Sannyasin di Satprem - in Tedesco

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Satprem Vom Körper der Erde oder Der Sannyasin O Leser, Man nennt dies Phantasien. Dem möchte ich nicht widersprechen. Aber wenn meine Phantasien Dich innerlich weiten und unbeschwerter machen, So träume mit mir Und werde zu dem, was du schaust.

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Sannyasin di Satprem - in Tedesco

Transcript of Sannyasin di Satprem - in Tedesco

  • Satprem

    Vom Krper der Erdeoder

    Der Sannyasin

    O Leser,

    Man nennt dies Phantasien.Dem mchte ich nicht widersprechen.Aber wenn meine PhantasienDich innerlich weitenund unbeschwerter machen,So trume mit mirUnd werde zu dem, was du schaust.

  • Der Sannyasin ist die Geschichte einer Seelenreise, die sich in dreiZyklen entfaltet, in diesem Land oder einem anderen, uerlichin Indien, aber mit Anklngen des alten gyptens und des hohenNordens. Der Ex-Goldsucher und Abenteurer Nil hat alle Brckenhinter sich abgebrochen und befindet sich auf der Suche nachetwas anderem einem neuen Daseinsmodus des Menschen.Von Leben zu Leben wird er wieder mit denselben Umstndenkonfrontiert, begegnet seiner Gefhrtin, Mohini, Batcha, die erverlt, getrieben von einem unwiderstehlichen Drang. Als Wan-dermnch zieht er mit dem Sannyasin in einer endlosen Reisedurch innere und uere Welten und wird dabei immer nher anden Kernpunkt und Knoten seiner Bestimmung herangefhrt jenen Punkt, wo der Mensch die Wahl treffen mu zwischen derKatastrophe oder dem groen Durchbruch auf eine andere Ebe-ne. Am Ende entdeckt er die wahre Freiheit der Seele nicht auffernen, jenseitigen Gipfeln, sondern hier in der Welt als Sohndes Himmels vom Krper der Erde.

    Verlag W. Huchzermeyer ISBN 3-931172-00-7

  • SATPREM

    VOM KRPER DER ERDE

  • Eine Flamme, die den Todin sterblichen Dingen vernichtet

    Sri Aurobindo,

    Savitri

    O Feuer, du bist der Sohn des Himmelsvom Krper der Erde

    Rig-Veda, III.25.1

  • Satprem

    Vom Krper der Erde

    oder

    Der Sannyasin

    Eine ewige Geschichte

    Verlag Wilfried Huchzermeyer

  • Titel des franzsischen Originals:

    Par le corps de la terre

    ditions Robert Laffont, S.A., Paris, 1974

    Deutsche bersetzung: Wilfried Huchzermeyer

    ISBN 3-931172-00-7

    1995 fr die deutsche Ausgabe:

    Verlag Wilfried Huchzermeyer, Karlsruhe

    Druck: Auroville Press

    Printed in India Alle Rechte vorbehalten

  • Gewidmet

    Sri Aurobindo Mutter

    Batcha Indien

    wo ich im Herzengeboren wurde

  • Inhalt

    E

    RSTER

    Z

    YKLUS

    :

    Die Reise auerhalb des Selbstes

    I.

    Die Strae 13

    II.

    Die karmesinrote Insel 19

    III.

    Der Aufbruch 45

    IV.

    Die Reise durch die Hlle 56

    Z

    WEITER

    Z

    YKLUS

    :

    Die Reise in den weiten Raum

    V.

    Eine weie Insel 89

    VI.

    Und ein blauer Pfau 106

    VII.

    Der Tempel 119

    VIII.

    Der Mann der Geheimnisse 135

    IX.

    Batcha 153

    X.

    Der Kali-Felsen 163

    XI.

    Die Reise der Aalesund 178

    XII.

    Die Weibirke 197

    XIII.

    Drei Kauris fr die Gtter und eine fr Nichts 212

    XIV.

    Der Akazienwald 225

    XV.

    Wie Du Willst 236

    XVI.

    Selbst wenn ich sterbe 247

    XVII.

    Die schne Schlange 254

    XVIII.

    Die japanische Klinik 262

    XIX.

    Der Chandala und ich 279

    XX.

    Die Wiederkehr der Dinge 286

    D

    RITTER

    Z

    YKLUS

    :

    Die Reise im Gold der Nacht

    XXI.

    Der Sannyasin 301

    XXII.

    Was? 326

    XXIII.

    Die kleinen Fchse 339

    XXIV.

    Bhaskar-Nath 347

    XXV.

    Zu Spt 358

    XXVI.

    Die Vision 370

    XXVII.

    Sie 386

  • Erster Zyklus

    (nach vielen anderen)

    Die Reise auerhalb des Selbstes

  • Das Lied des Wanderers

  • O du, der du vorbeigehstAuf der Hauptstrae dieses kleinen PlanetenDu eilst, du eilstIn eine Zukunft hinein, die bereits warO Wanderer, der du dich nicht mehr erinnerstDu fhrst mehr als einen Akt aufGekleidet in Braun, in WeiIn Finsternis und FlitterMehr als einmal bist du den Weg gegangenZum einen selben FixpunktUnd du wiederholst dieselbe GesteUnter den Monsunen oder den WinternUnter den Teufeln, die mehr oder minder Gtter sindUnter den Gttern, die mehr oder minder wei sindDu wiederholst dieselbe GeschichteAls ob nichts je geschehen wreO Wanderer, der du nie vorbeigegangen bistDeine Geschichte ist ewigAuf meiner unfehlbaren StraeAuf der einen Seite mhst du dich ab ohne zu wissenAuf der anderen bist du Knig von alter ErinnerungIn Feuer gehllt und in LieblichkeitHast du nur die Wahl zu treffenO Wanderer auf der tausendjhrigen HauptstraeDu gehst wohin ich fhreSklave oder Knig, Snder oder Schlafwandler

    Man wechselt nicht die StraeMan ndert die Betrachtungsweise

    Es gibt keinen anderen Durchgang in einem LebenKeinen anderen AugenblickNur

    eine

    Geschichte von Zeitalter zu Zeitalter

  • Die Strae

    13

    I

    Die Strae

    Im brennenden Staub der heien Jahreszeit gingen sie auf einenHafen zu. Sie waren goldbraun von der ewigen Sonnenglut, undihre Augen funkelten wie das Licht in der Tiefe eines Brunnens.Sie gingen dicht hintereinander, wlzten ihre Lasten und ihreTrume, gekleidet in wei wie Pharaonen, oder nackt wie dieBronzen in ihren Tempeln; im Geruch von Weihrauchstbchenund Bffeldung gingen sie in Richtung Hafen. Es war in diesemZeitalter oder einem anderen, unter dem Kreisen der groenFischadler; es war in jenem Lande, wo die Sonne die Seelen wieTamarindenhlsen aufsprengt.

    The Eastern TradersShipping Company Limited

    Er war ein Weier. Sein Name war Nil. Seine Hnde fingertenan den Hosentaschen; er schaute nach rechts und nach links,ohne zu wissen, worauf er seinen Blick fixieren sollte, wie einSchimpanse. Sie war von hier; sie war schn und ernst in ihremweien Sari und schaute ihn reglos an.

    Du willst wirklich weg?Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn, als wollte sie eine

    Haarstrhne wegstreichen; Goldreife glnzten an ihrem Hand-gelenk.

    Morgen frh; das steht fest. Ich habe mein Gepck dortaufgegeben.

    Er fingerte wieder an seinen Hosentaschen.Jetzt, auf der Hauptstrae der Zeit, trat ich in diesen Mann ein;

    einmal mehr schlpfte ich in jene Rolle, verga alte Gesten und

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    14

    Wesen, die ich einst liebte, verga alte Worte zum Guten oderzum Bsen; nur getragen von jener kleinen ruhelosen Flamme,vielleicht immer derselben, und gezogen von Tausenden verlo-renen Erinnerungen durstig, immer durstig, ich bin ein Durst,das ist alles, was in mir bleibt, es ist meine Erinnerung an Feuer.Ziehen wir Bilanz, wo sind wir? Es ist einfach. An irgendeinerStelle in der Welt, an irgendeinem Punkt der alten Geschichtekann ich anhalten und sagen: Nicht dies, das ist es nicht es istnie das. Nein, ich bin nicht dort und bin nie dort gewesen; es istimmer nahe dabei, neben dran; ich lebe, als ob ich mich einesTages dort finden wrde, mitten in der unweigerlichen Katastro-phe. Und vielleicht werde ich dann das Ende der Rollen errei-chen dort in der Ferne steht ein Bruder des Lichts, und ichgehe auf ihn zu und kehre zurck nach Hause, endlich werde ichmich dort wiederfinden, in meiner wahren Haut.

    Dann wird es absolut

    das

    sein. Keine Standortbestimmungenmehr; berall werde ich da sein.

    Siebenundneunzig Pfund fr die berfahrt, knapp drei Pfundund etwas Wechselgeld brig. Aber was macht das schon, es istimmer dasselbe.

    Komm, gehen wir.Sie verschmolzen mit der Menschenmenge inmitten von

    Baumwollballen und rosafarbenem Tpferwerk, wurden ge-trennt und wieder zusammengefhrt, vorangetragen in einemDurcheinander von Mangokrben, gefrigen Ziegen und rosa-farbenen und grnen Limonadenflaschen auf rollenden Ver-kaufsstnden.

    Aber warum lufst du denn so? Du hast noch Zeit bis mor-gen. Wohin eilst du denn?

    Ich hielt inne. Ich tauchte eine Sekunde in diese Augen ein,ich tauchte die Zeit eines ganzen Lebens in diese Sekunde ein,und ich habe viele Augen gesehen, aber es war nie der Blick, denich suchte. Und immer noch bin ich unterwegs. Ich habe denKrper gewechselt, ich habe Leben gewechselt, und ich findemich auf dieser Strae wieder, als ob ich die Sache schon zwan-zigmal getan htte.

  • Die Strae

    15

    Nil, bitteAuf Mohinis Stirn bildeten sich Schweiperlen. Es lag eine

    solche Schnheit in diesem fast reglosen Gesicht, fast unberhrtvon Emotion, als ob sie Jahrhunderte der Sanftheit durchquerenmte, um in zwei kleinen pulsierenden bronzenen derchenhervorzutreten. Ich schaute sie an, blickte auf einen rosa Krbis,eine Krhe, den Tempelturm. Einmal mehr ergriff mich jenesabsurde Schwindelgefhl: weggehen, warum weggehen? Dieseganze Welt von Dingen, die in Bewegung zu setzen sind, Gesten,die man machen mu Millionen Gesten fr nichts und wiedernichts. Diese Dichte der Zeit wie ein Schleier aus Seetang,warum? Als ob man sich nur im Leiden fassen knnte ohne einDrama wre nichts mehr da zu fassen.

    Hr mal, Nil, du hast deine Torheit gut geplant. Ich selbsthabe ein wenig Glck arrangiert: einen Tag Glck. Nur einenTag, ich bitte dich um einen Tag. Danach kannst du tun, was duwillst.

    Was fr eine Falle hatte sie diesmal ausgebrtet? Sie stellenuns alle Fallen, um uns einzusperren und gemtlich zu verzeh-ren. Ich will mich nicht fangen lassen. Von nichts und nieman-dem. Ich will frei sein. Ich bin Nil = 0, fr keine Tasche.

    Aber ich wrde mich auch gern hier hinsetzen und alles durchmeine Finger gleiten lassen, wie ein geistesabwesendes Kind,und es gbe nichts mehr zu wollen. Manchmal ffnet sich dieTr einer seltsamen Se, wo man nichts mehr ist, weil mannichts mehr will. Ich kenne diese Benommenheit gut und wei,da die Stunde nahe rckt.

    Ich bitte dich um einen Tag, nur einen Tag.Mohini stand aufrecht wie eine Statue inmitten des rosa Tp-

    ferwerks auf dem Tempelpflaster. Ein Kind spielte mit Seemu-scheln. Ich kann jetzt noch den Platz sehen, er folgte mir langeZeit nach. Man konnte den Duft der Jasmin-Girlanden auf denGabentellern spren.

