabsichtigte, der Korrekturfahne hier einen dem

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Notizbuchentsprechenden Inhalt einzufügen.DaerdievierteKorrekturfah-ne nie zu Ende bearbeitet hat, muss es letztlich dahingestellt bleiben, welcheFormulierungenerhierinsein«Anthroposophie»-Buchhätteeinfließenlassen.DieausformuliertenSätzeimNotizbuchknüpfenabergenauandenTextderDruckfahnenanundführendieGedankendessechstenKapitelweiteraneinerStelle,woRudolfSteinereinelängerePassageausstrich.

IndemText,dernachdemStrichaufSeite5vonNB500beginnt, arbeitetSteinerweitermitdemBegriffdes«hypothetischenWesens»,daserimsiebtenKapitelvon«Anthroposophie»einführt,welchesalsdasgleichsamumgestülpte,makrokosmische höhere Ich des Menschen gesehen werden kann. Er benutztdieseFormulierungin«Anthroposophie»jedochnichtundschreibtkonsequentvoneinem«hypothetischenWesen»,ganzimStildiesesBuches,indem,nachbe-stimmtenSetzungenwiedieAuflistungundCharakterisierungvonSinnes-,Le-bensundSeelenprozessen,fastmathematischin«wenn-dann»-Beziehungenwei-terargumentiertwird.Das«hypothetischeWesen»isteinedem«Ich-Erleben»entgegengesetzteIch-Wesenhaftigkeit,dieinderhöherengeistigenWeltwurzelt.

Entgegengesetzte geistige Wesenhaftigkeit: der umgestülpte Mensch

Die nach dem Strich auf Seite 5 von NB 500 folgenden Ausführungen ließensichsehrgutandasEndedesneuntenKapitelsanschließen,woesheißt:«Manwirddahingeführt,aufeineAußenweltzudeuten,dieinsichselberdurchdenGegensatzvonLebenssinn,EigenbewegungssinnundGleichgewichtssinneineInnenweltentfachenkann.4DieseWeltkannaber‹höhereGeisteswelt›genanntwerden.[…]InderhöherenGeistesweltwärensomitinsichselbstruhendeSin-neserlebnissezusuchen,welchesichdenjenigenSinneserlebnissenverwandter-weisen,denenderMenschinderphysischenWeltmitseinemIchamnächsten

4 ManvergleichehierzuVortragvom28.Oktober1909überdasWesenderKünste.(GA271,S.63–80)

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steht, den Erlebnissen des Begriffs-, Laut- und Gehörsinnes. Doch sind jeneErlebnisse so, als stünde nicht gleichsam vor ihnen ein menschliches Ich undnehmesieauf,sondernso,alsstündehinterihneneinsieindereigenenTätigkeitschaffendesWesen.»5

AndieserStellekönntemanmitdemTextdesNotizbuches500fortfahren:«Diesalleszusammenfassend,würde[sich]nundasfolgendeinBezugaufdasMenschenwesenergeben:MandenkesichdasIchdesMenschen,sowieesin-nerlichwahrgenommenwird,entstandendurchWesen,welcheinderAussen-welt diesesIch umgeben. Es sei räumlich hinter denSinneserlebnissen nichts,wasausderSinnesweltherausdieseErlebnissebewirke,sondernesseigeistigeWesenhaftigkeit dahinter, die ähnlich sei dem Ich-Erleben selbst, nur diesementgegengesetzt.»

ImNotizbuchgehtSteinernunsystematischdieUmstülpungderjeweiligenSinnesorganismendurch:«Dannkannmansehen:imIch-OrganismusdieTä-tigkeiteineshypothetischenWesens,welchesseinInneresdurchdiesenOrga-nismussoinsichzurückstrahlt,wiedasIchimTasterlebnisseinInneresinsichselbstzurückstrahlt.»EsfolgtalsnächstesderBegriffsorganismusals«TätigkeiteineshypothetischenWesens,welchesindenmenschlichenBegriffensichdurchdiesesOrgansoerlebt,wiesichderMenschdurchdenLebenssinnerlebt»usw.bishinzurUmstülpungdesGeruchsorgansindasGeschmackserlebnisdeshy-pothetischenWesens.DarausfolgertSteinerimNotizbuch:«DamitaberistdieMöglichkeitgegeben,sich indieSinneserlebnissehineinGeistigeszudenken,dasgewissermaßensoinihnensteckt,wiederIch-MenschinseinenSinnes-Or-ganen[…]MankönntesichindiesemSinnedenRaumausgefülltdenkennichtmit irgendeiner Materie, sondern mit Geist, und die Sinneserlebnisse als vonGeistbewirkt,so,dassderGeistsichselbsterlebt,indemersichindenSinnes-OrganenunddemIch-OrganismusdieMöglichkeitschafft,seineInnerlichkeitinsichzurückstrahlenzulassen.»

