Schäfers Tod

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Der 1. Fall von Grießinger & Lämmle auf der Schwäbischen Alb. Ein Schäfer wird grausam ermordert in einer Sandgrube am Sternberg gefunden...

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Frank Faber

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Die stille Wacholderheide ist Schauplatz eines grausigen Ver bre -chens. Der Schäfer Lamparter liegt tot in einer ehema ligen Sand-grube, durchbohrt von seinem eigenen Schäferstab. Ein schreck-liches Bild, das sich an einem nebligen Sonntagmorgen demermittelnden Kriminalhauptkommissar Grießinger bietet. Zu al-lem Ungemach muss er auch noch mit Emilie Berta Lämmle zu-sammenarbeiten, einer etwas unkonventionellen Ex pertin fürTäterprofile, die schon bald ihre eigenen Ermittlungen anstellt.Das ungleiche Gespann wird mit mensch lichen Abgründen, ver-wirrter Heimatliebe, einer geheimnisvollen Fürs tin vom Stern-berg und explosiven Funden alle Hände voll zu tun haben. EinFall, wie ihn Grießinger noch nicht hatte und dazu noch mit Emi -lie Berta Lämmle, die seine gemütliche Vesper und sein geregeltesLeben vollkommen durcheinander bringt.

Frank Faber alias Frank Schmitt ist in Alpirsbach geboren und imSchwarzwald aufgewachsen, nicht weitentfernt von einem der heute besten Restaurants Deutschlands. So führtesein Weg beinahe zwangsläufig überdas Kochen zum Schreiben, vom kuli-narischen Genuss, zum genussvollenMord. Sich selbst bezeichnet er, freinach Balthasar Matzbach, als Uni -versaldilet tant, der nichts unversucht

lässt, um seine Umwelt mit immer neuen Geschichten und Ideenin Aufruhr zu versetzen. Sein erster Kriminalroman ist die Ge-burtsstunde einiger schwäbischer und nicht so schwäbischerCharaktere, die er eigentlich schon lange auf die Welt bringenwollte, um sie, sofern die Leserinnen und Leser es wünschen,noch viele gemeinsame Mordsgeschich ten erleben und erleidenzu lassen.

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Frank Faber

Schäfers Tod

Ein Alb-Krimi

Oertel+Spörer

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Anmerkungen des Autors:Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen auf der mittlerenSchwäbischen Alb. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstor-benen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsich-tigt.

Titelbild: Rüdiger Eichhorn, Panther Media

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

3. Auflage: November 2009© Oertel+Spörer Verlags-GmbH+Co.KG · 2008, 2009Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehaltenSchrift: 10,2/12,3 pt Stempel GaramondUmschlaggestaltung: Atelier Georg Lehmacher, FriedbergSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck und Bindung: Oertel+Spörer Druck und Medien-GmbH+Co., RiederichPrinted in GermanyISBN 978-3-88627-430-7

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»Leierklang aus Paradieses Fernen,Harfenschwung aus angenehmen SternenRas’ ich in mein trunknes Ohr zu ziehn;Meine Muse fühlt die Schäferstunde,Wenn von deinem wollustheißen MundeSilbertöne ungern fliehn.«

Friedrich Schiller: Die Entzückung an Laura

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1Es war einer dieser Tage, die besser nie begonnen hätten.Kurz nach 7 Uhr, deutlich vor dem Aufstehen, klingelte amSonntagmorgen das Telefon. Ungläubig öffnete Emilie ein

Auge und wieder ertönte das nervige Geräusch. Sie weigerte sich aufzustehen und vergrub ihren Kopfunter dem Kissen. Es hörte nicht auf zu klingeln. Wer hatteeigentlich wieder vergessen den Anrufbeantworter einzuschal-ten? Emilie versuchte unter ihrem Kissen den Rufton zu orten, bis ihrdämmerte, dass eigentlich nur die Basisstation schrillen konnte. Seit ein Radiästhet in ihrem Haus eine schädliche Strahlendosisvon Mobiltelefonen, Funkuhren und drahtlosem Internet festge-stellt hatte, führte sie einen beherzten Kampf gegen alle Strah-lenherde in ihrer Umgebung. Was im Verdacht stand, schädlicheStrahlen auszusenden oder nutzlos Energie zu verbrauchen,wurde ausgeschaltet, vom Stromnetz getrennt und möglichstweit vom Schlafplatz weggelegt. Jetzt fluchte sie innerlich über die Strahlenfreiheit in ihren Schla-fräumen, denn das Telefon nervte noch immer. Mit einem Rucksetzte sich Emilie auf die Bettkante, stand mit einem Seufzen aufund wankte noch schlaftrunken aus dem Schlafzimmer hinausund die Treppe hinunter zum Telefon. Entnervt riss sie denHörer an ihr Ohr und flüsterte benommen »Emilie BertaLämmle« in die Sprechmuschel. »Kriminalhauptkommissar Grießinger, Josef«, sagte eine etwaszu hohe Männerstimme laut und deutlich am anderen Ende. »Grießinger, du Schafseggel! Weißt du eigentlich, wie früh esist?«

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2Emilie Berta Lämmle hatte sich auf die Treppe gesetzt, tiefLuft geholt und versuchte immer noch, wach zu werdenund den Kopfnebel zu vertreiben, den vermutlich das eine

oder andere Glas Metzinger Hofsteige am Abend zuvor verur-sacht hatte. Nun begann Grießinger, ein unüberhörbares Grin-sen im Gesicht, mit der Begründung für seine frühe Störung. »Wissen Sie, nicht dass ich Sie wecken wollte, aber auf der Stern-bergheide soll ein Toter liegen, besser gesagt sitzen, und um ihnrum ist ein Kreis aus Steinen gelegt und in seinem Mund soll einWacholderzweig stecken. Wissen Sie, mein Chef meint, so etwasverstünde ich nicht und deswegen solle ich Sie anrufen. Also ver-stehen Sie mich nicht falsch, wegen mir könnten Sie schon nochschlafen, aber halt wegen meinem Chef nicht.«»Grießinger, du Grasdackel«, zischte Emilie fast unhörbar undfragte dann mit honigsüßer Stimme, wo denn der Tote zu sitzenbeliebe und welchen Treffpunkt er vorzuschlagen gedenke, derwerte und hochgeschätzte früh aufstehende Herr Grießinger.Die Reaktion von Emilie Berta Lämmle rann ihm wie guter Mostdie Kehle hinunter und machte sich wohlig im Bauchraum breit.Der Tag hatte gut begonnen, die Lämmle war richtig angefressenund das bevorstehende Zusammentreffen mit ihr beflügelte ihnregelrecht. Außerdem stimmte ihn der Umstand fröhlich, dass erden Sonntag nicht in Reutlingen im Büro verbringen musste,sondern auf die Alb fahren durfte. Sie verabredeten sich am altenSchafhaus nördlich vom Sternberggipfel am Rande des Hardts,einer weiten Fläche nordöstlich unterhalb des Sternberggipfelsgelegen. Vom Schafhaus waren es nur noch ein paar Meter zumFundort der Leiche. Josef Grießinger war Kriminalhauptkommissar und Leiter derMordkommission in Reutlingen. Seit mehr als 30 Jah-ren war er im Polizeidienst. Seine berüchtigte Sturheit, derleichte Hang zur Ehrenkäsigkeit und seine an Pedanterie gren-zende detaillierte Recherche und Ordnungsliebe wa-ren vermutlich erblich bedingt, denn seine Wiege stand in Upfla - mör auf der Schwäbischen Alb. Er entstammte einer

