Rundbrief 2011-04

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Rundbrief April 2011 Maximilian-Kolbe-Werk Hilfe für die Überlebenden der Konzentrationslager und Ghettos Ghetto, Deportation und Flucht Im März 1942 wird in Kolomea ein Ghetto errichtet. „Wir mussten in ein enges, eingezäuntes und bald überfülltes Viertel übersiedeln, die ärmste Gegend der Stadt, in der die Häuser eher Hütten waren, ohne Wasser und Kanalisation. Es gab kaum Nahrung. Tausende starben an Hunger und Krankheit.” Der „natürliche Tod“ der Juden geht der deutschen Besatzung zu langsam. Ihre Vernichtung war bereits beschlossen. Im September 1942 stehen 5000 Menschen dicht gedrängt auf dem Platz des Ghettos. Nur etwa 300 von ihnen werden mit einem lässigen Wink von SS-Untersturmführer Peter Leideritz nach rechts ausgesondert, alle anderen nach links. „Rechts bedeutete Leben, links Tod. Mama, Papa und ich gingen nach links. Wir hielten uns fest an den Hän- den“, erinnert sich Ruta. Wo ihre Brüder waren, wusste sie nicht. Ein langer Zug mit Viehwaggons stand schon bereit, die Türen weit geöffnet. Panische Schreckens- schreie lassen die Kolonne ausein- anderbrechen. Mit Peitschen trei- ben die Unformierten die vor Angst fast wahnsinnigen Menschen in die Waggons. „Wir ahnten, wohin die Reise gehen sollte. Nach Belzec in ein Vernichtungslager – eine Reise ohne Wiederkehr.“ Hunderttausen- de Juden wurden in Belzec ermordet. Auf der Fahrt gelingt es Rutas Eltern, die morsche Waggonwand des Deportationszugs aufzubre- chen. „Bevor ich das Ganze richtig verstehen konnte, packten mich kräftige Hände, hoben mich hoch Die rechte Seite war das Leben Die Geschichte der polnischen Jüdin Ruta Wermuth-Burak Ruta Wermuth-Burak wurde am 1. Januar 1928 als drittes Kind der jüdischen Familie Wermuth in Kolomea im Osten Polens, der heute zur Ukraine gehört, geboren. „Ich hatte eine glückliche Kindheit. Die einzige Tochter wurde von den Eltern verhätschelt, meine beiden älteren Brüder Salek und Pawel beschützten ihre kleine Schwester. Ein gepflegtes Elternhaus also, dazu unzählige Tanten, Onkel, Cousinen, Freunde und Schul- kameraden”, beginnt sie ihre Er- zählung. Das beschauliche Leben findet ein jähes Ende: Im September 1939 überfällt die deutsche Wehrmacht Polen. Ostpolen wird zunächst von sowjetischen Truppen besetzt, zwei Jahre später kommen die Deutschen. Ab August 1941 steht Kolomea unter deutscher Verwal- tung. Die Verfolgung der Juden begann, als Ruta 13 Jahre alt war. Jüdische Geschäfte mussten schlie- ßen, jüdischer Besitz wurde beschlagnahmt, jüdische Kinder durften keine Schule mehr besu- chen. „Die Deutschen verloren keine Zeit. Die Liste der Schikanen und Repressalien war lang und grauenvoll und Tag für Tag wurde es schlimmer.” Ruta Wermuth-Burak, 83, engagiert sich seit vielen Jahren als Zeitzeugin im Maximilian-Kolbe-Werk. "Ich glaube, so ergeht es allen Überlebenden: Das Letzte, das Schlimmste ist nicht mitteilbar." Ruta Wermuth-Burak

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Rundbrief des Maximilian-Kolbe-Werks vom April 2011 mit einem Porträt der jüdischen Holocaust-Überlebenden Ruta Wermuth-Burak

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Rundbrief April 2011

Maximilian-Kolbe-WerkHilfe für die Überlebenden der Konzentrationslager und Ghettos

Ghetto, Deportation und FluchtIm März 1942 wird in Kolomea einGhetto errichtet. „Wir mussten inein enges, eingezäuntes und baldüberfülltes Viertel übersiedeln, dieärmste Gegend der Stadt, in der dieHäuser eher Hütten waren, ohneWasser und Kanalisation. Es gabkaum Nahrung. Tausende starbenan Hunger und Krankheit.”