    Schau, ich kenne eine InselSie bestrmten uns wie Fliegen, hefteten sich an meine weie

    Haut diese verflixte, elende Haut! berall das weie Stigma,

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    16

    das Mal des Auslnders, man wird nie in der Lage sein, wie dieLuft im Winde unterzutauchen! Mohini ffnete ihre Brse undbegann inmitten des Geschreis Mnzen zu verteilen.

    Komm, la uns gehen. Weg mit euch!Sie hngten sich mir an die Beine. Und pltzlich wandte ich

    mich um, wtend, mit einem Drang, zuzuschlagen. O FremderEin Mann stand dort, in flammenfarbener Robe, und schaute

    mich an. Einen Augenblick blieb er still, mit der Bettelschale inder Hand. Ich hate ihn spontan; es war ein Lcheln in diesemBlick Nicht einmal ein Lcheln: eine gewaltige Belustigung,als ob das Gelchter herausexplodieren wrde. Aber nichts ex-plodierte, es blieb im Licht seiner Augen gefangen.

    O Fremder, du bist zurckgekehrt!Ich war wie vom Donner gerhrt. Dann sagte er mit einer ganz

    anderen Stimme, fast neutral im Ton, wie man einen Refrainhersagt:

    Dreimal bist du gekommen, dreimal hast du gettet.Und ehe ich ein Wort sagen konnte, war er schon weg. Nil, Nil, geh nicht dorthin!Ich strzte ihm nach. Ich mute ihn unbedingt einholen,

    wissen, sofort wissen, damit fertig werden, ehe es zu spt war;etwas in mir schien getroffen zu sein, aufgerttelt, pltzlich vomVerlangen gepackt, diesen Menschen zu prgeln und zu schla-gen, bis er in den Staub fiele. Und dann wrde ich auf ihnspucken.

    NilMohini rief. Ich rannte wie ein Verrckter, schwenkte in eine

    Seitenstrae ein, lief um den Tempel herum, stie ein Kind zuBoden, das zu schreien begann. Nichts von ihm zu sehen. Feind-selige Augen starrten stumm jene Bestie von Auslnder an. Undda, pltzlich, sprang aus den Wnden ein Gott hervor, mit einerLanze bewaffnet und rittlings auf einem Pfau.

    1

    1

    Kartik

    , der Bezwinger der Dmonen. Er sitzt auf einem Pfau (

    mayur

    ), demSymbol des Sieges ber die Krfte der Dunkelheit.

  • Die Strae

    17

    Ich ging zurck, trocknete mir die Stirn und schmte michmeiner selbst. Diese heie Jahreszeit wrde mir wohl endgltigdie Nerven zerfetzen, es war Zeit abzureisen. Mohini verharrtereglos inmitten des Tpferwerks, leichenbla, ihre Augen starr-ten blind vor sich hin, ihr Zopf lag ber der Brust.

    Ach! NilSie musterte mich, als ob ich von einer langen Reise zurck-

    kehrte, als ob sie aus einer anderen Welt zurckkehrte; ihreStimme war sehr weich, fast erstickt:

    Ich dachte, du wrest schon weg.Ihre Hand berhrte leicht meine Schulter. Wieder beein-

    druckte mich diese Atmosphre alter Zeiten, die um ihr lag: Dawar kein Ausdruck, kein Wimpernzucken; sie stand sehr aufrechtin ihrem weien Schleier, reglos wie eine Choephore, wie je-mand, der das Wissen hat und einmal mehr zuschaut, wie sichdasselbe Schicksal abwickelt.

    Was hat er dir gesagt? Was will er? Ein Verrckter. Wenn ich den wiederfinde Du kennst ihn? Ein Sannyasin.

    1

    Ich mag Sannyasins nicht. Ich auch nicht. Sei vorsichtig, Nil, sie wissen, was wir nicht wissen; sie sind

    gefhrlich. Wieso gefhrlich? Sie haben die Erde verleugnet. Sie sind Diebe des Himmels.Sie sagte das in einem solchen Ton! Ich war sprachlos. Dann

    fate sie sich gleich wieder: Sie sind nicht von hier. Ich auch nicht Auerdem wei ich nicht, von wo ich bin.

    Komm, la uns gehen. Ich hab genug von diesen bemaltenWasserspeiern!

    Da griff sie meinen Arm und kniff mich heftig, wie ein kleinesMdchen.

    Sei still, du weit ja gar nicht, was du da sagst.

    1

    Ein Wandermnch, der der Welt entsagt und zum Zeichen seiner Entsagungeine orangenfarbene Robe trgt.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    18

    Die Pistazien- und Bleiglanzgtter auf dem hohen Turm mitden Affen lauerten dem Wanderer; die goldenen Palmenschwankten sanft ber der Strae.

    Hr mal, ich kenne eine Insel. Sag bitte nicht nein. Ichwerde dich nicht zurckhalten, ich bitte dich um einen Tag, nureinen Tag, um meinem Herzen Frieden zu geben. Danach wirstdu frei sein.

    Eine Sirene heulte schrill auf.Der Kessel des Teeverkufers glitzerte in der Sonne. Die

    Laurelbank

    wird morgen frh um sieben den Ankerlichten und nach Neu Guinea fahren, hrst du oder zumTeufel.

    Ich habe alles vorbereitet, ein Boot wartet auf uns.

  • Die karmesinrote Insel

    19

    II

    Die karmesinrote Insel

    Schau, es ist die kleinste von dreien; man nennt sie die karme-sinrote Insel.

    Ich blickte mich um, mein Hafen lag in leuchtendem Nebel;nur die schwarze Silhouette eines Frachters hob sich ab gegenein glasiges Licht.

    Es ist gar nicht so weit; fnfundvierzig Minuten, und du bistzurck.

    Nicht weit Und um diesen Affenfelsen zu sehen, hast dumich hierher gebracht?

    Um zu sehen, wie weit du gehen kannst.Mit einem Kopfruck warf sie ihren Zopf zurck: Wenn du der Gnade teilhaftig wirst, so wirst du erkennen,

    da du nicht eine Minute deines Daseins wirklich gelebt hast indeinem Kopf bist du berallhin gegangen, und deine Beine sindnur ganz zufllig nachgefolgt. Und mit einem Herzen wie eineunreife Guajava.

    Ich wollte sie in die Arme nehmen, doch dann war ich wtend. Hier, schau, Nil.Wir konnten die Vgel zwitschern hren. Ein hoher Felshgel

    hob sich steil aus den grnen Wassern, hallte wider vom Singender Vgel und war seilartig berzogen von den Wurzeln einesalten Banyanbaumes ganz oben, der inmitten des frhlichenZeterns von Sittichen und Makakoaffen die gesamte Insel wie einsagenumwobenes Wrack aus dem Wasser zu ziehen schien. Lang-sam nderte unser Boot den Kurs und scherte vom Felsen ab;eine Einbuchtung lag pltzlich vor uns. Ich war tief ergriffenvom Anblick: Tausende und aber Tausende von lodernden Ko-

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    20

    rallenbumen in voller roter Blte strmten in dichten Bschelnzum Meer hinab wie eine scharlachrote Welle.

    Sie sah mich aus dem Augenwinkel an; ich war wie versteinert.Alles war sehr schn, aber wohin fhrte sie mich?Die Siedlung der Fischer war verlassen, mein Hafen war hinter

    dem Felshgel verschwunden: nur ein Trampelpfad lief amStrand aus und verlor sich unter den Kakteen in Richtung deskarmesinroten Hgels. Ich versuchte meine Formel zu wieder-holen: Laurelbank-Freitag-Sieben-Uhr, um den blen Zauberabzuwenden, aber alles schien verschwommen, die Welt hatteihre Kraftlinie verloren und ich war im Begriff, in diesem Breiexotischen Honigs unterzugehen.

    Mit einem Futritt lie ich einen Haufen Muscheln davonwir-beln und machte mich mit zusammengebissenen Zhnen aufden Weg.

    Es ist gar nicht weit, die Insel ist recht klein.Es lag so viel Bedrngnis in ihrer Stimme, als ob sie mich um

    Vergebung bitten, mich zhmen wollte, aber ich war fest verkno-tet um jenes nein tief in mir, und es war wie der Schrei meinerFreiheit. Ich wei, sie htte mir gern die Welt auf ihrem Handtel-ler prsentiert, eine hbsche kleine Welt, sehr nett, sehr sauber,wo sie auf Zehenspitzen gegangen wre, um mich nicht zuverscheuchen.

    Wenn du willst, ich kenne noch eine andere Insel. Schon? O Nil!Ich bin eine Bestie, ohne Zweifel, aber je mehr ich mich

    erweichen lasse, desto zher werde ich. Es ist meine letzte Vertei-digungslinie: wenn sie fllt, fllt alles.

    Eines Tages werde ich der

    Tatsache

    ins Auge blicken mssen.Und vielleicht gibt es nur eine Tatsache im Leben, alles

    andere ist Nachahmung, ein falsches Ebenbild wo ist

    die Tatsa-che

    ? Ich habe zwanzig Lnder gesehen und doch nicht eineinziges, ich habe Zehntausende von Kilometern zurckgelegtund bin nicht einen Zentimeter vorangekommen, ich habeMillionen Sekunden gelebt, und sie sind nichts als Staub wo ist

  • Die karmesinrote Insel

    21

    die Sache, die Sekunde? Was ist geschehen? Die ReiseagenturCook & Son hat die brasilianischen Wlder tuschend hnlichauf einer Karte nachgebildet ich bin gerade von dort zurck.Die Himalayas sind auf dem neunundzwanzigsten Breitengradaufgehngt, im Prgedruck, exakt und perfekt gestrkt. Allessteht im Erdkundebuch, es gibt keine berraschungen; mexika-nische Nabelschweine und die Brllaffen warten auf uns bei A-8,es ist mathematisch und programmiert. Wissen von der Welt hatdie Welt ebenso sicher zerstrt, wie Photographie die Malereizerstrt hat wir mssen die Welt neu sehen oder im Albumverrecken.

    Aber dieses brennende Land tief in meinem Herzen, dasniemand antasten kann, das ist mein Schatz, mein einzigerSchatz, alles andere mag zur Hlle fahren und Mohini eben-falls. Und doch doch wrde ich gern ein ja hinausschreien ein ja zu allem, zu den Dingen, den Leuten, und diese Welt inmeine Arme schlieen und darin verschmelzen. Keinerlei Hrtemehr, nirgendwo. Dort ist ein fataler Punkt, ein unlsbares ja-nein, das eine feurige Reibung verursacht. Es ist die Sttte derTatsache, das reine Brasilien, ich fhle es, ich nhere mich derletzten Festung.

    Vor uns war ein Gittertor. Ein Tor, ganz wie in einem Park vonLudwig XIV., hier in diesen scharlachroten Tropen. Und esstand ganz fr sich zwischen zwei zerbrckelnden Pfeilern inmit-ten eines Dschungels von Yucca-Bumen. Mohini war unheim-lich still. Auf einer Marmorplatte stand geschrieben: Salvaterra.

    Wir sind angekommen.Ich nahm sie bei der Hand und stie die Trflgel auf. Ihre

    Hand war eisig. Kein Laut war zu vernehmen, kein Atemzug. Eswar eine andere Welt. Eine Welt, so vllig reglos, da sie verdich-tet erschien, erfllt von Duft und Stille. Und alles war rot; eineFlut roter Blten so weit das Auge reichte, die auf fast blattlosensten raschelten ein lebhaftes Feuer. Oder vielleicht ein sagen-umwobenes Haus von stillestarren Feuervgeln.

    Moni, deine Insel ist hbsch.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    22

    Ein leichtes Lcheln huschte ber ihre Lippen, sie zog sichden Sari ber die Brust.

    Dort war eine Allee, oder was einmal eine Allee gewesen seinmute, die den Hgel wie ein groer Rundbogen umspannte.Ein Eichhrnchen rannte vor uns davon. Unter dem Humuskonnte man noch weie Kieselsteine erkennen.

