Rüdiger Offergeld: Kundry weint

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Der Direktor des Richard-Wagner-Nationalarchivs stirbt urplötzlich während der Festspiele. War es Mord oder Suizid? In Bayreuth rumort es. Der Kriminalpsychologe Dall´Armi steht der Bayreuther Polizei beratend zur Seite. Seine Ermittlungen führen ihn in mysteriöse Wagnerwelten, in die Wahnwelt vom Heiligen Gral und seinem Mythos von ewiger Jugend und Schönheit – und direkt in die dunkle deutsche Vergangenheit.

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R üdiger Offergeld, 1941 in Gelsenkirchen geboren, studierte Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften in Paris und München. Er

hat als Autor des Bayerischen Rundfunks mehrere Hörspielfeatures über den »Mythos Bayreuth« produziert. Im Herbst 2012 erschien »Kundry weint« in englischer Sprache unter dem Titel »Hitler’s Parsifal«. Rüdiger Offergeld ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Er lebt in Stock-dorf bei München und Gargnano / Italien.

www.ruediger-offergeld.de www.hitlersparsifal.com

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Rüdiger Offergeld

Kundry weintKriminalroman

Allitera Verlag

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

4. Auflage, April 2013 Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2005 Allitera VerlagUmschlaggestaltung: Heidi Keller, MünchenPrinted in Germany · isbn 978-3-86906-510-6

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Für Lieselotte und Beryl

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Irgendwann sitzen wir alle in Bayreuth zusammen und begreifen gar nicht mehr, wie man es anderswo aushalten konnte.

Friedrich Nietzsche

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1. Kapitel

D er Tod der schwarzen Schwäne – ihnen waren in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai von einem unbekannten Täter brutal die Häl-

se durchschnitten worden – hatte in der Bayreuther Öffentlichkeit für mehr Unruhe gesorgt als der Mord am Direktor des Richard-Wagner-Nationalarchivs, Dr. Siegfried Sörgel, drei Tage später. Eingefleischte Wagnerianer vermuteten in dieser frevelhaften Tat einen symbolischen Anschlag auf das Werk Richard Wagners, womit sie, wie sich wenig spä-ter herausstellen sollte, auch nicht ganz Unrecht hatten. Die schwarzen Schwäne waren erst am 22. Mai dieses Jahres auf besondere Veranlassung des Leiters der Festspiele, Dr. Karl Friedrich Wertheim, vom Städtischen Gartenamt im Teich des Hofgartens ausgesetzt worden. Sie sollten an das Geschenk König Ludwigs II. an Richard Wagner zu dessen 69. Geburts-tag des gleichen Tages erinnern.

Die Eheleute Wagner waren damals über das beziehungsreiche Geschenk hoch erfreut: »Die Amseln erfreuen uns, und die Schwäne geben eine völlige Poesie«, schrieb Cosima Wagner in ihr Tagebuch und hielt so dieses Ereignis für die Ewigkeit fest. Richard Wagner war mitten in der Arbeit am Parsifal. Er würde ihn wenige Monate später, am 13. Januar 1882, vollenden. Dass er die beiden Prachtexemplare von Schwänen auf die Namen »Parsifal« und »Kundry« taufte, lag deshalb nahe. Sensible Wagnernaturen waren schon immer davon überzeugt, dass der wahnsinnige König den nahen Tod seines Freundes geahnt hat-te und mit diesem Geschenk die rasche Vollendung des Bühnenweih-festspiels, das er sehnsüchtig erwartete, anmahnen wollte. Am 13. Feb-ruar des folgenden Jahres war Richard Wagner tatsächlich im Palazzo Vendramin in Venedig an Herzversagen gestorben.

Selbstverständlich hatten die Tageszeitungen in ihren Montagsausga-ben an diesen interessanten historischen Zusammenhang erinnert. Aber gab es über den zeitlichen Zusammenhang hinaus auch einen ursäch-lichen? Darüber war in der Presse breit spekuliert worden. Es waren zunächst nur Vermutungen. Konkrete Anhaltspunkte gab es ja nicht. Auch die Polizei, die in beiden Fällen sofort ihre Ermittlungen aufge-nommen hatte, konnte zwischen den beiden Vorgängen keine innere Beziehung feststellen. Der Zeitpunkt sei auch noch zu früh, hatte es in einer schnell herausgegebenen Presseerklärung am Dienstag danach geheißen. Polizeirat Eichelsdörfer hatte jedoch schnelle Aufklärung versprochen. Die Pressesprecherin der Festspielleitung, Helen Bürkel, hatte noch am selben Tag dementiert und von einer absolut zufälligen

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Koinzidenz der Ereignisse gesprochen. Nichts anderes war auch erwar-tet worden. Bürkel hatte hierzu eventuell auftauchenden Gerüchten von vornherein entgegentreten wollen. In den folgenden Tagen waren solche Gerüchte auch tatsächlich aufgetreten. Sie hatten sich allerdings nicht auf die Frage bezogen, ob es eine wie auch immer geartete Verknüpfung zwischen den beiden Ereignissen geben könnte, sondern hatten behaup-tet, dass der- oder dieselben Täter, die die schwarzen Schwäne ermor-det hatten, auch für den Tod Direktor Sörgels verantwortlich waren. Diese Gerüchte sollten in den nächsten Wochen nicht verstummen, im Gegenteil, sie wurden immer lauter. In Bayreuth rumorte es.

Die versprochene schnelle Aufklärung erfolgte nicht. Dafür war etwas anderes ans Tageslicht gekommen, etwas sehr Merk-

würdiges. Etwas, das nur intimen Bayreuthkennern begreiflich war. In der Stadt waren schwarze Federn aufgetaucht, die zweifelsfrei von den beiden toten Schwänen stammten. Einige Damen hatten sie bei der eine Woche später stattfindenden Beerdigung Sörgels als Zeichen ihrer Trauer getragen, angeheftet an Kostümen und Kleidern. Der Journa-list An dré Beck hatte darüber im »Nordbayerischen Kurier« in seiner Kolumne »Festspiele aktuell« berichtet. Der Artikel hatte einen kleinen Skandal ausgelöst.