5 «Anthroposophie−EinFragment»(GA40),S.88.

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RudolfSteinersBeschäftigungmitdiesenMotivendürfteindieZeitunmit-telbarnachderGeneralversammlungderdeutschenSektionundden«Psycho-sophie»-VorträgenvomAnfangNovember1910fallen,dadiegenanntenAus-führungenmitBezügenzudenSeitenzahlenderEndeOktoberinderDruckereibearbeitetenDruckfahnenbeginnen.RückblickendbeschreibtSteinerseineAr-beitamManuskriptvon«Anthroposophie»inderbereitszitiertenSchilderungausdemJahre1921mitdenWorten:«EswurdewiederumdieGeneralversamm-lunginderGesellschaftabgehalten.DasagtendenndieLeute,beiderGeneral-versammlungsolltennundochdie‹anthroposophischen›Vorträgeverkauftwer-den,alsomüssensiefertigwerden.IchhattedannangekündigtfürdiesenächsteGeneralversammlungeinenanderenVortragszyklus,undverschicktedieerstenBogendieser ‹Anthroposophie›andieDruckerei.Siewurdenauchsofortge-druckt. Ich dachte, ich würde nun weiterschreiben können. Ich schrieb aucheineZeitlangweiter.AberesergabsichimmermehrundmehrdieNotwendig-keit,weitereshinzuzufügenzudengenauerenErklärungen.Dasganzeendetedanndamit,dasseineganzeAnzahlvonBogengedrucktwaren.Bisdahinhatteichgeschrieben.EinBogenkamdannso,dassdiesechzehnSeitennichtmehrvollwurden,sondernnurnoch,ichglaube,dreizehnodervierzehnvollwaren.Dieanderenwarenweiß,undichsollteweiterschreiben.»6

Am10.und17.November1910hieltRudolfSteinerimBerlinerArchitek-tenhausdieöffentlichenVorträge«MenschenseeleundTierseele»sowie«Men-schengeistundTiergeist»,zudenensichNotizeninNB28erhaltenhaben.ImzweitendieserVorträgegehtSteiner–detaillierter als anderswo–darauf ein,wiederobereunduntereMenschzusammenhängen,indemdereinePoldurchdenanderenzuseinerEntwicklung«voninnensichergießendeNahrung»er-hält,waswiederummitGebärde,Mimikunddemvoninnenhersichausprä-gendenPhysiologischemzusammenhängt.GenaudieseUmstülpungderSinneistes,dieihnindenNotizbüchernausdieserZeitintensivbeschäftigte.Darin

6 GA324,S.109.

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wirdSteinernichtmüde,sichstetsmitneuenAnsätzenderSachezuzuwenden.DabeigehteszugleichumdieBeziehungenderhöherengeistigenWeltzurSin-neswelt,wobeibesondernbeidenmittlerenSinnendieastralenunddieLeben-sprozessemithineinspielen.

Die Sinneswelt zwischen zurückstrahlender Ich-Wesenheitbeim Tasten und die Aufhebung der Bewusstseinssphären-trennung beim Ich-Wahrnehmen

Die vorliegenden Dokumente zeigen, dass die Auffassung, Steiner habe erst1916mitzwölfSinnengearbeitet,nichtaufrechterhaltenwerdenkann.IndenVorträgenvon1916über«DasRätseldesMenschen»(GA170)sowieindemkurzenAnhang«ÜberdiewirklicheGrundlageintentionalerBeziehungen»zudem1917erschienenenBuch«VonSeelenrätseln»gehtRudolfSteinerzwarso-fortvonzwölfSinnenaus.Aberbereits imTextvon«Anthroposophie»wer-dendurchausauchderTast-undderIch-Sinnberücksichtigt,allerdingsineinervorsichtigerenWeisealsindenspäterenÜbersichten.In«Anthroposophie»hatSteinerderenSonderrollealsGrenzendesSinnesspektrumshervorgehobenundvielausführlicherbehandelt.LediglichindenVorträgenvon1909wirdexplizitvonnurzehnderphysischenWeltzugewandtenSinnestätigkeitengesprochen.

DiesePerspektivegreiftSteiner imzweitenKapitelvon«Anthroposophie»zwarwiederauf,bemerktdannaber:«NichtinderselbenArt,wiebeidenzehnangeführtenSinnen,erscheintderSinnescharakterbeidem,wasmangewöhn-lichTastsinnnennt.[…]WasunmittelbarbeimTastsinnempfundenwird,daskannimmerinnerhalbderGebietederdreizuersthieraufgezähltenSinnege-funden werden [gemeint sind Lebenssinn, Eigenbewegungssinn, Gleichge-wichtssinn].»BeimTastenschließtderMenschaberaufeineWeltaußerhalbderEmpfindungendeseigenenLeibes.EsschwingtbeimTastenalsostetsein, soSteiner,«verborgenesUrteil»mit,durchwelcheaufEigenschaftenvonKörpern

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außerhalb des eigenen Körpers geschlossen wird. In Notizbuch NB 500 ver-merktSteinerdementsprechendaufSeite40:«MitdenSinneserlebnissenstehenwir imphys.Leib.MitdenErinnerungen stehenwir imAetherleib. Mit denUrteilenstehenwirimAstralleib.[…]Tastsinn:allesUrteil.Ichwahrnehmung:nichtsUrteil.»

