Rundbrief 2-2000

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Rundbrief 2 2000 ISSN 0940-8665 36. Jahrg./ Dez. 2000, DM 7,50 Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT e.V.

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Vorwort von Renate Da Rin Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung Bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen von Birgit Weber und Eva-Maria Antz Bürgerschaftliches Engagement -Zentrales Anliegen oder Nebenschauplatz sozialer Arbeit? von Susanne Elsen Der Ehrenamtliche, das unbekannte Wesen von Jürgen Altmann Leitbild - Bürgerorientierte Kommune von Heidi Sinning Neue Steuerung und die Zukunft der Gemeinwesenarbeit von Dieter Oelschlägel AUS DEN EINRICHTUNGEN Nachbarschaftszentren - Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklung und Innovation von Renate Wilkening Schön Bunt - Eine Fassadenaktion des Rabenhaus e.V. von Hella Pergande Für mich selbst und andere ... Älter werden mit Gewinn von Heinz Schwirten "Familienzeit" bei ANLAUF - Kein Geheimtipp für Insider von Waltraud Stein Kinder und Jugendhilfe - Sprachförderung in der Kindertagesstätte von Babette Kalthoff

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Rundbrief 22000

ISSN 0940-866536. Jahrg./Dez. 2000, DM 7,50

Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit,

Gemeinwesenarbeit

• Erfahrungen• Berichte• Stellungnahmen

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE

ARBEIT e.V.

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Der RUNDBRIEF wird herausgegeben vom VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT E.V.

Slabystr. 11, 50735 Köln Tel 0221 / 760 69 59

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Redaktion: Renate Da Rin, Birgit WeberGestaltung: Both Grafik

Der RUNDBRIEF erscheint zweimal jährlichEinzelheft: DM 9,50 incl. Versandkosten

ISSN 0940-8665

Rundbrief 2/2000 36. Jahrgang ______________ Dezember 2000

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwortvon Renate Da Rin _______________________________________________________S. 1

Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung Bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungenvon Birgit Weber und Eva-Maria Antz ____________________________________S. 2

Bürgerschaftliches Engagement - Zentrales Anliegen oder Nebenschauplatz sozialer Arbeit?von Susanne Elsen _____________________________________________________S. 11

Der Ehrenamtliche, das unbekannte Wesenvon Jürgen Altmann ____________________________________________________S. 18

Leitbild - Bürgerorientierte Kommunevon Heidi Sinning ______________________________________________________S. 19

Neue Steuerung und die Zukunft der Gemeinwesenarbeitvon Dieter Oelschlägel _________________________________________________S. 23

AUS DEN EINRICHTUNGEN Nachbarschaftszentren - Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklung und Innovationvon Renate Wilkening _________________________________________________S. 25

Schön Bunt - Eine Fassadenaktion des Rabenhaus e.V.von Hella Pergande ___________________________________________________S. 26

Für mich selbst und andere ... Älter werden mit Gewinnvon Heinz Schwirten____________________________________________________S. 27

"Familienzeit" bei ANLAUF - Kein Geheimtipp für Insidervon Waltraud Stein ____________________________________________________S. 29

Kinder und Jugendhilfe - Sprachförderung in der Kindertagesstättevon Babette Kalthoff ___________________________________________________S. 30

Das Altentheather. Theater der Erfahrung wird Twenvon Eva Bittner und Johanna Kaiser ____________________________________S. 31

Das erste Stadtteilzentrum in Berlin-Hellersdorf bilden! Aber wie?von Horst Noak ________________________________________________________S. 32

Stellungnahme zur Anhörung "Stadteilzentren"von Herbert Scherer ___________________________________________________S. 34

Tagesstätte für psychisch Kranke/seelisch wesentlich behinderte Menschenvon Heidemarie Rothe _________________________________________________S. 37

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WORTVO

R

Liebe Mitglieder und Freunde des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit,

liebe interessierte Mitmenschen!

Viele Stimmen kommen in die-sem Rundbrief wieder zu Wort:Da ist ein ehrenamtlich Engagier-ter, der sich vehement dagegenwehrt, als Gegenstand einer im-mer breiter werdenden Diskussi-on über "Ehremamtler" verein-nahmt zu werden, und auf eineselbstverständliche, gleichbe-rechtigte Partnerschaft besteht.Es werden verschiedene Projekteund Einrichtungen vorgestellt wiedie Schreibaby-Ambulanz in Ber-lin, die Tagesstätte für psychischKranke in Halle, Sprachförde-rung in der Kindertagesstätte inBerlin, Freizeitgestaltung für Fa-milien im JugendhilfezentrumMarzahn-Nord und das Al-tentheaterfestival mit internatio-nalen Gästen, das in Berlin statt-fand.

Das Angebot einer sozialgerago-gischen Weiterbildung im BereichOffene Altenarbeit der QuäkerNachbarschaft in Zusammenar-beit mit dem Lehrstuhl für SozialeGereontologie der UniversitätDortmund wird beschrieben undüber die Fassadenaktion des Ra-benhauses in Köpenick berich-tet. Anstöße zur Diskussion ge-ben Beiträge über die strategi-schen Möglichkeiten für Gemein-wesenarbeit und deren Evaluati-on sowie Gedanken zu den Ent-wicklungspotenzialen, die ausbürgerschaftlichem Engagemententstehen, und deren Stellen-wert. Die Stellungnahme zur An-hörung "Stadtteilzentren" wirdkommentiert und die komplexeAufgabenstellung der Errichtungeines Stadtteilzentrums in Berlin-Hellersdorf beschrieben.

Und – last but not least - stellendie Projektleiterinnen "Probe"vor, das "Projekt zur Unterstüt-zung und Weiterentwicklung desbürgerschaftlichen Engagementsin sozial-kulturellen Einrichtungen".Das Projekt wurde innerhalb derletzten 12 Monate durchgeführtund befindet sich derzeit in derAbschlussphase.

Der Rundbrief zeugt auch die-ses Mal wieder alles in allemvon einer lebendigen Arbeitund von einer fruchtbaren, krea-tiven und auch kritischen Zu-sammenarbeit zwischen Haupt-und Ehrenamtlichen!

Wir wünschen allen unseren Lesern einen ruhigen, friedlichenAusklang dieses Jahres, eine Zeitzwischen den Jahren, die es er-laubt, Rückschau zu halten undPläne zu schmieden, damit esweitergehen kann mit frischenund vereinten Kräften, mit Ge-sundheit, Lust und Freude!

Alles Gute!Renate Da Rin

Die Jahre lehren

viel, was die Tage

niemals wissen.

(Raiph Waldo Emmerson)

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Pro Bürger-schaftliches Engagement!

Die wissenschaftliche Beratung wurdevon Frau Prof. Dr. Maja Heiner übernommen.

Insgesamt beteiligten sich 16 Einrichtun-gen an dem Projekt.

Mit dem Projekt ProBE wurde der Ver-band für sozial-kulturelle Arbeit e.V, dersich als Dach- und Fachverband versteht,seiner zentralen Aufgabe gerecht: der Un-terstützung und Förderung sozial-kulturellerEinrichtungen. Eine solche Unterstützungumfasst sowohl die Pflege und Weitergabeder Traditionen und Qualitätsvorstellungen,die sozial-kulturelle Arbeit ausmachen, alsauch die Ermutigung zu Experimenten undneuen Entwicklungen, um der sich verän-dernden Gesellschaft gerecht zu werden.Sich den Veränderungen der Zeit nicht zuverschließen, bedeutet für sozial-kulturelleEinrichtungen ein stetiges Überdenken deseigenen Standpunkts nicht zuletzt im Hin-blick auf Ehrenamt und bürgerschaftlichesEngagement.

Der Verband hat in dieser Debatte vordem Hintergrund der eigenen Tradition bür-gerschaftlicher Mitwirkung und Engage-ments in der sozial-kulturellen Arbeit mitdem Projekt ProBE einen spezifzischen Ak-zent gesetzt. Im Vordergrund standen be-sondere Möglichkeiten der sozial-kulturellenEinrichtungen als Einsatzorte und als Initia-torinnen von bürgerschaftlichem Engage-ment - d.h. als besondere Orte, an denendieses Engagement gelebt werden kann.

Ähnlich wie in diesem Zitat beschriebenerging es uns in den letzten zwei Jahren indem Projekt ProBE - "Projekt zur Unterstüt-zung und Weiterentwicklung des bürger-schaftlichen Engagements in sozial-kulturel-len Einrichtungen". Es ging weniger darum,Neues zu erfinden, sondern vielmehr dar-um, vorhandene "Teile", vorhandenes Wis-sen und zahlreiche Erfahrungen deutlicherwahrzunehmen und in einer neuen Weisezusammenzusetzen.

Neben den fachlichen Erkenntnissen hatdas Projekt ein zweites Produkt hervorge-bracht. Mit den Aktivierenden Untersuchungs-projekten wurde ein neues Modell entwickelt,wie fachbereichsübergreifende Fragen ei-ner Einrichtung bearbeitet werden können.

Die Vorgehensweise und Ergebnissedieses Projektes werden ausführlicher mitPraxisbeispielen aus sozial-kulturellen Ein-richtungen der letzten 50 Jahre als Buch,das Anfang 2001 erscheinen wird, veröf-fentlicht. Hier ein Auszug als erster Einstieg:

I. ÜberblickDas Projekt ProBE umfasste einen Zeit-

raum von insgesamt zwei Jahren: von No-vember 1998 bis Oktober 2000. Gefördertwurde es vom Ministerium für Familie, Seni-oren, Frauen und Jugend.

Das Projektleitung lag bei Birgit Weberund Eva-Maria Antz.

"Der Durchbruch ist unsereBereitschaft, die Teile auf eine völlig neue Weise zu-sammenzusetzen und Musterzu sehen, wo nur ein Augen-blick zuvor lediglich Schatten erschienen." (E. Lindaman)

von Birgit Weber und Eva-Maria Antz

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schen Professionalisierung der sozialen Ar-beit und dem freiwilligen Engagement derBürgerInnen gesehen?

• Warum engagieren sich BürgerInnenfreiwillig und was sind die Motivatio-nen von Einrichtungen für die Zusam-menarbeit mit BürgerInnen?

• Welche Aufgaben und Ziele der Ein-richtungen stehen in Zusammenhangmit bürgerschaftlichem Engagement?

• Was kennzeichnet eine Kultur der Zu-sammenarbeit von Einrichtungen mitBürgerInnen?

Interviews mit ZeitzeugInnenDie Durchführung der Interviews mit

ZeitzeugInnen verfolgte zwei Ziele: Zum ei-nen ging es um die Sicherung der nicht-ver-schriftlichten Erfahrungen von Menschen,die sehr unterschiedliche Phasen des Ehren-amts in sozial-kulturellen Einrichtungen per-sönlich miterlebt haben. Da Selbstverständ-lichkeiten und Alltäglichkeiten weitaus weni-ger beschrieben werden als die Besonder-heiten und die spektakulären Aktionen undNeuheiten, wurden Aspekte deutlich, diesonst nicht soviel Beachtung gefunden hät-ten, wie zum Beispiel die Bedeutung vonFesten als gemeinschaftsstiftende Aktionnenund die Wichtigkeit der Erfahrung und desErlebens von wertgeschätztem ehrenamtli-chem Engagement in der Jugend. Zum an-deren ging es in einigen Interviews um dieMeinungen und Berichte von ZeitzeugInnenaus Forschung und Lehre, die bei ihrer Ein-schätzung den Blick auf den Gesamtzusam-menhang miteinbeziehen.

Fachgespräche vor OrtDie Fachgespräche als Form der Unter-

suchung in den Einrichtungen wurden erstim Projektverlauf entwickelt. Es wurde diezeitlich sehr begrenzte Form (ca. drei Stun-

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Während zahlreiche Untersuchungensich auf die Motivationen der BürgerInnen,die Merkmale von "neuem Ehrenamt" unddie finanziellen Rahmenbedingungen kon-zentrieren, standen bei diesem Projekt dieEinrichtungen im Vordergrund – als Organi-sationen mit Konzepten, Erfahrungswissen,Organisationsformen und einer gewachse-nen Kultur der Zusammenarbeit mit enga-gierten Bürgern und Bürgerinnen.

Drei Grundannahmen bildeten denAusgangspunkt der Planung des ProjektesProBE:

1. Sozial-kulturelle Einrichtungen verste-hen sich grundsätzlich als Einsatz-orte und Initiatorinnen für die aktiveMitgestaltung von BürgerInnen.

2. In der Geschichte sozial-kulturellerEinrichtungen gibt es bereits zahlrei-che und vielfältige Erfahrungen inder Zusammenarbeit von Haupt- undEhrenamtlichen.

3. Die Qualität und die Ausrichtung derZusammenarbeit von sozial-kulturellenEinrichtungen mit BürgerInnen wirdmaßgeblich bestimmt von den Rollenund Haltungen, die hauptamtlicheMitarbeiterInnen einnehmen.

Die Grundidee des Projektes der Unter-stützung und Weiterentwicklung des bürger-schaftlichen Engagements setzte zunächstbei einer möglichst praxisnahen Wahrneh-mung und Beschreibung der vorhandenenErfahrungen an. Dabei war es wichtig, ei-nen Einblick zu gewinnen, wann und inwelchem Kontext ehrenamtliches Engage-ment im Verlauf seines Wirkens zu- oderabgenommen hatte, gefördert oder zurück-gedrängt wurde.

Dieser Ansatz bildete einen Schwer-punkt sowohl in den konkreten Einrichtun-gen als auch in der Recherche und Untersu-chung von Erfahrungsschätzen, die darüberhinaus zu diesem Themenbereich zugäng-lich sind: Fachliteratur, Verbandsunterlagensowie nicht-verschriftlichte Erfahrungen undEinschätzungen von ZeitzeugInnen.

Die Auswertung der Erkenntnisse mün-dete in eine Formulierung von Positionen, indenen die Bedeutung von Ehrenamt undbürgerschaftlichem Engagement für sozial-kulturelle Einrichtungen sichtbar werden -für das Projekt im Allgemeinen wie auch für

jede einzelne der beteiligten Einrichtungen.Solche Standortbeschreibungen sind Grund-voraussetzung für die Planung und Initiie-rung von sinnvollen und notwendigen Ver-änderungen, ohne dass dabei der Erfah-rungsreichtum der Vergangenheit verlorengeht.

Schematisch lässt sich das Projekt ProBE infolgender Weise darstellen:

1. Die Recherchen

Recherche der Literatur, insbe-sondere der Verbandsliteratur

Im Rahmen der Materialrecherche wur-de neben einer Literaturrecherche vor allemdas umfangreiche Material der Verbands-zeitschrift DER RUNDBRIEF gesichtet, derseit 1965 Positionen, Erfahrungen und Er-eignisse aus sozial-kulturellen Einrichtungenveröffentlicht. Darüber hinaus waren Proto-kolle und Berichte so wie die Unterlagen,die aus den Mitgliedseinrichtungen zu-gänglich waren (meist Jahres- oder Ta-gungsberichte), umfangreiche Quellen, dieunmittelbar zu dem Projektschwerpunkt so-zial-kulturelle Arbeit und den Erfahrungenvon sozial-kulturellen Einrichtungen Aus-kunft gaben. Als weitere Quellen dientendie Fachzeitschriften und die aktuellen Ver-öffentlichungen der Fachliteratur, vor allemaus dem Bereich der sozialen und kulturel-len Arbeit.

Folgende Kriterien bzw. Fragestellungenwaren bei der Recherche maßgeblich:

• Welche Begriffe wurden benutzt,wofür stehen diese Begriffe?

• In welchem gesellschaftlichen Kontextwurde bürgerschaftliches Engagementdiskutiert und eingeordnet?

• Welcher Zusammenhang wurde zwi-

Recherche von Erfahrungen und Positio-nen zu Ehrenamt/bürgerschaftlichem En-gagement in der sozial-kulturellen Arbeit

• Recherche in der Literatur, besondersder sozial-kulturellen Arbeit

• Recherche von nicht-verschriftlichten Er-fahrungen durch Interviews mit Zeitzeu-gInnen

• Fachgespräche in sozial-kulturellen Ein-richtungen

• Erstellung einer Arbeitshilfe, Abschluss-veranstaltung

"Aktivierende Untersuchungsprojekte" zuEhrenamt/bürgerschaftlichem Engage-ment in sozial-kulturellen Einrichtungen

• Informationsveranstaltung für interes-sierte Einrichtungen

• Durchführung von Aktivierenden Unter-suchungsprojekten in Einrichtungen: Bestandsaufnahme und Standortbestim-mung

• Ergebnispräsentation

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den an einem Vor- oder Nachmittag) von"Fachgesprächen vor Ort" eingeführt. Zieldieser Gruppeninterviews war es, gelunge-ne Beispiele von Zusammenarbeit zwischenhaupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnenin den Einrichtungen mit ihrem jeweiligenSchwerpunkt zu sammeln.

Damit konnten interessante Einrichtun-gen mit besonderen Schwerpunkten - wiez.B. Partizipationslernen bei Kindern undJugendlichen - und auch Einrichtungen inden neuen Bundesländern mit ihren beson-deren Bedingungen miteinbezogen wer-den. Zusätzliche Aspekte zum Thema, diedurch die Themen der Einrichtungen, dieAktivierende Untersuchungsprojekte durch-führten, nicht oder nicht ausreichend abge-deckt waren, konnten so aufgegriffen wer-den. Die Fachgespräche hatten einen akti-vierenden Charakter in den Einrichtungen,weil es in der Regel zu dieser Thematikkaum eine im Alltag der Einrichtungen gesi-cherte Form gibt. Hinzu kam, dass dieseTreffen eine zusätzliche Bedeutung beka-men durch die Anwesenheit der Projektlei-tung, die die Erfahrungen der Gesprächs-teilnehmerInnen wertschätzte.

In folgenden Einrichtungen wurdenFachgespräche durchgeführt:

Verein Nachbarschaftshaus Bremen e.V.,BremenBürgerschaftshaus Oslebshausen, BremenFrei-Zeit Haus Weißensee e.V., BerlinRabenhaus e.V., BerlinÖkohaus e.V., RostockNetzwerk Südost e.V., Leipzig

2. Die Aktivierenden Untersuchungsprojekte (AU-Projekte)

Das Aktivierende Untersuchungsprojektbot einen Ort bzw. Rahmen, wo fachbe-reichsübergreifende Themen der Einrich-tungen bearbeitet werden konnten. Es gabden Anlass und ein Forum, grundlegendeFragen zu stellen und die Arbeit einer Ein-richtung zu überprüfen. Die Zusammen-führung der Ergebnisse in der Gesamtein-richtung unterstützte die Bildung, Siche-rung und Wahrnehmung der Identität derEinrichtung. Im Rahmen des Projekts ginges nicht nur um die Erhebung von Fakten,sondern in den Diskussionen und Interviews– auch mit BesucherInnen und NutzerIn-nen – wurden Meinungen, Einschätzun-gen, Haltungen und Ängste zusammenge-

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tragen. Im Verlauf der Suche der Einrich-tung nach übergreifenden Fragen und Po-sitionen wurde die interne Einrichtungskul-tur deutlich.

In diesem Prozess entstanden Gedankenund Ideen für Veränderungen und Verbesse-rungen, neue Maßnahmen wurden geplantoder alte wiederbelebt.

Die Gewinnung von Einrichtungen zurTeilnahme

Das Anliegen bestand darin, Einrich-tungen unterschiedlicher Ausprägungenzu gewinnen. Angesichts der begrenztenRessourcen des Projektes war bereits zuBeginn klar, dass eine breite repräsentati-ve Auswahl nicht angestrebt werdenkonnte.

Unterschiede können auf dem Grün-dungszusammenhang und -zeitpunkt beru-hen; so bestehen zum Beispiel unterschiedli-che Voraussetzungen in Nachbarschaftshei-men aus der Tradition der Re-Demokratisie-rung in den Anfängen der Bundesrepublikim Unterschied zu Einrichtungen, die späterin der Tradition der Bürgerinitiativen undSelbstverwaltung entstanden sind und nichtzuletzt neuere Einrichtungen, die unter densich verändernden Bedingungen der neuenund auch alten Bundesländer in den 90er-Jahren gegründet wurden.

Für eine Beteiligung am Projekt wurdenEinrichtungen gesucht, die

• bereit und in der Lage sind, ihre Ge-schichte und ihren aktuellen Alltag ge-nau zu betrachten

• und ein ausgeprägtes Interesse an ei-ner Auseinandersetzung mit dem The-ma "Ehrenamt und bürgerschaftlichesEngagement" mitbringen.

Um das Anliegen des Projektes ProBEvorzustellen und Einrichtungen zur Teilnah-me zu gewinnen, wurde in einem ausführli-chen Prospekt der Kontext, die Projektidee,der Praxisbezug und der geplante Projekt-verlauf beschrieben.

Bevor die Einrichtungen sich verbindlichanmelden konnten, wurde zentral eine Infor-mationsveranstaltung durchgeführt, in derenRahmen gegenseitige Erwartungen und Fra-gen angesprochen werden konnten undFachreferate zur Projektthematik gehaltenund diskutiert wurden.

Nach dieser Informationsveranstaltungwie auch aufgrund von Projektdarstellungenin der Fachpresse bewarben sich die inter-

essierten Einrichtungen beim Verband fürsozial-kulturelle Arbeit.

Angestrebt bzw. vorausgesetzt war dieBeteiligung der Einrichtung als Gesamtorganisation. Da nicht lediglich einzelne Mitar-beiterInnen aus den Einrichtungen gewon-nen werden sollten, wurde für die Bewer-bung eine offizielle Bestätigung durch dieGeschäftsführerInnen vorausgesetzt. DiesesVorgehen hat im weiteren Verlauf in einzel-nen Fällen den Projektverantwortlichen "denRücken gestärkt" und ihnen geholfen, dieEinbindung und Unterstützung der anderenMitarbeiterInnen und Fachbereiche zu errei-chen und ggfs. einzufordern.

Die Materialien für die Einrichtungen

Um den unterschiedlichen Erfahrungen,Entwicklungen und auch Bedingungen ge-recht zu werden, wurden den beteiligten Ein-richtungen unterschiedliche Wege, Metho-den und Zugangsweisen angeboten, dieeine ihnen und ihrer Situation angemessene

und realistische Projektdurchführung ermögli-chen sollten. Den Einrichtungen wurden vonder Projektleitung eine Reihe von Materialienzur Verfügung gestellt, denen das Zitat vor-angestellt war: "Wenn die Wellen schlagen,tauche ich hinab, um Perlen zu finden."

Dieses Zitat sollte ein Hinweis daraufsein, dass Innensicht und Suche gerade inunklaren und turbulenten Zeiten sehr Gewinnbringend sein kann und vorhandene, verbor-gene Reichtümer aufgedeckt werden könnenDie Materialien enthielten folgende Kapitel:

• Anregungen und Vorschläge zum Pro-jektdesign

• Anregungen und Fragekataloge zurBestandsaufnahme

• Anregungen zur Positionsbestimmung• Anregungen zur Durchführung• Hinweise zur Zusammenarbeit mit

dem Verband für sozial-kulturelle Ar-beit

"Wenn die Wellen schlagen,tauche ich hin-

ab, um Perlen zu finden."

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Als Gerüst für die inhaltliche Untersu-chung und Diskussion des Themas Ehrenamtund bürgerschaftliches Engagement inner-halb der einzelnen Einrichtungen wurdenfolgende Komplexe vorgeschlagen:

• Der Auftrag, den eine Einrichtung hat,der also festgelegt ist (von außen undvon innen) und der die Arbeit und dieAusrichtung der Einrichtung legitimiert.

• Die Konzeption, die sich zur Umset-zung des Auftrages für die Einrichtungbzw. für einzelne Fachbereiche ab-leitet.

• Die Strukturen der Arbeit, die den Auf-trag unterstützen, die sich daraus ab-leiten, oder die aus anderen Gründenund Quellen entstanden sind.

• Der konkrete Alltag in der Einrichtung,der ein Spiegel von Auftrag, Struktu-ren und Themen ist – und der auch im-mer wieder Reibungspunkte zwischenverschiedenen Elementen und denkonkreten Menschen offenbart.

• Die "Themen der Welt", die als loka-le, regionale, gesellschaftliche Einflüs-se und Herausforderungen die konkre-te Arbeit beeinflussen und mitprägen.

Für die Erarbeitung dieser Themenberei-che wurde von Seiten der Projektleitungeine Reihe von methodischen Vorgehens-weisen vorgeschlagen: von Interviews mitpräzisen Fragen, über Gruppendiskussio-nen, die weniger zeitintensiv verschiedenePerspektiven und Blickwinkel deutlich ma-chen, bis hin zu anderen kreativen Wegen,die Unsichtbares sichtbar machen und Of-fensichtliches pointieren können, wie z.B.Ausstellung, Fotoreportage, Rollenspieleetc. Auch hier war beabsichtigt, jeder derEinrichtungen Spiel- und Entscheidungsraumzu belassen, um selbst herauszufinden, fürwelches Vorgehen sie sich entscheidenkann und will.

Das ProjektdesignDie Einrichtungen waren zu Beginn des

Projekts bereits aufgefordert, ihre Planungvor dem Hintergrund ihrer eigenen spezifi-schen Fragestellung und ihres spezifischenInteresses am Thema und an der Projektbe-teiligung in einem "Projektdesign" zu formu-lieren. Wichtiger Faktor war hierbei auchdie Berücksichtigung der zur Verfügung ste-henden zeitlichen und personellen Ressour-cen. Mit der Erstellung eines solchen Pro-jektdesigns sollte einrichtungsnah und reali-stisch abgesichert werden, dass die beteilig-ten Einrichtungen sich bereits zu Beginn des

Projekts klar darüber werden, was sie errei-chen wollen, und dementsprechend ein-schätzen können, wie die konkrete Beteili-gung im Hinblick auf ihre Zielvorstellungaussehen kann.

Die WorkshopsIn einigen Einrichtungen wurden Work-

shops mit Unterstützung durch die Projektlei-tung durchgeführt, um den Prozess der Erar-beitung und Auseinandersetzung mit demThema zu unterstützen. Der Zeitpunkt füreine solche Vertiefung des Themas in mode-rierter Form war von den Einrichtungen pas-send zu ihrem jeweiligen Prozess jeweilsselbst festzulegen. Andere Einrichtungen zo-gen Beratungen der Projektteams vor Ortvor, die sie für ihre Situation sinnvoller er-achteten als die Durchführung eines Work-shops.

Die Zusammenarbeit Projektleitung undEinrichtungen

Die Zusammenarbeit zwischen dem Ver-band als Projektträger bzw. der Projektlei-tung und teilnehmenden Einrichtungen warnicht von Vorschriften und verbindlichenVorgaben bestimmt, sondern eher durchUnterstützung und Angebote.

In den Aktivierenden Untersuchungspro-jekten in den Einrichtungen war der regel-mäßige Kontakt zwischen Projektleitung undden beteiligten Einrichtungen gesichert. Esbestand das Angebot der Projektleitung,nach Absprache für konkrete individuelleBeratung während des Prozessverlaufs zurVerfügung zu stehen. Um Erfahrungs- undIdeenaustausch während des Projektverlaufsund einer Diskussion über die eigene Ein-richtung hinaus Raum zu geben, wurdenverschiedene Maßnahmen konzipiert: dieschriftliche Informationsweiterleitung überdie Projektleitung, Regionaltreffen der betei-ligten Einrichtungen und die Organisationvon Zusammenkünften im Rahmen andererVeranstaltungen.

Am wichtigsten hat sich in dem Rahmen-projekt die Unterstützung bei der Klärungder einrichtungsrelevanten Frage herausge-stellt. Hier standen viele Projektverantwortli-che vor der Aufgabe, doch sehr allgemeinformulierte Anliegen untersuchbar zu ma-chen, indem sie die Projektthematik mit be-stehenden Ansätzen in Zusammenhangbringen mussten.