Beck hatte herausgefunden, dass einige Bedienstete des Städtischen Gartenamtes, die mit der Entsorgung der Schwanenkadaver beauftragt waren, diesen zuvor die Federn ausgerupft hatten, um sie dann – zu einem bemerkenswert guten Preis – an Reliquienjäger zu verkaufen. Das war aber nicht Anlass des Skandals, sondern nur eine geschmack-lose Arabeske, von denen es im Bayreuth zur Festspielzeit viele gibt. Über derlei Dinge regt man sich in der Stadt auch nicht besonders auf. Dass aber im Polizeibericht über den Tod Sörgels bewusst Tatsachen verschwiegen wurden, darüber regte man sich sehr wohl auf. Beck hatte von einem Informanten aus dem Bayreuther Polizeiapparat in Erfahrung gebracht, dass in der Hand des toten Sörgel eine schwarze Schwanenfeder gefunden worden war, die, was die labortechnischen Untersuchungen zweifelsfrei ergeben hatten, von einem der beiden getöteten Tiere stammte. Diese Feststellung war zunächst im Polizei-bericht aufgenommen, später aber wieder getilgt worden. Fragen, die in der Öffentlichkeit sofort gestellt wurden, waren: Wer hat dem Toten die Feder in die Hand gelegt? Wer konnte so etwas Pietätloses getan haben? War/waren es der/die Täter? Waren Dritte beteiligt? Wer hat-te Zugang zum Tresorraum des Archivs im Keller des Hauses Wahn-fried, wo der Tote gefunden worden war? Wer hatte veranlasst, dass der Polizeibericht korrigiert wurde? Fragen, aber keine Antworten. Die Polizei schwieg. Der zuständige Minister schwieg. Die Festspiel-leitung schwieg.

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Der Fall »Sörgel / Wahnfried« drohte nicht nur großen Schaden für den internationalen Ruf der Bayreuther Festspiele anzurichten, sondern auch noch politisch außer Kontrolle zu geraten. Das aber wollte die bayerische Staatsregierung unbedingt verhindern. Bayreuth hatte zwar jedes Jahr seinen Skandal – für den die Verantwortlichen der Festspiel-leitung auch immer dankbar waren –, aber in diesem Jahr war alles ganz anders. Die heimliche Freude über kostenlose Publizität wollte nicht mehr aufkommen.

Viele fragten sich, was genau André Beck wusste. Es war nämlich, zusätzlich zu den Schlampereien im Polizeiapparat, der Verdacht auf-gekommen, dass die von den Behörden plötzlich in Umlauf gebrachte Suizidthese nicht zutreffe und man eher von einem Mord sprechen müs-se. Mord in der Villa Wahnfried! Unglaublich! War es Beck, der diesen Verdacht gestreut hatte?

Vieles kam plötzlich zusammen. Einen Tag nach der Pressekonferenz in Wahnfried am Montag, den 26. Juni, war der Wagen des jungen italie-nischen Opernregisseurs Enrico Giraldi, den er auf dem Parkplatz hin-ter dem Festspielhaus abgestellt hatte, mit Hakenkreuzen beschmiert worden. In einem anonymen Brief war ihm der Tod angedroht worden. Giraldi hatte auf dieser Pressekonferenz sein Konzept für den diesjäh-rigen Parsifal vorgestellt und war damit in konservativen Wagnerkreisen auf heftige Kritik gestoßen. Beck hatte ausführlich darüber berichtet. Giraldi beabsichtigte eine Neuinterpretation des großen Bühnenweih-festspiels. Darin sollte die große Liebe der Jüdin Kundry zum deutschen Helden Parsifal nicht mehr zum Scheitern verurteilt sein. Mehr wollte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Giraldi hatte mit seinen Äu-ßerungen in der Wagnergemeinde für große Unruhe gesorgt. Viele fragten sich, warum Wertheim, der starke Mann der Festspielleitung, einen Künstler nach Bayreuth geholt hatte, der in dieser Weise die Wag-nergemeinde provozierte. Niemand verstand das wirklich.

Die Atmosphäre in Bayreuth war in diesen Tagen sehr angespannt. Der bayerische Ministerpräsident sah sich veranlasst einzugreifen. Als Mit-glied im Stiftungsrat der Festspiele trug er eine besondere Verantwortung. Zu viel stand auf dem Spiel. Er beauftragte seinen Innenminister Aloys Mayr, sich der Sache anzunehmen. Noch am gleichen Montag rief der Dr. Firmian von Dall’Armi an. Er bat den über die Grenzen Bayerns hinaus bekannten Kriminalpsychologen, der Bayreuther Polizei in der Sache Sör-gel beratend zur Seite zu stehen.

Dall’Armi zögerte mit seiner Zustimmung. Er erbat sich einen Tag Bedenkzeit. Ob er denn der richtige Mann sei für diese Aufgabe, fragte er den Minister. Ja. Ja. Für ihn sei er der richtige Mann. Er kenne nie-manden, der sie besser erledigen könne als er. Das waren Schmeichelei-

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en. Balsam für sein Ego. Aber Dall’Armi zögerte dennoch. Das Vertrau-en des Ministers gründete auf dem guten Ruf, den sich Dall’Armi als Experte für kriminelle Verhaltensforschung und Verbrechenspsycholo-gie in der Forensischen Psychologie erworben hatte. Seine wissenschaft-lichen Arbeiten zur Aufklärung von Sexualverbrechen fanden nicht nur in Fachkreisen allgemeine Anerkennung. Die Aufgabenstellung in Bay-reuth war für ihn neu. Selbst wenn es im Falle Sörgel Mord gewesen sein sollte, hatte er es mit völlig anderen Motivstrukturen zu tun als die, die er bisher gewohnt war zu analysieren. Die Aufgabe reizte ihn dennoch. Vielleicht auch deshalb, weil sie so neu für ihn war und einmal nichts mit den Scheußlichkeiten von Sexualstraftaten zu tun hatte.

Zwei weitere Gründe hatte Dall’Armi für sein Zögern. Einmal wollte er seine Studenten nicht im Stich lassen, seine Vorlesungen in der Uni-versität nicht mitten im Semester abbrechen. Zum anderen hatte er »mit Wagner nicht viel am Hut«, wie er sagen würde. Ihn hatte das Thema Bayreuth nie wirklich interessiert.

