Schülervorstellungen zum Zustandekommen kognitiver ... · 4 1 Einleitung Kognitive Leistungen...

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Schülervorstellungen zum Zustandekommen kognitiver Leistungen unter besonderer Berücksichtigung der Wahrnehmung Wissenschaftliche Arbeit für die Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft Studienrichtung Schulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg von Anja Vocilka aus Ludwigsburg Referent: Prof. Dr. Marcus Schrenk, Didaktik des Sachunterrichts (naturwiss.) Koreferent: Prof. Dr. Hans-Joachim Fischer, Erziehungswissenschaft/Grundschulpäd. Datum der Abgabe: 29. August 2005

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Schülervorstellungen zum Zustandekommen

kognitiver Leistungen unter besonderer

Berücksichtigung der Wahrnehmung

Wissenschaftliche Arbeit

für die

Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft

Studienrichtung Schulpädagogik

an der

Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg

von

Anja Vocilka

aus Ludwigsburg

Referent: Prof. Dr. Marcus Schrenk, Didaktik des Sachunterrichts (naturwiss.)

Koreferent: Prof. Dr. Hans-Joachim Fischer, Erziehungswissenschaft/Grundschulpäd.

Datum der Abgabe: 29. August 2005

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung.......................................................................................... 4

2 Zum Stand der Forschung ............................................................... 6

2.1 Zur derzeitigen Situation in der Grundschule ................................................. 6

2.2 Neurobiologische Grundlagen........................................................................... 9

2.2.1 Kognitive Leistungen........................................................................................... 9

2.2.2 Aufbau von Gehirn und Nervensystem ...............................................................11

2.2.3 Prozesse der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung ............................13

2.2.3.1 Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung .................................. 15

2.2.3.2 Somatosensorische Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung ................. 18

2.2.4 Das Gedächtnis und seine Leistungen .................................................................19

2.3 Grundlagen des Konstruktivismus ................................................................. 22

2.4 Schülervorstellungsforschung zu kognitiven Leistungen............................... 24

2.4.1 Schletter: Lernen und Gedächtnis. Zur Veränderung vorunterrichtlicher

Schülervorstellungen zum Thema „Lernen und Gedächtnis“ in Richtung

wissenschaftlicher Konzepte...............................................................................24

2.4.1.1 Zusammenfassung der Vorstudie ....................................................................... 24

2.4.1.2 Zusammenfassung der Hauptstudie ................................................................... 27

2.4.2 Johnson/Wellman: Children’s Developing Conceptions of the Mind and

Brain ..................................................................................................................29

2.4.3 Stipek/Gralinski: Children’s Beliefs About Intelligence and School

Performance .......................................................................................................31

2.4.4 Kurzzusammenfassung der beschriebenen Studien..............................................32

3 Vorstellung der Untersuchung ...................................................... 34

3.1 Fragestellungen................................................................................................ 34

3.2 Untersuchungsdesign....................................................................................... 35

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3.2.1 Untersuchungsmethode.......................................................................................35

3.2.2 Untersuchungszeitraum ......................................................................................36

3.2.3 Untersuchungsteilnehmer ...................................................................................36

3.2.4 Untersuchungsort................................................................................................36

3.2.5 Datenaufzeichnung .............................................................................................37

3.2.6 Datenanalyse ......................................................................................................37

3.3 Ablauf der Untersuchung................................................................................ 37

3.3.1 Komplex 1: Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung................37

3.3.2 Komplex 2: Somatosensorische Wahrnehmung und

Wahrnehmungsverarbeitung ...............................................................................41

3.3.3 Komplex 3: Organ Gehirn...................................................................................43

3.3.4 Komplex 4: Leistungsfähigkeit des Gehirns ........................................................43

3.3.5 Komplex 5: Gedächtnis ......................................................................................46

3.4 Auswertung und Interpretation ...................................................................... 47

3.4.1 Komplex 1: Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung................47

3.4.2 Komplex 2: Somatosensorische Wahrnehmung und

Wahrnehmungsverarbeitung ...............................................................................51

3.4.3 Komplex 3: Organ Gehirn...................................................................................55

3.4.4 Komplex 4: Leistungsfähigkeit des Gehirns ........................................................60

3.4.5 Komplex 5: Gedächtnis ......................................................................................69

3.5 Zusammenfassung der zentralen Untersuchungsergebnisse und

Schlussbemerkung ........................................................................................... 75

4 Literatur ......................................................................................... 78

5 Anhang............................................................................................ 83

5.1 Interviewleitfaden............................................................................................ 83

5.2 Beobachtungsbogen für die Filmsequenz ....................................................... 86

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1 EinleitungKognitive Leistungen werden bereits in der Grundschule von den Schülerinnen und Schü-

lern in hohem Maße gefordert. Aber erst in jüngster Zeit gewinnt das Wissen um das Zu-

standekommen kognitiver Leistungen zunehmend an Bedeutung. Sicherlich verbinden viele

Eltern, Lehrerinnen und Lehrer dieses Metawissen mit der Hoffnung auf bessere schulische

Leistungen der Kinder. So ist es auch nicht verwunderlich, dass einige Schulbuchverlage

das Gehirn und seine Leistungen aufgreifen und als Lehr- und Lerninhalt in ihren Schulbü-

chern präsentieren. Obwohl diese Arbeit keine Schulbuchanalyse darstellt, so hinterfragt sie

dieses Vorgehen doch kritisch, zumal im Bildungsplan für Baden-Württemberg weder für

die Klassen 1/2 noch für die Klassen 3/4 kognitive Leistungen und ihr Zustandekommen als

Kompetenzen oder Inhalte explizit erwähnt werden.1

Mit dieser Arbeit möchte ich einigen Fragen nachgehen, die vor der Konzeption von Unter-

richtseinheiten zu diesem Thema stehen müssen: Welche Vorstellungen haben Grundschul-

kinder vom Gehirn und seinen Leistungen? Wie kommen sie zu ihren Vorstellungen? Inwie-

fern bilden diese Vorstellungen Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Weiterentwicklung

derselben?

Folgendes Vorgehen liegt meiner Arbeit zugrunde: Zunächst werden die eben erwähnten

Schulbuchinhalte kurz dargestellt. Anschließend werden die für diese Untersuchung rele-

vanten neurobiologischen Erkenntnisse zum Zustandekommen kognitiver Leistungen aufge-

zeigt. Als eine aus der Neurobiologie abgeleitete Lerntheorie wird der Konstruktivismus

umrissen. Der Konstruktivismus ist die derzeit wohl vielversprechendste Lerntheorie nicht

nur für die Grundschule. Damit kommt ihm in dieser Arbeit eine Doppelfunktion zu. Einer-

seits ist er Bezugsnorm für den theoretischen Rahmen, in dem sich diese Arbeit bewegt.

Andererseits werden auch die Vorstellungen der befragten Schülerinnen und Schüler auf der

Grundlage des Konstruktivismus überprüft. Abschließen möchte ich den Teil der theoreti-

schen Überlegungen mit der Beschreibung dreier Untersuchungen, die zur Schülervorstel-

lungsforschung über kognitive Leistungen zu zählen sind (Schletter, Johnson/Wellman, Sti-

pek/Gralinski).

Den Schwerpunkt bildet die von mir durchgeführte Untersuchung zum Zustandekommen

kognitiver Leistungen unter besonderer Berücksichtigung der Wahrnehmung. Mittels eines

Leitfadeninterviews sollen die Vorstellungen der Grundschulkinder zu ausgewählten As-

1 Vgl. auch den Bildungsplan für die Grundschule 2004 des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport.

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pekten dieser Thematik erhoben werden. Fünf Untersuchungskomplexe werden dabei gebil-

det. So werden die Schülerinnen und Schülern zu Aspekten der optischen und sensomotori-

schen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung befragt (Komplexe 1 und 2), zum

Organ Gehirn (Komplex 3) und seiner Leistungsfähigkeit (Komplex 4), sowie zum Ge-

dächtnis (Komplex 5). Zunächst werden die zugrunde liegenden Forschungsfragen offen

gelegt. Nach einer Beschreibung des Forschungsdesigns wird der Ablauf der Untersuchung

dargestellt. Einen Schwerpunkt bildet die qualitative und quantitative Auswertung und In-

terpretation der geführten Interviews. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der

zentralen Untersuchungsergebnisse.