    Moni, es ist als obSie schmiegte sich an mich. Ich verstummte. Alles war wie in

    einem Zauber erstarrt. Ich hatte den seltsamen Eindruck, dasalles schon einmal gesehen und gelebt zu haben. Es kam nichtvon den Blten oder der rtlichkeit, sondern von der eisigenHand in der meinen. Hand in Hand schlenderten wir einher. Siewar ganz wei unter diesem berflieenden hochzeitlichen Pur-pur, und ich tastete mich auf dem Weg voran, die Augen halbgeschlossen, im Duft zerdrckter Blten; ich nherte mich eineralten Erinnerung, einem alten Land vielleicht, das pltzlichhinter der Wegbiegung auftauchen wrde ich scheine michimmer an ein Land zu erinnern, das zu entdecken ist (dafrbin ich vielleicht so lange herumgezogen), und an eine sie, diemich in das Land fhrt. Und jedes Mal bin ich davongelaufen.Ich wei nicht, warum. Oder vielmehr doch, ich wei es, immerdieselbe Geschichte Liebe, die Falle. Die Falle und der Schls-sel in einem. Ein altes Land, wo ich pltzlich in absolutemErkennen aufgehen werde: Es.

    Moni, sag mir, wenn man alles vergessen wrde, was bliebedann brig? Alles, ja, alles, was man gelernt hat. Alles, was sieuns in den Kopf gestopft haben: Land, Familie, Pa, Religion.Die falsche Erinnerung. Ein reines Gedchtnis, verstehst du,ohne irgendwelche Zustze ein echter Goldklumpen.

    Du hast doch schon alles verbrannt, Nil, mit einem einzigenBlick, diese Insel, und mit ihr zusammen mich! Du bist nichthier, du bist nie hier, Nil! Du nimmst immer das nchste Schiff.Und wenn du dein Schiff auch verbrennen wrdest, sag mir, wasbliebe dann?

    Meine Hand lste sich von ihrer. Die Begegnung hatte dreiMinuten gedauert.

  • Die karmesinrote Insel

    23

    Sie schaute mich an: Ich selbst, ich liebe, und ich habe alles vergessen.Ich liebe, ich liebe sie alle reden davon Priester, Frauen,

    Dummkpfe und dann finden sie sich mit einer Menge kleinerRangen an ihren Armen wieder, gut fr den Krieg, und Liebewar gestern.

    Also, ich liebe nicht. Du bist eine Bestie. Ja, frei.Sie war so wei in dieser Glut! Aber ich nahm sie gar nicht

    wahr. Ich sah nur meinen absurden Zorn wie bei demSannyasin. Ein dunkler Drang von unten, als ob sie wieder einealte Wunde berhrt htte. Oh, es gibt wunde Stellen im Men-schen, welche die Erinnerung von tausend zerstrten Leben mitsich tragen oder vielleicht von immer derselben wiederkehren-den Niederlage und die mit einer furchtbaren Elektrizittgeladen sind. In einer Sekunde verschmilzt es, nichts existiertmehr; als ob es die Erinnerung wre.

    Du leidest, Nil. Ich leide nicht, ich bin frei. Und ich hasse Sentimentalitt:

    Das klebt, und dann ist es geschehen, man versinkt im Wasser ich bin aus dem Wasser heraus, ich bin unter dem Zeichen desFeuers geboren!

    Sie blieb am Rande der Allee stehen und schaute mich sounsagbar sanft an:

    Wenn du mich ebenfalls verbrannt hast, wirst du verstehen.Sie sagte dies ruhig, ohne Nachdruck, ohne die geringste Spur

    von Emotion, als ob sie von anderswoher schaute.Ich wurde sofort weich. Vergi es, Moni. Komm, la uns laufen. Wir werden alles von

    vorne beginnen du wirst sehen: Ich ffne das Parktor, du trittstein

    Vllig ausgelassen rannten wir beide hinauf. Eine immenseSonnenterrasse ffnete sich zur anderen Seite der Insel. Mankonnte noch Alleen unter dem Unkraut ausmachen; Gruppenvon roten Hibiskusbschen flossen sanft zum Meer hinab. Ein

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    24

    ganz mit Ranken bewachsenes Haus war gegen den Hgel ge-lehnt. Man htte es fr eine alte Kolonialresidenz gehalten, mitStuckpfeilern, die vom Monsunregen zerfressen waren, einemdreieckigen Giebel zwischen den beiden Gebudeflgeln, undeiner Veranda. Niemand war dort. Die Sttte sah vllig verlassenaus. Man konnte nur das Zetern der Papageien auf den Rebenhren.

    Nun, Moni, gehen wir uns umsehen?Sie war so rosig unter ihrem gebrunten Gesicht; sie war

    schner, als ich sie je zuvor gesehen hatte. Nicht jetzt, heute abend, du wirst schon sehen. Es ist eine

    berraschung.Ich lief zum Westflgel hinauf eine Flut von grnen Federn

    ergo sich mit schrillem Geschrei von berall. Dann herrschteStille.

    Es war wirklich ein seltsamer Ort Auf der Veranda standenrotlackierte Wandschirme, ein Fltenspieler auf einem bronze-nen Podest, da lagen Bruchstcke von Keramiken, ein riesigerleerer Vogelkfig. Die Kletterpflanzen ragten bis zur Deckehoch. Federn und Vogeldreck lagen berall sogar eine Pfauen-feder. Mechanisch ri ich ein Blatt in der Nhe des Fltenspie-lers ab; es roch wie Wildminze. Dann hrte ich Mohinis sanfteStimme hinter den Pfeilern:

    Weit du, bei uns nennen wir sie Tulsi. Es ist eine Pflanze,die Glck verheit.

    Ich trat an die Tr und zog die Bambuslatte zurck; einSonnenlichtstreifen strahlte herein ein kristallener Kronleuch-ter, die ganze Decke war lichtberst. berall fanden sich Kri-stall-Lampen, in allen Ecken und Winkeln: in Wandleuchten mitvergoldeten Pfeilerspiegeln, in Kandelabern, in gedrehten Lam-penstndern. Eine flimmernde berflle, ein Strom veneziani-schen Glases wurde zu einem pltzlichen Fest.

    Aber wo sind wir? Was fr eine Sttte ist das hier?Mohini sagte kein Wort. Dann fiel mein Blick auf eine indi-

    sche Sitar, und auf eine andere und wieder andere; dann auf dieauergewhnlichste Sammlung von Musikinstrumenten, die ich

  • Die karmesinrote Insel

    25

    je gesehen habe: Sarods, Vinas, Ektaras in jedem Winkel,berall an den Wnden hngend, auf den Truhen, auf flachenDiwans. Esradsch, Leiern, lange Krummstbe, die wie antikeZithern geschnitzt oder mit Elfenbein besetzt waren; Resonanz-bden aus Amarantholz oder poliertem Kolozynth, von jederGre, jeder Form, matt leuchtend; und unbekannte Instrumen-te, die Lauten oder Mandoras hnelten.

    Es war das Haus meiner Mutter. Sie war eine bedeutendeMusikerin.

    Ich blickte Mohini an, ohne sie wahrzunehmen. Ich hatte dasseltsame Gefhl, den Boden unter den Fen zu verlieren undich-wei-nicht-wohin zu sinken aber ohne jede Gewalt, sanft.Mit einem geruschlosen Schritt trat ich in etwas anderes ein,etwas, was nicht die Welt der Trume war, sondern was alleErscheinungen unmerklich, wie aus Versehen, verwandelte: einleichtes Verlagern der Linien, als ob die Gegenstnde pltzlichTiefe annahmen, anstatt flach gegen die Wnde zu stehen, undintensiver, fast lebendig wurden; oder vielleicht war es nur einAbgleiten des Auges, das pltzlich eine andere Struktur imMuster erfate; und gleichzeitig es war seltsam begann dieLuft einen gewissen Geruch anzunehmen, der dieser pltzlichenVertiefung entsprach; ein Geruch, der nicht von irgendeinemDuftstoff herrhrte, sondern gleichsam von einem anderenLand, sehr vertraut, aber nicht benennbar. Er lag mir auf denFingerspitzen, auf den Lippen, wie eine sehr se Erinnerung,wie ein gerade getrumter Traum, der noch gegenwrtig ist,warm und vibrierend, aber dessen Gestalt entschwunden ist undder nur jenen Duft der Erinnerung zurcklt.

    Ich nahm eine Ektara in die Hand. Sie war sehr klein, hatte nureine einzige Saite; sie sah aus wie eines jener Instrumente, dieman auf gyptischen Freskos findet. Ich schlug die Saite an Einkleiner vibrierender metallischer Ton hallte durch den ganzenRaum und lie eines nach dem anderen die Kristalle anklingen.

    Ich wei nicht, was ich da anschlug, aber es vibrierte weit, weitweg, als ob sich etwas tief in meiner Erinnerung ffnen wollteund ich pltzlich durch eine Falltr verschwinden wrde.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    26

    Komm. Nicht jetzt. Heute abend werden wir eine Feierhaben.

    Sie fate mich am Arm. Ich lie die Ektara fallen. Sie zerbrachmit einem kleinen scharfen Ton. Die Falltr schlo sich wieder.

    Alles war wie zuvor; wieder hatte ich den Faden verloren. Und dann wirst du den Schatz des portugiesischen Seors

    sehen. Den Schatz?Sie zog mich nach drauen. Die Terrasse leuchtete im Son-

    nenlicht. Ja, im Ostflgel. Der Schatz des portugiesischen Schiffseig-

    ners; er hat alles meiner Mutter verkauft. Meine Mutter ist hiergestorben.

    Ich schttelte mich unversehens. Da drinnen erstickte ich. Ichzog Mohini am Arm und eilte von der Terrasse herunter zumMeer. Die Dornen zerrissen uns die Kleider; eine Marmorvenusentkleidete sich beherzt unter den Hibiskus-Bschen. Mir wardanach, all das zu zerstren der Venus ins Ges zu treten oderetwas Ungereimtes zu tun, die ganze Insel und mich mit ihrwegzuzaubern. Mohini schrie auf; mit drei Sprngen hatte ichden Strand berquert und sie in voller Kleidung ins Wassergeworfen. Dann tauchte ich und schwamm aufs offene Meerhinaus; wenn ich gekonnt htte, wre ich zum Hafen geschwom-men alleine.

    Was wrde Seine Exzellenz, dein Vater, sagen, wenn er dichhier erblicken wrde?

    Ich habe alles vergessen. Und wenn ich dich zu meiner Geliebten machte?Sie errtete bis an die Haarwurzeln. Offenbar warf man hier

    nicht Mdchen ins Meer oder sprach zu ihnen in solchem Ton.Auerdem sind es ja nicht Mdchen; sie sehen immer so aus,als ob sie gerade aus einem Tempel kommen und drei Jahrhun-derte Kontemplation mit sich tragen.

    Warum hast du mich denn hierher geschleppt? Um mich indeinen Papageienkfig zu sperren, oder wozu?

    Weil du morgen abreist, Nil, weil ich dich liebe, weil

  • Die karmesinrote Insel

    27

    Ich dachte, sie wrde in Trnen ausbrechen. Aber ich wutenoch nicht, aus welchem Holz sie geschnitzt war.

    Weil du gar nicht so gehen kannst, Nil. Die Dinge sind nichterfllt.

    Was meinst du damit?Sie stand aufrecht in ihrem triefnassen Sari und hatte einen so

    reglosen, fast imposanten Ausdruck, wie wenn sie in den Schoder Zeitalter zurckginge.

    In deinem Land geschehen die Dinge vielleicht aus Zufall.Nicht in meinem. Zufall heit, da man nicht das Gesetz derDinge kennt. Du kennst nicht das Gesetz, Nil.

    Sie nahm eine Handvoll Sand und lie ihn durch die Fingerrieseln.

    In deinem Land kreisen selbst die Atome nicht aus Zufall.Bei uns fliegen selbst die Vgel nicht aus Zufall vorber. Es istblo eine subtilere Gesetzmigkeit.

    Und daraus folgt?Sie heftete ihre Augen auf meine Augen und fgte hinzu,

    indem sie jedes Wort einzeln heraushob: Was heute geschieht, wurde vor Tausenden und aber Tau-

    senden von Jahren begonnen, und es wird Tausende und aberTausende von Jahren fortdauern.

    Du bist verrckt. Ich bin nicht verrckt, ich kann sehen. Es gibt keine Lcken. Lcken? Du verstehst auch gar nichts: Lcken zwischen deinen Zufl-

    len. Es gibt keine Lcken. Wenn du einen Willen ansetzst, soerreicht er sein Ziel. Meinst du, er hlt inne, weil du weggehstoder weil du stirbst? Er holt dich Tausende und aber Tausendevon Jahren spter wieder ein.

