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Zeit und Glück. Phantasmagorien des Spielraums Burkhardt Lindner

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  • Zeit und Glck. Phantasmagoriendes Spielraums

    Burkhardt Lindner

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    Der Titel des Vortrag s verweist auf ein Buchprojekt, das, indem es eine langjhrige Beschftigung zu einem vorlufigen Ende bringen soll, den nach-trglichen Ariadne-Faden darin auffindet, wie grundlegend und in wie vielfltigenMetamorphosen die Konstellation von Zeit und Glck Benjamins Denken bes-timmt hat. Seine Schriften bieten zu beiden Erfahrungen ein unerschpfliches,begrifflich nicht resmierbares Kompendium. Denn Zeit und Glck gehen nichtineinander auf, so sehr sie einander zu bentigen scheinen. Man mu sich alsodavor hten, beide rtselhafte philosophische Gren vorschnell in definitorischeBeziehung zu setzen.

    Es sei denn, man beschreibt einen Spielraum, eine Skala von Spielrumen, umZeit, Raum und Glck zu verschwistern. Benjamin hat immer wieder derartigeSpielrume erkundet und konstruiert: das Glcksspiel einschlielich des Bordellbe-suchs (Spiel und Prostitution bilden ein zusammenhngendes Konvolut imPassagen-Werk), die Kindheit und die Kinderspiele, die Haschisch-Experimente,das Exil des Reisens und schlielich die Figur des Sammlers, der ohne spielerischesVerhalten nicht zu seinen Funden und seinem Besitz kme. Zeit, Raum und Glcksind als Spiel verschwistert. In einer sehr weitgehenden und sorgfltig zu begrn-denden These liee sich sagen, da im Spielraum die Zeit zum mimetischenVermgen wird, zu einem innervatorisch-experimentellen Krper-Medium.

    Dabei ist zugleich aber zu bedenken, da die Zeiterfahrungsfiguren, dieBenjamin auch aus sich entwirft der Spieler, das Kind, der Sammler, derFlaneur, der Wartende, der Lesende, der Reisende, der Bordellbesucher usw. im Erfahrungsraum der kapitalistischen Hlle stehen. In ihr triumphiert die

  • Moderne als homogene und leere Zeit, schon in dem frhen Fragment Kapi-talismus als Religion (VI 10 ff.). Die kapitalistisch skularisierte Hlle ist dasVakuum, das seit dem 19. Jahrhundert durch Fortschritt und Historismus,heute durch globale Technisierung/Digitalisierung und Weltkulturerbe aufge-fllt wird. Mit beiden Diagnosen bleibt Benjamin hchst aktuell.

    Was nun folgt, taucht nicht ein in die suggestiven Texte der Zeit- undGlckserfahrung. Ich begebe mich eher an die Peripherie des Themas. Um dieprekre Konstellation von Zeit und Glck deutlich zu machen, ist gerade dieUnterbrechung ihrer Beziehung das Un von Zeit und von Glck wichtig.Benjamins Spiel ist an dieses Un gebunden.

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    Hans Blumenbergs Buch Lebenszeit und Weltzeit, seine spte Auseinanderset-zung mit Husserl und Heidegger, beginnt in ihrem Hauptteil mit dem Para-dies. Hierhin versetzt er die groen neuzeitlichen Krnkungen der Menschheit,ihre Dezentrierung zurck. Was der Mensch erfahren mu, sogar in einemParadies, ist die Gleichgltigkeit der Welt gegen ihn. Unbekmmertheit um denMenschen ist ihr wie eine Qualitt eigen. () Die Welt war dagewesen, als derMensch zum erstenmal erwachte; sie bestand fort, als er zum ersten Mal ein-schlief.1 Aber mit dem Rufen der Tiere bei ihren Namen begann das Unglck:der Zeitgewinn als das Radikal aller Wnsche. Adam und Evas Wunsch, zu seinwie Gott, Gtter zu sein die Verheiung der Schlange enthlt nicht nur dieverbotene Lockung des Polytheismus, sondern entspringt dem malosenGlckswunsch, die Zeit der Welt zur eigenen Zeit zu machen, ihn wenigstens alserfllbar zu denken.

    Gegen den Paradiesmythos und die ihm korrespondierenden Apokalyptikenund Heilserwartungen setzt Blumenberg die Unvermeidlichkeit und Unhinter-gehbarkeit der Zeitschere, des Auseinanderklaffens von Lebenszeit und Weltzeit,als Konstitution des Humanum in der daseinsmigen Kontingenz von Raumund Zeit. Glck ist eine private Angelegenheit und kann nur darin bestehen, daman die Weltzeit auf sich beruhen lt, sie als objektive und unbersteigbare gelten lt.

    Der universelle Leser Blumenberg ist ein philosophischer Autor, bei dessenBchern man den Verdacht nicht los wird, er habe Benjamin heimlich studiertund alle Frchte dieser Lektre sich untersagt. Benjamin htte in der Vorstel-lung,Weltzeit und Lebenszeit zur Deckung bringen zu wollen, nichts sogleich Verwer-fliches erkennen knnen. Und er htte niemals Blumenbergs anthropolog ischen

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  • Skeptizismus geteilt, da die Welt dieselbe wre, wenn es uns selbst nie gegebenhtte, und als bald dieselbe sein wird, als ob es uns niemals gegeben htte.2

    Was ihn dennoch mit Blumenberg verbindet, ist die berzeugung, da Zeit substantialistisch zu verstehen sei und jedenfalls nicht als bloe Form des inneren Sinnes wie bei Kant. Und ebenso, da verschiedene Zeiten koexistieren,whrend Kant die Eindimensionalit t der Zeit mit apodiktischer Gewiheit fr gegeben erachtet, die wir im sukzessiven Ziehen einer geraden Linie unsvorstellen mssen. Zeit ist ein synthetischer Stoff, der sich verdichten, stauen, verwandeln, entziehen, vervielfltigen und pluralisieren kann. Der Konflikt derZeiten, darin hatte Blumenberg schon recht, hat mit dem, was wir Glck nennen,zu tun.