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2 Zum Stand der Forschung

2.1 Zur derzeitigen Situation in der Grundschule

In den letzten Jahren haben sich Hirnforscher wie zum Beispiel Manfred Spitzer vermehrt in

die Diskussion um Inhalte und Wege in der Bildung eingebracht. Auch die Grundschule und

der Sachunterricht bleiben, zumindest in Baden-Württemberg, von Einflüssen aus Neuro-

biologie und Hirnforschung nicht unberührt.2

Zum einen werden Konsequenzen aus der Hirnforschung für die Lehrerbildung und Unter-

richtsgestaltung gefordert3, zum anderen wird das Wissen um das Zustandekommen kogniti-

ver Leistungen selbst zum Unterrichtsinhalt. Dies illustrieren folgende Beispiele, die in

Baden-Württemberg neu zugelassenen Schulbüchern entnommen wurden.

Abbildung 1: Auszug aus einem Schulbuch für die Klasse 2 (entnommen aus Bayer (1), S.50)

2 Ein Beispiel dafür ist die Eröffnung des ersten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen imApril 2004 in Ulm unter der Leitung von Manfred Spitzer.3 Z. B. Spitzer 2002, S. 418

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Abbildung 1 zeigt eine Schulbuchseite für die Klassenstufe 2. Man kann deutlich die Fur-

chen der Großhirnrinde erkennen. Auch die Venen und Arterien, konventionsgemäß in blau

und rot gezeichnet, sind dargestellt. Darüber hinaus können die Kinder der Schulbuchseite

unter anderem folgende Informationen entnehmen: „Millionen von Nerven verbinden das

Gehirn mit dem ganzen Körper. Augen, Ohren, Mund, Nase und die Haut teilen dem Gehirn

mit, was um uns herum vorgeht. Die Nerven teilen uns mit, wann wir essen, trinken oder

schlafen müssen. Das Gehirn kann Informationen empfangen und senden.“4 Sämtliche

Informationen sind in Form von Aussagesätzen dargestellt und betreffen Themenfelder wie

die Informationsverarbeitung, das Zusammenspiel mit den Sinnesorganen oder das Nerven-

system. Am unteren Rand der Schulbuchseite sind zwei Arbeitsaufträge für die Schüler zu

finden. In Bezug auf die Gedächtnisleistung sollen Episoden aus der frühen Kindheit erin-

nert werden (vgl. Abbildung 1). Die zweite Aufgabe erklärt mit einem Aussagesatz, dass

alles Lernen im Gehirn stattfindet. Die beiden Fragen „Was kannst du schon alles? Was

willst du noch lernen?“ sollen die Schüler dazu anregen, sich der eigenen kognitiven Leis-

tungen bewusst zu werden.

Meiner Ansicht nach sind die auf dieser Schulbuchseite gegebenen Informationen zum Ge-

hirn kritisch zu sehen. So wird zum Beispiel nicht deutlich gemacht, dass die rote und blaue

Darstellung der Blutgefäße einer Konvention und nicht dem tatsächlichen Aussehen ent-

spricht. Auch ist auf diesem Bild das Gehirn selbst nicht zu sehen, sondern nur die gewun-

dene Großhirnrinde, die es zum großen Teil umschließt. Zudem fehlen die eigentlichen

Kerninformation, nämlich die Antworten auf Fragen wie Wie können die Augen dem Gehirn

etwas mitteilen? Wie kann das Gehirn Informationen senden und empfangen? Wie teilen

und die Nerven mit, wann wir essen, trinken oder schlafen müssen? Diese Fragen aber –

dies kann ich auch aufgrund meiner eigenen, mehrjährigen Erfahrung als Lehrerin sagen –

werden interessierte und motivierte Schülerinnen und Schüler stellen, gerade auch aufgrund

des Bildes mit dem eröffneten kindlichen Kopf, das einen Blickfang für die Kinder darstellt.

Die Sachinformationen im entsprechenden Lehrerhandbuch helfen bei Fragen nach Funk-

tionsweise, Leistungen und Aufgaben des Gehirns ebenfalls nicht weiter. „Das Gehirn ver-

arbeitet die von den Sinnen aufgenommenen Informationen und macht sie erst für den Men-

schen nutzbar. In der Zeichnung sind deutlich die Furchen und Windungen zu sehen, die der

Großhirnrinde ihr walnussartiges Aussehen geben. Auch die zwei Hälften sind gut erkenn-

bar sowie die Blutgefäße. Das Nervensystem als Verbindung der Sinne mit dem Gehirn ist

4 Bayer u. a. (1), S. 51

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im Schulbuch nicht zu erkennen.“5 Weitere Sachinformationen zum Gehirn sind nicht zu

finden.

Sowohl aus neurobiologischer Sicht als auch aus konstruktivistischer Sicht fallen diese

Sachinformationen erheblich zu knapp aus. Es ist fraglich, welchen Lernfortschritt Schü-

lerinnen und Schüler hier machen können. Diese Kombination von Schulbuch- und Zusatz-

informationen birgt eher die Gefahr, Misskonzepte und Oberflächenstrategien hervorzu-

rufen6, da das vermittelte Sachwissen von den Schülerinnen und Schülern nicht selbsttätig

handelnd erworben oder zumindest nachvollzogen werden kann. Da auch die Lehrkraft mit

hoher Wahrscheinlichkeit nicht über das notwendige Fachwissen verfügt und es sich mit

Hilfe des Lehrerhandbuchs auch nicht aneignen kann, wird die Gefahr von Misskonzepten

noch begünstigt.

Auch Abbildung 2 stammt aus einem neu zugelassenen baden-württembergischen Schul-

buch für die Klassen 3 und 4.

Abbildung 2: Auszug aus einem Schulbuch für die Klassen 3 und 4 (entnommen aus Mayer, S. 157)

5 Bayer u. a. (2), S. 926 Vgl. dazu Jonen, Möller, Hardy, S. 9

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Hier sind ebenfalls die Venen und Arterien in blau und rot zu sehen, während das Gehirn in

diesem Buch ebenso wie das Nervensystem in gelb dargestellt ist. Diese Informationen sind

deutlich umfangreicher. Trotzdem ist es fraglich, ob Kinder im Grundschulalter die Infor-

mationen in dieser Darstellung verstehen können.

Dieser Schritt der bildlichen Darstellung und sprachlichen Information zum Zustandekom-

men kognitiver Leistungen erfolgt meinem Erachten nach verfrüht, wenn auch nicht zeitlich,

so doch im Sinne zu kurz gekommener Vorüberlegungen. Denn „der Standpunkt des Schü-

lers ist der Ausgangspunkt. Dieser ist also vor dem Unterricht zu erforschen.“ (Diesterweg).

Oder mit einem aktuellen Zitat gleicher Intention gesprochen: „Je konkreter die Inhaltsent-

scheidungen getroffen werden, um so differenzierter sollten daher die Kenntnisse über die

Schülerinnen und Schüler sein. Diese Kenntnisse müssen letztlich von Lehrerinnen und

Lehrern erworben und angewandt werden. Daher wird die Qualität, mit der Lehrerinnen und

Lehrer inhaltliche Auswahlentscheidungen und Schwerpunktsetzungen didaktisch reflektie-

ren und rechtfertigen, zu einem immer bedeutsameren Kriterium für Professionalität, mit der

Sachunterricht geplant, gehalten und analysiert wird. Diese Professionalisierung der didakti-

schen Kommunikation ist nur auf einem hohen fachlichen und theoretischen Niveau sinn-

voll und muss um empirische Absicherung bemüht sein.“7

2.2 Neurobiologische Grundlagen

Die von mir durchgeführte Untersuchung befasst sich mit den Vorstellungen von Grund-

schülerinnen und Grundschülern zum Zustandekommen kognitiver Leistungen. Im Folgen-

den werden die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, die im Zusammen-

hang mit der Untersuchung stehen, umrissen. Dazu gehört die Klärung, was unter kogniti-

ven Leistungen zu verstehen ist (Kap. 2.2.1), der Aufbau von Gehirn und Nervenzellen

(Kap. 2.2.2), Prozesse, die im Zusammenhang mit sowohl visueller als auch somatosensori-

scher Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung stehen (Kap. 0) sowie eine Skizzie-

rung des Gedächtnisses und seiner Leistungen (Kap. 2.2.4).