Die Unterstützung der Einrichtungen er-folgte zum einen durch die Beratung, so-

wohl in regelmäßigem telefonischen Kon-takt wie auch bei verabredeten Beratungs-treffen. Weitere Unterstützung bot die Zu-sammenfassung von Einrichtungsergebnis-sen, die durch die Projektleitung durchge-führt wurde. Berichte, Thesen, Materialien,Briefe, die von den Projektverantwortlichenals Einrichtungsergebnisse an die Projektlei-tung weitergegeben wurden, wurden alsZusammenfassungen an die Einrichtungenzurückgegeben. Aus dem "Materialberg" -oder den wenigen Unterlagen – wurdenverständliche Essentials formuliert, die denEinrichtungen eine hilfreiche Spiegelungboten.

Die Präsenz vor Ort in den Einrichtun-gen stellte eine unverzichtbare Komponentebei der Durchführung des Projekts dar. DasKennenlernen der Einrichtung vor Ort waru.a. notwendig, um die konkreten Bedin-gungen für das Projekt wahrzunehmen undeinschätzen zu können. Eine Unterstützungim Sinne der Ermutigung für neue Wege istgerade erst in der Kenntnis der konkretenEinrichtungsbedingungen möglich.

II. Erkenntnisse aus der Durch-führung der Aktivierenden Untersuchungsprojekte

Im Folgenden werden die Erfahrungender Einrichtungen in den Aktivierenden Un-tersuchungsprojekten beschrieben und be-wertet. Zur besseren Verständlichkeit wer-den die Begleitung der Einrichtungen, wiesie im Projekt ProBE angelegt war, als "Rah-menprojekt", und die Aktivierenden Untersu-chungsprojekte in den Einrichtungen als"AU-Projekte" bezeichnet.

Die Durchführung der AU-Pro-jekte war durch eine Reihe vonBesonderheiten gekennzeichnet:

a) Die Anforderung an jede Einrichtung,ihr eigenes Aktivierendes Untersuchungspro-jekt im Rahmenprojekt zu definieren.

Jede Einrichtung konnte/musste selbstsowohl die einrichtungsrelevanten Fragenformulieren, den Weg zur Beantwortungder Fragen wählen, Bewertungen vorneh-men und Positionen beziehen. Es galt nicht,ein von außen vorgegebenes Ziel zu errei-chen. Die Bewertung der tatsächlichen Er-gebnisse lag bei den jeweiligen Einrichtun-gen selbst.

Gleichzeitig gab es einen übergeordne-ten Rahmen, der eine Orientierung bot.

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b) Die Verbindung von Selbstevaluationund Fremdevaluation

Die Untersuchungen wurden von denMitarbeiterInnen der Einrichtungen entspre-chend ihres eigenen Projektdesigns, in demsie Fragen, Methoden und Zeitplan festge-legt hatten, durchgeführt und ausgewertet.Die Möglichkeit zu Nachfragen, Zusam-menfassungen, Workshops und regelmäßi-ge Telefonate mit den Projektleiterinnen desVerbands waren Bestandteil der vertragli-chen Vereinbarungen. Es bestand durchge-hend das Angebot, vor Ort Beratungen inAnspruch zu nehmen.

c) Das Aktivierende Untersuchungspro-jekt als ein Vorhaben der Gesamteinrich-tung

Sozial-kulturelle Einrichtungen überzeu-gen durch ihre Vielfalt an Angeboten, anZielgruppen oder auch an themenorientier-ten Bereichen, es wird mit dem Anspruchgearbeitet, alle Unterschiedlichkeiten zuzu-lassen und dennoch an einem gemeinsa-men Ziel zu arbeiten. Die Synergieeffekte,die aus solchen unterschiedlichen Gruppenmit einem gemeinsamen Ziel entstehen kön-nen, gilt es zu fördern, zu organisieren undzu pflegen. Denn nur auf diese Weise kön-nen die Ansprüche dieser Einrichtungen ansich und ihre Arbeit in die Praxis umgesetztund zur Selbstverständlichkeit werden.

Themen, die die ganze Einrichtung be-treffen, werden oft - falls sie nicht alleine inder Hand des Geschäftsführers oder desVorstandes liegen - als zusätzliche Bela-stung wahrgenommen, für die eigentlichkeine Zeit vorgesehen ist im normalen Ar-beitsablauf der Einrichtung.

In dem AU-Projekt wurde die Zusam-menarbeit von Fachbereichen, die zum Teilsich widersprechende Positionen einnah-men, vorausgesetzt. Den Projektverantwort-lichen in den Einrichtungen kam also be-sonders am Anfang und auch immer wie-der während des Projektverlaufs die wichti-ge Aufgabe zu, die Akzeptanz für das AU-Projekt zu sichern und die Bedeutung die-ses Projekts für die Gesamteinrichtung zuunterstreichen.

d) Der Bezug der Untersuchungen so-wohl auf die Einrichtungsgeschichte wieauch auf die aktuelle Situation

Entsprechend dem Alter der Einrichtungund deren geschichtlichem Ereignisreichtumwar der Blick in die Vergangenheit entwe-der sehr distanziert oder sehr erhellend.Konfrontationen mit unterschiedlichen Hal-tungen, vorausgegangene Entscheidungen,alte Mythen und Konflikte zeigen ihre Wir-

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kung auch in der aktuellen Situation. Aus diesem Rückblick ergaben sich Fra-

gen, die in manchen Fällen zu neuen Dis-kussionen führten, manchmal jedoch auchgänzlich vermieden wurden: Welche Dis-kussionen wurden geführt, welche Konse-quenzen folgten? In welchem Zusammen-hang steht die aktuelle Haltung einer Ein-richtung zu deren Vergangenheit?

e) Die Prozesshaftigkeit des Aktivieren-den Untersuchungsprojektes

Im Rahmen des Projektes ging es nichtnur um die Erhebung von Fakten, sondernes wurden in den Diskussionen und Inter-views Meinungen, Einschätzungen und Haltungen gesammelt. Auch von außen wur-den neue Fragestellungen herangetragen:BesucherInnen und NutzerInnen wurdenneugierig und formulierten ihre Anliegenund Fragen. Neue Maßnahmen wurden geplant oder alte wiederbelebt.

Anforderungen an die EinrichtungenAus einer solchen Projektanlage lassen

sich besondere Anforderungen an die Ein-richtungen bzw. Voraussetzungen ableiten.

• Die Eingrenzung des Themas BE unddas Erarbeiten der einrichtungsrele-vanten Frage,

• die Einbindung in die Gesamteinrich-tung,

• die Übernahme der Projektverant-wortung,

• das Aktivieren von Ressourcen,• Flexibilität im Umgang mit Änderungen,• Festhalten des Standortes vor Aktivi-

täten,• Bereitschaft zu bestimmten Grund-

haltungen.

Um sich als Einrichtung über diese An-forderungen klar werden zu können, ist eswichtig, bereits für die Projektplanung selbstgenug Zeit einzuplanen und auch tatsäch-lich einzuräumen. Je ernsthafter und gründli-cher eine solche Projektplanung, d.h. dieVergewisserung des eigenen Interesses unddie Reflexion der möglichen Wege zu ihrerEinlösung, durchgeführt wird, umso größersind die Chancen, dass die Planungtatsächlich umsetzbar ist und eine wirklicheOrientierung im Projektverlauf bietet. Pla-nung bedeutet nicht, dass Änderungen nichtmöglich sind - aber sie werden dann andersbegründet möglich sein.

Die Eingrenzung des Themas BEund das Erarbeiten der einrich-tungsrelevanten Frage

Der Zugang zu der komplexen Thematik"Bürgerschaftliches Engagement/Ehrenamt"wird immer mit beeinflusst von der Motivati-on für das AU-Projekt, dem erhofften Ergeb-nis und den Voraussetzungen der Einrich-tung. Eine Eingrenzung des Themas orien-tiert sich dann an Fragen wie: Was brenntuns wirklich unter den Nägeln, was wollenwir rauskriegen und warum wollen wir dasrauskriegen?

Für eine Eingrenzung ist es hilfreich,wenn geklärt wird, warum diese Fragestel-lung entschieden wurde, welche anderenFragen noch zur Beantwortung anstanden,welche Themen ausdrücklich nicht behan-delt werden und welche Unterthemen sichvom Hauptthema ableiten lassen.

Die Einbindung in die Gesamt-einrichtung

Wenn es darum geht, als Einrichtung ei-nen gemeinsamen Standort zu erarbeiten -in dem es durchaus Differenzierungen fürunterschiedliche Fachbereiche geben kannund darf - dann ist bereits klar, dass derEinbindung des AU-Projektes und des The-mas in die Gesamteinrichtung eine zentraleRolle zukommen wird.

Ein formaler Beschluss zur Beteiligungan einem Projekt reicht in der Regel nichtaus. Um alle Beteiligten zu aktivieren, sindMotivationsarbeit, Überzeugungskraft,manchmal sogar hartnäckiges Überredenund auch Auseinandersetzung notwendig.

Ein Weg, die Beteiligten motiviert in dasProjekt einzubinden, ist die Verankerungdes Themas bei Allen, die für die Arbeit derEinrichtung verantwortlich sind. Den ange-messenen Raum dafür zu sichern, ist Aufga-be des/der Projektverantwortlichen, der/die von der Geschäftsführung dabei unter-stützt werden sollte. Eine solche Veranke-rung des AU-Projektes erfordert darüber hinaus den Kontakt zwischen den Fachberei-chen und zum Vorstand.

Steht die Gesamteinrichtung hinter derDurchführung des Projekts (Verein, Vor-stand, GF, Gesamtteam), ist das Vorhabenalso wirklich von möglichst vielen gewollt,so bedeutet das gleichermaßen Unterstüt-zung und Freiraum.

Die Durchführung eines Workshops mitunterschiedlichen Beteiligten (Hauptamtli-che, Ehrenamtliche, NutzerInnen, Vorstand)bietet eine Möglichkeit, das AU-Projekt undsein Thema zu einem Anliegen der Gesamt-einrichtung zu machen. Hier kann Raum geschaffen werden für kritische Auseinander-

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setzungen und Fragestellungen, die den Be-teiligten letztendlich zu einer gemeinsamenStandortformulierung verhelfen können.

Neben einer solchen geplanten undstrukturierten Verankerung gibt es noch dieEbene mit eher indirektem Charakter: Durchwiederholtes Berichten über Neuigkeitenaus dem AU-Projekt, durch die Teilnahmean Fachveranstaltungen zum Thema oderdurch beharrliches Nachfragen bei einzel-nen KollegInnen zwischen Tür und Angelkann das Thema im Sinne einer andauern-den Sensibilisierung zum "Einrichtungsthe-ma" gemacht werden.

Die Handhabung eines AU-Projektes alsfachbereichsübergreifende Aufgabe mitdem Stellenwert einer übergeordnetenQuerschnittaufgabe ist für viele Einrichtun-gen, je nach Einrichtungskultur, in der Formvielleicht ungewohnt und fordert daher be-sondere Aufmerksamkeit, Initiative, Offen-heit und Arbeit.

Das Thema Ehrenamt und bürgerschaftli-ches Engagement als Einrichtungsthema be-trifft immer mehrere Ebenen: die Orte undMöglichkeiten des Engagements, die Mög-lichkeiten der Mitbestimmung, Fragen derKultur, des Umgangs, der Kommunikationuntereinander etc. Diese Tatsache erforderteinen intensiven Kommunikationsprozesszwischen den verschiedenen Beteiligten ineiner Einrichtung und bedeutet, dass dieStandortklärung einer Einrichtung zu diesemThema hoch komplex ist.

Das Bestehen einer Tradition bzw. dasSelbstverständnis einer Einrichtung, dass EAeinfach unauflösbar zur Identität und Ge-schichte eines Hauses gehört und fest veran-kert ist, ist eine nicht zu unterschätzendeGrundlage, auch wenn sie z.B. nur für ei-nen Fachbereich der Einrichtung gilt, etwaden Bereich Senioren oder Selbsthilfe.

Die Übernahme der Projektver-antwortung

Am Anfang steht die Benennung einerzuständigen Person als AnsprechpartnerInfür die Leitung des Rahmenprojektes. DiesePerson ist verantwortlich für die Sicherungund Darstellung von Prozess/Verlauf desProjektes und hat die Aufgabe, das Projektin der Gesamteinrichtung zu verankern unddas Bewusstsein dafür permanent zu aktivie-ren. Mit diesen Aufgaben sind Anforderun-gen an den/die Betreffende(n) verbunden:Motor zu sein, mit anderen zu kooperieren

(z.B. in einem Projektteam), fachbereichs-übergreifend zu denken, zu kommunizierenund zu agieren (in Hinblick auf Einbindungder Gesamteinrichtung), neu oder anderszu denken (das Projekt als Anregung undImpuls wahrnehmen zu können und evtl. da-mit sogar Visionen zu schaffen), flexibel mitWiderstand umzugehen, Akzeptanz zu ha-ben - und vor allem auch Spaß an einemsolchen AU-Projekt, um nicht an Durststreckenoder Schwierigkeiten zu verzweifeln.

Die Zuständigkeit einer MitarbeiterIn fürdie Projektdurchführung hängt mit vielenFaktoren zusammen, sie arbeitet in einemSpannungsfeld von Autorität, Machtverhält-nissen, Akzeptanz und auch Konkurrenz un-ter den KollegInnen. Vor diesem Hinter-grund bekommen Projektteams auchnochmal eine andere Bedeutung: Die Tatsa-che und die Art und Weise, wie ein Teamdie Projektdurchführung gestaltet, ist nichtnur Entlastung und Verteilung der zu erledi-genden Arbeit, ist nicht nur Chance für ver-schiedene Blickwinkel, sondern kann zudemden Stellenwert des AU-Projektes für eineEinrichtung deutlich verstärken.

Aber auch ein Projektteam kann vieloder wenig Autorität, Flexibilität etc. habenund unterschiedlich ernst genommen oder"übersehen" werden.

Diese Anforderungen an die Projektver-antwortlichen stellen keinen Katalog unver-zichtbarer Voraussetzungen dar, sie lenkenaber die Aufmerksamkeit darauf, wie leichtoder schwierig sich ein Projekt in einer Ein-richtung verankern lässt.

Das Aktivieren von Ressourcen

Der Faktor ZeitEin AU-Projekt braucht Zeit. Dabei ist es

insbesondere zu Beginn wichtig, einen kon-kreten zeitlichen Rahmen für die Projekt-durchführung zu vereinbaren. Dieser Rah-men muss bereits im Vorfeld einrichtungsin-terne zeitliche Engpässe mit berücksichtigen(so z.B. Phasen vor großen Jubiläumsfestenoder von Jahresabschlussaufgaben). Derzeitliche Rahmen setzt den Anfang fest undavisiert einen Termin für das Ende. Ohnediesen Rahmen fehlt die Konzentration aufdas Projekt - Ideen, Ziele etc. gehen im Rhythmus des Alltagsgeschäftes unter.

Es geht allerdings um mehr als nur umden zeitlichen Rahmen. Die Einschätzung

der Frage "Wie viel Zeit brauchen wir?" isteng verknüpft mit den Fragestellungen "Wieviel Zeit geben wir? Welchen Zeitraum, wieviel Arbeitszeit kann und will die Einrich-tung dafür freimachen - bei einzelnen Mitar-beiterInnen und/oder beim Team?". DiePlanung der Zeit hängt auch davon ab, fürwelche der Vorgehensweisen die jeweiligeEinrichtung sich entschlossen hat. DasDurchführen von zahlreichen Einzel-Inter-views setzt eine ganz andere Zeitplanungvoraus als zum Beispiel die Methode derGruppendiskussionen. Dabei spielt vor al-lem auch die Zeit, die für die Auswertungvon verschiedenen Methoden erforderlichist, eine wesentliche Rolle, ebenso die Zeit,die für die Verschriftlichung der Ergebnissenotwendig ist.

Und nicht zuletzt ist es wichtig, der Kom-munikation genügend Zeit einzuräumen.Das beginnt bei der Sicherung von Zeit fürdie Kommunikation innerhalb der Projekt-teams bis hin zu der Tatsache, dass Ausein-andersetzungen und Diskussionsprozessezeitintensiv sind und auch sein müssen.

Das Instrumentarium für eineAU-Projektdurchführung in derEinrichtung

Für die konkrete Projektdurchführungbzw. hier für die Frage, wie eine Einrich-tung ihre Erfahrungen und Möglichkeiten fürEhrenamt und Bürgerschaftliches Engage-ment benennen und beschreiben und dar-aus einen Standort formulieren kann, gibtes vielfältige Vorgehensweisen. Auch hiersetzt das Rahmenprojekt einen groben Rah-men, der aber nicht Anfang und Ende be-stimmt, sondern Anregungen und Angebotebietet.

Um Einrichtungserfahrungen untersu-chen und erfassen zu können, muss über-legt werden, welche Quellen zur Verfügungstehen und welche davon in Anspruch ge-nommen werden sollen. Die Frage ist also:Von wem kann ich was erfahren? Hier kannvor allem zwischen internen und externenQuellen unterschieden werden. InterneQuellen sind beispielsweise schriftliche Un-terlagen der Einrichtung, haupt- und ehren-amtliche MitarbeiterInnen, NutzerInnen, Be-sucherInnen. Externe Quellen können ehe-malige MitarbeiterInnen sein, die es viel-leicht erst noch aufzuspüren gilt, oder auchExpertInnen aus dem Stadtteil, aus bestimm-ten fachlichen Zusammenhängen, aus Poli-tik und Verwaltung, die für die Einrichtungrelevant sind.

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Die Entscheidung für bestimmte Quellenbeeinflusst auch die Wahl der geeignetenMethoden. Die Wahl der Methode als Zu-gangsweise zu Wissen, Meinungen undPositionen hängt u.a. davon ab, welchesInstrumentarium beherrscht wird. Hier lautetdie Fragestellung also: Was ist sinnvoll undwas kann eine Projektverantwortliche auf-grund ihrer Fähigkeiten, aufgrund der ver-fügbaren Zeit, technischen, räumlichenMöglichkeiten etc. leisten? Und auch: Wel-che Unterstützung ist notwendig?

Die Wahl von Quellen und Methodenim Bereich der Untersuchung im Sinne ei-ner Bestandsaufnahme wie auch die Wahlder Vorgehensweise in der Phase der Stan-dortformulierung im Sinne einer Positions-bestimmung erfordern eine realistische Ein-schätzung der Möglichkeiten und eine Klar-heit über die Ziele. Die Vorgaben des Rah-menprojektes, die als Angebote formuliertsind, können zwar anregen, erfordern aberauch eigene Entscheidungen. Während derAU-Projektdurchfühung kann Unterstützungund Beratung von außen angefordert wer-den, d.h. es liegt bei der Einrichtung selbst,inweitweit sie dieses Angebot annehmenoder eigenständig vorgehen möchte. Diesist ein ungewohnter Arbeitshintergrund undmacht auch den Projektcharakter aus.

Nutzen vorhandener Ansätzeund Erfahrungen

Erfahrungen zu nutzen, erfordert einengenauen Blick auf die eigene Einrichtungund auch eine differenzierte Reflexion vonBereichen wie Mitwirkungsstrukturen, All-tagskommunikation etc., die nicht direkt un-ter dem Begriff Ehrenamt und bürgerschaft-liches Engagement eingeordnet werden. Esbedeutet aber auch, diese Ansätze und Er-fahrungen in ihrem Kontext, ihrer Bedeu-tung und Wirkung zu bewerten. Nicht al-les, was früher gut lief, muss darum heutepassend sein. Dennoch kann es zu anderenZeiten Erfahrungen gegeben haben, an dieanzuknüpfen sich lohnen würde.

Nutzen der Anregungen vonaußen

Die Durchführung eines AU-Projektes inder Einrichtung in Verbindung mit einemRahmenprojekt bringt unweigerlich Anre-gungen, Nachfragen und auch einenAspekt von Kontrolle von außen mit sich.Diese Konstruktion birgt viele Chancen,stellt aber auch hohe Anforderungen an dieBeteiligten. Vorgaben können unterschied-

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lich wahrgenommen werden: als Einengungund Festlegung oder als Orientierung undAnstoß. Beratung kann als Einmischung ab-gelehnt oder als Unterstützung genutzt wer-den. Eine Voraussetzung dafür, die Anre-gungen von außen nutzen zu können, istdas Bewusstsein darüber, was man will unddann auch zu fordern, was man braucht.

Ein sensibler Bereich ist die Auswertungund Weitergabe von einrichtungsinternenErgebnissen. Neben der Schwierigkeit derVerschriftlichung, für die ausreichend Zeitzur Verfügung gestellt werden muss, stehtfür die Einrichtung die Klärung an, was wieveröffentlichbar ist. Die Frage "Machen wirdas für uns oder für die Rahmenprojektlei-tung?" fordert Klärung und Entscheidung.

Ein guter Kontakt der Beteiligten ausden Einrichtungen mit der Rahmenprojektlei-tung und das Vertrauen in deren Fachkom-petenz und Integrität ermöglichen die Trans-parenz von internen Prozessabläufen imProjekt. Andererseits kann die Konzentrati-on auf zentrale Projektergebnisse, die andie Rahmenprojektleitung weitergegebenwerden, manchmal ebenso berechtigt undsinnvoll sein wie die Transparenz der In-nenansicht eines Projektverlaufes.

Gerade in einem solchen AU-Projekt, indem die Einrichtung nicht nur Untersu-chungsobjekt, sondern handelnde Akteurinist, spielt eine intensive Kommunikationzwischen Einrichtung und Rahmenprojekt-leitung eine wichtige Rolle. Das beziehtsich sowohl auf den Kontakt zur Leitungdes Rahmenprojektes als auch auf dieMöglichkeiten des Kontakts und Erfahrungs-austausches zwischen den beteiligten Ein-richtungen.

Flexibilität im Umgang mit Än-derungen

Ein AU-Projekt zur Klärung und Standort-findung wird immer einen prozesshaftenCharakter haben. Das heißt, Überraschun-gen, Störungen und Änderungen sind nichtnur wahrscheinlich, sondern geradezukennzeichnend für diesen Prozesscharakter.Die entscheidende Frage dabei ist, wie mitsolchen Änderungen, die sich im Prozess-verlauf ergeben, umgegangen wird.

Manchmal stellt sich die Notwendigkeit,die ursprüngliche Fragestellung präziser zufassen oder sogar inhaltlich zu verändern.Es kann sich auch als sinnvoll erweisen, das

AU- Projekt "kleiner" zu machen, also aufeinen Ausschnitt der Einrichtung zu reduzie-ren bzw. zu konzentrieren. Möglicherweiseergibt es sich auch im Verlauf des Projekts,dass andere Themen in der Einrichtung stär-ker sind und das AU-Projekt insgesamt ver-ändert werden, also auf sie zugeschnittenwerden muss.

Ein angemessener Umgang mit solchenÄnderungen setzt hohe Aufmerksamkeit undeine regelmäßige Reflexion des AU-Projek-tes voraus. Dabei kann die Inanspruchnah-me des Beratungsangebotes durch die Rah-menprojektleitung eine wichtige Unterstüt-zung sein.

Festhalten des Standortes vorAktivitäten

Ein Standort beschreibt die konkretePosition einer Einrichtung zu einem be-stimmten Zeitpunkt. Es handelt sich dabeinicht um eine Position, die für alle Zeitenfestgeschrieben ist, sondern um die Sum-me bzw. Essenz von Einstellungen, Bedin-gungen und Faktoren, die für den mo-mentanen Zeitpunkt zutreffen. Eine Stan-dortbestimmung ist also eine Klarheitüber eine momentane Position und damitauch veränderbar. Von diesem Standortaus lassen sich Veränderungen planenund gestalten, er kann aber auch dazudienen, "sicherer" zu stehen. Das bedeu-tet, in der Lage zu sein, die eigene Arbeiund den eigenen Ansatz sicher zu be-gründen und von einem guten Standpunktaus argumentieren und überzeugen zukönnen.

Bei der Standortbestimmung einer Ein-richtung entsteht oftmals die Dynamik, dassspontan neue Aktivitäten geplant werdenund nach der Phase der Bestandsaufnahmedie Vergewisserung des Standortes quasiübersprungen wird. Das heißt, es wird inTeilbereichen gehandelt und der Blick fürdie Position der Gesamteinrichtung rückt inden Hintergrund.

Bereitschaft zu bestimmtenGrundhaltungen

Für das RahmenprojektUm der in dem Rahmenprojekt angeleg-

ten Ausrichtung an den jeweils spezifischenVoraussetzungen und Umsetzungen der ein-zelnen Einrichtungen Rechnung tragen zukönnen, sind bestimmte Grundhaltungennotwendig.

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Akzeptanz der Verschiedenheitder Einrichtungen

Die Projektleitung muss bereit sein, dieUnterschiedlichkeit der Einrichtungen zu ak-zeptieren. Diese Unterschiede beziehen sichsowohl auf die Organisationsformen undOrganisationskulturen, auf die Traditionenund Entstehungszusammenhänge wie auchauf die Kapazitäten und Einzugsgebiete.

Wahrnehmung klarer Leitungs-aufgaben

Angesichts der Prozesshaftigkeit der Ak-tivierenden Untersuchungsprojekte in denEinrichtungen und der hohen Bedeutungvon Kommunikation im Rahmenprojekt istdie konsequente Wahrnehmung der Lei-tungsverantwortung unverzichtbar. Dabeimüssen im Interesse des Gesamtprojektesmanchmal auch unangenehme Aufgabenund Funktionen, wie z.B. Kontrolle und dasstetige Anfragen und Einfordern, wahrge-nommen werden. Neben Sensibilität undKlarheit hilft vor allem Geduld.

Offenheit für unterschiedlicheErgebnisse

Es gilt, den erzielten, sehr unterschiedli-chen Ergebnissen der einzelnen Einrichtun-gen gegenüber offen zu sein. Das Ernstneh-men der Einrichtungen mit ihren spezifi-schen Bedingungen und den jeweiligen Ver-läufen des AU-Projektes erfordert und er-laubt es, auch "kleine Schritte" als Schritteund Erfolge für die Einrichtung wahrzuneh-men und wertzuschätzen.

Für die AU-ProjekteAuch wenn die Voraussetzungen einer

guten Planung, einer gut geregelten Zustän-digkeit und einer regelmäßigen Einbindungin die Einrichtung gegeben sind, d.h. aucheine Umsetzung in die Praxis bereits gelun-gen ist, kann es trotzdem noch und immerwieder zu Blockierungen des AU-Projekteskommen. Daher sollen an dieser Stelle nocheinige Grundhaltungen genannt werden,die für ein Einrichtungsprojekt hilfreich,wenn nicht sogar unverzichtbar sind:

Mut zu kleinen Schritten oder zugroßen Entwürfen

Angesichts der Komplexität des Themasist es oft notwendig und sinnvoll, auch klei-ne Schritte zu planen und als wertvolle,weil realisierbare Erfolge zu schätzen.Auch in großen Einrichtungen ist dieser An-

satz angebracht. Die Konzentration auf ei-nen Ausschnitt der Einrichtung oder desThemas kann der passende Zugang unddie Voraussetzung für die Standortfindungsein. Genauso kann es in einem anderenFall hilfreich sein, die scheinbare Nichtrea-lisierbarkeit von Vorhaben oder Visionennicht als dauerhafte Blockade stehen zulassen, sondern einen größeren Entwurf zuwagen, um damit neue Wege und Ideenfreizusetzen.