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katholischen Familie mit einem kleinen Bauernhof. Als demjüngsten von drei Söhnen blieb ihm nur die Möglichkeit, aufeinen Hof einzuheiraten oder vom Hof zu gehen und einen an-deren Beruf zu erlernen. Trotz aller Widrigkeiten und der Ungnade der späten Geburtwar Grießinger Polizist aus tiefster Überzeugung. Er war einervon der alten Schule, der noch eine Zeit erlebt hatte, in der Ver-brecher lokal begrenzt agierten und man ungefähr wusste, woman zu suchen und zu ermitteln hatte. Grießinger kannte nochmanchen Täter persönlich und oft ging er selbst zur Frau undden Kindern des Verhafteten, um sie zu trösten und ihnen Mutzuzusprechen. Am meisten machte ihm das globalisierte Verbrechen zu schaf-fen. Er konnte sich nicht in die unterschiedlichen Mentalitätender Täter aus aller Welt hineindenken. Die fremden Kulturen, dieSprache und die Motive der Neuen blieben ihm immer fremd.

Deshalb hatte ihm sein Chef diese Lämmle vorgestellt und ihnaufgefordert, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie war eine soge-nannte neumodische Profilerin, die ihm erklären sollte, was derTäter denke und wo er sich aufhalten könnte.Grießinger zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. DiesemWeibsbild würde er schon zeigen, wo der Bartel den Most holt.

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3Als Emilie wutentbrannt in ihr Schlafzimmer zurück-kehrte, wurde sie bereits vom fragenden Blick ihres Man-nes erwartet. Theo lag noch im Bett und bevor er seinen

Blick zu einer Frage formulieren konnte, kam von Emilie nur eineinziges Wort: »Grießinger«. Theo beschloss, nicht nachzufra-gen und sparte sich jeden weiteren Kommentar. Emilie war mehrals schlecht gelaunt angesichts der Tatsache, dass sie ein warmesBett mit Mann gegen einen feuchtkalten Herbstmorgen auf derWacholderheide tauschen musste. Theo kannte diese Stimmungnur zu gut. Das Beste war, jede Angriffsfläche zu vermeiden undsich in Luft aufzulösen.Nachdem sie hektisch ihre Kleider zusammengesucht hatte, warfsie noch einen bedauernd-lustvollen Blick auf Theo und daswarme Bett. Ein genervtes »Ade!« zum Abschied, und schonhörte Theo das Auto mit durchdrehenden Reifen aus dem Hoffahren.In Gomadingen bog Emilie ab und fuhr hinauf zum Sternberg.Mit Schwung parkte sie ihr Auto vor dem alten Schafhaus nebenGrießingers Daimler. Mit seiner Schiebermütze in kariertem Tweed, die vermutlich be-reits mit der Kopfhaut verwachsen war, seiner hellgrauen All-wetterjacke, die knapp bis unter den Hintern reichte, war Grie-ßinger trotz der noch dichten Herbst nebelschwaden kaum zuübersehen. Die lange Jacke war ihm von seiner Frau verordnetworden, damit seine Nieren warm gehalten wurden. »Am schlimmsten ist eine Blasenentzündung, fürchterlichschmerzhaft ist die«, pflegte sie in wissendem Hochdeutsch-Schwäbisch zu sagen. Auf diesen Satz folgte meist ein abschre-ckendes Beispiel einer Nachbarin, deren Mann wegen fortge-setzter Unvernunft und verantwortungslosen Leichtsinns einefürchterliche Nierenentzündung hatte und dem nur geholfenwerden konnte, indem ihm ein Katheder durch sein »Schnäp-perle« geschoben wurde. Aus diesem Grund musste Grießingerzur Sicherheit – quasi präventiv – täglich nach Feierabend einenBlasen- und Nierentee trinken, den er aber nach Möglichkeit

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dem Gummibaum hinter seinem Fernsehsessel verabreichte, deres ihm seinerseits mit verstärktem Blattwuchs dankte, was wie-derum seine Frau erfreute.Wer Herrn Grießinger neben seinem betagten Dienstfahrzeugsah, konnte verstehen, warum er kein neueres Automodellwollte. Er und sein Daimler waren ein wunderbar altmodischesPaar, das aus einer anderen Zeit stammte. Gerade, schnörkelloseLinien und Züge, eine unverwüstliche Lackierung und eine langausladende Motorhaube mit dem geliebten Stern vorne auf demKühler. Die zeitlose Musterung der Sitze passte sogar hervorra-gend zu seiner Mütze, ja sie schien aus dem gleichen Stoff gefer-tigt zu sein. Der »Strich Acht« war ein gemütliches Auto, das nicht zum Ra-sen neigte und zuverlässig seinen Dienst versah. Es hatte seineMacken, wie Grießinger eben auch. Manchmal konnte man mei-nen, sie wären ein altes und unzertrennliches Ehepaar.Kriminalkommissar Josef Grießinger arbeitete schon viele Jahremit einem Team, in dem jeder seine Aufgaben hatte und jeder dieEigenarten des anderen bestens kannte. Seine Kollegen und erführten eine fast eheähnliche Beziehung, die morgens bei einemgemeinsamen Vesper begann und nach Feierabend nicht seltenbei einem Krug Most endete. Die Vesperpausen in Grießingers Büro waren im gesamten Präsi-dium bekannt, und bis heute hatte es keiner gewagt, diese sakraleHandlung schwäbischer Nahrungsaufnahme ernsthaft zu stören.Einem Grießinger schenkte man keine Blumen zum Geburtstag,sondern eine Büchsenwurst, einen Ring Schwarzwurst und einenordentlichen Trollinger. Kaum hatte Emilie das Schafhaus am Sternberg erreicht, stieß siedie Fahrertür auf und wollte Grießinger am liebsten fressen. DerKommissar stand neben seinem Daimler, als könne er kein Wäs-serchen trüben, hatte seinen unschuldigsten Blick aufgesetzt undfragte mit der eigenen schwäbischen Verschlagenheit: »Ja gutenMorgen, Frau Lämmle. Können Sie wirklich schon auf sein? Esist ja noch gewaltig früh am Sonntagmorgen, oder?« Emilie war