Nunistvoneiner«Ich-Wahrnehmung»bzw.voneinem«Ich-Sinn»füreinfremdesIchimzweitenKapitelvon«Anthroposophie»nochnichtalssolchendieRede.Das«Ich»wirddann jedochgleich zuAnfangdesdrittenKapitelsthematisiertundspieltimweiterenVerlaufdesunvollendetenWerkeseinezu-nehmendgrößereRolle,bisschließlichdassechsteKapitelganzdem«Ich-Er-lebnis» unter dem Gesichtspunkt verschiedenartiger intentionaler Ich-Bezie-hungengewidmetist.Beim«sogenanntenTastsinn»strahltdasIch«seineeigeneWesenheitbiszuderBerührungsstellemitdemäußerenGegenstandeundlässtnachMaßgabederBerührungdanndieseeigeneWesenheitinsichzurückkeh-ren.DiezurückstrahlendeeigeneWesenheitbildetdenInhaltderTastwahrneh-mung.»RudolfSteinerbeschriebbereits inden«Anthroposophie»-Vorträgenvon1909,wiederwahrnehmendeMenschauchdurchandereSinnealsdiedreileibgerichtetenSinne«tastet»,allerdingsnichtmehrabdemHörsinnunddendarüberliegendensogenannten«sozialen»Sinnen.

InNotizbuch210findetsicheinelängereAbhandlungzuHörenundSpre-chen,dieseitderAusgabevon1970zwarals5.AnhangdesFragments«An-throposophie»mitabgedrucktwurde,aberseitdemnurwenigBeachtungfand.IndiesemTexterwähntSteinergleichzuBeginndasjenige,wasals«TypuseinesWahrnehmungsorgansbetrachtetwerden»kann,nämlichdieeinzigartigeGabedesIch-Organismus,«insichdasBildeinesgleichenfremdenIchsgegenwärtigmachen»zukönnen.ErführtdieseBetrachtungendannhinzum«MysteriumdesMitgefühlsmiteinemfremdenIch»durchdasHineinlebendeseigenenIchindenLautdesfremdenIch:«VernimmterdanndenLautdesfremdenIch,solebtdaseigeneIchindiesemLautunddamitindemfremdenIch.[…]Daskann

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abernichtsanderesbedeuten,alsdassderHörendebeimLauteinesMenschenseinIchaneinfremdesIchhingibt,beimToneinesleblosenGegenstandesnurandenTonselbst.»7ImselbenNotizbuchNB210notierteSteiner:«DieErfas-sungeinesfremdenIchsetzteinOrganvoraus,welcheskeinenphysischenIn-haltinderWahrnehmunghat(bloßeKraftwahrnehmung):derIchorganismus.»

Voneinemausdrücklichsogenannten«Ich-Sinn»istdurchausauchanwei-teren Stellen in den Notizbüchern um das Jahr 1910 die Rede, auch von derWahrnehmungeinesfremdenIch.VorderobenzitiertenlängerenAbhandlunginNB210findensicheineReihevonSeiten,aufderimmerwiederzwölf,zu-weilenstrengdurchnummerierteSinneaufgeführtwerden,aneinerStelleauchkreisförmig,undzwar inderungewöhnlichenReihenfolge Ich,Begriff,Laut,Gehör,Gleichgewicht,Bewegung,Leben,Geruch,Tast,Wärme,GesichtundGeschmack,miteinerZuordnungzudenzwölfZeichendesTierkreises.Somitdürftealserwiesengelten,dassSteinerschon1910diemenschlichenSinnealsZwölfheitbetrachtethat.BeiTast-undIch-SinnhandeltessichjedochinsofernumGrenzfälle,alsmandiesemanauchalszweiGrundgestenmitmehrprinzi-piellemCharakteransehenkann:beimTastsinndasAusstrahlendeseigenenIchbisaneineGrenze,dielediglichdaseigeneIchzurückspiegelt(«allesUrteil»),beim Ichsinn die uneingeschränkte Hingabe an ein fremdes Ich («nichts Ur-teil»).