    Vorausgesetzt, ich kehre zurck. Er ist es, der dich zurckkommen lt. Wir machen weiter

    bis zum Ende, Nil. Nichts bleibt unabgeschlossen. Das Ende? Der Papageienkfig mit dir? Freude, genau das. Wenn man Freude hat, so lst sich alles

    auf. Man kommt und geht: man tut, was man mchte, man ist

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    frei. Und nichts ist hinfort mehr getrennt. Du hast keine Freude,Nil, du hast die Geschichte nicht abgeschlossen. Du kannstmorgen abreisen, wir

    Ich beugte mich ber sie und kte sie auf den Mund.Die Luft war wie eine sengend heie Masse. Mohini gab sich

    mir hin. Ihr nasser Sari klebte ihr am Krper. Sie sah aus wie eineApsara, die einem Basrelief von Konarak entstiegen war.

    Heute Abend wird es einen Sturm geben.Aber was kmmerte es mich! Auf ihrem runden, goldenen

    Gesicht perlten kleine salzige Tropfen, ihr Hals duftete nachSandelholz. Ich war ausgelaugt, ausgelscht, reif fr die Nieder-lage Liebe ist immer eine Niederlage. Sie schmiegte sich anmich. Etwas in mir wiederholte immer noch: Laurelbank Laurelbank Aber was sollte ich da drben eigentlich tun?Hatte ich nicht alles, was man vom Leben erwarten konnte:Schnheit, Liebe, ein Vermgen, wenn ich wnschte? Wasmehr? Sie war zwanzig, ich war gerade neunundzwanzig. Wel-cher meiner Brder wre nicht um die halbe Welt gerannt, umall dies zu besitzen, meine Brder im vierten Stockwerk links imHalbdunkel? Was mehr? Was suchte ich denn noch war ichnicht verrckt?

    Sie schien meine Gedanken zu lesen: Was wirst du dort machen? Wo? In Neu Guinea?Ich versuchte mich an etwas Handfestes zu klammern; alles

    schien mir durch die Finger zu gleiten. Es heit, da man dort Chrom und Kobalt finden kann. Chrom? Wozu ist das gut?Ja, das frage ich mich auch. Es ist ein spezieller Rohstoff fr die Metallurgie. MetallurgieSie ri die Augen weit auf und suchte jenes Monster irgendwo

    in den Palmen. Das war zu viel. Aber das Chrom ist mir ganz gleich, verstehst du nicht?Doch in Wirklichkeit war ich selbst es, der nichts mehr ver-

    stand. Ich wrde dort ohne einen Pfennig landen, von einem

  • Die karmesinrote Insel

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    Konsulat zum anderen rennen, zu den Einwanderungsbehr-den, den Bergmtern, den Negervierteln, den Verschlgen derMittellosen die niemandem etwas bedeuten und ich wrdeimmer einer zuviel oder einer zuwenig sein. Und htte icheinmal ihr Chromvorkommen oder ihre Erdnsse gefunden,wrde ich vor ihrem widerlichen Erfolg davonlaufen.

    Aber wenn du wirklich gehen willst, warum kehrst du dannnicht in dein eigenes Land zurck? In den Westen?

    Der Westen Das weckte wieder meine Lebensgeister. Ich habe kein Land. Aber du hast doch schon Gold in Sdamerika gesucht? Ja, und Glimmererde fr deinen Vater, Kakao-Plantagen in

    Brasilien, griechisch-buddhistische Ruinen in Afghanistan undnicht-existente Schtze das sind die besten, denn man istsicher, nicht enttuscht zu werden. Und dann gypten, dieElfenbeinkste Ich habe Urwlder und Lnder im Galoppdurchstbert ich war sogar hinter Gittern.

    Warum dann Das Problem ist, man findet immer dasselbe. Buddhistische

    Bsten oder Flsse mit grnen Felsen, das ist schn und gut,solange man sie nicht gefunden hat. Sind sie einmal entdeckt, soist es alles das Gleiche: durchsichtig und nichtig, wie das Beson-dere X der Minen deines Vaters. Es gibt nie einen Fund mangleitet hindurch.

    Und doch einmal, ich erinnere mich daran, in gypten, vorvielen Jahren Da drang ich nicht hindurch (vielmehr war eroder sie es, die in mich drang), ein seltsames Antlitz, das michanblickte. Ein Blick Es war in einem Tempel an den Ufern desNils, ein kleiner Tempel, vllig dunkel. Nur ein Lichtspalt war daim Gewlbe, und zwei Augen, die blickten die blickten. DieseAugen Ein Lid, das sich Zeitaltern ffnete, weit, weit, und dortam Ende, ganz am Ende, ist man etwas vllig anderes. Man hatimmer gelebt.

    Das entblte mich, durchfuhr mich, und ich fhlte mich sovllig lcherlich in meiner Haut des 20. Jahrhunderts, mit derKamera in der Hand ich war pltzlich wie leer, zusammenge-

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    schrumpft, falsch vor jener Ich wei nicht, aber bei all meinerZivilisation war ich doch ein degenerierter Zwerg degene-riert und falsch, mit falschem Gewand, einem falschen Leben,einer falschen Wissenschaft, einem falschen ich, und einerkleinen Kodak in der Hand, um die Sphinx zu kitzeln.

    Schau, Nil, ich wei nicht, was du suchst, aber ich kannfhlen, weil ich dich liebe. Du wirst in Verzweiflung enden. Duwirst allein sein mit deinen Chromgruben, die nicht mehr wertsind als meine Glimmergruben. Du lufst davon.

    Das ist nicht wahr. Der Tod lastet auf dir. Das ist Erpressung. Er lastet auf uns, Nil. Die Bestimmung lastet auf uns. Dem,

    wovor du fliehst, wirst du wiederbegegnen, zehnmal, zwanzig-mal, bist du den Mut hast, den Knoten zu lsen. Und jedes Malwird es schwieriger sein. Aber du wirst ganz bestimmt zurck-kommen, bis die Dinge erfllt sind.

    Versuch nicht, mich in die Ecke zu treiben! Aber ich will doch gar nichts fr mich, du Blinder! Ich will

    dich nicht fr mich halten. Du verstehst gar nichts, Nil, du bistwie ein waidwundes Tier. Wer hat dich verletzt? Was ist gesche-hen?

    Nichts, gar nichts. Doch, da war etwas und ich habe etwas damit zu tun, ich

    kann es spren. Ich habe es gleich vom ersten Tag an gefhlt. Alsdu die Tulsi-Bltter an der Tr gepflckt hast, hatte ich dasGefhl, als ob ich dir dies bereits einmal gesagt hatte. Als du dasParktor aufgestoen hast, schien es mir, als ob wir diese Gestebereits einmal gemacht hatten. Alles scheint von vorne zu begin-nen. Was wirst du dort tun, Nil? Was suchst du denn?

    Sie drckte mir den Arm, bis es weh tat. Ich fhlte mich wie ineiner Falle, wute aber nicht, in welcher.

    Nil! Das Leben erscheint so natrlich, da wir nicht mehracht geben, alles ist so vertraut. Und dann gibt es kleine hartePunkte, in denen gleichsam die ganze Vergangenheit konzen-triert ist Alles, was man sucht, ist hier, Nil, in jedem beliebigen

  • Die karmesinrote Insel

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    Augenblick, ohne irgend etwas zu bewegen, hinzuzufgen oderabzuziehen es ist hier. Nil, ich habe das Gefhl, da wir unsstndig am Rande eines Wunders befinden, ohne es zu wissen,und man knnte ganz zufllig darauf stoen, wie man auf einenStein am Straenrand stt oder wie man rein zufllig ein Tulsi-Blatt aufhebt. Und wenn man das zu fassen bekommt, dannverndert sich alles! Ich sah es einmal, wie ein kleines Klicken imInneren: alle Farben wandeln sich das Leben wandelt sich. DasWunder ist berall, Nil; es ist hier, in dieser Minute, wenn duwillst.

    Du bist zu schn, Moni. Ach, wie oberflchlich du bist! Du siehst nur meinen Krper. Na und? Ich wei genau, wohin dein kleines Wunder fhrt:

    Jedes Jahr gibt es dreiundsechzig Millionen kleiner Wunder, dienicht geschehen.

    Ich verabscheue dich.Sie lie meinen Arm los. Die Palmen warfen einen krabben-

    hnlichen Schatten um uns.Ja, was suche ich eigentlich? Manchmal habe ich den Ein-

    druck, da man nicht wirklich sucht, vielmehr wird man zueinem gewissen Punkt hingezogen, schneller und immer schnel-ler, wie ein Strohhalm in einem Strudel; deswegen sagen wir, daman sucht, weil man das Ziehen fhlt, aber es kommt nicht vonuns; es ist die Beschleunigung der Bewegung. Tief innen, dawei man. Man knnte sagen, da der Zweck jedes Lebens darinbestehe, zu einem gewissen alten Punkt zurckzukehren einerErinnerung, einer Tatsache, einem Unfall, einem frheren Ver-sagen, einer bestimmten Art Situation , die sowohl das Desasterals auch den Schlssel zum neuen Leben enthlt. Man mugeradewegs bis auf den Grund gehen und der Sphinx den Halsumdrehen. Das ist der Strudel, und es geht immer schneller.Kurz gesagt, man geht rckwrts in die Zukunft. Es ist wie dieserkrabbenhnliche Schatten auf dem Sand: Man verlt nicht denSchatten; man erreicht den Punkt, wo er wieder in sein eigenesLicht bergeht.

    Nil, zum letzten Mal, antworte mir. Warum gehst du fort?

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    Aber ich wei es doch nicht! Wo ist das Geheimnis, Moni?Wer besitzt das Geheimnis vom wahren Leben? Ich bin jetzt seitzehn Monaten hier und habe nur Tempel und immer wiederTempel gesehen. Ihr seid Gefangene der Gtter und der Bestim-mung. Und bei uns sind sie Gefangene der Zeit und der Maschi-nen ihr Leben verrinnt beim Versuch, sich ein Leben zumachen. Niemand lebt, Moni, wo ist denn das Leben? berallwird es verraten, von den Gttern oder der Maschine, oder vonirgend etwas im Bauch, das uns immer wieder herunterzieht: diekleine Familie, Geschfte, Sex. Ich will ein echtes Leben, ver-stehst du, ein freies Leben, unter dem Zeichen keiner Krabbe daunten oder da oben. Niemand besitzt das Geheimnis! Und jemehr ich suche, desto mehr finde ich gerade das Gegenteil vondem, was ich suche. Es ist wie mein Traum von den Erdpolen:Zehn Jahre lang habe ich von Grnland getrumt, und je mehrich von Grnland trume, desto nher finde ich mich am qua-tor.

    ***

    So sprach Nil an jenem kleinen weien Strand, in diesemZeitalter oder einem anderen, auf einer Insel im Lande derSonne. Er schaute klein aus an jenem Strand, wie wenn von weitoben betrachtet, mit seiner hbschen Gefhrtin mit den dunk-len Zpfen. Er sah nicht, er verstand nicht, er hrte nur dasGerusch seiner eigenen Worte; aber ich sah ihn wohl, meinenBruder unter einem Schatten, ich hatte sein Schicksal mehr alseinmal getragen. Ich war hier und dort in ihn eingetreten, ichwar der langen Reihe von Leben gefolgt, wie die Tnzer auf denWnden von Theben unter der groen Schlange des Schicksals.Und jedes Mal war ich in seine Schwierigkeit eingetreten, ineinen lebendigen Widerspruch, als ob die Menschen Krper umKrper nur annahmen, um eine bestimmte Unmglichkeit zuentfesseln.

  • Die karmesinrote Insel

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    O SucherIn jedem Ding, in jedem Wesen auf der ErdeGibt es einen Knoten des WiderspruchesEinen unmglichen PunktHart und kompakt wie der SchmerzDnn wie der letzte LebensfadenGleich einem WunderO SucherDie Dinge haben tausend GesichterTausend WidersprcheAber es ist immer dasselbeEs gibt nur einen Schmerz in der WeltNur eine Sorge durch viele AugenEine einzige Sttte wo alles zusammentrifftOder sich trenntWenn du den Punkt findest

    Lebst duOder du stirbst.

