sam. Sachsen-Anhalt-Magazin Ausgabe Juli 2013

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10/ 13 BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT An Tagen wie diesen Eine Welle der Solidarität – Sachsen-Anhalt trotzt der Flutkatastrophe Seite 6

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BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

An Tagen wie diesenEine Welle der Solidarität – Sachsen-Anhalt trotzt der Flutkatastrophe Seite 6

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Erneut hat Sachsen-Anhalt ein Rekordhochwasser erlebt. Zum zweiten Mal in elf Jahren. In den zurückliegenden Tagen war ich als Reporterin unterwegs in den Hochwassergebieten. Ich habe Menschen getroffen, deren Existenz bedroht, deren Ei-gentum zerstört ist. Bilder brennen sich ein in die Erinnerung: eine verwaiste Schubkarre neben noch nicht aufgetürmten Sandsäcken vor einem gefluteten Haus in Mukrena. Entkräf-tete Rehe mitten in einer Ortschaft. Blumentöpfe, in einem Wohnzimmer schwimmend.

Bei aller Zerstörung habe ich auch Gemeinschaft gespürt, die Schlimmeres verhinderte. Unermüdlich schippten freiwillige Helfer gemeinsam mit Bundeswehrsoldaten, Bereitschaftspo-lizisten und THW-Mitarbeitern Sand in Säcke. Alte Leute hat-ten sich Stühle mitgebracht und hielten sitzend die Säcke auf. Unzählige junge Menschen stapelten Säcke zum Schutz vor den Fluten, Landwirte und Unternehmer stellten Technik und ihre Arbeitskraft in den Dienst der Gemeinschaft. Hochschulen setzten den Lehrbetrieb aus; ungeachtet der Sparpläne waren Tausende Studierende Tag und Nacht an den Sandsackfüllsta-tionen zu treffen. Viele Helfer kamen von weither: aus dem Ruhrgebiet, Baden-Württemberg, Niedersachsen.

Sie alle hatten nur ein Ziel: die Katastrophe aufzuhalten. Vie-lerorts ist das gelungen. Mancherorts war die Natur stärker. Dörfer mussten evakuiert werden. In Groß Rosenburg leitete ein Feuerwehrmann aus Breitenhagen die Rettung Einge-schlossener. Als Menschen nicht mehr in Gefahr waren, holte Gerrit List mit seinen Helfern von Feuerwehr und Wasserret-tung Tiere aus dem Überflutungsgebiet. Dass sein eigenes Haus bis zur Dachkante geflutet war, verdrängte Gerrit List. Er half. Genau wie der Fischer Gernot Quaschny, der einen wei-ten Bogen um sein eigenes überflutetes Grundstück machte, wenn er sich als einziger mit dem Boot auf den Weg nach Ho-hengöhren machte, um eingeschlossene Einwohner mit Le-bensmitteln und Wasser zu versorgen. In Scharlibbe kämpften Mitarbeiter der Agrargenossenschaft tagelang um das Leben von 8 000 Schweinen, wenig weiter in Kabelitz harrten Melker bei ihren Kühen aus. Die vielen Tiere hätten in kurzer Zeit nicht in Ausweichquartiere gebracht werden können wie die Tiere aus dem Bernburger Tierpark, die vorübergehend Asyl in Halle, Aschersleben und Leipzig fanden. Trotz 24-stündiger Rettungs-aktion ertranken 30 von ihnen.

Die beeindruckendste Rettungsaktion gab‘s in Fischbeck, wo die Elbe ein riesiges Loch in den Deich gerissen hatte. Muti-ge Schiffsführer steuerten drei Lastkähne durch die reißende Strömung an die Bruchstelle, setzten sie auf Grund. Die Bun-deswehr sprengte die Böden weg und warf mit Hubschrau-bern Sandsäcke ab. Weil sie nicht mehr wegkamen wegen der enormen Kraft des Wassers, wurden die Schuten in unmittel-barer Nähe der Schiffer gesprengt. Er dachte, die Welt gehe un-ter, gesteht Rüdiger Bolsmann. Er war am nächsten dran mit seinem Kraken und konnte sich nur noch auf den Boden wer-fen. Für Tausende Menschen in der Altmark waren die Schiffer die letzte Hoffnung und sind heute Helden.

43 000 Menschen mussten vorübergehend ihr Heim verlas-sen, lebten in Sporthallen oder bei wildfremden Menschen. In Jerichow traf ich den Landwirt Klaus Behrendt aus Ferchland, der für zwei Kollegen in Steinitz Hilfe organisierte. Er telefo-nierte alles heran, was einen Viehhänger hatte, organisierte Notunterkünfte für 350 Kühe. „Wir Bauern halten zusammen“, kommentierte Klaus Behrendt. Nicht nur die Bauern haben zusammengehalten, sondern alle. Geeint durch ein gemein-sames Ziel, setzten die Menschen ungeahnte Kräfte frei und trotzten dem Wasser. Aus Fremden wurden Freunde, eine Ge-meinschaft. Das Wir-Gefühl dominierte für ein paar Wochen in unserem Land. Hoffentlich bleibt es uns lange erhalten.

Annette Schneider-Solis, Redakteurin

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Aus meiner Sicht

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Das Wasser traf die Entscheidungen Seite 6

Beim Umgang mit Superlativen empfiehlt sich Sparsamkeit. Doch das zurücklie-gende Hochwasser war voll davon. Anders war es kaum zu beschreiben. In Magde-burg kletterte der Elbe-Pegel auf 7,47 Meter – so hoch wie noch nie. In Fischbeck in der Altmark bricht ein Deich. Drei versenkte Frachtkähne sollen das Loch stopfen – eine einmalige Aktion. Das Wasser hat Trauer, Wut und Verzweiflung hinterlassen. Die Hilfsbereitschaft unter den Menschen konnte sie aber nicht aufweichen.

Special

Das Hochwasser 2013Die aktuelle Flut schuf Rekorde. Sie aktivierte auch eine Solidarität, die Mut gemacht hat………………… 6

Interview

Natur hat gesagt, was viel und was wenig istIm Gespräch mit Burkhard Henning, Direktor des Landesbetriebs für Hochwasserschutz ……………… 11

Innovationen

Dampf gegen den KlimakillerGenial gekoppelt: Sichere Energieversorgung mit Plus für Umwelt und Minus bei Kosten….12

Tradition

Welthauptstadt der HomöopathieDer homöopathische Weltärzteverband hat seinen Hauptsitz von Genf nach Köthen verlegt.……………15

Wirtschaft

Saniert: Um Klassen besser SALEG macht Schule in Sachen PPP – Schauplatz Internationale Grundschule Barleben...…………….18

Tourismus

Grüne Oasen in neuem altem GlanzDas Gartenträume-Netzwerk lässt Parkanlagenin ihrer einstigen Pracht erblühen……………………...22

Logistik

Goliath will von David lernenChina sieht in Sachsen-Anhalt einen wichtigen Ideengeber für Bau und Logistik.…….28

Erfolgsgeschichte

Drittes Leben für einen KettenschlepperIm Magdeburger Wissenschaftshafen liegt ein seltener Zeuge der historischen Elbschifffahrt....32

Visionen

Aufgaben jenseits von Wind und SonneKlemens Gutmann über die Energiewende, die zahlreiche neue Funktionen mit sich bringt.......38

Technologie

Mehr Sicherheit für alle FahrerIn der etropolis Motorsportarena werden Retter für Europas Rennstrecken trainiert…………..…………36

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Das Land der 1 000 Gärten und Parks Seite 22

Zu den historischen kulturellen Wegmarken Sachsen-Anhalts ge-hören nahezu 1 000 Gärten undParks. 43 der bedeutendsten und schönsten bilden das denkmal-pflegerisch-touristische Netzwerk „Gartenträume – Historische Parksin Sachsen-Anhalt“. Die ausge-wählten Gartenanlagen umfas-sen die ganze Bandbreite der Gartenkunst – vom mittelalter-lichen Klostergarten in Drübeck über Barockgärten und Land-schaftsparks vergangener Zeiten bis zu dem noch im Entstehen befindlichen Landschaftspark Goitzsche bei Pouch im Landkreis Bitterfeld.

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Gesundheit

Entspannender Lernstoff für Muskeln und GelenkeROCKWOOL Mineralwolle GmbH gibt ihr Gesundheitsmanagement in gute Hände….....40

Umwelt

Dem Klimawandel einen Schritt vorausForscher des UFZ untersuchen Auswirkungen der Erderwärmung im Langzeitversuch…….......43

Impressum:

HERAUSGEBERSAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbRGeschäftsführer: Michael Scholz, Wolfgang Preuß

KONTAKTSAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbRSchilfbreite 3, 39120 MagdeburgTel. 0391 63136-45, Fax 0391 63136-47

[email protected]

REDAKTIONSLEITUNGChristian [email protected]

ANZEIGENTel. 0391 [email protected]

TITELFOTOChristian Wohlt

DRUCK Harzdruckerei GmbH, Wernigerode

Schutzgebühr: 4,00 EUR

Das Magazin und alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit schriftlicher Genehmigung und Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keinerlei Gewähr übernommen. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge stehen in der Verantwortung des jeweiligen Autors.

5. Jahrgang 2013

ISSN 1868-9639

Goliath lernt von DavidSeite 28

China will das Leben der Zukunft ge-stalten. Das boomende Land wächst und wächst. Bislang hat es sich eher weniger Gedanken darüber gemacht, dieses Wachstum bewusst und sinnig zu steuern. Bei seiner Suche nach Ideengebern und Partnern sind die Asiaten auch in Sachsen-Anhalt fündig geworden. Themen wie Logistik, Stadtentwicklung, nachhal-tiges Bauen und Demografie stehen im Mittelpunkt einer wachsenden Kooperation.

Deutschlands einziger Kettenschleppdampfer Seite 32

Bis 1948 verkehrten auf der Elbe Kettenschleppdampfer. Mit Maschinenkraft zo-gen sie sich an einer Kette im Fluss stromaufwärts. Eines solcher Schiffe, die „Gustav Zeuner“, rostete jahrzehntelange am Magdeburger Elbufer ihrem Ver-fall entgegen. Ein Bild zum Jammern, fanden nicht nur Freunde der historischen und aktuellen Elbschifffahrt. Im Magdeburger Arbeitslosen-Projekt GISE fand sich ein Partner für die historisch detailgetreue Rekonstruktion des Dampfers.

Klimawandel im Fokus Seite 43

Wie sehen unsere Landschaften am Ende dieses Jahrhunderts aus? Antwort auf diese Frage suchen Wissenschaftler des UFZ Halle. In einem weltweit einmaligen Langzeitexperiment untersuchen sie in Bad Lauchstädt die Auswirkungen des Klimawandels auf das Ökosystem. Dafür entstand eine Gewächshausanlage, in der sich unterschiedliche Klimabedingungen nachstellen lassen. Wie also reagieren Be-stäuber, Pflanzen, Pflanzenfresser und Mik-roorganismen im Boden unter veränderten Bedingungen. Und vor allem: wie beein-flussen sie sich dabei gegenseitig. Nie zu-vor wurde das so genau untersucht wie in Bad Lauchtstädt.Fo

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In diesem Heft

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Das Hochwasser 2013 – die Hilfsbereitschaft wuchs mit jedem Zentimeter

Ein Hochwasser noch nie da gewesenen Ausmaßes ist durch

Sachsen-Anhalt geschwappt. Deiche brachen, Häuser wurden

überflutet und Dörfer sowie Stadtteile evakuiert. Die Entschei-

dungen traf das Wasser. Nur die Hilfsbereitschaft der Menschen

konnte es nicht aufweichen. Eine Momentaufnahme.

Wer vor dem 10. Juni Fischbeck aus dem Stegreif auf der Land-karte zeigen konnte, war entweder alteingesessener Altmärker oder ein Geografiegenie. Dann wurde Fischbeck zum Inbegriff der Hochwasserkatastrophe. Der Ort im Norden Sachsen-An-halts erlangte durch einen Deichbruch traurige Berühmtheit. Keine Nachrichtensendung, bei der die 600-Seelen-Gemeinde keine Erwähnung fand. Kein Tag, an dem Fernsehteams nicht versucht haben, so nah wie möglich an das Dorf heranzukom-men. Keine Stunde, in dem Fischbeck nicht ein bisschen mehr in den Elbefluten versunken ist. Und keine Sekunde, in der Helfer nicht im Akkord und bis zur Erschöpfung gearbeitet haben, um das Loch im Deich zu stopfen und die Überflutung Fischbecks und weiterer Orte zu verhindern.

Tagelang versuchen Bundeswehrsoldaten und Experten aus dem Krisenstab der Landesregierung, der Wassermassen Herr zu wer-den. Luftaufnahmen zeigen schonungslos die ganze Dramatik. Sie dokumentieren, mit welcher Wucht das aufschäumende Wasser durch den Riss strömt und an der Deichbruchstelle nagt. Ein Nachrichtenmagazin vergleicht dieser Tage die Elbe mit ei-nem Monster, das schluckt, ohne zu kauen. Sie hat auch an dem Deich genagt und den Riss Stück für Stück vergrößert. Am Ende ist er fast hundert Meter lang. Mehr als 8 000 Menschen flüch-ten vor dem Wasser, das sich in der Region mehr als 150 Quadrat-

kilometer Land erobert hat. Dörfer, Wälder, Wiesen und Äcker –alle verlieren den Wettlauf gegen die Zeit. Insgesamt stehen in Sachsen-Anhalt rund 1 650 Quadratkilometer unter Wasser. Das ist mehr als die Hälfte der Fläche des Saarlands.

Am 15. Juni wandelt sich die traurige Berühmtheit Fischbecks in eine freudige. Im Krisenstab fällt der Entschluss, die Deichbruch-stelle mit einem „Experiment“ zu schließen. Einmalig, mutig, hoffnungsvoll. Drei Schiffe werden an den Deich manövriert, teil-weise gesprengt und so zum Sinken gebracht. Die Bundeswehr wirft außerdem Panzersperren, Betonringe und mit Felsbrocken gefüllte Riesensandsäcke in und neben den Frachtkähnen ab. Es entsteht ein „Wrack-Deich“. Ein abenteuerlich aussehendes Provi-sorium – das seinen Zweck erfüllt hat. Am 17. Juni steht fest: Der Durchfluss an der Deichbruchstelle konnte um 90 Prozent verrin-gert werden. Ein erster Schritt zurück zur Normalität.