ImachtenVortragzur«AllgemeinenMenschenkundealsGrundlagederPäd-agogik»beschriebRudolfSteineram29.August1919das«VibrierenderSeele»zwischender«Hingabe andenAnderen»unddem«innerlichenWehren»alsGrundgestendesIch-Sinnsundverwiesdarauf,dasserdiesenSinnauchinderNeuauflageseiner«PhilosophiederFreiheit»eigenscharakterisierthätte.Tat-sächlichbeschreibterinderNeuauflagedas«VibrierenderSeele»alsGrund-gestedesDenksinns;währenderinNotizbuchNB210ausdemJahre1910dasHineinlebenindenLautdesanderenMenschenbeschrieb.BeimZuhörendes7 GA40,S.198.

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SprechenseinesanderenMenschenhebtSteinerindemTextausNB210hervor,dasshierbeidas«andereIch[…]andieStelledeseigenen»tritt.Somitdurch-ziehtdieGrundgestedesIch-SinnsoffenbarauchdieBereichedesDenk-undLautsinnes.ImerstenAnhangzur«PhilosophiederFreiheit»ausderNeuauf-lage des Jahres 1918, auf den Steiner in dem oben erwähntenVortrag bezüg-lichdesIch-Sinnshinwies,heißtesdementsprechend,dassindemProzessdesZuhörens«dieTrennungzwischendenbeidenBewusstseinssphärentatsächlichaufgehoben«wird.8

Die Tätigkeit eines «hypothetischen Wesens»:das Ich im Transzendenten

AuchwenndiesaufdenerstenBlicksoscheinenmag:SteinerwarnichtanderEntwicklungeinerSinneslehregelegen.ErselberhatdiesesWortauchseltenfürseineArbeitaufdiesemGebietgebraucht.Wasertat,war,diemannigfaltigstenBeziehungen zwischen den Sinnesbereichen, den Lebensprozessen, der Men-schenseeleunddemMenschenalsIchaufzusuchen,inimmerneuen,sichstetswandelndenAnläufen.WasvondieserArbeitausdemJahre1910gelangteandieÖffentlichkeit?

ZuSteinersLebzeitensogutwienichts,denndiePublikationdesFragmentes«Anthroposophie»erfolgteerstimJahre1951.SteinervollendeteseinBuchpro-jekt nie. In Vergessenheit geriet es deshalb nicht. Und Steiner stand offenbarweiterhinhinterdemeinstgeschriebenenTeildesWerkes:AlsWalterJohannesSteinseineDoktorarbeitüberdenSehprozessschrieb,liehSteinerdemjungenDoktorandendie aufbewahrtenDruckfahnen seines«Anthroposophie»Frag-mentsfüreineNachtzurLektüreaus,mitderMaßgabe,esdurchzulesen,abernichtsdavonabzuschreiben.

8 Vgl.dazuauchDetlefHardorp:DenksinnundDenken,in:«RundbriefderPädagogischenSektion amGoetheanum»Michaeli2010,S.16−35.

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RudolfSteinerhatsichspätermehrfachdarübergeäußert,warumdasBuchnichtfertiggestelltwurde.IndembereitszitiertenVortragausdemJahre1921schilderteramausführlichstendieHürden,derseineForschungaufdiesemGe-bietausgesetztwar:«Mittlerweilehattesichmirergeben[…]:UmdieSachenunwirklichso,wieichsiejetztnacheinemJahrehabenmüssteundhabenwill,zuEndezuführen,dazuistesnotwendig,nunimgenauerenauszubildeneinege-wisseVorstellungsweise,einebesondereAusarbeitungdesimaginativen,inspi-riertenErkennens,undgerademitBezugaufdieseanthroposophischenFragendieseErkenntnisartanzuwenden.Dagingichdenndaran,erstetwasNegativeszumachen:dieganze ‹Anthroposophie› liegenzu lassen.Sie liegtheutenochso, wie sie dazumal, viele Bogen schon, gedruckt war, und ich dachte daran,zunächstebendieFortsetzungnunauchwirklichzuerforschen.DamachteichdenngründlichBekanntschaftmitetwas,wasichIhnenjetztschildernmöchte.Eszeigtesichnämlichimmerklarerundklarer,dassmaneineAnthroposophie,wiesiedazumalintendiertwar,erstdannvollendenkann,wennmaninnerlichanschauenddaraufkommtzusehen,wiemandasjenige,wasmandawirklichininnererSchaualsgeistig-seelischeTätigkeitarbeitendimNervensystemerblickt,soweit fortsetzenkann,bisman innerlichhier aneinenPunktkommt−derPunktisteigentlicheineLinie,dieinvertikalerRichtungliegt[…]−,bismanzudiesemPunktkommt,womandanndeutlichmerkt,dieganzevonaußennachinnenvorrückendegeistig-seelischeTätigkeit, diemanerfasst im ImaginierenundInspirieren,diekreuztsich.Aberindemsiesichkreuzt,istmannichtmehrfrei in der Ausübungdieser Tätigkeit.Man ist ja vorher auch nicht ganz frei,wie ich geschildert habe. Jetzt wird man noch unfreier. Man merkt, dass dasganzeeineVeränderungerfährt.ManläufteinineinstärkeresFestgehaltenwer-denimimaginativ-inspiriertenVorstellen.Konkretgesprochen,wennmandas-jenige,wasSinneswahrnehmungundderenverstandesmäßigeFortsetzungfürdasAugeist,imimaginativ-inspiriertenVorstellenauffasstunddadurchzuderImaginationdesSehorganskommt,wennmanalsodazukommt,durchImagi-