OffenheitDie Offenheit für Auseinandersetzung

und für das AU-Projekt als Prozess in derEinrichtung ist eine wesentliche Vorausset-zung für den Umgang mit Änderungen. Sieerleichtert und unterstützt die Verankerungdes AU-Projektes und vor allem des Themasin der Gesamteinrichtung und ist damiteine wesentliche Bedingung für die Formu-lierung eines gemeinsamen Standortes. Ein-gefahrene Gewohnheiten und starre Hal-tungen, Machtkonzentration und Angst da-gegen können Faktoren sein, die eine offe-ne Zusammenarbeit und letztendlich auchein gemeinsames Projektergebnis verhin-dern.

Konsequenzen ziehen wollenund können

Die Erarbeitung und Formulierung einesStandortes der Einrichtung ist als reines "Er-gebnis" wenig nützlich. Wertvoll wird dieStandortsuche erst dann, wenn die Bereit-schaft vorhanden ist, Einsichten währenddes Projektverlaufes aufzugreifen und Kon-sequenzen aus den Ergebnissen desKlärungsprozesses ziehen zu wollen undzu können. Diese Entscheidung bzw. Hal-tung ist ein Garant dafür, dass eine Einrich-tung den erarbeiteten Standort nutzenkann: entweder für Veränderungen oder fürein begründetes Fortführen der bisherigenArbeit.

Akzeptanz für die Tatsache, dasses auch keine oder eine entge-gengesetzte Definition gebenkann

Die Klärung und Erarbeitung der ge-meinsamen Position in einer Einrichtungkann auch bedeuten, dass im Findungspro-zess sehr unterschiedliche Einstellungen undVor-Definitionen über das Verständnis vonbürgerschaftlichem Engagement zu Tagetreten. Wird trotzdem eine gemeinsame Po-

sition erarbeitet, macht gerade diese deut-lich, wo und warum welche Rollen und Auf-gaben von den Hauptamtlichen wahrge-nommen und erfüllt werden. Das gemeinsa-me Wissen um Unterschiede kann für eineZusammenarbeit, vor allem auch mit Men-schen, die sich in der Einrichtung ohne Sta-tus und Rolle eines festen Angestelltenver-hältnisses engagieren, nur förderlich sein.Es dient der Transparenz, der gegenseiti-gen Akzeptanz, dem Wissen um Grenzenund Möglichkeiten.

III. Resümee

Auf der Abschlussveranstaltung des Pro-jektes wurden folgende Thesen als Resümeevorgestellt.

Welche Verbindung gibt es zwischen dem aktuellen Themabürgerschaftliches Engagementund der sozial-kulturellen Arbeit?

• Es gibt den originären Auftrag derFörderung des bürgerschaftlichen En-gagements in sozial-kulturellen Einrich-tungen. Dieser Auftrag beinhaltet Ziel-setzungen wie das Lernen von Demo-kratie, Aktivierung, Motivierung undUnterstützung zu Beteiligung, Mitge-staltung und Mitbestimmung der Bür-gerInnen innerhalb der Einrichtungenund des Stadtteils.

• Die aktuelle Debatte zum bürger-schaftlichen Engagement und neuenEhrenamt reicht über diesen Auftragder sozial-kulturellen Arbeit hinaus. Inder Debatte wird die Bedeutung desbürgerschaftlichen Engagements inden Kontext von gesamtgesellschaftli-chen Veränderungen gestellt - denUmbau des Sozialstaates, Verände-rungen der Erwerbsgesellschaft undden Wertewandel.

• Das öffentliche Klima, veränderte För-der- und Vertragsbedingungen, dieexplizit das Stichwort Bürgerschaftli-ches Engagement aufgreifen, undneue Freiwilligenorganisationen tra-gen neue und teilweise sich wider-sprechende Erwartungen an die Ein-richtungen heran.

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• Es ist notwendig, dass die Einrichtun-gen selbst die Frage beantworten,

• welche Erwartungen sie erfüllen wol-len, können und müssen und zu wel-chen Bedingungen. Dieser Schritt isterforderlich, um ihren originären Auf-trag in den Vordergrund zu rückenund um nicht von den Erwartungenüberrollt zu werden.

• Für die Einrichtungen ist angesichtsihres Auftrags auf den ersten Blickdas Thema bürgerschaftliches Enga-gement und Ehrenamt selbstverständ-lich. Auf den zweiten Blick ist dieserAuftrag sperrig, in den Hintergrundgedrängt und gefährdet. Er ist sper-rig, weil er im Alltag Effektivität vorEffizienz stellt, in den Hintergrund ge-raten, weil Professionalisierung undSpezialisierung dominieren, und ge-fährdet, weil er als eigenständigerAufgabenbereich bzw. Querschnitts-aufgabe zwar gefordert, aber nichtausreichend gefördert wird.

Was charakterisiert die "Kulturder Zusammenarbeit" vonHauptamtlichen und ehrenamt-lichen/freiwilligen Mitarbeite-rInnen in sozial-kulturellen Einrichtungen?

• Eine erfolgreiche Zusammenarbeitzwischen Fachkräften und motiviertenBürgerInnen setzt eine entsprechendeKultur der Zusammenarbeit voraus.Diese Kultur umfasst neben Regelnund Absprachen auch generelle Hal-tungen, ein klares professionelles Ver-ständnis der Rolle der Fachkräfte inder Zusammenarbeit und eine ent-sprechende Alltagsgestaltung.

• Regeln und Absprachen finden sichals Strukturen und Rahmenbedingun-gen in den Einrichtungen wieder. DieStrukturen der Einrichtungen, die alsHilfsgerüst für Informationen, Kommu-nikation, Entscheidung und Zuständig-keiten innerhalb einer Organisationdienen, müssen in einer sozial-kulturel-len Einrichtung auf Partizipation alsZiel ausgerichtet sein. Sie müssen Mit-gestaltung und Mitbestimmung ermög-lichen. Mitgestaltung und Mitbestim-mung muss durch sie erfahrbar und

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• erlernbar sein. Diese Strukturen müssenveränderbar und aushandelbar sein.

• Wichtigste Voraussetzung und zentraleRahmenbedingung für eine Kultur derZusammenarbeit ist die Vereinbarungüber das gemeinsame Ziel. Rahmenbe-dingungen regeln z.B. den Einstieg in,den Ausstieg aus und die Begleitungwährend der Arbeit. Identifikationsmög-lichkeiten mit der Einrichtung, angemes-sene Qualifizierungsformen, selbstver-ständliche Anerkennungsformen undder Aufgabe entsprechende Anbindun-gen an die Einrichtung sind weitere we-sentliche Rahmenbedingungen.

• Die Zusammenarbeit mit engagiertenBürgerInnen verlangt von den Fachkräf-ten ein professionelles Verständnis fürdiese Zusammenarbeit. Dieses impli-ziert die Fähigkeit zur Motivation, zurAktivierung und zur Unterstützung en-gagementbereiter Menschen. Grundla-ge eines solchen professionellen Ver-ständnisses ist es, die Zusammenarbeitmit Ehrenamtlichen und bürgerschaft-lich Engagierten als eigenständigesAufgabengebiet zu verstehen.

• Grundlegende Haltungen wie Offen-heit (z.B. für neue Ideen, andere Sicht-weisen) und Neugierde (z.B. auf aktu-elle Strömungen, ungewohnte Lö-sungswege) sind ebenso wichtig wiedas Überzeugtsein vom Auftrag derEinrichtungen und die Flexibilität, die-sen unter unterschiedlichsten Bedin-gungen umzusetzen. Zu den Haltun-gen gehört auch die Bereitschaft zurReflexion und Kritik sowohl der eige-nen Arbeit wie auch der Erwartungenund Ansprüchen von außen.

• Die Gestaltung des Alltags, die Atmos-phäre und das Image beeinflussen diegrundsätzliche Bereitschaft der BürgerIn-nen zur Zusammenarbeit. Die größtegegenseitige Wertschätzung im Alltagzeigt sich in gegenseitigem Respekt undAchtung, d.h. auch Grenzen zu akzep-tieren und Absprachen einzuhalten. GuteRituale pflegen und fördern den Umgangmiteinander: sowohl bei der Regelungoder Austragung von Konflikten wieauch in der Stiftung von Solidaritäts-und Gemeinschaftserfahrungen z.B. beigemeinsamen Aktionen oder Festen.

Das Buch, in dem das Projekt ProBE -"Projekt zur Unterstützung und Weiterent-wicklung des bürgerschaftlichen Engage-ments in sozial-kulturellen Einrichtungen"beschrieben und die erarbeiteten Ergebnissefestgehalten werden, erscheint im Januar2001 im Kohlhammer Verlag und kannüber den Verband bezogen werden.

Der Wissende

weiß, daß er

glauben muß.

(Friedrich Dürrenmatt)

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 11

stimmung, Basisdemokratie, Emanzipationund Gleichberechtigung. TrägerInnen rekru-tierten sich überwiegend aus den gebilde-ten Mittelschichten. Beide Bewegungen wa-ren Teil einer generellen Kritik an einem Ex-pertentum, dessen einseitige, reduktionisti-sche Sichtweisen immer weniger Akzeptanzfanden. Dies war einerseits Folge einer bes-ser gebildeten und emanzipierten Bürger-schaft, andererseits Folge der Erkenntnis,dass Wissenschaft und Politik nicht nur Pro-bleme lösen, sondern sie auch verursachen.

Die Soziale Arbeit blieb ebenfalls da-von nicht unberührt. Die Kritik an der Zu-richtung und Individualisierung von Pro-blemlagen und der "Entmündigung durchExperten"2 hatte nachhaltige Wirkungen.Die Bedeutung sozialer Bewegungen alsKorrektive, Ergänzung und Kooperations-partner Sozialer Arbeit ist seitdem deutli-cher in das Bewusstsein kritischer Sozialar-beitender gerückt.

Einen wirksamen Einfluss auf die Forde-rung der Teilhabe aller Gesellschaftsmitglie-der hatte die ökologische Bewegung.3 Seitden achtziger Jahren spielt die Partizipationaller an der Gestaltung des gesellschaftli-chen Lebens -– als Folge der Kommunitaris-

musdebatte – eine große Rolle. Auch wennderen VertreterInnen keineswegs nur einempolitischen Spektrum zuzuordnen sind, darfder Zusammenhang mit dem Siegeszug desNeoliberalismus und der Reprivatisierungsozialer Probleme nicht ignoriert werden.

Bürgerschaftliches Engagementder Ausgestoßenen: Medium dersozialkulturellen Integrationoder der ökonomischen Verwer-tung?

Neu an der derzeitigen Diskussion ist,dass nun den Herausgefallenen und Hinaus-gestoßenen und nicht mehr nur den Besser-gestellten bürgerschaftliches Engagement(gemeint ist meist unbezahlte, fremdbe-stimmte Arbeit als Ausgleich für den Bezugvon Sozialleistungen) schmackhaft gemachtwird.4 Der Hauptgrund liegt in der Erkennt-nis, dass die Verwertung ihrer Arbeitskraftim Marktgeschehen zunehmend überflüssigwird. Das ruft Soziale Arbeit auf den Plan,die Selbsthilfe aktivieren und durch Integra-tion in freiwillige Tätigkeiten das "sozialeKapital" der Gesellschaft stärken soll.

Erkenntnisse aus der Sozialpsychologieebenso wie beispielsweise die Empfehlun-

Bürgerschaftliches Engagement -alter Wein in neuen Schläu-chen?

In Abgrenzung gegenüber unbezahlter,weitgehend fremdbestimmter oder gar ver-pflichtender unbezahlter Tätigkeit (etwa fürSozialhilfeberechtigte) in sozialen Dienstenund Einrichtungen, spreche ich in Anleh-nung an Wolf-Rainer Wendt1 von bürger-schaftlichem Engagement als weitgehendselbstbestimmter Organisation eigener undgemeinsamer Belange durch die Bürgerin-nen und Bürger selbst. Dieses Engagementreicht von Selbsthilfegruppen über politi-sche oder ökologische BürgerInneninitiati-ven bis hin zu bürgerschaftlichen Träger-und Auffanglösungen in sozialen, kulturel-len und ökonomischen Problemkontexten.Während SelbsthelferInnen eigene und ge-meinsame Problemlagen gemeinsam mitanderen Betroffenen aus eigener Kraft lö-sen, greifen Initiativen und Einzelne politi-sche, ökologische und soziale Zusammen-hänge ihres Umfeldes auf, mischen sich inEntwicklungsprozesse ein.

Selbsthilfe und Initiativarbeit sind keineneuen Phänomene. Höhepunkte waren inDeutschland die 70er-Jahre. Beide Bewe-gungen legten großen Wert auf Selbstbe-

BürgerschaftlichesEngagement: Zentrales Anliegenoder Nebenschau-platz Sozialer Arbeit?

von Prof. Dr. Susanne Elsen

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ken muss, andererseits sind die zu organi-sierenden Handlungsfelder der Belange be-nachteiligter Bevölkerungsgruppen hochkomplex, denn sie tangieren alle zentralenLebensbereiche und gehen über das "So-ziale" hinaus. Förderung heißt keineswegsnur Koordination, Information und Kommu-nikation, sondern Realisierung komplexerProjekte, Aufbau und Management von Un-ternehmen und Organisationen, aber auchvermittelnde Tätigkeit im intermediärenKraftfeld.

So wie freiwilliges Engagement sich amEigennutz orientiert und die Tür zum Gemein-nutz öffnet, ist es auch eigensinnig und eigenwillig.5 Sowohl die Ideen und Projekteziviler Akteurinnen und Akteure als auchdie Wege zu ihrer Erreichung sind meist un-konventionell, findig und synergetisch. Siewidersprechen häufig den Vorstellungenetablierter Systeme in Verwaltung, Marktund Politik. Dies verweist darauf, dass Kon-flikt integrativer Bestandteil Bürgerschaftli-chen Engagements ist. Als "Feuer unter demKessel der Demokratie"6 wirkt Konflikt alsFaktor sozialen Wandels.

Aus der Perspektive Sozialer Arbeit undihrer AdressatInnen ist die Frage bürger-schaftlichen Engagements der VerliererIn-nen des Modernisierungsprozesses darüberhinaus nicht ohne die der individuellen exi-stenziellen Voraussetzungen zu diskutieren.Ich beziehe mich auf die klare Position, dieAndré Gorz bereits in den 80er-Jahren7 alsAntwort auf das Ende der Erwerbsarbeitsge-sellschaft bezogen und erfolgreich vertretenhat. Seine Forderung der teilweisen Entkop-pelung von Erwerbsarbeit und Einkommendurch die Einführung eines garantiertenGrundeinkommens für alle BürgerInnen hatin Frankreich zur Einführung des RMI (mini-males Integrationseinkommen) geführt, einerwesentlichen Voraussetzung für den Wegvon der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft.

Möglicherweise wäre diese Grundsiche-rung ja auch die Basis freitätiger Sozialar-beit, die sich ihre eigenen Handlungsvor-aussetzungen selbst schaffen muss.

Trägerkonstruktionen bilden die institu-tionell-organisatorischen Voraussetzungenund müssen der nötigen Flexibilität, Offen-heit und territorialen Spezifik Rechnung tra-gen. Dies bedeutet beispielsweise, dassAuftrag und Trägerschaft unmittelbar an un-terschiedliche AkteurInnen des Gemeinwe-sens, beispielsweise BürgerInnenstiftungen,

Netzwerke und Projektverbünde, lokalePartnerschaften u.ä. gebunden sind bzw.von ihnen kontrolliert werden.

Demokratische Teilhabe undfreitätige Sozialarbeit

Weder die Formen der Selbstorganisati-on von BürgerInneninteressen noch dieWertschätzung ihrer Bedeutung für den de-mokratischen Staat sind neu. Aktuelle Kom-mentierungen finden sich bei Jean JacqueRousseau (1712-1790), Alexis de Tocque-ville (Über die Demokratie in Amerika1835)8, Jane Addams (1860-1935) oderSaul Alinsky (1909-1972). Diese Personenverbindet über die Jahrhunderte hinweg dieIdee der Basisdemokratie, der Teilhabe al-ler Menschen, die den Kern bürgerschaftli-chen Engagements bildet.

Nur Jane Addams und Saul Alinsky9 ste-hen in direktem Zusammenhang mit demGegenstand Sozialer Arbeit. Betont werdenmuss, dass beide für eine freitätige, bürger-schaftlich getragene und frei finanzierte So-ziale Arbeit unter direkter Kontrolle derAdressatInnen stehen.

Die in Deutschland wenig verbreiteteTradition freitätiger Sozialarbeit der Settle-mentbewegung und des Community Orga-nizing ist unter den gegebenen gesellschaft-lichen Bedingungen richtungsweisend. Die-se sozialreformerische Arbeit war Antwortauf die sozialen, ökologischen, kulturellen,ökonomischen und politischen Verwerfun-gen der ersten industriellen Revolution. IhreUnabhängigkeit resultierte nicht zuletzt ausder Tatsache, dass die rein bürgerschaftlichgetragenen Einrichtungen als Gegenpole ineiner Gesellschaft agierten, deren mangeln-de sozialpolitische Flankierung von Lebens-risiken die soziale, politische und ökonomi-sche Selbsthilfe stets zur Notwendigkeitmachte. Die Freiheit, Gegenpositionen ge-genüber dominanten gesellschaftlichen Systemen einnehmen zu können, basiertemaßgeblich auf der fehlenden sozialen Sicherung der AdressatInnen wie der Pro-fessionellen. Trägerschaft und Finanzierunglagen bei privaten Stiftungen und Fonds,und für die Settlementbewegung gilt, dassdie PionierInnen auch eigene Mittel in dieArbeit einbrachten.

Beobachtet man das derzeit sich rasantausweitende Stiftungswesen in Europa10,eine Entwicklung, die auch im Zusammen-hang mit dem Rückzug des Staates steht,

gen des Meisters der Aktivierung, Saul Alinsky, verweisen darauf, dass Menschennur in ihren Eigeninteressen, ihren eigenenRelevanzstrukturen zu motivieren sind.Wenn bürgerschaftliches Engagement dieOrganisation eigener und gemeinsamer In-teressen meint, dann geht es bei benachtei-ligten Gruppen, und ihnen gilt nach wie vordas Hauptinteresse Sozialer Arbeit, insbe-sondere um die konkrete materielle Verbes-serung der eigenen und gemeinsamen Le-benssituation. Geht es um die Frage sinnvol-ler Betätigungsfelder für Menschen aus be-nachteiligten Milieus und Lebenssituationen,dann sind diese gemeinsam mit den Betrof-fenen im Bereich der Gestaltung und Ver-besserung ihres eigenen sozialen, politi-schen, ökonomischen und kulturellen Lebenszu suchen. Das heißt nichts anderes als ent-wicklungsorientierte Gemeinwesenarbeit inihrem ursprünglichen Sinne. Formen sindbeispielsweise die Organisation eines Bi-stros mit Krabbelstube und Kinder-Second-Hand durch Alleinerziehende, die Verant-wortung für eine Stadtteilwerkstadt durcheine Gruppe älterer arbeitsloser Frauen undMänner oder die Übernahme von Hausmei-sterfunktionen in ihrer Siedlung durch eineGruppe von Sozialhilfeberechtigten, eineSchülertauschbörse etc.

Voraussetzungen Bürgerschafti-cher Teilhabe benachteiligterMenschen

Beispiele aus Geschichte und Gegen-wart verdeutlichen, dass eine Grundvoraus-setzung der Entfaltung bürgerschaftlichenEngagements in der Herstellung und Kulti-vierung einer Öffentlichkeit besteht, die Ge-meinsames erkennbar macht oder entstehenlässt. Bürgerschaftliches Engagementbraucht einen Ort im Gemeinwesen, der alsKristallisationspunkt, Impulsgeber, Ort desAustauschs und des Lernens wirkt. SolcheOrte waren die Settlements im Zeitalter derIndustrialisierung. Es sind heute beispiels-weise Sozialkulturelle Zentren in den Städ-ten. Wichtig ist, dass sie der Pluralität desGemeinwesens Rechnung tragen und vonmöglichst vielen verschiedenen Menschenin ihrem Alltag genutzt werden.

Nicht nur die Förderung bürgerschaftli-chen Engagements artikulationsschwacherMenschen, dieses jedoch in besondererWeise, bedarf der kompetenten fachlichenUnterstützung. Einerseits ist es besondersunterstützungsbedürftig, weil es den Folgender Entwertungserfahrungen entgegenwir-

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zeichnet sich eine Entwicklung ab, die aufdie Ursprünge freitätiger Sozialer Arbeitzurückweist. Ebenfalls nicht neu sind inno-vative Verbünde von Projekten, Einrichtun-gen und Unternehmen, die Trägerschafts-und Finanzierungskreisläufe zugunsten so-zialer, ökonomischer, kultureller und ökolo-gischer Entwicklungen in einem Gemein-wesen formieren. Ihre Wurzeln reichen indie frühe sozialreformerische Genossen-schaftsbewegung zurück.11

Ist dies alles deshalb so aktuell, weilsich nun auch bei uns der Markt seines so-zialen Mantels entledigt?

Soziale Arbeit und Zivilgesell-schaft

Die Notwendigkeit der Stärkung der Zi-vilgesellschaft und der Eigenständigkeit le-bensweltlicher Zusammenhänge resultiertaus den Erfordernissen nachhaltiger Ent-wicklung ebenso wie aus der Tatsache,dass sich der Staat aus seiner Verantwor-tung zurückzieht12 und der globalisierteMarkt sich seiner territorialen und gesell-schaftlichen Einbettung entzieht. Der globa-le Wandel führt zu grundlegenden Funkti-onsveränderungen und Neugewichtungeninnerhalb und zwischen den BereichenStaat, Markt und Lebenswelt.

Für Sozialpolitik und Soziale Arbeit alsTeil staatlicher Steuerung und Umverteilunghat dies weitreichende Konsequenzen undzwar für ihr Handlungsverständnis, ihre Ar-beitsfelder und ihre institutionell-organisatori-sche Anbindung und Finanzierung undselbstverständlich auch für die Ausbildung.Wenn Staat und Markt ihre sozialen, ökono-mischen und politischen Aufgaben nichtmehr wahrnehmen oder leisten können, ge-winnen Zivilgesellschaft und Lokalitäten ihrerLebenszusammenhänge an Bedeutung. DieWelt in den lokalen Grenzen wird infolgeglobaler Entgrenzungen zum wichtigstenHandlungsfeld eigenständiger Problemlösun-gen und nachhaltiger Entwicklung. Sie istKristallisationspunkt nahezu aller Lebensfunk-tionen, Ort der sozialen Integration und derExistenzsicherung für die wachsende Zahlder ModernisierungsverliererInnen. Die neueSituation erfordert die selbstbewusst-kritischePositionierung Sozialer Arbeit gegenüberStaat und Markt. Ihre Aufgabe wird mehrdenn je die Erfindung spezifischer Lösungenkomplexer sozialer Probleme und die Ge-staltung eigenständiger Lebenszusammen-hänge in den Gemeinwesen sein.

Die Lebenszusammenhänge mit denMenschen vor Ort, nicht für sie zu gestal-ten, ist die anstehende Aufgabe, denn diegemeinsame Organisation von Alltagszu-sammenhängen ist wirksamster Garant so-zialer Integration. Zentrales Erfordernis istdie Bemächtigung der Menschen vor Ort,eigene und gemeinsame Belange selbst zuorganisieren. Dabei geht es eben nicht dar-um, dass die Armen sich per Selbsthilfe anden eigenen Haaren aus dem Sumpf zie-hen, sondern um die Schaffung der Voraus-setzungen, die ihnen eine eigenständige,menschenwürdige Existenz ermöglichen.

Die tiefgreifenden Veränderungen, diesowohl Chancen als auch sozial destruktiveFolgen zeitigen, sind Ausgangspunkte deraktiven Gestaltung des Wandels. Eine derKonsequenzen ist es, der zivilen Tätigkeits-gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen.Erforderlich ist die Erweiterung gesellschaft-licher Tätigkeit durch die Schaffung von Op-tionen sozialer und ökonomischer Eigenpro-duktion und Selbstorganisation insbesonde-re für die gesellschaftlichen VerliererInnen,die auf das lokale Gemeinwesen als Ortder Lebensbewältigung und Existenzsiche-rung am stärksten angewiesen sind. Kenn-zeichen der Tätigkeitsgesellschaft ist eineMischung von Tätigkeitsfeldern und Organi-sationsformen an den verschiedenen Naht-stellen gesellschaftlicher Wohlfahrtsprodukti-on.13 Es handelt sich um eine Mixtur mit of-fenen Übergängen und neuen Verknüpfun-gen. Aus dem Kontext der Zivilgesellschaftzu erschließende Handlungssfelder liegenauch da, wo sich der Staat aufgrund rück-läufiger Verteilungsspielräume bei steigen-dem Bedarf an sozialer Absicherung undan Erhaltung öffentlicher Infrastrukturzurückzieht, wo der Markt mangels Rentabi-lität Felder aufgibt oder da, wo soziale undökologische Erfordernisse unberücksichtigtbleiben.

Da dieser Bereich zwischen Staat,Markt und Lebenswelten die Potenziale derZivilgesellschaft zu erschließen vermag undim lokalen Kontext zu synergetischen Lösun-gen führen kann, ruhen auf ihm, wie die un-terschiedlichen Programme zu integrativenProblemlösungen (z.B. Soziale Stadt) zei-gen, viele Hoffnungen. Es geht um Wohnenund Wohnumfeld, Kinder- und Altenbetreu-ung, Bildung, Kultur, nahräumliche Versor-gung, Transportwesen, vorsorgenden undnachsorgenden Umweltschutz und perso-nenbezogene Dienstleistungen. All dies sindAufgaben, die aus dem Lebenszusammen-hang der Gemeinwesen resultieren, soziale

Aufgaben also, die in sinnvollen Verknüp-fungen und Kooperationen vor Ort zu orga-nisieren sind. Neue Möglichkeiten resultie-ren insbesondere aus der notwendigen lo-kalen Neuorganisation und Verknüpfungder Aufgaben, z.B. im Bereich von Versor-gung, Betreuung und Wohnen. Ich sprechenicht von irgendwelchen Beschäftigungs-und Qualifizierungsmaßnahmen, sondernvon der Gestaltung lokaler Gemeinwesenals zukunftsfähige Lebensorte.

Nicht nur Existenzsicherung als Siche-rung der Lebensgrundlage jedes Menschen,sondern Wirtschaften als soziales Handelnwird wieder zum zentralen Thema des Le-bens, des Zusammenlebens und der Erhal-tung der gemeinsamen Lebensgrundlagenund damit zum Thema Sozialer Arbeit.14

Und dies bedeutet etwas anderes und mehrals nur Beschäftigungsförderung im her-kömmlichen Sinne.

Bereits heute bildet sich in lokalen Ni-schen eine zivile "Flickenteppichwirt-schaft"15 aus Initiativen, Kooperativunter-nehmen, gemeinnützigen und erwerbswirt-schaftlichen Unternehmens- und Organisati-onsformen heraus. Gearbeitet wird in einerbunten Mischung aus Eigenarbeit, Erwerbs-arbeit, Nachbarschaftshilfe und bürger-schaftlichem Engagement. Multifunktiona-lität und Vielfalt (beispielsweise die Verbin-dung von Kinderbetreuung, Stadtteilwerk-statt, generationsübergreifendem Kommuni-kationszentrum, Stadtteilcafé, Info-, Tausch-und Jobbörse, Second-Hand und Telema-tikzentrum etc.) innerhalb einer Einrichtungsind ebenso typisch wie heterarchischeNetzwerke, Partnerschafts- und Kooperati-onsmodelle zwischen öffentlichen und priva-ten Organisationen, sozialen Bewegungenund Initiativen. Unkonventionelle Finanzie-rungsmodelle, beispielsweise Fondsmodelleoder Finanzierungskreisläufe, bei denen aufdie Verhinderung dysfunktionaler Mittelab-flüsse geachtet wird, haben das Ziel, sichvon den Unsicherheiten staatlicher Subventi-onspolitik unabhängiger zu machen.