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sprachlos angesichts dieser Unverfrorenheit und schwor inner-lich teuflische Rache.Emilie stieg aus dem Auto, knallte die Tür zu und ging auf Grie-ßinger zu, der noch immer lächelnd, mit karierter Schiebermützeund seiner Lederaktentasche neben seinem Benz stand. Als er ihreknallgelben Gummistiefel und den kurzen roten Minirock überder rostbraunen Wollstrumpfhose erblickte, wusste er wiederschlagartig, was ihn an dieser Frau so grantig machte: »Wenn esSie an d’Füß friert, tät ich lieber einen längeren Rock und keineStallstiefel anziehen.« Emilie Berta zischte nur: »Sie sind jetztbesser erst mal still und außerdem friert es mich nicht.« Sie ließmit diesen Worten Grießinger einfach stehen und stapfte mit er-hobenem Kopf los in Richtung Sternberggipfel. Grießinger riefihr noch nach, wo sie hingehen musste, und folgte ihr in sicheremAbstand.Sie ging an den Zwillingsbuchen vorbei, weiter am Waldrandentlang, bis es links hinauf zur Wacholderheide am Sternbergging. Warum musste sie eigentlich am Sonntagmorgen mit die-sem Menschen über die Sternbergheide stiefeln? Emilie ver-fluchte den Tag, als sie von einem dynamischen, elegant wirken-den Herrn, mit stahlblauen Augen nach einer Lesungangesprochen wurde. Ihr sehr gut aus sehender Gesprächspartnerstellte sich als Leiter der Kriminalpolizei in Reutlingen vor undbat sie um ihre Mithilfe bei »seltsamen« Verbrechen. Sie sollte dieermittelnden Beamten bei Bedarf als eine Art Profilerin unter-stützen und dabei noch andere Dinge zwischen Himmel undErde in ihr Täter profil mit einbeziehen, als sich die meistenKriminalbeam ten überhaupt vorstellen konnten.Nach einigenSchritten erreichte sie ein paar Schafe, die verstreut und etwas verloren zwischen den Wacholderbüschen standen. Einen Schä-fer oder Pferch konnte sie nirgends entdecken, lediglich zweiHütehunde lagen bei den Schafen. Weiter oben am Waldrandstanden noch mehr Schafe unter den Bäumen. Auf der Wachold-erheide war überall Schafkot verstreut. Die Herde musste also dieganze Nacht hier am Sternberg gestanden haben.

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Es war die Jahreszeit der jungen Baldachinspinnen und ihrer fi-ligranen Gespinste, der flammenden Naturfarben und der Ver-gänglichkeit. In den Netzen der Spinnen sammelten sich Tau-tropfen, die mit den ersten Sonnenstrahlen wie Perlen zu glitzernbegannen. Sanft strichen die letzten Nebelschleier zwischen denWacholderbüschen, Hundsrosen und Wetterkiefern umher, umsich nach einer langen Nacht endlich zu verlieren. Emilie folgte dem Trampelpfad bis zum Ende der Heckenstrei-fen und bog dann oberhalb der Hecken links ab. Dem Verlaufdes Gebüsches folgend, erreichte sie den Touristen-Rennsteig,der zum Sternberghaus und zum Aussichtsturm hinaufführte.Der breite zertrampelte Weg glich einer offenen Wunde, die sichdurch die Heidelandschaft zog. Kurz bevor sie den Wald um den Gipfel herum erreichte, befan-den sich links des Touristenweges mehrere Sandgruben. Nochvor einigen Jahrzehnten wurde hier von den Sandlern Putzsandund Bausand abgebaut. Jetzt waren diese Reste der einstigenSandgewinnung beliebte Kinderspielplätze zum Versteckspielen,Herumklettern oder hin und wieder auch eine romantische Ge-legenheit für Liebespaare, die, geschützt vor neugierigen Bli-cken, ein wenig poussieren konnten. Aber nun war eine derSandgruben abgesperrt und im weiteren Umkreis herrschte regesTreiben.Emilie erreichte das rot-weiße Absperrband, das um den Fund-ort der Leiche gezogen wurde, und versuchte die Szenerie zuüberblicken. Tatorte kannte die Profilerin bis zu diesem Tag nuraus dem Fernsehen oder von Tatortbildern aus Grießingers Ak-ten. In der alten Sandgrube saß ein Mann, den Kopf nach vorne ge-neigt. Er trug einen langen, dunkelfarbenen Kittel und festeWanderstiefel. Ein friedliches Bild von einem schlafenden Schä-fer, wenn da nicht der Schäferstab in seinem Bauch stecken under nicht in einer Blutlache sitzen würde. Grießinger hatte zwischenzeitlich ebenfalls das Absperrband er-reicht und betrachtete aufmerksam das Geschehen. »Wer macht

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die Spurensicherung?«, fragte er einen Polizisten, der unweit vonihnen am Absperrband zur Tatortsicherung stand. »Der Chef macht heute höchstpersönlich die Spurensicherung.« »Dann wird es wohl besser sein, wenn wir no a bissle warten.«Und mit einem Seitenblick auf Emilie fügte er hinzu: »MachenSie nur langsam, solang der mit seine Leut schafft, kann der nie-mand zu nah am Tatort gebrauchen. Der Lichtner wird sonstkreuznarret.« Emilies Augen blitzten bei dem Namen Lichtner kurz auf. »Nurkeine Sorge.« Bei diesen Worten Emilies kam oberhalb der Sand-grube ein wahrer Menschenberg hinter einer Weidbuche hervor.Am Grubenrand ging er vorsichtig und erstaunlich leichtfüßigden Hang hinunter.Bei seinem Anblick stieg Emilie ohne zu zögern über das Ab-sperrband und hüpfte in ihren knallgelben Gummistiefeln aus-gelassen auf Fritz Lichtner, den Leiter der Spuren sicherung, zu.Lichtner blieb sein Wutschrei im Halse stecken, als er die kun-terbunte Frauengestalt erkannte. Die Zornfalten wichen einemAusdruck der vollkommenen Überraschung und Verblüffung. Grießinger hingegen blieb beim Anblick der losstürmen-den Emilie regelrecht das Gesicht stehen. »Halt, bleibet Sestanda.« Er rechnete bereits mit einem der berüchtigten Wut-ausbrüche Lichtners, der es niemals duldete, dass ir gendjemandanderes während der Spurensicherung den Fundort einer Leicheoder einen Tatort betrat. Dieses Mal blieb es seltsamerweise stillund Grießinger meinte sogar ein Lächeln im Gesicht Lichtnerszu erkennen. Was hatte dieses Teufelsweib bloß an sich, dass sieden Urzorn eines Fritz Lichtner zähmen konnte? Es dauerteeine Weile, bis er sich von dem Schrecken erholt hatte, schütteltedann ungläubig den Kopf, zog die Schultern hoch und warteteei nigermaßen gespannt, was der innigen Begrüßung folgenwürde.Fritz Lichtner hatte barocke Ausmaße mit seiner Körpergrößevon zweimeterundfünf und einem respektablen, genussvoll erar-beiteten Bauch. Seine Kopfbehaarung bestand aus den kreisför-