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nation,diedurchinspiriert ist,dasSehorganaufzufassen,dannsetztsichdieseTätigkeitnachdemInnerenfort,danntritthiereineKreuzungein,unddannumfasstmanmitderTätigkeit,mitdermanersthierdasAugeumfassthat,einanderesOrgan.EsistimwesentlichendieNiere.»9

Steiner führtdannweiter aus,dass er«immerfortzurückgeworfen»wurdeundzuetwaskam,«wasnichtrichtigist»,undfügtschließlichhinzu:«LeideristjaindenJahren,diedannaufdasEreignisgefolgtsind,dasicherzählthabe,meineZeitdurchallesmögliche−insbesondereindenletztenJahren−soaus-gefülltworden,dassdasjenige,wasichalseinebesondersnotwendige,eigentlichunerlässliche Tätigkeit bezeichnen müsste, das Zuendeschreiben dieser ‹An-throposophie›,nichthatzustandekommenkönnen.»Denn«jedesMal,wennsicheinbisschendieAussichtbietet,dassdie‹Anthroposophie›weitergefördertwerdensoll,dannwerdeichzudemoderjenemgeholt,dannistdasoderjenesnotwendig,dannmussindiesemoderjenemGebietunsererjetzigenTätigkeitdiese oder jene Sitzung gehalten werden.» Ein Jahr zuvor hatte Steiner aus-führlichinseinenmedizinischenVorträgen(GA312), insbesondereimachtenVortragvom28.März1920,überdieBeziehungvonRiechenundSchmeckenzumAugeeinerseitsundzumDarmunddenNierenandererseitsgesprochen,sodassmanchesdafürspricht,dassdieses«Festgehaltenwerdenimimaginativ-inspiriertenVorstellen»unddiedaraussichergebendenfalschenAnschauungeninseinerErkenntnisüberwundenwerdenkonnten.10

Das rätselhafte «Kreuzen» mit der «von außen nach innen vorrückendengeistig-seelischenTätigkeit»istanscheinendbereitseinfürNotizbuchNB500

9 GA324,S.109ff.10InseinemPragerVortragszyklus«EineokkultePhysiologie»ausMärz1911scheinternochnicht soweitzusein.HierarbeiteteroffenbarweiteranFragendermenschlichenGestalt,alsogenau da,wodaszehnteKapitelseiner«Anthroposophie»abbricht.BeidiesenVorträgenhandeltessich sicherlichum«anthroposophische»imSinneeinerAnthroposophiezwischenAnthropologieund Theosophie.DerDuktusseinerunvollendetenSchrift«Anthroposophie»istabereinetwasande- rer.Insbesonderescheintdas«Kreuzungsproblem»hiernochnichtüberwundengewesenzusein.

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relevantes Thema. Auch wenn Steiner dort die Niere nicht eigens erwähnt,schreibtervondem«Geschmack[s]inhalt,derinsichverbirgtdieFähigkeit,dasGesichtsorganzuformen.»FolgendePassageausdiesemNotizbuchwurdebe-reitszitiert:«MandenkesichdasIchdesMenschen,sowieesinnerlichwahr-genommenwird,entstandendurchWesen,welcheinderAussenweltdiesesIchumgeben.EsseiräumlichhinterdenSinneserlebnissennichts,wasausderSin-nesweltherausdieseErlebnissebewirke,sondernesseigeistigeWesenhaftigkeitdahinter,dieähnlichseidemIch-Erlebenselbst,nurdiesementgegengesetzt.»Steinerfährtdannfort:

«Dann kann man sehen: im Ich-Organismus dieTätigkeit eines hypothe-tischenWesens,welchesseinInneresdurchdiesenOrganismusso insichzu-rückstrahlt,wiedasIchimTasterlebnisseinInneresinsichselbstzurückstrahlt.Im Begriffsorganismus wäre gegeben die Tätigkeit eines hypothetischen We-sens,welchesindenmenschlichenBegriffensichdurchdiesesOrgansoerlebt,wiesichderMenschdurchdenLebenssinnerlebt.ImLautorganerlebtesicheinhypothetisches Wesen, wie sich der Mensch im Eigenbewegungssinn erlebt.11Im Gehörorgan erlebte sich ein solches Wesen, so, wie der Mensch sich imGleichgewichtssinnerlebt.ImWärmesinnorganerlebteeinsolchesWesendenMenschen,wiedieserdieUmweltdurchdenGeruchssinnerlebt.ImGesicht-