    Benjamins Schrift ber den Begriff der Geschichte thematisiert das Glck erst-mals in der zweiten Reflexion, wo im Anschlu an eine apokryphe Beobach-tung Lotzes hervorgehoben wird, da das Bild von Glck () durch und durchvon der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nuneinmal verwiesen hat (I 692). Zeit meint hier nicht blo den mebaren Zeitablaufzwischen Geburt und Tod, sondern einen Zeitraum, der in der anschlieendenatemberaubenden Passage umschrieben wird, in der Benjamin Glck, Neid, Luft,Atem, Rede, Beischlaf und Erlsung verknpft. Das sind Wunschphantasien, diegleichwohl als unveruerlich bezeichnet werden. Was wir Gegenwart nennen,ist von unseren Leidenschaften, unserm Begehren, unseren Wnschen erfllt, dieaus der Kontingenz der Zeitstelle herausfhren knnen, wie illusionr auchimmer. Gerade die Kraft dieser Illusion macht uns neidlos gegen die Zukunft,die nach uns kommt. Das heit aber auch: Glck gibt es nur in der Lebenszeit;auerhalb ihrer gibt es Glck nicht.

    Das ist eine zweifellos bemerkenswerte Beobachtung, mit der der genialeZitator Benjamin uns hier berrumpelt; noch erstaunlicher ist freilich, welcheKonsequenzen im Fortgang der Auslegung des Zitats sich einstellen.

    Die zweite Reflexion lautet vollstndig: Zu den bemerkenswerthesten Eigen-thmlichkeiten des menschlichen Gemths, sagt Lotze, gehrt neben so vielerSelbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegenihre Zukunft. Diese Reflexion fhrt darauf, da das Bild von Glck, das wirhegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unsereseigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glck, das Neid in uns erweckenknnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denenwir htten reden, mit Frauen, die sich uns htten geben knnen. Es schwingt, mitandern Worten, in der Vorstellung des Glcks unveruerlich die der Erlsungmit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sachemacht, verhlt es sich ebenso. Die Vergangenheit fhrt einen heimlichen Indexmit, durch den sie auf die Erlsung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber

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  • ein Hauch der Luft, die um die Frheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denenwir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, diewir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so,dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechternund unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedemGeschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, anwelche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufer-tigen. Der historische Materialist wei darum.

    In diesem Text verdient das kleine Wort ebenso besondere Aufmerksam-keit3; es bildet das Scharnier zwischen dem ersten und dem zweiten Teil, der in derFolge der rhetorischen Fragen den ersten nur zu wiederholen scheint. Mit derVorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhlt es sich ebenso. Inwiefern ebenso? Es wird nicht gesagt, da, wie zunchstzu erwarten wre, auch vergangenes Glck in uns Neid erwecken knnte. Ganzund gar nicht. Vielmehr sieht sich der Egoismus der Gegenwart, den die weitereZukunft nicht schert, mit einem Vampyrismus der Vergangenheit konfrontiert,der ihre Zukunft offenkundig nicht egal ist, sondern die lebendige Gegenwartanzapft. Aus der Vergangenheit greift ein future antrieure. Es ist, mit Derri-das Marxbuch4 zu sprechen, die Zeitform des Gespenstes, der Untoten, derWiedergnger, der Unerlsten. Es handelt sich um ein durchaus unheimliches rencontre, das Benjamin hier evoziert.

    Gerade deshalb sehe ich auch weiterhin in der berhmten IX. Reflexion ber den Engel der Geschichte nicht den Schlssel zum Verstndnis oder zurDekonstruktion der Thesen.5 Zu den populren Fehllektren der Thesen gehrtdie Vorstellung, Benjamin meine, wir knnten unser Glck befrdern, indem wirgleichsam als Skularisate des Engels das Zerschlagene der Vergangenheitenzusammenfgen, die Tradition der Unterdrckten wachhalten und so fr jedeGegenwart ein Stckchen Erlsungsarbeit betreiben. Aus diesem Verstndnis heraus meinte Horkheimer Benjamin vorsorglich daran erinnern zu mssen, dadie Toten wirklich tot seien und die Erschlagenen wirklich erschlagen.6 Eine wirkliche Wiedergutmachung knne es nicht geben. Fr Benjamin sind die Totenaber in der Tat nicht wirklich tot; denn die Toten und ihr Daseinsraum desVergangenen fhren einen zeitlichen Index mit: eine Zeitmarke, kein bloesDatum, sondern eine andere Zeitform, die des Gespenstes. Eine geheimeVerabredung hat lngst stattgefunden; wir sind auf der Erde erwartet worden;etwas ist schon zuvor gekommen, wie das unheimliche bucklige Mnnlein, dasimmer, wie Benjamin sagt, so zuvorkommend war. Es handelt sich um eineandere Zeitform, die mit der eigenen Daseins- oder Lebenszeit sich nicht zusam-menfgt, sie strt, und das Bild von Glck, das wir fr uns hegen, irritiert. Billig ist ihr Anspruch nicht abzufertigen.