2.2.1 Kognitive Leistungen

Kognitive Leistungen sind, vielleicht mit Ausnahme einer syntaktischen Sprache, nicht dem

Menschen allein vorbehalten, sondern auch bei Tieren vorzufinden. Beispiele für komple-

7 Kahlert, S. 23

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xere kognitive Leistungen sind lesen, erzählen, nachdenken, oder sich erinnern. Aber auch

sehen, riechen oder fühlen sind kognitive Leistungen. Man spricht immer dann von kogniti-

ven Leistungen, „wenn wir etwas tun, was einem Gütemaßstab gerecht wird, und dieses

Kriterium ist auch bei den scheinbar einfachen, anstrengungslosen kognitiven Leistungen

erfüllt.“8 Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Denkprozesse sind die

Kernbereiche kognitiver Leistungen. Alle diese Prozesse finden im Kopf statt. Trotzdem

lokalisieren wir Gegenstände, die wir sehen oder in den Händen halten, nicht in unserem

Kopf, sondern außerhalb unseres Körpers. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Pro-

zesse, die in unserem Kopf Repräsentationen von Gegenständen etc. erzeugen, selbst nicht

in den Inhalt der Repräsentationen eingehen.9 – Hier zeigt sich, dass kognitive Leistungen

ohne eine konstruktivistische Lerntheorie nur schwer bzw. überhaupt nicht zu verstehen

sind.

Auch die Erforschung kognitiver Leistungen ist nicht trivial. So sind die kognitiven Funk-

tionen aus dem Verhaltensstrom zu isolieren, um sie zu untersuchen. Diese Isolierung ist

jedoch nur über eine De-Kontextualisierung möglich, durch welche wiederum die Gefahr

einer Veränderung der Messwerte entsteht. Da dies jedoch die einzige Möglichkeit der

Untersuchung ist, werden kognitive Leistungen stets in Abhängigkeit von den dazugehö-

rigen Kontextfaktoren untersucht. Der natürliche Anlass für eine kognitive Leistung wird

bei diesen experimentellen Untersuchungen durch Instruktion ersetzt. „Aus der Abhängig-

keit der Leistung von den Bedingungen der Aufgabe werden dann Rückschlüsse auf die

Struktur und die Funktion der Mechanismen gezogen, die diesen Leistungen zugrunde

liegen.“10

Kognitive Leistungen können durch Bewusstseinsprozesse, Gehirnprozesse oder Prozesse

dritter Art erklärt werden. Die Erklärung durch Bewusstseinsprozesse kann jedoch dem

Einwand nicht standhalten, dass viele kognitive Leistungen ohne die erkennbare Beteiligung

von Bewusstseinsprozessen zustande kommen. Dieser Vorwurf gilt nicht für die Erklärung

durch Gehirnprozesse, allerdings muss diese Erklärungskategorie sich vorwerfen lassen,

dass die Gehirnprozesse, die zur Erklärung der kognitiven Leistungen herangezogen wer-

den, selbst noch weitgehend erforscht werden müssen. So werden beim aktuellen Stand der

Forschung Prozesse dritter Art als Erklärungskategorie für kognitive Leistungen bevorzugt.

Bei diesen Prozessen „handelt es sich um Sprachen, die gleichsam neutrale Mechanismen

8 Prinz, Roth & Maasen, S. 39 Vgl. Prinz, Roth & Maasen, S. 3 ff.10 Prinz, Roth & Maasen, S. 18

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beschreiben – weder Bewusstseinserscheinungen noch Gehirnprozesse, sondern abstrakte

Prozesse, die in beiden enthalten sind. … Der verborgene Mechanismus, der kognitive

Leistungen hervorbringt, wird als ein informationsverarbeitendes System verstanden, das

nach bestimmten vorgegebenen Regeln funktioniert. Die Regeln sind zum Teil in der

Grundausstattung des Systems angelegt, zum Teil werden sie für die jeweilige Aufgabe

durch die Instruktion festgelegt – ganz ähnlich einem Computer, dessen konkrete Aktivität

durch Vorgaben auf ganz unterschiedlichen Ebenen bestimmt wird: die Hardware, das Be-

triebssystem, das gerade aktivierte Programm und schließlich die Daten, die aktuell einge-

geben werden.“11

2.2.2 Aufbau von Gehirn und Nervensystem

Das menschliche Gehirn gleicht vom Aufbau anderen Säugetiergehirnen. Es besteht aus

dem Hirnstamm (Medulla oblongata), dem Kleinhirn (Cerebellum), der Brücke (Pons), dem

Mittelhirn (Mesencephalon), dem Zwischenhirn (Diencephalon) und dem Endhirn (Telen-

cephalon). Diese Gliederung ist bei einer äußerlichen Betrachtung nicht zu erkennen, da die

stark gewundene Hirnrinde (Cortex) nahezu die gesamte Oberfläche des Gehirns bedeckt.

Unterschiedliche Leistungen werden in verschiedenen Gehirnarealen vollbracht. Dabei be-

stehen Verbindungen zwischen den einzelnen Arealen.

Unser Gehirn besteht aus zwei Arten von Zellen: Gliazellen und Nervenzellen (Neuronen).

Den Gliazellen kommen vor allem unterstützende Aufgaben zu, wie beispielsweise Hilfe bei

der Regeneration von entzündetem oder verletztem Nervengewebe oder Stützfunktion für

das Nervengerüst. Für sämtliche kognitiven Leistungen sind unsere Nervenzellen verant-

wortlich. Diese sind untereinander vielfach vernetzt. Neuronen haben durchschnittlich über

mehr als zehntausend Synapsen Kontakt zu ungefähr tausend anderen Neuronen.12 Erst

diese zahlreichen Verbindungen ermöglichen unsere kognitiven Leistungen.

11 Prinz, Roth & Maasen, S. 2312 Vgl. Roth, S. 130

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Wie Abbildung 3 zeigt, besitzen Neu-

ronen in der Regel einen Dendriten-

baum, einen Zellkörper sowie ein

Axon, das am Axonhügel ent-

springt.13 Üblicherweise werden

Signale anderer Neuronen an den

verästelten Dendriten des Dendriten-

baumes rezipiert und zum Zellkern

geleitet. Über das Axon, die Nerven-

faser, wird diese Erregung an andere

Neuronen weitergegeben. Sowohl

Rezeption als auch Weiterleitung der

Signale zwischen den einzelnen Neu-

ronen erfolgen über Synapsen. Hier-

bei sind zwei Synapsentypen zu

unterscheiden: elektrische und chemi-

sche Synapsen. Bei elektrischen

Synapsen ist der Spalt zwischen den

beiden beteiligten Neuronen so ge-

ring, dass die elektrische Erregung

direkt von einer Zelle zur nächsten

übertragen werden kann. Bei chemi-

schen Synapsen sind für die

Überbrückung des synaptischen Spalts zwischen den Neuronen Botenstoffe

(Neurotransmitter/Transmitter) notwendig. Synapsen können eine erregende oder eine

hemmende Wirkung auf die Folgezelle haben. Treffen bei einem Neuron ausreichend

erregende Impulse anderer Neuronen ein, dass die Erregungsschwelle dieses Neurons

überschritten wird, so wird ein Aktionspotential generiert. Reichen die erregenden Impulse

nicht aus bzw. werden sie von hemmenden Impulsen überlagert, entsteht kein Aktionspo-

tential. In diesem Fall wird die ankommende Erregung von der betreffenden Zelle nicht

weitergeleitet. Das Aktionspotential ist ein „Alles-oder-Nichts-Signal“. Wird es ausgelöst,

13 Es existieren auch Nervenzellen, die von der hier vorgestellten idealisierten Form abweichen. Da dieseSonderfälle jedoch weder häufig vorkommen noch für diese Arbeit relevant sind, werden sie hier nicht näherbeschrieben.