11Vgl.hierzuPeterLutzker:«DerSprachsinn.SprachwahrnehmungenalsSinnesvorgang»,1996,S.44: AufdieartikulierteStrukturderWörterreagierenMenschenmiteinerexaktsynchronisiertenBe- wegung,diederdesSprechersentspricht(«entrainment»genannt).DaswurdevonWilliamS.Con- don erforscht. «Eines der für Condon selbst bedeutendsten und überraschendsten Ergebnisse diesereinmaligenUntersuchungüberdieBeziehungzwischengesprochenerSpracheundBewe- gungwardieErkenntnis,dassesnichtnureinestetigeundexakteKoordinationderBewegungdes SprechersmitseinenWortengibt,sonderndassderHörersichfastebensogutexaktsynchronzur artikuliertenStrukturderWortedesSprechersbewegt.»Weiterhin«wurde festgestellt,dasseine Synchronisierung mit Lauten, die nichts mit Sprache zu tun haben, nicht stattfindet. Es wurde auchnachgewiesen,dassesbeieinemzweiTagealtenamerikanischenSäuglingzueinerEntrain- ment-ReaktionaufchinesischeSprachekam,währendeskeineSynchronizitätderBewegungmit KlopfgeräuschenundzusammenhanglosenVokalenzeigte.»So fasstPeterLutzkerExperimente vonWilliamS.CondonundL.W.Sanderzusammen,diebereits1974inderZeitschrift«Science» veröffentlichtwordenwaren.

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organerlebteeinsolchesWesendenMenschen,wiedieserdieUmweltdurchden Geschmackssinn erlebt. Im Geschmacksorgan erlebte ein solches WesendenMenschenso,wiedieserdieUmweltimGeschmackserlebniserlebt.ImGe-ruchsorganerlebtedasWeseneinSinneserlebnisso,dassesdiesesErlebnisalsseinGeschmackserlebnisvomMenschenbezeichnenmüsste.DamitaberistdieMöglichkeitgegeben,sich indieSinneserlebnissehineinGeistigeszudenken,dasgewissermaßensoinihnensteckt,wiederIch-MenschinseinenSinnes-Or-ganen;nämlich[…]hinterdemGesichtserlebniseinGeistigesmitdemErlebnisdesGeschmackssinnes,hinterdemGeschmackerlebnis einGeistiges mitdemErlebnisdesGeschmackorgans,dasabersichalsGeruchserlebnisentpuppt.So-baldmanalsodasdurchdringenwürde,wasalsvermeintlichausfüllenderStoffangesehenwird,kämeman[…]hinterdemGeschmackerlebnisaufGeschma-ckinhalt,derinsichverbirgtdieFähigkeit,dasGesichtsorganzuformen.»

Das «Kreuzen» geschieht innerhalb eines Umstülpungsprozesses, der aus

mathematischerPerspektiveandiePol-PolareRelationvonzentrischemPunkt

undFernebeneerinnernkönnte; allerdings insofernwesentlichkomplizierter,

alseshiernichtumgeometrischeGebilde,sondernumdenlebendenMenschen

inseinerBeziehungzur(geistigen)Weltgeht.

ImNovemberundDezember1910hieltRudolfSteinervieleEinzelvorträgen

anverschiedenstenOrtenundendeteseinVortragsjahrinStuttgartmiteinem

Zyklusüber«OkkulteGeschichte»(GA126).Am30.Dezembermeldetesich

SteinerdannfüreinenVortragbeim4.InternationalenPhilosophenkongressin

Bolognaan.ChristophLindenbergbemerkt inseinerSteinerBiografie12,dass

dieNiederschriftder«Anthroposophie»stockteunddann«ganzzumErliegen»

kam,«obwohlRudolfSteinerunteranderemauchimHinblickaufdieseAuf-

gabeimFrühjahr1911seineVortragstätigkeitstarkzurücknahm.»Dassersich

12ChristophLindenberg:«RudolfSteiner.EineBiographie»,Bd.1,1997,S.463.