Bevor die Wassermassen der Elbe Fischbeck erreichten, versetz-ten sie Sachsen-Anhalts Süden und die Landeshauptstadt Mag-deburg erst in eine Schockstarre und dann in einen Ausnah-mezustand. Der Elbepegel an der Magdeburger Strombrücke kletterte am 9. Juni auf 7,47 Meter – ein trauriger Rekordwert! Der Durchschnittswert liegt bei 1,90 Meter. Sirenengeheul und helfende Hände überall – der Damm der Hilfsbereitschaft war ungebrochen. Rund 23 000 Menschen mussten allein in Mag-deburg ihre Häuser verlassen. Zurück blieben ganze Stadtteile, in denen das Wasser teilweise hüfthoch stand, und aus denen über Tage das Leben verschwunden war. Es war ein Kraftakt, dem sich keiner bisher stellen musste und den alle gemeinsam bewältigt haben.

Die aktuelle Flut schuf Rekorde. Sie aktivierte auch eine Solidarität, die Mut gemacht hat

Von Sabrina Gorges

In Halle erreichte das Hochwasser der Saale den höchsten Stand seit 400 Jahren. Die Skulpturen, die auf der Kröllwitzer Brücke, die sonst hoch über dem Fluss thronen, standen im Wasser.

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Nach dem Bruch eines Elbe-Deichs bei Fischbeck im Landkreis Stendalströmten Wassermassen mit ungeheurer Wucht ins Hinterland.Luftaufnahmen wie diese zeigten in den Tagen der Flut die Ausmaßeder Flächen, die sich das Wasser genommen hatte. Mit einer spektakulären Schiffs-Sprengung konnte die Lücke weitgehend geschlossen werden.Tausende Menschen mussten landesweit ihre Häuser verlassen. Mit der Flut setzte aber auch eine Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft ein.

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Erstmalig in der Geschichte Sachsen-Anhalts wurde der Katastrophenkrisenstab des Landes einberufen.

Mit gewaltiger Kraft schlug das Wasser, wie hier an der Schleuse Niegripp, eine Schneise der Verwüstung.

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Herr Henning, sie sind in der Branche das, was man wohl einen „alten Hasen“ nennen kann. Was war an dieser Flut so anders?

Burkhard Henning: Es war eindeutig die flächenmäßige Betrof-fenheit. Es standen allein nach dem Deichbruch bei Groß Ro-senburg etwa 85 Quadratkilometer und bei Fischbeck rund 150 Quadratkilometer unter Wasser. Mit diesen Dimensionen waren wir noch nie konfrontiert. Wir haben Entscheidungen getroffen, über die wir vorher nicht mal ernsthaft nachgedacht haben. Auch die Verzahnung der Einsatzkräfte erreichte eine Qualität, wie es sie beispielsweise 2002 nicht gegeben hat. Das schaffte die notwendigen Strukturen, um mit dieser komplizierten Lage umgehen zu können. Es war nicht alles anders, aber viel.

Beim Umgang mit Superlativen empfiehlt sich in der Regel Spar-samkeit. In den Tagen der Hochwasserkatastrophe sah man sich je-doch fast rund um die Uhr damit konfrontiert. Wie war das für Sie?

Burkhard Henning: Superlative hat dieses Hochwasser tatsäch-lich genügend hervorgebracht. Die Regionen haben Nieder-schläge erlebt, wie es die Messstationen so noch nie aufgezeich-net hatten. Daraus resultierten Pegelstände, bei denen sich die Hydrologen die Augen gerieben haben. Ich denke, jeder bei uns im Hochwasser-Einsatzstab hat mindestens einmal Gänsehaut bekommen. Das Hochwasser selbst war der reinste Superlativ. Man kam nicht drum herum, mit dem Phänomen zu hantieren und zu arbeiten. Die Natur hat uns gesagt: Ich bestimme, was viel ist und was wenig. Wir müssen nach dieser Flut sicher auch an der einen oder anderen Stelle umdenken. Das nehme ich mit in meine zukünftige Arbeit und die Kollegen sicher auch.

Umdenken ist ein gutes Stichwort. Kaum fließt das Wasser wieder in seinen angestammten Bahnen, kommt immer sofort der Hoch-wasserschutz auf den Prüfstand. Sie haben in einer Tageszeitung die zähflüssigen Verfahren und den Projektstau kritisiert. Sie sag-ten: „Es ist hanebüchen, was unsere Gesellschaft sich da leistet.“ Was prangern sie konkret an?

Burkhard Henning: Es gibt viele Bremsklötze. Man müsste da sehr weit ausholen. Ich will sie einfach kurz benennen. Es sind die naturschutzfachlichen Aspekte, Eigentumsfragen, die Flä-chennutzung und natürlich die Finanzierung. Von Gutachten, Variantenberechnungen und Kartierungen mal ganz abgese-hen. Und wenn wir einen Deich bauen, muss immer erst die Ar-chäologie drübergehen. Ich denke, das zeigt deutlich, wer hier wie an den Fäden zieht – allerdings meistens nicht in die gleiche Richtung. Eine Einigung dauert oft Jahre. Aber wir können nicht warten, bis sich alle da drübergebeugt haben.

Wo sehen Sie momentan den dringlichsten Handlungsbedarf?

Burkhard Henning: Wir müssen die Schäden aufnehmen und genau beziffern. Wir haben es jetzt mit vier Deichbrüchen und -öffnungen zu tun. 2002 waren es 35. Leider haben uns diese vier übel zugesetzt. Schäden an Deichen sind meistens nicht sichtbar, es passiert im Inneren. Viele glauben ja, für einen Deich wird einfach Erde zusammengeschoben. Dabei ist es ein kom-plexes, technisches Bauwerk. Wir gehen erst visuell drüber und machen dann Baugrunduntersuchungen.

Das Gespräch führte Sabrina Gorges.

Im Gespräch mit Burkhard Henning, Direktor des Landesbetriebs für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft

„Die Natur hat uns gesagt, was viel ist und was wenig“

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Interview

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Dampf machen gegen den Klimakiller GETEC-Kraftwerk liefert Energie mit Mehrwert für Menschen und Umwelt

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Lachgas als Narkosemittel für

schmerzfreies Zähneziehen populär. Zahnärzte verwenden es

noch heute – manchmal auch bei Angstpatienten. In der Che-

mieindustrie entsteht Lachgas dagegen als unerwünschtes Ne-

benprodukt. Denn dieses Treibhausgas ist noch dreihundert Mal

schädlicher als Kohlendioxid.

„Leider kann man unser Lachgas nicht einfach so in Flaschen ab-füllen und damit handeln“, lächelt Jens Metzner auf die Nach-frage nach einem möglichen Zusatzgeschäft. Metzner ist Werk-leiter bei Radici Chimica in Zeitz, wo Adipinsäure hergestellt wird. Das weiße Pulver ist ein Ausgangsstoff für Kunststoffe, die zum Beispiel für Sportbekleidung und leichte Karosserieteile im Auto weiterverarbeitet werden. Bei der Herstellung entsteht Lachgas, chemische Formel N2O. Weil es nicht in die Atmosphäre entweichen soll, wird es mit einer speziellen Technik vernichtet. Aber nicht vollständig, weil der „Zerstörer“ regelmäßig gewartet

werden muss. Jetzt zeigt der Magdeburger Energiedienstleister GETEC, dass da noch mehr geht – gut für die Umwelt und gut zur Kostensenkung bei Radici.

Die deutsche Tochter der italienischen Radici-Gruppe ist das größte Unternehmen im Chemie- und Industriepark bei Zeitz. Es gibt fast 200 Menschen aus der Region Arbeit, gut qualifizier-ten und hoch motivierten Mitarbeitern an diesem traditionel-len Chemiestandort. Um den Anlagenbetrieb rund um die Uhr aufrecht zu erhalten, benötigt das Werk stündlich etwa 20 bis 25 Tonnen Dampf. Doch ob der unsicheren Zukunft wegen der angekündigten Stilllegung des betagten Kraftwerks Mumsdorf schaute zeitweise die gesamte Region mit Sorge auf Radici.Das Problem ist mittlerweile gelöst. Die Dampfversorgung er-folgt künftig in dezentraler Eigenversorgung von Radici durch den Contractor GETEC AG. „Im Fokus standen erst einmal eine stabile wirtschaftliche Versorgung und ein kostengünstiger

Von Ute Semkat

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Wärmepreis“, erklärt Werkleiter Metzner. GETEC konnte über-zeugen, „dass wir mehr als das Standardprogramm bringen“, wie Vorstand Volker Schulz sagt. Das neue Industrieheizkraft-werk, eine Neun-Millionen-Euro-Investition, wird über 37 Mega-watt installierte Feuerungsleistung verfügen und kann durch Kraft-Wärme-Kopplung auch einen Teil des Strombedarfs im Chemiewerk abdecken. Der Wirkungsgrad der Anlage – die zwei Kessel wurden nach Plänen von GETEC ebenfalls in Sachsen-Anhalt gebaut – überschreitet 90 Prozent. Das zeigt, wie man die ins Gerede gekommene Braunkohle, in diesem Fall Braun-kohlenstaub, hocheffizient und durchaus umweltfreundlich als Energiequelle nutzen kann.Aber im Angebot von GETEC steckte noch ein Mehrwert oder „add on“, wie Schulz sagt, womit das Heizkraftwerk zur „mul-tivalenten Anlage“ wird. Beim Befeuern des Dampferzeugers kann gleichzeitig das klimaschädliche Lachgas aus der Adipin-säureherstellung zerstört werden. Es verbrennt zusammen mit dem Braunkohlestaub. Ein technischer Clou, der die Manager

bei Radici zunächst überrascht hatte. Werkleiter Metzner: „Wir hatten nach einer umweltfreundlichen Lösung gesucht, uns aber gar nicht an den Gedanken getraut, dass man das Problem Lachgas auch mit einer Braunkohlestaub-Feuerung lösen kann. Dafür braucht man jemanden, der den Mut hat, das anzufas-sen.“Jemanden mit der richtigen Kompetenz. Eine Arbeitsgruppe bei GETEC beschäftigt sich bereits seit mehr als zehn Jahren mit dem wirtschaftlichen Einsatz von Festbrennstoffen in Heiz-kraftwerken. Die patentierte eigene Brenner-, Kessel- und Rege-lungstechnologie für Braunkohlestaub wurde gemeinsam mit der GETEC-Tochter Carbotechnik im bayrischen Geretsried so weiterentwickelt, dass damit auch Produktionsabgase energe-tisch genutzt oder umweltschonend zerstört werden können. Die erste Referenzanlage arbeitet seit zwei Jahren reibungslos bei einem Chemieunternehmen in Frankfurt am Main. Dort für ein anderes Gas mit geringem Brennwert, welches zusammen mit Braunkohlestaub thermisch genutzt wird. u

Das Chemieunternehmen Radici Zeitz kann sich mit seinem Partner GETEC künftig selbst mit Energie versorgen und dabei noch Geld sparen.

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Innovationen

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„Doch jedes Gas hat andere Eigenschaften“, so Volker Schulz. „Uns dem Lachgas zu stellen, war ein weiterer neuer Schritt.“ Zwar gab es einen wissenschaftlichen Vorlauf, aber noch nirgend-wo praktische Erfahrungen mit dem Narkosegas. Der diplomier-te Ingenieur spricht deshalb von einer spannenden Zeit der Ver-suche und der technischen Erprobung, die an einer baugleichen Kesselanlage von GETEC erfolgte. Dort schaute auch Radici-Mann Metzner, selbst Ingenieur, den Fachleuten über die Schulter.

Volker Schulz wiederum ist in den vergangenen zwei Jahren wie-derholt nach Novara gereist, wo 30 Kilometer westlich von Mai-land eine Chemiefabrik von Radici steht. Sie produziert ebenfalls Adipinsäure. Schulz erzählt lächelnd, wie er jedes Mal vor Betre-ten des Betriebsgeländes eine Prüfung beim Pförtner ablegen musste: „Erst wenn wir die Fragen zu Sicherheitsaspekten im Be-trieb, die auf einer Tafel angezeigt wurden, richtig beantwortet hatten, ging die Schranke hoch.“ Eine Umsicht, die wohl eher bei einem deutschen Chemieunternehmen vermutet würde. Nun wartet man in Zeitz gespannt, ob das Industrieheizkraft-werk nach dem Start Ende Juni den hohen Erwartungen gerecht wird. Die umweltfreundliche Lachgas-Entsorgung im Dampf-erzeuger soll Radici viel Geld sparen helfen, wenn die eigene Zerstöranlage gewartet werden muss. Das betrifft zwar nur

ein paar Wochen im Jahr. Doch weil der kontinuierliche Produk-tionsprozess eines Chemiebetriebs nicht einfach so abgestellt werden kann, wurde das Treibhausgas in diesen Zeiten bisher in die Luft geblasen. Dafür muss das Unternehmen mit dem Er-werb von Emissionszertifikaten zahlen. Radici könnte „einen bis zu siebenstelligen Kostenbetrag pro Jahr einsparen“, ungefähr eine Million Euro jährlich, hat Metzner schon einmal ausgerech-net. Das entspricht etwa 100 000 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr für jene Menge Lachgas, die dank des GETEC-Dampferzeu-gers vermieden werden kann. Diese Lösung lässt sich in der Nut-zung ausbauen. Das wäre eine interessante Option, sollte Radici seine Produktion am Standort noch erweitern.Für GETEC-Vorstand Schulz ist die innovative Technologie „ein Beweis dafür, dass eine umweltfreundliche Versorgung heute auch für energieintensive Produktionsprozesse möglich ist.“ Die Zusammenarbeit mit den Kunden aus der chemischen Industrie habe den Ingenieuren bei GETEC einen Innova-tionsschub gebracht. „Und ich glaube, wir sind mit dem The-ma Festbrennstoffe noch nicht zu Ende.“ So wollen die Ener-gieexperten das Potenzial biogener Brennstoffe zum Beispiel aus Bioabfällen besser erschließen und damit grüne Wärme hocheffizient erzeugen. „Andere Contractoren müssen solche Innovationskraft zukaufen, wir haben sie im eigenen Haus“, verdeutlicht Schulz.

Nicht umsonst hat GETEC bereits zwei Mal den „Contracting Award“ für das bundesweit effizienteste Energieerzeugungs-konzept erhalten. Das neue Heizkraftwerk im Industriepark Zeitz wird nach seiner Inbetriebnahme von GETEC betrieben, vom Leitstand in Magdeburg aus gesteuert und überwacht. GETEC AG entwickelt, realisiert, finanziert und betreibt Ener-gieversorgungsanlagen bundesweit sowie im europäischen Ausland. 20 Jahre nach ihrer Gründung ist die GETEC AG Markt-führer im Contractinggeschäft. n

Ö www.getec-gruppe.de

Schwerstarbeit: Der Erdgaskessel hängt am

Kran auf dem Baufeld. Gemeinsam mit dem

Braunkohlestaubkessel sorgt die Anlage für eine sichere

Versorgung.