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  • Wie kann man berhaupt die Gespenster der Vergangenheit abfertigen unddie Gegenwart von ihrem Spuk befreien? Derrida reinszeniert einen Diskurs des Exorzismus bei Marx, Stirner, Bruno Bauer u.a., der aus dem Zerfall desHegelschen Systems freigesetzt wird. Marx als oberster und radikalster Gespen-steraustreiber ist in ihn umso tiefer verwickelt, von ihm geradezu besessen.7 DieAustreibung des ideologischen/idealistischen Spuks meint die Vernichtung desSpuks der Ideologie. Es ist ein Jetzt-Zeitpunkt eingetreten, wo die Geister derVergangenheit zu einem letzten Gefecht blasen und ein fr allemal abgeschtteltund aufgelst werden knnen. Lat die Toten die Toten begraben; wir stellen unsim Denken vom Kopf auf die Fe, um die Phnomenologie des absoluten Geisteszu blamieren. Der Kommunismus ist das aufgelste Rtsel der Geschichte undwei sich als diese Lsung.

    Was ist das fr eine Austreibung der Gespenster aus der Gegenwart? Sind sieausgerottet? Sind sie erlst? Mu man sie also unerbittlich vernichten oder ihrVerlangen endgltig stillen?

    Die Thesen ber den Begriff der Geschichte stellen beide Lsungen nebeneinan-der. Die eine ist die Utopie oder Eschatologie der erlsten Menschheit, der ihreVergangenheit in jedem Momente zitierbar geworden ist. Eine unvorstell-bare mimisch-musikalisch-sprachlich-rhythmische Feier des jngsten, des sichunendlich verjngenden Tages. Die zweite ist die Vorstellung von der letztenrchenden Klasse, die den Gespensterauftrag , sie zu rchen, erfllt, sich in diesemVollzug dekonstituiert und damit jene reine unmittelbare Gewalt manifestiert,die Benjamins Kritik der Gewalt als Entsetzung aller staatlich-rechtlichenVerfatheit beschrieben hat. Sie destruiert das mythische Recht als per-ennierendeQuelle des Unglcks.

    Benjamin bleibt ambivalent nicht allein gegenber dieser Alternative, sondernebenso gegenber einer gespensterfreien Jetztzeit berhaupt. Er wei sichfasziniert von Gespenstern, Dmonen, Spukvorgngen, die aus der Gegenwarthervorgelockt werden mssen. Im Kraus-Essay hat er diese Dmonologie insExtrem getrieben und Kraus vor seinem Tode als Wiedergnger portrtiert: Undwenn am jngsten Tage nicht nur die Grber, sondern auch die Lesebcher sichffnen, wird nach der Melodie Was blasen die Trompeten, Husaren heraus derwahre Pegasus der Kleinen aus ihnen hervorstrmen und, eine verhutzelte Mumie,eine Puppe aus Stoff oder gelblichem Elfenbein, wird dieser einzige Verseschmiedtot, ausgetrocknet ber dem Bug seines Rosses hngend, auf ihm daherfahren, derzweischneidige Sbel in seiner Hand aber wird, blank wie seine Reime und schnei-dend wie am ersten Tag, durch den Bltterwald fahren und Stilblten werden den Boden decken (II 361 f.). Ist das paradiesischer Triumph oder Hllenstrafe? Erst einmal wie schon in der Einbahnstrae (Kriegerdenkmal) angekndigt dieVerwandlung von Karl Kraus in ein Gespenst.

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  • Die Kraft des Benjaminschen Textes erwchst gerade daraus, da er fr die Gegenwart der Thesen einfache Lsungen verstellt sieht, und aus dieserUnlsbarkeit ein Geflecht von Zitaten, Metaphern und Figuren gewinnt.

    Die Gespensterlogik einmal auf sie aufmerksam geworden reicht weit.Das seltsame Konstrukt der Schach-Puppe (in der ersten Reflexion) liee sich derart interpretieren, indem sie einerseits als maschinal-gespenstischer Automat esohne weiteres mit jedem aufnehmen kann, also auch mit unfalichen Gespenstern,zugleich aber auch die Theologie hinter den Kulissen spuken lt. Und ebensoliee sich die Samenmetapher (in der siebzehnten Reflexion) besser begreifen. DieFormulierung lautet: Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeitals den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern (I 703).

    Mit einer keineswegs gewaltsamen Interpolation knnten wir sagen: jenenahrhafte Frucht gehrt dem Gespenst, von dem es im Text Ein Gespenst in derBerliner Kindheit heit, da es in Sagen die Leute, die von einem Geistermahl Zeugewerden, von diesen Geistern ohne sie doch essend und trinkend zu gewahren,erkennen, da sie eine Mahlzeit halten (VII 419). Im Passagen-Konvolut N, dasdas wichtigste Material fr die Thesen ber den Begriff der Geschichte enthlt, wirddas Motiv des Geistermahls wiederaufgenommen und auf das Problem der Gegen-wart bezogen. Die jeweils Lebenden, heit es dort, erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rsten. DerHistoriker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenheit zu Tische ldt (V 603).Mittag ist nicht Mitternacht, und doch drngen sich am Scheitelpunkt des Tagesder Geschichte Schatten zum Essen. Sie erhalten eine Speisung, die bewirkt, daSamenkrner zurckbleiben, die noch nach Jahrtausenden, aus Grbern befrdert,Frucht treiben (II 683).

    Mit der nahrhaften Frucht des historisch Begriffenen werden die Gespensterabgespeist, wie man frher Frchte als Grabbeigaben verwandte, ihr Rest aber alsZeitkern erhalten und wirksam blieb. Benjamins auch sonst hufig in Anspruchgenommene Metapher vom Samen/Samenkorn steht hier fr eine Vergangenheit,die nicht in den Metaphernfeldern des Zerrissenen, Unter-drckten, Zerschlagenenbeschrieben wird, sondern als etwas Abgeschlosse-nes, Geleistetes fortwirkt, weiles den Gespenstern Genge tut. Es befriedigt ihren unzeitlichen Hunger, und esernchtert9 die Lebenden, die nichts davon schmecken.