Abbildung 3: Idealisierte Nervenzelle mit Synapsen (entnommen

aus: Roth, S. 122)

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so ist seine Stärke stets dieselbe. Variabel ist lediglich die Frequenz, in der das Aktions-

potential ausgelöst werden kann. Die Frequenz ist von den ankommenden Impulsen abhän-

gig.14

Diese recht einfach anmutende Zusammensetzung des Gehirns (nur gleichstarke elektrische

Impulse als Erregung, Zellen können sich gegenseitig hemmen oder erregen, hohe Zahl neu-

ronaler Verbindungen) ermöglicht erst die sehr komplexen kognitiven Leistungen, zu denen

wir oft in extrem kurzer Zeit fähig sind.15 Sämtliche kognitiven Leistungen resultieren aus

den Integrationsleistungen der Nervenzellen. Zumeist sind daran mehrere Zellverbände

beteiligt, doch abhängig von seinem Sitz kann bereits einem einzelnen Neuron eine große

Bedeutung zukommen.

2.2.3 Prozesse der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Die Nervenzellen im Gehirn sind nicht nur untereinander vernetzt, sondern haben auch Ver-

bindungen zu den sensorischen und motorischen Nerven. Während die sensorischen Nerven

von den Sinnesorganen zum Zentralnervensystem ziehen, stellen die motorischen Nerven

die Verbindung vom Zentralnervensystem zu den Muskeln her.

Unsere einzige Verbindung zur Außenwelt sind unsere Sinne. Jedes Sinnesorgan verfügt

über Sinneszellen, die für bestimmte Reize spezialisiert sind. So können Sinneszellen im

Ohr nicht durch visuelle, sondern nur durch akustische Reize stimuliert werden. Für alle

Sinneszellen ist ein jeweils adäquater Reiz notwendig, wenn eine Erregung ausgelöst wer-

den soll. Wir können nur die Informationen aus unserer Außenwelt wahrnehmen, für die wir

entsprechende Sinneszellen besitzen. Röntgenstrahlung oder UV-Licht können wir bei-

spielsweise nicht wahrnehmen, da wir über keine Zellen verfügen, die bei einem solchen

Reiz eine Erregung generieren und weiterleiten würden. Wenn ein adäquater Reiz auf eine

Sinneszelle trifft, wird dieser über Synapsen an die entsprechenden Neuronen weitergeleitet.

Von dort erfolgt ebenfalls eine Weiterleitung zu den jeweiligen Gehirnregionen. Hier erfolgt

die Verarbeitung der aufgenommenen Reize.

Die allermeisten Neuronen – bei dem Menschen mindestens 10¹¹ - sind so genannte Inter-

neuronen. Diese haben keinen Kontakt zu Sinnes- oder Muskelzellen, sondern sind nur mit

anderen Neuronen verbunden. Die kognitive Leistung besteht also stets in der komplexen

Weiterverarbeitung von ankommenden Reizen. Dieses System von neuronalen Zellverbän-

den, die sich selbst organisieren und wechselseitig aktivieren, wird als selbstreferentiell be-

14 Vgl. von Campenhausen, S. 4ff.; Roth, S. 119ff.; Spitzer, S. 41ff.15 Vgl. Spitzer, S. 41ff.

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zeichnet und ist allein Lebewesen mit Gehirnen vorbehalten.16 Diese Selbstreferenz ermög-

licht es uns, gleich einem Filtersystem die für uns relevanten Elemente herauszufiltern und

aus der Informationsflut, die in unserer Außenwelt herrscht, nur Bruchstücke wahrzu-

nehmen.

Der Wahrnehmungsprozess setzt sich aus zahlreichen Teilprozessen zusammen. Zunächst

existiert in der Außenwelt ein gewisser Reiz. Dieser Reiz wird aber nicht stets in das gleiche

Signal umgewandelt. Das folgende Beispiel soll dies erläutern:

Wenn man auf dem Weg zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch ist, wird man eine graue

Katze auf dem Gehweg wohl kaum registrieren. Ist die eigene graue Katze jedoch seit drei

Tagen vermisst, wird die Katze auf dem Gehweg wahrscheinlich ins Zentrum der Wahr-

nehmung rücken.

Dies liegt nicht an dem optischen Reiz, den die Katze dargestellt, sondern an der Aufmerk-

samkeit, die man auf einen Tatbestand richtet. Die Aufmerksamkeit ist also eine wesentliche

Voraussetzung für die Weiterleitung und –verarbeitung von Reizen aller Sinneszellen. Die

Aufmerksamkeit ist eng mit dem Interesse an einer Sache verbunden und unsere Wahr-

nehmung ist immer interessiert. Umweltinformationen, die uns interessieren, nehmen wir

auf, andere werden gefiltert. Auch der Kontext, in den wir einen Reiz aus der Umwelt ein-

betten können, ist relevant. Wahrnehmung ist somit, dies zeigt das Beispiel ebenfalls, ein

selektiver Prozess. Nur ein Bruchteil der Informationen aus der Außenwelt kann weiter-

geleitet werden.17

Spektakuläre Ereignisse wie das Beispiel der Verhaftung einer unschuldigen Frau in einem

Mordfall zeigen eindrücklich, dass unser Wahrnehmungsprozess eine „Konstruktion des

Geistes“18 ist. Bei diesem Fall haben die zwei Zeugen des Mordes bei einer Gegenüber-

stellung erklärt, sie hätten die Frau eindeutig als Täterin wieder erkannt. Im Nachhinein

stellte sich heraus, dass die Zeugen zwischen Mord und Vernehmung ein Foto der betref-

fenden Frau gesehen hatten. Dies hat vermutlich die Fehlleistung hervorgerufen.19 Auch viel

banalere Erlebnisse können immer wieder deutlich machen, dass Wahrnehmung konstruiert

ist. Häufig zeigt sich dies in Gesprächen mit anderen über gemeinsame Erlebnisse und die

unterschiedlichen Meinungen, die dabei zutage kommen. Auch die Emotionen spielen bei

16 Vgl. auch von Campenhausen, S. 4ff.; Hernegger, S. 306ff.17 Vgl. von Campenhausen, S. 4ff.; Rock, S. 3ff.18 Rock, S. 319 Vgl. Hell, S. 13

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der Wahrnehmung und der Wahrnehmungsverarbeitung eine bedeutende Rolle. Zahlreiche

Untersuchungen belegen, dass ein positiver emotionaler Kontext sowohl Wahrnehmungs-

verarbeitung als auch die spätere Gedächtnisleistung erheblich verbessert.20

Wie bereits erwähnt, können wir Aspekte unserer Umwelt über alle Sinnesorgane wahr-

nehmen. In den folgenden beiden Unterkapiteln werden die visuelle Wahrnehmung und

Wahrnehmungsverarbeitung sowie die somatosensorische Wahrnehmung und Wahrneh-

mungsverarbeitung aufgrund ihrer Bedeutung für diese Arbeit herausgegriffen und genauer

beschrieben. Da der Sehsinn für den Menschen der wichtigste aller Sinne ist, lege ich einen

Schwerpunkt der Untersuchung auf die visuelle und nicht beispielsweise auf die akustische

Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung. Auch die somatosensorische Wahrneh-

mung ist bedeutend für diese Untersuchung und wird deshalb in Kapitel 2.2.3.2 genauer

erläutert. Denn die Haut ist das einzige Sinnesorgan, das sich über den ganzen Körper hin-

weg erstreckt, wohingegen der Kopf Sitz aller anderen Sinnesorgane ist.

2.2.3.1 Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Der wohl wichtigste Sinn für den Menschen ist der Sehsinn. Bis zu siebzig Prozent der In-

formationen aus der Umwelt werden über die Augen rezipiert und so wird der Mensch nicht

ohne Grund als „Augentier“ bezeichnet.21

Die Leistungen unseres Sehsystems sind beachtlich. In Sekundenbruchteilen wird eine Flut

von Informationen aufgenommen und verarbeitet: räumlicher Abstand eines Gegenstandes

zum Beobachter, Form, Farbe, Größe, Oberflächenstruktur, Bewegungsrichtung und mehr.