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mig angeordneten Resten einer einst lockigen Mähne und zwi-schen den vollen Lippen qualmte hin und wieder eine edle Zi-garre, es sei denn, er befand sich bei der Arbeit. Seinen Körperhüllte er mit Vorliebe in riesige Hemden oder T-Shirts. Dazutrug er bequeme Wampen hosen, die ihm sein Herrenausstattervornehm als Hosen mit Unterbauchschnitt verkaufte. SeineFüße steckten aus tiefer Überzeugung und Leidenschaft in hand-genähten schwarzen Lederschuhen der komfortablen Größe 50.Vor Ort und im Gelände trug er am liebsten Hunters Original-Gummistiefel aus England. Lichtner legte Wert auf Stil und gu-tes Essen.Trotz seiner ausschweifenden Maße und berüchtigten Fein-schmeckerei war er ein penibler, akribischer Arbeiter und Er-mittler. Sein Reich war der Ort eines Verbrechens und diesen ab-gesperrten Bereich verteidigte er mit Vehemenz und an Sturheitgrenzender Beharrlichkeit gegen Eindringlinge. Ganze Hordenvon neugierigen Journalisten und ehrgeizigen Assistenten hattenbereits seinen Zorn, der sich meist in derben, gebrüllten Kraft-ausdrücken äußerte, zu hören bekommen. Bei unnötigen Spurenam Fundort verlor er jede Freundlichkeit und verleugnete kon-sequent seine ansonsten durchaus gepflegte Erziehung, bis Emi-lie Berta Lämmle das erste Mal einen seiner Tatorte betrat (odervielleicht besser erstürmte).Mit Emilie Berta Lämmle verband Lichtner die Erinnerung aneine längst vergangene, schwer leidenschaftliche und durchauslustbetonte Liebschaft, die einst von ausufernden Spaghetti-Or-gien und Champagnergelagen geprägt war. Die Freude über dasunverhoffte Wiedersehen ließ ihn erstaunlicherweise seine Prin-zipien für kurze Zeit vergessen. Emilie war in seine ausgebreiteten Arme gehüpft und zappeltenun, bedingt durch den Größenunterschied, mit ihren Füßen inder Luft. Lichtner stellte sie wieder sanft auf den Boden undschob sie eine Armlänge von sich, um sie von oben bis unten zubetrachten. »Du wunderbare, unvergessene Frau meiner sündigen Nächte,

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was treibt dich in meine Arme zurück?« »Ich bin quasi eine Kollegin von dir. – Aber nur für seltsameFälle«, fügte sie noch schnell hinzu, als sie seinen ungläubigenBlick sah. »Du nimmst mich auf den Arm. Eigentlich hast du hier absolutnichts zu suchen.« Lichtners Ton wurde wieder dienstlicher und er drängte Emiliein Richtung Absperrband. Emilie jedoch nahm Lichtner bei derHand, versprach, später alles zu erklären, und fragte ihn mit un-schuldigem Blick, ob sie die Leiche genauer betrachten dürfe.Noch ein bisschen widerwillig stimmte er zu und staunte übersich selber, doch da war es wieder, das Kribbeln im Bauch…Sie erreichten den toten Mann in der Sandgrube und Emilielöste sich von Lichtners Hand. Der Tod an sich hatte für Emilienichts Bedrohliches. Es war vielmehr die Gewalt, mit der man-che Menschen den Tod fanden, die sie betroffen machte und ihrmanchmal sogar Angst einflößte. Als sie niederkniete und dasGesicht näher betrachtete, erkannte sie den Schäfer Rudi Lam-parter, der ihr hin und wieder im Lautertal bei ihren Wande-rungen und Buchrecherchen begegnet war. Außer dem Schäfer-stecken in seinem Bauch hatte Rudi Lamparter noch eine großeWunde am Hinterkopf, die das poröse Dolomitsandgestein amGrubenrand dunkelrot gefärbt hatte. In seinem verzerrtenMund steckte ein Wacholderzweig. Die Finger der linken Handwaren gekrümmt, als ob der Tote versucht hätte, sich festzuhal-ten. Die rechte Hand war zu einer Faust geballt und Emiliespürte, dass Rudi im Todeskampf etwas umklammert hatte.Sein Gesicht wies mehrere Blutergüsse auf, die vermutlich aufSchläge oder Fausthiebe zurückzuführen waren. Die Todesstarre hatte längst eingesetzt. Emilie fragte Lichtner,ob sie den Toten berühren dürfte. Mit einem kurzen Nicken antwortete er und Emilie trat einen Schritt näher an dieLeiche des Schäfers heran. Ihr fiel auf, dass sie ihn ohne seinenHut aus der Ferne nicht erkannt hatte. Der Hut lag am Rande derSandgrube. Sie strich dem Schäfer sanft die Haare aus seiner Stirn

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und wünschte ihm eine gute Reise ins Jenseits. Es war noch da,das Innerste dieses Menschen. Sie spürte seine Seele. Es würdenoch eine Weile dauern, bis die Seele dieses Menschen den Ortverlassen konnte.Ein Wacholderzweig, der wie bei einem geschossenen Rotwild inseinen verzerrten Mund gesteckt worden war, irritierte sie. DerBruch stellt im Verständnis der Jäger den letzten Bissen für dasWild dar. Diese Form der Aussöhnung mit dem getöteten Wild-tier ging vermutlich auf Riten von Jägern der Vorzeit zurück. Soetwas hatte sie noch bei keinem toten Menschen gesehen und einsolches Bestattungsritual war ihr ebenfalls nicht bekannt. Undwarum wurde ausgerechnet ein Wacholderzweig verwendet? Inder näheren Umgebung gab es genug Fichten und Kiefern. DieVerwendung eines solchen Zweiges würde dem Jagdbrauch eherentsprechen. Der Tote saß inmitten eines Steinkreises, der ver-mutlich extra für diesen Zweck gelegt wurde. Emilie war irritiert.Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Zu viele Zeichen fan-den sich an diesem Ort des Todes.Die verkrampfte, geschlossene Faust des Schäfers machte Emiliebesonders neugierig. Sie sah sich nach Lichtner um und fragteihn, ob sein Team die Faust bereits näher untersucht hätte. Licht-ner schüttelte den Kopf und meinte, dass die Totenstarre es un-möglich gemacht hätte, die Finger zu öffnen. Emilie wurde von ihrer Neugier getrieben und kniete sich aufden Boden neben die verkrampfte Hand. Dabei achtete sie da-rauf, nicht in die Blutlache zu treten. Sie versuchte den Arm desToten etwas nach vorne zu drücken, um die Faust besser be-trachten zu können. Zwischen den Fingern schien etwas Rosti-ges, Metallisches zu sein. Emilie rief Lichtner zu sich und zeigteihm ihre Entdeckung. Interessiert beugte er sich tief hinunterund versuchte die Finger ein wenig weiter zu öffnen. Der längli-che Gegenstand sah aus wie eine Me tallhülse oder eine Gewehr-patrone. Genaueres würde sich aber erst in ein paar Stunden inder Gerichtsmedizin feststellen lassen. Während sie die Hand des Toten untersuchte, hörte sie aus eini-