Erster und wichtigster Schritt und Grund-voraussetzung ist die Einbettung in die Plu-ralität der Zivilgesellschaft vor Ort. Dies be-deutet für Soziale Arbeit nicht nur Koopera-tion mit Vereinen, BürgerInnengruppen, so-zialen Bewegungen und gewerblicher Wirt-schaft, sondern den Aufbau von Bewohne-rInnenräten, Projektbeiräten, Lokalen Part-nerschaften, BürgerInnenstiftungen und an-deren bürgerschaftlichen Trägerschaften für

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Vorhaben, Unternehmen und Projekte inden Gemeinwesen. Ich halte diese Einbin-dung für mindestens ebenso wichtig wiedie mittlerweile selbstverständliche Koope-ration der Fachbasis sowie der Zusammen-arbeit mit Politik und Verwaltung im sek-torübergreifenden Zusammenhang.

Für Soziale Arbeit ist es Zeit zu erken-nen, dass sowohl die deutsche Trägerland-schaft als auch das reduzierte Verständnisvom "Sozialen" als Restgröße einen Son-derweg darstellen, der sich spätestens mitder Öffnung der europäischen National-staaten neuen Möglichkeiten, Anforderun-gen und auch Restriktionen stellen muss.

Das Grundmodell pro-aktiverSozialarbeit

Wenn bürgerschaftliches EngagementKern demokratischer Gesellschaften ist undSoziale Arbeit einen Auftrag darin hat, dieZivilgesellschaft zu fördern, dann schließtdies undemokratische Ansätze aus. Dieneuen Aufgaben erfordern den Abschiedvon stellvertretenden und bevormundendenHandlungsmustern, überkommenen Versor-gungsangeboten und hierarchischen Trä-gerstrukturen. Ins Zentrum rücken die Poten-ziale und Bedürfnisse von Menschen.

Bis heute dominiert in Praxis und Lehreein überwiegend an individuellen Behand-lungsbedürftigkeiten und Defiziten orientier-tes, re-aktives Grundmodell der Sozialar-beit,16 welches seine Wurzeln im deutschenFürsorgewesen hat. Diesem Verständnissteht das pro-aktive Grundmodell gegenü-ber, dessen Wurzeln in die Tradition sozi-alreformerischer Sozialarbeit reichen unddas sich in Zielen, Handlungsfeldern, Ar-beitsprinzipien, Methoden, Menschen- undGesellschaftsbild deutlich vom re-aktivenModell unterscheidet. Es zielte auf die de-mokratische Teilhabe aller Gesellschaftsmit-glieder, Emanzipation, Befähigung undBemächtigung der Benachteiligten, auf so-zialen Wandel und gesellschaftlichenMachtausgleich. Diese Ziele haben ihreGültigkeit nicht eingebüßt. Sie sind unterder gegebenen ökologischen, ökonomi-schen, sozialen und politischen Entwicklungaktueller denn je.

Während re-aktive Sozialarbeit als An-wendungsbereich staatlicher Sozialpolitikausgleichend und sozialdisziplinierend inden Lebenswelten wirkt und die marktindu-zierten Lebensrisiken und Krisen flankiert,agiert das pro-aktive Modell entwicklungs-orientiert. Um recht verstanden zu werden:

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Der individuelle Rechtsanspruch auf Absi-cherung zentraler Lebensrisiken durch dassozialpolitische System ist nicht durch pro-aktive Arbeitsansätze zu ersetzen. Er istvielmehr Voraussetzung jeder entwicklungs-orientierten Sozialarbeit, insbesondereauch des bürgerschaftlichen Engagements.

Anders als in der Sozialarbeit fürsorge-rischer Tradition sind nicht nur bedürftigeEinzelne und Zielgruppen die AdressatIn-nen. Reine Fallorientierung ebenso wie diereine Zielgruppenorientierung weichen ei-nem entwicklungsorientierten feldspezifi-schen Ansatz. Es geht um die Förderungund Realisierung von Projekten und Unter-nehmen der Selbsthilfe und Selbstorganisati-on in den Gemeinwesen. Die Funktion So-zialer Arbeit besteht dann nicht mehrprimär in stellvertretendem Handeln, Betreu-ung, Versorgung und Bereitstellung von An-geboten, sondern in Aktivierung, Moderati-on, Vernetzung, Ressourcenbeschaffung,Projektentwicklung, Prozessbegleitung, Ko-ordination, Politikberatung, Sozialem Ma-nagement und anderen Aufgaben.

Kompetenzen für die pro-aktiveSoziale Arbeit

Am ehesten lässt sich das Tätigkeitspro-fil mit den Bezeichnungen facilitotor oder ci-vic entrepreneur charakterisieren. Wendtbezeichnet sie als Promotoren, die im ge-sellschaftlichen Umfeld neue Wege suchen,als Katalysatoren wirken, Netzwerke bil-den, dabei Personen und Institutionen ver-binden und Vorhaben anbahnen.17

Kompetenzen liegen nach meinen Erfah-rungen und Einschätzungen in folgendendrei Bereichen:

1. Kompetenzen für die pro-aktive Ar-beit innerhalb des Gemeinwesens:Aktivierende Sozialforschung, Kon-struktion und Realisierung von Beteili-gungsprozessen insbesondere mit ar-tikulationsschwachen Menschen, Er-schließung von Tätigkeitsfeldern, Er-hebung von Bedarf und Potenzialen,Information, Koordination, Ideen-suche, Vernetzung, Herstellung kultur-und schichtübergreifender Handlungs-kontexte, Einleitung und Begleitungvon Empowermentprozessen undQualifikation.

2. Kompetenzen für die pro-aktive Arbeit im intermediären KraftfeldKompetenzen sozialraumbezogener

3. Sozialforschung, Ressourcenakquisiti-on und -bündelung insbesondereauch von nicht-sozialpolitischen Mit-teln, Einleitung und Begleitung sek-torübergreifender Kooperationen undlokaler Partnerschaften, Politik- undMarktbeobachtung und -beratungu.a.m.

3. Sozialwirtschaftliche KompetenzProzessorientierte Projekt-, Organisa-tions- und Unternehmensentwicklung,Projekt- und Unternehmensmanage-ment, Verstetigung und Einleitung in-stitutionalisierten bürgerschaftlichenEngagements, Befähigung und Quali-fizierung der Beteiligten u.a.m.

Dieses Spektrum und das skizzierteHandlungsverständnis verdeutlichen, dasspro-aktive Sozialarbeit nicht Nebensacheder gängigen Ausbildung sozialer Berufesein kann. Die Kompetenzen können nichtzusätzlich zur "eigentlichen" Sozialarbeitvermittelt werden, sondern erfordern eineSchwerpunktsetzung auf die komplexe ent-wicklungsorientierte Soziale Arbeit in undmit größeren sozialen Systemen.

Das Handlungsprofil pro-aktiver Sozial-arbeit steht keineswegs im Widerspruch zuden aktuellen komplexen Handlungstheori-en Sozialer Arbeit beispielsweise bei StaubBernasconi und Wendt.18 Der Widerspruchliegt vielmehr in der gängigen Praxis undLehre. Die reduktionistische Zurichtung so-zialer Probleme in Form von Personalisie-rung und Individualisierung hat viele, u.a.auch berufspolitische Gründe.19 Die Gestal-tung des Sozialen als umfassender, an-spruchsvoller Auftrag der Sozialen Arbeit isweit in den Hintergrund gerückt, weil müh-sam, konfliktreich, unerwünscht und im Wi-derspruch zu dominanten gesellschaftlichenKräften.

Ich bin davon überzeugt, dass es einerdeutlichen Hinwendung zur pro-aktiven,und einer kritischen Überprüfung re-aktiverAnsätze bedarf, wenn Soziale Arbeit über-haupt eine Zukunft haben soll. Immerhingibt es einige Fachhochschulen in Deutsch-land, die die Zeichen der Zeit erkannt ha-ben. So bietet beispielsweise die Evangeli-sche Fachhochschule des Rauhen Hausesab Sommersemester 2001 einen Master-studiengang zur Gemeinwesenökonomie an

Wo bitte geht‘s zum Markt?"Wo gibt es die Stellen und wo sind die

Fördertöpfe?" Mit Ausnahme der inhaltlich-

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 15

konzeptionell richtigen, in Umfang und För-derdauer jedoch eher symbolischen Pro-gramme zur sozialen Stadt- und Regional-entwicklung (derzeit Soziale Stadt) gibt esdiese Stellen und Töpfe als Konfektionswarehöchst selten. Es gilt vielmehr nicht nur neueProblemlösungen, sondern auch die finanzi-ellen und organisatorisch-institutionellenRahmenbedingungen der eigenen Tätigkeitzu konstruieren.

Dies wird auch in vielen anderen Fel-dern Sozialer Arbeit der Fall sein. Outsour-cing und Privatisierung im Sozialbereich ha-ben soeben erst begonnen und zukünftigwerden sich immer mehr Sozialarbeitendeum immer weniger, kurz befristete Aufträgebewerben und sich von Werkvertrag zuWerkvertrag hangeln.

Ich begrüße diese Entwicklung keines-wegs. Ich thematisiere sie jedoch, weil sieimmer noch ignoriert wird – nicht nur vonPraktikerInnen, die legitime Interessen ander Erhaltung ihrer Erwerbsarbeitsplätze ha-ben. Auch Fachhochschulen haben bisherkaum wahrgenommen, dass sie erstens füreinen schrumpfenden, zweitens für einensich rasant verändernden Markt und drittensfür ein sich stark veränderndes Berufsbildausbilden. Möglicherweise merken sie eserst dann, wenn das, was die Soziale Ar-beit einmal als Proprium besaß, von ande-ren, flexibleren und leider auch gesellschaft-lich anerkannteren Disziplinen übernommenworden ist.

Übertrieben? Keineswegs! Die Studi-engänge für Sozial- und Gesundheitswirt-schaft in der Betriebswirtschaftslehre boo-men und die interessanten Felder pro-akti-ver Sozialarbeit wurden längst von der Pla-nungsbezogenen Soziologie, der Raumpla-nung und der Sozialgeographie übernom-men. Hinzu kommt, dass das Image der Stu-diengänge für Soziale Arbeit und ihre Pra-xis auf dem tiefsten Punkt seit der Einrich-tung der Fachhochschulen ist. Das könnenwir uns einerseits selbst zuschreiben, ande-rerseits hat es viel mit der Entwertung des"Sozialen" in unserer Gesellschaft zu tun.

Lehre und Forschung der Sozialen Ar-beit ebenso wie die deutsche Sozialwissen-schaft generell haben ihre Funktion als Inno-vationspotenzial, gesellschaftliches Korrek-tiv, Entwicklungslabor und Warnsystem be-reits seit längerer Zeit aufgegeben. Die dy-namische Landschaft der Forschungs- undEntwicklungsprojekte der 70er- und 80er-

Jahre als Zusammenhang gesellschaftlicherAnalyse, Kritik und Innovation ist aus densozialwissenschaftlichen Fakultäten ver-schwunden. Im Gegenteil, sie humpeln seitgeraumer Zeit rasantem gesellschaftlichenWandel hinterher und kommentieren be-stenfalls die eng definierten Ausschnitte, fürdie Drittmittel fließen oder Beraterverträgewinken. Dies ist verständlicherweise eine re-duzierte, stark interessengeleitete Realitäts-sicht. So wie die Innovation der Praxis So-zialer Arbeit der aktiven Einbettung in diePluralität der Zivilgesellschaft bedarf, sowäre dies auch der Lehre und Forschung zuempfehlen.

Ein Beispiel20

Ich möchte im Folgenden ein Beispielaus unserer Praxis in Trier vorstellen. Es ver-deutlicht die Entwicklungspotenziale einerArbeit, die aus bürgerschaftlichem Engage-ment entstand und die aus intensiver Einbet-tung in die Pluralität der Zivilgesellschaft vorOrt, rein bürgerschaftlicher Trägerschaft, in-tensiver interdisziplinärer, klassen-, und sek-torübergreifender Zusammenarbeit und ei-nem fruchtbaren Verhältnis von Wissen-schaft, Lehre und Ausbildung resultiert. Eszeigt andererseits eine Soziale Arbeit, diesich nicht auf "das Soziale" beschränkt,sondern selbst bedarfsspezifisch Bereichedes Marktes erschließt und in sozial- undumweltverträglicher Weise organisiert, aberauch in Kooperation mit vielen AkteurInnendie politische Steuerung des komplexen Ge-bildes, mit den damit verbundenen Risikenund Chancen weitestgehend in eigener Ver-antwortung hält.21

Das Gemeinwesenzentrum entstand1983 als Forschungs- und Entwicklungspro-jekt der Universität Trier. Es befindet sichseit 1987 in bürgerschaftlicher Trägerschaftder BewohnerInnen eines sozialen Brenn-punktes, gemeinsam mit engagierten undeinflussreichen Frauen und Männern aus Po-litik, Wissenschaft, Kirche, Wirtschaft undGesellschaft, die sich mit ihren jeweiligenRessourcen und Einbindungen in die Ent-wicklung einbringen.22

Es handelt sich heute um einen Verbundaus Einrichtungen, Initiativen und Unterneh-men in den Bereichen Wohnungs- und Bau-wirtschaft, Liegenschaftsverwaltung, Famili-enberatung, Kinder- und Jugendhilfe, Be-schäftigung und Qualifizierung, Dienstlei-stungsunternehmen, Beratung zur Existenz-gründung, Resozialisierungsprojekt für Straf-

fällige, Wohnumfeldpflege und -gestaltung,Jobbörse und Infocafé, Baby- und Krabbel-stube, Netzwerk für Selbsthilfegruppen, so-zialkultureller Treffpunkt, Agenda 21-Aktivi-sten, Selbstlernzentrum und vielem anderemmehr.

Seit 1986, mit der Verschärfung der Ar-beitslosigkeit, wurde eine deutliche Verlage-rung von sozialkultureller und sozial-pädagogischer hin zu einer sozialökono-misch und strukturell orientierten Arbeit voll-zogen. Dies trug der Erkenntnis Rechnung,dass überwiegend ökonomische Problemesich nicht pädagogisch lösen lassen.

Alle Teile im Verbund sind weitestge-hend in eigenständiger Verantwortung derBetreibenden und Nutznießenden. Eine derwichtigsten Voraussetzungen des Erfolgesliegt im synergetischen Einsatz von Ressour-cen, die insbesondere selbst erwirtschaftetwerden und nicht aus verschiedenen öffent-lichen Subjekt- und Objektförderungen (ins-besondere Darlehen des sozialen Woh-nungsbaus) einfließen, die jedoch weitest-gehend auch allen anderen gewerblichenUnternehmen zur Verfügung stehen. DieRessourcen bleiben möglichst im Kreislauf,um Weiterentwicklung und Stabilisierung zugewährleisten. Tätig sind heute weit mehrals 100 Personen als Hauptamtliche, Ne-benamtliche und Ehrenamtliche. Das ge-samte Netzwerk kooperiert sektorübergrei-fend mit Verwaltungen, Einrichtungen, Per-sonen, Unternehmen und Gebietskörper-schaften von der lokalen über die Landes-und Bundesebene bis hin zur EU.

Steuerung, Koordination und Entschei-dungen liegen nicht, wie sonst in der sozial-politischen Praxis üblich, beim öffentlichenTräger, sondern beim Verbund selbst. Diesist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dassder Kern des Verbundes (Wohnungsunter-nehmen, Bauunternehmen, Verwaltungsun-ternehmen) aus Marktunternehmen besteht.Auch wenn alle Unternehmen de facto So-zialunternehmen sind, sind sie nach ihrerRechtsform keine gemeinnützigen Unterneh-men und genießen deshalb die häufig miss-brauchte Freiheit des Marktes für sozialeZwecke. Ich halte diesen Aspekt aus meinerheutigen Sicht und aus der umfangreichenVergleichsmöglichkeit mit anderen Entwick-lungsprojekten für überaus wichtig. Ich bindavon überzeugt, dass eigenständige Ent-wicklungen weitestgehende Selbststeuerungerfordern. Dies ist nach meinen Beobach-tungen noch immer höchst selten.

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Aufgrund der Einbettung und Vernet-zung der Arbeit, der bürgerschaftlichenTrägerschaft und der Lobby vieler Frauenund Männer aus allen Bereichen der Ge-sellschaft, die sich für die Entwicklung desStadtteils einsetzten, gelang es 1989, denspekulativen Verkauf von mehr als hundertvollkommen heruntergekommenen Wohnun-gen innerhalb des Stadtteils zu verhindern.Das gewachsene Milieu wäre zerstört unddie Menschen vereinzelt worden. Durcheine Genossenschaftsgründung einflussrei-cher PromotorInnen gemeinsam mit den Be-wohnerInnen, die zu diesem Zeitpunkt zuüber 50% von Arbeitslosengeld, Sozialhil-fe, kleinen Renten und prekären Jobs leb-ten, wurden die BewohnerInnen selbst zugenossenschaftlichen EigentümerInnen ihrerWohnungen. Sie haben damit eine sichereBleibeperspektive durch lebenslangesWohnrecht, bezahlbare Mieten, die Mög-lichkeit der Qualifizierung und eigenständi-gen Existenzsicherung durch eine dauerhaf-te Beschäftigung. Sie sind heute, nach derumfangreichen Sanierung, im Besitz einerattraktiven Wohnung.

Qualifizierungs- und Beschäftigungs-maßnahmen sind in diesem Verbund ersteSchritte, die in die Möglichkeit der Dauer-beschäftigung in einem der Tochterunter-nehmen der Genossenschaft münden. UmDauerarbeitsplätze für die BewohnerInnenzu schaffen und die anfallende Arbeit im eigenen Wohngebiet unter den vorgeschrie-benen Marktbedingungen leisten zu kön-nen, wurde 1993 das TochterunternehmenHVS GmbH mit vier Meisterbetrieben imBaubereich gegründet. Heute hat dieses Un-ternehmen 52 fest angestellte und tariflichbezahlte Mitarbeitende. Zunehmend wirdnicht im eigenen Wohnbereich, sondern inder Stadt, der Region und sogar in Luxem-burg gearbeitet. Gründe hierfür liegen imbesonderen Profil eines Unternehmens, dassich auf die Anleitung von Selbsthilfe undGewerken aus einer Hand sowie auf ökolo-gisches Bauen spezialisiert hat.

Damit Frauen die Möglichkeit zur Er-werbsarbeit haben, mussten Familienentlas-tungsdienste entstehen. Aus diesem Grundwurde 1996 eine ehemalige Grundschulegekauft, mit den eigenen Unternehmen sa-niert und als Kindertagesstätte für 60 Kin-der eingerichtet. Damit diese Tageseinrich-tung durchgehend geöffnet sein kann,brauchte es einen Cateringbetrieb, der wie-derum, um wirtschaftlich arbeiten zu kön-nen, weitere Aufträge benötigte. Angebotevon Vereinsverpflegung, Partyservice und

16 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

einem Mittagstisch für SeniorInnen im Stadt-teilzentrum tragen dazu bei und schaffenneue Arbeitsplätze.

Da die Wohnungsgenossenschaft einprofessionelles Management braucht unddie Basis der Wohneinheiten der Genossen-schaft zu klein war, um dies über die Mie-ten zu finanzieren, war es erforderlich,mehr Wohnungen zu erwerben und dieManagementleistung sowie die BewohnerIn-nenarbeit und angeleiteten Selbsthilfeleistun-gen auch anderen Wohnungsunternehmenanzubieten. Um dies leisten zu können,wurde 1996 das Tochterunternehmen derGenossenschaft WSG GmbH gegründet.Heute hat diese Verwaltungs- und Servicefir-ma neun MitarbeiterInnen und Auszubilden-de überwiegend aus dem Wohngebiet. Mitdem Ankauf und der Sanierung weiterer Lie-genschaften in der Zeit zwischen 1997 und1999 konnte die Genossenschaft stabilisiertwerden. Nun haben weitere BewohnerIn-nen des Stadtteils die Möglichkeit, von denVorteilen des Verbundes zu profitieren.

Derzeit entsteht DINO, das Dienstlei-stungszentrum Trier-Nord mit dem Ziel derEinrichtung einer Dienstleistungsagentur undweiterer privatwirtschaftlicher Angebote.Ein leerstehendes Geschäftshaus wurde er-worben, saniert und für die Nutzung über-geben. Um die Abnahme der Dienstleistun-gen durch Frauen des Wohngebietes zu si-chern, wurde eine Kooperation mit einer In-itiative zum selbstbestimmten Leben im Altereingegangen. Die Initiative überwiegendbürgerlicher Frauen hat der Genossenschaftam Beutelweg die Bauträgerschaft und Ver-waltung des Vorhabens übergeben. Sie be-gründet dies mit Vertrauen. Transparenzund Integrität sind für eine kritischer wer-dende Bevölkerung entscheidende Fakto-ren.

Es wäre eine Vielzahl weiterer Projektezu nennen. Im Rahmen des Programms So-ziale Stadt werden beispielsweise Vorha-ben im Bereich der Umfeldgestaltung, desSpielplatzbaus, alternativer Bildungseinrich-tungen und der Schaffung von Raum fürkreative Aktivität und Existenzgründungenrealisiert.

Es ist schwierig, der rasanten Eigen-dynamik zu folgen und die entstandenekomplexe Struktur zu steuern oder auch nurzu durchschauen. Dies heißt nicht, dass die-se deshalb schlecht sei, es soll nur zeigen,dass diese Art der Arbeitsorganisation allesandere als einfach ist, zumal sie im harten

Gegenwind des Marktes mit der Selbstver-pflichtung sozial und ökologisch nachhalti-gen Agierens ziemlich schutzlos bestehenmuss. Es ist zwar keineswegs leicht, ohnewarme Kapitaldecke im kalten Wind desMarktes zu bestehen, doch allemal ist diessicherer als ausschließlich von sozialstaatli-chen Zuteilungen abhängig zu sein undsich dabei einer Umklammerung auszuset-zen, die kaum eine Weiterentwicklung undVerstetigung zulässt. Die Stabilität resultiertaus der Identifikation ihrer AkteurInnen mitder Sache, aus ihrem Engagement, ihrenIdeen und ihrer Zeit, die sie oft unbezahlteinbringen.

Kaum vorstellbar, dass eine solche ver-netzte, höchst dynamische und an die un-mittelbaren Erfordernisse des Gemeinwe-sens gebundene Lösung durch einen öffentlichen oder auch großen freien Träger reali-sierbar wäre. Nicht vorstellbar, dass Frauenund Männer in einem solchen Konstruktagieren, die nicht dauernd gemeinsam un-konventionelle Lösungen spezifischer undkomplexer Lösungen erfinden und realisie-ren und damit dauernd lernen müssen.

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1. Wendt, Wolf-Rainer: Zivilgesellschaftund soziales Handeln, Freiburg 1996.

2. Illich, Ivan u.a.: Entmündigung durch Ex-perten, 1979.

3. Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politi-schen, Frankfurt am Main 1993, S. 189.

4. Vieles spricht dafür, dass es bei einigender neuen Konzepte nicht um demokrati-sche Entwicklung, sondern primär umdie Entlastung des Arbeitsmarktes, einenweiteren Rückzug des wohltätigen unddie Verschärfung des kontrollierendenund sanktionierenden Staates geht. Ei-nes der Modelle ist das der Beschäfti-gung der Opfer der "dritten industriellenRevolution" im "Dritten Sektor", wie esu.a. von Jeremy Rifkin (Das Ende der Ar-beit und ihre Zukunft, 1995) und Ant-hony Giddens (Konsequenzen der Mo-derne, 1997) vertreten wird. Vergleich-bar ist der Ansatz von Beck‘s Bürgerar-beit (Kommission für Zukunftsfragen derFreistaaten Bayern und Sachsen). Erempfiehlt für Jugendliche vor der Berufs-ausbildung, Mütter nach der Erziehungs-phase, ältere Menschen im Übergang inden Rentenstand Bürgerarbeit als frei-williges soziales Engagement, das nichtentlohnt, sondern immateriell belohntwerden solle. Eine Form des Bürgergel-des in max. Höhe der Sozialhilfe für exi-stenziell Bedürftige wurde diskutiert, imDezember 1999 jedoch durch die bayeri-sche Landesregierung strikt abgelehnt.

Gekoppelt wird nun der Vorschlag mitder bereits lange gängigen "Hilfe zur Ar-beit". Intendiert ist die Schaffung gemein-nütziger Beschäftigungsmöglichkeiten fürBezugsberechtigte durch die Erschließungnicht marktgängiger Tätigkeitsfelder. Da-mit werden der Arbeitsmarkt und seineStatistik entlastet, denn gemeinnützigTätige sind keine Arbeitslosen, da siedem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügungstehen und die wachsenden Aufgaben imBereich sozialer Versorgung, öffentlicherInfrastrukturerhaltung und ökologischerReparation können kostengünstigst erle-digt werden. Ob dies freilich dazubeiträgt, das "soziale Kapital" der Gesell-schaften zu erhalten, sei dahingestellt.

Die Zukunftskommission der FreistaatenSachsen und Bayern verweist in ihrenEmpfehlungen zwar noch ausdrücklichdarauf, dass Bürgerarbeit freiwillig seiund für niemanden eine Verpflichtungsein dürfe. Doch sowohl in dem durchden Club of Rome (1998) empfohlenen"Mehrschichtenmodell der Arbeit" alsauch in der gängigen Praxis der Kommu-nen in Europa oder USA ist die Arbeits-pflicht für Bezugsberechtigte von Sozial-leistungen selbstverständlich. Zur Erinne-rung: Nach Art. 12 des Grundgesetzessind Zwangsdienste in Deutschland ver-boten. Arbeitsstrafen sind nur als gericht-lich angeordnete Maßnahme zulässig.

5. Boll, Joachim/Huß, Reinhard/Kiehle,Wolfgang: Mieter bestimmen mit, Darm-stadt 1993.

6. Alinsky, Saul: Anleitung zum Mächtig-sein, Bornheim 1984.

7. Gorz, André: Und jetzt wohin?, Nördlin-gen 1991.

8. Alexis de Tocqueville Über die Demokra-tie in Amerika, Stuttgart 1994.

9. Für die Settlement-Bewegung und ihrHandlungstheoretisches Verständnissteht insbesondere Jane Addams, geb.1860. Der Ansatz des Community-Orga-nizing als systematischen Aufbau vonGegenmacht der Machtlosen, insbeson-dere vertreten durch Saul Alinsky, geb.1909, gewinnt derzeit wieder Beachtung.

10. In Deutschland existieren derzeit 15 Ge-meindestiftungen. Auch in diesem Be-reich innovativer Problemlösung ist Nord-italien führend. Mit der Privatisierungder sich im Staatsbesitz befindendenBanken im Jahr 1987 wurden quasiüber Nacht über 80 gemeindeorientierteBankenstiftungen mit einem Vermögenca. 7 Milliarden DM gegründet. (NeueZüricher Zeitung vom 21. August 2000).

11. V.gl.: Elsen, Susanne: Gemeinwesen-ökonomie, Neuwied 1998.

12. Wacquant, Loic J.D.: Vom wohltätigenStaat zum strafenden Staat, in: Levia-than, 25. Jahrgang Heft 1/1997, S. 58.

13. Wendt, Wolf Rainer: Sozialwirtschaftund Sozialmanagement, Baden-Baden1999.

14. Elsen, Susanne/Lange, Dietrich/Walli-mann, Isidor (Hrsg.): Soziale Arbeit undÖkonomie, Neuwied 2000.

15. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem:Modernisierung, Nördlingen 1992.