Unangenehme Erinnerungen stellten sich beim Stichwort »Wagner« ein. Auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Von seinen Eltern hat-te er in seiner Jugend nie etwas Kritisches über das Thema Bayreuth gehört. Diskussionen darüber endeten fast immer mit dem Satz des Vaters: »Hör auf mit deinem intellektualistischen Gerede. Du verstehst nichts von deutscher Geschichte.« Einmal war der Widerspruch sogar mit einer Ohrfeige geahndet worden. Und zur Mutter gewandt die Fra-ge mit Vorwurfsmiene: »Woher hat er das nur? Von mir nicht.«

Von irgendeinem Zeitpunkt an wurde im Hause Dall’Armi überhaupt nicht mehr über kontroverse Dinge geredet. »Es hat ja doch keinen Zweck.« Auch Ohrfeigen gab es keine mehr.

Wagner gehörte zur bürgerlichen Welt seiner Eltern wie Beetho-ven, Bismarck und der Papst. Papst und Parsifal. Rom und Montsalvat. Das waren die beiden Lieblingsthemen des Vaters. »Parsifal. Die große christliche Mitleidsoper!« Jahr für Jahr, während der Festspielmonate, hatte Dall’Armi die rituellen Rettungsversuche »des deutschen Kom-ponisten Wagner« erlebt. Ihm waren sie mit der Zeit ziemlich auf die Nerven gegangen. Er hatte so etwas wie Scham für seine Eltern emp-funden. Aber das war ihm erst viel später bewusst geworden. Seine Mut-ter hatte beglückt vom Seelenzauber der Musik geschwärmt. Hatte aber nie gesagt, um Streit zu vermeiden, welche Musik sie meinte. Jedenfalls nicht die des Parsifal. Sie hatte wohl eher an Mozart gedacht. Weniger sentimental der Vater. Für ihn war Musik keine Himmelsmacht. Er hat-te es ausdrücklich abgelehnt, sich von Musik verführen und berauschen zu lassen. »Musik, das ist für mich etwas durch und durch Geistiges«, hörte ihn Dall’Armi heute noch sprechen. Oder: »Musik ist die Univer-salsprache der Welt.« Diesem Satz hatte Vater Dall’Armi, nicht ohne ein

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Stück Genugtuung in seine Stimme zu packen, erläuternd hinzugefügt: »Die Sprache der Musik ist nun mal Deutsch.«

Da war kein Raum, auch über die antisemitischen Giftstoffe zu spre-chen, die sich wie Larven in Wagners Musiksprache eingenistet hatten. Bis heute nicht. Nichts hatte seinen Glauben an Wagner erschüttern können. Aber auch gar nichts: Der Satz »Wagners und Hitlers Bayreuth ist eine unglückliche Koinzidenz der Geschichte« wurde neutralisiert durch die Gegenfrage: »Was kann Wagner dafür, wenn ein Hitler sich in seine Musik vernarrt hat?« Natürlich nichts. Immer dieselben Sprach-spiele. Wagners Antisemitismus kein Einzelfall. Haben nicht damals alle so gedacht? Alles nur Marotten eines Genies? Darf ein Genie nicht auch Marotten haben? Mutter hatte geschwiegen, wenn Vater seine Exkurse in die Historie machte. Sie hatte wohl auch keine Einwände gehabt. Bei-de waren von der Unschuld der Musik Wagners überzeugt.

Nach dem Gespräch mit Minister Mayr, noch am gleichen Diens-tag, hatte Dall’Armi seinen Studienfreund Beck in der Redaktion des »Kurier« angerufen. Dall’Armi hatte auf die Unterstützung seines alten Freundes gehofft. Ohne Becks Informationen über das intime Innen-leben der Stadt würde er in dieser Sache nicht viel ausrichten können. Darüber war er sich im Klaren.

Becks Stimme am Telefon. Er hatte sie schon länger nicht mehr gehört. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Fünf Jahre? Ja, ungefähr fünf Jahre sind es her. Eine lange Zeit. Seine Stimme war die gleiche geblie-ben. Leicht und immer gut gelaunt. Der fränkische Dialekt mit seinem gemächlich dahinrollenden »r«. Dall’Armi erinnerte sich gern daran. Er gab seinem Freund etwas Gemütliches, auch Behäbiges manchmal. Beck war gebürtiger Nürnberger. Seine Stimme passte gut zu seiner dickleibi-gen Figur. Sprache und äußere Erscheinung täuschten jedoch über sein wahres Temperament hinweg.

Erinnerungen stellten sich ein. Der runde Kraushaarkopf, der präch-tige Bart, die humorvoll dreinblickenden Augen, die knubbelige Nase. Beck hatte Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaft studiert. Was er immer schon konnte, war Schreiben. Er hatte die Studentenzeitung »Universitas« fast allein geschrieben und redigiert und war noch vor Abschluss seines Studiums als freier Reporter zur Münchner »Abend-zeitung« gegangen. Zwei Jahre später war er nach Bayreuth zum »Nord-bayerischen Kurier« in seine fränkische Heimat zurückgekehrt. Wie es ihm, Dall’Armi, in den vergangenen Jahren ergangen sei, wollte er wissen. Ob er noch mit Helga zusammen sei. Die Kinder, der Beruf … Und er, Beck selber? Dall’Armi wollte wissen, ob er noch mit Hanni zusammenlebe. Ob sie inzwischen verheiratet seien. Ob er noch Snoo-ker Billard spiele. Beck fragte nach Dall’Armis Vater. Ob er sich immer noch der besonderen Protektion des Münchner Kardinals erfreue.

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Es gab viel zu bereden.Zum Verdruss seines Vaters hatte Dall’Armi erst Medizin und dann

Psychologie studiert. Eigentlich hatte er Schauspieler werden wollen. Sein Vater, Kajetan von Dall’Armi, hätte es am liebsten gesehen, wenn sein Sohn, wie er, Jurist geworden wäre und im bayerischen Staatsdienst, wie er, Karriere gemacht hätte. Als Mitglied des »Kardinal-Faulhaber-Kreises« hatte er immer noch gute Kontakte bis in die Spitzen der baye-rischen Politik hinein. Ein Satz, den Dall’Armi oft zu hören bekommen hatte: »Du musst meine Verbindungen nur nutzen. Sie würden deiner Karriere nicht gerade schaden.« Dall’Armi hatte sie nicht genutzt. Sehr zum Leidwesen der Familie. Angesichts ihrer illustren Geschichte und der »historisch gewachsenen Verpflichtungen deinen Vorfahren gegen-über« (eine Lieblingsformulierung des Vaters) hatte er versagt. Diese waren Generäle seiner Majestät des bayerischen Königs gewesen. So lan-ge bis es, nach verlorenem Kriege, bayerische Könige nicht mehr gab. Ein harter Schlag für die Familie. Denn mit den Königen verschwanden auch Prestige und Privilegien. Die Dall’Armis wurden eine ganz norma-le bürgerliche Familie, die sich in Gesprächen bei Tisch sehr gern an ver-gangene Zeiten erinnerte. Beck hatte sich über diese monarchistischen Neigungen in der Familie Dall’Armi immer lustig gemacht.