Unternehmen mit Stammsitz in Italien haben seit 1990 rund 651 Millionen Euro in Sachsen-Anhalt investiert und 13 Tochtergesellschaften gegründet. Firmen aus dem Stiefel-land gehören zu den bedeutendsten Handelspartnern der sachsen-anhaltischen Industrie und Italien zu den vier wich-tigsten Exportländern. Das schätzen italienische Investoren: Standortvorteile wie den einfachen Zugang zu Wachstums-märkten, optimale Voraussetzungen für Beschaffung und Absatz in Deutschland und Europa, kalkulierbare Rahmen-bedingungen und einen hohen technologischen Standard.

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Das anhaltische Köthen ist seit 16. März 2013 offiziell die Welt-hauptstadt der Homöopathie. Die Liga Medicorum Homoepathi-ca Internationalis – der homöopathische Weltärzteverband – hat seinen Hauptsitz von Genf nach Köthen verlegt. Eine neue Plaket-te am einstigen Wohnhaus des Arztes Dr. Samuel Hahnemann kündet davon. Engagierte Politiker, Touristiker, Marketingexperten und Bürger der Stadt sehen dies als Erfolg ihres Strebens, mit der Homöopathie auch die Wirtschaftskraft ihrer Stadt zu stärken. Seit Jahren schon entwickelt sich Köthen mehr und mehr zu einem Wallfahrtsort für Anhänger der Homöopathie. Deren Begründer Hahnemann hatte sich 1821 hier niedergelassen. Er fand günsti-ge Bedingungen vor, um an seiner neuen Heilweise zu forschen, deren Lehrsätze aufzuschreiben und eine Praxis zu betreiben.

Helle moderne Architektur trifft auf klassizistische Bauweise – wenn Jan Kiese über die Treppe zu seinem Arbeitsplatz in der Europäischen Bibliothek für Homöopathie hinauf steigt, bewegt er sich leichtfüßig zwischen den Zeiten. Gläserne Transparenz

umhüllt das barrierefreie Treppenhaus mit Fahrstuhl und Sani-tärräumen. Es gehört ins „Jetzt“ und trägt Bauhaus-Handschrift. Die Erben der Dessauer Schule der Moderne waren Initiator und maßgeblicher Impulsgeber für die landesweiten Projekte zur In-ternationalen Bauausstellung IBA 2010; so auch für den Bau der „Europäischen Bibliothek für Homöopathie“ in Köthen. Der Computer von Jan Kiese befindet sich in Gesellschaft von Regalen, die vollgestellt sind mit homöopathischem Wissen aus zwei Jahrhunderten. Wie er zur Homöopathie kam? „Über die Excel-Tabelle.“ Er lächelt in Gedanken an seine Studienzeit, als er im Auftrag der Gesellschaft für Homöopathie- und Wissenschafts-service seine Kenntnisse praktisch anwenden konnte. Mittlerweile ist der 28-Jährige ein Experte des Faches „angewandte Informa-tik“. Er entwickelt und betreut im Auftrag des Deutschen Zent-ralvereins homöopathischer Ärzte dessen IT-Infrastruktur und die der modernen Bibliothek hier vor Ort. Und ist dabei gar nicht so wortkarg, wie man es Systemtechnikern gelegentlich nachsagt. Gern führt er Besucher in die Raritätenkammer, u

Wir sind Welthauptstadt der HomöopathieSamuel Hahnemann begründete seine neuartige Heilmethode im anhaltischen Köthen

Von Kathrain Graubaum

Jan Kiese hat den Schlüssel zur Raritäten-

kammer. Hier steht ein Schrank aus dem

Nachlass eines homöo-pathischen Arztes.

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Tradition

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drückt ihnen den großen Mörser in die Hand oder zeigt den Schrank voller Fläschchen aus dem Nachlass eines Arztes aus Hameln.

Ja, zu Recht werde die Bibliothek als „Hafen des Wissens“ be-zeichnet, meint Jan Kiese. Da sei es von starker Symbolkraft ge-wesen, dass die Bestände aus einem Hamburger Nachlass per Schiff elbaufwärts hierher gebracht wurden.Wer kommt in die Bibliothek, wo doch wissenschaftliche Schrif-ten wie vieles andere heutzutage leicht im Internet zugänglich sind? „Den homöopathisch arbeitenden und interessierten Leu-ten ist kaum ein Weg zu weit bis zu uns“, weiß Kiese inzwischen und dass dies ganz spezielle Menschen sind. „Die kommen we-gen des Buches, um es in der Hand zu halten, um darin zu blät-tern, um Seite für Seite zu vergleichen, worin sich die Ausgaben unterscheiden!“Klar, es kommen auch viele Architekturbegeisterte, die sich für das IBA-Projekt interessieren. Besonders lieb sind dem jungen Jan Kiese jene Besucher, die ihm Geschichte(n) erzählen können über den klassizistischen Bau von 1829. Einst Spital des Klosters der Barmherzigen Brüder war hier zu DDR-Zeiten unter ande-rem eine große Tischlerei ansässig. Angestellte von damals kommen und suchen nach der Stelle ihres Arbeitsplatzes; freu-en sich über die Wiederauferstehung eines Baudenkmals, an dessen einstigen maroden Zustand heute nur noch Fotos erin-nern – IBA sei Dank..

„... Was für ein Schmerz,welche Empfindung,genau beschreiben,war es, die sich an dieser Stelle ereignet? ...-“

Würde nicht dieses Zitat an der Hauswand auf der anderen Stra-ßenseite zum Stehenbleiben verleiten, man ginge beinahe acht-los vorbei an dem Eckhaus Wallstraße 47. Hier hat Hahnemann von 1821 bis 1835 gewohnt und seine Praxis geführt. Seit 2005 wird wieder eine homöopathische Praxis in den his-torisch so bedeutsamen Räumen betrieben. Die Ärztin Mar-tha Schütte zog zu diesem Zweck aus dem Rheinland hierher, damals schon 78-jährig. Als sie 82 wurde, übergab sie ihrem Schwiegersohn die Praxis. Christoph Laurentius kommt einmal in der Woche aus Berlin angereist. „Aus Idealismus“, sagt der homöopathisch arbeitende Arzt. Zu ihm nach Köthen kommen Patienten aus einem Umkreis von etwa 150 Kilometern.

„Ja, vielleicht liegt das Vertrauen in die Homöopathie den Menschen aus der Köthener Gegend in den Genen ...“, sinniert Hans-Werner Thote und schmunzelt. Der 75-Jährige gehörte in den 1990er Jahren zu denen, die wachsamen Auges das Erbe

Hahnemanns bewahrten. Die Homöopathie war hier auch all die DDR-Jahre hindurch nicht in dem Maße vergessen wie an-derswo im Land. War es zunächst ein Bürgerverein, der nach der Wende das Thema Homöopathie ins Zentrum der Achtsamkeit rückte, hatten dessen Nachfolger dann wegweisende Beschlüs-se vermarktungsstrategischen und wirtschaftlichen Ausmaßes zu fällen. Neben Johann Sebastian Bach, der von 1717 bis 1723 Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen war, sollte nun auch Samuel Hahnemann mit seiner Homöopathie als touristische Marke mit Wirtschaftskraft platziert werden. Thote war einer der Akteure, die erste Kontakte zum Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte aufnahmen. Gemeinsame Ideen und Aktivitäten gipfelten in dem IBA-Thema „Homöopathie als Entwicklungskraft“. Bei der Konzeptentwick-lung für die Stadtplanung setzen sich Architekten mit homöo-pathischen Ärzten, mit Köthener Stadtvätern und Bürgern an einen Tisch. Auf ihr städtebauliches Projekt übertrugen sie als Leitmotiv den Grundgedanken der Homöopathie: Nach ganz-heitlicher Betrachtung werden leichte Impulse zur Selbsthei-lung und nachhaltigen Gesundung gesetzt.

Jetzt, ein paar Jahre später, kann Oberbürgermeister Kurt-Jürgen Zander beobachten: Die Heilmethode funktioniert am städtischen „Organismus“. „Ein wichtiger Impuls für den Kongresstourismus war 2009 mit der Eröffnung der Europäischen Bibliothek für Homöopathie gegeben“, kann der OB mit Blick auf die wirt-schaftlichen Auswirkungen zufrieden feststellen. Immer mehr Fachbesucher kommen zum jährlichen „Internatio-nalen Coethener Erfahrungsaustausch“. In der Bibliothek finden regelmäßig Kongresse und Seminare statt. Beliebt bei homöo-pathischen Ärzten ist der Köthener Homöopathiesommer. Der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte plant, seinen Kongress 2015 in Köthen durchzuführen. Und er will sich um die Ausrichtung des Homöopathischen Weltkongresses 2017 in Leip-zig bewerben. „Solch ein Weltkongress geht an Köthen nicht vorbei. Mit Sicher-heit sind wir dann DER Wallfahrtsort“, prognostiziert Holger Broszat von der Kultur und Marketing GmbH. Er organisiert rund um alles Nötige, damit sich Köthen als „erste Adresse“ in Sachen Homöopathie etabliert. Auch die Individualreisenden können bei ihm ihr Kommen ankündigen, treffen dann allerorts auf vorsorg-lich geöffnete Türen. Broszat und sein Kollege Christian Ratzel haben mittlerweile ihre „weltmännischen“ Erfahrungen gesammelt und wissen die homöopathische Besucherschaft als spezielle Gäste mit besonderen Interessen und Ansprüchen zu schätzen. In Japan, in der Schweiz und vor allem in Indien wird Hahnemann als Begründer der Homöopathie hoch verehrt. „Viele seiner An-

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hänger wollen einmal im Leben an den authentischen Ort kommen, wo er gelebt und gewirkt hat. Dieser Ort sind wir“, betont Christian Ratzel, der die Gäste dann durch seine Stadt führt; auch die internationalen Journalisten und Film-Teams. „Die seriöse Berichterstattung über die Homöopathie nimmt zu“, ist seine Beobachtung.

„Das Heilvermögen der Arzneien beruht auf ihren der Krankheit ähnlichen und dieselbe an Kraft überwiegenden Symptomen.“

Häuser mit Paragrafen aus dem „Organon der Heilkunst“ an ihrer Fassade weisen den Weg von der Wallstraße 47 über die Lutzeklinik zum Schloss. Hahnemann hatte es nur ein paar Schritte bis zu seinem Gönner, der ihm die homöopathische Forschung ermöglichte: Herzog Ferdinand von Anhalt-Köthen ließ eine Nervenkrankheit von ihm behandeln – wohl erfolg-reich, wie es in Überlieferungen heißt.Das Stück Weges, das Hahnemann täglich mehrmals unter die Füße nahm, haben die Marketingexperten als Hahne-mann-Lutze-Pfad kenntlich gemacht. In Erinnerung auch an den Heilpraktiker Arthur Lutze, der ab 1846 in Köthen wirkte und hier die weltweit erste homöopathische Klinik errichtete. Auch dieses Gebäude strahlt wieder nach seiner Sanierung. Eine kirchliche Stiftung plant hier Betreutes Wohnen. Und Ober-bürgermeister Zander hat die Vision, dass an diesem Ort die Pflege am Menschen und praktizierte Homöopathie zusammenfinden. Dann könne sich das Hahnemann-Haus Wallstraße 47 komplett museal öffnen – entsprechend den Bedürfnissen der von weit her angereisten Besucher. Köthen – das Mekka für alle Homöopathen. n

Ö www.koethen-anhalt.de

Dr. Samuel Hahnemann (1755-1843) schrieb in Köthen sei-ne wichtigsten Werke: die erste Auflage der „Chronischen Krankheiten“ und zwei Auflagen des Grundlagenwerkes der Homöopathie, das „Organon der Heilkunst“.

Zu Hahnemanns 50. Doktorjubiläum 1829 gründete sich in Köthen der Homöopathische Zentralverein, der Vor-gänger des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte. Deutschlands ältester Ärzteverband hat seinen Sitz wieder in Köthen.

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„Aufs Land“ und doch keinen Steinwurf weit von der Landes-hauptstadt Magdeburg entfernt zog die Internationale Grund-schule „Pierre Trudeau“ ins „einstige Bauern- und Käsedorf“ Barleben, einer seit Jahren prosperierenden Gemeinde mit Vorbildstatus. Einer der verlassenen historischen Vierseithöfe des Ortes, die die alte Dorflandschaft seit jeher prägen und im Dornröschenschlaf dämmern, konnte dafür zu einem modernen Ensemble saniert, ergänzt und umgebaut werden. Die Grund-lage für das Projekt gab eine Öffentlich-private-Partnerschaft, ÖPP, besser bekannt als Public-Private-Partnership – PPP. Das Projekt wurde zu einer Erfolgsgeschichte in Sachsen-Anhalt und markiert den Ausgangspunkt des Engagements der sach-sen-anhaltischen Landesentwicklungsgesellschaft SALEG auf einem neuen Geschäftsfeld mit guter Zukunftsoption: Schulen zu sanieren und zu betreiben, die man sich in Magdeburg und Umgebung mit Staunen und Freude anschauen kann.

Mittagssonne flutet über den großen Hof ins Gebäude, fängt sich in den weiten Fensterflächen und fällt auf eine märchenhaft gro-ße, purpurrote Matratze in der Bibliothek, die den Raum zu guten Teilen füllt. „Hier kann gelesen, entspannt und geträumt werden. Es ist auch unser Snoezelenraum“, beantwortet Schulleiterin Anke Strehlow beim gemeinsamen Rundgang fragende Blicke auf die bequeme Lagerstatt und erntet Schmunzeln. Snoezelen, dieses Wort aus dem Niederländischen mit seiner Bedeutung zwischen Schnuppern und Schlummern, meint auch hier einen Ort der Ruhe inmitten lebendigen Schultreibens. Schulinsider wie Franz-Ulrich Keindorff und Conny Eggert sind mit derartigen Spezifika längst vertraut. Für sie – der eine Bürgermeister, der an-dere Geschäftsführer der SALEG – ist der Besuch in der deutsch-französischen, bilingualen Schule in freier Trägerschaft eher ein Nach-Hause-Kommen. „Es fühlt sich immer gut an, hier zu sein“, meint Eggert, „zu sehen, wie alles das, was wir uns gemeinsam mit dem Elternverein, heute Stiftung, den Kindern, der Gemein-de und Architekten in dieser damals für uns noch neuen und unerprobten öffentlichen-privaten Partnerschaft vorgenommen hatten, Wirklichkeit geworden ist: aus einem alten, verfallenen Hofensemble eine moderne, attraktive Schule zu gestalten.“ Die Geschichte selbst begann, wie so oft, mit einem Zufall.