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    Aber das Glck? Wo ist es geblieben? Die Frage weist auf den Text, in dem dasGlck, nach dem groen Auftakt in der 2. Reflexion unbemerkt ver-schwindet.

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  • (Lediglich negativ erwhnt als Scholem-Motto zum Engel der Geschichte, dem,als unglcklichem Gespenst, lebendige Zeit nur wenig Glck bringen wrde.)Es gibt nur eine einzige Stelle, wo es nochmals um Glck und Beglckung geht.Sie findet sich in der Reflexion XI, der lngsten der Thesen, die die frhsozial-istischen Utopien dem vulgrmarxistischen und faschistisch-technokratischenFortschritts- und Technikkonformismus entgegenstellt. Und es gibt hier auch eineAnalogie zur obigen Samenmetapher, wenn Benjamin von einer anderen Art derArbeit spricht, die, weit entfernt die Natur auszu-beuten, von den Schpfungen siezu entbinden imstande ist, die als mgliche in ihrem Schoe schlummern (I 699).Vorher fllt der Name Fourier.

    Auch der gescheiterte Menschheitsbeglcker Fourier ist ein Gespenst. DieAutoritt des Zitiertwerdens wird ihm nicht zugestanden, ihm aber Gastfreund-schaft eingerumt. Es heit: Mit dieser positivistischen Konzeption verglichenerweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines Fouriergegeben haben, ihren berraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte diewohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, da vier Monde dieirdische Nacht erleuchteten, da das Eis sich von den Polen zurckziehe, da das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst desMenschen trten (I 699). Der Passus fat in einer bizarren Abbreviatur zusammen,was Benjamin auf immerhin ber 40 Seiten des Passagen-Werks ber Fourier undden Fourierismus exzerpierte.9 Es erscheint ein freundliches, kindliches Gespenst ein Sommergespenst , nicht eines, das sein Scheitern einklagt. Benjaminskizziert absichtsvoll einige offenkundig verrckte Ideen anstelle der theoretis-chen Prinzipien von den Attraktionen, den Serien, den Harmonien usw.. Dennwofr Fourier hier einsteht, bleibt jen-seits von Kapital und Arbeit, erffnetvielmehr das Phantasiebild der Technik.10

    Es steht quer zu einer Ideologie, die der Illusion des technischen Fortschritts alseiner leeren und homogenen Zeit erlegen ist, auf die Fortschritte der Naturbe--herrschung starrt und die Rckschritte der Gesellschaft nicht wahrhaben will (I 699). Die Formel Rckschritt/Fortschritt klingt nach biederer politischerRhetorik, wenn man nicht den Verweis auf Jochmann hrt (II 572 ff.). Und manmu hier eine Formulierung mitlesen, die Benjamin im Fuchsaufsatz (1937), derzentrale Passagen der Schrift ber den Begriff der Geschichtebereits wrtlich enthlt,verwendet: die Formulierung von der verunglckten Rezeption der Technik (II 475). Ihr korrespondiert eine andere, ebenfalls noch nher zu analysierende, dieBenjamin bereits 1930 in seiner Rezension Theorien des deutschen Faschismusverwandte, Technik sei nicht als einen Fetisch des Untergangs, sondern einenSchlssel zum Glck zu gewahren (III 250).11

    In der eigenartigen Formulierung von der verunglckten Rezeption derTechnik steckt beides: das Verkennen des Glcks und das zeitliche Verfehlen.

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  • Die Erfahrungen dieses Jahrhunderts, die Schnelligkeit der Verkehrswege, dieKapazitt der Apparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfltigt, dasEntstehen neuer Reproduktionstechnolog ien, fhrt Benjamin im Fuchs-Aufsatzan, um festzustellen: Die Energien, die die Technik () entwickelt, sind zerstrende.Sie frdern in erster Linie die Technik des Kriegs. Genau das ist das Thema desKunstwerkaufsatzes, dessen ursprngliche, erst in Bd. VII Nachtrge publizierteFassung erkennen lt, wie weitgehend Benjamin diese Konzeption vor Augenstand.

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    An etwas ist vorweg noch zu erinnern, das bislang nicht erwhnt wurde. AlsBenjamin im Frhjahr 1940 die Thesen ber den Begriff der Geschichte schrieb,hatte lngst begonnen, was wir heute immer noch den Zweiten Weltkrieg nen-nen (Benjamin protestierte im Namen Scheerbarts gegen diesen Aus-druck).12

    Man mu also, wenn dort von den Siegern der Geschichte die Rede ist, sich diedamalige politische Landkarte Europas vorstellen, und, wenn von revolutionremProletariat oder wirklichem Ausnahmezustand die Rede ist, das lngst Unvorstell-bare. Auch das hat mit Zeit zu tun.

    Die Thesen kamen nicht zu spt. Zu spt ist ein Datum, das doch nur wiedie Kommerell-Rezension vorhersagt (III 259) die Signatur des hhnischenSchicksals bliebe. Sie kamen zur Unzeit;13 sie verrckten die konventionellenZeitkonzepte. Sie sind ein extremer Versuch, die Zeit (denkend, schreibend) auerKraft zu setzen und andere Zeiten, die Unzeit oder die Unzeit-Gemheit, zumobilisieren (Eines der Motti verweist ausdrcklich auf Niet-zsche).

    Und ebenso ist die Konzeption des Kunstwerkaufsatzes vom Modus der Unzeitbestimmt. Er ist keineswegs gegen den drohenden faschistischen Krieg geschrieben,sondern im Bewutsein seines unvermeidlichen Kommens. Wenn Benjamin vonder sthetik des heutigen Krieges (VII 383) spricht, wei er, da keine Zeitmehr ist. Und vieles, was dann als politisch naiv gergt wurde (und zu denUmarbeitungen der Fassungen fhrte), ergibt sich gerade daraus, da er dieseZeitform der Unzeit bewut praktiziert. Um nur auf den Schlusatz zu verweisen:So steht es um die sthetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst. Wo denn? InParis? In Moskau? Der Kommunismus antwortete lngst nicht mehr. Und wo hates diesen Kommunismus in der heroischen Zeit der Avantgarden gegeben? Hatdiese Alternative zu irgend einem Zeitpunkt gestimmt, und sei es nur im Gestus,es nachtrglich besser zu wissen?