Über Sörgel sprachen sie am Telefon nicht. Das habe Zeit, bis er in Bay-reuth sei, sagte Beck. Dafür aber sprachen sie sehr lange über Wagner und Bayreuth. Beck hatte bei diesem Thema immer schon weit weniger Berührungsängste gehabt als Dall’Armi. Für ihn war es ein Thema der deutschen Geschichte unter anderen. Dall’Armi dagegen hatte immer ein schlechtes Gewissen verspürt, wenn die Sprache auf Wagner kam. Auch Scham. Warum, darüber hatte er sich nie wirklich Rechenschaft abgelegt.

Am Donnerstag, den 29. Juni, morgens um sieben Uhr, saß Dall’Armi in seinem alten Peugeot-Kombi – das Fahrrad im Fond – und fuhr los. Dichter Verkehr auf der Autobahn. Nürnberg hatte er schon hinter sich gelassen. Am Horizont Quellwolken. Schauer am Nachmittag, sagte das Radio voraus. Wann kommt endlich der Sommer? Seine Tochter Luna wollte unbedingt einen Bikini. Aber das Wetter sei doch viel zu kalt zum Baden. Luna war es aber ganz egal, ob das Wetter gut oder schlecht war. Etwa eine Stunde noch bis Bayreuth. Dall’Armi hatte die Stimme des Ministers immer noch im Ohr. Sie war ihm erregt erschie-nen, bemerkenswert unsouverän, sogar unsicher. So kannte er ihn nicht. Warum seine Erregung? Aloys Mayr war ein alter Profi im politischen Geschäft. Ohne Angst im Umgang mit der Macht. Kühl. Berechnend. Entscheidungsfreudig. Warum jetzt seine Unsicherheit? Die Rede war von Morddrohungen gegen den italienischen Regisseur Enrico Giraldi

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und gegen eine amerikanische Journalistin namens Alma Rosen. Die Rede war von schwerem Geheimnisverrat. Keine besonders ungewöhn-lichen Vorkommnisse für einen Polizeiminister. Aber Anrufe des israe-lischen Botschafters beim Ministerpräsidenten? Das allerdings geschah nicht alle Tage. Alma Rosen war Jüdin. Sie musste Sörgel gut gekannt haben. Sie arbeitete bei ihm im Wagner-Archiv. Morddrohungen gegen eine Jüdin! In Bayreuth! Zur Festspielzeit! Das war zu viel des Guten. Dall’Armi konnte die Erregung des Ministers in diesem Punkt sehr gut verstehen. Wenn die Sache schief lief, wäre er sein Amt los.

»Ich will, dass wir so lange wie eben möglich an der Selbstmordthe-se festhalten«, hatte der Minister am Telefon gesagt. »Und finden Sie schnell heraus, wer Alma Rosen bedroht. Noch einen Skandal können wir uns in Bayreuth nicht leisten. Ich vertraue Ihnen, dass Sie das Rich-tige tun. Und denken Sie an Mrs. Rosen. Wir müssen sie um jeden Preis vor Unannehmlichkeiten schützen.«

»Sie sind Dr. von Dall’Armi?«, fragte Frau Hesse, die Sekretärin des Po-lizeirates Eichelsdörfer. Zuerst ihr prüfender Behördenblick. Dann der Gruß. Punkt elf Uhr hatte Dall’Armi die Direktion der Bayreuther Po-lizei betreten.

»Richtig, Dr. Dall’Armi.« »Treten Sie ein. Sie sind uns von hoher Stelle angekündigt.« Frau Hesse musterte ihren Gast von Kopf bis Fuß. So salopp geklei-

det – helles Jackett, offenes Hemd, zerbeulte Jeans, Turnschuhe – hatte sie den Gast nicht erwartet.

»Herr Polizeirat Eichelsdörfer erwartet Sie«, sagte sie leicht irritiert. Die Tür öffnete sich von innen. Ein Mann von beträchtlicher Leibes-

fülle stand im Türrahmen, ging mit forschem Schritt auf seinen Gast zu, ergriff mit beiden Händen dessen rechte Hand und schüttelte sie kräftig.

»Kommen Sie herein.« Seine Stimme war energiegeladen. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt. Schönes Wetter bringen Sie nicht gerade mit. Wo bleibt nur der Sommer? Das würde unsere Probleme in einem wär-meren Licht erscheinen lassen«, scherzte er. »Die letzten Wochen haben hier vieles verändert.«

Dall’Armi versuchte Eichelsdörfers Alter zu erraten. Vielleicht fünfund-fünfzig? Sechzig? Man sah ihm an, dass die Jahre über ihn hergefallen waren, schlaffe Gesichtszüge und einen kahlen Schädel hinterlassen hat-ten.

»Der Herr Innenminister Mayr hat mich gestern persönlich von Ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt. Das ging alles ziemlich schnell.« Seine Arme fuhren plötzlich aufgeregt in die Höhe. »Sie sind darüber informiert, was hier passiert ist? Schön und gut. Ich kann mir deshalb eine lange Vorrede

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sparen. Das will ich Ihnen gleich zu Beginn unserer Zusammenarbeit sagen: Wir lassen uns nicht beirren. Es war Selbstmord. Ganz klar. Es gibt überhaupt keinen Grund, unsere Ermittlungsergebnisse diesbezüg-lich in Zweifel zu ziehen. Sörgel hatte sich in den letzten Wochen und Monaten selbst in eine ausweglose Lage gebracht.«

Dall’Armi machte einen vorsichtigen Einwand. Er erwähnte den kor-rigierten Polizeibericht. Die schwarze Schwanenfeder in der Hand des Toten. Eichelsdörfer verzog das Gesicht.

»Sie sind aber schon sehr gut informiert.«»Ich habe mit Redakteur Beck vom ›Kurier‹ gesprochen. Wir kennen

uns vom Studium her.«»Ach so?« Eichelsdörfer schien diese Nachricht zu überraschen. »Sie

fragten nach der schwarzen Feder. Lassen wir den Toten in Frieden ruhen. Warum schlafende Hunde wecken?«

»Mich würde schon interessieren, wer das getan haben könnte«, sagte Dall’Armi.