„Barleben hatte sich bereits im Rahmen des ersten PPP-Projekts des Landes Sachsen-Anhalt eine Sekundarschule neu gebaut“, erinnert sich Keindorff, während wir aus den Fenstern hinaus auf fröhlich tobende Kinder im Atrium schauen. Dabei lässt er sich auf einem der viel zu kleinen Stühle nieder, hoch stehen seine Knie, lässig verschränkt er seine Arme darüber. „Wenig später ergab sich auf einer Konferenz der Kontakt zu Prof. Strothotte, innovativer Geist und damaliger Vorsitzender des Ecole-Vereins, in dessen Trägerschaft im Jahr 2000 die Internationale Grund-schule in Magdeburg gegründet worden war.“ Seither wurde in einem sanierungsbedürftigen Schulgebäude im Magdeburger Milchweg gelehrt und dringend nach Möglichkeiten gesucht, die Rahmenbedingungen für den Schulbetrieb zu verbessern. Und so kam man ins Gespräch, tauschte sich über Schule, PPP, Barleben und Schulgebäude, über einen der alten Höfe im Ort im Allgemeinen und Konkreten aus, träumte, plante, suchte schließ-lich Partner. „Offene Ohren für das Projekt fanden wir bei Conny Eggert von der SALEG, deren Mitgesellschafterin die Gemeinde Barleben ist.“ u

Saniert: Um Klassen besserDie SALEG macht Schule in Sachen PPP

Von Cornelia Heller

Neu trifft auf Alt: Das historische Herrenhaus eines traditionellen Vierseithofes in Barleben wurde um drei moderne Gebäudeflügel für die Schulnutzung ergänzt.

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„Tafelrunde“ mit Schülern – Bürgermeister Franz-Ulrich Keindorff (hinten) und SALEG-Geschäftsführer Conny Eggert: „Es ist ein großes Privileg, Schulen bauen und zu Lebens-orten gestalten zu dürfen.“

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Fröhliches Kinderlachen lässt die Klassenzimmertür aufsprin-gen, Jette, Tina, Tim und Alina, Johanna, Michele und Maja strömen mit ausgelassener Atemlosigkeit hinein. Selbstver-ständlich und interessiert gesellen sie sich an die nierenförmi-gen Tische. Stifte und Papier werden herangeholt, ein fröhliches Malen beginnt. Und Bürgermeister und Geschäftsführer malen mit. Eggert wertet es als großes Privileg, Schulen bauen und zu Lebensorten gestalten zu dürfen: „PPP bietet dafür eine breite Gestaltungsfreiheit und birgt Vorteile für alle Seiten. Planung und Bau gehen zügiger voran als in öffentlichen Verfahren. Qua-lität kommt zustande, Kostensicherheit und eine langfristige Wirtschaftlichkeit.“ In Barleben übernahm die SALEG in einem

Investorenmodell den Um- und Neubau am historischen Vier-seithof und wurde Bauherrin und Betreiberin der Schule.

Auf 25 Jahre hat der Ecole e.V., heute eine Stiftung, einen Mietvertrag mit der SALEG für ein Haus geschlossen, das sich mit Wohlgefallen in das Ortsbild einpasst: Das alte stra-ßenbegleitende Herrenhaus samt seiner großen Toreinfahrt wurde um drei moderne Gebäudeflügel in ortstypischem Bruchsteinmauerwerk und Buntbrandklinkern ergänzt. Den Hof dominiert ein eingeschobener Betonkubus mit Raum für Gemeinschaft und einer Bühne, drei abgetreppte Bankreihen biegen sich davor wie in einem Amphitheater. Im Innern ist

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die umgebaute Werkhalle des früheren Elektromotorenwerks eingezogene Internationale Gymnasium der Ecole-Stiftung und eben auch eine Kita sind wichtige Standort-, Infrastruktur- und Entwicklungsfaktoren für die Zukunft des Wirtschafts- und Le-bensortes Barleben.“

Die Tafel ist bemalt, die Kreidestückchen kleiner. Flach flutet jetzt die Sonne über den großen Hof in das Gebäude, in den Musikraum und die Bibliothek. Abschied von Barleben, einer fröhlichen Kinderschar und von Anke Strehlow. Und sie gibt dem Schulbetreiber Eggert den wohl schönsten Satz des Tages mit auf den Weg: „Sicher kann man gute Schule auch in einer Scheune machen, aber in einer schönen Schule noch viel besser.“ n

Ö www.saleg.de

Ö www. ppp-projektdatenbank.de

die Welt zu Haus. Ganz im Sinne Erich Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“ öffnen sich die Räume entlang der in prächti-gen Farben getauchten Korridore etwa nach „Lissabon“, „Lon-don“ oder „Singapur“ und geben so ein unverwechselbares Orientierungssystem, das der kosmopolitischen Ausrichtung der Schule mit dem Namen des früheren kanadischen Pre-mierministers Pierre Trudeau aufs beste entspricht und allen Anspruch und Ansporn gleichermaßen ist.

Längst sind Stift und Papier gegen Kreide und Tafel getauscht, die Finger bunter und das Lachen lauter. Die Kinder mögen ihr Haus, das spürt der Besucher. Sicher und geborgen bewegen sie sich darin. Es ist ein guter Ort zum Lernen und Leben, einer von mittlerweile vielen, die unter Regie der SALEG entstanden. Beispiel: Magdeburg. „Für uns war Barleben der gute Beginn, in das Metier Schule einzusteigen“, sagt Eggert und legt sein blaues Stück Kreide zurück in die Ablage: „2008 bewarben wir uns für das PPP-Projekt der Sanierung von fünf Schulen, dem so genannten „Paket II“, der Landeshauptstadt Magdeburg und bekamen mit dem wirtschaftlich günstigsten Angebot schließlich den Zuschlag. Freude und Motivation waren groß. Denn: Wer darf schon den Wandel der Schullandschaft einer Stadt aktiv mitgestalten?“ Ausschließlich regionale Firmen planten, bauten und sanierten für die SALEG und in Partner-schaft mit dem städtischen Eigenbetrieb Kommunales Ge-bäudemanagement zum vereinbarten Festpreis, in kürzester Frist und bester Qualität die teils über 100 Jahre alten Schul-gebäude in der Annastraße, Leipziger Straße, in Cracau, Alt Olvenstedt und am Nordpark auf modernsten Standard um. Mit ihrer eigens dafür gegründeten Magdeburger Bau- und Schulservice GmbH steht die Landesentwicklungsgesellschaft nun auch hier die nächsten 20 Jahre in der Betreiber- und Ver-walterpflicht. Und kann mit jedem Tag auf beste Erfahrungen im Facility Management für zukünftige Projekte in anderen Kommunen und Gemeinden verweisen. „Aber noch“, wiegt Eggert den Kopf, „trauen sich nicht alle an PPP-Modelle. Da gilt es noch immer, Berührungsängste abzubauen.“

Ganz anders in Barleben. Hier gehört der Weg PPP und die Zusammenarbeit mit externem Sachverstand längst zu den guten Erfahrungen. Und wird weiter konsequent verfolgt. „Unter anderem im Ostfalenpark mit der Idee einer Kinderta-gesstätte für den Nachwuchs der jungen Wissenschaftler im dort ansässigen Innovations- und Gründerzentrum“, entwirft Keindorff Zukunftsbilder. „ Sicher“, schränkt er ein, „es sind noch viele Fragen offen, aber was ist schon einfach?“, nickt er zu Eggert. „Ein Bedarf ist da. Und Angebote wie die Internationale Grund- und unsere Sekundarschule, das im vergangenen Jahr in

Schulhof mit vielen Möglichkeiten: Wie in einem antiken Amphi-theater biegen sich drei abgetreppte Bankreihen zum Gebäude –Platz für Theater, Musik, Spiel und Spaß

Bild links:Malstunde für alle in der Internationalen Grundschule „Pierre Trudeau“, Schulleiterin Anke Strehlow hinten im Bild

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Sachsen-Anhalts Norden ist nicht gerade als Land der Burgen und Paläste bekannt. Deshalb darf sich in der Altmark jeder größere Herrensitz mit dem Ehrentitel „Schloss“ schmücken. So auch in Tangerhütte, das gleich zwei Schlösser, eigentlich Fab-rikantenvillen, zu bieten hat. Das Besondere daran ist der herr-liche, sie umgebende Park, der eng mit der Geschichte des Städt-chens verbunden ist und heute sein Aushängeschild darstellt.

Der Name Tangerhütte tauchte erstmals Mitte des 19. Jahrhun-derts auf. Damals waren in der Niederung des Flüsschens Tanger, nahe des Dorfes Vaethen, eisenerzhaltige Steine gefunden wor-den. Um sie zu schmelzen, wurde eine Hütte am Tanger gebaut. Schnell entwickelte sich das Werk zum florierenden Betrieb. Um die „Tangerhütte“ wuchs eine kleine Siedlung, die schließlich mit dem Dorf verschmolz und 1935 Stadtrecht erhielt. Tanger-hütte darf sich somit „Jüngste Stadt der Altmark” nennen. Die Besitzer des Werkes gelangten zu Wohlstand und ließen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die beiden einst prächtigen Villen errichten. Die Einheimischen sprechen vom „Alten Schloss” und dem „Neuen Schloss”, um die herum eine ausgedehnte Parkanlage nach Pücklerschen Grundsätzen angelegt wurde.

Ein Paradies aus Eisensteinen

Der Tangerhütter Stadtpark hat eine Fläche von rund 22 Hektar. Er wartet mit zahlreichen seltenen Gehölzen und mancher Überraschung auf. Ein Mausoleum, das bis in die 1970er Jahre die Gebeine der Fabrikantenfamilie beherbergte, die Pergola am Schwanenteich und der künstliche Wasserfall sind sowohl Blick-fänge als auch architektonische Meisterleistungen. Einmaliges Zeugnis technischer und künstlerischer Kreativität der Hütten-werker ist der Kunstgusspavillon, der extra für die Weltausstel-lung 1889 in Paris gefertigt wurde. In den 90ern des 20. Jahr-hunderts restauriert, ist er das Markenzeichen des Tangerhütter Stadtparks. Zu DDR-Zeiten recht verwildert, wurde das Areal in den zurück liegenden Jahren, weitgehend den ursprünglichen Plänen entsprechend, wieder hergestellt. Ein Megaprojekt für die finanziell chronisch klamme Kommune.

Sachsen-Anhalt ist das Land der 1 000 Parks und Gärten

Von Christian Wohlt

Der „Vater“ des Gartenträume Projekt: Claus Mangels, Vorsit-zender des Fördervereins

Der künstliche Wasserfall ist ein Markenzeichen des Stadtparks in Tangerhütte

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Möglich wurde es durch eine in dieser Form wohl einzigartige Initiative. Das Landesprojekt „Gartenträume – Historische Parks in Sachsen-Anhalt“ umfasst 43 grüne Oasen zwischen dem kleinen Ort Krumke im Norden und der einstigen Residenzstadt Zeitz im Süden des Landes. Der damit verbundenen großzügigen Förderung ist es zu verdanken, dass die Anlagen denkmalschutz-gerecht wieder hergestellt, erhalten, gepflegt und touristisch vermarktet werden. Nur selten ist die Geschichte einer Stadt so eng mit der eines Parks verbunden wie in Tangerhütte. Aber jede der Gartentraum-Stationen kann eigene Geschichten erzählen.

Claus Mangels kennt sie alle. Wenn der Vorsitzende des För-dervereins über das Projekt, dessen Anfänge bis ins Jahr 1999 zurück reichen, berichtet, blüht er auf. Mit besonderem Enthu-siasmus schwärmt er vom jüngsten Projektkind, den Domgär-

ten in Naumburg, die zwischen 2009 bis 2011 rekultiviert und neu gestaltet wurden, sowie vom Ensemble der Blankenburger Schlossgärten, mit rund 107 Hektar einem der größten und mit der Entstehung um 1668 einem der ältesten in Sachsen-Anhalt. Seit dem 17. Jahrhundert war der Harzort Nebenresidenz der Herzöge zu Braunschweig-Lüneburg. Anfang des 18. Jahrhun-derts wurde die Grafschaft Blankenburg zum Reichsfürstentum und damit zu einer kleinen selbständigen Residenz ausgebaut. Aus dieser Zeit sind das Große und Kleine Schloss (hier ist die Bezeichnung durchaus wörtlich zu nehmen), sowie die Grund-struktur des Schlossparks mit dem Tiergarten, der Orangerie, dem Fasanengarten, dem Terrassengarten und dem Berggar-ten erhalten geblieben. Von der einstigen Pracht war lange Zeit nicht viel zu spüren. Erst durch das Gartentraum-Projekt erblüh-te die Anlage zu neuem altem Glanz. u

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So unterschiedlich wie die Regionen des Landes, so unterschiedlich sind die Parks und Gärten. Barocken Glanz vermittelt Schloss Hundisburg mit seinem Park, von industriellem Reichtum kündet die Fabrikantenvilla im Tangerhütter Park.

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Idylle pur lässt sich bei einem Bummel durch den historischen Schlosspark Ballenstedt erleben.

Geboren wurde die Idee nach der Bundesgartenschau in Mag-deburg, als die Frage nach einem Nachnutzungskonzept für das Areal stand. Das Ziel: Das frühere Gartenschaugelände sollte nicht nur zu einer modernen Parkanlage entwickelt, sondern auch mit den anderen Parks und Gärten im Lande vernetzt wer-den. Immerhin hat Sachsen-Anhalt mit nahezu 1 000 Gärten und Parks ein deutschland- und europaweit einmaliges histo-risches und kulturelles Erbe zu bieten, das es zu nutzen galt. „Viele Anlagen waren anfangs alles andere als ein Gartentraum, eher ein Alptraum“, erinnert sich Mangels. Doch nicht nur er erkannte, welcher Schatz in ihnen schlummerte. Beim Landes-wirtschaftsministerium rannten die „Garten-Träumer“ mit ih-rem Anliegen offene Türen ein.

Inzwischen wurde der Traum zur Realität. Seit 2006 gehört das Projekt „Gartenträume“ zu den vier touristischen Markensäulen des Landes. Die ausgewählten Gartenanlagen umfassen die ganze

Bandbreite der Gartenkunst - vom mittelalterlichen Klostergarten in Drübeck, über Barockgärten und Landschaftsparks vergangener Zeiten bis zu dem noch im Entstehen befindlichen Landschafts-park Goitzsche bei Pouch im Landkreis Anhalt-Bitterfeld.

Bis auf das weltberühmte Dessau-Wörlitzer Gartenreich und das Sangerhäuser Rosarium waren alle anderen touristisch kaum erschlossen und überregional weitgehend unbekannt. Rund 50 Millionen Euro wurden investiert, um die Parks und Gärten aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Lokalpolitiker vor Ort (die meisten Anlagen sind in kommunalem Besitz) und zahlreiche ehrenamtliche Helfer setzen sich für das Projekt ein. Maßgeblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte haben Sponso-ren wie Lotto Sachsen-Anhalt, die Allianz-Umweltstiftung, die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die Stiftung Umwelt, Natur- und Klimaschutz Sachsen-Anhalt und nicht zuletzt die Sparkas-sen des Landes.