Unser visuelles System ist bei der Wahrnehmung komplexer Umgebungen deshalb so

effektiv, weil es „nicht nur Information über die Qualitäten von Objektmerkmalen an den

verschiedenen Stellen des Gesichtsfelds übermittelt, sondern auch Relationen bestimmt, die

zwischen lokalen Merkmalen bestehen.“22 Damit sind auch schon die beiden Grundfunk-

tionen unseres Sehsystems beschrieben: Merkmalsanalyse und Segmentierung. Die beim

Segmentierungsvorgang vorgenommene Zuordnung von zusammengehörenden Bild-

bereichen und die Abgrenzung von anderen Bildbereichen ist eine Fähigkeit, die schon früh

in der Entwicklung durch Lernvorgänge verankert wird. Dabei gelten die folgenden, von der

Gestaltpsychologie entwickelten Prinzipien:

20 Vgl. Spitzer, S. 157ff.21 Vgl. Brehm, S. 5222 Engel, S. 182

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• Kontinuität: Miteinander verbundene Einzelelemente werden als eine

Gesamtfigur wahrgenommen.

• Nähe: Nahe beieinander liegende Einzelelemente werden als eine

Gesamtfigur wahrgenommen.

• Ähnlichkeit: Einander ähnelnde Einzelelemente werden als eine

Gesamtfigur angesehen.

• „Gemeinsames Schicksal“: Bewegen sich viele Einzelelemente in der gleichen

Geschwindigkeit zur gleichen Zeit in die gleiche Rich-

tung, so werden sie als eine Gesamtfigur wahrgenommen.

• Geschlossenheit: Ein (fast) geschlossener Umriss führt zur Wahrnehmung

einer Gesamtfigur. Bei diesem Beispiel wird man am

ehesten vier Quadrate erkennen.

• „Gute Fortsetzung“: Bei diesem Beispiel wird man eher zwei gekreuzte,

geschwungene Linien wahrnehmen als zwei Spitzen, die

aneinander stoßen. Dies ist auf das Prinzip der „guten

Fortsetzung“ zurückzuführen.

• Symmetrie: Unser visuelles System wird bei der ersten Abbildung die

weißen und bei der zweiten Abbildung die schwarzen

Figuren als Vordergrundfiguren identifizieren, da diese

jeweils von symmetrischen Linien umschlossen sind.23

Bis eine Figur aber von uns als solche wahrgenommen werden kann, sind viele Teil-

leistungen unseres Sehsystems notwendig. Diese werden jetzt in der notwendigen Kürze

dargestellt.

Das Auge als erste Station des visuellen Verarbeitungsweges hat die Aufgabe, einfallendes

Licht in neuronale Erregung umzusetzen. Diese Erregung wird dann über die optischen

Nerven zu den weiteren Verarbeitungsstationen des Sehsystems im Gehirn geleitet.

Wenn Licht in das Auge fällt, dringt es zunächst durch die Hornhaut und wird von der Linse

gebündelt. Dann trifft es auf die Netzhaut der Augenhinterwand. Diese besitzt eine licht-

empfindliche Oberfläche, auf der Photorezeptoren das einfallende Licht in elektrische

Potentiale umsetzen. Diese Photorezeptoren sind optimal an die stark variierenden Licht-

verhältnisse angepasst und bestehen deshalb aus zwei verschiedenen Typen: Zapfen und

23 Vgl. Engel, S. 184

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Stäbchen. Während die Zapfen für das Sehen bei Tageslicht und das Farbsehen spezialisiert

sind, ermöglichen die Stäbchen dank ihrer wesentlich höheren Lichtempfindlichkeit ein

Sehen bei Nacht bzw. bei sehr schlechten Lichtverhältnissen.

Obwohl sich das Zapfen- und das Stäbchen-Sehsystem zum Teil erheblich unterscheiden,

sind beide Systeme in der Lage, Ganglienzellen sowohl zu erregen als auch zu hemmen.

Dies bedeutet, dass die parallele Verarbeitung von Informationen nicht erst im Gehirn, son-

dern bereits beim Eintreffen visueller Reize auf der Netzhaut beginnt. Dabei sind etwa

zwanzig verschiedene Ganglienzellklassen beteiligt, die das ankommende Licht beispiels-

weise im Hinblick auf Hell-Dunkel-Unterschiede oder Farbkontraste analysieren. „Will man

das Auge mit einer Kamera vergleichen, so muss man sich eine Kamera vorstellen, in die

eine große Zahl verschiedener Filme eingelegt sind, die gleichzeitig belichtet werden…

[Dabei] gibt es hier unter anderem – um bei der Metapher zu bleiben – Negativ- und

Positivfilme, feinkörnige und grobkörnige Filme sowie Schwarzweiß- und Farbfilme.“24

Diese in den Ganglienzellen bereits verrechneten Lichtsignale werden dann parallel über die

optischen Nerven an die weiteren Verarbeitungsstationen im Gehirn geleitet. Am häufigsten

werden die Aktionspotentiale über den Thalamus, einen Teil des Zwischenhirns, zur Groß-

hirnrinde gesendet. Dort wird zunächst die primäre Sehrinde aktiviert. Auch hier werden die

ankommenden Signale wieder parallel verrechnet und an weitere visuelle Areale weiter-

gegeben. Diese parallelen Verarbeitungsschritte führen zu einer effektiven und schnellen

Analyse der optischen Reize. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese in teilweise weit aus-

einander liegenden Arealen verarbeiteten Reize am Ende wieder integriert werden. Diese

Integration ist für eine kohärente Wahrnehmung notwendig. Die schlüssigste Antwort auf

diese Frage gibt derzeit das „Zeitcodierungsmodell“.25 Dieses besagt, dass Neuronen, die

die gleiche perzeptive Einheit repräsentieren, sich zu einem Verbund zusammenschließen

und zeitgleich Impulse weitergeben. Somit kann ein Neuron zwar an der Repräsentation

mehrerer Objekte oder Objekteigenschaften beteiligt sein, durch die auf Millisekunden ge-

naue Synchronisation lässt sich jedoch entschlüsseln, welche Teilmenge der Impulse zu

welcher Repräsentation gehört. In zahlreichen Experimenten konnte gezeigt werden, dass

Neuronen tatsächlich in der Lage sind, ihre Aktionspotentiale im Millisekundenbereich zu

synchronisieren. Somit konnte das Zeitcodierungsmodell bisher nur bestätigt, nicht aber

widerlegt werden.26

24 Engel, S. 19225 Engel, S. 20126 Vgl. Engel, S. 201ff.

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18

2.2.3.2 Somatosensorische Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Der Bereich der somatosensorischen Wahrnehmung umfasst alle Reize, die über die Haut

aufgenommen werden können.

Somatosensorische Sinnesnervenzellen sind häufig bereits im Rückenmark mit Inter-

neuronen und Neuronen, die wieder zu den entsprechenden Muskelbereichen führen (Moto-

neuronen), verschaltet. Diese frühe Rückkopplung über die Motoneuronen ist für schnelles,

reflexartiges Verhalten bzw. Reflexe wie den Patellarsehnenreflex verantwortlich.27 Wichtig

ist dies vor allem bei Temperatur- und Schmerzreizen, die die entsprechenden Neuronen der

Haut aufnehmen und weiterleiten können. Bei nicht-reflexartigem Verhalten leiten die Sin-

neszellen die bei entsprechender Reizung entstandenen Aktionspotentiale weiter an Inter-

neurone, die wieder nach dem Prinzip der parallelen Verarbeitung die elektrischen Impulse

weitergeben. Hierbei gilt, dass Erregungen, die an benachbarten Hautstellen zum Beispiel

durch das Ertasten eines Gegenstandes ausgelöst werden, auch zu benachbarten Stellen der

somatosensorischen Hirnrinde geleitet werden. Allerdings ist dies keine verhältnistreue

Übernahme. Abhängig von Notwendigkeit und Nützlichkeit stehen uns viele oder nur

wenige Neuronen für die Verarbeitung von Reizen aus einem Bereich zu. Finger oder Zunge

verfügen über einen für ihre Größe enormen Repräsentationsbereich, während der Rücken

mit seiner großen Fläche über verhältnismäßig wenig Repräsentationsgebiete auf der Hirn-

rinde verfügt. Der Penfieldsche Homunkulus in Abbildung 4 für den sensorischen Bereich

verdeutlicht die Repräsentationsbereiche der einzelnen Körperteile.28

Abbildung 4: Motorischer (links) und sensorischer (rechts)

Penfieldscher Homunkulus (aus: Spitzer, S. 101)

Die Gestaltprinzipien, die für das visuelle Wahrnehmen von Objekten gelten, sind auch bei

der somatosensorischen Wahrnehmung von großer Bedeutung. Sie ermöglichen die

schnelle, tastende Wahrnehmung von Gegenständen ohne visuellen Unterstützungsreiz.