Der „natürliche Tod“ der Judengeht der deutschen Besatzung zulangsam. Ihre Vernichtung warbereits beschlossen. Im September1942 stehen 5000 Menschen dichtgedrängt auf dem Platz desGhettos. Nur etwa 300 von ihnenwerden mit einem lässigen Winkvon SS-Untersturmführer PeterLeideritz nach rechts ausgesondert,alle anderen nach links. „Rechtsbedeutete Leben, links Tod. Mama,

Papa und ich gingen nach links.Wir hielten uns fest an den Hän-den“, erinnert sich Ruta. Wo ihreBrüder waren, wusste sie nicht.

Ein langer Zug mit Viehwaggonsstand schon bereit, die Türen weitgeöffnet. Panische Schreckens-schreie lassen die Kolonne ausein-anderbrechen. Mit Peitschen trei-ben die Unformierten die vor Angstfast wahnsinnigen Menschen in dieWaggons. „Wir ahnten, wohin dieReise gehen sollte. Nach Belzec inein Vernichtungslager – eine Reiseohne Wiederkehr.“ Hunderttausen-de Juden wurden in Belzec ermordet.

Auf der Fahrt gelingt es RutasEltern, die morsche Waggonwanddes Deportationszugs aufzubre-chen. „Bevor ich das Ganze richtigverstehen konnte, packten michkräftige Hände, hoben mich hoch

Die rechte Seite war das LebenDie Geschichte der polnischen Jüdin Ruta Wermuth-Burak Ruta Wermuth-Burak wurde am 1. Januar 1928 als drittes Kind derjüdischen Familie Wermuth inKolomea im Osten Polens, derheute zur Ukraine gehört, geboren.„Ich hatte eine glückliche Kindheit.Die einzige Tochter wurde von denEltern verhätschelt, meine beidenälteren Brüder Salek und Pawelbeschützten ihre kleine Schwester.Ein gepflegtes Elternhaus also,dazu unzählige Tanten, Onkel,Cousinen, Freunde und Schul-kameraden”, beginnt sie ihre Er-zählung.

Das beschauliche Leben findet einjähes Ende: Im September 1939überfällt die deutsche WehrmachtPolen. Ostpolen wird zunächst von sowjetischen Truppen besetzt,zwei Jahre später kommen dieDeutschen. Ab August 1941 stehtKolomea unter deutscher Verwal-tung. Die Verfolgung der Judenbegann, als Ruta 13 Jahre alt war.Jüdische Geschäfte mussten schlie-ßen, jüdischer Besitz wurdebeschlagnahmt, jüdische Kinderdurften keine Schule mehr besu-chen. „Die Deutschen verlorenkeine Zeit. Die Liste der Schikanenund Repressalien war lang undgrauenvoll und Tag für Tag wurdees schlimmer.”

Ruta Wermuth-Burak, 83, engagiertsich seit vielen Jahren als Zeitzeuginim Maximilian-Kolbe-Werk.

"Ich glaube,

so ergeht es allen

Überlebenden:

Das Letzte, das

Schlimmste ist

nicht mitteilbar."

Ruta Wermuth-Burak

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und schoben mich durch eineschmale Öffnung”, schildert Rutaden Moment, der ihr Leben rettete.„Da hing ich nun, gehalten vonunbekannten Händen. Plötzlichließen mich die Hände los. Ich fielin eine bodenlose Dunkelheit.”

Erst später erfährt Ruta, dass auchihre Eltern aus dem Zug sprangen.Wie durch ein Wunder findet RutaTage später ihre Mutter wieder.„Papa ist tot”, sagt sie. „Sie habenihn genau in dem Moment erschos-sen, als er gesprungen ist.”