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Stationen des Landesprojekts Gartenträume – Historische Parks und Gärten in Sachsen-Anhalt“

1. Schloss und Schlosspark Krumke, Osterburg2. Wallanlagen Gardelegen3. Stadtpark Tangerhütte4. Herrenhaus und Gutspark Briest, Tangerhütte5. Gutshaus und Gutspark Seggerde6. Schloss und Schlosspark Harbke7. Schloss und Barockgarten Hundisburg, Landschaftspark Althaldensleben8. Herrenkrugpark und Elbauenpark an der Elbe, Magdeburg9. Stadtpark Rotehorn an der Elbe, Magdeburg11. Schloss Wendgräben mit Park, Möckern12. Kloster und Klostergarten Drübeck13. Schloss und Schlossgärten Wernigerode14. Landschaftspark Spiegelsberge, Halberstadt15. Schloss und Schlossgärten Blankenburg (Harz)16. Stiftsgärten, Quedlinburg17. Roseburg, Rieder18. Schloss und Schlosspark Ballenstedt19. Gärten und Parks in Aschersleben20. Landschaftspark Degenershausen21. Schloss und Schlossgärten Stolberg22. Europa-Rosarium Sangerhausen23. Schloss und Schlosspark Köthen24. Schloss und Schlossgarten Mosigkau, Dessau-Roßlau25. Kühnauer Landschaftspark, Schloss und Schlossgarten Großkühnau, Dessau-Roßlau26. Schloss Georgium, Georgengarten und Beckerbruch an der Elbe, Dessau-Roßlau27. Schloss und Park Luisium, Dessau-Roßlau28. Sieglitzer Berg an der Elbe, Vockerode29. Wörlitzer Anlagen30. Schloss und Schlossgarten Oranienbaum31. Schloss und Schlosspark Reinharz32. Irrgarten im Gutspark Altjeßnitz33. Landschaftspark Goitzsche, Pouch34. Schloss und Schlosspark Ostrau35. Reichardts Garten, Halle (Saale)36. Amtsgarten an der Saale, Halle (Saale)37. Botanischer Garten, Halle (Saale)38. Schloss und Park Dieskau39. Historische Kuranlagen und Goethe-Theater Bad Lauchstädt40. Dom, Schloss und Schlossgarten Merseburg an der Saale41. Schloss und Schlosspark Burgscheidungen an der Unstrut42. Dom und Domgärten Naumburg43. Schloss und Schlosspark Moritzburg, Zeitz

„Die Sparkassen in Sachsen-Anhalt engagieren sich als regional ausgerichtete Kreditinstitute insbesondere für die Stärkung des regionalen Wirtschaftsstandortes und für ein vielseitiges ge-sellschaftliches Leben der Menschen in den Kommunen bis in die kleinste Gemeinde. Die Übernahme gesellschaftlicher Ver-antwortung schließt das Engagement vor Ort ein“, begründet Projektkoordinator Klaus Westphal die Förderung. Die örtlichen Sparkassen arbeiten darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen mit den Trägern der „Gartenträume“ zusammen, sei es beim eh-renamtlichen Engagement oder bei der gemeinsamen Umset-zung von weiteren Projekten. Jüngstes Beispiel: Zum Saisonstart 2013 helfen die Sparkassen durch ihr Sponsoring, ein einheit-liches Informationstafelsystem für die Gartenträume-Parks zu schaffen. „Wir freuen uns, damit einen wesentlichen Beitrag zur weiteren touristischen Vermarktung dieses weit über die Gren-zen Sachsen-Anhalts einmaligen Vorhabens zu erbringen, mit dem Besucher und Gäste wichtige Hinweise zu den Gartenan-lagen und Parks aber auch zur Region erhalten. Somit schließt sich der Kreis des regionalen Engagements“, so Klaus Westphal.

Kreise ziehen die Gartenträume aber auch über die Landes-grenzen Sachsen-Anhalts hinaus. Das Projekt war nicht nur das erste landesweite dieser Art in Deutschland, sondern ist im Rahmen des Gartennetz Deutschland e.V. beispielgebend für viele andere Initiativen, berichtet Mangels. Auch internatio-nal machen Sachsen-Anhalts Parks und Gärten von sich reden. Inzwischen bestehen Kontakte zwischen dem Gartenträume-verein und ähnlichen Initiativen in Österreich, Litauen, im Elsass und in der polnischen Region Masowien. Im vergangenen Jahr wurden die Wörlitzer Anlagen, das Europa Rosarium Sanger-hausen und die Barocken Gärten Blankenburg mit dem „Green Flag Award“, dem aus Großbritannien stammenden Quali-tätssiegel für Parks und Gärten, ausgezeichnet. „Die sachsen-anhaltischen Parks können sich mit den bekannten englischen Gärten messen. Dass im bundesweiten Vergleich aus Sachsen-Anhalt mit drei Anlagen die meisten Preisträger kommen, zeigt das großartige Engagement unserer Parkeigentümer. Ihrem Anspruch, den Gästen beste Qualität zu bieten, werden sie gerecht“, ist Vereinsvorsitzender Claus Mangels begeistert. n

Ö www.gartentraeume-sachsen-anhalt.de

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China boomt. Das bevölkerungsreichste und viertgrößte Land der

Erde ist hungrig – vor allem nach Know-how. Nützliche Fähigkei-

ten und Wissen über prozedurale Vorgänge sollen auch aus Sach-

sen-Anhalt kommen. Vor allem in Sachen Logistik und Bauwesen

kann sich Goliath von David noch was abschauen.

China ist ein Riese. Ein echter Goliath. Die Volksrepublik giert nach Ressourcen und Wissen. Bis vor ein paar Jahren war Chi-na selbst noch ein David. Ein wirtschaftlicher Winzling, der nun auf dem Weg ist, eine Weltmacht zu werden. Die deutsche Wirt-schaft profitiert von diesem Wachstum. Verflechtungen mit dem viergrößten Land der Erde werden angestrebt, weil es die eigene Konjunktur ankurbelt. Das deutsche Exportvolumen in die asiatische Volksrepublik ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Vorjahr auf vorläufig 66,6 Milliarden Euro angestiegen, 2009 betrug es nur etwa die Hälfte. China ist in-zwischen die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde und dem Spitzenreiter USA dicht auf den Fersen. Seine Fühler streckt das Land auch nach Sachsen-Anhalt aus. Im Fokus der Asiaten: die Themen Logistik, Stadtentwicklung, nachhaltiges Bauen und der Umgang mit dem Megatrend Demografie.

Konkret intensivieren die Verantwortlichen aus Sachsen-Anhalt gerade die Zusammenarbeit mit der Provinz Fujian. Ein Landes-teil im Südosten Chinas, der das ostdeutsche Bundesland bei allen Zahlenvergleichen deutlich aussticht. Fujian ist ungefähr sechsmal größer als Sachsen-Anhalt. Auf einen Quadratkilome-ter wohnen fast 300 Menschen. Die Gesamtbevölkerungszahl wird mit rund 36,3 Millionen angegeben – in Sachsen-Anhalt sind es gerade einmal 2,3 Millionen. Und doch ist man in der Volksrepublik auf das kleine, deutsche Bundesland aufmerksam geworden. Mitte Mai reiste eine achtköpfige Delegation von Magdeburg aus zu einem Arbeitsbesuch in die Provinz Fujian und nach Shanghai. Mit dabei waren Thomas Webel, Sachsen-Anhalts Minister für Landesentwicklung und Verkehr sowie Siegfried Zander, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Magdeburg und zustän-

dig für Raumordnung, Verkehr und Tourismus. „Es ging um eine erste Markterschließung und das Abklopfen der Rahmenbedin-gungen“, bringt es Zander auf den Punkt. „Wir haben kein Geld nach China getragen. Ganz im Gegenteil: Dort will man unser Know-how und darauf sind wir stolz.“

Längst den Fuß in der Tür

Die Grundlage bildet ein Kooperationsabkommen zwischen der Provinz Fujian und Sachsen-Anhalt, das vor etwa einem Jahr un-terzeichnet wurde. Beide Partner vereinbaren darin, sich in Zu-kunft in den Bereichen Bau, Verkehr und Landesentwicklung zu unterstützen. Höchste Zeit, dieses allgemein gefasste Ziel mit Leben und konkreten Ansätzen einer fruchtbaren Zusammen-arbeit zu füllen. „Wir haben ja längst den sprichwörtlichen Fuß in der Tür“, sagt Zander. „Trotz der großen Entfernung und der Größenunterschiede sind wir auf Augenhöhe und gut beraten, das Interesse der Chinesen an allem, was Wachstum, Effizienz und Nachhaltigkeit nach sich zieht, zum beiderseitigen Vor-teil zu nutzen.“ Unternehmen wolle die IHK freilich nicht nach China treiben, aber als Vermittler fungieren. „Wir wollen unser Netzwerk nutzen und einfach schauen, was wir anschieben und vorantreiben können“, sagt Zander.

Das „Zugpferd“ IBA hat immer noch viel Kraft

Die Chinesen sind „heiß“ auf die Ergebnisse der 2010 zu Ende gegangenen Internationalen Bauausstellung (IBA) „Stadtumbau in Sachsen-Anhalt“, den Umgang der hiesigen Experten mit den Themen „Landflucht“ und „Urbanisierung“ und peilen langfristig auch Kooperationen auf dem Hochschulsektor an. Auch Energie-effizienz spielt in der chinesischen Baubranche eine immer grö-ßere Rolle, ebenso wie logistische Dienstleistungen und ihre Ver-zahnung. Minister Thomas Webel sieht sich, ähnlich wie Siegfried Zander, in der Rolle des „Türöffners“. „Ich bin kein Wirtschaftsmi-nister, aber natürlich sehr daran interessiert, den geschlossenen Vertrag mit der Provinz Fujian mit Leben zu füllen.“ u

Das Leben der Zukunft gestalten: Goliath will von David lernen

Von Sabrina Gorges

Die Wirtschaftsgroßmacht China blickt nach Sachsen-Anhalt. Interessiert sind die Asiaten am Transfer von Wissen

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Die Delegation aus Sachsen-Anhalt zu

Besuch auf der Messe für Kreatives Design in Fuzhou. Gerhard

Bertram und Siegfried Zander von der IHK

Magdeburg, Minister Thomas Webel und Hergen Hanke von

der Umschlags- und Handelsgesellschaft Haldensleben mbH (von li. nach re.) in-

formierten sich auch über Neuigkeiten aus

der Transport- und Logistikbranche.

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Immerhin legte er anlässlich der 5. Internationalen Fachmesse für Logistik, Telematik und Transport vom 5. bis 7. Juni 2012 in Shanghai den Grundstein. „Wir haben laut getrommelt, aber schnell festgestellt, dass man dort schon längst auf Sachsen-Anhalt aufmerksam geworden war“, erinnert sich Webel.Einen entscheidenden Beitrag dazu leistete der „Barcelona FAD Award“ für die IBA, der im Februar 2011 verliehen wurde. Ein kleiner Stein, der große Wellen schlug. „Die IBA hat nicht nur in Sachsen-Anhalt für spürbare Veränderungen gesorgt, sondern auch die positive Außenwirkung erhöht“, betont Webel.

Greift das „Laubengangmodul“ in der Volksrepublik?

Läuft alles nach Plan, könnte in der fernen Volksrepublik schon bald das sachsen-anhaltische „Laubengangmodul“ Schule ma-chen. Das Pilotprojekt wurde im März dieses Jahres in Hallegestartet. Mit ihm soll der Nachweis gelingen, dass es auch in Häusern des industriellen Wohnungsbaus möglich ist, aus-schließlich in den oberen Etagen barrierefreie Zugänge in die Wohnungen zu schaffen. Sogenannte Laubengänge, also außen liegende Erschließungs- und Wandelgänge, machen es mög-lich. Kombiniert mit einer ebenerdigen Außenaufzugsanlage müssen oben liegende Wohnungen „in der Platte“ nicht mehr zwangsweise verlassen werden, weil Treppensteigen vor allem für Senioren nicht mehr möglich ist. Und: Für den Vermieter halten sich die Investitionen in Grenzen, weil nur ein Teil des Bestandes bedarfsgerecht umgebaut werden muss. Eine in-telligente Lösung – und eines von vielen IBA-Ergebnissen. Die werden übrigens mittlerweile vom Kompetenzzentrum Stadt-umbau verwaltet und nach Möglichkeit realisiert. „Ich wünsche mir eine lebhafte Zusammenarbeit zwischen dem Kompetenz-zentrum, der IHK und den Machern in China“, sagte Webel. „Stadtumbau ist auch dort ein viel diskutiertes Thema.“ Und es gibt weitere Ansätze: Magdeburg fungiert als Beispiel für das auch in China sehr aktuelle Thema „Leben am Fluss“ und Sachsen-Anhalt bringt sich als Projektpartner in die Umgestaltung eines mehr als 200 Jahre alten Gebäudes im alten Ming-Viertel Fuz-hous ein. Dort, in der Provinzhauptstadt Fujians, soll eine Krea-tivwerkstatt entstehen. „Wieder sind es unsere Erfahrungen im barrierefreien Bauen, die wir hier einfließen lassen“, sagt Webel. In China steckt diese Art des Bauens noch in den Kinderschuhen.