»Mich auch. Aber ich weiß es nicht«, sagte Eichelsdörfer und fügte in ärgerlichem Tonfall hinzu: »Fragen Sie doch Ihren Freund Beck. Viel-leicht kann er es Ihnen sagen. Das sind doch Petitessen angesichts der Probleme, die vor uns stehen.«

Eichelsdörfer zog sich hinter seinen Schreibtisch, der frei von Akten war, zurück. Sein massiger Körper fiel wie ein Stein in den federnden Sessel. Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von seinem geröteten Gesicht. Über seinen Augen ein Schleier. Dall’Armi fragte sich, ob er getrunken hatte.

»Ich habe heute Nacht wieder kein Auge zugetan«, sagte Eichelsdörfer. »Die undichte Stelle im Apparat macht mir große Sorgen.«

Das konnte Dall’Armi sehr gut verstehen.»Wir haben trotzdem alles fest im Griff.« Die Stimme Eichelsdörfers schwoll jetzt zu vollem Volumen an. Es

wurde laut. Frau Hesse schloss die Tür. »Verzeihen Sie, dass ich so deutlich werde. Sörgel? Dieser Mann war

ein Psychopath. Wir haben den begründeten Verdacht, dass er die schwarzen Schwäne eigenhändig umgebracht hat.«

»Eigenhändig umgebracht? Das kann ich nicht glauben.« »Seine Sekretärin, Frau Wittmund, sprach bei ihrer Einvernehmung

von einem psychischen Zusammenbruch Sörgels drei Tage vor seinem Tod.«

Dall’Armi zog die Stirn in Falten. »Gibt es andere, plausiblere Gründe für einen solchen Zusammenbruch als das Töten von Schwänen?«

»Ja, die gibt es. Wertheim hatte vor drei Wochen definitiv beschlossen, ihn aus seinem Amt zu entfernen.«

»Warum? So schnell wirft man niemanden aus dem Amt.«

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Eichelsdörfer lief nervös um seinen Schreibtisch herum und stellte sich dicht vor ihn.

»Im Wagner-Archiv sind Dinge passiert, die einfach nicht hätten pas-sieren dürfen.«

»Was ist passiert?«»Es sind Briefdokumente von höchster historischer Brisanz aus dem

Tresor entnommen worden. Entweder wurden sie gestohlen oder Sörgel gab sie eigenhändig weiter.« Eichelsdörfer ruderte wild mit den Armen. »Wissen Sie überhaupt, was hier in der Festspielzeit los ist? Nein? Aber keine Sorge, wir haben hier alles im Griff.«

Er nahm einen Füllfederhalter in die Hand, drehte ihn nervös zwi-schen den Fingern, schraubte die Kappe auf, dann wieder zu. Ein kur-zes Klopfen an der Tür. Frau Hesse kam mit der Unterschriftenmappe he rein. Eichelsdörfer unterschrieb ein Schriftstück nach dem anderen.

»Darf ich rauchen?«, fragte Dall’Armi dazwischen. »Selbstverständlich«, sagte der Präsident ohne aufzuschauen. Frau

Hesse warf ihm einen missbilligenden Blick zu.Dall’Armi ging zum offenen Fenster und zündete sich eine Zigarette

an. Im Hof der Direktion herrschte hektische Betriebsamkeit. Das An- und Abfahren von Streifenwagen, Mannschaftsbussen, Panzerwagen. Dall’Armi rauchte mit kurzen, hastigen Zügen. Eichelsdörfer gab Frau Hesse die Unterschriftenmappe zurück und schraubte bedächtig den Füllfederhalter wieder zu.

»Das wäre erledigt. Danke. Und jetzt den Kaffee. Für Sie auch?« Dall’Armi nickte. Er hielt Eichelsdörfer seine Zigarettenschachtel hin. »Nein, danke«, antwortete der. »Ich bevorzuge das hier.« Eichelsdörfer entnahm einem Lederetui auf seinem Schreibtisch eine

Zigarre, befeuchtete mit der Zungenspitze das Mundstück und biss es ab.

»Eine Havanna. Die schmeckt.« Dall’Armi reichte ihm ein brennendes Streichholz. Nachdem Eichels-

dörfer genießerisch einige Züge gemacht hatte, sagte er mit der selbst-sicheren Stimme der Autorität: »Schön und gut. Es hilft ja nichts. Wir müssen den Problemen fest ins Auge sehen, Dr. von Dall’Armi. Von Dall’Armi? Schöner Name. Aber nicht bayerisch.«

Er lachte laut, zog wieder kräftig an seiner Zigarre und blies den Rauch gegen die Decke. Eichelsdörfer gab sich plötzlich entspannt.

»Italienisch?« »Meine Vorfahren stammen aus der Gegend um Verona. Standen

im Dienste der bayerischen Könige, 18., 19. Jahrhundert. Einer meiner Ur ururgroßväter gründete das Oktoberfest.«

»Tatsächlich?«»Die Familienchronik will es so.«

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»Die Wittelsbacher und Italien. War einmal. Schade. Aber Respekt vor ihren Vorfahren, Herr von Dall’Armi.«

»Dall’Armi genügt unter uns Bürgerlichen, Herr Polizeirat.«»Und Sie, Dall’Armi, lassen bitteschön den Polizeirat weg.«Im Grunde begrüße er das Hinzuziehen eines Polizeipsychologen bei

kritischen Suizidfällen, wenn es Zweifel gäbe. Aber nur dann! Eigentlich wollte er ihm sagen: Ein Psychologe ist überflüssig. Der Sachverhalt, der hier vorliegt, ist eindeutig. Stattdessen sprach er vom Minister, der ihm versichert habe, dass seine, Dall’Armis Beauftragung, ihn psychologisch zu beraten, eine rein vorbeugende Maßnahme sei. Im Umgang mit der Presse, das gab Eichelsdörfer zu, sei man nicht immer geschickt gewe-sen. Da könne psychologischer Beistand durchaus hilfreich sein. Er sei ein Mann der Fakten und – Dall’Armi möge den Ausdruck verzeihen – kein »Seelenklempner«.

»Ich habe noch einige Fragen.« Dall’Armi ignorierte diese Unhöflich-keit.

Eichelsdörfer legte die Zigarre auf einen Aschenbecher ab, lehnte sich in seinen Sessel zurück und verschränkte die Arme.