    ***

    Wenn sie mich in diesem Augenblick nicht verlassen htte, umdie sogenannte Feier vorzubereiten, so wre vielleicht nichtsgeschehen. Manchmal scheint das Schicksal an einem Atemzugzu hngen, als ob es auch dort wre, in jenem zerstreuten Blick,dem Schritt hierher anstatt dorthin, in einem Basilikum, dasman zufllig gepflckt hat; und vielleicht ist alles schon da, inden kleinsten Details das Gittertor, das man geffnet hat, derStein, gegen den man am Straenrand gestoen ist gleich wiein den mchtigsten Taten: die letzteren sind nur die Vergre-rung der ersteren. Jedes Ding, jeder Augenblick ist die verborge-ne und mikroskopische Probe eines groen Aufsprengens, dasuns eines Tages verblffen wird. Nur sehen wir nicht den kleinenAtemzug; wir haben nicht die richtigen Augen.

    Und alles ist unfehlbar, gerade das lt mich nicht los! Alles istvon einer schwindelerregenden Genauigkeit, bis zur x-ten Stellehinter dem Komma. Selbst die Vgel fliegen nicht rein zufllig

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    vorbei! Sie mag verrckt sein, aber wenn ich heute abend andiesem Strand bin, so deshalb, weil jeder Schritt mich hierhergefhrt hat, ohne da ein einziger ausgelassen wurde alleSchlaglcher, alle Umwege waren Teil des Weges und allesbewegt sich gerade mittels Millionen von Umwegen. An wel-chem Punkt in der Geschichte kann ein einziger Schritt ausgelas-sen werden, ohne da alles zusammenbricht? Wo ist die Minute,in der ich jene Linie oder jene Strae nicht htte berquerenknnen, ohne das ganze stupende Spiel zu demolieren? EinesTages zerbarst das goldene Ei in Millionen Welten, und diesekleine Narbe war bereits da auf meiner Stirn! Oder bin ich dabei,den Verstand zu verlieren? Wenn auf der anderen Seite der Weltauch alles mathematisch vorprogrammiert ist, wo bleibt dannmeine Freiheit? Auf A-8 einer viel gefhrlicheren Karte habe ichbereits das Spiel verloren.

    O KindAlles ist bereits durchgespielt wordenUnd alles ist freiJe nachdem ob du hierher schaustOder dorthin

    Nil, Nil, schau doch!Sie war auf die von Weinreben berwachsene Terrasse geklet-

    tert und wies auf etwas am Himmel. Die Vgel kommen, die Vgel kommen! Der Monsun ist da!Ein schwarzes Dreieck driftete im Nordosten, der Himmel war

    wie ein greller Dunst. Ich zuckte mit den Achseln und ging aufsGeratewohl zum Strand. Kleine rote und weie Krabben liefen inalle Richtungen davon, eine Schar von Regenpfeifern hob vonden Felsen ab. Gern htte ich sie alle festgenagelt, jeden Kiesel-stein und jeden gekrmmten Schatten der Palmen, sie demFeuer meiner Augen ausgesetzt, bis das kleine Geheimnis auf-bersten wrde. Und immer dieses bedrngende Gefhl einerentscheidenden Erinnerung, die ich nicht wiedererlangen konn-te was hatte ich denn vergessen?

  • Die karmesinrote Insel

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    Zum Teufel damit. Ich machte mich wieder auf den Weg.Ganz am Ende des Strandes lagen Granitfelsen aufgetrmt wie

    nach einer furchtbaren Explosion. Ich kletterte an der Ksteentlang. Die Luft war zum Ersticken. Die Sonne ging bereitsunter. ber dem ersten Plateau lag ein weiteres. Ich klettertenoch weiter. Ich begann einen Eifer zu entwickeln, als ob ich nurauf diese Insel gekommen wre, um diese Felsen zu erklimmen.Und Mohini dort unten, mit ihren Gttern, ihrer Bestimmung,ihren Vgeln, das alles schien mir so lcherlich und unwirklich eine Art morbider Erfindung. Was kmmerte es mich, ich lachtemir in den (brigens abrasierten) Bart. Ich kletterte auf dasdritte Plateau. Und dort geschah etwas, was ich mir nie erklrenkonnte. O ja, es mu eine sehr einfache Erklrung dafr geben,aber ich bin vorsichtig mit einfachen Dingen: je einfacher dieSache, desto wundersamer ist sie; dort ist der letzte Unterschlupfdes Wunders. Oder ist es vielleicht das Durchbrechen von A-8dort oben hier hinein in das A-8 unten? Ein Zusammentreffen?Es war wie Musik. Ich knnte schwren, es war Musik: eineStimme oder vielleicht ein sehr sanftes Instrument, wie zweikleine Tne. Und sehr kurz. Nur ein kurzer Ruf. Zwei kurze,knappe Noten, die sich erheben und erheben. Ich hielt inne,mein Herz klopfte, als ob der Ruf mir galt. Ich wandte mich um.Das Haus lag verborgen hinter dem dicht mit Bumen bewach-senen Hgel. Von dort konnte er nicht gekommen sein. Unddoch klang es wie eine Ektara, das Zupfen einer Saite. Aber ichhatte die Ektara doch zerbrochen. Und wer htte dort berhauptspielen knnen? Ich kletterte noch hher. Nichts regte sich. DieHitze lag wie ein dichter Schleier ber der Insel. Pltzlich hrteich ein schrilles Schreien. Mein Blick fiel auf einen groenBanyanbaum, ein Gewimmel von aufgeschreckten Sittichen undzhnefletschenden Affen. Dann herrschte wieder Stille.

    Ich stand auf dem Felshgel.Vor mir lag das Meer. Das weite, flimmernde Meer, soweit das

    Auge reichte, wellenlos und unbeweglich, wie eine Flche flssi-gen Quecksilbers eine helle Unermelichkeit. Selbst der Hafenwar verschwunden. Kein Schatten irgendwo, keine Seele. Es war

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    wie ein See zu Anbeginn der Welten, eine weie Genesis aneinem Tag, wo Ewigkeit sich selbst zulchelte. Und dann hobensie an: zwei Tne von den Felsen her, zwei winzige Tne, so rein!Ich ging um den Banyanbaum herum: Niemand war dort. Zweiunertrglich reine, durchdringende Tne, als ob sie jeden Mo-ment zerspringen wrden, aber nichts zersprang: Sie stiegen auf,immer hher. Nun war ich im Begriff zu zerspringen. Unddann der dritte Oh! Es war wie eine pltzlich klaffende Lckein mir, eine Leerstelle in der Erinnerung; es schmolz undschmolz alles war am Zerschmelzen: Vergangenheit, Gegen-wart, Erinnerungen, Schnheit, Lnder, Gesichter, alles, wasman gelebt und gewollt hat, die tausend Fden, die alles zusam-menhalten. Und jetzt hielten sie nichts mehr. Das Gewebe lstesich auf. Ich war nicht mehr darin, ich war nie darin gewesen. Eswar eine Tuschung! Als ob man Leben um Leben fr rein garnichts gelebt htte, vllig vorbei an allem: vorbei an sich selbst,an den Lebewesen, an den Dingen, und dann pltzlich strzt esein, man ist auf einer anderen Reise. Gerade genug Zeit, umoh zu sagen, und alles zerspringt man schaut durch einanderes Fenster. Und es ist nichts Groartiges oder Exaltiertesdaran; eher das Gegenteil des Exaltierten: nur ein kleiner reinerTon, und es war wie der wahre Ton der Welt. Der Ton. Als ob esberhaupt nur einen gbe. Mir war danach, aufzuschreien: Ja,ja, das ist es! Das ist es! Absolut das. Das, worauf ich schonMillionen Jahre warte! Eine Se absoluten Wiedererkennens.

    Ein Einstrmen von Se.Es dauerte nur wenige Sekunden an.Ich stand vor einer betubenden Leere war sie vor mir, in

    mir? Ich blickte aufs Meer, auf die zurckkehrenden Katamara-ne, die scharlachrote Kuppel der Korallenbume, und ich ver-stand gar nichts mehr. Alles war falsch, leer, hohl, ein exotischerDekor, der jener leuchtenden Wirklichkeit aufgepflanzt war.Aber was tat ich eigentlich hier, worauf wartete ich denn? Ichmute weggehen, sofort weggehen, mich in Bewegung setzen,aufbrechen, den Faden wieder aufnehmen weggehen aberwohin? In ein anderes Land, mein Land, das wahre Land, von wo

  • Die karmesinrote Insel

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    ich her kam. Oh, ich wei nichts mehr, meine Erinnerung istverschwommen und all meine Namen sind falsch. Ich tragegeborgte Kleider, mein Leben ist eine Lge! Wer wird mir sagen,woher ich komme, wer wird mir meinen Geburtsort nennen,meinen Namen? Habe ich nicht einst etwas anderes gelebt, inwahreren Zeiten, war ich nicht absolut etwas anderes? Manchmalscheine ich mich an ein unermeliches Land zu erinnern, vonwoher ich kam, an eine Musik und groe Schneefelder untereiner reglosen Sonne. Wo ist mein Weg, mein roter Faden? Allesist verschwommen, ich wei nicht mehr ein noch aus, ich habedas Losungswort verloren. Da ist ein Brennen im Herzen desMenschen, das ist alles, was ich wei; es ist mein Lngen- undBreitengrad von Feuer, es ist mein stndiger Standort. Etwasfehlt ganz und gar im Herzen des Menschen und wenn dasnicht da ist, so fehlt alles; ein winziger Ton, der zieht und zieht,und wenn man den Ton verfehlt, so ist die Welt falsch und allesist falsch.

    O Nil, ich habe mir solche Sorgen gemacht.Sie war ganz in Rot gekleidet, die Verrckte! Helles Rot,

    blutfarben. Ich habe berall nach dir gesucht. Was hast du gemacht?

    Wie seltsam du ausschaust!Das gelste Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie war auer Atem. Dann

    pltzlich krachte die Welt ber mir zusammen wie ein quiet-schender Karren: die Sittiche, die Affen, die drckende Schwle,und diese Frau, die mich in einen scharlachroten Nebel hllte.

    Komm, Nil, das Haus ist so schn! Ich habe berall Lichterangezndet.

    Alles bewlkte sich pltzlich, als ob ich in das dunkle Landeingetreten wre: Ich mute getrumt haben.

    Es sind Lichter in allen Rumen. Die Sitars leuchten, dieEktaras, die Sarods. Ich werde fr dich musizieren.

    Trumte ich, oder war ich in einen anderen Traum berge-wechselt?

    O Nil, wo bist du? Wohin schaust du? Siehst du nicht denSturm aufkommen?

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    Und man geht von einem Traum zum anderen, von einemLand zum anderen, zu hheren oder tieferen Lndern, ganzunbeschwert, unmittelbar wie ein Geruch oder ein Ruf; rote,blaue Farbtne, nie endende Graufarben mit niemandem drin-nen. Und man schreitet ruhelos voran, ein Wanderer von mehrals einer Welt, ohne sicheren Ort.

    Und ich schmte mich meiner Traumanwandlungen. Aberwar diese hier realer, weil sie rot war und mir unter die Hautging?

    Im Westen zieht der Sturm auf, Nil, siehst du nicht?Ein Land, das sich nicht bewegt, ein Heim, das von Dauer ist. Komm, Nil, la uns gehen. Mir gefllt dieser Ort nicht. Er

    taugt nur dazu, sich umzubringen.Ich fuhr ihr streichelnd bers Haar. Der Felsen war sengend

    hei. Bitte komm, la uns heimgehen. Das Haus ist wie ein Festsaal.Sie war sanft an mich geschmiegt, ihre braune Haut glhte in

    der Sonne. Ja, Moni, gewi, du gefllst mir feuerrot und brnett;heute abend werden wir feiern.

    Brnett, gewi; Frauen bedeuteten immer eine Rckkehr insHalbdunkel und ins Vergessen.

    Ich habe die Kashmir-Teppiche ausgerollt. Wir werden aufblauen Zedernwldern schreiten.

    Ich habe mich bereits in deinem Wald verloren. Nil, mein Allerliebster, gehst du wirklich weg? Hr auf damit, Moni, hr auf. Ich wei nicht mehr.Eine Brise strich bers Meer, trockene Bltter fielen zu Boden. Am Abend, wenn der Wind weht, vibriert das Haus wie eine

    groe Sitar. Ja, Moni Weit du, als ich sehr klein war, kam ich oft hierher. Ich

    hatte Angst. Wovor? Ich hatte immer den Eindruck, da ich fallen wrde, aber

    dann kam ein weier Fremder und rettete mich. Seltsam undjetzt bist du hier.