16. Kunstreich, Timm: Grundkurs SozialeArbeit, Hamburg 1997.

17. Wendt, Wolf Rainer (1999): a.a.O. S. 73.

18. Engelke, Ernst: Theorien der SozialenArbeit, Freiburg 1998.

19. Specht, Harry/Courtney, M.E.: Unfaith-ful Angels. How Social Work has Aban-doned ist Mission, New York/London1994.

20. Die Referentin war zehn Jahre haupt-amtlich in der Leitung des Bürgerhau-ses und im Aufbau der Genossenschafttätig. Sie ist heute Aufsichtsratsvorsit-zende des Verbundes.

21. Elsen, Susanne/Wallimann, Isidor: Social economy, in: Oxford UniversityPress: European Journal of SocialWork, Volume 1 Issue 2, July 1998, S. 151-165.

22. Wohnungsgenossenschaft am Beutel-weg eG. (Hrsg.): Aus der Not geboren,die Genossenschaft am Beutelweg, Trier 1999.

Das Glück be-

steht darin, zu

leben wie alle

Welt und doch

wie kein anderer

zu sein.

(Simone de Beauvoir)

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Der Ehrenamtliche –das unbekannteWesenGedanken zu einer institutionalisierten Merkwürdigkeit

"Wie man’s macht, macht man’sfalsch", wusste schon meine Mutter. Diesescheinbar banale Weisheit hätte ich einmalim Leben beherzigen sollen durch Teilnah-me an der Fachtagung "Bürgergesellschaftund Sozialstaat" vom 14. bis 19. Novem-ber 1999. Aber nein, ich nahm nicht teilund habe es also wieder falsch gemacht:Was hätte ich als Ehrenamtlicher alles ler-nen können über mich selbst! Nun alsomuss ich notwendigen Wissenserwerb imRundbrief 1/2000 suchen, das ist qualvollund es geschieht mir ganz recht.

Relativ schnell aber entdecke ich, dasses nicht ausreichen kann, einfach undgleichsam "selbstverständlich" ehrenamtlichzu arbeiten, beispielsweise im Vorstandvom Rabenhaus e.V. Zumindest sollte ichmich fragen: "Warum arbeitet man eigent-lich umsonst? Bürgerliches Engagement –ein Verantwortungssyndrom?" (RB1/2000, S. 37).

Ein wenig peinlich berührt muss ich ge-stehen, dass ich mir diese Frage so nochnicht gestellt habe. Und ich frage michauch nicht – ebenso wenig wie die ande-ren Ehrenamtlichen im Köpenicker Raben-haus e.V. – ob meiner Tätigkeit eine "hu-manitäre" oder mehr "hedonistische Einstel-lung" (S. 55) zugrunde liegt. Das ist zwarunwissenschaftlich, jedoch zeigt auch dieim Rundbrief abgedruckte Diskussion zudiesem Gegenstand, dass Vertreter des

18 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

"praktischen Lebens" ihr Unbehagen zu die-sen akademisch-theoretischen Überlegun-gen äußern (S. 60/61).

Da bin ich schon beglückter, wenn ichentdecke, dass "Ehrenamtliche ... das wich-tigste Element der Arbeit" sind; dass für sieein "Tag des Ehrenamtlichen" eingerichtetwird, an dem sie (wie ihre Bezeichnungwohl schon ausdrückt?) "geehrt" werden;dass man "diesen Leuten ... Fortbildung an-zubieten, ihnen `Belohnung’ zu geben" hat;dass aber oft vergessen wird, "dass dieseLeute selbst Fähigkeiten haben", man müssesie "fördern durch fordern" (S. 30/31).

Das ist doch sehr schön. Was stört michdaran?

Nun, man möge mir vergeben, aber alldas klingt mehr als nur ein wenig, wiewenn Ärzte wohlwollend über den "mitden-kenden Patienten" reden, der nach groberKenntnis der verordneten Therapie durchausein bisschen am gewünschten Gesamter-gebnis "mitarbeiten" kann. Ist dieser Blick-winkel, ist diese mechanistische und allesandere als dialektische Betrachtungsweisedem Thema der Tagung, den Themen derWorkshops geschuldet? Warum lese ich sogar nichts über selbstverständliche, gleich-berechtigte Partnerschaft von Haupt- undEhrenamtlichen? (Oder habe ich das, blindgeworden am Übermaß anderer Verlautba-rungen, überlesen?) Warum finde ich so un-vollkommen widergespiegelt, was sich in

Nachbarschaftseinrichtungen durchaus an-treffen lässt: Ehrenamtliche und Hauptamtli-che helfen einander, oft am gleichen Ge-genstand arbeitend, das gleiche Problem lösend; ausschlaggebend sind Fähigkeitenund Fertigkeiten, Neigungen und auch Charaktereigenschaften, übergreifende Interes-sen, verschieden ausgeprägte Lebens- undBerufserfahrungen; ja, da mag es schonvorkommen, dass Kenntnisse und Qualifika-tion der Ehrenamtlichen denen der ange-stellten Sozialarbeiter überlegen sind. Allegestalten, vervollkommnen Nachbarschafts-arbeit, Bürgerengagement, Zivilgesellschaft– vom Köpenicker Rabenhaus weiß ich ver-lässlich, dass es so ist.

Nicht abschließen kann ich meine Wort-meldung ohne noch einen Blick auf den"großen Ratschlag". Da wird schnell offen-bar, dass es sich – den Experten sei Dank –nicht um einen solchen handelt, handelnkann. Nein, da sind eher nochmals alle inder Tagung aufgetauchten Probleme be-nannt, gewendet, aufbereitet worden; dawurde auch mein Eindruck nach absolvierterLektüre bestätigt: In den "einzelnen Work-shops" dominierte eher "eine Ratlosigkeitzum Thema Ehrenamtlichkeit" (S. 94). "Einunterschiedliches Verständnis von Ehrenamtwird festgestellt (ebenda). "Gegen alleGroßstrategen und Definierer, die Ehrenamt-lichkeit definieren wollen", wird angegan-gen und es wird festgestellt: "Das Thema Ehrenamt muss heute viel differenzierter be-trachtet werden" (S. 95). Und schließlich:"Wir denken viel über die Spezies der Eh-renamtlichen nach, wir sollten aber über unsere eigene Spezies nachdenken, dieSpezies der Beschäftigten ..." (S. 96).

Das hat vielleicht noch etwas Zeit,denn vorerst scheint gewiss: Einige dersehr professionellen Hauptamtlichen be-dürfen der Existenz Ehrenamtlicher, weilsie ihnen zum Katalogisieren, Rubrizieren,Mystifizieren, Problematisieren, Denken,Erklären herhalten müssen – kurz: DieseHauptamtlichen bedienen sich der Ehren-amtlichen schon deshalb dankbar, um denUnterschied zwischen sich selbst und jenen(oft "diese Leute" genannt) verdeutlichenzu können. Gilt es doch, die Legende auf-recht zu erhalten: Ohne Hauptamtliche keine Ehrenamtlichen!

Wir in Köpenick, im Rabenhaus, wissendas, wie ich versucht habe anzudeuten,zwar besser, leben dieses Verhältnis anders– aber es braucht lange, bis sich die Theo-rie nach der Praxis richtet.

von Jürgen Altmann

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 19

LeitbildBürgerorientierteKommune

Aufruf zum Dialog

von Heidi Sinning

Einleitung

Das Modellprojekt »CIVITAS – Netz-werk bürgerorientierter Kommunen inDeutschland« stellt die zweite Phase derGemeinschaftsinitiative »BürgerorientierteKommune – Wege zur Stärkung der Demo-kratie« dar, welche die Bertelmann Stiftunggemeinsam mit dem Verein Aktive Bürger-schaft e.V. ins Leben gefufen hat.

Die erste Phasebildete ein bundesweiterWettbewerb mit dem Titel der Gemein-schaftsinitiative. Angesprochen waren Kom-munen, in denen Politik, Verwaltung sowieBürgerinnen und Bürger bereits eine innova-tive Zusammenarbeit praktizieren und Bür-gerengagement und –mitwirkung einen ho-hen Stellenwert genießen. An dem Wettbe-werb beteiligten sich bundesweit mehr alsachzig Kommunen unterschiedlicher Größe-nordnung, von denen elf nach einem mehr-stufigen Verfahren in die Endauswahl ge-langten.

Im Oktober 1999 fand in Münster dieBekanntgabe der Siegerkommunen statt.Die Jury erkannte der baden-württembergi-schen Stadt Nürtingen den ersten Preis zu,die Großstädte Leipzig und Bremen wurdenjeweils mit dem zweiten Preis ausgezeich-net. Mit diesem Festakt endete die zweitePhase der Gemeinschaftsinitiative.

Qualitätsbausteine zu entwickeln und diesebundesweit in der kommunalen Landschaftzu verbreiten. Die Projektträger gewährlei-sten sowohl die fachliche Unterstützungdurch Experten als auch den organisatori-schen Rahmen.

Die CIVITAS-Zukunftskonferenz führtedas Gesamtnetzwerk durch. Sie hatte zumZiel, ein Leitbild »Bürgerorientierte Kommu-ne« durch Vertreterinnen und Vertreter ausKommunalpolitik und -verwaltung sowie Bür-gerinnen und Bürger zu erarbeiten. Als Er-gebnis der Zukunftskonferenz ist dieses Leit-bild auf den folgenden Seiten dieser Doku-mentation abgedruckt. Der Nutzen der Erar-beitung dieses Leitbildes lag zum einen inder Ermittlung gemeinsamer Grundorientie-rungen als Basis für das Selbstverständnisder Netzwerkarbeit, in deren Mittelpunktdie Frage nach den Charakteristika einerBürgerorientierten Kommune stand, undzum anderen im Kennenlernen der MethodeZukunftskonferenz, die im Folgenden ge-nauer beschrieben ist.

Das Leitbild Bürgerorientierte Kommuneist sowohl Ergebnis der CIVITAS-Zukunfts-konferenz als auch erste Station eines Pro-zesses der kontinuierlichen Weiterentwick-lung eines bundesweiten Qualitätsmaßstabsfür Bürgerorientierte Kommunen.

Zeitgleich erfolgte der Startschuss fürdie zweite Phase: Modellprojekt »CIVITAS– Netzwerk bürgerorientierter Kommunenin Deutschland« hat zum Ziel, den elf CIVI-TAS-Kommunen Bremen, Essen, Güstrow,Leipzig, Nürtingen, Schwarmstedt/Rethem/Ahlden, Solingen, Tübingen, Ulm, Viern-heim und Weyarn einen Erfahrungaaus-tausch zu ermöglichen und ihren vielfälti-grn Bemühungen um mehr Bürgerorientie-rung durch ihre Zusammenarbeit zusätzli-che Impulse zu verleihen.

Neben ihrer Arbeit im Gesamtnetzwerksind die Kommunen in drei so genannten»Netzknoten« aktiv, die sich mit unter-schiedlichen Themen der lokalen Bürgerori-entierung befassen:

• »Förderung einer lokalen Anerken-nungs- und Beteiligungskultur durchQualifizierung, Zertifizierung undneue Formen der Anerkennung«

• »Schnittstellen von Politik und Verwal-tung zu bürgerschaftlicher Mitwirkung- interne Vernetzung, externe Vereinfa-chung«

• »Bürgerorientierte Stadtteilentwicklung- räumliche Identifikationspunkte fürbürgerschaftliche Mitwirkung vor Ort«

Ziel dieser drei Arbeitsgruppen ist es,im Sinne von »best practices« übertragbare

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20 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

Ergebnis der CIVITAS-Zukunfts-konferenz - Leitbild »Bürger-orientierte Kommune«

PräambelDie Verwirklichung einer lebendigen De-

mokratie ist eine ständige Herausforderung.Dabei sind insbesondere die Städte undGemeinden als lokale Ebene gefordert.Hier kommen die Bürgerinnen und Bürgeram ehesten mit den Institutionen in Kontakt,hier können Politik und Verwaltung Verän-derungen am schnellsten umsetzen.

Das Modellprojekt »CIVITAS - Netzwerkbürgerorientierter Kommunen in Deutsch-land« stellt die zweite Phase der Gemein-schaftsinitiative »Bürgerorientierte Kommune- Wege zur Stärkung der Demokratie dar,welche die Bertelsmann Stiftung gemeinsammit dem Verein Aktive Bürgerschaft e.V. insLeben gerufen hat.

Die erste Phase bildete ein bundesweiterWettbewerb mit dem Titel der Gemein-schaftsinitiative. Angesprochen waren Kom-munen, in denen Politik, Verwaltung sowieBürgerinnen und Bürger bereits eine innova-tive Zusammenarbeit praktizieren und Bür-gerengagement und -mitwirkung einen ho-hen Stellenwert genießen. An dem Wettbe-werb beteiligten sich bundesweit mehr alsachtzig Kommunen unterschiedlicherGrößenordnung, von denen elf nach einemmehrstufigen Verfahren in die Endauswahlgelangten.

Im Oktober 1999 fand in Münster dieBekanntgabe der Siegerkommunen statt.Die Jury erkannte der baden-württembergi-schen Stadt Nürtingen den ersten Preis zu,die Großstädte Leipzig und Bremen wurdenjeweils mit dem zweiten Preis ausgezeich-net. Mit diesem Festakt endete die erstePhase der Gemeinschaftsinitiative.

Zeitgleich erfolgte der Startschuss fürdie zweite Phase: Das Modellprojekt »CIVI-TAS-Netzwerk bürgerorientierter Kommunenin Deutschland « hat zum Ziel, den elf CIVI-TAS-Kommunen Bremen, Essen, Güstrow,Leipzig, Nürtingen, Schwarmstedt/Rethem/Ahlden, Solingen, Tübingen, Ulm,Viernheim und Weyarn einen Erfahrungs-austausch zu ermöglichen und ihren vielfäl-tigen Bemühungen um mehr Bürgerorientie-rung durch ihre Zusammenarbeit zusätzli-che Impulse zu verleihen.

CIVITAS-Netzwerk bürgerorien-tierter Kommunen in Deutschland

Im Oktober 1999 haben sich elf Kom-munen unter der Trägerschaft der Bertels-mann Stiftung und des Vereins Aktive Bür-gerschaft zu einem bundesweiten Reform-netzwerk zusammengeschlossen.

Dem Netzwerk gehören Bremen, Essen,Güstrow, Leipzig, Nürtingen, Schwarm-stedt/Rethem/Ahlden, Solingen, Tübingen,Ulm, Viernheim und Weyarn sowie als asso-ziierte Mitglieder Arnsberg und Heidelbergan. Das Netzwerk ist aus dem Wettbewerb»Bürgerorientierte Kommune-Wege zur Stär-kung der Demokratie« hervorgegangen. Zieldes Netzwerks ist es, die Bürgerorientierungzu stärken und weiterzuentwickeln und da-mit einen Beitrag zum Ausbau der Demokra-tie auf lokaler Ebene zu leisten.

Der Begriff CIVITAS stammt aus dem La-teinischen und bedeutet nicht nur Bürger-schaft, Stadt oder Gemeinde, sondern auchBürgerrecht. Unter diesem Blickwinkel erhal-ten die Bürgerinnen und Bürger einen neu-en Stellenwert in den Kommunen. Ihr Recht,eigenverantwortlich mitzugestalten, wird zueinem bestimmenden Element. Bürgerorien-tierte Kommune heißt: Politik durch Bürge-rinnen und Bürger für Bürgerinnen und Bür-ger.

Bürgerorientierung und Bürge-rengagement

Bürgerorientierung meint, Bürgerinnenund Bürger an Entscheidungen zu beteili-gen, ihnen die Übernahme von öffentlichenAufgaben zu ermöglichen und bürgerschaft-lich Engagierte tatkräftig zu unterstützen.Die Bürgerinnen und Bürger sind somitAdressaten der Bürgerorientierung.

Bürgerengagement begreift die Bürge-rinnen und Bürger dagegen als Akteure underfasst ihr konkretes Handeln für das Wohldes Gemeinwesens. Bürgerorientierung undBürgerengagement ergänzen sich gegensei-tig.

CIVITAS als Teil der lokalen De-mokratiebewegung

Verwaltung, Politik sowie Bürgerinnenund Bürger haben im Rahmen der CIVITAS-Zukunftskonferenz gemeinsam das Leitbild»Bürgerorientierte Kommune «erarbeitet. Es

bündelt die grundlegenden Werte und Vor-stellungen zu einer Bürgerorientierten Kom-mune. Es dient als Orientierungsrahmenund Qualitätsmaßstab für CIVITAS- und an-dere Kommunen.

Städte und Gemeinden unterscheidensich sowohl hinsichtlich ihrer Größe undgeographischen Lage, als auch bezogenauf ihre Traditionen von Bürgerengagementund Bürgerorientierung - beispielsweise inden neuen und alten Bundesländern. Dieseräumlichen, historischen und die sozialenUnterschiede gilt es bei der Umsetzung desLeitbildes zu beachten.

Vor diesem Hintergrund benennt das Leit-bild Grundsätze und Ziele. Politik, Verwal-tung sowie Bürgerinnen und Bürger sollendiese verfolgen und damit auf der lokalenEbene eine lebendige Demokratie stärken.

Grundsätze der Bürgerorientie-rung

• Wir gewährleisten, dass Bürgerinnenund Bürger die Entscheidungsstruktu-ren von Politik und Verwaltung sowiedie Entscheidungen selbst nachvollzie-hen können.

• Wir setzen vielfältige bürgerschaftli-che Beteiligungsformen ein und nut-zen sie kreativ.

• Wir widmen denjenigen Bevölke-rungsgruppen besondere Aufmerk-samkeit, die bis dato in Politik undVerwaltung unterrepräsentiert sind.

• Wir fördern Bürgerorientierung inner-halb erfahrbarer Einheiten, z.B. inStadtteilen und Quartieren.

• Wir setzen uns dafür ein, dass Bürge-rinnen und Bürgern, Stadtteilparla-menten und bürgerschaftlichen Initiati-ven mehr Entscheidungsrechte einge-räumt erden.

• Wir treten dafür ein, dass bürger-schaftliches Engagement die ge-bührende gesellschaftliche Anerken-nung findet, und wir fördern eine ent-sprechende Anerkennungskultur in un-serer Kommune.

• Wir unterstützen die Bürgerinnen undBürger in ihrer Selbstorganisation undhelfen, sie in die Lage zu versetzen,ihre Interessen effektiv im Sinne desGemeinwohls zu organisieren.

• Wir wollen in unserer Kommune einenpolitischen Grundkonsens erreichen,

• der bürgerschaftlicher Mitwirkung ei-nen hohen Stellenwert gibt.

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 21

• Wir haben erkannt, dass Bürgerenga-gement und Bürgerorientierung erheb-liche Vorteile für das sinnvolle Zusam-menwirken von Politik, Verwaltung so-wie Bürgerinnen und Bürgern bieten.Sie stärken insbesondere das Gemein-wesen.

• Wir sind davon überzeugt, dass Bür-gerorientierung und Bürgerengage-ment die Qualität, Effizienz und Legiti-mation der Entscheidungsprozesse in-nerhalb der Kommune maßgeblichstärken.

• Wir streben ein partnerschaftlichesund respektvolles Verhältnis zwischenPolitik, Verwaltung sowie Bürgerinnenund Bürgern an.

• Wir verstehen Bürgerorientierung alsintegrierten Prozess: Wir arbeiten ge-meinsam mit beteiligten Bürgerinnenund Bürgern an Planungen und derenUmsetzung. Wir informieren im Vor-feld transparent, intensiv und profes-sionell.

• Wir führen einen dauerhaften Dialogzwischen Verwaltung, Politik sowieBürgerinnen und Bürgern.

Ziele der BürgerorientierungSelbstverständnis von Politik,Verwaltung sowie Bürgerinnenund Bürgern

Allgemein• Innerhalb der einzelnen Kommunen

sollen Politik, Verwaltung sowie Bürge-rinnen und Bürger gemeinsame Ver-einbarungen über Ziele hinsichtlichBürgerorientierung und Bürgerengage-ment treffen und diese in regelmäßi-gen Abständen überprüfen.

• Dabei haben Politik, Verwaltung so-wie Bürgerinnen und Bürger die Auf-gabe, sich über Leistungen und Stan-dards von Bürgerorientierung und Bür-gerengagement zu einigen.

Verwaltung• Die Verwaltung soll sich als Ermögli-

chungsverwaltung verstehen und ins-besondere für das Engagement derBürgerinnen und Bürger offen sein.

• Die Verwaltung soll in ihrem gesamtenHandeln darauf ausgerichtet sein, fürdie Bürgerinnen und Bürger von Vor-teil und Nutzen zu sein.

• Die Verwaltung soll Bürgerorientierungals Querschnittsaufgabe begreifen:

• Die Bürgerorientierung soll sich alsoim Handeln aller Verwaltungseinhei-ten wiederfinden.

• Für die Verwaltung soll es handlungs-leitend sein, mit Bürgerinnen und Bür-gern partnerschaftlich aktivierend zu-sammenzuarbeiten und sie an Ent-scheidungsprozessen zu beteiligen.

• Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterder Verwaltung sollen die Bereitschaftund Kompetenz besitzen, ressortüber-greifend zu denken, zuzuhören sowiemit Konflikten und Widersprüchen um-gehen zu können.

• Die Verwaltung soll optimal auf diezeitlichen, räumlichen und sachlichenBedürfnisse und Bedarfe der Bürgerin-nen und Bürger eingehen.

• Die Verwaltung soll Initiativen und An-regungen von Seiten der Bürgerinnenund Bürger zügig behandeln.

• Die Verwaltung soll Projekte, an de-nen Bürgerinnen und Bürger direktmitgewirkt haben, zeitnah umsetzen.

Bürgerinnen und Bürger• Bürgerinnen und Bürger sollen

grundsätzlich bereit sein, gegenüberVerwaltung und Politik offen zu seinund ihnen Vertrauen entgegenzubrin-gen.

• Bürgerengagement soll zur Selbstver-ständlichkeit werden.

• Die Bürgerinnen und Bürger sollen be-reit sein, ggf. mit finanzieller Unterstüt-zung seitens der Kommune, selbstbe-stimmt öffentliche Aufgaben zu über-nehmen.

• Die Bürgerinnen und Bürger sollen dieMöglichkeiten wahrnehmen, sich,ggf.mit finanzieller Unterstützungdurch die Kommune, für die Übernah-me öffentlicher Aufgaben zu qualifi-zieren.

• Bürgerschaftliches Engagement sollGenerationen verbinden und Minder-heiten einbeziehen.

• Persönliche Interessen bei der Ent-scheidung, sich bürgerschaftlich zuengagieren, sollen gesellschaftlich ak-zeptiert werden. Sie stehen nicht not-wendigerweise im Widerspruch zurGemeinwohlorientierung.

Politik• Die Politik soll es als ihre Aufgabe an-

sehen, auf der Basis größtmöglicherBürgermitwirkung mit dem Ziel des

• Interessenausgleichs zu handeln.• Dazu gehört, dass Politikerinnen und

Politiker bereit sind, Bürgerinnen undBürger in Entscheidungsprozesse ein-zubeziehen.

• Wertschätzung, Würdigung und Wei-terbildung von Bürgerengagement sol-len Teil des politischen Selbstverständ-nisses sein.

• Das Angebot der Politik an die Bürge-rinnen und Bürger soll ernstgemeintund glaubwürdig sein und auf Ver-trauen aufbauen.

• Die Politik soll Initiativen und Anregun-gen von Seiten der Bürgerinnen undBürger zügig behandeln.

Organisation der Verwaltung• Die Bürgerorientierte Kommune soll

als Ergänzung und Weiterentwicklungder Dienstleistungskommune verstan-den werden.

• Das Thema Bürgerorientierung sollsich in allen (neuen) Steuerungsinstru-menten der Verwaltung wiederfinden.

• Struktur, Verantwortlichkeiten, Arbeits-weise und Arbeitsergebnisse der Ver-waltung sollen für Bürgerinnen undBürger transparent und nachvollzieh-bar sein.

• Bürgerschaftliches Engagement sollohne bürokratische Hürden möglichsein.

• Die Verwaltung soll zur Unterstützungder Bürgerorientierung projektorien-tiert, vernetzt und ressortübergreifendarbeiten.

• Die Bürgerinnen und Bürger sollen fürihre Anliegen kompetente Ansprech-partnerinnen und Ansprechpartner fin-den.

• Die Verwaltung soll einen systemati-schen Wissenstransfer gewährleistenund organisieren.

Formen der Bürgerorientierungund -mitwirkung

• Es soll in jeder Kommune bzw. in je-dem Stadtteil eine Plattform für eineöffentliche Kommunikation, unter Ein-beziehung vorhandener Strukturenund Ressourcen, geschaffen werden.

• Zielgruppenspezifische Beteiligungs-angebote sollen auf die unterschiedli-chen sozialen Gruppen in ihren jewei-ligen Lebenssituationen zugeschnittensein. Dabei ist zu beachten, dass Min-derheiten einbezogen werden.

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• Bürgeranhörungen und regelmäßigeBürgerbefragungen sollen zur Selbst-verständlichkeit werden.

• Der Einsatz der neuen Medien soll alsChance für die Bürgerorientierung ge-nutzt werden.

• Es sollen mehr Formen partizipativer,auch direkter Demokratie zum Ein-satz kommen. Dabei sind insbeson-dere Formen gemeint, die über diegesetzlich verankerten Mitwirkungs-formen hinausgehen. Meinungen vonMinderheiten sind dabei zu schüt-zen.

Ziele der BürgerorientierungUnterstützende Infrastruktur• Bürgermitwirkung und Bürgerengage-

ment sollen eine institutionelle, ein-deutig definierte Verankerung erhal-ten (z.B. Schnittstellen zwischen Ver-waltung, Politik sowie Bürgerinnenund Bürgern).

• Den Bürgerinnen und Bürgern bzw.deren Zusammenschlüssen soll eineausreichende finanzielle Grundaus-stattung zur Realisierung ihrer Zieleeingeräumt werden.

• Öffentliche Räume sollen den Bürge-rinnen und Bürgern für ihr Engage-ment kostenlos zur Verfügung stehen.

• Das Engagement der Bürgerinnenund Bürger muss auf den unterschied-lichen politischen Ebenen abgesichertwerden, vor allem in rechtlicher undfinanzieller Hinsicht (z.B. Einrichtun-gen von Versicherungssystemen fürFreiwillige; partielle Steuerbefreiun-gen; Einführung eines Sabbatjahresfür Freiwilligenarbeit).

• Es sollen Anreizsysteme entwickeltwerden, die zu einem verstärkten Bür-gerengagement führen.

• Bürgerschaftliches Engagement undBürgerbeteiligung sollen aufrichtigeAnerkennung und Würdigung erfah-ren.

• Es soll eine Koordination und Vernet-zung des vorhandenen Bürgerenga-gements stattfinden.

• Die bereits vorhandenen Formen derInfrastruktur von Bürgerengagement(z.B. Tauschringe) sollen gefördertwerden.

• Den Bürgerinnen und Bürgern soll dervielfältige und eigenständige Zugangzu den neuen Medien erleichtert wer-den. Lokale Medien sollen zur Unter-stützung der Bürgerorientierung ge-nutzt werden.

22 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

• Die kontinuierliche Qualifizierung al-ler Akteure soll die Mitwirkungschan-cen verbessern.