»Bitte, fragen Sie.«»Wer war zuerst am Unglücksort?«»Hausmeister Stretz.«»Wen hat er zuerst informiert?«»Dr. Wertheim, den Leiter der Festspiele.«»Warum ihn zuerst und nicht die Polizei? Warum nicht seine Frau?«»Warum so aggressiv?«»Verzeihen Sie, wenn Sie meine Fragen als aggressiv empfinden, Herr

Eichelsdörfer. Ich bin es nicht. Ich stelle nur einige Fragen, deren Beant-wortung mir die Tatortanalyse leichter macht.«

»Das hat etwas mit dem Charakter des Richard-Wagner-Nationalar-chivs zu tun.«

»Ich verstehe nicht.« Eichelsdörfer erklärte. Dieses Archiv sei eines der am besten geschütz-

ten Archive im Lande. Wagners gesamter Nachlass, Briefkorrespon-denzen, die Autographen, die Originalpartituren seiner Musikdramen, würden hier aufbewahrt. Diese Gegenstände würden von den Wagneri-anern wie Reliquien behandelt.

»Wertheim und Sörgel haben die Schlüsselgewalt.«»Und Sörgel ist tot.«»Ja, leider. Der Hausmeister ist angewiesen, zuerst ihn anzurufen, was

immer auch passiert in Wahnfried. Es ist deshalb schlüssig, dass Stretz Wertheim zuerst angerufen hat.«

»Wann wurde die Polizei benachrichtigt?« »Am Sonntag.«

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»Wann genau?«»Am späten Abend.«»Am 25. Mai also. Um wie viel Uhr?«»Gegen 19 Uhr.«»Dann lagen zwischen Tat und Information der Polizei vermutlich

mehr als zwölf Stunden.«»Ja, wenn man von einer Tatzeit in der Nacht von Samstag auf Sonntag

ausgeht.«»Wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt? Beim Hausmeister und

bei Wertheim zum Beispiel?«»Hausdurchsuchungen? Nein. Bei einem Suizid? Warum?«»Ob Suizid oder nicht konnte man zu diesem Zeitpunkt doch noch

gar nicht wissen.«»Die Todesursache wurde von Dr. Knieser, einem bekannten Bay-

reuther Arzt, festgestellt. Wertheim hat ihn nach Wahnfried gerufen. Der Totenschein befindet sich in den Akten. Aber das sind doch Peti-tessen.«

Eichelsdörfer legte den qualmenden, feuchten Zigarrenstumpen auf dem Aschenbecher ab.

Die Tür öffnete sich. Frau Hesse brachte den Kaffee. Eichelsdörfer kam hinter seinem Schreibtisch hervor, zeigte auf den runden Besucher-tisch.

»Setzen wir uns dorthin. Das ist gemütlicher.« Er zog seine grüne Lodenjacke aus, reichte sie der Sekretärin, die sie

in den Schrank hängte. »Milch und Zucker?« »Weder noch. Schwarz.« Dall’Armi wechselte das Thema.»Sie kennen Mrs. Rosen? Minister Mayr sprach von einer amerikani-

schen Journalistin, Jüdin, die Morddrohungen bekommen haben soll. Warum?«

»Ja, Rosen, Alma Rosen. Schwieriger Fall.« Eichelsdörfer saugte wie-der kräftig an seinem Zigarrenstumpen, um ihn vor dem Erlöschen zu retten. »Bei der Dame handelt es sich um eine amerikanische Journalis-tin, die im Wagner-Archiv Nachforschungen für eine Buchpublikation anstellt. Mit der ausdrücklichen Zustimmung von Sörgel. Manche Herr-schaften in der Stadt sehen es aber gar nicht gerne, wenn sich Journalis-ten als Wissenschaftler tarnen und in den Kellern von Wahnfried nach dort angeblich versteckten Leichen suchen.«

Eichelsdörfers Kopf war jetzt in dichten Zigarrenqualm gehüllt. Mit einigen hektischen Handbewegungen versuchte er, sich wieder einen klaren Blick zu verschaffen.

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»Leichen? Was für Leichen?«, fragte Dall’Armi.»Sie können naiv fragen. Die Hitlerbriefe. Die noch unveröffentlich-

ten Teile der Korrespondenz zwischen der Familie Wagner und Hitler. Für Bayreuth ein beunruhigendes Thema. Das ist doch alles sattsam bekannt«, sagte Eichelsdörfer mit der überlegenen Stimme des Wissen-den.

»Nicht alles. Einiges wird noch unter Verschluss gehalten.«»Wir vermuten, dass Sörgel der Rosen die Briefe zugänglich gemacht

hat. Die Befragung fand in ihrem Hotel statt. Deshalb halten wir sie auch für gefährdet. Eine Vorladung in die Direktion hatte sie jedoch strikt abgelehnt. Viel ist dabei nicht herausgekommen. Sie hat die Aus-sage verweigert. Für mein Empfinden hat diese Amerikanerin ein reich-lich arrogantes Auftreten.«

»Haben Sie mit Mrs. Rosen persönlich gesprochen?«»Nein. Wir haben sie aber auf die Risiken, die ihre Weigerung zur

Folge haben könnte, aufmerksam gemacht und ihr auf Veranlassung des Ministers Personenschutz angeboten. Doch vergeblich. Wir konnten sie nicht überzeugen. Sie wollte einfach nicht.«

»Und warum die Morddrohungen an Giraldi?«»Sie waren auf der Pressekonferenz?«»Nein. Ich habe aus der Presse davon erfahren.«»Dann wissen Sie, worum es geht. Das war eine bewusste Provoka-

tion!«»Mit Zustimmung Wertheims und der Festspielleitung, was mich ver-

wundert.«»Verstehen Sie das?«, fragte Eichelsdörfer etwas unsicher.»Nein, das verstehe ich nicht. Vielleicht ein Werbetrick, um die Fest-

spiele wieder einmal in die Schlagzeilen zu bringen.« »Ja, das wäre nicht das erste Mal«, stimmte Eichelsdörfer zu.»Was ich auch nicht verstehe. Warum hat Mrs. Rosen den von Ihnen

angebotenen Personenschutz abgelehnt?«, fragte ihn Dall’Armi und be ob achtete gleichzeitig, wie eine Fliege über den Goldrand von Eichels-dörfers Kaffeetasse lief. Eichelsdörfer versuchte, sie mit einer ärgerlichen Handbewegung zu verscheuchen.