  • Die karmesinrote Insel

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    Kraniche schossen pfeilschnell vorber. Das Meer frbte sichbleigrau.

    Ich habe das in einem Traum gesehen, als ich ganz klein war:Ich war im Begriff zu fallen, ich stand dort, genau wo du jetzt bist,und da Nil, ich habe das Gefhl, da die Welt voller Bilder ist,die wahr werden. Sie sind vorhanden, sie existieren, manchmalsieht man voraus, und dann geschieht das Unheil. Nil, Nil

    Was ist das fr eine Geschichte?Sie schmiegte sich an mich. Die Gestalt des Sannyasins stand

    mir pltzlich vor Augen. Ich wei nicht, Nil, manchmal habe ich solche Angst. Du bist doch verrckt. Nein, Nil! Ich bin nicht verrckt, das Schicksal ist vorge-

    zeichnet. Das bildest du dir nur ein.Sie blickte zu mir auf. In ihren Augen war diese fast unertrg-

    liche Se. Aber schau doch, ffne deine Augen!Sie blickte auf etwas hinter mir, und ich sprte eine Schwere,

    etwas lag in der Luft ich mute weglaufen, sofort entkommen.Aber da war dieser Blick, der mich festhielt. Sie fate mich amArm.

    Siehst du denn nicht Die Welt ist voller Bilder, Nil!Ich wei nicht, was sie da hinter mir betrachtete, aber die Luft

    war drckend ich war drauf und dran, die Beherrschung zuverlieren.

    Nil, wenn du nur wolltest, knnten wir das Schicksal umwan-deln; wir knnten das schne Sinnbild heraufbeschwren, dasdas Leben verndert. Es gibt auch schne Sinnbilder in der Welt,wir knnten den Tod vertreiben, die schne Geschichte herab-bringen und verwirklichen. Wir knnten zusammen ein Lebenin Schnheit schaffen. Schau, Nil, bitte schau! Ein schner Blick,das ist der Blick, welcher erschafft, und bist du nicht Nil-Aksha,der Blauugige?

    Ich bin Nil-rein-gar-nichts und hasse Gerede. Ich bin frei,hrst du? Und dein Schicksal kann mir gestohlen bleiben.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    In diesem Augenblick fegte eine heftige Windbe ber dieInsel. Alle Sittiche flogen kreischend davon. Etwas geschah indiesem Augenblick, ich knnte es schwren. Etwas hielt inne inmir, blickte auf die Szene und photographierte sie, als ob ichmeine Augen zum ersten Mal ffnete, und ich fhlte, da ichWorte geuert hatte, die ich nie htte uern drfen.

    Sie lste ihre Hand von meinem Arm. Wie eine Statue standsie da reglos in ihrem roten Sari:

    La uns hereingehen.Ich rhrte mich nicht. La uns hereingehen. Es wird Nacht, schau, wie der Himmel

    sich violett gefrbt hat!Eine brodelnde Masse rollte im Westen auf. Kleine Windben

    begannen das Meer zu kruseln. Komm, Nil, es wird sonst zu spt.Regentropfen spritzten auf den Boden. Die heie Erde roch

    wie schwitzende Haut. Dann begann sie hastig zu sprechen, alsob sie Angst htte:

    Ich habe weie Kleider fr dich herausgelegt, unser Haus istwie eine Feststtte, berall brennen Kronleuchter.

    Was ist denn mit dir, Moni? Hast du Angst vor dem Regen? Nil, verla mich nicht, sicher habe ich Angst.Sie hatte einen seltsamen Blick, aber es war nicht Furcht darin,

    und ich konnte nicht herausfinden, was es war. Pltzlich donner-te es und eine Be fegte ber die Insel. Alle Blten stoben davonwie eine Wolke roter Vgel.

    Es wird zu spt sein, Nil.Ich war erstarrt. Ich sprte die Gefahr, aber wo? Welche

    Gefahr? Zu spt, Nil, zu sptDa verstand ich blitzartig: mein Schiff! Die Laurelbank, das

    Schiff, mein Gott!Ich zog meine Hnde weg. Ich flehe dich anDer Horizont war violett, das Meer voller Gischt. Einen Augen-

    blick betrachtete ich die verstrten Augen, die bebenden Lippen:

  • Die karmesinrote Insel

    41

    Nil!Dann rannte ich wie ein Irrer zum Landesteg.Mein Schiff, mein Schiff Ich werde vom Festland abge-

    schnitten sein, gefangen wie eine Ratte. Ich kletterte ber dieFelsen und stolperte beinahe ber einen modrigen Schiefer. Ineiner halben Stunde wrde es dunkel sein; morgen wrde es zuspt sein, das Meer wrde toben. Ich sprang auf den Strand,bahnte mir den Weg durch Seetang, strauchelte und fiel in einLoch. Mein Schiff, mein Schiff Meine Schlfen pochten, ichsprte den Puls am Hals, war wie ein eingekreistes Tier, pltzlichwie am Ersticken Freiheit, Freiheit Der Wind war starkgenug, um Bume zu entwurzeln. Ich rannte und rannte.

    Seit zehn Jahren laufe ich schon. Ich glaube, ich knnte nochber die halbe Erdkugel laufen, oder zum Teufel, wenn notwen-dig. Und jedes Mal sage ich nein. Nein zu ihrem kleinen Glck,dem widerlichen kleinen Glck, der sanften Rattenfalle undblhenden Dekadenz. Ich sage nein, und ich knnte hunderteJahre lang nein sagen, wenn es sein mu. Nein zu eurer Saiten-musik, euren gepolsterten Vergngungen, euren Honiginselnoder Daunenfedern, euren exquisiten Erstickungen; nein zu alljener Kunst, die Leere salonfhig zu machen und das Manne-quin mit Stroh zu staffieren. Ich bin das Nichts, die Leere, dieHaut des Mannequins, die die wahre Sache will und keineStaffage. Ich will die wahre Flle. Und keine Revolte: Ich sage neinzu euren Jas und nein zu euren Neins nichts zu verfluchen,nichts zu vergessen, alles ist gleich: Eure Freiheiten sind gepan-zert wie eure Tore, eure Zrtlichkeiten sind die zwei gierigenArme eures Elends; euer Gutes die Kehrseite von eurem Bsen,oder dessen Vorderseite. Und alles schreitet in Paaren, wie beieiner Hochzeit, euer Schwarz mit eurem Wei, eure Freuden miteuren Sorgen, euer Gott mit seinen Teufeln. Ich selbst, ichentkomme der Hhle, gute Nacht euch allen! Ich habe nichts zubewahren, keinen einzigen Tag, keine einzige Minute hintermir! Nichts mitzunehmen, meine Tasche ist leer. Ich habe zumSchein gelebt und ich bin nur in euren amtlichen Registerngeboren. Ich bin nichts, dreimal nichts, einer, der eure Staffage

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    aus Stroh nicht will. Ich lasse das Mannequin zurck, und wasbleibt dann?

    Das Haus war erleuchtet, unser Haus. Die Veranda warlichtberstrmt unter den Regenben. Meine Stirn blutete.Nein, ich war nicht in Revolte, und ich schrie Freiheit, aber eswar einfach das, ein Schrei wie ein Erstickender etwas anderes,etwas anderes, ein vollstndiges Anderssein, das nicht anderswar. Ich rannte in diesen roten Wald wie ein Schlafwandler, derseinen Krper sucht, wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt.Nein, ich habe keine Heimat, kein Land, keine Frau, keinenNamen, keine Zukunft, gehre nicht zur Hochzeitsgesellschaft.Ich werde keine kleinen Nils zeugen, die andere kleine Nilszeugen, die wieder andere Nils zeugen. Und nichts ist begonnenworden! Keine einzige Sekunde zum Mitnehmen, keine wirkli-che Minute. Wo ist der eine wahre Tropfen in all dem? Ichscheine ganze Leben damit zugebracht zu haben, tonnenweisenichtiges Euphrates- und Brahmaputrawasser vorbeiflieen zusehen, fr nichts und wieder nichts.

    Ich eilte durch die Nacht, als ob sie mir alle auf den Fersenwren, die kleinen Nils, die die kleinen Nils gezeugt haben, allezusammen in eine unertrgliche Sekunde gezwngt, mit demeinen Schrei: Wann fangen wir an? Die ganze Familie durchdie Nacht hetzend. Ich floh wie ein Dieb ber diesen Teppichroter Blumen, begleitet von Musik, die sie nicht hren konnten,und berauschend wie Wein: Freiheit, Freiheit, Freiheit, die Lau-relbank und sonst nichts!

    Und ich bin noch am Rennen.Am Strand zogen drei Mnner einen Katamaran an Land. Der

    Wind heulte, Dornen und Gischt wirbelten durch die Luft; meinMund war voller Sand. Ich sprach den ltesten an.

    Bring mich zum Hafen. Zum Hafen? Sagtest du Hafen?Er sah mich an und schrie etwas in den Wind. Dann wandte er

    mir den Rcken zu. Ich schrie auch. Ich werde zahlen!

  • Die karmesinrote Insel

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    Er warf sein Paddel auf den Strand; ein leerer Korb rollte indie Kaktusbsche.

    Hr, du Narr! Hier, schauWie ein Besessener schwenkte ich meine Brieftasche.Er hielt inne, blickte mich an, mit einem Tau in der Hand. Du siehst den Wind wohl nicht, oder? Ich gebe dir, was du willst. Wir knnen mit Rckenwind

    segeln, in zwanzig Minuten werden wir im Hafen sein.Er blickte zum Himmel und dann auf die Brieftasche. Ich

    schpfte wieder Hoffnung. Ich bin Seemann. Ich werde dir helfen.Die anderen wurden ungeduldig. Er hielt die Nase in den

    Wind. In zehn Minuten wird es dunkel sein. Was macht das? Wir halten gerade auf die Kste zu. Wir

    knnen sie gar nicht verfehlen.Ich zckte zwei Banknoten, zwei lcherliche Banknoten. Sie

    waren triefna und klebten zusammen, es war absurd. Hier.Er zuckte blo mit den Schultern. Ich war erledigt. Meine

    Uhr! Ich hatte noch meine Uhr. Schau hier.Ich war auer mir. Ich htte ihn geschlagen, wenn ich gekonnt

    htte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Dann spuckte er Sand ausund begann wieder, den Katamaran einzuholen. Ich war gefan-gen wie eine Ratte.

    Mir wurden die Knie weich, die Katastrophe nahm ihren Laufvor meinem inneren Auge: kein Geld, keinen Job, das Ticketverloren und nur halb rckzahlbar, sechs Monate Arbeit, umeine andere berfahrt bezahlen zu knnen. Ich war auer mirvor Wut. Es blieb nichts, als zum Haus zurckzukehren und diekleine Familie zu grnden.

    Pltzlich wandte ich mich um, schlagbereit: Sie stand dort.Wenn Blicke tten knnten, so brachte ich sie in diesem Augen-blick um.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    44

    Aber ich war wie versteinert. Sie stand dort reglos, aufrecht, inihrem roten Sari, etwas hher als ich auf einer kleinen Erhebungim Sand, so vollkommen ruhig inmitten des brausenden Windsund der abgerissenen Blten, da sie wie eine geschmckteGottheit aus einem Heiligtum ausschaute, dort aufgestellt fr einRitual: mit gelstem Haar, ihre Augen so gro, da sie das ganzeGesicht auszufllen schienen, ohne Bitten oder Trnen, ohneVorwurf, wie bereits von Ewigkeit ergriffen, lebendig nur durchjene Lieblichkeit, die mich anblickte, die direkt in die Tiefemeiner Seele schaute und die mich immer angeblickt zu habenschien, so warm, so sicher wir verloren einander nicht. Wirkonnten einander nicht verlieren! Wir waren zusammen, immerzusammen, ewig zusammen.

    Da, fr einen Augenblick, liebte ich sie.Sie trat wortlos heran, streifte ihre Goldreife ab und gab sie

    dem Mann. Dann sah sie mich wieder mit dieser unertrglichenSanftheit an, grte mich mit zusammengelegten Hnden, wieman Gtter im Tempel grt. Und pltzlich war sie fort.