27 Vgl. von Campenhausen, S. 25ff.28 Vgl. Spitzer, S. 99ff.

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Wenn man optische Täuschungen mithilfe geeigneter Materialien erfüllbar macht, bleiben

ihre Wirkungen erhalten.29 Diese Tatsache unterstützt die Annahme, dass die gleichen

Prinzipien bei Seh- und Tastverarbeitung gelten.

Für die somatosensorische Wahrnehmung gilt wie für alle anderen sinnlichen Reize auch,

dass sie ohne Gedächtnisprozesse nicht möglich wäre. Erst die Leistungen von Kurz- und

Langzeitgedächtnis ermöglichen die Speicherung von Sinneseindrücken. Diese werden im

folgenden Kapitel beschrieben.

2.2.4 Das Gedächtnis und seine Leistungen

„Unter Gedächtnis verstehen wir die lernabhängige Speicherung ontogenetisch erworbener

Information, die sich phylogenetischen neuronalen Strukturen selektiv artgemäß einfügt und

zu einem beliebigen Zeitpunkt abgerufen … werden kann.“30

Dies bedeutet, wir müssen unser Gedächtnis selbst erwerben, es steht uns nicht angeboren

zur Verfügung. Angeboren ist jedoch der neuronale Aufbau unseres Gehirns, verbunden mit

der Fähigkeit, neue Verbindungen zu schaffen, vorhandene Verbindungen zu stärken oder

zu schwächen. Aufgrund der Erkenntnis, dass unser Gedächtnis lernabhängig Informationen

speichert, sollen an dieser Stelle die verschiedenen Typen des Lernens kurz aufgeführt wer-

den. Auch wenn die Lernformen hier für den Menschen dargestellt sind, so gelten sie doch

nicht nur für ihn.31

• Gewöhnung und Sensitisierung

Während bei der Gewöhnung an einen Reiz die Reaktionsbereitschaft abnimmt, er-

höht sich diese bei einer Sensitisierung. Zum Beispiel gewöhnt sich ein Haustier, das

immer wieder gestreichelt wird, an die menschliche Hand. Es hat gelernt, dass es

von ihr nichts Negatives zu erwarten hat. Das Schutz- und Fluchtverhalten würde

abnehmen. Ein immer wiederkehrender Schmerzreiz dagegen würde zu einer Ver-

stärkung von Schutz- und Fluchtverhalten führen und wäre somit sensitisierend.

• Klassische Konditionierung

Wenn über einen bestimmten Zeitraum hinweg stets ein zunächst bedeutungsloser

Reiz (Klingel, Licht) kurz vor einem bedeutenden Reiz (Belohnung, Strafe) er-

scheint, werden diese beiden Reize zu einer Einheit zusammengefügt. Das Indivi-

duum erwartet dann nach dem ersten Reiz stets den zweiten.

29 Dies gilt zum Beispiel für die Einschätzung von Streckenlängen, vgl. von Campenhausen, S. 2930 Definition nach Sinz in Markowitsch, S. 7431 Kategorisierung der Lerntypen nach Menzel/Roth, S. 241ff.

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• Operante Konditionierung

Ähnlich wie die klassische Konditionierung funktioniert auch diese Art der Kondi-

tionierung. Der Unterschied besteht darin, dass der bedeutungslose, von außen aus-

gelöste Reiz durch ein zunächst zufälliges, eigenes Verhalten ersetzt wird (z. B.

zufälliges Drücken eines Knopfes, Ausführen einer zufälligen Bewegung), welches

den bedeutenden Reiz auslöst. Somit wird der bedeutsame Reiz an ein zunächst un-

bedeutendes Verhalten gekoppelt. Abhängig davon, ob der bedeutsame Reiz positi-

ver oder negativer Art ist, wird gelernt, das damit verbundene Verhalten einzuneh-

men oder zu vermeiden.

• „Höhere“ Formen des Lernens

Als höhere Formen des Lernens gelten Erkundungsverhalten, beobachtendes Lernen,

Nachahmungslernen, spielendes Lernen, einsichtiges Lernen sowie bewusstwerden-

des und sprachabhängiges Lernen. Antriebsmöglichkeiten für solche Lernformen

sind Erwartung, Neugierde, Erfüllung einer Erwartung, Harmonieempfinden, Neu-

heitserlebnis und Ruhe; also innere Zustände und nicht äußere Ereignisse wie beim

Konditionierungslernen.

• Prägungslernen

Innerhalb der frühen Entwicklung existieren so genannte sensible Phasen. Während

dieser Phasen ist der Mensch auf Umweltreize angewiesen. So wird beispielsweise

bei der Sprachentwicklung das Sprachzentrum auf das Lautangebot während der ent-

sprechenden sensiblen Phase geprägt. Bis zum Ende dieser sensiblen Phase nicht

wahrgenommene Laute (z. B. einer Fremdsprache) können nur viel schwerer wahr-

genommen und produziert werden.

• Deklaratives und prozedurales Lernen

Deklaratives Lernen kann sich bereits in einem einzigen Akt vollziehen, da es sich

auf Fakten (semantisches Lernen) oder Ereignisse (episodisches Lernen) bezieht.

Prozedurales Lernen ist dagegen auf Übung angewiesen, da es sich auf Tätigkeiten

oder Fähigkeiten (z. B. Fahrrad fahren) bezieht.

Beim Lernen verändern sich lokale Teile des neuronalen Netzwerks. Aufgabe des Gedächt-

nisses „ist das Bewahren dieser Veränderungen über die Zeit sowie ihr Wirksamwerden zu

einem späteren Zeitpunkt.“32 Dabei existiert, wie bereits gezeigt, nicht nur eine Form des

32 Menzel/Roth, S. 249

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Lernens. Abhängig von Inhalt und Lernform ändern sich auch Gedächtnisform und –

lokalisation. Konstant bleibt, dass Lernen und Gedächtnis beim Menschen vor allem auf der

Verstärkung synaptischer Kontakte, dem Hebb-Prinzip, beruhen.33

Obwohl die Gedächtnisforschung noch mit vielen ungeklärten Fragen zu kämpfen hat,

konnten mittlerweile drei verschiedene Gedächtnisphasen isoliert werden: das sensorische

Gedächtnis, auch Ultrakurzzeitgedächtnis genannt, das Kurzzeitgedächtnis und das Lang-

zeitgedächtnis.34 Ersteres kann Informationen nur über einen Zeitraum von wenigen Milli-

sekunden hinweg speichern, z. B. visuelle Reize nur bis zum Zerfall des Sehpurpurs. Aller-

dings reicht diese Zeit aus, um Objekte zu diskriminieren bzw. Reize mit anderen Reizen

oder inneren Zuständen zu assoziieren. Im Kurzzeitgedächtnis können Informationen über

einen Zeitraum von mehreren Sekunden bis hin zu wenigen Minuten präsent sein. Die

Merkspanne des Kurzzeitgedächtnisses umfasst sieben plus/minus zwei Informations-

einheiten. Der Kurzzeitspeicher ermöglicht uns, einen Satz zu lesen und zu verstehen. Die

ersten Satzteile können bis zum Ende des Satzes behalten werden. Für Informationen, die in

den Kurzzeitspeicher gelangt sind, existieren zwei Möglichkeiten: entweder gelangen sie ins

Langzeitgedächtnis oder sie werden vergessen. Das Langzeitgedächtnis verfügt über eine

enorme Speicherkapazität. Dort gespeicherte Informationen sind sehr stabil und unempfind-

lich gegen Störfaktoren. Die Gedächtnisforschung geht heute davon aus, dass mehrere For-

men von Langzeitgedächtnis existieren und dass synaptische Veränderungen dafür verant-

wortlich sind.35

Diese drei Gedächtnisphasen beruhen auf unterschiedlichen zellulären und molekularen

Mechanismen. Sie können, zum Beispiel bei Krankheit oder Verletzung, unabhängig von-

einander ausfallen. Obwohl mittlerweile gesichert ist, dass verschiedene Gedächtnisformen

existieren, ist ihre Anordnung ebenso unklar wie die Abläufe von Erinnern und Vergessen.36

Experimente haben gezeigt, dass Gedächtnisinhalte zunächst in einer sehr instabilen Form

vorliegen, die nach und nach in ein resistenteres, langzeitiges Gedächtnis überführt werden.