Burkhard Bauer, GüstrowBarbara Baumgärtel, LeipzigHeinz Blatzheim, DürenThomas Böhme, HannoverErika Braungardt-Friedrichs, TübingenKarl Bronke, BremenUlrike Dahmen, TübingenNorbert Dege, LeipzigBernd Faber, LeipzigSigrid Förster, EssenAndrea Frenzel-Heiduk, BremenHans-Willhelm Frische, SchwarmstedtMargot Hamm, TübingenGerhard Harnisch, GüstrowDr. Sybille Hartmann, TübingenRolf Heimann, SolingenKlaus Hinze, LeipzigTim S. Holderer, NürtingenElke Holzrichter, KölnHannelore Hrabcik, LeipzigKlaus Detlev Huge, HeidelbergThomas Jablonski, BremenHeinz Janning, BremenPetra Kempf, ViernheimHans Kober, NürtingenOtto Kurz, Weyarn/MünchenPeter Langer, LeipzigGabriele Langfeld, NürtingenSylke Lein, LeipzigUwe Lübking, BerlinRenate Lürssen, BremenSigrid Meinhold-Henschel, GüterslohMargret Metz, TübingenMargarete Meyer, EssenEva Nagy, SolingenIris Nürnberger, SolingenDr. Andreas Osner, GüterslohDr. Andreas Pätz, TübingenMichael Pelzer, WeyarnInes Pieper, DresdenFrank Pietrzok, BremenBernd Pohlmann, DürenDr. Marga Pröhl, GüterslohVera Rottes, SolingenGerlinde Rücker, NürtingenSebastian Scheel, LeipzigRegine Schneider, GüstrowUlrike Schütze, DresdenUta Schwarz-Österreicher, TübingenHeidi Sinning, GüterslohDr. Imke Sommer, BremenMaria Streifinger, WeyarnHorst Ude, RethemEsther von Kuczkowski, ArnsbergBirgit Weber, Köln

Ernst Weidl, NaringTraudl Weise, LeipzigKlaus Wermker, EssenHannes Wezel, NürtingenGuido Wolf, NürtingenDittmar Zehentmaier, Frankenfeld

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der CI-VITAS-Zukunftskonferenz

Verzeihen ist kei-

ne Narrheit, nur

ein Narr kann

nicht verzeihen.

(Chinesisches

Sprichwort)

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 23

Zwei Vorbemerkungen:1. Ich klammere den Bereich der Regio-

nalisierung sozialer Dienste aus, zumeinen ist sie kein Kind der NeuenSteuerung, sondern schon seit den70er-Jahren in der Diskussion, zumanderen ist sie gut dokumentiert2 -auch im Zusammenhang mit GWA.

2. Eine differenzierte Darstellung derNeuen Steuerung müsste intensiverauf die Kritik (Ideologiekritik, Kritikan der Verkürzung als Sparinstru-ment etc.) eingehen; mir kommt eshier aber darauf an, die strategi-schen Möglichkeiten für GWA zuerörtern, die in der Neuen Steue-rung liegen (können).

Seit Anfang der 90er-Jahre grassiertdas Verwaltungsreformfieber.

Erinnert werden muss: Es waren nichttheoretische oder erfahrungsgestützte Ein-sichten, die die Kommunen massenweisenach Tilburg3 pilgern und ihre Verwaltun-gen modernisieren ließen, sondern schlichtdie anhaltende Finanznot öffentlicherKassen einerseits und die Legitimationskri-se öffentlicher Verwaltungen angesichtsgestiegener Erwartungen der BürgerInnenan kommunales Handeln andererseits.

Damit war ein Paradigmenwechsel kom-munalen Verwaltungshandelns verbunden,der auch(!) die strategischen Möglichkeitenvon GWA erweitert:

Normenvollzug -----> Effizienz/Effektivität

Das führte zu einer mehr betriebswirt-schaftlichen Ausrichtung der Verwaltung,wie es im Modell der Neuen Steuerung derKommunalen Gemeinschaftsstelle für Ver-waltungsvereinfachung (KGSt)4 am deutlich-sten zu sehen war.

Hier wurden vier zentraleBereiche/Zielvorstellungen formuliert:

• Dezentrale Ressourcenverantwortung• Outputorientierung• Kundenorientierung• geändertes Personalmanagement

Man könnte zu allen diesen Bereichenvieles sagen. Im Rahmen dieses Inputs will ichnur die ersten beiden Punkte herausgreifen:

• Dezentrale Ressourcenverant-wortungheißt zunächst Verlagerung der Finanz-

verantwortung auf die Fachämter, dannBudgetierung5, d.h. das Fachamt entschei-det selbst und in Eigenverantwortung, wofüres die ihm zugewiesenen Gelder verwen-den will und wie sie am sinnvollsten einge-setzt werden sollen.

Damit verbunden ist ein Kontraktmanage-ment6, d.h. die politische Ebene schließt auf-grund vorher entwickelter Leitlinien (hoffent-lich!) mit der Verwaltung oder mit Freien Trä-gern Zielvereinbarungen ab, deren Einhal-tung über ein Berichtswesen kontrolliert wird.

Dazu braucht man Messgrößen, womitwir angelangen bei der

• OutputorientierungOutputorientierung7 heißt, die Planung,

Durchführung und Kontrolle des Verwal-tungshandelns strikt an den beabsichtigtenund tatsächlichen Ergebnissen zu orientie-ren und nicht an Verwaltungsnormen.

Messlatte - auch für Geld - ist nicht mehrder ordnungsgemäße Verwaltungsvorgang,sondern das Produkt8, das in Geldwert be-schreibbare Ergebnis des Verwaltungshan-delns. Die Schwierigkeit, im Sozialen sol-che Produkte geldwertüberzeugend zu for-

mulieren, also messbare und bezahlbareLeitungen zu beschreiben, hat den Verwal-tungsreformprozess - neben anderen Grün-den - vielfach stocken lassen.

Diese Punkte der Verwaltungsreform imSozialbereich, deren Grundzüge ja auchdie großen bürokratisierten Wohlfahrtsver-bände erreicht haben, sind als "Ökonomi-sierung der sozialen Arbeit"9 kritisiert wor-den: "Produktionsprozesse" der sozialenArbeit sperren sich gegen eine betriebswirt-schaftliche Bewertung. Das ist richtig, aberumgekehrt gilt auch: Soziale Arbeit sperrtsich gegen eine Leistungsbewertung.

Meine These ist: Die Ökonomisierung so-zialer Arbeit ist nicht aufzuhalten - es gibtkeine Enklaven in der Gesellschaft, in denenderen Gesetzmäßigkeiten nicht gelten -, abersie ist anders auszufüllen als durch platteÜbertragung betriebswirtschaftlicher Metho-den und Denkweisen. Die ökonomische Ver-antwortung der sozialen Arbeit muss aller-dings von dieser angenommen werden.

Insofern bedeutet Verwaltungsmoderni-sierung auch für GWA möglicherweise Irri-tation, ist aber gleichzeitig eine Herausfor-derung. Es gilt die strategischen Möglichkei-ten der Verwaltungsmodernisierung fürGWA auszuloten, statt sie bürokratisch ab-zuarbeiten oder kategorisch abzulehnen.

Ich will das an den zwei Punkten festma-chen:

Budgetierung:- Das kann für städtische Projekte (Bür-gerhäuser etc.) eine Chance für fle-xibleres Arbeiten sein. Und für neue Fi-nanzierungsmodelle. GWA hat immerunter der Ressortierung gelitten: Der Ju-gendhilfeausschuss fühlt sich nicht zu-ständig, Soziales auch nicht: Wer istalso zuständig?

- Für Freie Träger (besonders für kleine)bietet das Kontraktmanagement neue Finanzierungsmöglichkeiten über Lei-stungsverträge: pauschale Zuwendungenund höhere Planungssicherheiten, weilLeistungsverträge nicht an das Haushalts-jahr gebunden sind. Positive Erfahrun-gen kann ich aus Chemnitz berichten,sie sind auch aus Remscheid bekannt10,sicher gibt es weitere Beispiele.

Neue Steuerung und die Zukunft der Gemein-wesen-arbeit1

(2)

von Dieter Oelschlägel

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24 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

- Die konsequente Weiterentwicklungsind Quartiersbudgets bzw. Bürger-haushalte, in dem die BewohnerInneneines Stadtteils ein Budget selbst ver-walten. Sicher werden noch viele recht-liche, fachliche und politische Fragen11

geklärt werden müssen, bis ein solchesZiel erreicht werden wird. Aber ent-schlossene Schritte in diese Richtungkönnen und müssen schon gegangenwerden. In der Stadtentwicklungspolitikwird diese Richtung unter dem Etikett"Ressourcenbündelung" schon disku-tiert12, auch die KGSt spricht von "So-zialraumbudgets", greift aber mit derBegrenzung auf ambulante Erziehungs-hilfen zu kurz13. Ein eindrucksvollesBeispiel dafür, wie diese Ideen in derkommunalen Praxis umgesetzt werdenkönnen, liefert das Modell "Bürger-haushalt" der brasilianischen Stadt Por-to Alegre, in der die Bürgerinnen undBürger die Entscheidungen treffen unddie Prioritäten setzen für den städti-schen Investitionshaushalt. Zur Zeitwird das Modell ausgeweitet auf denVerwaltungshaushalt und die Personal-politik14.

Auch die Outputorientierung kann eineHerausforderung für die GWA werden.Nicht, dass wir jetzt anfangen sollten, unserTun in Produkte aufzusplitten15. Das wärekontraproduktiv. Aber GWA muss sich derKosten-Nutzen- und der Qualitätsdiskussionstellen. Dass wir selbstverständlich gut sindund dass selbstverständlich Geld in GWA-Projekten gut angelegt ist, ist ebenso Legen-de wie auch aus einer parteilichen Perspek-tive nicht überzeugend.

Das heißt, GWA muss fachliche Stan-dards entwickeln, muss sagen können, was"gute" GWA ist und bewirkt, was Erfolgesind - und das konkret und überprüfbar.Das zwingt uns - und das finde ich positiv -,eine Qualitäts- und Leitbilddiskussion in derGWA zu führen.

Einem solchen internen Qualitätsmana-gement folgt in einem nächsten Schritt dieNotwendigkeit, GWA auch außenwirksamdarzustellen. In der sozialen Arbeit werdenöffentliche Mittel verausgabt. Nach meinemDemokratieverständnis haben nicht nur dieGeber von Fördermitteln, sondern vor allemdie Bürger und Bürgerinnen ein Anrecht, zuerfahren, was mit ihrem Geld passiert.Auch die Bewohner und Bewohnerinnen"unserer" Quartiere müssen erkennen kön-

nen, was die GWA in ihrem Stadtteil für sieleistet.

Die Schwierigkeiten bei der Messbarkeitder Ergebnisse (der Begriff kann durch Be-schreibbarkeit ersetzt werden) entbindenGWA nicht von einer Erfolgsmessung (Eva-luation!), sondern erfordern eine kreativeEntwicklung eigener Standards und Qua-litätskriterien.

Ich schlage vor, Qualitätskriterien fürGWA entlang des Dreiecks

Partizipation

Effizienz Transparenz

zu entwickeln. So könnte der Grad der Selbst- und Mit-

bestimmung der Menschen im Stadtteil einmessbares Kriterium für Qualität der GWAebenso sein, wie der Zuwachs von Wohn-zufriedenheit oder die Transparenz derStrukturen und Prozesse im Stadtteil für dieBewohnerinnen und Bewohner16.

Gleichzeitig müssen angemessene, auchvon den "Betroffenen" handhabbare Instru-mente der Überprüfung (Evaluation) ent-wickelt oder aus den vorhandenen Arsena-len ausgewählt werden.

Wenn sich GWA weigert, den Erfolgder eigenen Arbeit solide zu evaluieren, be-steht die Gefahr, dass die Bewertung - mitfinanziellen und politischen Konsequenzen -durch Außenstehende erfolgt.

Abschließend stelle ich die These auf,dass die Neue Steuerung durchaus strategi-sche Chancen für die GWA beinhaltet, inund gegenüber Kommunen Autonomie aus-zuweiten oder wenigstens zu verteidigen,sofern wir nicht auf den Nebel so genann-ter "Sachzwangargumente" und auf eineplatte Übertragung von Konzepten aus derBetriebswirtschaft hereinfallen.

01 Impulsreferat für die gleichnamige Arbeitsgruppe der Fachtagung "Wengrenzt Gesellschaft aus? Was kann Ge-meinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?"des Forum Weingarten 2000 e.V. am16./17.10. 1999 in der Ev. Fachhoch-schule für Sozialwesen Freiburg.

02 Vgl. Rainer Greca/Peter Erath (Hrsg.):Regionalisierung sozialer Dienste inDeutschland. Eichstätt 1995.

03 Vgl. Rolf Krähmer: Konzern Stadt. DasVerwaltungsmodell der niederländi-schen Stadt Tilburg. In: Stadt und Ge-meinde 48/1993/4/127-138.

04 Vgl.: Das Neue Steuerungsmodell. ErsteZwischenbilanz Köln 1995 (KGSt-Bericht10/1995).

Aktuelle kritische Bilanz: Wolfgang Hin-te: Schlingernde Sozialbehörden. Ver-waltungsreform in Jugend- und So-zialämtern - eine Zwischenbilanz. In:sozial extra 1999/10/1-6.

05 Vgl. Birgit Frischmuth: Budgetierung indeutschen Städten. Stand der Einfüh-rung: Ergebnisse einer repräsentativenUmfrage. Berlin: Difu: 1996.

06 Vgl.: Kontraktmanagement zwischen öffentlichen und freien Trägern in derJugendhilfe. Köln 1998 (KGSt-Bericht12/1998).

07 Vgl. Marco Szlapka: OutputorientierteSteuerung in der Jugendhilfe!? In: NeueDeutsche Schule 1995/11/6-9.

08 Vgl.: Das neue Steuerungsmodell: Defi-nition und Beschreibung von Produkten.Köln 1994 (KGSt-Bericht 8/1994). Und:Produktpläne und Produktbeschreibun-gen für die Kommunalverwaltungen.Zwischenbericht Februar 1996. Köln:KGSt: 1996 (KGSt-Bericht 1/1996).

09 Rolf G. Heinze/Christoph Strünk: Kon-traktmanagement im Windschatten des"Wohlfahrtsmix"? Neue kommunaleSteuerungsmodelle für das System derWohlfahrtsverbände. In: AdalbertEvers/Thomas Olk (Hrsg.):Wohlfahrtspluralismus. Opladen, West-deutscher Verlag, 1996, S. 294 - 322;

Norbert Wohlfahrt: Folgen der Ökono-misierung sozialer Arbeit für wohl-fahrtsverbandliche Träger und die Praxis der Jugendhilfe. In: EvangelischeJugendhilfe 75/1998/1/29-34.

10 Angelika Kordfelder: Vom Rat zum Auf-sichtsrat. Outsourcing und Partizipation:Wo bleibt die demokratische Kontrolleim Konzern Stadt? In: sozial extra199/10/7.

11 Die wird u.a. diskutiert in: Joachim Mer-chel: Wohin steuert die Jugendhilfe? In-novationsfähigkeit der Jugendhilfe zwi-schen neuen Steuerungsmodellen undDebatten um Jugendamtsstrukturen. In:Jugendhilfe 37/1999/3/138-149.

12 Vgl.: LAG Soziale Brennpunkte Hessen(Hrsg.): Materialsammlung zur TagungSoziale Stadterneuerung, o.O. 1999.

13 Vgl. Fußnote 6.

14 Hartmut Gustmann: Der Bürgerhaus-halt: Beispiel Porto Alegre (Brasilien), inKGST-Info 44/1999/17/138-141.

15 Vgl. Wolfgang Hinte, Fußnote 4.

16 Einen anderen Vorschlag, Qualitäts-merkmale für sozial-kulturelleArbeit/GWA zu formulieren, legt derVerband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.vor: Verband für sozial-kulturelle Arbeite.V.: (Hrsg.): Handbuch sozial-kulturelleArbeit. Köln/Berlin 1998.

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 25

Eine Anlaufstelle für Eltern war dasNUSZ schon seit seiner Gründung 1987.Mit dem Treffpunkt für Schwangere, Väter,Mütter und Babys wurde eine in Berlin da-mals einzigartige Möglichkeit für Eltern ge-schaffen, sich mit anderen gemeinsam aufdie neue Rolle vorzubereiten und darüberhinaus kompetente fachliche Unterstützungzu erhalten.

Vielfältige Angebote wie Geburtsvorbe-reitungskurse, offene Schwangerengrup-pen, Müttergruppen, Säuglingspflegekurse,Informationsveranstaltungen, Schwanger-schafts- und Rückbildungsgymnastik, Selbst-hilfegruppen, Hebammensprechstundenboten Familien von Anfang an die Möglich-keit, Information, Beratung, Gedankenaus-tausch, Anregung, praktische Unterstützungund konkrete Hilfe zu erhalten.

Bei allen Projekten, die wir ins Leben ru-fen, ist unser Leitgedanke die Idee derSelbsthilfe. Im Vordergrund steht das Be-dürfnis der Menschen. Ein Beispiel dafür istdie Gründung des Familienpflegedienstes:

Die Idee entstand in einer Gruppe allein er-ziehender Mütter, die häufig mit der Frage-stellung konfrontiert waren: Was tue ich,wenn ich krank im Bett liege und mein Kindnicht mehr selbst versorgen kann? Wer füt-tert mein Baby, wer wickelt es, wer küm-mert sich um meinen Haushalt, wenn Omas,Onkel und Tanten oder Freunde nicht vor-handen sind?

Und auf der anderen Seite gab es Frau-en im Nachbarschaftszentrum, die gerneFamilienpflegedienste organisierten, sowohlin Form nachbarschaftlicher Unterstützungals auch von Betreuung durch professionel-le Familienpflegerinnen.

Jüngstes Beispiel ist die Schreibaby-Am-bulanz. Seit 1993 finden hier Eltern undBabys Hilfe und Unterstützung in außeror-dentlichen Krisensituationen. Diese Krisensi-tuationen entstehen, wenn Babys Tag undNacht schreien, durch nichts zu beruhigensind, Schlafstörungen haben und extrem un-ruhig sind. Eltern, die intensiv versuchen,ihre Kinder zu beruhigen, und feststellen,dass dies nicht gelingt, fühlen sich oft hilflos

und verzweifelt und empfinden teilweiseauch Wut gegenüber ihrem Kind. Sie lei-den zunehmend unter Schlafmangel undsind physisch und psychisch erschöpft.

In dieser Situation setzt die Hilfe derSchreibaby-Ambulanz ein. Anhand sanfterkörpertherapeutischer Verfahren, die sichsowohl an die Kinder als auch an die Elternrichten, wird die ursprüngliche Fähigkeit,zur Ruhe zu kommen aktiviert. Methodensind Entspannungsübungen, sanfte Körper-berührungen, Massagen und Gespräche.Gespräche und Körperwahrnehmungen hel-fen den Eltern sich der Anspannung bewus-st zu werden, um sie dann Stück für Stückaufzulösen.

Die Arbeit der Schreibaby-Ambulanz isteingebunden in das Familiennetzwerk desNachbarschaftszentrums. So können die El-tern mit ihren Kindern neben der konkretenHilfe auch die vielfältigen anderen Angebo-te der Einrichtung für sich nutzen.

Lange Zeit war die Schreibaby-Ambu-lanz ein einzigartiges Modell. Mittlerweilehaben weitere Berliner Nachbarschaftsein-richtungen (Fabrik Osloer Straße im Wed-ding, Nachbarschaftsheim Weißensee unddas Nachbarschaftsheim Mittelhof in Zeh-lendorf) die Arbeit übernommen und eben-falls Schreibaby-Ambulanzen eingerichtet.

Die Arbeit der Schreibaby-Ambulanzgenießt hohes Ansehen nicht nur bei denbetroffenen Eltern, sondern auch in Politikund Verwaltung. So hat die Bezirksverord-netenversammlung Tempelhof einstimmigdafür votiert, den Berliner Senat und dasAbgeordnetenhaus aufzufordern, die finan-ziellen Mittel für die Arbeit weiter zur Verfü-gung zu stellen. Die Schreibaby-Ambulanzwird seit 1993 vom Berliner Senat geför-dert, diese Förderung sollte im März diesenJahres eingestellt werden. Die enorme Pro-testwelle betroffener Eltern, der Bezirks-Poli-tiker und Politiker aus Senat und Abgeord-netenhaus quer durch alle Parteien hat diesverhindert.

Wir hoffen, dass das Beispiel der Berli-ner Schreibaby-Ambulanz Schule machtund andere Nachbarschaftseinrichtungen,falls sie dies für nötig halten, ähnliche An-laufstellen für Eltern schaffen.

Informationen: NUSZ ufa-Fabrik Tel 030/75503122Ansprechpartnerin: Paula Diederichs

Nachbarschaftszentren– Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklung und Innovation

Ein Beispiel - Die Schreibaby-Ambulanz im Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum der ufa-Fabrik Berlin

von Renate Wilkening

A U S D E N E I N R I C H T U N G E N

Page 28: Rundbrief 2-2000

Bei uns im Rabenhaus geht es sehr oftsehr fröhlich zu. Die Leute verstehen sichgut und es passiert dann und wann, dassman gemeinsam "rumspinnt". Und das nichtetwa mit Spinnrad und Wolle – wozu wirauch durchaus in der Lage sind –, sondernmit Worten, Gesten, Übertreibungen.

(Mitunter fallen mir so Sprüche aus derKinderzeit ein, die man gratis und wohl-wollend mit auf den Weg bekommen hat,z. B.: "Übermut tut selten gut")

Nun ja, was soll’s? Gerade eben einsolches Projekt aus "Spinnerei" und "Über-Mut" steht uns ins Haus und mir ist so ziem-lich mulmig, wenn ich daran denke. Die an-deren lachen dann über mich und sie sagen(wie so oft): "Ach, das kriegen wir schonhin!" Und ich lache auch und denke: "Wasbleibt uns anderes übrig?"

Tatsächlich aber ist es eine sehrschöne Sache.

Eines Tages im letzten Jahr telefonierteich mit unserer Hauseigentümerin, um sie zuüberzeugen, dass sie uns doch gut unterstüt-zen könne, wenn sie uns weitere Räume zueinem niedrigen Mietzins vermieten würde.

So verhandelten wir und oft dachte sie si-cher, ich scherze; mittendrin meinte sie:"Mal was ganz anderes. Könnte man nichtauch die Fassade des Hauses schön gestal-ten, was denken Sie, Frau Pergande?" Ichdachte darüber nach und fragte die Ande-ren.

Tja, das war sozusagen der Anstoß.Und die Idee kam uns immer großartigervor, je öfter wir darüber nachdachten. Undda wir auch unsere Räume (entsprechendunseren Vorstellungen) beziehen konnten,kam ein "Warum nicht?" hinzu und dasVorhaben wurde zur "Fassadenaktion" er-klärt.

Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben.48 Entwürfe gingen ein. Beteiligt hatten sichNutzer des Rabenhauses, Architekten, Ge-brauchsgrafiker, haupt- und ehrenamtlicheMitarbeiter, Kinder des Schülerclubs. ImSommer tagte dann eine Jury. Da wir dasKulturamt als einen der Sponsoren gewin-nen konnten, war ein Mitarbeiter des Be-zirksamtes dabei, des Weiteren ein Vor-standsmitglied des Rabenhaus e.V., dieHauseigentümerin und ein KöpenickerKünstler. Drei Stunden lang wählten siesorgfältig Entwürfe aus, gingen immer wie-

der vor die Tür, diskutierten darüber, dach-ten nach, hängten die Fassadenbilder ander Magnettafel in Rangfolgen um, sortier-ten aus.

Schließlich und endlich waren noch fünEntwürfe übrig und mein Grinsen wurde immer breiter. Wusste doch die Jury nicht,was ich wusste: von wem die Skizzenstammten.

Und nochmals wurden zwei Entwürfeaussortiert, der 1., 2. und 3. Platz endgültigfestgelegt. Alle drei Gewinnerinnen sindzehn Jahre alt und besuchen den Schüler-club-Kurs "Kreatives Gestalten". Die Kursleiterin erzählte, dass sie "neulich noch ‘neViertelstunde Zeit dafür gehabt hätten".(Kinder!)

Die Überraschung der Jurymitgliederwar ebenso groß wie unsere Freude überihre Auswahl. Ich meine, jeder von uns hat-te andere "Favoriten", aber der 1. Platz gefiel uns allen gut.

Die Kinder feierten ihren Sieg bei einemgemeinsamen Eisessen. Wir mussten uns jedoch an den Gedanken gewöhnen, dieIdee umzusetzen.

Die Hauseigentümerin besorgt dasGerüst. Vom Kulturamt haben wir 850,00DM bewilligt bekommen und mit der Schö-neweider Farbfirma "Caparol" einen nettenNachbarn kennen gelernt: Sie spendiert undie Farbe.

Am 14. September geht es los. Wir ha-ben so was noch nie gemacht. Zum Glückwollen uns einige Leute helfen, aber ichsehe es schon kommen: Die arbeiten allemit mir an der untersten Etage. Na, ich binvielleicht gespannt. Wir haben auch gelbeSturzhelme geschenkt bekommen und sosind wir in den nächsten Wochen beson-ders gut zu erkennen. Vielleicht finden dieeine oder andere Beratung und Gesprächean der frischen Luft in schwindelnder Höhestatt.

Gleich nach dieser Aktion beginnt einenächste, wir lassen uns einen behinderten-gerechten Zugang von der Straße her bau-en und eine "Toilette ohne Barrieren". Hier-für erhalten wir voraussichtlich Geld vonder Senatsverwaltung.

Neulich hörte ich, wie sich zwei Leutebeim Vorübergehen unterhielten: "Ej, hastedit inner Zeitung jelesen, dit Haus machen-se schön bunt. – Ja, dit sieht man dennschon von weitem, find ick jut."

Und ich dachte: "Ja, icke ooch, wenn’smal bloß schon fertig wäre!"

Berlin, Köpenick, 11. September 2000

26 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

SCHÖN BUNT – Eine Fassadenaktiondes Rabenhaus e.V.

von Hella Pergande

A U S D E N E I N R I C H T U N G E N

1.Platz

Page 29: Rundbrief 2-2000

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 27

Eine sozialgeragogische Weiter-

bildung für ehren- und hauptamt-

liche MitarbeiterInnen im Bereich

Offene Altenarbeit im Seniorentreff-

punkt Doris-Roper-Haus des

Quäker Nachbarschaftsheims

in Verbindung mit dem Lehrstuhl

für Soziale Gerontologie der

Universität Dortmund.Das Quäker Nachbarschaftsheim hat in

Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Sozi-ale Gerontologie der Universität Dortmundeine zweijährige sozialgeragogische Weiter-bildung im Bereich Offene Altenarbeit ent-wickelt. Das Angebot richtet sich sowohl anFrauen und Männer ab dem 55. Lebensjahr,die bereits ehrenamtlich arbeiten oder die In-teresse an ehrenamtlicher Altenarbeit haben,als auch an Berufstätige aus dem ArbeitsfeldOffene Altenarbeit.

Die erstgenannte Gruppe erhält währenddes ersten Fortbildungsjahres zunächst dasBasiswissen für die Vorbereitung auf das Alterund dessen aktiver Gestaltung. Ein zweitesZiel unseres Projektes ist es, aus dem Teilneh-merInnenkreis Freiwillige für ehrenamtlicheTätigkeiten in der Offenen Altenarbeit zu ge-

winnen. Zur Offenen Altenarbeit zählen füruns auch generationenübergreifende Aktivitä-ten, wie z.B. Mitwirkung im Kindergartenoder Unterstützung von Mehr-Generationen-Wohnprojekten oder praktische Hilfen für Fa-milien und Alleinerziehende mit kleinen Kin-dern.

Unsere bisherigen Erfahrungen aus derBildungsarbeit mit Älteren sind Erfolg verspre-chend; dadurch, dass wir den persönlichenFragen im Zusammenhang mit der Gestal-tung des nachberuflichen Lebens über einenlängeren Zeitraum genügend Raum geben,fühlen sich die TeilnehmerInnen wirklichernst genommen in ihrer Lebenssituation.Über die persönliche Stärkung bewirken wireine Bereitschaft für die Übernahme ehren-amtlicher, dem Gemeinwesen nützenderAufgaben.