    La uns aufbrechen, Fremder. Mach schnell, die Nachtkommt.

    So gehen sieLiebende oder FeindeBrder und WandererAber wer geht, wer bleibt?Nur die Kleidung verndert sichDer Farbton eines Himmelsber einer kleinen, weien BuchtNur die Sorge gehtUnd ein KindAuf einem kleinen reinen StrandSchaut mit StaunenAuf jene die da kommen und gehenUnd einander nicht mehr erkennen.

  • Der Aufbruch

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    III

    Der Aufbruch

    Wasser sang durch alle Ritzen im Hafen. Die Luft roch nachwarmen Mangos und nach Ebbe. Meine Laurelbank lag festvertut am zweiten Kai. Ich sang auch. Jedes Mal sang ich. Ichwar leicht wie Schaum auf werdendem Leben. Mohini war dortmit ihrer Insel untergegangen, im Tartarus einer frheren Exi-stenz. Und es gab kein zurck! Dies sind wirklich die bestenAugenblikke im Leben. Ich habe stets meine Zeit damit zuge-bracht, unmgliche Leben fr mich zu gestalten, um die einzig-artige Freude dieses Augenblicks zu genieen. Leider ist er nichtvon Dauer. Kaum entgeht man einem Leben, schmiedet mansich schon neue Fesseln, und alles mu wieder von vorne begon-nen werden. Man sollte absolut frei sein, immer im Aufbruch,diesem Augenblick der Freiheit zwischen zwei Lndern.

    Pltzlich kam ich wieder zu Sinnen. Ich stand vllig durchntunter einer Straenlaterne. Der Lichtstrahl eines Leuchtturmsstrich ber ein Durcheinander strmender Schatten, ver-schwand, erschien wieder, erfate den Tempelturm. Das Stra-enpflaster, die Palisaden, die verlassenen Kais leuchteten auf.Die Szene hatte sich pltzlich verlagert. In nur einer Sekundehatte ich die ganze Runde gemacht:

    Es war der Hafen von Moresby,welcher Belem hnelte welcher Goa hnelte;Ich hatte das Goldvorkommen entdeckt, das Chromvorkommen,die gelbe Insel, die schwarze Insel;Ich hatte eine Negerin geheiratet und eines Abends Selbstmordbegangen.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    Ein Blitz-Leben.Fnfzehntausend Kilometer mit einem Lichtstrahl abgestrichen;Ich hatte die volle Runde gemacht.Es war zum zehnten Male, da ich unter dieser Straenlaternelandete;Ich war am Ausgangspunkt.Ich war nie aufgebrochen.

    Die Pftzen unter der Straenlaterne hatten Gnsehaut.Mit einem Futritt lie ich meinen Schatten davonwirbeln.

    Eine Ratte huschte pltschernd davon. Genau das war es, mankam immer wieder zurck zum Affenkfig; berall der denkendeAffenkfig. Es blieb nichts zu tun, als zu Eastern Traders zu eilenund mein Hemd zu wechseln.

    Ein wirklicher Aufbruch wre vielleicht, das Thema zu wech-seln?

    Der Kessel des Teeverkufers glitzerte an der Straenecke genau was ich jetzt brauchte.

    O Fremder, da bist du wieder.Ich fuhr zusammen. Da hockte er mit funkelnden Augen auf

    einer Kiste vor dem Stand des Teeverkufers. Erkennst du mich nicht?Einen Augenblick hielt ich inne und starrte auf diesen Schat-

    ten im orangenfarbenen Gewand, dann auf die llampe, dieScke, die Kupfertpfe, den Stand, der aussah wie bei Breughel.rger packte mich pltzlich, eine blinde, mrderische Wut, wiebeim ersten Mal. Mit einem Sprung war ich bei ihm, griff ihn amHalstuch und hob meine Hand.

    Er brach in schallendes Gelchter aus.Ein triumphierendes, explodierendes Gelchter, das die Kiste

    erschtterte und durch die ganze Gasse hallte. Ich war wie vomBlitz getroffen. Der Teeverkufer sprang zwischen den Sckenhervor und packte mich an der Schulter. Der Sannyasin hielt ihnzurck:

    La ihn, Gopal, bring ihm Tee.Er lachte wieder. Der Hndler hatte seinen Schurz hochge-

  • Der Aufbruch

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    krempelt und stemmte seinen Fu gegen einen Sack; die llam-pe warf phantastische Schatten; und ich hielt weiter stupide andiesem orangegelben Halstuch fest, blickte auf seine weienZhne, die grinsten, als ob sie die ganze Nacht verschlingenwrden.

    La ihn, Gopal. Tu, was ich dir sage.Der Mann musterte mich noch einmal. Ich war sicher der

    Teufel. Er sprang ber seine Scke und verschwand. Ich waraufgebracht. Dann fixierte ich diese vergngte, eulenhnlicheGestalt:

    Wenn du meinstMeine Hand lste sich vom Halstuch. Recht so, setz dich.Ich wollte aufschreien, losschlagen, ihm ins Gesicht spucken.

    Entkommen, bleiben, die Kupfergefe kaputt treten. Schlie-lich fand ich meine Stimme wieder.

    Du Sohn einer Er legte mir den Finger auf die Lippen. Gebrauche nicht Worte, die verletzen.rger blitzte in seinen Augen auf. Dann fiel der Vorhang

    wieder. Da war nur noch eine Art lhmender Jubel wie einRiese, der ber die Berge schaut und der Welt ins Gesichtkichert.

    Du schuldest mir eine Erklrung Was soll ich dir erklren, Junge? Da du gerade rechtzeitig

    da bist, da du viel gerannt bist? Da du dein Schiff verpassenwirst, wenn du so weitermachst?

    Er schttelte sich noch einmal vor Lachen, aber dann be-herrschte er sich.

    Trink doch.Dieses Gesicht faszinierte mich ganz und gar. Es war fast

    schwarz, mit stechendem Blick und Adlernase, wie ein Fischadlerin seinem fahlroten Federkleid. Es war vor allem diese intensiveVitalitt, die augenblicklich erstarren konnte wie die Maskeeiner Mumie. Er wies mit dem Finger auf mich:

    Was hast du da? Du bist verletzt? Gopal, bring etwas Wasser.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    48

    Ich wischte mir ber die Stirn: Eine Blutspur lief mir bis zurNase runter. Es tat weh. Es mu ein netter Anblick gewesen sein,mit den nassen Kleidern und dem zerrissenen Hemd. EinenAugenblick schwebte mir Mohinis Gestalt vor Augen:

    Wirst du mir erklren, was du da gestern gesagt hast? Genauhier, an dieser Stelle, hast du gesagt: Dreimal bist du gekommen,dreimal hast du gettet.

    Das soll ich gesagt haben?Er sah mich so unschuldig an. Dann mu es wohl wahr sein.Ganz ruhig nahm er sein Halstuch, tauchte einen Zipfel in

    seinen Kupfertopf und wollte mir die Stirn abtupfen. Ich sprangzurck. Der kochend heie Tee spritzte mir ber die Fe. Ichdachte, nun wrde er wieder lachen, aber er rollte sein Tuch zueinem Knuel zusammen und warf es mir ins Gesicht.

    Hier, wasch dich selbst.Und da sa er dann stumm und schaute in die Nacht. Ich

    fhlte mich dumpf und ungelenk, leer, es blieb nur das Halstuchin meinen Hnden und meine Schale Tee, und ich starrte dieseverlauste Gestalt mit langen Haaren an. Ich war nicht einmalmehr aufgebracht, er hatte mir selbst meinen rger genommen.Alles, was blieb, war ein absurdes, hilfloses Zhnefletschen, wiewenn ich einem alten Todfeind gegenberstnde.

    Ich ri mich zusammen. Hrst du, wirst du mir jetzt sagenWarum bestand ich darauf? Ich wei es nicht. Ich htte sofort

    gehen sollen, mich davonmachen sollen aber je mehr ichmeine Torheit sprte, desto heftiger klammerte ich mich an sie,als ob ich eine alte Rechnung mit ihm begleichen mte. Auer-dem brachte seine hlzerne Reglosigkeit mich jetzt auf diePalme.

    Hr mal, du Scharlatan! Du Hochstapler, Quacksalber, wielange erzhlst du den Leuten schon diesen Humbug?

    Er wandte sich kaum um und sagte ganz schlicht, so wie maneine Tatsache feststellt:

    Ein Mensch sucht nur die Zufriedenheit seiner Seele.

  • Der Aufbruch

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    Und er spuckte in groem Bogen auf den Boden. Und du, du bist nicht zufrieden.Dann bndelte er seine Sachen, band sich das Halstuch um,

    nahm den Wanderstab, den Bettelsack, die Bettelschale, undmachte sich auf den Weg.

    Komm, la uns aufbrechen, es ist Zeit.Und pltzlich, ohne zu wissen warum, fand ich mich mit

    diesem Menschen auf der Strae wieder und marschierte anseiner Seite. Wir gingen die Gasse zurck in Richtung EasternTraders, vorbei an den Tpferstnden, an einem Bettler, demTempeltor. Aber was tat ich dort eigentlich? Einen Augenblickruhte mein Blick auf dem rosafarbenen Tpferwerk und denwelken Girlanden des Blumenverkufers. Er hatte gesagt launs aufbrechen, und ich folgte, als ob ich das schon dutzendeMale gehrt htte. Ein seltsamer Schwindel berkam mich. Ichzog mir den Hemdkragen hoch und marschierte in die Nachthinein.

    He, SannyasinAber er hrte nicht. Die Uhr von Eastern Traders zeigte zehn

    vor Zehn an. Ich hatte noch die ganze Nacht vor mir, wasriskierte ich schon? Diesmal flsterte eine kleine heimtckischeStimme mir herausfordernd ins Ohr: Warum denn nicht? Undsobald ich dieses warum denn nicht hrte, war ich ausgeliefert.Trotzdem htte ich gern den Grund gewut, aber ich wutenicht einmal mehr, was ich eigentlich wissen wollte! Ein seltsa-mes Gefhl ergriff mich, und ich folgte dem groen, in Orangegekleideten Schatten, der barfig zwischen Pftzen und verrot-teten Mangos entlangglitt, als ob ich gar nicht da wre. Was gabes denn auch zu wissen? Mit Eintreten der Nacht fhlte ich michangenehm leicht und beschwingt. Ich hatte nachgegeben, ichwurde von einem Strom fortgetragen. Vielleicht war dies Schick-sal? Man stellt Fragen, aber nicht, um eine Antwort zu bekom-men, sondern um den Wagen am Rollen zu halten, und wennman eine Minute stillsteht, um herauszufinden, was man wirklichwill, wenn man sich schweben und tragen lt, so sieht man, daFragen und Antworten gar nicht erforderlich sind; man braucht

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    50

    nur eine bestimmte Dichte, wie ein Fisch im Wasser. Und wenndiese Dichte nicht da ist, so stellt man Fragen. Das ist alles. Aberweder die Frage noch die Antwort macht die Dichte aus.

    Sannyasin, sag mir, wohin gehst du?Er wandte sich um, als ob er mich blo zur Kenntnis nahm,

    setzte dann wie ein Wal im warmen Wasser mit vorgestrecktemHals seinen Weg fort. Ein Taxi raste mit einem Wasserschwallvorbei, gefolgt von Rikshas, Lastwagen, die mit Baumwolle voll-geladen waren, und Schatten, die unter Strohschirmen trotte-ten. Wir waren am Bahnhof angelangt.