Hafen Haldensleben als Vorbild für kombinierten Verkehr

Auf dem Logistiksektor hat der Hafen Haldensleben nun die Brü-cke nach China geschlagen. Die dortige Umschlags- und Han-delsgesellschaft mbH (UHH) will künftig mit der Hafen-Gruppe in Fuzhou zusammenarbeiten. Der trimodale Standort Haldens-

leben am Mittellandkanal zählt zu den fünf wichtigsten Häfen in Sachsen-Anhalt. Die jetzt geschlossene Zusammenarbeit sieht vor allem Technologietransfer vor, verliert aber auch das große Ganze nicht aus den Augen. „Das Hafen-Management in Fuzhou kann seine Kunden darüber informieren, welche Möglichkeiten und Vorteile der Transport auf Sachsen-Anhalts Wasserwegen von Hamburg ins Binnenland bringt“, sagt Webel. Viel zu viel laufe derzeit noch über den Hafen Rotterdam, was oft länger, teurer und damit ineffizienter ist. Auch die Tatsache, dass Haldensleben sich als „Full-Service-Hafen“ einen Namen gemacht hat, punktet bei den Chinesen. Die Experten der UHH kümmern sich von der Zoll-abfertigung in Hamburg, über den Transport vom See- zum Bin-

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Minister Thomas Webel erläutert einem Mitarbeiter des Bauministeriums der Provinz Fujian das Prinzip

der „Laubengangmodule“ an Gebäuden.nenhafen bis hin zur Entladung, Lagerung und Weitertransport praktisch um alles – wenn es gewünscht ist. Dem vehementen politischen Streben in Sachsen-Anhalt, künftig mehr Verkehr von der Straße aufs Wasser zu verlagern, kommt das sehr entgegen. Wie geht es nun in und mit China weiter? Siegfried Zander ist motiviert. „Wir haben eine Einladung zu einer Baumesse im Juni nächsten Jahres erhalten. Es geht darum, ein Passivhaus vorzu-stellen. Damit gehen wir den Weg weiter und erschließen uns neue Aktionsgebiete.“ In der IHK wird die Messeteilnahme derzeit geprüft. Allgemein stehen die Zeichen auf Kontinuität. Nicht um-sonst hat sich die Delegation vor ein paar Wochen mit den Wor-ten „Wir kommen wieder!“ vom Riesen China verabschiedet. n

Ö www.mlv.sachsen-anhalt.de

Ö www.magdeburg.ihk.de

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Logistik

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Elbe in KettenDas dritte Leben eines ausgedienten Schleppschiffs

Von Rainer Lampe

„Hätten wir gewusst, was uns erwartet, wir hätten wohl die Finger davon gelassen“, sagt Dr. Reinhard Kuhne. In der Tat, es war ein verwegenes Unterfangen. Doch wer das Ergebnis bestaunt, sagt sich: „Gut, dass die sich da rangewagt haben“. Das sieht Kuhne ja längst auch so. Der promovierte Ingenieur ist Chef eines ungewöhnlichen Un-ternehmens namens GISE. Den Namen kennen viele in Mag-deburg, ohne zu ahnen, wofür das Kürzel steht: Gesellschaft für Innovation, Sanierung und Entsorgung mbh. Bei der GISE arbeiten nur Leute ohne Job, und immer nur befristet, bis ihre Fördermaßnahme ausläuft. Besonders Frauen, Jugendliche, ältere und schwer vermittelbare Menschen, also vorwiegend jene, denen die meisten Arbeitgeber nicht viel zutrauen.Kuhne sieht das anders. Er erlebt es anders. Die Leute von der GISE haben schon die tollsten Sachen gemeistert, Aufgaben, an denen selbst Spezialisten scheiterten. Beim Ausbau der geschichtsträchtigen Festung Mark und der Lukasklause

in Magdeburg, bei der Sanierung von historischen Land-maschinen, beim Radwegebau, bei der Rekonstruktion der meisten Zeugen des Magdeburger Maschinenbaus im Tech-nikmuseum. Ohne die Leute von der GISE wäre Magdeburg um manche Attraktion und viele Sehenswürdigkeiten ärmer. Wenn das alte Schiffshebewerk in diesem Sommer wieder in Betrieb geht, wenn die Hubbrücke über die Elbe wieder be-gehbar wird, hat auch die GISE ihren Anteil.

Statt Kajüten Badekabinen

Das wagemutigste Projekt war unbestritten die detailge-treue Rekonstruktion und Restaurierung eines ausgedienten Elb-Kettenschleppdampfers, der „Gustav Zeuner“. Ketten-schlepper stehen für eine ganz spezielle Epoche der Elbschiff-fahrt. Die „Zeuner“ gilt damit als einzigartiges technisches Denkmal für Erfindergeist und Ingenieurskunst.

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1894 wurde die „Gustav Zeuner“ als erster Kettenschleppdamp-fer der zweiten Generation dieses Schiffstyps in Dresden-Übigau gebaut. Von 1895 bis 1931 verkehrte sie auf der Elbe. Weitere Schiffe fuhren bis 1945, die Kettenschiffahrt war da längst schon technisch überholt. Die „Zeuner“ wurde in Magdeburg-Fermersleben an Land geholt. In ihrem zweiten Leben trug sie die Kabinen einer Elb-Badeanstalt, später öffnete eine Gast-stätte auf ihrem Deck. Dann war es vorbei mit dem Baden in der Elbe. Der alte Kahn rostete vor sich hin, sehr zum Ärgernis für die große Schar der Freunde der historischen und aktuellen Elbschifffahrt.

Die Idee, die „Gustav Zeuner“ zu restaurieren, ist uralt. „Auch wir hatten den Dampfer ja schon lange im Blick“, räumt Dr. Kuhne ein. Wieder einmal stellte das Schicksal die Weichen: Das Grundstück an der Elbe, auf der die „Zeuner“ stand, wurde verkauft, der neue Besitzer wollte den Dampfer weg haben. Die bisherige Besitzerin suchte nach einer Lösung. Und die ARGE Jobcenter Magdeburg GmbH war an einem nachhaltigen Projekt, gerade mit Blickrichtung auf Jugend-liche, interessiert. Die Anfrage ging weiter zur GISE – ob sie sich solch ein Wagnis zutraue. „Wir haben uns tief in die Augen geschaut, lange überlegt – und Ja gesagt.“ Von der Landeshauptstadt wurde mit dem Wissenschaftshafen der zukünftige Standort des Museumsschiffes bestimmt.

Schiffbauer-Rat aus Bremerhaven

Vier Jahre dauerte das Unterfangen, bis zu 30 Mitarbeiter waren monatlich damit beschäftigt. Aber: welches Unterfangen? Von der alten „Zeuner“ gab es eigentlich nur noch den Schiffsrumpf, und der war verrostet und teilweise zerstört. Die Schiffsruine war vollgemüllt. Es gab keine Zeichnungen, keine Konstrukti-onsunterlagen, keine Schiffbauspezialisten. Nach langer Suche fand sich einer in Bremerhaven, ein Pensionär, der von der Idee so begeistert war, dass er im ersten Jahr der Rekonstruktion einmal die Woche nach Magdeburg düste. Der Rumpf als Ganzes war weder zu Wasser noch über Land zu transportieren. Die Idee, den Schiffskörper in 15 Segmente zu zer-legen, konnte mit Pensionärs-Hilfe umgesetzt werden, da er die Erfahrung hatte, wo der Schneidbrenner anzusetzen war, um die Teile auch später wieder zusammenfügen zu können. Bauleiter war Harry Warzecha, ein alter Thälmannwerker. Ohne ihn wäre es wohl nichts geworden. „Der hat sich hier ein Denkmal gesetzt.“Ein Konstruktionsbereich wurde begründet, die Bauunterlagen der „Zeuner“ wurden quasi zum zweiten Mal erarbeitet. An die 40 junge Leute – von der ARGE Jobcenter Magdeburg „dele-giert“ – sollten die Schiffselemente entrosten. Das ist pure Hand-arbeit, und die geht an die Substanz. „Wir haben sie in einen Bus gesetzt, sind nach Bremerhaven gefahren, und dort haben wir ihnen gezeigt: so läuft das auch in einer Werft. Was wir von ihnen verlangen, ist keine Strafarbeit, das ist Tagwerk für Entroster. u

Erst Kettenschlepper, dann Badeanstalt mit Gaststätte, später nur noch ein rostendes Schiffswrack – die „Gustav Zeuner“ im Mai 2005 am Elbufer bei Magdeburg-Fermersleben.

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Erfolgsgeschichte

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Von der „alten“ Gustav Zeuner“ gibt es nur wenige Bilder. Dieses Foto erwies sich als wertvolle Vorlage bei der Rekonstruktion des Schiffes, denn am rostenden Schiffslaib erinnerte nur noch wenig an den Ketten-schlepper von einst.

Die „Zeuner“ ist das einzige nahezu vollständig erhal-ten gebliebene Relikt der Kettenschifffahrt auf der Elbe. Das Schiff war von 1895 bis 1931 auf der Elbe im Einsatz und befindet sich heute als Museums-schiff im Handelshafen Magdeburg.

Die Fahrt zeigte Wirkung: „Die Jungs haben einen guten Job gemacht, keiner hat gemurrt, die Arbeit verweigert, die ganze Truppe war voller Eifer dabei“, sagt Kuhne. Bummelei, Faulheit, er-höhter Krankenstand – nichts von alledem. „Keinerlei Probleme.“

„Das war hier Maschinenbau pur“

Verwundert das? Die Aufgabe war die reinste Herausforderung. „Die Älteren konnten beweisen, dass sie wirklich viel draufhaben. Die Jungen haben eine Menge dazugelernt von den Alten, keiner wollte sich ja eine Blöße geben.“ Die Fachkräfte, nach denen viele Firmen schreien, meint Kuhne, die gibt es. „Wir hatten sie. Ohne sie wäre das nie was geworden mit der Zeuner. Das hier, das war Maschinenbau pur. Oft mussten unsere Leute improvisieren und mit der Abdichtung des Decks in Eigenleistung sogar die Ver-fehlungen der eingebundenen Fachfirma, einer Jachtwerft aus Dresden, ausbügeln.“ Über 20 Prozent der „Hartz-4er“, die die „Zeuner“ wieder aufbau-ten, konnten in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. „Eine gute Quote“, weiß Kuhne aus jahrelanger Erfahrung. Dank der Förderung durch Jobcenter und Landeshauptstadt sowie des Einsatzes ortsansässiger Firmen liegt die neue, alte „Gustav Zeuner“ seit gut zwei Jahren im alten Handelshafen von Magde-burg, in der Nähe von rekonstruierten Schiffskranen und Schiffen. Das Museumsschiff öffnet sich mehrmals die Woche für Besucher.

Wie lange noch? Keiner weiß es. Als nächstes möchten die GISE-Leute hier auch noch eine Draisine einsetzen, mit der Touristen am Hafenbecken entlang durch den jetzigen Wissenschaftshafen zur „Zeuner“ pendeln können. An diesem Hafen-Standort wurden letztlich alle Segmente zusammengefügt. Der Dampfkessel der „Zeuner“ ist bauidentisch nachgebaut worden, die Dampfma-schinen und andere Teile des Innenlebens sind baugleich oder bauähnlich. Zusammengesucht überall in Deutschland, ein-satzbereit gemacht in Magdeburg. Die Kapitänskajüte soll bald noch nach historischem Vorbild nachgestaltet werden, auch die Mannschaftskabinen, eventuell auch die Kombüse. Dass die GISE so erfolgreich operiert, funktioniert nur im Zu-sammenspiel mit der Magdeburger Stadtverwaltung und dem hiesigen Jobcenter. Diese Besonderheit zeichnet Magdeburg aus. Andere Städte scheuen solch Engagement und den finan-ziellen Aufwand. Für die Stadt Magdeburg zahlt sich das Geld aber vielfach aus. Sie ist attraktiver für Einwohner und Gäste geworden. Größte Nutznießer sind allerdings wohl jene, die seit langem vergebens auf Jobsuche waren, so lange, bis sie an sich selber zweifelten. Wenigstens für einige Monate erfahren sie hier wieder, was sie wirklich drauf haben. Sie könnten es immer und überall beweisen – wenn man sie nur ließe…. n

Ö www.kettendampfer-magdeburg.de

Ö www.gise-md.de

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Eine Gemeinschaftsaktion von Sachsen-Anhalt-Magazin und radio SAW.

www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.dewww.radiosaw.dewww.wir-sind-sachsen-anhalt.de

Die Gruppe Silly, wurde 1978 in (Ost-)Berlin gegründet und

mit der Sängerin Tamara Danz populär. Mit Anna Loos als

Frontfrau feiert die Band seit 2006 neue Erfolge. Silly nahm

am Bundesvision Song Contest 2010 für Sachsen-Anhalt

teil und belegte dort den zweiten Platz.

„Wir lieben Sachsen Anhalt, wegen der Menschen, die dort leben, der guten Getränke, des guten Essensund des frühen Aufstehens!”

Wir sindSachsen-Anhalt

Foto

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„Rote Flagge! Rote Flagge! Abbruch! Abbruch!“ Mit Nachdruck ruft der Rennleiter in sein Mikrofon. Auf der Strecke in der Motor-sport Arena gab es einen Unfall. Auf einem der Monitore zoomt sich die Kamera an einen Reifenstapel in der Dreifachkurve gleich hinterm Start. Drei Autos hat es erwischt. Eines liegt auf der Seite, eines auf dem Dach, eines steht noch. Sofort läuft die Rettungs-maschinerie an. Das alles ist nur eine Übung, der Abschluss des aktuellen Ausbil-dungslehrgangs im Extrication Center. Extrication steht hier für die

Bergung von Rennfahrern nach einem Unfall. Dafür sind spezielle Kenntnisse nötig, die die Helfer an der Strecke in den drei Extri-cation Centern weltweit erwerben können: in Le Mans in Frank-reich, in Singapur und eben in Oschersleben. Dass das seit drei Jahren so ist, geht auf die Initiative des Magdeburgers Dr. Michael Scholz zurück. Der Orthopäde und Anästhesist ist Verbandsarzt des Deutschen Motorsport Bunds und Leitender Rennarzt der Formel I. Auch an seiner Heimatstrecke in Oschersleben führt er ab und zu noch die Regie übers medizinische Personal. Wenn es

Formel-1-Feeling in OscherslebenRetter für Europas Rennstrecken werden in der Börde geschult

Von Annette Schneider-Solis

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nicht mehr atmet. Dann müssen wir schneller sein.“ Für solche Fälle gibt es ebenfalls spezielle Szenarien, die auch in Oschersle-ben trainiert werden. Drei Tage lang dauert eine Ausbildung am Extrication Center in der Magdeburger Börde. Am Ende gibt es für alle Beteiligten ein Zerti-fikat, das die Inhaber berechtigt, in Extrication Teams bei allen Ren-nen der FIA eingesetzt zu werden. Alle zwei Jahre muss das Zertifi-kat erneuert werden.Die Rettungsübung mit allen Beteiligten am Ende des Drei-Tage-Lehrgangs ist ein Alleinstellungsmerkmal von Oschersleben. Dabei stellt sich heraus, wie gut alle Räder des Getriebes ineinandergreifen. Nach dem Abbruch durch den Rennleiter sind die Streckenposten als erste am Unfallort. Sie sprechen den Fahrer an, verschaffen sich schnell einen Überblick und ordern per Funk Verstärkung. Wenige Sekunden später stoppen die Wagen von zwei Extrication Teams. Notarzt Dr. Paris Kontokostas läuft von einem der verunglückten Wagen zum nächsten. Zwei der Verunglückten sind lebensgefähr-lich verletzt, einer schwer. Der Schwerverletzte muss warten, denn es sind nur zwei Teams mit zwei Ärzten vor Ort. Ein Vorderlader wird herangeholt, soll den Reifenstapel von einem der Autos heben. In dem Moment bricht der Leiter der Streckensicherung die Übung ab.Falk Conrad ruft die Helfer zusammen. „Ich habe die Übung ab-gebrochen, weil sie so nicht erfolgreich gewesen wäre“, erklärt er den Umstehenden. „Da war zu schlecht koordiniert. Und warum muss denn schwere Technik geholt werden? Den Reifenstapel hät-te man auch per Hand bewegen können.“ Falk Conrad gibt wei-tere Hinweise. „Vor allem muss hier jemand den Hut aufhaben“, sagt er bestimmt. „Ich habe beobachtet, wie jeder, der ankommt, erstmal hilfesuchend umher geschaut hat, wen er ansprechen kann! Das darf nicht sein.“Das Problem bei dieser Übung: die Teams kommen von verschie-denen Rennstrecken und sind nicht eingespielt. „Das darf man aber nicht merken“, sagt Falk Conrad nachdrücklich. „Im Ernstfall fragt auch keiner danach.“ Alles auf Anfang. Die Unfallopfer steigen wieder in ihre Fahrzeuge, Beobachter und Helfer beziehen ihre Position. Die gleiche Übung. Diesmal klappt es. Alles läuft fast optimal. Man sieht: hier sind Pro-fis am Werk. Vom Befreien der Fahrer bis hin zur Erstbehandlung im Medical Center, wo die Unfallopfer von den dortigen Ärzten und Assistenten übernommen werden, ist eine reibungslose Ret-tungskette aufgebaut. Es ist eine eindrucksvolle Schau. Doch wie realistisch sind sol-che Unfälle an der Rennstrecke? „Unfälle mit vielen Verletzten sind nicht so häufig, aber sie kommen vor“, sagt Michael Scholz. „Sicher bauen wir hier einige Schwierigkeiten ein, aber im Ernst-fall müssen wir darauf vorbereitet sein.“ n