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ger Entfernung ein Knurren. Irritiert blickte sie sich um, konnteaber die Herkunft des Geräusches nicht orten. Die Spürhundewaren schon längst wieder mit ihren Hundeführern abgefahrenund Spaziergänger waren nirgends zu erblicken. Lichtner hatte wohl auch etwas gehört, denn er suchte mit sei-nen Augen ebenfalls die Umgebung ab. Aber er konnte genausowenig entdecken und sah deshalb wieder Emilie bei ihren Unter-suchungen zu. Unbemerkt löste sich ein Schatten vom Waldrand oberhalb derSandgruben und rannte den Berg hinunter, direkt auf Emilie zu.Lichtner bemerkte den riesigen Hund erst, als er keuchend undmit weit aufgerissenem Maul zum Sprung ansetzte. Emilie ver-suchte instinktiv zur Seite zu hechten. Es war zu spät. Lichtnerstand mit entsetztem Blick wie angewurzelt da und Emilie lagwehrlos auf dem Rücken, als das weiß-gelbliche Untier in derSandgrube einschlug und mit einem eleganten Haken direkt aufEmilie zusprang. Schützend riss sie ihre Arme vors Gesicht undschrie aus Leibeskräften. Der Hund warf sich zwar regelrecht auf Emilie, biss sie jedoch nicht, sondern winselte und schleckte sie mit sei-ner riesigen, triefenden Zunge an jeder Stelle im Gesicht ab, dieer trotz der schützenden Hände und Arme erreichen konnte. Bei diesem Anblick löste sich allmählich die Schrecklähmungvon Lichtner und er begann erleichtert aus vollem Hals und mithüpfendem Bauch zu lachen. »Liiiiiiichtner, Hemmlarschgreizdeiflfurzkanonarohr, tu dasRiesenvieh von mir runter.« Leider verstand das Riesenvieh ihrenFluch als Aufforderung, seine Liebesbezeugungen zu intensivie-ren, und Lichtner war nun nicht mehr vor Schreck handlungsun-fähig, sondern vor Lachen. Mit aller Kraft versuchte sie das sabbernde Ungeheuer zur Seitezu drücken und sich selbst mit einer Drehung aus der Gefahren-zone zu bringen. Mit viel Stöhnen und Strampeln gelang es ihrschließlich, und wutentbrannt stapfte sie auf Lichtner zu, dersich noch immer den Bauch hielt. »Du Oberseggel, des Untier

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hätte mich auch fressen können. Du bisch mir an rechterFreund«, schrie sie ihn an. Jetzt merkte Lichtner, dass sie es durchaus ernst meinte und ihrnicht zum Spaßen war. Mit einem schuldbewussten Sünderblicksah er sie an.»Ich habe heute schon genug Hund gehabt, ich brauche nichtnoch einen Dackel dazu.« Sie begann zu schluchzen und Lichtner plagte ein bisschen dasschlechte Gewissen wegen seiner zügellosen Schadenfreude. Der Hund schnupperte unterdessen vorsichtig an dem totenSchäfer. Emilie hatte sich wieder etwas beruhigt und betrachtetedas Untier nun etwas genauer. Es handelte sich zweifelsfrei umeine Hündin. Vermutlich war es irgendein ungarischer oder fran-zösischer Hirtenhund. Das drahtige, dichte Fell war relativ kurz.Am Hals der Hündin konnte man ein Lederhalsband erkennen. Emilies Blick wurde milder, als sie das Tier betrachtete. DerHund schien verletzt zu sein. Die Haare an seinem Kopf und ander Schulter waren mit Blut verklebt. An der Schnauze klebteebenfalls verkrustetes Blut. Vorsichtig streichelte sie ihm über denKopf und tastete nach der Wunde. »Bist ein braver Hund«, redetesie mit sanfter Stimme auf ihn ein. »Ist das dein Herrchen dadrüben?« Auf dem Halsband war der Name Laika eingestanzt.Jetzt erkannte sie die Hündin wieder. Es war der Leithund desSchäfers Lamparter. Beim Kräutersammeln war sie einmal demSchäfer begegnet und hatte das Tier schon damals bewundert. Alssie den Schäfer auf seine Hündin ansprach, spürte sie den Stolz inseiner Stimme, als er von seiner lieben Laika erzählte. Emilie überprüfte noch die Wunden an Schulter und Schnauze.Es schienen beides nur Fleischwunden zu sein. Dann flüsterte siedem Hund ins Ohr: »Braver Hund. Wenn du nur reden könn-test, wüssten wir bald, wer dein Herrchen umgebracht hat.«Zwischenzeitlich war die Arbeit der Spurensicherung abge-schlossen und die Leiche wurde abtransportiert. Um die Sand-grube herum wurde das Absperrband vervollständigt und mitdem Hinweis versehen »Gesperrt – Polizeiliche Ermittlungsar-

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beit«. Grießinger stand etwas verloren auf der Wacholderheide undwartete, bis Lichtner und Emilie mit ihrer privaten Ermittlungs-arbeit fertig waren. Grießinger konnte warten. Er war ein erfah-rener Beobachter, dem kein Detail entging. Aber mit einemToten in einem Steinkreis und einem Wacholderzweig im Mundhatte er es noch nie zu tun gehabt. Er mochte diese psychologi-schen Fälle nicht, in denen man meist tief in die Abgründe der menschlichen Seele hinabsehen musste. In seiner Vorstellungswelt geschahen Morde ausHabgier, Eifersucht, Leidenschaft und nur ganz selten aus ande-ren, unerklärlichen Gründen. Die Berücksichtigung einer schwe-ren Kindheit oder andere mildernde Umstände waren ihm zuwi-der, weil sie meist zu einer kürzeren und unzureichendenHaftzeit führten. Wer gegen das Gesetz verstieß, sollte auch da-für büßen.Warum jemand den Schäfer Lamparter ermordet und mit so selt-samen Zutaten geschmückt haben könnte, konnte er sich nichtvorstellen. Doch trotz aller inneren Widerstände fand er schnellden Weg zur Routine zurück und machte sich eifrig Notizen insein liniertes Merkheft, das seine Frau günstig aus der Auflösungeines alten Schreibwarengeschäfts erstanden hatte. Ursprünglichwar es wohl als Vokabelmerk -heft gedacht. Grießinger jedochnutzte das praktische Heft im DIN-A6-Format als sein persönli-ches Notizbuch. Er schätzte die alten Schreibschriftlinien sehrund bemühte sich, wie einst in der Volksschule, besonders schönzu schreiben.Auf der Wacholderheide kehrte wieder Stille ein, als wäre nieetwas passiert. Der Schäfer war tot! Wer sollte nun die Schafe hüten?

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4Emilie und Lichtner blieben bei den Tieren, während Grie-ßinger losfuhr, um am Sonntagmorgen einen Schäfer zufinden, der die Tiere versorgen konnte und die Hunde vor-

erst aufnahm. Bis zu seiner Rückkehr wollten sie eine großeRunde um die Wacholderheide gehen, um zu sehen, wie weit dieSchafe im Gelände verstreut waren, und um nach weiteren Spu-ren zu suchen. Außerdem mussten die Hunde versorgt werden.Sie hatten nach der Nacht auf der Schafweide mit SicherheitHunger. Vielleicht gab es im Schafhaus Wasser und etwas zu fres-sen für die Tiere.Emilie war nach der Begegnung mit Lichtner etwas konfus undschob die Fragen, die der Tote am Sternberg ihr stellte, bis aufWeiteres weit von sich. Die leidenschaftliche Beziehung zwischenLichtner und Emilie endete vor 25 Jahren sehr abrupt undschmerzhaft. Emilie war ausgebrochen, hatte Angst vor derschwindelerregenden Höhe ihres Glücks bekommen und einesMorgens ihre Koffer gepackt, während Lichtner ahnungslos beider Spurensicherung war. Seitdem hatten sie nichts mehr vonein-ander gehört. Briefe und Anrufe ließ Emilie unbeantwortet. Sielitt und wollte vergessen. 25 Jahre später kribbelte es jedoch nochimmer in ihrem Bauch, wenn sie Fritz Lichtner ansah. »Bist du mir noch böse?«, fragte sie ihn vorsichtig.»Du bist mir noch was schuldig: einmal Spaghetti und zweiFlaschen Rotwein.« Lichtner konnte sein genussvolles Grinsenkaum verbergen.