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weiter damit beschäftigte, zeigt auch sein am 8. April 1911 in Bologna gehalte-

ner Vortrag, in dem er mit philosophischen Begriffen den Kern seiner Umstül-

pungsbeschäftigung im Rahmen seiner Arbeit an «Anthroposophie» umreißt.So heißt es dort:«Eine weitere Verschiebung gegenüber dem einfachen Tatbestande des Be-

wusstseins geschieht von dem kritischen Idealismus dadurch, dass dieser außer acht lässt, welche faktische Beziehung zwischen dem Erkenntnisinhalte und dem ‹Ich› besteht. Setzt man nämlich von vornherein voraus, dass das ‹Ich› mit dem Inhalte der in Ideen und Begriffe gebrachten Weltgesetze außerhalb des Trans-zendenten stehe, dann wird es eben selbstverständlich, dass dies ‹Ich› sich nicht überspringen könne, das heißt, stets außerhalb des Transzendenten bleiben müs-se. Nun ist aber diese Voraussetzung gegenüber einer vorurteilsfreien Beobach-tung der Bewusstseinstatsachen doch nicht festzuhalten. Es soll der Einfachheit halber zunächst hier auf den Inhalt der Weltgesetzlichkeit verwiesen werden, insofern dieser in mathematischen Begriffen und Formeln ausdrückbar ist. Der innere gesetzmäßige Zusammenhang der mathematischen Formeln wird inner-halb des Bewusstseins gewonnen und dann auf die empirischen Tatbestände angewendet. Nun ist kein auffindbarer Unterschied zwischen dem, was im Be-wusstsein als mathematischer Begriff lebt, wenn dieses Bewusstsein seinen Inhalt auf einen empirischen Tatbestand bezieht; oder wenn es diesen mathematischen Begriff in rein mathematischem abgezogenen Denken sich vergegenwärtigt. Das heißt aber doch nichts anderes als: das Ich steht mit seiner mathematischen Vor-stellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das ‹Ich› erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ‹von außen› ge-ben lässt; sondern wenn man das ‹Ich› in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch

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dieorganischeLeibestätigkeitzurückspiegelt.Hatmansicheinmalfürdasma-thematischeDenkenmitdemGedankenvertrautgemacht,dassdas ‹Ich›nichtimLeibeist,sondernaußerhalbdesselbenunddieorganischeLeibestätigkeitnurdenlebendigenSpiegelvorstellt,ausdemdasimTranszendentenliegendeLebendes‹Ich›gespiegeltwird,sokannmandiesenGedankenaucherkenntnistheore-tischbegreiflichfindenfüralles,wasimBewusstseinshorizonteauftritt.−Undman könnte dann nicht mehr sagen, das ‹Ich› müsse sich selbst überspringen,wennes indasTranszendentegelangenwollte; sondernmanmüsste einsehen,dasssichdergewöhnlicheempirischeBewusstseinsinhaltzudemvommensch-lichenWesenskernwahrhaft innerlichdurchlebten,wiedasSpiegelbildsichzudemWesendessenverhält,dersichindemSpiegelbeschaut.»13

Der «vom menschlichen Wesenskern wahrhaft innerlich durchlebte» Be-wusstseinsinhalt ist das Bewusstsein eines Wesens, das in «Anthroposophie»nochalsein«hypothetischesWesen»bezeichnetwird.Es istdasumgestülptebzw.makrokosmischehöhereIch,dassich imgewöhnlichenempirischenTa-gesbewusstseinspiegelt.DassessichhierbeiletztlichnurumverschiedeneSei-tendesgleichenIchhandelt,zeigtdieTranszendenzmathematischerBeschäfti-gung.Das«Ich»inderGesetzmäßigkeitderDinge,inderWeltalshöheresIchwiederfinden:dasistKernthemaeinerAnthroposophie,diebisheutenichtzuEndegeschriebenwurde.

Anthroposophie zwischen Theosophie und Anthropologie

SoistdasWirkenRudolfSteinersimJahre1910engumrahmtvonderFertig-stellung der «Geheimwissenschaft im Umriß» und der Anmeldung zum Phi-losophen-Kongress inBologna. IneinemVortragvom25.August1918weisteraufeineandereWeiseaufdieBeziehungderSinnesweltzudenErlebnissen

13GA35,S.138ff.