Ö www.motorsportarena.de

seine Zeit zulässt, denn Michael Scholz ist eigentlich ständig un-terwegs, als Rennarzt an den wichtigsten Rennstrecken der Welt, als Mitglied der Medizinischen Kommission des internationalen Verbands für den Autorennsport, die FIA.„In Oschersleben haben wir sehr gut ausgebildetes Rettungsper-sonal“, erzählt Scholz. „Als die FIA-Funktionäre bei einem Besuch gesehen haben, wie wir hier arbeiten, entstand die Idee, hier ein Extrication Center aufzubauen. Damals gab es nur Le Mans, und das musste dringend entlastet werden.“An der Ausbildung nehmen Rettungskräfte von allen deutschen Rennstrecken und aus dem Ausland teil, diesmal aus Österreich und der Slowakei. Die Helfer sind vor allem erfahrene Notärzte und Rettungsassistenten. In Oschersleben werden sie wie die Fahrer der Medical Cars und Streckenposten mit den Besonderheiten bei der Rettung Schwerstverletzter aus Rennwagen ausgebildet. Sie kom-men immer dann zum Einsatz, wenn bei den verunglückten Fah-rern Verletzungen an der Wirbelsäule vermutet werden.„Es ist relativ leicht, die Fahrer aus Formel-1-Boliden zu bergen“, erklärt Michael Scholz anhand des Boliden, der für die Übungen in der Box steht. „Dort haben die Rettungskräfte Platz und heben den Fahrer einfach samt Sitz heraus.“Schwieriger wird es bei GT-Fahrzeugen. Die sind so vollgestopft mit Technik, dass die Retter auf engstem Raum agieren müssen. Dabei müssen sie extrem vorsichtig sein, um dem Verletzten nicht zusätzlich Schaden zuzufügen.In der Box stehen verschiedene Fahrzeugtypen, an denen geübt wird. Die Rettungsteams bestehen jeweils aus einem Notarzt und fünf Assistenten. Die Ausbilder kommen von allen großen Rennstre-cken in Deutschland und verfügen über jahrelange Erfahrung an der Strecke. Sie geben Hinweise, erklären, beobachten, stoppen die Zeit.Die Teams haben gewechselt. Das Extrication Team vom Nürburg-ring postiert sich startbereit um einen VW Lupo. Das Auto ist wirk-lich nicht groß, aber für die Retter noch weit komfortabler als ein GT-Fahrzeug. Das „Unfallopfer“ hat den Helm aufgesetzt und hin-term Lenkrad Platz genommen. Der Ausbilder gibt das Startsignal. Die Retter wissen genau, was zu tun ist, jeder hat seinen Platz. Zwei Assistenten reißen die Beifahrertür auf, der Notarzt kniet neben der offenen Fahrertür, spricht den Fahrer an. Immerhin: er reagiert. Ein zweiter Assistent beugt sich über den Notarzt zu dem Fahrer hinein. Der Notarzt stützt mit den Händen den Hals des Fahrers, der Assis-tent hinter ihm nimmt vorsichtig den Helm ab. Von hinten reicht einer der Assistenten ein KED ins Auto, ein Stützkorsett für die Wir-belsäule. Vorsichtig wird es zwischen Rücken und Fahrersitz gescho-ben. Mitsamt Korsett wird der Fahrer aus dem Auto herausgehoben und auf eine Trage gelegt. Der Ausbilder schaut auf die Stoppuhr. Er ist zufrieden. Weniger als fünf Minuten haben die Helfer gebraucht.„Es gibt auch Situationen“, kommentiert Michael Scholz, „in de-nen bleibt nicht soviel Zeit. Wenn ein Auto brennt oder der Fahrer

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Von Klemens Gutmann, Geschäftsführer der regiocom GmbH und Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Sachsen-Anhalt

Die Energiewende hat eine Reihe weithin bekannter Auswir-kungen auf Herz, Hirn und Geldbeutel. Die Abschaltung der Atomkraftwerke ist sicher gut für wahlweise Herz oder Hirn, aber schlecht für den Geldbeutel. Die Windmühlen und Solar-zellen sind gut für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt damit verdien(t)en, darunter viele Sachsen-Anhalter.Gleichzeitig sind sie schlecht für diejenigen, die die EEG-Umlage mit der Stromrechnung bezahlen müssen, also alle Sachsen-Anhalter. Insgesamt weniger erfreulich für Herz, Hirn und für den Geldbeutel ist der Netzausbau hin zu stärkeren Nord-Süd-Verbindungen, zu mehr intelligenten Zählern und zu mehr dezentraler Erzeugung. Der Netzausbau wird sich wenn, dann erst langfristig lohnen. Dann aber möglicherweise in deutlicher Form, er könnte eine der nicht allzu vielen Dinge sein, bei de-nen die nachfolgende Generation eine echte Rendite vom infra-strukturellen Erbe der dann Altvorderen hat.

Kaum bekannt: Die Energiewende hat eine beträchtliche Zahl an neuen Aufgaben und Geschäftsfunktionen erzeugt, die es vor 15 Jahren überhaupt noch nicht gab. Diese sind heute in Deutsch-land Alltag und geben da vielen hundert und in der Summe auch Tausenden Menschen Arbeit und Brot – ein Brot, das jedoch aus dem Effizienzgewinn des Energiesystems als Ganzem heraus erwirtschaftet werden muss. Der Artikel führt eine Reihe dieser neuen Geschäftsfunktionen auf, skizziert die damit verbundene Wertschöpfung und nennt Beispiele für diejenigen, die diese Ni-sche besetzen und damit von der neuen Funktion profitieren.Wir blicken dazu auf den gesamten Weg des Stroms, vom Kraft-werk über die Netwerke bis hin zum Hausanschluss:

Schon vor ihrer Erzeugung ist jede Kilowattstunde vielfach verplant und mehrfach gehandelt worden. Früher plan-te ein regionales Verteilnetz, ein Hoch- oder Höchstspan-nungsnetz vergleichsweise „einfach“ seinen Bedarf und be-stellte dementsprechend bei den Kraftwerken. Heute wird dies über einen komplexen Marktmechanismus geregelt. Großkraftwerke bieten ihre Erzeugung zeit- und leistungs-bezogen in Form von Bändern oder Paketen an der Leip-ziger Strombörse an. Für unvorhersehbare Spitzenlasten

gibt es einen separaten Markt für die sogenannte Regel-energie, mit der die Spannungsstabilität sichergestellt wird.Mit der Leipziger Strombörse EEX ist eine europaweit agie-rende Handelsplattform mit 120 Mitarbeitern entstanden. Mehrere Systemhäuser bieten aufwändige Handelslösungen für diese Börse und für das Management der nun komplex strukturierten Beschaffungsportfolios. Ein größeres Stadtwerk muss in sein Portfoliomanagementsystem im Allgemeinen mehrere hunderttausend Euro investieren, bei den Konzernen sind es Millionen.

Die neuen dezentralen Einspeiser sind nur zum Teil steuerbar und oft unkalkulierbar. Für Windräder und Solaranlagen kann man mit Hilfe von Wetterprognosen einige Tage in die Zukunft planen. Hinzu kommt, dass das deutsche Stromnetz über Jahr-zehnte von einer begrenzten Zahl von Großkraftwerken versorgt wurde, die Zahl und Lage der Dezentralen (meistens Wasser-kraft) veränderte sich nur langsam. Seit 15 Jahren wächst die Zahl der Windräder und Photovoltaikanlagen sprunghaft und schwer planbar. Die Wetterdienste (DWD, Meteoconsult etc.) vermarkten völlig neue Prognosedienste, die speziell auf die Bedürfnisse der Netz-betreiber ausgerichtet sind.Die Ablesung und Abrechnung von mehreren hunderttausend Einspeiseanlagen ist eine Herausforderung an die bestehenden Abrechnungssysteme. Spezialisierte IT-Unternehmen, unter ih-nen die regiocom GmbH, liefern Systeme zum Management der großen Menge an Einspeisedaten und Abrechnung der Einspei-sung. Besonders kompliziert ist die korrekte Umwälzung der EEG- und KWK-Umlagen.

Der Gesetzgeber hat eine sogenannte „Marktrollentrennung“ umgesetzt. Hier gibt es zum einen die verschiedenen Erzeuger (Kraftwerke, Einspeiser gemäß EEG und KWK, Regelenergie-erzeuger), die Netzebenen (4 Höchstspannungsnetze, Hoch-spannung, Mittelspannung und Verteilnetz), die Lieferanten, die eigentlichen Geschäftspartner des Energiekunden und die Messstellenbetreiber – diese mit der kleinsten Rolle im ganzen Spiel: die effiziente Beschaffung der Verbrauchsdaten.

Die Energiewende – Neue Aufgaben jenseits von Wind und Sonne

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Zwischen den 900 Stromnetzen und 700 Gasnetzen, den über 1 700 Lieferanten sowie den Messstellenbetreibern findet ein im-menser Datenverkehr statt. Monatlich wird für jeden der etwa 56 Millionen Hausanschlüsse ein Bestandsabgleich durchgeführt und eine Netzrechnung erstellt, geprüft und bezahlt. Das Wech-seln der Vertragsbeziehung in dieser „wohlorganisierten Kako-phonie“ des Datenaustausches ist nicht immer einfach.Auch hier haben sich Softwarespezialisten und Dienstleister erfolgreich etabliert. Einige von Ihnen kommen aus den neuen Bundesländern, so die SIV aus Rostock und Robotron aus Dresden. Auch regiocom ist erfolgreich mit einer Spezialanwendung aktiv.

Netzentgelte werden in einem komplizierten Antragsverfahren ermittelt. Die Bundesnetzagentur erhebt dazu von großen und mittleren Netzbetreibern in umfangreichstem Maße Daten. Für ein typisches Gasnetz werden gut und gerne 200 bis 300 Para-meter erhoben, für sämtliche Netzsegmente und in umfangrei-chen Zeitreihen. Der Bericht eines solchen Netzes kann gut und gerne 100 000 und mehr Einzelwerte beinhalten.Auch hierfür hat sich ein spezialisiertes Software- und Dienstleis-tersegment herausgeschält. In großen Netzunternehmen gibt es ganze Abteilungen, die sich ausschließlich mit der neuen Aufga-be des „Regulierungsmanagements“ beschäftigen. Die regiocom ist mit ihrer Lösung rcUTIL hier marktführend vertreten.

Die neuen Bundesländer und im besonderen Sachsen-Anhalt profitier(t)en von der Energiewende nicht nur in Sachen Wind-mühle und Solarpanel, sie sind auch bei Systemlösungen und spezialisierten IT-Dienstleistungen vorne mit dabei. Kein Seg-ment, in dem nicht Unternehmen aus Sachsen-Anhalt an der Spitze mitmischen – allen voran der Hallenser SAP-Spezialist GISA mit 500 Mitarbeitern und die Magdeburger regiocom GmbH, die allein in Sachsen-Anhalt über 1 500 Mitarbeiter beschäftigt. Mit der Leipziger EEX ist ein weiterer Mittelpunkt des liberalisierten Energiemarktes nur einen „Steinwurf“ weit von der Landesgrenzeentfernt.

Diese neuen Geschäftsfunktionen sind per se erst einmal Over-head, zusätzliche Gemeinkosten. Sie dienen der Verwaltung und werden auf die Kilowattstunde – ergo: den Verbraucher und Ge-schäftskunden – umgelegt. Inwieweit und an welcher Stelle sie den Energiemarkt effizienter und umweltfreundlicher machen, wird sich erweisen. Wenn der erhoffte Effizienz- und CO2-Gewinn eintritt, dann lohnt sich auch der beträchtliche zusätzliche Over-head. Gut in jedem Fall, dass Unternehmen aus Sachsen-Anhalt vorne mit dabei sind. n

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Visionen

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Personalchefin Ilona Fleck bespricht mit Mitarbeitern den Zeitplan für die Rückenschule.

„Legen Sie sich mit dem Bauch und den Oberschenkeln auf den Ball. Lassen Sie den Ball leicht unter sich kreisen. Jetzt die Arme nach vorn und die Beine bis in die Zehenspitzen strecken. Nun das rechte Bein anheben – entspannen Sie sich.“ Uff. Nach der ersten halben Stunde Rückenschule spüren die Teilnehmer Muskeln, von denen sie gar nicht wussten, dass es sie gibt. Phy-siotherapeutin Monika Engelbrecht aus Haldensleben scherzt aufmunternd. Sie ist im Rahmen des Betrieblichen Gesundheits-

managements der AOK Sachsen-Anhalt von der ROCKWOOL Mineralwolle GmbH Flechtingen engagiert worden, um den Betriebsangehörigen wieder ein (gutes) Gefühl für den eigenen Körper zu vermitteln. Wer nämlich weiß, welche Muskeln und Stellen in seinem Bewegungsapparat während der Arbeit über Gebühr beansprucht werden, verstehe den gezielten Ansatz der Übungen, erklärt die Therapeutin. Nach Gesprächen mit der Personalleiterin Ilona Fleck hat sie ein eigens auf den Betrieb

Rückenschule mit entspannendem Lernstoff für Muskeln und GelenkeDie ROCKWOOL Mineralwolle GmbH Flechtingen betreibt Betriebliches Gesundheitsmanagement

Von Kathrain Graubaum

40 Gesundheit

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ausgerichtetes Übungs-Konzept entwickelt. Beide freuen sich, dass schon zwei Kurse für die Rückenschule ausgebucht sind.