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5Vom Sternbergparkplatz fuhr Grießinger zuerst ins Tal hi-nunter. Er erinnerte sich noch an den Weg durchs Wolfstal,der am Hungerberg und Hackberg vorbei direkt ins Lau-

tertal führte. Vor vielen Jahren war er hier mit seiner Frau undseinen Kindern auf einer Wanderung unterwegs. Im Tal unten an-gekommen, überquerte er die Bahnlinie, danach die Lauter, voll-zog einen Schlenker nach links und bog nach rechts in den Wegzum Schafstall. Nach einigen Metern erreichte er das stattlicheGebäude, welches von außen an eine große Scheune erinnerte.Der Schafstall sah verlassen aus und nur um sicherzugehen, obvielleicht doch jemand da war, öffnete er die unverschlosseneStalltür und blickte in Hunderte ahnungsloser und überraschterGesichter von Schafen, die seine Neugier mit lautem Blöken be-antworteten.Aber niemand war zu sehen. Also fuhr er weiter nach Münsingenhinein zu Valentin Voigt, einem Münsinger Schäfer. Dort hatte erGlück und die Voigts waren tatsächlich zu Hause. Frau Voigt, dieSchäfersfrau, hatte bereits neugierig das Küchenfenster geöffnet,als Grießinger im Hof ausstieg. »Morga«, rief sie. »Suchet Sie ebber?« Grießinger kam ein paarSchritte näher und zeigte ihr seinen Dienstausweis.Beim Anblick des Ausweises wurde sie blass und drehte sich zuihrem Mann um, der am Küchentisch die Sonntagszeitung las.Grießinger beschwichtigte zugleich, dass er nicht ihretwegenkomme, sondern am Sternberg einen Schäfer brauche. »Hat d’r Lamparter wieder seine Schaf’ saua lassa?«, bruddelteVoigt vom Küchentisch. Die Frage war eher eine spöttische Fest-stellung. »Der Herr Lamparter lässt keine Schafe mehr herumspringen. Erist ziemlich tot und seinen Schafen fehlt dringend ein Schäfer.Könnten Sie sich vorstellen, die Schafe zusammenzutreiben undins Schafhaus zu bringen? Wir regeln dann morgen, wer die Tiereweiter versorgt.«Grießingers fragender Blick wurde von Voigt mit einem Schul-terzucken beantwortet, »Wenn ’r niemand findet, dann muss i

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halt numfahra«, bruddelte er wieder und verschwand in derKüche. Grießinger kannte den einen oder anderen Schäfer ausseiner Kindheit und Jugend. Meist waren es knitzige, schwerdurchschaubare Menschen, aus denen man nicht schlau wurdeund die nur selten zeigten, was in ihnen vorging. Die offene Re-aktion Voigts überraschte den Kommissar. Es schien, als hätteValentin Voigt gewusst, dass er heute noch an den Sternbergmüsse.Wenig später lief der Schäfer im Schäferkittel über den Hof zumStall, pfiff seinen Hunden, die auf die Ladefläche seines Pick-up-Geländewagens sprangen. In Richtung Grießinger rief er: »I fahrjetzt zum Sternberg ’nauf«, und schon war er eingestiegen unddavongefahren. Grießinger verabschiedete sich bei Frau Voigtund stieg ebenfalls in sein Auto. Bedäch tig drehte er den Zünd-schlüssel, gab behutsam Gas und fuhr gemächlich zurück zumSternberg. Eigentlich fuhr Josef Grießinger gerne Auto. Dabei ging es ihmaber nicht darum, möglichst schnell und komfortabel von A nachB zu kommen, sondern er liebte das Spazierfahren. Stocktenseine Ermittlungen, setzte er sich in seinen betagten Benz undfuhr auf die Albhochfläche bis hinunter zur Donau. Spätestensab der Honauer Steige wurden seine Gedanken klarer und man-ches unklare Teil des Tatpuzzles bekam endlich seinen richtigenPlatz. Die endlose Autoschlange, die bei diesen Ausfahrten hin-ter ihm die Steige hochkroch, ignorierte er. Für ihn und sein Ve-hikel waren 35 Stundenkilometer auf der Honauer Steige ein or-dentliches Tempo und Raser konnte er noch nie leiden. Nochnicht einmal überholende Radfahrer machten ihn wirklich ner-vös oder bewegten ihn zu einer leichten Geschwindigkeitsstei-gerung. Sollte ein nachfolgender Fahrer wider Erwarten docheinmal die Nerven verlieren und zu einem verzweifelten, wag-halsigen Überholmanöver ansetzen, zuckte Grießinger ver-ständnislos mit den Schultern und bedauerte die hektischen Zei-ten.Auf seiner Fahrt zum Sternberg kreisten seine Gedanken um

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Emilie Berta Lämmle. Er fühlte deutlich, dass die letzten Jahreseiner Dienstzeit nicht so ruhig und entspannt verlaufen würden,wie er es sich vorgestellt hatte. Diese Frau passte nicht in sein ge-ordnetes, schwäbisches Weltbild und war ihm zu spontan, zuschrill, zu unberechenbar. Seine Spontanität beschränkte sich aufdie Entscheidung, ob er in der Wirtschaft saure Kuttla oder saureNierle essen würde. Ansonsten verlief sein Leben in geplanten,überschaubaren Bahnen.Ihr erstes Zusammentreffen fand zur denkbar ungünstigs ten Zeitstatt. Josef Grießinger zelebrierte mit seinen Kollegen die Ves-perpause. Dazu lagen ein Laib frischen Bauern -brots, eine Pfeffer-Schwarzwurst, gerauchte Schinkenwurst,Albkäs und Senf auf dem Tisch, in dessen Mitte noch eineFlasche Trollinger oder manchmal auch ein Krug Most thronte.Grießinger schnitt gerade einen Riebel Brot runter, da öffnetesich mit Schwung die Bürotür und Emilie Berta Lämmle standvor ihm. Grießinger war zwar informiert worden, dass sich andiesem Tag diese Profilerin vorstellen würde, er hatte auch etwasbefremdet und verwundert das Klopfen an der Tür gehört, aberdass sie die Frechheit besaß, ausgerechnet sein Vesper zu stören,war ihrer zukünftigen Beziehung in keiner Weise zuträglich.»Guten Tag, ich bin Emilie Berta Lämmle und freue mich auf dieZusammenarbeit mit Ihnen.« Stille. Nur dumpfe Kaugeräusche waren zu hören. Grießingerschnitt sich mit Bedacht ein Stück Schwarzwurst herunter undzeigte damit in Emilies Richtung: »Ich freu mich nicht, wenn mich jemand beim Vespern stört,aber kommen Sie rein, wenn Sie schon mal da sind.«Grießinger konnte, wenn er wollte, ein fast akzentfreies Beamten-Hochdeutsch sprechen. Schwäbisch schwätzte er nur, wenn es dieSituation erforderte oder wenn er einem Mitmenschen seine Sym-pathie oder aber Antipathie ausdrücken wollte. Legendär war die Situation auf der Neckarbrücke in der Nach-barstadt Tübingen, als er in Begleitung eines Kriminalbeamten ausHamburg, der ihm im Rahmen eines Dienstaustauschprogramms