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  • Das heit (in aller Verkrzung gesagt): von der Revolution wie von der Kunst istpolitisch nichts weiter zu erwarten: auer: das Unerwartbare. Gewi ist nur: derKrieg. In der Schlupassage der schon zitierten Rezension Theorien des Faschismusgibt es keine letzte Chance vor dem kommenden Krieg, vielmehr ist er selbst dieseletzte Chance, bei der Millionen Menschenkrper von Gas und Eisen zerstcktund zerfressen werden sie werden es unumgnglich ().

    Ich zitiere die vollstndige Schlupassage des Textes von 1930: Der Krieg ()ist der ewige, zu welchem diese neuen Deutschen beten, sowenig wie der letzte,von welchem die Pazifisten schwrmen. Er ist in Wirklichkeit nur dies: Die eine,frchterliche, letzte Chance, die Unfhigkeit der Vlker zu korrig ieren, ihre Ver-hltnisse untereinander demjenigen entsprechend zu ordnen, das sie durch ihreTechnik zur Natur besitzen. Miglckt die Korrektur, so werden zwar MillionenMenschenkrper von Gas und Eisen zerstckt und zer-fressen werden sie wer-den es unumgnglich aber selbst die Habitus chthonischer Schreckensmchte,die ihren Klages im Tornister fhren, werden nicht ein Zehntel von dem erfahren,was die Natur ihren weniger neugierigen, nchterneren Kindern verspricht, die an der Technik nicht einen Fetisch des Untergangs, sondern einen Schlssel zumGlck besitzen. Von dieser ihrer Nchternheit werden sie den Beweis im Augen-blick geben, da sie sich weigern werden, den nchsten Krieg als einen magischenEinschnitt anzuerkennen, vielmehr in ihm das Bild des Alltags entdecken und miteben dieser Entdeckung seine Verwandlung in den Brgerkrieg vollziehen werdenin Ausfhrung des marxistischen Tricks, der allein diesem finsteren Runenzaubergewachsen ist (III 249 f.).

    Benjamin behandelt Natur und Technik als anthropomorph-kosmolog ischeInstanzen, die sich aber gerade darin dem menschlichen Zugriff entziehen. Nur weilsie selbstndige Gewalten darstellen, kann von einer (glckenden/verunglckenden)Rezeption gesprochen werden. Anders als Max Weber, Husserl, Heidegger,Adorno/Horkheimer sehr grob gesagt nimmt Benjamin keine Rekonstruk-tion der Technik aus der rationalistisch-naturwissenschaftlichen Subjektstellungvor. Die verunglckte Rezeption der Technik besteht gerade darin, Technik seispositiv seis negativ als Mediatisierung instrumenteller Vernunft zu denken.Wenn Benjamin durchaus erluterungsbedrftig von der Technik alsOrganon spricht, von einer der Menschheit sich in der Technik organisierendenPhysis (Einbahnstrae, Schlustck), so steht ihm ein kollektiver Passungsvorgangvor Augen, der sich in einer Zweck-Mittel-Rationalitt nicht fassen lt.

    Sur Scheerbart fat die berlegungen in der Konsequenz zusammen:

    que les hommes sortent de lopinion basse et grossire quils sont appels exploiter lesforces de la nature; que, par contre, ils demeurent convainus que la technique, tout enlibrant les humains, librait fraternellement par eux la cration entire (II 631).

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  • Weltverbrderung als Chance der Technik? Etwas komplizierter ist es schon.Benjamin nimmt eine methodologische Konfrontation von Urzeit und Gegenwartvor und konstruiert damit einen Widerstreit zwischen der ersten Technik und derzweiten Technik (VII 359).14 Damit gelingt ihm eine riskante Umkehrung dergewohnten Denkvorstellungen, die nach dem Modell der Naturbeherrschungablaufen. Im Zentrum der Ersten Technik steht das Menschenopfer alle tech-nischen Steigerungen in dessen Bann verbrauchen den Menschen ; fr dieZweite Technik ist hingegen charakteristisch, da sie den Menschen so wenig wientig einsetzt und bentigt.

    Auch die Zweite Technik ersetzt den Menschen: aber nicht in einemOpferritual, sie entlt ihn vielmehr auf taktile Welt-Reisen. Damit erffnet dieZweite Technik einen Spielraum, den Raum fr ein Zusammenspiel zwischen derNatur und der Menschheit, vorausgesetzt, die Bewltigung der gesellschaftlichenElementarkrfte, die bislang in Mythos und Ritual gebunden blieb, richtet sichauf die ffnung hin. Revolutionen htten daran ihre Zeitmarke: Es ist das Zielder Revolutionen, diese Anpassung zu beschleunigen. Zu beschleunigen, so muman ergnzen, um der verunglckten Rezeption der Technik, ihrer Erfllung imKrieg, endlich zuvorzukommen. Sie mten ihre Unzeitgemheit berbieten: inkrzester Frist, vielleicht schon im Ablauf von Sekunden, erwartet Benjamin(VII 371). Nicht anders wird die avantgardistische Funktion der Kunstkrisebeschrieben. Mehr noch: da die revolutionre Sekunde nicht eintreten will,ermglicht die weltgeschichtliche Erschtterung des Kunstwerks im Zeitalterseiner technischen Reproduzierbarkeit die letzte Geistesgegenwrtigkeit gegenden Faschismus.