»Warum?« Eichelsdörfer zuckte mit den Schultern. »Sie lehnt jede Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei ab«, sagte er in einem unge-duldigen Tonfall. »Bayreuth verlassen will sie aber auch nicht. Das haben wir ihr dringend geraten. Ich frage mich, was diese Dame eigentlich noch in Bayreuth hält? Wir können sie ja nicht Tag und Nacht bewa-chen, wenn sie das nicht will.«

Die Fliege kehrte nach zwei surrenden Umdrehungen im Raum an ihren Ursprungsort zurück. Wieder Eichelsdörfers Handbewegung.

»Allein schon wegen dieser Dame bin ich sehr froh, dass Sie uns

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geschickt worden sind. Sie müssen mit ihr sprechen. Stellen Sie sich vor: Mord an einer amerikanischen Jüdin! Das ist das Letzte, was wir hier in Bayreuth gebrauchen können!«

»Haben Sie ein Foto von Mrs. Rosen? Ich wüsste gern, wie sie aus-sieht.«

Nein. Eichelsdörfer hatte kein Foto. Dall’Armi fiel die Fotogalerie an der Wand auf: Eichelsdörfer mit dem

bayerischen Ministerpräsidenten, Hände schüttelnd, Eichelsdörfer vor einer Polizeikapelle, dirigierend, Eichelsdörfer mit einer Königlichen Hoheit auf dem Balkon des Festspielhauses, winkend. Das Foto hing leicht schief. Mit einem Fingerstups rückte er es gerade. Eichelsdörfer beobachtete ihn dabei.

»Sie lieben offenbar keine schiefen Sachen.«»Das ist meine Zwanghaftigkeit.« Eichelsdörfer lächelte verständnisvoll und rollte wieder seinen Füllfe-

derhalter zwischen den Fingern. »Gibt es neben Frau Rosen noch andere Personen, die in der letzten

Zeit engen Kontakt zu Dr. Sörgel hatten?« »Ja. Eine gewisse Dr. Senta Hahn, Historikerin aus München. Frau

Hahn ist eine von den Personen, die wir hier gar nicht schätzen. Sie hat der Sache Bayreuths durch ihre verleumdnerischen Publikationen erheblichen Schaden zugefügt. Wir wissen, dass sie schon seit langem engen Kontakt mit Sörgel pflegte. Von welcher Qualität diese Kontakte waren, kann ich Ihnen nicht sagen. Das eine wissen wir, sie will nichts anderes als die Rosen, die Hitler-Wahnfried-Briefe. Sie und Alma Rosen waren die letzten Personen, die Sörgel lebend gesehen haben, wenn wir seinem Terminkalender Glauben schenken können. Frau Wittmund, die Sekretärin Sörgels, hat uns das bestätigt.«

Eichelsdörfer nahm eine neue Zigarre aus der Kiste. Wieder dasselbe Ritual. Anfeuchten. Abbeißen. Anzünden.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Dall’Armi.»Wir wissen nicht, wie die beiden über die reinen Arbeitskontakte

hinaus ihr Verhältnis sonst noch gestaltet haben. Lassen Sie Ihrer Fanta-sie ruhig freien Lauf.«

Eichelsdörfer saugte an der Zigarre und zog dabei vieldeutig die Augenbrauen hoch.

»Das verstehe ich nicht. Das müssen Sie mir erklären.« Dall’Armi zün-dete sich eine Zigarette an. Wieder umkreiste die Fliege den Kaffee Eichelsdörfers. Dieser schob die Tasse missmutig von sich.

»Lästig, diese Fliege«, sagte er unwirsch.»Kennen Sie denn Frau Hahn persönlich?««Nein. Nein.«»Haben Sie schon einmal etwas von ihr gelesen?«

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»Nein. Dafür habe ich keine Zeit. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Ich lasse mir, wenn erforderlich, berichten. Meine Quellen sind verläss-lich.«

»Sie sagen, dass die Kontakte Sörgels zu Frau Hahn möglicherweise persönlicher Natur waren.«

Eichelsdörfer drehte die Zigarre genüsslich zwischen seinen Lippen.»Wir vermuten das. Sie sind in den letzten Monaten häufiger zusam-

men in der Öffentlichkeit gesehen worden.« Dall’Armi stand auf und ging zum Fenster.»Vielleicht wird’s doch noch was mit dem Sommer in diesem Jahr.

Jetzt kommt zumindest endlich die Sonne raus.« »Mit ihr leider auch die Fliegen«, sagte Eichelsdörfer und fuchtelte

wieder mit der Hand in der Luft.»Soll ich das Fenster wieder zumachen?«»Nein. Nein. Mit ein paar Fliegen werde ich schon fertig.« Eichelsdörfer lachte und fuhr mit ernster Stimme fort: »Ich sollte Sie

noch darüber informieren, dass Gral und Speer, kostbare Reliquien der Parsifal-Uraufführung, die wir gerade erst auf einer Auktion in London zurückgekauft haben, sich nicht mehr im Tresor von Wahnfried befin-den. Sie können das aber auch alles in den Akten lesen.«

»Heißt das, dass sie gestohlen wurden?«»Das könnte es heißen.« »Haben Sie einen Verdacht?«»Ja, durchaus.«»Reliquien? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Interesse da ran

haben könnte, Requisiten zu stehlen. Die Hitler-Wahnfried-Briefe schon eher.«

»Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Kollege. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Wagnerverrückte gibt, die sich nur allzu gern mit Reliquien des Meisters umgeben. Es gibt nicht wenige, die fest daran glauben, dass sie wahre Wunderdinge bewirken.«

»Was zählen Sie zu den Reliquien? Auch schwarze Schwanenfedern?« Eichelsdörfer machte eine gequälte Miene.»Alles, worauf der Meister je sein Auge geworfen hat.«Besonders begehrt seien die Requisiten aus den Uraufführungen der

Musikdramen Wagners. Beim Sprechen immer mal wieder der kriti-sche Blick auf die Zigarre. Die Glut war jetzt plötzlich erloschen. Auch Eichelsdörfers kräftiges Saugen konnte sie nicht mehr anfachen. Verär-gert drückte er den nassen, schwarzen Stummel in den Aschenbecher.