Im Leben der jetzt 14-jährigenRuta folgt eine abenteuerlicheOdyssee durch Galizien. Es gibtkeinen Platz für eine mittellosejüdische Mutter und ihre Tochter.„Überall lauerten Gefahren, injeder Minute, hinter jeder Ecke.”Schweren Herzens beschließen sie,sich zu trennen, um zu überleben.„Wir mussten es einfach riskieren.Nur ein entschlossenes Handelnwürde uns eine Chance geben.”

Befreiung in DeutschlandRuta schlägt sich durch zurücknach Kolomea. Sie gibt sich einenneuen Namen und meldet sich zurArbeit nach Deutschland. „Wennjemand stark und gesund aussah,fragten sie nicht nach dem Alter.”Ein letztes Mal trifft sie die Mutter,die „mit einem polnisch-ukraini-schen Kauderwelsch” bei einemdeutschen Güterverwalter als Haus-haltsgehilfin unterkam. „Mamastand in der Mitte der Straße, dieHand erhoben. War es ein Le-bewohl oder ein mütterlichesSegnen? So ist sie für immer inmeinem Gedächtnis geblieben.” Siesollten sich nie wiedersehen.

Ende 1942 erreicht Ruta mit einerGruppe ukrainischer Mädchen diekleine Stadt Rülzheim in der Pfalz.Sie arbeitet in einer Schuhfabrik,später als Dienstmädchen. 1944kommt sie in ein Zwangsarbeits-lager, in dem Flugzeugmotoren

hergestellt werden. Hier lernt sieWitek Burak kennen, mit dem sie1945 das Ende des Krieges und dieBefreiung erlebt. Auch ihm verrätsie nicht, dass sie Jüdin ist. „Esüberstieg meine Vorstellungskraft,dass ein Nichtjude eine kleine, ver-ängstigte Jüdin würde lieben kön-nen.” Zurück in Polen heiraten sie.

Wiedersehen nach 53 JahrenRuta Wermuth-Buraks Geschichteendet nicht 1945. Eine Familie hatsie nicht mehr. Sie erfährt, dassauch die Mutter und Bruder Pawelermordet wurden. Von ihrem zwei-ten Bruder Salek weiß sie nichts.Jahrzehntelang denkt sie an ihnund gibt die Suche nicht auf. DieZeit vergeht. Nach dem Tod ihresMannes nimmt sie Kontakte zujüdischen Gemeinden und Überle-benden in Israel auf.

Erinnern um der

Zukunft willenZeitzeugengespräch mit Ruta

Wermuth-Burak

Dienstag, 31. Mai 2011

um 19 Uhr in derUniversität FreiburgHörsaal 1199, KG I

Ruta Wermuth-Burak lebt heute in Lubawka, einer polnischen Kleinstadtsüdwestlich von Wroclaw

Am 20. Juni 1994 geschieht dasUnfassbare: Rutas Telefon klingelt.Die Vermittlung kündigt einenAnruf aus England an. Bis heutekann sie sich nicht erklären,warum sie sich mit „Rut Burak,geborene Wermuth” meldete undihren alten, schon lange nichtbenutzten jüdischen Namen nennt. Am anderen Ende der Leitung istihr Bruder Salek, 53 Jahre nach-dem das Schicksal sie auseinander-gerissen hatte.

Wenige Tage später sitzt sie imFlugzeug nach London. Keine zweiJahre bleiben den beiden. Im März1996 stirbt Salek in England.

Buchtipp: Ruta Wermuth Im Mahlstrom

der Zeiten Verlag Pro Business

Für 15 € beimMaximilian-Kolbe-

Werk erhältlich.

ImpressumMaximilian-Kolbe-Werk e.V. • Karlstraße 40 • 79104 Freiburg

Fon: 0761/ 200-348 • Fax: 0761/ 200-596www.maximilian-kolbe-werk.de • [email protected]

Helfen, solange noch Zeit ist: Spendenkonto 30 34 900 Darlehenskasse Münster BLZ 400 602 65

Redaktion: Wolfgang Gerstner, Andrea SteinhartGrafik: www.schwarzwald-maedel.de, Simonswald

Druck: Rauscher Druckservice GmbH, Freiburg