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des transzendenten IchunddesgesamtenWelt-Gedächtnisseshin.Hierwür-densichverschiedene«EinsichtenindieMenschenwesenheitkreuzen».Bevorerdasausführte,wünschteersich,«wennfürdieseschwierigenErörterungennicht nur ein gewisses Über-sich-Ergehen-Lassen waltete, sondern wenn ge-radefürdieseschwierigenDinge−weildasdergegenwärtigenMenschheitsonotwendigwäre−einbisschenEnthusiasmus,einbisschentemperamentvollesEingehenaufzubringenwäre,wasjaineinerGesellschaftderheutigenZeitsounendlich schwierig ist». Dann schildert er, wie man seine Sinne nach außenrichtet. «Da finden Sie durch Ihre Sinne die Außenwelt als eine sinnenfälligeausgebreitet.[…]NunfolgtdieschwierigeVorstellung,aufdieichaberschonkommen muss. Alles das, was Sie da anschauen, zeigt sich Ihnen von innen.DenkenSiesich,dassdasaucheineAußenseitehabenmuss.Nun, ichwillesschematischdadurchvor IhreSeele rufen,dass ichsage:WennSie sohinaus-schauen, sehenSie alsGrenze IhresSchauensdasFirmament […].Aber jetztdenkenSiesich,Siekönntenflugsdahinausfliegenundkönntendadurchfliegenund von der andern Seite gucken, Ihre sinnenfälligen Eindrücke von der an-dernSeiteangucken.[…]Siewürdenalsodas,wassichIhnenalsFarbezuwen-det,vonderRückseitebetrachten,das,wassichIhnenalsTonzuwendet,vonderRückseitebetrachtenundsoweiter;wassichIhnenalsGeruchzuwendet,würdenSievonderRückseitebetrachten,SiewürdenvonderRückseitedenGeruchindieNasefassen.AlsovonderandernSeitedenkenSiesichdieWelt-betrachtung:wieeinenTeppichausgebreitetdiesinnenfälligenDinge,undnundenTeppichvonderandernSeiteeinmalangesehen.[…]Indiesem,wasmanda[…]sehenwürde,steckterstensallesdasdrin,waserlebtwerdenkannzwischendem Tod und einer neuen Geburt, zweitens alles das, was beschrieben ist inder‚GeheimwissenschaftimUmriss’alsSaturn-,Sonnen-,Monden-,Erdenent-wicklungundsoweiter.Dasjenigeliegtdaaufgespeichert,wasebenverborgenistfürdiesinnenfälligeAnschauung.»14

14GA183,S.84–86.

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Auf erste Sicht mag die «Geheimwissenschaft im Umriß» nicht sehr ver-wandt mit der unvollendeten «Anthroposophie» erscheinen: Saturn-, Sonne und Mondzustände werden dort nicht erwähnt. Kommt man aber zu der Einsicht, dass planetarische Inkarnationszustände der Erde nicht nur (vor)-historisch als Abfolge zu denken sind, sondern auch aktuell als verschiedene Schichten des Seins, ist der Bezug zu den in «Anthroposophie» und den entsprechenden Notizbüchern vorkommenden höheren geistigen Welt, niederen geistigen Welt, astralen und physischen Welt ersichtlich. Entsprechen diese Welten nicht dem Saturn-, Sonne, Mond- und Erdenzustand? Die Sinne als Bezug zur physischen Welt schaffende Organe stehen an erster Stelle (Saturn). Dann kommen die Lebensvorgänge, die aber diesen Bezug zur Welt voraussetzen müssen. Hier-zu heißt es im Kapitel «Die Lebensvorgänge» des Fragments: «Vor der Anla-ge zum Atmungsorgan braucht keine andere zu liegen; es wächst den inneren Gestaltungskräften gemäß. Das Gehörorgan jedoch muss einer schon beste-henden Anlage entgegenwachsen. […] Damit zeigt sich, dass die Kräfte, welche das Gehörorgan zum Sinneswerkzeug bilden, einer Welt angehören, welche die ursprünglichere oder höhere gegenüber der anderen ist, in welcher die Kräfte liegen, welche als solche sich offenbaren, die vom Leibe heraus sowohl Gehör-organ wie Atmungsorgan bilden.»15 Leben ist die zweite Stufe, nämlich Sonnen-entwicklung. Dann kommt der astralische Mensch auf der Stufe der Monden-entwicklung. Somit dürften bereits die «Anthroposophie»-Vorträge von 1909 letztlich einen etwas anderen (und spezifischen) Blick in einen geistigen Bereich werfen, der sehr eng, ja bezüglich des Menschen in seiner Gestaltung sogar zen-tral mit der Geheimwissenschaft zusammenhängt.

Anthroposophie zwischen Theosophie und Anthropologie: aus dieser Per-spektive steht die Geheimwissenschaft zunächst einmal auf der Seite der The-osophie. «Anthroposophie wird den Menschen betrachten, wie er sich vor die physische Beobachtung hinstellt. Doch wird sie die Beobachtungen so pflegen, 15 GA 40, S. 51.

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dassausderphysischenTatsachederHinweisaufeinengeistigenHintergrundgesuchtwird.SokannAnthroposophieausderAnthropologieindieTheoso-phiehinüberleiten.»SodervorletzteAbsatzdeserstenKapitelsder«Anthropo-sophie».SchautmannichtvondergeistigenWeltausinRichtungMenschwer-dung(wieesSteinerinder«GeheimwissenschaftimUmriß»tat),sondernvomgegenwärtigenphysischenMenschenausinRichtungWeltwerdung,entstehtdie«Anthroposophie»desJahres1910,gewissermaßenals«Geheimwissenschaft»mitverändertenVorzeichen.AuchdassteckthintereinerAnthroposophie,dienochnichtzuEndegeschriebenwurde.

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Detlef Hardorp
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