Personalchefin Fleck war 1977 als junge Frau in den kaufmän-nischen Bereich des Betriebes gekommen. Mit vielen der heute 270 Mitarbeiter ist sie entsprechend lange und gut bekannt. Sie kennen auch noch das „Früher“, das war in den 1980er DDR-Jahren. Da hatte sich der Flechtinger Betrieb des einstigen Zementkombinats Dessau auf die Produktion von Mineralwolle umgestellt. Seit 1991 gehört der Flechtinger Betrieb dem welt-weit agierenden ROCKWOOL-Konzern. „Zum Glück“, ist Perso-nalleiterin Fleck noch heute froh. Sie hatte in der Nachwende-Zeit auch andere Kauf-Interessenten erlebt, die mit Sicherheit den Produktionsstandort geschlossen hätten.

Auch bei der ROCKWOOL Mineralwolle GmbH Flechtingen hat die demografische Falle zugeschnappt. Der Altersdurchschnitt im Betrieb liegt mittlerweile bei 45 Jahren. „Da kommt es trotz guter Arbeitsbedingungen eben doch zur steigenden Zahl krankheitsbedingter Ausfälle“, musste die Personalchefin ge-rade in den letzten zwei Jahren erfahren. Auch an sich selbst registriert sie die typischen Verspannungsschmerzen durch das Arbeiten am Computer. Ilona Fleck verschafft sich allerdings Ausgleich: im Winter auf ihrem Laufband zu Hause und jetzt beim Walken im Wald. Allerdings ist sie da eher die Ausnahme. Hier wie anderswo gehen die meisten Betriebsangehörigen der Generation 40plus kaum aus eigenem Antrieb sportlichen Aktivitäten nach.

„Ich habe mich daran erinnert, dass uns schon in den 1990er Jahren die AOK ihr Betriebliches Gesundheitsmanagement vorgestellt hat“, sagt die Personalchefin und dass dies – den geringen Krankenstand vor Augen – damals nicht ganz oben stand auf der innerbetrieblichen Prioritäten-Liste. „Ja, so ist der Mensch nun mal. Er denkt nicht an Prophylaxe, wenn’s ihm gut geht…“, sagt Ilona Fleck und dass sich jetzt aber die Herz-Kreis-lauf-Erkrankungen häufen und jene, die mit dem Bewegungs-apparat zusammenhängen.Sie griff also zum Telefon und machte einen Termin mit Ver-tretern der AOK. Vor einem Jahr, im April 2012, unterschrieben beide Seiten eine Vereinbarung zum Betrieblichen Gesundheits-management. Darin sind Ziele vereinbart, die bis 2014 erreicht sein wollen. Und zwar nachhaltig. „Wir müssen uns den de-mografischen Veränderungen stellen“. Wer weiß besser als die Personalchefin, dass attraktive Arbeitsbedingungen geschaffen werden müssen – nicht nur für die älter werdende Belegschaft. Im Wettbewerb um junge Fachkräfte hat ein Betrieb mit „ge-sunder“ Unternehmensphilosophie Vorteile auf dem Markt.

Wo also sind bei der Steinwolle-Herstellung in Flechtingen die gesundheitsgefährdenden Stellen? Um dies herauszufinden, analysierten AOK-Experten zunächst die Arbeitsplätze und machten einen Rundgang durch den Betrieb. Am Anfang der Produktionsabfolge werden Basaltgestein und andere Rohstoffe bei über 1 000 Grad geschmolzen. Die Schmel-ze läuft dann auf eine Spinnmaschine mit extrem hohen Um-drehungen und wird dadurch zerfasert. u

Bei Gabelstaplerfahren werden Nacken und Schulter einseitig belastet.

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Gesundheit

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Ein starker Luftstrom sprüht sie in eine Sammelkammer. Durch Hinzuführung von Bindemitteln entsteht aus der Masse ein Vlies, das in der „Härtekammer“ bei über 200 Grad ausgehär-tet wird. Heraus kommt ein Dämmmaterial, das dem Kunden in unterschiedlichsten Formen und großer Sortimentsbreite angeboten werden kann. Auf der Konfektionierungsanlage entstehen unter anderem Montageplatten für den Schiffbau, Platten zur Außendämmung von Hauswänden oder für die Schornsteinisolierung. Auch begehbare Dachplatten mit ze-mentöser Deckschicht werden hier hergestellt.

Recken und Strecken – Physiotherapeutin Monika Engelbrecht (Mitte stehend) zeigt den ROCKWOOL-Mitarbeitern Techniken zur Stärkung der Muskulatur und zur Entlastung des Bewegungsapparates.

Aus der Befragung der Mitarbeiter und deren Begleitung zum Arbeitsplatz hätten sich Gefährdungsschwerpunkte in der Putzträgeranlage ergeben und bei den Gabelstap-lerfahrern, erzählt Ilona Fleck. Letztere müssen ein Großteil des Weges rückwärts fahren. Beim Zurückschauen über die Schulter werden Nacken und Schulter auf Dauer einseitig belastet. In der Putzträgeranlage werden die Platten für die anschlie-ßende Wärmebehandlung umgepackt. Die Abteilung ist eine der wenigen im Produktionsprozess, wo noch Muskel-kraft beansprucht wird. Rumpfbeugehaltungen unter Last gehen mit seitlichen Körperneigungen und -verdrehungen einher. Beim Einsortieren werden die Arme über Kopfhöhe gestemmt und die Handgelenke stark beansprucht.

„Während seiner Bewegungs- und Ergonomie-Analyse konnte der Begutachter auch individuell unterschiedliche Arbeitstechniken beobachten“, sagt Ilona Fleck. Bei einem Mitarbeiter zum Beispiel sahen die Arbeitsabläufe ganz leicht aus. Der hatte sich schon selbst entlastende Tech-niken zugelegt. Mit diesem Kollegen soll ein Video zur positiven Anschauung für die Mitarbeiter gedreht werden. Neben der fachlichen Anleitung zu kräfte- und rückenscho-nenden Techniken sind vom Bewegungs- und Ergonomie-berater auch spezielle Einzelanfertigungen von Hubtischen empfohlen worden.Im Gespräch mit den Gabelstaplerfahrern kam heraus, dass ihnen eine gelbe Linie auf dem Fußboden bzw. Spiegel unter der Hallendecke die Orientierung erleichtern würden. Emp-fohlen wird außerdem ein mehrmaliger Arbeitswechsel während der Schicht. Wenn nämlich ein Gabelstaplerfahrer zeitweise mit der stehenden Tätigkeit des Anlagenfahrers tauscht, könnte seine körperliche Belastung zeitlich verrin-gert werden.

In der nächsten Zeit gehen alle müden, gestressten und verspannten Muskeln nach der Arbeit in die Rückenschule. Physiotherapeutin Monika Engelbrecht hat sich die Arbeits-plätze genau angesehen, damit jeder Muskel seinen indivi-duellen Unterricht mit bedarfsgerechten Übungsabfolgen bekommt. Gute Entspannung! n

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Martin Schädler schreitet durch die Reihe der neu errichteten Experimentalanlage in Bad Lauchstädt. Dabei wirft er prüfen-de Blicke nach links und rechts. Frisches Grün sprießt auf den Parzellen. Jeweils fünf solcher Parzellen bilden einen Block, ins-gesamt zehn Blöcke stehen auf dem Gelände. Auf den ersten Blick wirkt die Anlage, als habe man die Glasfassade vergessen.

Doch auf den zweiten Blick erkennt der Besucher, dass Wände und Dächer einzelner Parzellen separat verschlossen werden können. Noch aber sind sie offen. In ihnen wächst auf den jeweils 16 mal 24 Meter großen Feldern Hafer. Fünfzehn Zenti-meter hoch sind die Pflänzchen zum Sommerbeginn. u

Dem Klimawandel einen Schritt vorausAuswirkungen der Erderwärmung werden in Bad Lauchstädt untersucht

Von Annette Schneider-Solis

Dr. Martin Schädler inmitten eines Haferfelds auf einer Versuchsparzelle.

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Umwelt

Page 44: sam. Sachsen-Anhalt-Magazin Ausgabe Juli 2013

Diese Anlage werte Sachsen-Anhalts Forschungslandschaft auf, sagte Wissenschaftsminister Hartmut Möllring bei der Einwei-hung im Juni.

Die Freilandversuchsanlage, die das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Bad Lauchstädt errichtet hat, ist keine gewöhnliche Gewächshausanlage. In der Global Change Expe-rimental Facility soll das wahrscheinlich weltgrößte Klimaexpe-riment durchgeführt werden. Die Wissenschaftler um Martin Schädler wollen untersuchen, wie die Klimaveränderungen bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf die vom Menschen ge-nutzten Ökosysteme wirken. Der Hafer soll erst einmal nur die Bodenverhältnisse angleichen, damit die Bedingungen in den Parzellen so weit wie möglich vergleichbar sind. Im Herbst wer-den hier die ersten Versuchspflanzen ausgesät. In jedem Block werden in den fünf Parzellen die gleichen Pflanzen angebaut: in einer Parzelle wird die konventionelle Landwirtschaft ihren Platz haben mit den Fruchtfolgen Raps, Weizen und Gerste.

In der nächsten Parzelle wird wie in der Ökolandwirtschaft bestellt. Hier ist die Fruchtfolge anders, wechseln sich Weizen, Gerste und Leguminosen ab. Es darf auch nicht mit Pflanzen-schutzmitteln gearbeitet werden. „Wir werden hier mit der Hacke ausrücken“, erzählt Martin Schädler und stellt noch die Pläne für die drei anderen Parzellen vor. „Dort wird Gras ausge-sät.“, erklärt der promovierte Biologe. Auf einer Parzelle wird eine Futtergrasmischung stehen, die intensiv, auf der zweiten eine Wildwiese, die extensiv, und auf der dritten eine Wiese, die extensiv bewirtschaftet und von Schafen beweidet wird.

„Die Pflanzen wachsen jeweils unter verschiedenen Klima-bedingungen“, erklärt Martin Schädler. „Die Bedingungen entsprechen den wichtigsten Vorhersagen der Klimaforscher.“ Verschiedene Prognosen liegen vor, aber in einem gleichen sie sich: Sie sagen höhere Temperaturen und vor allem im Frühjahr weniger Niederschläge voraus. Um diese Bedingungen herzu-stellen, werden einzelne Parzellen nachts geschlossen, so dass

„Mit der GCEF beginnt eine neue Ära von Langzeitversuchen am traditionellen Forschungsstandort Bad Lauchstädt“, erklärt Hartmut Möllring (Minister für Wissenschaft und Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt) zum Start der Freilandversuchsanlage in Bad Lauchstädt.

44 Umwelt

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sich die Luft in ihnen nicht so stark abkühlen kann. Auch Nieder-schläge können gezielt von den Parzellen ferngehalten werden. Eine Beregnungsanlage stellt sicher, dass das Wasser bei Bedarf in die Parzellen zurückgeführt werden kann. So lässt sich jedes nur denkbare Niederschlagsszenario nachstellen.Die Wissenschaftler wollen nun untersuchen, wie die Arten unter den veränderten Bedingungen miteinander interagieren. Wenigstens über einen Zeitraum von 15 Jahren. Das wurde, weiß Martin Schädler, bislang nur ansatzweise erforscht. „Es gibt Wechselwirkungen zwischen den Arten, die uns interessieren. Was ist mit den Bestäubern, was mit den Pflanzenfressern, wel-che Prozesse spielen sich im Boden im Wechselspiel mit Tieren und Mikroben ab?“ Jede einzelne Art reagiert auf den Klima-wandel, doch wie spielen sie dabei zusammen? Was geschieht, wenn etwa der Raps blüht, aber die Bestäuber noch nicht soweit sind? „Dann blüht die Pflanze umsonst“, schlussfolgert Martin Schädler. Es ist bekannt, dass sich Pflanzen auf längere Trockenperioden einstellen, indem sie mehr Zellulose ausbilden

und härter werden. Doch was bedeutet das für die Pflanzenfres-ser, was für die Symbiosen im Boden? Auch die Prozesse dort werden sich voraussichtlich verändern. Nährstoffflüsse werden andere sein, deshalb werden Bodenchemie und Bodenphysik untersucht. Dabei interessiert die Wissenschaftler, wie sich die Biomasse und die Erträge verändern, wie sich die Zusammen-setzung des Graslands entwickelt, aber auch, wie die Unkräuter reagieren. Möglich ist auch, dass sich neue Arten ansiedeln, vor-zugsweise Arten aus wärmeren Gefilden. Vielleicht werden sich Pflanzen auch genetisch verändern, mutmaßt Martin Schädler.

„Interessant wird auch sein, welche Rolle Pilze spielen“, blickt der Biologe voraus. „Wir wissen, dass sich Pflanzen mit den Myzelien verbinden, den fadenartigen Geflechten der Pilze unterm Boden. Sie helfen ihnen dabei, bei Trockenheit besser Wasser und Nährstoffe aufzunehmen und sich gegen Insekten zu schützen. Die Pflanze wiederum wirkt als Energiepumpe, gibt über ihre Wurzeln Energie in den Boden.“ u

Mithilfe von Infrarot-Spektroskopie werden Treibhausgase über dem Versuchsfeld gemessen.

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Umwelt

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Zusätzlich zum Langzeitexperiment werden einzelne Prozesse auch ganz detailliert unter die Lupe genommen. Dazu gehören Versuche mit unterschiedlichen Artengemeinschaften und eingewanderten Arten.

In dem Langzeitexperiment wollen die Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung herausfinden, ob die Symbiosen bei allen Landnutzungsarten gleich bedeutend sind, wo die Schaltstellen sitzen. Auf den Grasflächen werden um die 50 Pflanzenarten ausgesät. Ein eingespieltes Nahrungs-netz, wie es auf heimischen Wiesen wächst. Wird es besser in der Lage sein, sich auf Klimaveränderungen einzustellen? Die Ergebnisse werden nicht nur Landwirte interessieren. Sie sind auch für Politik und Naturschutz interessant. Die Wissen-

schaftler kommen aus unterschiedlichen Fachrichtungen und können anhand ihrer Untersuchungen konkrete Vorschläge zur Bewirtschaftung unterbreiten, aber auch wirtschaftliche Schlussfolgerungen beziffern.

„Was hier geschieht, ist Grundlagenforschung“, verdeutlicht Martin Schädler. Um die wissenschaftliche Koordinierung des Projekts zu übernehmen, hat er seine Stelle an der Uni Marburg aufgegeben, als ihn sein ehemaliger Kollege vom UFZ in Halle rief. Er musste nicht lange überlegen, um den Schritt zurück in die Heimat zu gehen. „Wer hat schon so etwas?“ beschreibt er mit dem Arm einen Bogen über sein Imperium. n

Ö www.ufz.de

Die Anlage mit einer Gesamtfläche von fast sieben Hektar (etwa 10 Fußballfelder) umfasst zehn Experimentierblocks mit jeweils fünf Parzellen. In ihnen werden unter-schiedliche Landnutzungstypen unter dem sich ändernden Klima getestet.

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Page 48: sam. Sachsen-Anhalt-Magazin Ausgabe Juli 2013

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