Dabei sind die bereits erläuterten Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozesse (Interesse,

Kontextgebundenheit, Selektion, Konstruktion) ebenfalls von zentraler Bedeutung.

Heute geht die Gedächtnisforschung davon aus, dass einmal gelernte Informationen nicht

völlig gelöscht werden können, sondern Probleme des Wiederauffindens von Informationen

33 Vgl. Menzel/Roth, S. 27534 Vgl. Markowitsch, S. 84f.; Parkin, S. 16ff.; Menzel/Roth, S. 25135 Vgl. Menzel/Roth, S. 249ff.36 Vgl. Menzel/Roth, S. 276

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für Fehlleistungen verantwortlich sind. Früher hingegen wurde das Vergessen von Inhalten

als ein unbemerkbar ablaufender Prozess angesehen, bei dem Gedächtnisspuren immer mehr

verblassen, bis sie schließlich völlig verschwunden sind. Bei dieser früheren Theorie sind

die Informationen unwiederbringlich gelöscht, während sie bei der heute anerkannten These

nur nicht aktivierbar, aber grundsätzlich noch existent sind. Deutlich wird dies beim

Phänomen des „Auf-der-Zunge-liegens“37, bei dem man sich zum Beispiel sicher ist, man

kennt die Hauptstadt Australiens, aber man kann diese Information momentan nicht

abrufen.38

Eine so ausführliche Darstellung der neurobiologischen Grundlagen erschien mir aus meh-

reren Gründen notwendig. Zum einen sind sie notwendige Sachgrundlage für die Unter-

suchung und das Verständnis der Untersuchungsergebnisse, zum anderen hat sich die kon-

struktivistische Erkenntnistheorie aus diesem neurobiologischen Wissen heraus entwickelt.

So ermöglicht die Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen ein wesentlich umfassende-

res Verständnis der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, die im folgenden Kapitel be-

schrieben ist.

2.3 Grundlagen des Konstruktivismus

In den letzten Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass die konstruktivistische Er-

kenntnistheorie als Fundament auch für die schulische Arbeit als sehr geeignet erscheint. Sie

wird deshalb hier in aller Kürze dargestellt.

Unabhängig von verschiedenen Strömungen kann man einige zentrale Aspekte, die den

Konstruktivismus als Erkenntnistheorie auszeichnen, ausmachen:

Der Mensch ist ein autopoietisches System.39 Seine Kontaktmöglichkeiten mit der Umwelt

begrenzen sich auf seine Sinneskanäle. Nur über diese können Informationen zwischen

Mensch und Umwelt vermittelt werden.

Jedes Individuum konstruiert seine eigene Welt.40 Aufgrund der individuellen Wahr-

nehmung ist es nicht möglich, die eigene Wahrnehmung mit der einer anderen Person ab-

zugleichen. Auch der Vergleich zwischen individueller Wahrnehmung eines Gegenstandes

und dem Gegenstand selbst ist nicht möglich, da unsere Sinne stets in einer Vermittlerrolle

37 Vgl. Aslan, S. 1f.38 Die Hauptstadt Australiens ist Canberra.39 Luhmann (S. 21ff.) prägte den Begriff der Autopoiesis aus systemtheoretischer Sicht.40 Vgl. Klein/Oettinger, S. 11f.

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arbeiten. „Mit dieser Vermittlerrolle der Sinnesorgane ist auch schon das unlösbare Problem

der Wahrhaftigkeit in das Wahrnehmungsschema eingebaut.“41

Die bereits angeführten Punkte zeigen, dass die Wahrheitsfindung nicht Ziel der konstrukti-

vistischen Erkenntnistheorie sein kann. Im Konstruktivismus wird die Wahrheitsfindung

durch die „Gangbarkeit“, die Viabilität, ersetzt. Eine Konstruktion, zum Beispiel eine Vor-

stellung von einem Begriff, ist so lange haltbar, so lange sie sich als viabel erweist. Wenn

sich zeigt, dass diese bei der Konfrontation mit der Umwelt nicht standhält, muss sie modi-

fiziert werden.42

Da Aussagen im Konstruktivismus nicht für sich in Anspruch nehmen können, „wahr“ zu

sein, muss stets der Erkenntnisprozess transparent gemacht werden. Eine Konstruktion kann

nur aufgrund ihres offen gelegten Konstruktionsprozesses bewertet werde. Deshalb sind aus

konstruktivistischer Sicht wissenschaftliche Aussagen stets relativierbar und vorübergehend

gültig. Auch müssen sie sich an ihrem jeweiligen Kontext messen lassen.43

Obwohl jedes Individuum seine subjektive Welt konstruiert, ist es auch an der Konstruktion

intersubjektiver Welten beteiligt. Die zwei wichtigsten Aspekte, die sich bieten, „die Wirk-

lichkeit des Erlebten zu erhärten…, sind zweifellos die Bestätigung eines eigenen Erlebnis-

ses durch sprachliche Interaktion mit einem anderen und die erfolgreiche Interpretation der

Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen.“44 Als objektiv können Kon-

struktionen dann bezeichnet werden, wenn sie sich auch in den Modellen anderer viabel

zeigen.

„Der Konstruktivismus versteht Realität als eine interaktive Konzeption, in der Beobachter

und Beobachtetes gegenseitig miteinander gekoppelt sind, der Mensch kann also lediglich

Perspektiven auf die Realität gewinnen. Autopoietische – selbstorganisierende – Systeme,

beispielsweise der Mensch, haben zudem keinen informellen Input und Output. Lernen wird

im konstruktivistischen Ansatz als ein interaktiver Prozess zum Aufbau der Realität im

Menschen gesehen, bei dem Menschen ihr Wissen in Beziehung zu ihren früheren Erfah-

rungen in komplexen realen Lebenssituationen selbst konstruieren. Menschen sind mit ein-

zigartigen, nicht definierten Situationen konfrontiert. Es gibt keine standardisierten

Problemsituationen, in denen nach ebensolchen Prozeduren Lösungen erfolgen.“45

41 Von Glasersfeld, S. 1242 Ähnlich dem Äquilibrationsmodell bei Piaget, das mit Akkomodation und Assimilation arbeitet.43 Vgl. Klein/Oettinger, S. 1544 Von Glasersfeld, S. 3645 Soostmeyer, S. 56. Besonders anschaulich hat dies von Foerster in einem Vergleich trivialer und nicht-trivialer Maschinen erläutert.

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Hierin liegt auch die Bedeutung des Konstruktivismus für die Schule. Wenn kein objektiv

richtiger Zugang zur Wirklichkeit existiert, ersetzen Akzeptanz und Förderung von Vielfalt

die Suche nach der vermeintlichen Wahrheit. Dies gilt beispielsweise für die Vielfalt von

Lernwegen oder die Vielfalt von Lernvoraussetzungen. Diese konstruktivistische Sicht- und

Denkweise Schülern und Lehrern zugänglich zu machen, stellt eine wichtige Aufgabe dar.

2.4 Schülervorstellungsforschung zu kognitiven Leistungen

Sowohl im deutschsprachigen als auch im angloamerikanischen Raum existieren kaum For-

schungsarbeiten zu Schülervorstellungen über kognitive Leistungen. Die vorhandenen

Studien von Schletter, Johnson/Wellman und Stipek/Gralinski werden hier kurz dargestellt,

um den bisherigen Stand der Forschung zu umreißen.

2.4.1 Schletter: Lernen und Gedächtnis. Zur Veränderungvorunterrichtlicher Schülervorstellungen zum Thema „Lernen undGedächtnis“ in Richtung wissenschaftlicher Konzepte.

Im deutschsprachigen Raum konnte lediglich die Studie von Schletter zu „Lernen und

Gedächtnis“ ausgemacht werden. Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine Inter-

ventionsstudie in der gymnasialen Oberstufe. Begründet wird die Studie durch die Tatsache,

dass im derzeitigen Biologieunterricht nur einzelne grundlegende neurologische Prinzipien

behandelt werden, aber keine Bezüge zwischen wissenschaftlichen Konzepten und Alltag

hergestellt werden. Auch Aspekte der modernen Neurobiologie werden nicht thematisiert.