»Wissen Sie, mit welchen Personen Sörgel kurz vor seinem Tode noch Kontakt hatte?«

»Mit den Frauen Rosen und Hahn.« Eichelsdörfer konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Vielleicht auch mit seiner eigenen.«

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»Ist das besonders erwähnenswert?«»Ich sage das, weil die Sörgels nach unseren Erkenntnissen so etwas

wie eine offene Ehe führten. Aber das ist vielleicht auch nicht so wichtig für uns. Wichtig für uns ist, dass Sörgel noch am Freitag, den 23. Mai, vormittags Besprechungen mit der Hahn und mit der Rosen hatte. Das geht aus seinem Terminkalender hervor.«

»Hatten die beiden Damen Zugang zum Tresor?«»Von der Rosen wissen wir sicher, dass Sörgel ihr Zugang zum Tresor

von Wahnfried verschafft hat. Auch Rosalie Wittmund, seine Sekretä-rin, bestätigte diesen Sachverhalt in ihrer Aussage. Man geht auf dem Grünen Hügel davon aus, dass sie sich Kopien von den Briefen gemacht hat. Ich kann die Empörung bei den Wagnerianern gut verstehen. Das sind nun wirklich keine Petitessen.«

»Was können Sie mir Näheres über Rosalie Wittmund erzählen?«»Über die Wittmund? Eine bemerkenswerte Person. Rosalie Witt-

mund war vom ersten Tag an Sörgels Sekretärin. Er hatte sie aus Mün-chen mitgebracht. Siegfried Sörgel war, bevor er nach Bayreuth kam, ein junger Professor für Literatur- und Theaterwissenschaften an der Lud-wig-Maximilians-Universität. Schon dort war sie seine Mitarbeiterin. Bei der Bewerbung um das Direktorat des Wagner-Archivs hatte er sich gegenüber mehr als dreißig Bewerbern durchgesetzt. Er verfügte schon damals über ausgezeichnete Kontakte zur Wagnerwelt.« Eichelsdörfer bereitete eine weitere Zigarre vor und fuhr fort. »Frau Wittmund gilt als eine sehr fähige Person. Für ihre resolute Art wird sie gefürchtet. Sie versteht sich sehr gut mit Wertheim. Sie hat einigen Einfluss auf dem Grünen Hügel. Ist immer sehr gut informiert. Wer im Sekretariat des Archivs sitzt, weiß, was dort vor sich geht.«

»Und ihr Verhältnis zu Sörgel?« Wieder ein ironisches Grinsen Eichelsdörfers. »So weit wir wissen, sehr gut.«»Wie gut kennt Rosalie Wittmund Mrs. Rosen?«»Sie kennt sie. Wie gut, das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sind sich

in den letzten Wochen fast täglich im Archiv begegnet. Das ist alles, was ich darüber weiß.«

»Und Frau Dr. Hahn? Hatte auch sie Einblick in die Dokumente?« »Wir vermuten es. Mit Bestimmtheit wissen wir es aber nicht.«»Glauben Sie, dass die beiden Damen ein ebenso starkes Interesse für

Gral, Speer oder andere wagnerianische Reliquien haben wie für den Briefwechsel Hitler-Wahnfried?«

»Nein. Beide interessieren sich nur für das, was sie veröffentlichen können«, sagte Eichelsdörfer abschätzig.

»Daraus schließe ich, dass auch Frau Hahn im Besitze der Hitler-Wahnfried-Korrespondenz sein könnte.«

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»Wir können das nicht ausschließen.«»Ist Frau Hahn bisher von irgendeiner Seite belästigt worden?«»Nein, nicht das ich wüsste.«»Wer hat sonst noch Zugang zum Archiv?«Dall’Armi setzte sich wieder auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und

drückte die Zigarette aus. Er bat um ein Glas Wasser. Eichelsdörfer rief Frau Hesse. Sie steckte den Kopf durch die Tür und kam zurück mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern.

»Archiv und Bibliothek von Wahnfried stehen jedem offen«, sagte Eichelsdörfer. »Der Tresorraum dagegen ist für den allgemeinen Publi-kumsverkehr gesperrt. Wer aus wissenschaftlichen Gründen dort Zutritt haben will, benötigt eine besondere Genehmigung von Wertheim. Ich kann Ihnen versichern, Dall’Armi, dass diese nur an handverlesene Leu-te vergeben wurde.«

»An handverlesene Leute?« »Ja. Nur an absolut vertrauenswürdige Personen.«»Dann gehören nicht nur Mrs. Rosen, sondern auch Frau Hahn zu den

handverlesenen Leuten?«»Offensichtlich. Ich gebe zu, dass mich das bei diesen beiden Damen

verwundert.«Eichelsdörfer schaute auf die Uhr.Dall’Armi stand auf. »Ich will noch einen Blick in die Akten werfen.« »Die Mühe können Sie sich eigentlich sparen. Viel werden Sie darin

nicht finden. Das Wichtigste habe ich Ihnen schon gesagt. Wie ein Totenschein aussieht, wissen Sie ja. Aber wenn Sie unbedingt wollen, bitte schön.«

Dall’Armi verabschiedete sich von Eichelsdörfer mit einem Hände-druck über den Schreibtisch hinweg.

»Frau Hesse hat für Sie eine private Unterkunft gefunden. Sie haben Glück.« Die Hotels in Bayreuth seien alle restlos ausgebucht. Festspielzeit! Als Büro in der Direktion könne Dall’Armi vorübergehend das Zimmer eines Kollegen im Krankenstand benutzen. Frau Hesse stehe ihm selbst-verständlich jederzeit zur Verfügung. Ebenso ein Dienstwagen. Dall’Armi bedankte sich bei Eichelsdörfer. Reichte ihm noch einmal die Hand.

»Einen Dienstwagen werde ich kaum benötigen. Für die kurzen Wege in der Stadt bevorzuge ich mein Fahrrad.«

»Wie Sie wollen.« »Eine letzte Frage: Wo wohnt Mrs. Rosen?«»Im Hotel ›Goldener Anker‹, in der Opernstraße.«Frau Hesse kam ins Zimmer mit der Adresse der privaten Unterkunft

für Dall’Armi. »Sie wohnen bei einer Frau Blum, Isabel Blum, in der Monplaisirstra-

ße in St. Johannis.

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Ein großzügiges Anwesen. Sehr gute Wohngegend, direkt am Park der Eremitage. Sie können dort schöne Spaziergänge machen. Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen.«

»Für schöne Spaziergänge werde ich bestimmt keine Zeit haben«, wandte Dall’Armi ein.

Nach dem Gespräch mit Eichelsdörfer rief er mehrere Male im Hotel an. Alma Rosen war jedoch nicht zu erreichen.