AktivitätWachstumChancenFür mich selbst und Andere ...

Älter werden mit Gewinn

von Dipl. Sozialarbeiter Heinz Schwirten

A U S D E N E I N R I C H T U N G E N

Page 30: Rundbrief 2-2000

Was die Gruppe der HauptamtlerInnenbetrifft, sehen wir gleichfalls großen Hand-lungsbedarf. Diese sind in der Regel nichtentsprechend ausgebildet, um den komple-xen Anforderungen einer zeitgemäßen Offe-nen Altenarbeit, zu der ja auch unbedingtBildungsarbeit gehört, nachzukommen.

Für diesen Personenkreis ist vor allemdas zweite Fortbildungsjahr konzipiert; wis-senschaftliche ReferentInnen im Auftrag derUniversität Dortmund werden zu uns in denTreffpunkt kommen und zu wichtigen The-men, die die Bildungsarbeit mit Älteren be-treffen, Stellung nehmen. Hier haben Haupt-amtlerInnen Gelegenheit, sich ortsnah undauf hohem Niveau weiterzubilden.

Für HauptamtlerInnen, die in der Arbeitmit älteren Menschen (noch) nicht von eige-ner Erfahrung ausgehen können, sondernzunächst "theoretisch" ihr Wissen über dasÄlterwerden weitergeben, kann die Begeg-nung mit ehrenamtlichen Mitarbeitern eineBereicherung bedeuten, den Generationen-austausch fördern und sich fruchtbar auf diezukünftige Bildungsarbeit auswirken.

Präventive GerontologieWir möchten mit unserem geplanten

Projekt einen gezielten Weg der präventi-ven Gerontologie gehen. Dieser Wegnimmt Abschied vom leider immer noch ver-breiteten Defizitmodell des Alters, das dieWissenschaft seit Jahrzehnten widerlegthat. Alter muss eben nicht Abbau in allenBereichen bedeuten und zwangsläufig inAbhängigkeit und Pflege enden.

Frauen und Männer haben heute nachdem Ausscheiden aus dem Beruf oder nachBeendigung der Familienarbeit eine bisherin der Geschichte noch nie erlebte, lange Le-benszeit vor sich, die durch neues Lernen,persönliche Entwicklung und Entfaltung so-wie durch neuen Lebenssinn und die Bereit-schaft zur Übernahme öffentlicher Aufgabengeprägt sein kann, wenn es entsprechendeAnregungen und Ermutigung, zum Beispieldurch Vorbilder, gibt. Viele Beispiele be-wusst lebender, älterer Menschen beweisen,dass ein solches sinnvolles, selbstständigesLeben bis ins hohe Alter möglich ist.

Qualifizierung ehrenamtlicherKräfte ist das Gebot der Stunde

Um das neue Altersbild stärker in die An-gebote der Offenen Altenarbeit einzubringen,brauchen wir viele entsprechend qualifizierteehren- und hauptamtliche MitarbeiterInnen. Dadie öffentliche Finanzlage aber in absehbarer

Zeit kaum neue Arbeitsplätze in diesem Be-reich erwarten lässt, ist die Qualifizierung ehrenamtlicher Kräfte das Gebot der Stunde.Langfristig bedeuten solche Qualifizierungs-maßnahmen eine erhebliche Entlastung für dieAltenhilfe bei Kosten und Pflege, denn infor-mierte, "gebildete" Menschen handeln inStress- und Konfliktsituationen rationaler, trau-en sich mehr zu und fallen nicht so schnell inDepression und mögliche Abhängigkeiten vonAnderen. So, wie es selbstverständlich ist,dass junge Menschen sich durch Lernen undWeiterbildung darauf vorbereiten, ihr Berufs-und Erwachsenenleben selbstständig zu leben,so selbstverständlich muss es werden, im undfür das Alter zu lernen, um es als ebenso wich-tige Lebensphase selbstständig zu gestaltenund nicht als "Pflegefall" zu erleiden. Das istfür uns der Weg in die Zukunft.

Nicht Altenlast, sondern Hilfezum Entfalten von Alterskräften

Die Qualifikation ehren- und hauptamtli-cher Kräfte für moderne zukunftsgerichteteAltenarbeit ist ebenso wichtig wie die Alten-hilfe selbst.

Für ältere Menschen ist es belastend,von Politikern und Medien die "Altenlast"beklagt zu hören, aber keine Alternativenaufgezeigt zu bekommen, die den Verände-rungen im Prozess des Älterwerdens undder Lebensbedingungen älterer Menschengerecht werden.

Mit unserem sozialgeragogischen Pro-jekt möchten wir darauf hinwirken, dass inder Stadt Köln älteren Mitbürgern durchdie Offene Altenarbeit neue Bildungswegegezeigt werden, die es ihnen ermöglichen,den gesellschaftlichen Wandlungsprozessbesser zu verstehen, neues, lebenslangesLernen zu akzeptieren und ihr Leben selbst-ständig und unabhängig zu gestalten.

Ausreichend qualifizierte Mitarbeiterkönnen in der Offenen Altenarbeit Orteschaffen, in denen ältere Menschen statt vor-gefertigte Unterhaltung zu konsumieren ihreeigenen Kräfte entdecken und entfalten.

Die Inhalte der Fortbildung imEinzelnen

Um auf die Arbeit mit anderen älterenMenschen vorbereitet zu sein und um sie alsentwicklungsfähige Personen ernst zu neh-men, ist es notwendig, dass die ehrenamtli-chen MitarbeiterInnen sich zunächst mit ihreneigenen Einstellungen zu Aspekten des Älter-werdens auseinander setzen. Darauf sind die20 Seminarveranstaltungen des ersten Jahresder Weiterbildung zugeschnitten, die nur fürEhrenamtliche vorgesehen sind:

• Medizinische Aspekte des Alterns I + I• Psychologische Aspekte des Alterns I + I• Soziologische Aspekte des Alterns I + I• Älter werden als Frau bzw. als Mann

I und II• Sinnfindung beim Älterwerden I und II• Kompetenz im Alter I und II• Älter werden und Lernen I und II• Älter werden und Freizeit gestalten I

und II• Miteinander leben – soziale Netze im

Alter I und II• Grenzen überschreiten – Abschied

und Tod I und II

Das zweite Fortbildungsjahr, das für Ehren- und Hauptamtliche konzipiert ist,sieht folgende Themen vor, die durch wis-senschaftliche Referenten im Auftrag derUniversität Dortmund angeboten werden:

• Grundfragen der Sozialen Gerontologie• Reflexive Gerontologie• Gerontosoziologie• Gerontopsychologie• Sozialgerontologische Aspekte der

Geriatrie und Gerontopsychiatrie• Sozialpolitik• Tertiäre Sozialisation• Neues Lernen im Alter

Darüber hinaus werden im zweiten Jahrfür die ehrenamtlichen Kräfte Zusatzveran-staltungen angeboten, um ihnen das Findenund Gestalten neuer Aufgaben zu erleich-tern:

• Ehrenamtliche Soziale Arbeit• Zielgruppen der ehrenamtlichen

Tätigkeit• Tätigkeitsbereiche in der Altenarbeit• Gesprächsführung und Kommuni-

kation• Gruppenarbeit – Gruppenprozesse• Einsatz von Medien• Kursmodell und Verlaufsprofile

Wir gehen von einem zukünftig großenBedarf an entsprechend ausgebildeten eh-renamtlichen Mitarbeitern in der OffenenAltenarbeit aus, der sich zwangsläufig ausdem demographischen Strukturwandel undden Veränderungen im Prozess des Älter-werdens und der Lebensbedingungen älte-rer Menschen ergibt.

In der Stadt Köln gibt es zur Zeit keinvergleichbares Angebot, denn bisher sindalle Kräfte gebündelt auf den Bereich Alten-hilfe ausgerichtet.

28 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 29

Das "ANLAUF"– Jugendhilfezen-trum Marzahn Nord wurde im nördlich-sten Sozialraum von Marzahn von Kiek ine.V. Berlin – Verein für Sozialbera-tung, Jugend- und Familienbetreu-ung/Nachbarschaftstreff seit 1994 ineiner sinnvollen Verbindung von Hilfen zurErziehung und offener familienorientierterAngebote für Kinder, Jugendliche und de-ren Eltern entwickelt.

Darin eingebettet hat sich 1998 dasProjekt "Familienzeit" herausgebildet undbis heute vielfältige Formen angenommen.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? In der Zusammenarbeit und in Ge-

sprächen mit Kindern, Jugendlichen und de-ren Eltern wurde uns klar, dass in vielen Fa-milien das Problem besteht, genug Zeit fürAktivitäten mit der ganzen Familie freizu-schaufeln. Häufig sind gute Ideen vorhan-den, wenn es jedoch um die Verwirklichunggeht, sind so viele Einzelheiten zu organisie-ren, dass letzten Endes die Zeit zu knappwird – und es dann bei der Idee bleibt. Hiersetzte die Überlegung ein: Wie könnten wirdurch unsere Angebote Familien so entlasten,dass Eltern und Kinder gemeinsam mehr Zeit- Familienzeit - für sich bekommen?

Auf Grundlage dieser Überlegung ent-standen die verschiedensten Angebote:

So beginnt jeden Samstagnachmittag um

15.00 Uhr der "Familienspaß am Wo-chenende". Eltern mit ihren Kindern treffensich bei gemütlicher Kaffeetafel zu Spiel undSpaß in den Räumen des "ANLAUF" - Ju-gendhilfezentrums. In der warmen Jah-reszeit steht Eltern und Kindern auch derGarten für sportliche Aktivitäten offen. Beiungünstigem Wetter findet unsere Spielothekregen Zuspruch. Wer kann da schon wider-stehen, wenn fast 300 Spiele zur Auswahlstehen und Familien sich heiße Kämpfe bei"Phase 10", "UNO", "Mensch ärgere dichnicht!" und anderen Spielen liefern.

Jeden Dienstag von 10.00 – 12.00 Uhrtreffen sich (bisher nur) Muttis mit ihren Kin-dern zu "Eltern im Gespräch". Sie kön-nen sich hier einmal ungestört über ihre Pro-bleme austauschen und bei Fachleuten auchRat in Erziehungsfragen holen, währendihre Kinder in dieser Zeit von Kräften derEinrichtung betreut werden.

Monatlich findet regelmäßig an einemSonnabend der beliebte "ANLAUF"-Trö-delmarkt statt, offen für alle, die Kinder-sachen und auch andere praktische Dingekaufen bzw. verkaufen wollen. Damit kom-men wir dem Wunsch vieler junger Elternentgegen, die gut erhaltene Kindersachenund Spielzeug nicht wegwerfen wollen,wenn ihre Kinder diese Dinge nicht mehrbenötigen.

Als besonderen Service stellt Kiek ine.V. Berlin im "ANLAUF"-Jugendhilfe-zentrum auch Räume für Familienfeiernzur Verfügung und stattet Kindergeburtstageoder auch Klassenfeiern komplett aus. Eineselbst gebaute Disco-Anlage leistet dabeigute Dienste.

Erstmalig fand in diesem Jahr am 9.September für Lernanfänger des umliegen-den Wohngebietes das "Schultütenfest"statt. Zu den entsprechenden Grundschulendes Stadtteils bestehen enge Arbeitsbezie-hungen. Besonders herzlich wurden dreiSpätaussiedlerfamilien begrüßt, deren Kin-der nun auch diesen neuen Lebensabschnittbeginnen. Die frischgebackenen Erstklässlerstanden natürlich im Mittelpunkt des Festes.Ein kleines Programm der "ANLAUF-Kin-der", also der regelmäßigen Besucher desZentrums, für die ABC-Schützen fandgroßen Anklang bei Kinder und Eltern. Kaf-fee und Kuchen, Getränke, Süßigkeiten undGeschenke ließen diesen Tag für die Kinderzu einem Höhepunkt werden. Aber auchdie Hopseburg wurde begeistert genutzt.Als besondere Überraschung wurde jedesKind mit seiner Schultüte fotografiert unddas Bild - sofort mit dem Computer bearbei-tet und ausgedruckt - erinnert sicher auchnoch Jahre später an diesen wichtigen Tag.

Das ist aber noch nicht alles. Zu den In-halten des Projektes "Familienzeit"gehören auch eine "Hobbythek" und derGeschenkebasar, wo Eltern mit ihren Kin-dern basteln und gestalten können. Gele-gentlich werden gemeinsam Exkursionenund Wanderungen organisiert.

"ANLAUF" – JugendhilfezentrumMarzahn NordRosenbecker Straße 2712689 Berlin-MarzahnTelefon: 030/93 66 52 70Fax: 030/93 66 52 74

Träger: Kiek in e.V. Berlin – Verein für Sozialberatung, Jugend- und Familienbetreuung/NachbarschaftstreffMärkische Allee 41412689 Berlin-MarzahnTelefon / Fax: 030/933 94 86

Noch Fragen? Anruf genügt: 030 – 9366 52 70 oder Sie kommen einfach einmalvorbei. Ansprechpartnerin: Waltraud Stein

Familienzeit bei "ANLAUF"Kein Geheimtipp für Insider

von Waltraud Stein

A U S D E N E I N R I C H T U N G E N

Page 32: Rundbrief 2-2000

Sprachförderung wird zur Not-wendigkeit

Die Kindertagesstätte Riemenschneider-weg in der Trägerschaft des Nachbarschafts-heims Schöneberg e.V. bietet Kinderbetreu-ung in den Bereichen Krippe, Kindergartenund Hort an. Von den 128 Kindern, die dieEinrichtung besuchen, kommen 43 Prozentaus Familien nichtdeutscher Herkunft, zumeistaus türkischen Familien. Diese Zusammenset-zung ist ein Spiegel für das gesamte Umfeldder Einrichtung. Daraus ergibt sich diezwangsläufige Notwendigkeit zu speziellenAngeboten der Sprachförderung.

Deutschkurs für ElternDie Kindertagesstätte versteht sich als

Begegnungsstätte für Kinder und Eltern. Elternarbeit ist somit ein wichtiger Bestand-teil in der pädagogischen Arbeit. Die geringen Deutschkenntnisse vieler Mütter erschweren jedoch die Kommunikation. Aus diesem Grunde haben sich die Mitar-beiterInnen für einen Deutschkurs mit Kin-derbetreuung im eigenen Haus eingesetzt.In Zusammenarbeit mit der VolkshochschuleSchöneberg konnte im März 1999 einDeutschkurs für ausländische Mütter einge-richtet werden, der seither dreimal wöchent-lich stattfindet. Die Kinderbetreuung hateine türkische Mutter aus der Kindertages-stätte übernommen.

Aus finanziellen Gründen ist dieserDeutschkurs leider immer gefährdet. Dasbedroht auch ein wichtiges Standbein inter-kulturellen Zusammenlebens in diesemStadtteil und in der Kindertagesstätte.

Elternarbeit im interkulturellenUmfeld

Grundsätzlich werden die Eltern derKinder immer wieder in die Gestaltung derArbeit einbezogen. Das ist die Basis für eingeeignetes Umfeld des Deutschkurses undbietet Möglichkeiten zu einer Kommunikati-on, die nicht "künstlich" ist.

Alle Aushänge an den Informations-tafeln sind zweisprachig verfasst. Dies be-zieht die türkischen Eltern besser mit einund erhöht ihre Aufmerksamkeit.

Konkret werden u.a. folgende Aktivitätenangeboten:

• Internationales Frühstück: Die Dozentindes Deutschkurses bereitet das "Inter-nationale Frühstück" für Eltern in derKindertagesstätte schon im Unterrichtsprachlich vor und bespricht es in derKlasse. Die praktische Vorbereitung liegtdann in der Hand der Teilnehmerinnen.

• Gemeinsames Basteln: Regelmäßigwird gemeinsam gebastelt, z.B. zurVorbereitung des jährlichen Sommer-festes oder des Weihnachtsbasars imKleingartengelände.

• Teilnahme an Arbeitsgruppen: Arbeits-gruppen planen und gestalten gemein-sam das Sommerfest und das türkischeSeker bayram. Dieses Bayram-Fest fin-det für alle Eltern und Kinder im Hausstatt und ist zu einem festen Bestandteilin der Jahresplanung geworden.

• Elterntreff: Der Besuch des Elterntreffsermöglicht ein zwangloses und unver-bindliches Zusammensitzen und Mit-einander-Sprechen. Treffpunkt ist derumgebaute ehemalige Kinderwagen-raum im Haus, der auch über eineKinderspielecke, eine Kaffeemaschineund einen Samowar verfügt.

• Gartenarbeitstage: Sie bieten Eltern,ErziehernInnen und Kindern die Mög-lichkeit, sich beim Bewältigen einer ge-meinsamen Aufgabe näher zu kommen.

Kulturelle VeranstaltungenEinmal im Jahr finden "Literaturwochen"

statt. Dazu wird der Mehrzweckraum in eine"Bücherei" mit gemütlichen Leseecken umge-staltet. Mehrmals täglich werden den Kindernvon Eltern und ErzieherInnen aus Büchern vogelesen oder Geschichten und Märchen er-zählt. Fester Bestandteil der Literaturwochensind deutsch-türkische Kinderbücher.

Ein weiteres Angebot besteht in einerTheateraufführung für die Eltern der Kindertagesstätte. In diesem Bereich wird mit dem"Theater der Erfahrungen", einer weiterenProjektgruppe des Nachbarschaftsheims,zusammengearbeitet. In der Vergangenheitraten zum Beispiel die "Spätzünder" mitihrem Stück "Die blauen Büffel" vor den El-tern verschiedener Nationalitäten auf. Allehatten dabei viel Spaß. Weitere Aufführun-gen sind geplant.

Einbindung EhrenamtlicherEhrenamtliche Mitarbeiterinnen machen

zusätzliche Angebote für die Kinder. Fürdie Hortkinder wurde eine Schularbeitshilfeeingerichtet. Sie ermöglicht durch Einzelzu-wendung eine intensivere Sprachförderungals dies in der Gruppe realisierbar ist. Eine"Märchenfrau" liest und erzählt für die Kin-dergarten- und Vorschulkinder Märchen unsetzt sie mit ihnen in Bewegung um (Thea-tersport).

AusblickDas Angebot für die Frauen des

Deutschkurses könnte künftig gemeinsammit der Dozentin des VHS-Kurses um weite-re kleine Projekte erweitert werden. Limitie-render Faktor ist hier jedoch der minimalezeitliche und finanzielle Spielraum.

• Kontakt:Babette KalthoffNachbarschaftsheim Schöneberg e.V.Kindertagesstätte RiemenschneiderwegRiemenschneider Weg 1312157 BerlinTel.: 030/79 40 49 94Fax: 030/859 33 67E-Mail: [email protected]

30 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

Kinder- und Jugend-hilfe

Sprachförderung in der Kindertagesstätte

von Babette Kalthoff

A U S D E N E I N R I C H T U N G E N

Page 33: Rundbrief 2-2000

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 31

Es gibt in Berlin ungefähr 40 Personen,vor allem Frauen, die zwischen 60 und 85Jahren alt sind und zum "Theater der Erfah-rungen" gehören. Das A und O dabei ist:Sie entwickeln ihre Stücke selbst. Je nachpersönlicher Vorliebe gehören sie zu Thea-tergruppen mit klingenden Namen wieSpätzünder, Graue Zellen, Ost-schwung oder Küchenschaben. Undalle Theatergruppen gehören wiederumzum Theater der Erfahrungen und je-nes zum Nachbarschaftsheim Schö-neberg e.V. In Kolumbien gibt es einesolche Altentheatergruppe mit dem NamenFlores de Otono - Herbstblumen, in Tai-wan nennt sich eine Gruppe Uhan Shii -Glück und Freude - und in Simbabwe Stel-la Chiweshe & Bhata Kumbo. Undauch sie bringen in den vielfältigsten Aus-drucksformen ihre langen Lebensgeschich-ten und ihre Zeitzeugenschaft auf die Büh-ne. Auf der ganzen Welt treten dieGraue Stars auf und vom 5. bis 8. Okto-ber 2000 gab es die Möglichkeit, vielevon ihnen bei dem Internationalen Al-tentheaterfestival "Graue Starsüber Berlin" kennen zu lernen.

Das Theater der Erfahrungen veranstal-tete dieses internationale Theaterfestival zuseinem 20-jährigen Jubiläum. Das mehr alsnur volljährige Altentheaterprojekt hat sei-nen Werdegang mit vielen Experimenten,Seitensprüngen und Ausflügen in verschie-denste Richtungen gemeistert. Nach jeder

der insgesamt dreißig entstandenen Produk-tionen wurde nach einem neuen Weg ge-sucht - sei es in der Konstellation der Spie-ler, den theaterästhetischen Mitteln oder derThematik. Das Theaterspiel hatte immer vielmit Austausch und Reflexion über das bis-lang Erarbeitete zu tun. Das Festival waranalog zu diesem offenen Arbeitsansatzkonzipiert. Nicht allein wunderbare Thea-tervorstellungen waren zu sehen, sondernes ging auch um theaterpraktische Ver-suchsfelder in Workshops und es fanden in-teressante Diskussionsrunden über Senioren-arbeit und Altenkultur statt.

Es gibt auf der ganzen Welt hervorra-gende und enorm interessante Altentheater-gruppen. Insofern war es sehr schwierig,eine Auswahl für die Gastspiele zu treffen.Es wurden Theatergruppen ausgesucht, diemit dem Ansatz vom Theater der Erfah-rungen am stärksten korrespondieren. Dasheißt, im Vordergrund stehen Theatergrup-pen, die gesellschaftskritische Themen zumMittelpunkt ihrer Arbeit machen oder diedie Geschichte ihres Landes anhand derBiographien ihrer Protagonisten auf dieBühne bringen. Es wurden keine Gruppenausgesucht, die unsortiert das goldene Kalbder Erfahrung älterer Menschen anbeten,sondern gezielt gesellschaftlich brisante Fra-gestellungen und Probleme in Angriff neh-men - und dazu nach Erinnerungen der Al-ten forschen.

Highlights des Festivals waren die Gast-spiele aus Taiwan und Kolumbien. DieUhan Shii Theatergruppe aus Taiwan prä-sentierte ihre neueste Produktion "We arehere". Das Stück erzählt die Geschichte derHakanese, einer in Asien diskriminiertenMinderheit, und sucht nach deren Wurzeln.Die Leiterin der Gruppe, Ya-Ling Peng, kon-zentriert sich vor allem darauf, die oft ver-schwiegene Geschichte Taiwans anhandvon Erinnerungen alter Menschen zum Vor-schein zu bringen. Das Ensemble, das ca.30 Personen umfasst, besteht aus drei Ge-nerationen.

Bei den Kolumbianerinnen gab es vielTanz und Musik. Alte Frauen lehnen sich ge-gen eine drakonische Altenpflegerin auf,ihre Empörung entlädt sich in einem großenTanz. "Danza Mayor" ist eine Rebellion,eine Befreiung, aber auch ein Traum. DieFlores de Otono – Herbstblumen – Gruppegehört zur Kolumbianischen Theatergilde,die insgesamt 15 Tanz-, Theater- und Musik-gruppen beherbergt. Sie wird von einer derbekanntesten Theaterfrauen Kolumbiens ge-leitet, Patricia Ariza. Zunächst als Forum füralternatives Kunstschaffen gegründet, hatsich die Theatergilde durch ihre Arbeit mitRandgruppen und Minderheiten und somitder vorbildlichen Verbindung von sozialenund kulturellen Aspekten einen Namen inKolumbien gemacht.

Gerade angesichts der demographi-schen Entwicklung hierzulande ist die Fra-ge, was alte Menschen unserer Gesell-schaft geben können, von hoher Bedeu-tung. Die traditionelle Seniorenarbeit sen-det derzeit wenige Impulse für die ange-sprochenen älteren Menschen aus. Statt-dessen könnten ihre kreativen Potenzialeunter geeigneten Rahmenbedingungen poli-tisch und gesellschaftlich höchst wirksamzum Tragen kommen. Fachleute aus ver-schiedenen Gebieten könnten in Werkstät-ten ihre Arbeitsschwerpunkte zusammentra-gen, um dann gemeinsam über tragfähigeModelle für die zukünftige Seniorenarbeitnachzudenken.

Das Theater der Erfahrungen möchteauch weitere 20 Jahre Altentheater ma-chen, und zwar ein Altentheater, das sichmehr denn je über Grenzen hinwegsetztund sich in gesellschaftspoltischen Fragenengagiert. Es wäre wunderbar, eine Alten-theaterära einläuten zu können, die von Be-gegnungen lebt - der internationalen Begeg-nung und der Begegnung zwischen denGenerationen.

DAS ALTENTHEATER:THEATER der Erfahrungen wird Twen!Zum internationalen Altentheaterfestival "Graue Stars über Berlin" vom 5. bis 8.10.2000 in Berlin

von Eva Bittner und Johanna Kaiser

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Page 34: Rundbrief 2-2000

Die Berliner Senatsverwaltungen unddas Hellersdorfer Bezirksamt wurden sichmit unserem Landesverband einig, den Klub74 Nachbarschaftszentrum Hellersdorf e.V.damit zu betrauen, in unserem BerlinerStadtbezirk das erste Stadtteilzentrum fürsozial-kulturelle Nachbarschaftsarbeit aufzu-bauen.

Ein Vorhaben, das von Bedeutung ist fürdie weitere Entwicklung der bürgernahenArbeit zweier unmittelbar aneinandergren-zenden Stadtteile des Bezirkes. Da dabeigleichzeitig auch in gemeinschaftlichemWirken mit der bezirklichen Selbsthilfe/Kontaktstelle die Betreuung und Entwicklungder Selbsthilfegruppen unter der Beachtungdes Prinzips der Hilfe zur Selbsthilfe gesi-chert wird, ist damit zugleich ein weitererSchritt zur Entwicklung des bürgerschaftli-chen Engagements möglich.

Für eine solche gewiss nicht einfacheAufgabenstellung gibt es aber noch einenanderen zu beachtenden Hintergrund: Diefinanzielle Lage der Kommunen wird auchin unserer Hauptstadt Berlin immer enger,so dass die Gelder für die soziale und kultu-relle Arbeit knapper werden, sowohl beider Kommune als auch bei den freien Trä-gern. Nun entsteht bei den Stadtvätern undStadtmüttern sehr rasch der Gedanke, dassman doch den größeren Teil der nicht mehrfinanzierbaren Aufgaben in der sozial-kultu-rellen Betreuung der BürgerInnen an ge-

standene Freie Träger delegieren könnte.Zugleich wird dann logischerweise betont:"Geld für die Realisierung der neuen Aufgabenstellung ist aber nicht zu erwarten.Nehmt das, was Ihr bisher hattet oder wahrscheinlich noch haben werdet und leistetdamit mindestens das Doppelte."

Leichter gesagt als getan, sowohl für un-seren Bürgermeister und das Bezirksamt alsauch für uns. Also entsprechende Wege su-chen!

Ein gangbarer und Erfolg versprechen-der Weg ist die Bündelung der Kräfte, diein nicht gerade wenigen Vereinen, Projek-ten, Gruppen, Organisationen und Einrich-tungen in unserem Kiez auf einschlägigemGebiet arbeiten.