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zugeteilt worden war, vollkommen un verhofft einen alten Be-kannten traf. »Du altes Arschloch, wie geht’s au dir«, war seine Begrüßung, diebei seinem dienstlichen Begleiter aus dem hohen Norden blankesEntsetzen und einen hochroten Kopf zur Folge hatte. Vermutlichbefürchtete er, dass es aufgrund der Beleidigung zu einer wildenSchlägerei mit einem Polizeibeamten kommen würde. Nichts der-gleichen geschah, denn der Schwabe und insbesondere der Älblerhat manchmal eine durchaus etwas derbe, aber dafür umso ehr-licher gemeinte Art der freudigen Begrüßung. Im Normalfall aberreichte ein gebrummeltes »Tag« oder »’s Gott« vollkommen aus,um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass man auch da sei.Emilie betrat die Büroräume der Mordkommission, stellte ihrenWeiden-Henkel-Korb auf den Tisch und schmetterte ein »GutenAppetit, die Herren« in die Runde. Dabei streckte sie den Män-nern reihum ihre Hand zur Begrüßung hin, was zu eifrigem Fin-ger-an-der-Hose-Abwischen sorgte. »Jetzt vespern Sie ruhig zuEnde und ich koche mir so lange einen Tee, dann können wir unsimmer noch besprechen.«Während Emilie ihren Korb nach ihrer Spezial-Teemischungdurchsuchte, den sie überall hin mitnahm, wurde sie aufmerksamvon Grießinger gemustert, der dabei sein Stück Schwarzwurst inder Hand vollkommen vergessen hatte. Ihre Kleidung hatte Emi-lie an diesem Tag besonders liebevoll ausgewählt. Ein kurzer Je-ansrock, der knapp bis oberhalb des Knies reichte, Strickstrumpf-hosen in einem fröhlichen Froschgrün, Pulswärmer an denHandgelenken, ein knallbunter Schal um den Hals und ihre Lieb-lingsfellstiefel an den Füßen. Auf ihrem Kopf befand sich eine rus-sische Fellmütze, deren Ohrenklappen weder oben noch untenzusammengebunden waren, sondern wie zwei hängende Flügelvon der Mütze seitwärts abstanden. Die gesamte Erscheinung die-ser Person ließ Grießinger nichts Gutes ahnen und war für sein ka-tholisch erzogenes Auge fast unerträglich. »Ist eigentlich schon Fasnet oder kommen Sie vom Zirkus?«,rutschte es Kriminalhauptkommissar Grießinger heraus.

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»Ihnen tät ein bisschen Farbe auch gut«, antwortete Emilie undschaute sich dabei mit spöttischem Blick um. Als Nächstes nahm Grießinger einen durchdringenden Duft war,der seine Laune an diesem Tag vollends verdarb. Der intensive Ge-ruch von Kräutern, Zimt und anderen undefinierbaren Gewürzenmischte sich mit den feinen Aromen der Schwarzwurst, des Bau-ernbrots und seiner geliebten Schinkenwurst zu einer absolutschwäbisch-kulinarischen Katastrophe. Damals, nach ihrem ersten Zusammentreffen, hatte er noch diestille Hoffnung, dass Frau Lämmle nicht lange mit ihm zusam-menarbeiten würde. Die Vorstellung, dass jemand mit diesem Äu-ßeren akribische Polizeiarbeit unterstützen könnte, erschien ihmvollkommen absurd.Frau Lämmle, die Profilerin, Schriftstellerin und Inhaberin einerHerberge, galt als profunde Kennerin der Alb, der kein Brauchund keine Eigenart dieser Gegend unbekannt waren. Sein KollegeBaisch hatte ihm bereits berichtet, dass man Frau Lämmle auchmit seltsamen Ritualen, wie Vollmondtänzen, Kräuterzauber undFrauenzirkeln in Verbindung brachte. Baisch erweckte bei diesenWorten den Anschein, als würde er von einer mittelalterlichenHexe sprechen. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass erdieser Frau alles zutraute. Schon seine Mutter hatte ihn vor wildenWeibsbildern gewarnt, die es nur auf seine Männlichkeit abgese-hen hatten.Grießinger hatte Baisch vor ein paar Tagen noch beruhigt, alsdieser von der zukünftigen »Kollegin« berichtete.»Sie wird uns schon nicht zu Kalksteiner verhexen«, erwiderte ermit einem Augenzwinkern und machte sich dann wieder an seineArbeitJetzt erschien es aber auch ihm unvorstellbar, dass ausgerechnetso eine Frau ihm, dem Profi, bei der Ermittlungs arbeit behilflichsein sollte.Der Tote am Sternberg machte nun eine Zusammenarbeit un-umgänglich und Grießinger war darüber nicht glücklich, son-dern ahnte bereits, dass es mit seiner Ruhe und Beschau lichkeit

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vorüber war.

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6Wieder am Sternberg angekommen, stieg KommissarGrießinger aus seinem Auto und schloss bedächtig dieTür. Die Schafherde war noch nicht zum Schafhaus getrie-

ben worden, also beschloss Grießinger endlich zu vespern.Kaum hatte er es sich an der Zwillingsbuche gemütlich gemacht,schrie jemand schon von Weitem. »Mach des Tor auf und sitz net bloß dumm rum!« Grießinger fiel fast der Rest seines Vespers aus der Hand, so er-schrak er durch das Geschrei des Schäfers Voigt. Die Schafherdekam zurück ins Schafhaus.Schnell hatte Voigt alle Schafe in den Stall getrieben und dasStalltor verriegelt, dann pfiff er seinen Hunden, packte die Hü-tehunde des Schäfers Lamparter am Halsband und ging, ohne einweiteres Wort zu verlieren, zu seinem Geländewagen. Grießin-ger rief ihm hinterher: »Morgen früh sind Sie um 10 Uhr bei mirim Büro und davor versorgen Sie noch die Schafe.« Voigt gingeinfach weiter, nickte und einen kurzen Moment später brausteer mit den Hunden im Auto davon. Laika hatte sich geweigert,dem Schäfer Voigt zu folgen und war die ganze Zeit Emilie nichtvon der Seite ge wichen.»Jetzt genehmigen wir uns noch einen schönen Rostbraten beimHirschwirt in Gächingen«, schlug Lichtner vor. Es war bereits 12Uhr und sein Magen knurrte gewaltig. Emilie war hin und her-gerissen, denn eigentlich wollte sie einen gemütlichen Sonntagmit Theo verbringen und unbedingt die Wunden von Laika rei-nigen. Glücklicherweise nahm ihr Grießinger die Entscheidungab, als er die Einladung freudig annahm. Auf den bruddligenKommissar hatte sie heute überhaupt keine Lust mehr.Lichtner war sichtlich enttäuscht, dass er den Rostbraten anstattmit Emilie nun mit dem Kommissar verspeisen musste.»Denk dran, du bist mir einmal Spaghetti schuldig«, flüsterte erihr beim Abschied ins Ohr.Mit einem kurzen, offiziellen Händeschütteln und der Vereinba-rung, morgen im Präsidium vorbeizukommen, verabschiedetesich Emilie von Kommissar Grießinger und ging zu ihrem Auto.