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    Das alles ist sehr viel genauer zu analysieren, gerade auch im Blick auf denexperimentellen Charakter der berlegungen, die in den weiteren Fassungen desKunstwerkaufsatzes fortgefallen sind oder versteckt wurden. Ich mchte hier nurauf eine berraschende Passage eingehen, in der wiederum Fourier genannt wird:Benjamin verweist nicht was nahe gelegen htte und in den Thesen ja auchgeschieht auf ihn als jemanden, der die Kosmologie einer Zweiten Technikantizipierte, sondern auf seinen individualistisch-anarchischen Impuls. DerSpielraum, den die Zweite Technik erffnete, ist nicht als Raum libidinserKleinkollektive zu verstehen, sondern als ein erstmalig fr den einzelnen erffneter.Ich zitiere: Die zweite Technik hat sobald nicht ihre ersten revolutionren

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  • Errungenschaften gesichert, als die durch die erste verschtteten Lebensfragen desIndividuums Liebe und Tod von neuem nach Lsungen drngen. FouriersWerk ist das erste geschichtliche Dokument dieser Forderung. Wofr Fourierdamit namhaft gemacht wird, ist die Gegenwart der Lebenszeit, mit der die zweiteReflexion der Thesen ber den Begriff der Geschichte einsetzt: der singulreGlckswunsch.

    So sehr Fouriers Phantastereien (als historisches Dokument) Benjaminfasziniert haben, so hat dieser Rekurs auch hier den Status eines Incognitos. DerAusfall der Moral und des Staats und damit die Entsetzung der Gespenster desRechts und der Schuld entspricht ganz und gar Benjamins eigenen Konzepten. Inden frhen Schriften Schicksal und Charakter und Zur Kritik der Gewalt hat er dieseberlegungen ausgearbeitet; die Konzeptionen des Frhwerks blieben bis zuletztin Kraft. Glck hat sein Vorbild im Moment des Heraustretens aus demVerhngnis des Schicksals, das als Schuldzusammenhang ganz uneigentlichzeitlich (II 176), als eine parasitre Zeitform zu verstehen ist. Diesem Heraustretenkorrespondiert die Auffassung des Charakters als einer moralisch indifferentenNatur im Menschen. Denn ebenso wenig wie im Mythos kann Glck seinen Ortin der Innerlichkeit des modernen Subjekts haben, das das Glck begraben, esdurch Reflexion unerreichbar tief in seinem Innersten verbergen will (als Talismangegen das Unglck) (II 128), wie es in der Schrift ber Das Glck des antikenMenschen heit.

    Benjamin setzt alles daran, die Ordnung des Glcks von der des Unglcks undSchicksals zu trennen. Die Idee des Glcks wird stattdessen mit Unschuld undNchternheit verknpft. So spricht die zitierte Schlupassage von Theorien desFaschismus von den Menschen als Kindern, die der (Mutter) Natur gegen-berweniger neugierig als nchtern sich verhalten. Sie erfahren sehr viel mehr von ihrals was im Rausch der Vernichtung an Inzest freigesetzt wird. Und das erffneteine experimentelle Sperre zur Theologie, gegen die Sogkraft des Lschblatts (wiesie eine Arbeitsnotiz zu den Thesen beschreibt). Deshalb erfolgt die Ernchterungim Alltag, in der Profanitt. Nur so ist ein Weltzustand auer Kraft zu setzen, der,wie es in Kapitalismus als Religion heit, keinen Alltag kennt, sondern jeden Tagdas Ritual 24 Stunden ununterbrochen mittlerweile erzwingt.

    Im Passagenkonvolut zu Fourier notiert Benjamin: Das Glck kennt Rezepte,wie jeder Pudding . Es kommt auf Grund einer genauen Dosierung verschiedenerElemente zustande. Es ist ein Effekt (V 785). So fragte schon der Srrealismus-Essay nach der richtigen Dosierung des Rauschs und des Nchternen. DieseDosierung richtet sich nicht allein auf die individuelle Lebensgestaltung. Benjaminnimmt sich vor, zur Menschheitsbeglckung der Utopischen Sozialisten undihres technologischen Hedonismus zwei Vorstellungen meiner Politik zu vergle-ichen: die von der Revolution als einer Innervation der technischen Organe des

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  • Kollektivs (Vergleich mit dem Kind, das am Versuch, des Mondes habhaft zu werden, greifen lernt) und die vom Aufknacken der Naturteleologie. Allgemeinlt sich sagen, Benjamin geht es immer wieder um die Technik statt alsFortschrittsmittel als Mittel zur Freisetzung von Verhltnissen.

    Wer aber ist das Subjekt dieser Verhltnisse? Niemand anders als die Verhlt-nisse selbst. Der Pudding kennt Rezepte, nicht der Koch. Ihm kann der Puddingnur gelingen, wenn er die Verhltnisse der Elemente sich berlt. Das verlangtwohl Routine, aber auch Warten-Knnen. Der Pudding wie das Glck lassen sichnicht kommandieren. Der Effekt stellt sich ein. Glck hat die Zeitform desStelldicheins. Es ist jenes Zur Stelle sein (I 172), an das sich das Wissen umSchicksal parasitr heftet und aus dem Rendezvous ein Zu spt macht.

    Damit kehren wir noch einmal zu den Thesen zurck.