Dabei galt und gilt es, all diesen Kräfteneinen Projektverbund anzubieten, der aufalle Fälle bei weiter bestehender rechtlicherund materiell-finanzieller Selbstständigkeiteine breitere und reichere Palette von Angeboten sichert, die den Interessen und Be-dürfnissen der BewohnerInnen entgegen-kommt und neue Initiativen wecken soll.Dieser Projekteverbund kann die Tätigkeiteiner größeren Zahl von EhrenamtlerInnenfür breitere Kreise zu betreuender Einwoh-nerInnen nutzbar machen, und so auchmehr Freude am ehrenamtlichen Mittunbringen und den immer wieder anzutreffen-den Sorgen um die notwendigen Räumlich-keiten entgegenwirken, weil ein gebündel-tes und koordiniertes Raumangebot, etwa inder Art einer "Raumbörse" in Vereinen mit

32 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

Das ersteStadtteilzentrum in Berlin-Hellersdorfbilden! - Aber wie?

von Dr. Horst Noack

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Page 35: Rundbrief 2-2000

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 33

einer breiteren Angebotsplanung, für alleeine bessere Veranstaltungsspezialisierungbietet. Das führt aber auch zugleich zu ei-ner Reduzierung nicht nötiger Duplizität imAngebot: Da manche Kosten durch bessereAbstimmung und Koordinierung der vonverschiedenen Trägern geplanten und or-ganisierten Maßnahmen eingespart wer-den, können wir im Verbund gemeinsamfür einen effektiveren Einsatz der Finanzendurch die einzelnen Träger wirken. Bei sol-chen Schritten im Projektverbund könnenwir sicher auch noch manche Mark beiSponsoren und Förderern, aber auch beiunserer Kommune durch das eigene Vor-bild in der Sparsamkeit locker machen.

Das sagt und schreibt sich alles vielleichter als es getan ist. Die oftmaligen Aus-einandersetzungen des letzten Jahres umWege, Mittel sowie die Art und Weise derGestaltung des Weges zum Stadtteilzen-trum Hellersdorf hat das wiederholt bewie-sen. Immer wieder möchten kommunale An-gestellte und Beamte uns freie Träger alsuntergeordnete Abteilungen oder Mitarbei-ter ihres Amtsbereiches verstehen. Vor-schriften und direkte Eingriffe in unsere Ent-scheidungs- und Leistungsfreiheit, dieberühmte Nötigungsfloskel (wenn ihr nicht..., dann ...), Terminverschleppung und da-nach folgender Termindruck: All das sindDinge, die uns die Arbeit alles andere alserleichtern oder uns gar Freude bereiten.

Aber das Ziel unserer Bemühungen, fürdie Bürger dieses von uns zu "beackern-den" großen Bereiches mehr und Besseres,Neues im sozial-kulturellen Bereich, derSelbsthilfe- Familien- und nachbarschaftli-chen Betreuung zu tun, zum Mitmachen an-zuregen u.v.m. gibt uns immer wieder Kraftund Zuversicht.

Unlängst haben wir unserem Bürgermeis-ter Herrn Dr. Klett vorgeschlagen, uns da-bei behilflich zu sein, das seit über zweiJahren ungenutzte, leer stehende Gebäudeeines ehemaligen Kindergartens zur Verfü-gung zu stellen (mit ca. 200 qm Garten-fläche). Er versprach das und wir sind nunam Ball.

So können künftig Mitglieder des Pro-jektverbundes "Stadtteilzentrum Hellers-dorf" günstig Arbeits- und Veranstaltungs-räume erhalten bzw. nutzen.

Wir alle rücken dann auch in der Ar-beit mit und für die Selbsthilfegruppen en-ger zusammen. Zugleich können kulturelleAngebote erfahrener Vereine, wie z.B. Kul-turring e.V., Ball e.V. ,das weite Theater,um nur einige zu nennen, stattfinden. Im

Garten wäre Sommerkino und Theater prak-tikabel, bis hin zu festlichen und gemütli-chen Zusammenkünften von Familien undGemeinschaften der großen Wohnhäuser.All das wären herrliche Möglichkeiten.Natürlich hätten dann unsere Partner dernahen Jugendklubs bessere Wirkungs-flächen zu erschließen und neue Program-me anzubieten.

So stecken wir voller Ideen und Visio-nen. Das ist wichtig und gut. Wir wissenaber auch, dass dazu eine Vielzahl vonPartnern aus der professionellen und der ehrenamtlichen Zunft gefunden und gewon-nen werden müssen.

Zugleich hoffen wir, dass die Unterstüt-zung durch die kommunalen Ämter wie z.B.Sozial, Jugend, Gesundheit, Finanzen, kurzeigentlich überhaupt der Kommunalpoliti-ker, sich weiter entwickeln wird, um es vor-sichtig auszudrücken.

Wir alle in unserem wachsenden Ver-bund sind optimistisch und zuversichtlichwie eh und je, zumal wir seit Jahren immerwieder mit der Hilfe und Unterstützung un-seres Berliner Landesverbandes rechnenkönnen und wissen, dass es auch weiter sosein wird.

Es wäre schön und nützlich, wenn wir –als Echo auf unsere Gedanken – Antwortenund damit auch Erfahrungen und Ratschlä-ge erhielten. Wir hoffen darauf!

Dr. Horst NoackEhrenamtlicher Vorsitzender

Unsere Anschrift:Klub 74Nachbarschaftszentrum Hellersdorf e.V.Am Baltenring 7412619 BerlinTel.:/Fax: 030/56 30 993 Internet/E-Mail: [email protected]

Es gibt immer

mehr Straßen

und immer weni-

ger Ziele.

(Werner Mitsch)

Page 36: Rundbrief 2-2000

Förderung des Zusammen-wachsens von Nachbarschafts-arbeit und Selbsthilfekontakt-

stellen in Berlin

Seit fast zwei Jahren wird ein Großteilder Berliner Nachbarschaftsheime über ein

Programm gefördert, das das Zusammen-wachsen von Nachbarschaftsarbeit undSelbsthilfekontaktstellen zu "Stadtteilzen-

tren" zum Ziel hat. Mit der Berliner Landes-gruppe des Verbandes für sozial-kulturelle

Arbeit und mit dem Verband der Selbsthilfe-kontaktstellen (SELKO) wurde ein entspre-chender Vertrag mit vierjähriger Laufzeit

abgeschlossen.

Zur Halbzeit des Vertragszeitraumes ha-ben alle vier im Berliner Abgeordnetenhaus

vertretenen Parteien mit unterschiedlichenFragestellungen Interesse daran gezeigt,

sich mit den Erfahrungen aus dem Vertragzu beschäftigen.

Im Parlamentsausschuss für Soziales undMigration fand deswegen am 21. Septem-

ber eine Anhörung statt, zu der Vertreter derVertragsparteien (Senatsverwaltungen und

Dachverbände) und aus Mitgliedseinrichtun-gen des Verbandes eingeladen worden sind.

Wir dokumentieren im Folgenden die zudieser Anhörung im Vorfeld eingereichte

schriftliche Stellungnahme der Berliner Landesgruppe.

AusgangslageDer Verband für sozial-kulturelle Arbeit,

Landesgruppe Berlin e.V., ist der Dach- undFachverband der Berliner Nachbarschafts-zentren. Er hat derzeit 31 Mitgliedseinrich-tungen in fast allen Stadtteilen. Von diesenbekommen 21 Einrichtungen ihre Landesför-derung über den Dachverband im Rahmeneines Zuwendungsvertrages, den der Ver-band zusammen mit SELKO, dem Verbandder Selbsthilfekontaktstellen, zum Zweckdes Aufbaus von Stadtteilzentren mit demLand Berlin, vertreten durch die Senatsver-waltungen für Gesundheit, Soziales undFrauen sowie die Senatsverwaltung fürSchule, Jugend und Sport, abgeschlossenhat. An die Einrichtungen werden die Mittelauf der Grundlage von privatrechtlichenVerträgen mit den Dachverbänden weiter-geleitet.

Vertrag und VorgeschichteDer Vertrag hat eine Laufzeit von vier

Jahren (vom 1.1.1999 - 31.12.2002). Mitdem Vertrag wurden frühere Konstruktionenabgelöst, bei denen der Verband bereits inunterschiedlichen Rollen in die Mittelverga-be für Nachbarschaftszentren einbezogenwar:

- seit Jahrzehnten wurden 5 Einrichtun-gen und der Verband selbst durch dieSenatsverwaltung für Jugend und Familie institutionell gefördert und als

- gemeinsamer Zuwendungsempfängerbehandelt

- in den Jahren 1996-1998 war der Veband in der Rechtsfigur des 'beliehe-nen Unternehmers' Zuwendungsgeberfür 17 von der Senatsverwaltung fürSoziales geförderte Nachbarschaftseinrichtungen.

Vertrag zwischen Zuwendungs-recht und Leistungslogik

Die jetzige Konstruktion (öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis zwischen Verbän-den und Senatsverwaltungen, privat-rechtli-ches Vertragsverhältnis zwischen Verbän-den und Einrichtungsträgern) ermöglicht es,unter dem Dach des Zuwendungsrechtes Reformen zu realisieren, die zu einem zweck-volleren Einsatz öffentlicher Mittel führensollen:

- Förderung auf der Grundlage einesvereinbarten Leistungsprofils

- Verlagerung der Prüfung von der Mit-telverwendung zum Leistungsnachweis

- Verwaltungsvereinfachung- (begrenzte) Möglichkeit zur Übertra-gung eingesparter Mittel ins nächsteKalenderjahr

Dieser Aspekt, so wichtig er ist, war fürunseren Verband aber nicht der Hauptgrundden Vertrag zum Aufbau von Stadtteilzentrenmit dem Land Berlin abzuschließen.

34 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

Stellungnahme zur Anhörung„Stadtteilzentren“

von Herbert Scherer

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Page 37: Rundbrief 2-2000

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000 35

Inhaltliche Motive für den Ver-tragsabschluss

Dafür gab es vielmehr schwerwiegendeinhaltliche Gründe. Bei der Bewertung desVertrages und seiner Umsetzung wird esinsbesondere darum gehen, ob er dazu ge-eignet war, ist und sein wird, die ge-wünschten Intentionen zu verwirklichen.

Folgende Gründe waren für uns aus-schlaggebend:

a) Die Zuwendungskürzungen der Jahre1996/97 (im Bereich der von der Senats-verwaltung für Soziales geförderten Projek-te waren das 10%) hatten bei uns die Er-kenntnis wachsen lassen, dass kleinere Pro-jekte, die nicht anders auf solche Kürzun-gen reagieren können, als ihre Leistungenbis zu einem Punkt einzuschränken, der ihrÜberleben aus der Sicht der Bürger, für diesie ihre Leistungen erbringen, sinnlosmacht. Demgegenüber hatten Einrichtun-gen einer gewissen Mindestgröße dieChance wahrnehmen können, sich in ihremAngebotsprofil und in ihren Finanzierungs-strukturen auf neue Situationen einzustellen(z.B. durch Übernahme neuer Aufgaben/Trägerschaften). Wir haben aus dieser Er-fahrung den Schluss gezogen, dass es dar-um gehen müsse, überlebensfähige Einrich-tungen durch Zusammenschluss und Vernet-zung mit anderen Projekten und Arbeitsbe-reichen entstehen zu lassen.

b) Dabei lag es nahe, Bereiche, diefachlich-inhaltlich dicht beieinander liegen,zusammenzuführen. Wir dachten dabei zu-allererst an das Arbeitsfeld Selbsthilfeunter-stützung, dann an das Erfahrungswissen unddie Unterstützung ehrenamtlicher/freiwilligerArbeit. Während für die anderen Arbeitsbe-reiche andere Lösungen gefunden wurden,haben sich mit SELKO, dem Verband derSelbsthilfekontaktstellen, tragfähige Überein-stimmungen finden lassen, die nach länge-ren Verhandlungen in den Jahren 1997 und1998 schließlich zum Vertragsabschluss ge-führt haben, in dem auf der Senatsseite ähn-liche Überlegungen dazu geführt haben, diebeiden Förderungsbereiche für sozial-kultu-relle Nachbarschaftsarbeit, den von SenSozund den von SenJug zusammenzubringen,um in der Berliner sozialpolitischen Land-schaft für den gesamten Arbeitsbereich unddie hier vertretenen Ansätze eine größereBedeutung zu erreichen.

c) Bei der Abstimmung über die Inhaltedes Vertrages stellte sich heraus, dass eineweitgehende Übereinstimmung aller Betei-ligter in folgenden Punkten erreicht werdenkonnte:

- es geht um die Schaffung und Siche-

- rung sozialer Dienste, die eine maxi-male Bürgerbeteiligung zur Grundlagehaben, bzw. ermöglichen

- es geht um die Bereitstellung einer sta-bilen Infrastruktur für Menschen, diesich aktiv und engagiert für die Verbes-serung der eigenen Lebenssituationund der ihrer Mitbürger einsetzen

- es geht um eine horizontale Vernet-zung auf Stadtteilebene, um 'dezentra-le Konzentration', um die Zusammen-führung von Diensten für unterschiedli-che Zielgruppen (generationsübergrei-fend) und für unterschiedliche Problem-lagen (multifunktional) im Nahbereichder Menschen an einem gemeinsamenOrt oder in einer gemeinsamen Träger-struktur

anders ausgedrückt:um das Gegenteil von:- Versorgungsdenken (fürsorglicher Bela-gerung)

- hocharbeitsteiliger und spezialisierterOrganisation sozialer Dienste mit zen-tralistischer Steuerung in unüberschau-baren Einzugsbereichen.

Wir wollten gemeinsam daran arbeiten,unter dem Arbeitsbegriff Stadtteilzentreneine entsprechend moderne und zukunfts-weisende Struktur in der ganzen Stadt zuschaffen, damit langfristig alle Bürger vonentsprechenden Angeboten und Herange-hensweisen profitieren können - und nichtnur diejenigen, die in Stadtteilen wohnen,in denen Einrichtungstypen mit einem ent-sprechenden Profil schon in den Vorjahrenentstanden waren (z.B. Schöneberg, Zeh-lendorf, Kreuzberg).

Beurteilung der Entwicklung seitVertragsbeginn:

Seit Inkrafttreten des Vertrages im Janu-ar 1999 hat es aus unserer Sicht einigesehr positive Entwicklungen gegeben.

Das erste Jahr war allerdings am An-fang noch sehr dadurch geprägt, dass dievier Vertragsparteien ihre - trotz Überein-stimmung in den wesentlichen Intentionenim Detail und bei einzelnen Umsetzungs-schritten noch recht unterschiedlichen Vor-stellungen - aufeinander abstimmen mus-sten. Diese Anfangsschwierigkeiten könneninzwischen als weitgehend überwundengelten.

Die Vertragsparteien meinen gemein-sam, dass der Begriff Stadtteilzentrum nicht

einen neuen Einrichtungstyp meint, der diebisherigen Einrichtungen ersetzen soll, son-dern dass es sich um ein Konzept handelt,das eine Orientierung für die künftige Ent-wicklung der Einrichtungen und den Aufbauneuer Verbundstrukturen aus der Substanzder bestehenden Einrichtungen gibt.

Die Vertragsparteien stimmen darin über-ein, dass es bei der gewünschten 'Flächen-deckung' des Konzeptes um die Förderungrealer Entwicklungen in Richtung auf diesesZiel geht und nicht vorrangig um die gleich-mäßige Verteilung von Fördermitteln überdie Fläche.

Außerdem gehen alle Vertragsparteieninzwischen davon aus, dass eine wirkliche'Flächendeckung' mit den über den Vertragzur Verfügung stehenden Mitteln (die durch-schnittlich für jeden der neuen Großbezirkeeinen Betrag zur Verfügung stellen, mit demgerade einmal eine zweigruppige Kinderta-gesstätte und eine Jugendfreizeiteinrichtungzu betreiben wären) nicht ausfinanzierbarist - und dass es deswegen dringend not-wendig ist, zusätzliche Mittel einzuwerben(darüber, woher diese kommen müssten,gibt es allerdings noch sehr unterschiedli-che Vorstellungen).

Es hat sich u.E. sehr positiv ausgewirkt,dass der Sozialausschuss des Abgeordne-tenhauses kurz vor Vertragsunterzeichnungnoch die Forderung gestellt hat, die Bezirkein die Strukturen der Vertragsumsetzung ein-zubinden und ihnen Sitz und Stimme im Ko-operationsgremium zu geben. Diese Forde-rung ist im Vertrag umgesetzt worden, wasdazu geführt hat, dass die Bezirke an denDiskussionen um die Stadtteilzentrumsent-wicklung intensiv beteiligt sind und ihre Vor-stellungen teilweise sehr entschlossen undkreativ einbringen. In allen Bezirken sindVerantwortliche für die Stadtteilzentren be-nannt worden, in der Regel in Kooperationzwischen den bezirklichen Abteilungen So-ziales und Jugend (auch das ein Novum).

Die sozialpolitischen Impulse, die wirmit dem Konzept Stadtteilzentren setzenwollten, sind von einigen Bezirken beson-ders intensiv aufgegriffen und zum Teil wei-terentwickelt worden (hier sind u.E. insbe-sondere Hellersdorf, Marzahn, Tempelhof,Steglitz und neuerdings auch Hohenschön-hausen und Lichtenberg zu nennen). DieseBezirke haben begonnen, mit z.T. erhebli-chen Mitteln aus ihrem Verfügungsbereichden Aufbau dezentraler Strukturen nachdem Beispiel der Stadtteilzentren zu fördern

Page 38: Rundbrief 2-2000

und dabei den aus Landesmitteln über denVertrag unterstützten Zentren eine richtungs-weisende Rolle einzuräumen.

Das entspricht unserer Intention, durchprofilierte Beispiele Impulse zu setzen, dieüber den unmittelbaren Bereich der landes-geförderten Projekte hinauswirken.

Problematische PunkteWir haben uns mit der Vertragsunter-

zeichnung einem Aufbaukonzept verpflichtet,das realisiert werden soll, obwohl mit demVertrag zugleich eine jährliche Mittelabsen-kung um 2% vereinbart worden ist. Schondas grenzt beinahe an die Quadratur desKreises, ist aber z.T. durch die Intensivierungvon Kooperation und die Nutzung von Syn-ergieeffekten abzufedern. Dass zugleich eineUmverteilung von Fördermitteln in Bereicherealisiert werden soll, die bisher weniger ent-wickelt waren, ist fast unmöglich.

U.E. sind die Vertragsziele nur dannwirklich zu erreichen, wenn entweder diezentralen Haushaltstitel aufgestockt werdenoder durch ein stärkeres - auch finanzielles -Engagement der Bezirke entlastet wird. Dasgilt insbesondere für die Bezirke, die vonder Arbeit der Stadtteilzentren auch in Leis-tungsbereichen, für die sie sonst eine eige-ne Finanzierung bereit stellen müssten, er-heblich profitieren.

Dabei gehen wir nicht davon aus, dassdie Arbeit der Stadtteilzentren zusätzlichzur bestehenden sozialen Versorgungsstruk-tur aufgebaut werden soll, sondern dass esim Wesentlichen um eine konzeptionelleVeränderung bei der Organisation derDienste geht, die auch jetzt schon aus öf-fentlichen Mitteln gefördert oder subventio-niert werden.

Wir halten das für eine durchaus reali-sierbare Zielvorstellung.

Wir sind unbedingt für einen Ausbauentsprechender Angebote auf der Basis rea-listischer Konzepte, die ihre Basis in Bürger-initiative und Engagement oder in fachli-cher Umorientierung der sozialen Akteurevor Ort haben. Der Ausbau darf aber nichtin existenzbedrohender Weise zu Lastenbestehender gut funktionierender und vor-bildlicher real bestehender Einrichtungenführen. Damit wäre niemandem gedient.

Und noch eins: ohne Initiative vor Ortgeht es nicht. Nachbarschafts- und damit

Stadtteilzentrumsarbeit kann nicht mit Geldgekauft und an beliebiger Stelle installiertwerden, sie muss von unten wachsen. Diezentrale Förderung hat u.E. die Aufgabe, diebestehende Infrastruktur im Kern zu sichernund bei der Beseitigung von Hindernissenfür neu entstehende Initiativen zu helfen. Siekann die Initiativen nicht ersetzen.

Die Stadtteilzentren im Kontextder Sozialen Stadtentwicklung

Diese Erfahrung wird zur Zeit, wenn un-sere Beobachtungen stimmen, in ähnlicherWeise auch von einer Reihe von Quar-tiersmanagern gemacht. So sehr wir es be-grüßen, dass das Thema der sozialen Stadt-entwicklung und der Notwendigkeit stärke-rer Bürgerbeteiligung durch die Diskussionum das Quartiersmanagement auf die Ta-gesordnung gebracht worden ist, so sehrbedauern wir es, dass es durch unnötigenRessort- oder Berufsgruppenegoismus nichtzu einem optimalen Mitteleinsatz kommt.Zuweilen wird hier mit erheblichem Auf-wand das Rad neu erfunden. Wir stelleneine mangelnde Bereitschaft fest, Erfahrun-gen, die in unserem Bereich zum Teil seitJahrzehnten zum Thema Bürgerbeteiligungund soziale Integration von Minderheiten-gruppen gemacht worden sind, ernsthaftzur Kenntnis zu nehmen. Es gibt zwar vorOrt intensive Kontakte zwischen Quar-tiersmanagement und örtlichen Initiativenaus dem Nachbarschaftsbereich, aber zuwenig gewollten und systematisch betriebe-nen Know-how-Transfer. In vielen Fällenwären erfahrene Nachbarschaftsprojektedie geeignetsten Kräfte, um mit zusätzlicherFörderung die zusätzlichen Aufgaben wahr-nehmen zu können, die dem Quartiersma-nagement übertragen werden.

Soziale Stadtentwicklung braucht nach-haltige und langfristig angelegte Strukturen.Diese können durch Umorientierungen beiden sozialen Diensten entstehen, die füreine verstärkte Beteiligung der Menschenund zur Einbeziehung ihrer Fähigkeiten undihres Willens zur Eigeninitiative offen seinmüssen. Das kann zwar durch kurzfristigangelegte Interventionen angeschoben wer-den, aber es bedarf einer Zukunftsvisionund einer umfassenden Strategie.

Das Konzept Stadtteilzentren bietetdafür gute konzeptionelle Ansätze, die aus-gebaut werden müssen.

36 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

Page 39: Rundbrief 2-2000

1994 entstand aus einem Projekt desVereins die Tagesbetreuung für ältere Men-schen. Sie entwickelte sich nach kurzer Zeitals Möglichkeit für Menschen in seelischenKrisensituationen, Hilfe und Beistand zu er-fahren. In den nachfolgenden Jahren konn-te schon vielen Menschen in ihrer seeli-schen Not geholfen werden. Deshalb hattedieses Projekt im Rahmen unseres Vereinesvon Anfang an einen besonderen Stellen-wert. Die engagierte Arbeit der Mitarbeite-rinnen trug im wesentlichen Maße dazubei. Problematisch war dabei, dass esdurch die ausschließliche Besetzung derMitarbeiterinnen durch ABM-Beschäfti-gungsverhältnisse, die also zeitlich be-grenzt waren, immer wieder zu Beunruhi-gungen des positiven Entwicklungsverlaufeskam. Mit sehr viel Engagement und Eigen-initiative unserer jetzigen Ehrenvorsitzen-den, Frau Luther, der Vorsitzenden FrauGoldbruch sowie der Unterstützung durchFrau Gerlinde Kruppe erreichten wir im Au-gust 1999 die Umwandlung in eine Tages-stätte mit damit verbundenen Festanstellun-gen zweier Mitarbeiterinnen. Seit dieserZeit sind wir als teilstationäre Einrichtungim Sinne der Wiedereingliederungshilfenach § 39/40 anerkannt. Die Tagesstätteist von 08.00 - 16.00 Uhr geöffnet.

Unsere Tagesgäste werden uns vonFachkliniken, von niedergelassenenFachärzten und von Sozialarbeitern emp-fohlen, können aber auch aus eigener Initia-tive heraus zu uns kommen. Für die Aufnah-me in die Tagesstätte benötigen sie einamtsärztliches Gutachten sowie die Grund-anerkennung über das Amt für Versorgungund Soziales. Der Aufenthalt ist zeitlich be-grenzt und wird meist für die Dauer einesJahres mit der Möglichkeit einer Verlänge-rung genehmigt. Im Moment ist unsere Ta-gesstätte mit zwölf Personen voll ausgela-stet. Wir verstehen uns als Teil der gemein-denahen komplementären psychiatrischenVersorgung und als wichtiges Bindeglied imÜbergang von akuter Erkrankung zu selbst-bestimmtem Leben in der Gesellschaft. Un-sere tagesstrukturierenden Angebote beste-hen aus einer Kombination von lebensprak-tischem Training, Pflege und Förderung so-zialer Eigenschaften, bewusster Freizeitge-staltung und Beschäftigungsmöglichkeiten.Das Angebot der Tagesstätte richtet sich anpsychisch behinderte, erwachsene Men-schen, die an einer Psychose, einer Persön-lichkeitsstörung oder einer anderen psychi-schen Störung leiden, die derzeit nicht odernur schwer zu einem selbstständigen Lebenfähig sind. Unsere Tagesgäste sind eng mit

dem Vereinsleben verbunden. Dadurchwird das soziale Kontaktnetz sehr erweitertund es bestehen günstige Bedingungen fürdie Aktivierung eigener Potenzen. So kön-nen die Vereinsangebote des Bürgerladene.V. wie beispielsweise Teilnahme amwöchentlichen Wandern, Sport, Chor,Handarbeitskörbchen, literarisch-musikali-schen Veranstaltungen u.a. mehr genutztwerden. Bei unserer Ergotherapeutin lernendie Tagesgäste die unterschiedlichsten krea-tiven Bereiche kennen und verschiedenehandwerkliche Techniken handhaben. Ein-mal im Monat haben alle die Möglichkeit,zum Bowling zu gehen. Ein Tag in der Wo-che ist reserviert für Unternehmungen außer-halb der Tagesstätte. So sind wir in der Vergangenheit schon zur Besichtigung desLeipziger Hauptbahnhofes gewesen, amSüßen See, in Ausstellungen im Museum amPetersberg, haben zur Erdbeerzeit in Wall-witz die Felder geplündert und viele anderegemeinsame Ausflüge gestartet. Unser Mit-tagessen nehmen wir an diesem Tag in ei-ner Gaststätte ein. An drei Tagen in derWoche kochen wir gemeinsam mit einemTagesgast unser Mittagessen selbst. Bei die-sen und anderen alltagspraktischen Tätig-keiten wie Einkaufen, Tischdecken, Abwa-schen u.a.m. können eigene Erfahrungenwieder trainiert, aufgefrischt oder auch neuerworben werden. Ganz wichtig ist es uns,eine harmonische und familiäre Atmosphä-re in der Gruppe zu haben, in der sich allewohlfühlen, in der soziale Kontakte ge-knüpft werden können und in der es ge-lingt, Probleme zu verarbeiten und wiedereinen Neuanfang zu finden. So ist es selbst-verständlich, die Geburtstage unserer Ta-gesgäste gemeinsam zu begehen und An-teil an den Problemen der Einzelnen zu neh-men. Die größte Freude für uns ist es, wennes den Tagesgästen durch den Aufenthalt inder Tagesstätte gelingt, sich wieder einStück Lebensqualität zurückzuerobern undmit gewachsenem Lebensmut die nächsteEtappe anzugehen.

Bürgerladen e.V.Beratungs- und BegegnungsstätteTagesstätte für seelisch BehinderteFalladaweg 906126 Halle

Leiterin der Tagesstätte: Heidemarie Rothe

Bürgerladen e.V.Beratungs- und Begegnungsstätte

Tagesstätte für psychisch Kranke/seelisch wesentlich behinderte Menschen

von Heidemarie Rothe

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Zweifeln ist

Suche, nicht

Ratlosigkeit.

(Hans A. Pestalozz

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Der RUNDBRIEF erscheint mit finanzieller Unterstützung der „Glücksspirale”