    Er blieb unter der Uhr stehen und betrachtete mich einenAugenblick vergngt, als ob er gerade in einen Apfel beienwollte. Dann verlie er den Bahnhof und ging in Richtung derSpeicher. Ich war nicht einmal mehr neugierig; ich wollte ein-fach mit diesem Menschen zusammen sein, mit ihm gehen, ganzabsurd mit ihm sein, mit ihm zum Teufel gehen, wenn er wollte,und mich in ein solch unwahrscheinliches Leben strzen, daich nichts mehr wiedererkennen wrde. Warum denn nicht?Meine Augen fielen pltzlich auf ein Plakat: Nim stand da inweien Lettern geschrieben, unter einer enormen Zahnpastatu-be. Einen Augenblick lang wurde alles reglos. Meine Augenschienen sich unmig zu weiten und alles zu absorbieren, miteiner phantastischen Przision in alles einzutreten, als ob derkleinste Tropfen, die kleinste Rille, der Baum am Gleis pltzlichvoller ewigen Lebens waren, und ich gelangte auf die andereSeite. Ich war dort, berall nicht mittels meiner Augen,sondern in allem, in Millionen Ecken und Winkeln und ra-schelnden kleinen Blttern: der Tropfen, der Baum, das Wort,die Schatten, alles war lebendig, ewig lebendig, erstarrt. EineSekunde Pause in der mchtigen Lawine. Dann kam blitzartigdie Erkenntnis es war offensichtlich, ich reiste ab. MeineAugen fanden den groen gebeugten Schatten wieder, derdurch die Nacht schritt. Es war er, ohne Zweifel, ich hatte ihnwiedergefunden. Nach einer jahrhundertelangen Rundreise warich wieder auf dem Weg, hatte den Faden wieder aufgenommen.Es war, wie wenn ich ganze Leben ziellos in einem Nichts

  • Der Aufbruch

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    herumwanderte und jetzt wieder auf etwas gestoen wre, ir-gendwo eingetroffen wre und mich wieder auf den Pfad mach-te.

    In meinen Ohren schien es zu luten. Die Laurelbank hatteSchiffbruch erlitten, mein Gepck lag auf dem Meeresgrund, ichbesa nichts mehr! Nichts, nicht einmal eine Zahnbrste, einenPa, einen Namen. Und ich fhlte mich pltzlich wie von einerLast befreit. Ich wollte den Sannyasin an der Schulter fassen,lachen und ihm sagen Nichts. Ich trat ein Stck Blech weg undschlpfte mit ihm durch ein Loch in der Einzunung. Wirkamen bei den Schienen heraus.

    Schwrme von Grillen zirpten in der Nacht. Es war, wie wenndie Eisenbahnschienen sich in einem gelben Schwirren verlo-ren, und ich mich mit ihnen, als ob ich meinen Krper losgelas-sen htte ein winziges Stck Krper, wie Flugasche, auf demSchotter und dann war ich oben, ganz oben, rundum transpa-rent, wie ein Feld aus Kristallen, auf dem eine Zikade vibriert.Der Sannyasin lief auf ein rotes Licht zu, ich sprang ihm nach,von berfhrung zu berfhrung; die Bahnsteige leuchteten,die Nacht war schn wie eine Prinzessin in einem Gewand ausRubin. Ja, ich kenne eine Schnheit, die nicht die Schnheit desFleisches ist, und eine Musik, die keine Sitar nachahmen kann,und die Zeichen der Nacht sind meine unwgbaren Schtze.

    Das letzte Abteil war fr uns. Zwanzig Leute waren schon da,berall verteilt wie auf einem lrmenden Basar, der nach demSchwei der Tamilen und Kurkumapulver roch. Der Sannyasinhockte auf dem Trittbrett und pflanzte seinen Stab in die Tr.Ich setzte mich neben ihn und lie meine Fe baumeln. DerZug ratterte davon. Ich sa in der ersten Reihe.

    He, Junge, was sagst du dazu?Ein Freudenschauer durchfuhr mich, ich whlte in meinen

    Taschen, nahm die Lederbrieftasche heraus und fand meinTicket: Port Moresby, ber Colombo und die Sunda-Inseln. Abersicher!

    Er schaute mich frhlich an. Dann nahm ich das Ticket, zerries in tausend Stcke und schmi es hinaus. Der Sannyasin war

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

    52

    unbewegt. Ich brach in Gelchter aus, ein herrliches befreiendesLachen, als ob ich dreiig Jahre Lgen abwarf. O ja, ich kannteGefngnisse, wo man die Toten und auch die Lebenden feinsuberlich bndelte wie Hhnchen. Ich bin im Urwald herumge-watet, habe Fieber und Angstschwei erlitten, habe an einemSeilende in Adlermist gewhlt, als ich den Schatz der Rajput-Prinzen suchte, und ich habe ein paar ble Kunststcke aufge-fhrt, die besser unerwhnt bleiben, aber es war immer noch dieUnvernunft ihrer Vernunft, das Schwanzende desselben Affen-streichs! Und pltzlich kam ich heraus aus dieser Unvernunft heraus aus allen nur mglichen Vernunftgrnden und Erklrun-gen, all den Negationen, Gegenstzen, Antinomien, die nochmit einem Fu auf der anderen Seite stehen: Es gab keine Seitemehr! Ich war nicht einmal auf der anderen Seite, mit denGesetzlosen, den Rebellen, den umgekehrt Gesetzestreuen. Ichwar nicht mehr auerhalb, weil ich nicht mehr innerhalb war.Es war etwas anderes, zugleich majesttisch und erheiternd.

    Jetzt verstand ich das Hochgefhl des Sannyasins: es erfllteauch mich.

    Wohin fahren wir?Er sah mich berrascht an. Nirgendwohin, wir sind da!Es verschlug mir die Sprache. Dann ging mir ein Licht auf: Wir

    sind da! Natrlich sind wir da, ganz und gar! Es gibt nichts zusuchen, auch in dreiig Jahren oder drei Jahrhunderten oderspter wird es nichts mehr geben, wenn jetzt nichts da ist, hierund jetzt, eben in diesem Moment, wo ich den Speichel herun-terschlucke und verflixt sage. Von wo sollte es herkommenknnen, das Anderssein? Wir sind da, voll am Ziel. Ich bin jetztgenau so, wie ich sein werde, wenn sie den ersten Nagel inmeinen Sarg schlagen. brigens werde ich mich einschernlassen, das ist sicherer.

    Hier, i.Er zog ein Tuchknuel heraus und gab mir eine Handvoll

    Krner. Komm, Junge, sei nicht so ernst die Nacht ist schn.

  • Der Aufbruch

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    Seine Augen funkelten wie der Meeresschaum; er war mitseinem mahagonifarbenen Krper gegen die Tr gelehnt undhatte nichts an auer den orangefarbenen Lumpen und einerHolzperlen-Kette um den Hals. Er sah wirklich wie ein Knig aus.

    Aber ich hatte meinen Refrain wieder aufgenommen. Sag mir, wenn wir schon da sind, warum sind wir dann

    berhaupt aufgebrochen? Wir htten ebenso gut bei deinemTee-Shop bleiben knnen.

    Er blies die Wangen auf und rlpste: Und warum bist du aus dem Scho deiner Mutter gekom-

    men, Junge, sags mir. Ein Mann mu in Bewegung bleiben. Ich bin viel herumgezogen. Dein Kopf ist herumgezogen. Wenn er still wird, dann wirst

    du berall still sein, und du wirst wie ein Hase mit Gottes Windlaufen.

    Erstmal glaube ich nicht an deinen Gott, und deine asiati-sche Weisheit macht mich krank.

    Und ich glaube nicht an cholum, ich esse esEr stopfte sich eine Handvoll Krner in den Mund. Und die Weisheit Asiens bringt mich zum Lachen.Er gab wieder so ein lautes Glucksen von sich und spuckte

    Krner berallhin. Ich war sprachlos und wute nicht, ob ichdiesen Mann liebte oder hate. Ich kaute auf einem Korn. Esschmeckte wie Kreide.

    Mein LieberFr einen Augenblick wurde er ernst. Du willst, da ich dir das echte Leben zeige, und du wirst

    mich hassen und vielleicht lieben und dann wieder hassen.Ganz fraglos las er meine Gedanken. Mir ging das jetzt auf die

    Nerven. Zudem war etwas Unmenschliches in diesem Lachen.Er fuhr fort. Die Menschen schtzen die Freude nicht. Sie finden sie

    verletzend. Was sie schtzen, ist Mitleid. Sicher sind sie armseligund bemitleidenswert. Aber es bringt nichts, mit ihnen zu weh-klagen: Sie wrden dich nur in ihr Loch herunterziehen, bis duim selben Schlamm steckst dann werden sie dich anerkennen.

  • Die Reise auerhalb des Selbstes

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    Aber du wirst nicht mehr in der Lage sein, irgend etwas fr sie zutun, weil du wie sie sein wirst.

    Er sah mich kurz an. Zuallererst mut du selbst erstmal herauskommen, verstehst

    du? Heraus, aber wie?Er hielt einen Moment inne und lie seine Halskette durch

    die Finger gleiten. Wenn ich sage herauskommen, so heit das nicht weglau-

    fen; es heit, deine Sichtweise ndern. Wenn du aufhrst, michzu hassen und dann zu lieben, wirst du begonnen haben, her-auszukommen. Wenn du deine kostbaren Papiere mit dersel-ben Freude in deiner Tasche behalten kannst, mit der du siegerade zerrissen hast, wirst du fr das wahre Lachen reif sein.

    Dann wird mir alles gleichgltig sein. Nein, alles wird sein, wie es ist. Und was ist es? Hr mal, Junge, wenn du auf Philosophie aus bist, geh zu

    deinen asiatischen Weisen. Ich habe dir nichts zu erzhlen: Ichkann dir nur zeigen, das ist alles.

    Er zog sich wieder in ein versteinertes Schweigen zurck. Mirwurde klar, da mir eine schwere Reise bevorstand.

    Die Nacht zog bei 35 Grad vorber. Ich kaute noch auf einemKorn, dann warf ich alles zur Tr hinaus. Ich war ernchtert,leer, kam mir vllig lcherlich vor, ohne Bestimmung, ohneFahrkarte, wie ich da neben diesem Mann sa, dem der Rest derWelt gleichgltig war. Wir waren da, gewi nirgendwo, indieser exotischen Bahn, die Gott-wei-wohin raste, und ichschaute in die Nacht hinein, die wie ein Vorhang zugezogen war,kaum von einem Lichtschimmer durchdrungen, und wartete aufich-wei-nicht-was. Ich warte, ja ich warte auf das wunderbareAbenteuer ich bin immer bereit, auf das Wunder zu warten;ich, der Unglubige, habe einen gewaltigen Glauben. Ich schei-ne mich an ein Wunder zu erinnern, das ich einst erlebt habe,ich bin gleichsam ein Mensch aufgrund eines Vergessens. Undmanchmal kommen kleine goldene Lichtschimmer und tanzen

  • Der Aufbruch

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    in meiner Nacht, kleine Glhwrmer, die nicht von dieser Weltsind, und ich eile. Ja, ich eile ihnen nach, als ob ich tausendJahre in der Nacht gewartet htte, als ob mich unvermittelt einepltzliche Erinnerung heimsuchte: Das ist es, endlich bin ich da!Ich laufe auf das Lied einer goldenen Zikade zu. Schon einleichter Schimmer in meiner Nacht gengt, ein Blinzeln an derStraenecke, und ich bin bereit, ich breche auf, im Nu habe ichmeinen Sack geschnrt, ich, der Vagabund eines kleinen Licht-schimmers. Nichts hlt mich zurck, ich lasse alles fallen, um derMelodie dieses anderen Lieds zu folgen. Was mache ich eigent-lich hier? Habe ich denn nicht alles erlebt: ihre Freuden, ihreLeiden, ihr Mitleid? Ich habe alle Rollen gespielt, all den Hum-bug kenne ich in- und auswendig. Ich brauche nur in ihre Augenzu blicken, um die alte Geschichte zu sehen, ich kenne sie alle,als ob ich bei ihren Festen gesungen htte: die Reichen und dieArmen, die Mnner Gottes und des Teufels. Welchen Schreihabe ich nicht von mir gegeben, welchen Schmerz nicht erfah-ren, welchen Irrtum nicht begangen? Ich habe all ihre Gebetegesprochen und in ihren Nchten gehurt. Millionenfach war ichMensch und bin damit durch! Ja, ich glaube an das Wunder, dassich ihren Formeln entzieht und jenseits ihrer Himmel ist. Undvielleicht stehen wir schon an der Schwelle einer unglaublichenneuen Erde, deren Geburt bevorsteht? Ich wei nicht mehr, wasich einst wute, und ich rolle durch die Nacht wie ein blinderPilger einer groen golddurchwirkten Erinnerung.

    O PilgerDu wanderst unter meiner SonneIn WahrheitIst alles SonneNur mein Bild ist umgekehrtJede Geste von untenWiederholt eine Geste von obenUnd alles offenbartEin ewiges Zusammentreffen