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Laika folgte ihr auf den Fersen und setzte sich erwartungsvollneben die geöffnete Fahrertür. Im ersten Moment zögerte Emi-lie, entschloss sich dann aber doch, die Heckklappe ihres Autoszu öffnen und den Hund einsteigen zu lassen. Nach kurzer, wie immer zu schneller Fahrt erreichte Emilie ihrGästehaus in Bremelau. Die Sache mit Lichtner hatte sie bei allerWiedersehensfreude beunruhigt. Etwas rumorte in ihr, das sieziemlich konfus machte. Sie brauchte jetzt ein heißes Bad, viel-leicht ein Glas Sekt dazu und einen Mann, der ihr genüsslich denRücken schrubbte…Allerdings bestand die Gefahr, dass Laika den Sonntag noch ver-derben könnte. Theo war nicht wirklich ein Hundenarr undLaika nicht unbedingt klein und unscheinbar. Sie ließ Laika ausdem Auto und erneut blieb der Hund dicht hinter ihr. Dummer-weise hatte Emilie wieder einmal ihren Schlüssel vergessen undmusste deshalb klingeln. Theo öffnete die Tür und wollte zueinem »Schön, dass du wieder da bist« ansetzen, als er das Un-tier hinter Emilie erblickte. Ein vollkommen entsetztes»Hund!«, war alles, was er herausbrachte. Emilie antwortete ihmmit einem kurzen, konfliktfreien: »Ja, du hast es erkannt« undging mit dem Hund im Schlepptau kurzerhand an Theo vorbeiins Haus hinein. Der blieb wie angewurzelt stehen und seinnächstes Wort war ein deutliches »Raus!«, worauf Emilie auf derStelle kehrtmachte und mit dem Hund an ihren Fersen schnur-stracks zur Haustür ging. Theo begann innerlich zu kochen. Instinktiv entschärfte Emilie die Lage, indem sie Theo umarmteund ihm einen dicken Kuss auf den Mund drückte. »LieberTheo, entspann dich! Morgen früh bring’ ich den Hund dochgleich ins Tierheim.« Theo holte tief Luft und gab sich fürs Erste geschlagen. »Versprichst du mir, dass der Hund morgen sicher wieder aus-zieht?«»Aber natürlich, Theo. Du weißt doch, dass du dich diesbezüg-lich auf mich verlassen kannst.«Die Worte Emilies weckten in ihm Erinnerungen an Zimmer-

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leute auf der Walz, verlassene Freundinnen, trostsuchende Ehe-männer, kiffende Jugendfreunde und all die anderen Herzensan-gelegenheiten seiner Frau, die irgendwann auftauchten und ebenmeist nicht, wie versprochen, am nächsten Tag wieder gingen.Erst vor wenigen Wochen war der letzte Mitbewohner mithilfeTheos sanfter Überredungskunst wieder ausgezogen. Bei diesem hartnäckigen Mitbewohner musste Theo einmalmehr zum letzten Mittel greifen, indem er, als Emilie gerade fürEinkäufe das Haus verlassen hatte, seinem Mitbewohner er-zählte, dass sie alle unter fürchterlich ansteckenden und jucken-den Hautpilzen leiden würden. Ganz vorsichtig fragte er seinenDauergast, ob es bei ihm etwa auch schon jucken und brennenwürde. Wenn ja, dann ließen sich wohl ein Termin beim Hautarztund wochenlanges Schmieren, Pudern und Salben nicht vermei-den. Theo hatte diese Nummer zwischenzeitlich perfekt einstu-diert und blieb deshalb auch vollkommen ernst, als er die Panikin den Augen des netten Mitbewohners bemerkte und die erstenSchweißtropfen auf der Stirn seines Opfers sichtbar wurden. Alsdieser ihn dann noch fragte, ob es unter diesen Umständen nichtbesser wäre, wenn er ausziehen würde, setzte Theo zum Todes-stoß an und bat seinen Gast mit betrübter Miene (Emilie nanntees Dackelblick), doch unbedingt zu bleiben, weil so schlimmseien die Geschwüre gar nicht (dabei kratzte er sich heftig an sei-nem Bauch). Man müsse nur regelmäßig salben und schmieren. Innerlich hörte er bereits die ersten Klänge von »Freude, schönerGötterfunken«, doch sein Gesicht blieb ernst und selbst die hän-genden Schultern zeigten das krasse Gegenteil seiner wahrenGemütsverfassung. In dunklen Momenten überlegte Theomanchmal, ob er sich vielleicht ein Kerbholz zulegen sollte, indas er für jedes seiner »Entwohnungsopfer« eine Kerbe machenkönnte.Emilie war bereits mit dem Hund in die Küche gegangen, hattesich auf dem Weg dorthin ihre Schuhe ausgezogen, die Jacke fal-lenlassen und ihren Schal dekorativ auf dem Treppengeländer dra-piert, angelte sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten

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und ließ sich in ihren roten Lieblingssessel im Wohnzimmer fal-len. Theo folgte ihr mit gebührendem Abstand. Kaum hatte ersich hingesetzt und eine Grundsatzdiskussion über die Haltungvon Riesenhunden und die damit auftauchenden Probleme be-gonnen, da sprang Emilie schon wieder auf.Sie griff sich kurzerhand die Plastik-Salatschüssel, ein Geschenkihres Schwiegervaters, und füllte diese zur Hälfte mit Wasser.Vorsichtig balancierte sie die Schüssel ins Wohnzimmer undstellte sie vor Laika ab, die sich mit freudigem Bellen auf das Was-ser stürzte. Emilie setzte sich zufrieden in ihren Sessel und Theowar angesichts der Schüsselumnutzung sichtlich empört. »Du glaubst aber nicht, dass wir aus der Salatschüssel noch eineinziges Mal Salat essen können?«»Versprochen, Theo. Dieses hässliche Plastikding wird niemalsmehr für Salat benutzt.« Emilie setzte einen bedauernden Blick auf und senkte schuldbe-wusst ihren Kopf, auch um ihr Siegeslächeln zu verbergen. Derjahrelange Kampf um die Nutzung der ungeliebten Plastik-Sa-latschüssel war endlich gewonnen.Ein weiterer Versuch Theos, seine Meinung zur Hundehaltungkundzutun, wurde jäh von der Haustürklingel unterbrochen.Laika schreckte auf, begann aggressiv zu bellen und rannte inRichtung Haustür. Emilie eilte hinterher und holte den Hundaber erst an der Tür ein. Laika hatte die Nackenhaare hochge-stellt und fletschte die Zähne. »Laika ab«, schrie Emilie die Hün-din an und drängte sie von der Tür weg. Tiberius Hauser stand draußen. »Grüß Gott, Emilie. Ich hab gehört, du warst am Sternberg beider Leiche?« Der Hund knurrte noch immer bedrohlich und hatte alle Na-ckenhaare aufgestellt. »Und wenn, was willst du?« »Ich hab gedacht, du weißt vielleicht mehr, weil die Leut alle fra-gen, was passiert ist.«Das Knurren des Hundes wurde immer lauter und aggressiver.

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»Seit wann hast du einen Wachhund?«»Der Tote am Sternberg ist der Schäfer Lamparter und mehr gib-t’s nicht zu erzählen. Außerdem hab’ ich keine Lust auf einSchwätzle mit dir.« »Schon recht«, sagte er, dabei versuchte er durch den Türspalt zuspähen, um den Hund im Hausgang zu erkennen.»Ich wollt’ nicht stören. Ade und noch einen schönen Sonntag.«

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