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    Die Thesen ber den Begriff der Geschichte gelangten erst posthum (ber Hannah Arendt) an Adorno, der eine Abschrift (durch Gretel Adorno) anHorkheimer schickte. Eine gewisse Naivitt, schreibt Adorno mit seufzendemRckblick dazu, in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist,lt sich auch diesmal nicht verkennen. Trotzdem meine ich, wir sollten dasManuskript publizieren. Darber hinaus nimmt er philosophisch insbesondere ander 13. Reflexion Ansto. Denn so gewi, heit es in dem Brief weiter, das kon-formistische Geschichtsbild die Vorstellung von Zeit als homogenem Kontinuumimpliziert, so wenig ist es doch auf die Zeiterfahrung zu reduzieren. Weit eher istdiese vom permanenten Inhalt der Tradition der Herrschaft abstrahiert, als da siederen ontologische Voraussetzung ausmachte. Hier erscheint mir Benjamin ideal-istisch befangen, obwohl an der Frage der Zeit als einer sui generis etwas daran ist(VII 774).

    Es ist etwas dran, wie Adornos Zgern verrt, an Benjamins Formel von derhomogenen und leeren Zeit, die die Thesen wie ein roter Faden durch-zieht und in der 13. Reflexion mit allem Nachdruck als Ausgangspunkt der Kritik bekrftigt wird. Die Vorstellung von einer homogenen und leeren Zeit ist das verschwiegene Transzendental, das der Vorstellung eines Kontinu-ums der Geschichte zugrundeliegt. Dieser Vorstellung sind Historismus und Fortschrittside-ologie gleichermaen verpflichtet, so sehr sie auch sonstdivergieren. Kontinuitt richtet sich als atropopische Figur gegen den Entzugdes Zeitbewutseins. Denn um nicht in den Abgrund zu versinken, mu die leere

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  • Zeit tglich aufgefllt werden. Die Einfhlung in die Toten der vergangenenKulturgeschichte vertreibt deren gespensterhafte Wiederkehr; das Staunen berden technischen Fortschritt suggeriert dessen Finalitt. Nur eines fllt aus: dasGlck. Und seine Zeitlichkeit.

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    Zum Schreiben Benjamins noch eine abschlieende Bemerkung. Rtselhaftwird bleiben mssen, warum Benjamin die groen Konstruktionen des Exils dasBriefbuch, die Berliner Kindheit, die Passagen, den Kunstwerkaufsatz derartigauseinandergehalten hat, obschon er in den Briefen und verschiedenen Anmerkun-gen immer wieder auf deren Gemeinsamkeit zurckkommt. Es gibt nur einzelneFden und verborgene Spuren. Solche Spurensuche ist keine posthume Komplet-tierung der Fragmente. Hermeneutische Komplettierungen gelangen nur an dieGrenze, wo die Originalitt des Benjaminschen Denkens anfngt. Und diesesgehorcht weniger einer Systematik als einer eigentmlichen Zeitkonomie sozusagen einem Puddingrezept , woraus das Fragmentarische, Sich-Vervielfltigende wie das Zwingend-Geschlossene des Werks resultiert.

    Eine frhe Notiz zum Passagen-Werk lautet: Die Konkretion lscht dasDenken, die Abstraktion entzndet es. Jede Antithetik ist abstrakt, jede Synthesiskonkret. (Die Synthesis lscht das Denken.) (V1033).15 Lschung des Denkensbleibt ein zentrales Motiv in den Thesen, die die beiden Aspekte des Motivs den konstitutiven und den performativen in zwei parallelen Formulierungenherausstellen: Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht bergang ist sondernin der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historischeMaterialist nicht verzichten. (...) Zum Denken gehrt nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung (I 702). In der Stillstellung hat die Zeit der Darstellung ihren Ursprung, dessen Form als Schrift dieErkenntniskritische Vorrrede des Trauerspielbuchs aus-drcklich hervorhebt undals schubweises Innehalten charakterisiert: es ist der Augenblick des Glckens, einAusweg aus der Zeit.

    Darstellung ist nichts dem Gedachten Nachtrgliches, sondern kommt ihmzuvor. Wie der Aphorismus selbst vormacht und vollzieht, koinzidiert dermetaphorische Vorgang des skripturalen Lschens mit dem begrifflichen Denken,das seine gegenstzliche Bewegung aus sich herausstellt und als Satzperiodeabbricht. Alle Texte Benjamins folgen dieser paradoxalen Dialektik, in derSynthesis nicht den Triumph des Begriffs bedeutet, der seine Darstellung, seine

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  • Erzeugung als Schrift vergit. Sondern eben Lschung: eine andere Schdel- undBrandsttte des Geistes als die der Hegelschen Phnomenologie.

    Erklrt sich daraus die auerordentliche Wirkung der Benjaminschen Schriften?Durchaus. Nur drfen wir Wirkungsgeschichte und Wirksamkeit nicht verwech-seln. Benjamins Nachruhm, die Wiederentdeckung seiner Schriften und ihre integrale Edierung, entsprang der Radikalisierung der Studentenbewegung unddem utopischen Antikapitalismus von 68. Diese wirkungsgeschichtliche Eruptionist ein unwiederholbarer Glcksfall gewesen. Benjamin bot den noch zu entziffer-nden und neu zu schreibenden Text einer Jetztzeit, die den kritischen Elfenbein-trmen der Frankfurter Schule entlaufen wollte wie ebenso der zwangsneurotischenVerdummung durch Parteiaufbauschulungen. Er versprach alles, was kritischeKritik und Wiedererweckung des Proletariats nicht boten, ohne dies blo abzu-tun. So konnte jeder Raub-druck eines Benjaminschen Textes wie ein Manifestdes future antrieur erscheinen.

    Das wirkungsgeschichtliche Resultat bestand darin, da Benjamin nachtrglichakademische Karrieren ermglichte, noch im anspruchslosesten Feuilleton alsAutoritt zitiert wird, und die Titelformulierung XY im Zeitalter seiner technis-chen Z-barkeit Mode geworden ist. Benjamins posthumes Werk ist unwiderru-flich zum Objekt einer verstreuten und unabsehbaren Abbauproduktion geworden,die eine International Benjamin Association nicht abwehren kann. Aber sie kann ein Ort sein, wo es nicht blo akademisch la mode zugeht. Denn man mu sichzunchst einmal fragen, warum Benjamins Arbeiten und nicht erst die desPariser Exils zu Lebzeiten derart geringe Wirkung gehabt haben. Im akademis-chen Kontext galten, wie die Habilitationsaffaire zeigte, seine Schriften alsimkompatibel. Daran ndert sich mit dem bergang zum freien Schriftstellerund Publizisten nichts. Er blieb Auenseiter. In den Briefen ber seine Konver-sion zum Marxismus hat er genau diesen strategischen Punkt der Erfolglosigkeitbezeichnet: unzuverlssig, ungeniebar, unverwertbar wrden seine Texte bleibenmssen.

    Der extreme Aktualisierung sdruck der Benjaminschen Texte verdankt sich aufparadoxe Weise einer Strategie der Unlesbarkeit. Unlesbarkeit heit nun abernicht: noch nicht lesbar, spter lesbar, Klartext fr einen erwartbaren Zeitpunkt.Auch nicht: jetzt endlich als Unlesbarkeit lesbar. Benjamin zu lesen heit erst ein-mal, ihn zur Unzeit zu lesen. Lesen als Unzeit. Solange Benjaminsche Schriftendieses malose Zeitma der Unzeit erneuern, wird es dringend an der Zeit sein, siezu lesen. Sie wiederzulesen; ihnen auf die Spur zu kommen. Man mte lernen, sie als Bumerang werfen zu knnen. Aber das braucht viel Zeit.

    142 Linder / Zeit und Glck

  • Anmerkungen

    1 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M., 1986, 75. Dort auch dieanschlieende Zitate.

    2 Ibid., 75 f.. Der apokalyptische Teufel (bei Blumenberg) tut alles, um diese Einsichtnicht aufkommen zu lassen.

    3 So verfhrt auch die These B im Anhang (I 704). Der Rhetorik von Analogiefigurenin den Thesen wre genauer nachzugehen.

    4 Jacques Derrida, Marx Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neueInternationale, Frankfurt/ M., 1996.

    5 Burkhardt Lindner, Engel und Zwerg. Benjamins geschichtsphilosophischeRtselfiguren und die Herausforderung des Mythos in: L. Jger/Th. Regehly (Hg.), Was nie geschrieben wurde, lesen. Frankfurter Benjamin-Vortrge, Bielefeld 1992, 235265, bs. 255.

    6 Horkheimer bezieht sich hier auf den Essay ber Eduard Fuchs (vgl. II 1332 f.), indem Benjamin eine Reihe zentraler Formulierungen der Thesen ber den Begriff derGeschichte bereits verwendet. Horkheimers Einwnde werden in den Arbeitsnotizen zu denThesen wieder aufgenommen.

    7 Derrida, a.a.O., S. 170 ff.

    8 In einer Variante heit die Samenmetapher nchterner Kern (I 1250).

    9 Passagen-Werk Konvolut W (V, 2, 764799). Fouriers bizarre Phantasien waren nochdetaillierter: im groen 70 Tausend Jahre umfassenden kosmologisch-gesellschaftlichenUmgestaltungsproze wrde das Meerwasser nach Limonade schmecken, die Lwen wrden den Postdienst bernehmen, die Sterne die Telegraphie, die Menschen zuamphibischen Schwanzmenschen mutieren usw.. Auf die Bedeutung Fouriers fr dieKonstruktion der Passagenarbeit bin ich an anderer Stelle eingegangen: BurkhardtLindner, Das Passagen-Werk, die Berliner Kindheit und die Archologie desJngstvergangenen. in: N. Bolz / B. Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichtedes X IX . Jahrhunderts , Mnchen 1984, 2748.

    10 Benjamin begreift Fourier in erster Linie als Humoristen und rckt ihn in einenKontext mit Lichtenberg, Jean Paul, Scheerbart und Micky Maus (V 781; II 632 u..).Fr einen Begriff des anthropologischen Materialismus ist diese humoristische Linie ganz

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  • wesentlich wegen der freien Kombinatorik und Assoziation der Elemente. (BlochsBehandlung der Utopisten im Prinzip Hoffnung, Abri der Sozialutopien, bleibt dagegenvllig uninspiriert. Marx, trotz seines Schimpfens auf die Utopisten, zeigt da sehr vielmehr Humor.) Da bei Fourier nach 70 Tausend Jahren die Phalanstres-Zivilisationwieder in der Verfall bergeht, kommentiert Benjamin (ironisch?): So sindVergnglichkeit und Glck bei Fourier eng verschrnkt (V 974).

    11 Der ganze Text der Thesen ist eine Montage aus Eigen- und Fremdzitaten auf engstem Raum.

    12 Sr Scheerbart (II 630). Der Text wurde vermutlich nach dem Beginn des zweitenWeltkriegs geschrieben, gelangte aber nicht zur Publikation. Tiedemann weist in denAnmerkungen nach, da Benjamin das Scheerbart-Zitat eher erfindet als wrtlich zitiert.

    13 Zu Wort und Denkbarkeit von Unzeit: Werner Hamacher, Des contres des temps,in: G. Chr. Tholen/M. Scholl (Hg.), Zeit-Zeichen, Weinheim 1990, S. 2936. Im Titelmu man contre-temps mitlesen.

    14 Es wre zu berlegen, inwieweit Benjamin den Begriff einer zweiten Technik im kritischen Rekurs auf Lukcs Begriff der zweiten Natur formuliert hat.

    15 Auf das Motiv der Lschung geht mein Artikel Allegorie in Opitz/Wizisla (Hg.),Benjamins Begriffe, Frankfurt/M. 1998 genauer ein.

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