Das Fehlen dieser Inhaltsbereiche wiegt besonders schwer, da die Neurobiologie eines der

Gebiete mit den größten wissenschaftlichen Fortschritten in den letzten Jahren ist und der

Themenbereich „Lernen und Gedächtnis“ einen unmittelbaren Bezug zum Alltagsleben der

Schülerinnen und Schüler bietet.

Den ersten Schwerpunkt der Arbeit von Schletter bildet die Vorstudie, in der vorunterricht-

liche Schülervorstellungen zu „Lernen und Gedächtnis“ erhoben werden. Diesen Schwer-

punkt werde ich sehr ausführlich erläutern, da im weiteren Verlauf dieser Arbeit auch einige

der Vorstellungen der Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschüler in Beziehung mit den

Vorstellungen der von mir befragten Grundschülerinnen und Grundschüler gesetzt werden.

2.4.1.1 Zusammenfassung der Vorstudie

Nach einer Analyse der inhaltlichen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler vom Ge-

dächtnis, vom Gehirn und vom Lernen erhebt Schletter die Dimensionen der kognitiven

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Struktur, die die vorunterrichtlichen Schülervorstellungen kennzeichnen. Abschließend

analysiert er die Schülervorstellungen im Hinblick auf verschiedene Wissensquellen.

Die folgende Zusammenfassung beschränkt sich auf die im Rahmen dieser Arbeit relevan-

ten Ergebnisse der Vorstudie. Für die Vorstudie wurden Leitfadeninterviews mit fünfzehn

Schülerinnen und Schülern der 13. Jahrgangsstufe geführt. Die dargestellten Ergebnisse

sind, außer bei explizit anderer Kennzeichnung, stets für die Mehrheit der befragten

Schülerinnen und Schüler gültig.46

Inhaltliche Vorstellung vom Lernen

Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler versteht unter Lernen ausschließlich das Lernen

im schulischen Kontext. Das Lernen im Alltag wird nicht als Lernen wahrgenommen, son-

dern oft als „Erfahrungen machen“ bezeichnet. Unterschieden wird außerdem nach der Be-

deutung der Information. So häuft sich die Annahme, dass beim schulischen Lernen die

Information nur kurzfristig gespeichert wird, während die im Alltag erworbenen Infor-

mationen aufgrund ihrer höheren Bedeutung über lange Zeit behalten werden können.

Lernstrategien

Drei Viertel der Befragten geben an, ausschließlich reproduktive Strategien zu Klausur-

vorbereitungen zu nutzen.

Inhaltliche Vorstellungen vom Gedächtnis

Das Gedächtnis wird als Computer, Bibliothek oder Schrank mit verschiedenen Schubladen

beschrieben. Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler gibt an, dass Informationen im Ge-

dächtnis thematisch geordnet vorliegen und isoliert voneinander abgespeichert werden.

Fälschlicherweise nimmt die Mehrheit der Befragten an, das Kurzzeitgedächtnis speichere

Informationen über einen Zeitraum von Stunden bis Tagen, nicht nur über wenige Minuten

hinweg.

Informationsverarbeitung, -speicherung und -abruf

Mehrheitlich wird ein statisches Gedächtnismodell beschrieben, bei dem die Aufnahme und

Speicherung von Informationen im Vordergrund steht. Die Informationsverarbeitung wird

als streng gerichtet angenommen im Sinne eines Informationsflusses von der Außenwelt

über die Sinnesorgane zum Kurz- und dann zum Langzeitgedächtnis. Die Aufnahme und

Speicherung hängt von der Bedeutsamkeit der jeweiligen Information ab. Es herrscht die

Annahme vor, dass Informationen dauerhaft abgelegt sind und dann abgerufen werden kön-

nen. Diese Ablage erfolge in den Nervenzellen, z. B. in Form spezieller Gedächtnismole-

46 Vgl. Schletter, S. 24 ff.

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küle. Die Informationsverarbeitung ist für die meisten Befragten unklar. Auch die aktive

Umgestaltung von Informationen beim Wissenserwerb spielt so gut wie keine Rolle. „Die-

ses Ergebnis stimmt mit den Resultaten zahlreicher anderer Untersuchungen überein, in

denen gezeigt werden konnte, dass die überwiegende Mehrzahl der Schülerinnen und

Schüler hinsichtlich ihrer epistemologischen Position dem naiven Realismus zugerechnet

werden kann, demgemäß im Gehirn ein genaues Abbild der Außenwelt entsteht.“47

Vergessen

Hier unterscheiden die Schülerinnen und Schüler zwischen zeitweiligem und endgültigem

Vergessen. Beim zeitweiligen Vergessen werden zweierlei Möglichkeiten angegeben. Zum

einen wäre eine Blockade ursächlich, die trotz Anstrengung einen Informationsabruf ver-

hindert, zum anderen können Informationen zeitweilig vergessen werden, weil andere Dinge

in den Vordergrund getreten sind und davon ablenken. Beim endgültigen Vergessen erklä-

ren die Befragten, dass die Informationen durch Löschung unwiederbringlich verloren

wären.

Anatomische Grobstruktur des Gehirns

Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler geht von einer strengen Arbeitsteilung im Ge-

hirn aus und nimmt an, dass jeder Teil eine genau definierbare Funktion besitzt. Nur unge-

fähr ein Viertel der Befragten können bezüglich der zellulären Feinstruktur des Gehirns

Erregungsleitung, Synapsen und Nervenzellen beschreiben, die meisten Schülerinnen und

Schüler sind lediglich der Meinung, dass die Gehirne zweier Menschen sich höchstens in

Bezug auf ihre Größe unterscheiden.

Analyse der Schülervorstellungen im Hinblick auf verschiedene Wissensquellen

Das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler kann zwei Bereichen zugeordnet werden.

Zum einen verfügen die Befragten über Wissen aus externen Quellen wie z. B. Schul-

büchern oder dem Fernsehen. Zum anderen verwenden sie Wissen, das aus internen Quellen

stammt. „Darunter ist solches Wissen bzw. Vorstellungen zu verstehen, über die eine Refle-

xion stattgefunden hat. Basis dieser Reflexion können einerseits direkte Erfahrungen mit

Lern- und Gedächtnisprozessen sein …, andererseits können Tätigkeiten, die als Modell für

Lernen bzw. Gedächtnis dienen … reflektiert werden.“48

Schletter kommt zu dem Schluss, dass biologisches Basiswissen über das Gehirn trotz ent-

sprechender Unterrichtseinheiten in vorausgegangenen Schuljahren kaum vorhanden ist.

47 Schletter, S. 3348 Schletter, S. 38

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Dies zeigt sich auch bei der Analyse der Wissensquellen. Informationen aus vorangegan-

genen Schuljahren spielen auch hier kaum eine Rolle.49

Diese Tatsache kann auch als Vorwurf gegen die Schule verwendet werden. Diese muss

sich fragen lassen, wieso sie ein solch bedeutendes Thema den Schülerinnen und Schülern

nicht nachhaltig nahe bringen kann.

2.4.1.2 Zusammenfassung der Hauptstudie

Der zweite Arbeitsschwerpunkt bezieht sich auf die Hauptstudie. Schletter prüft „ob, bzw.

inwiefern durch eine geeignete Auswahl von Unterrichtsinhalten, deren Sequenzierung und

der Einbindung typischer Schülervorstellungen in den Unterricht eine Integration von

wissenschaftlichen Konzepten und den vorunterrichtlichen Vorstellungen und Erfahrungen

der Schülerinnen und Schüler erreicht werden kann, so dass beide Bereiche einen einheit-

lichen Wissenskorpus bilden.“50

Die Hauptstudie geht folgenden zentralen Fragestellungen nach:

• „In welchem Ausmaß verändern sich Schülervorstellungen durch den Experimental-

gruppenunterricht und in welchem Ausmaß durch den Kontrollgruppenunterricht in

Richtung wissenschaftlicher Konzepte?

• Welche Auswirkungen zeigt der Unterricht der Experimental- bzw. der Kontroll-

gruppe im Hinblick auf die verschiedenen Dimensionen der kognitiven Struktur?

• Trägt der Experimentalgruppenunterricht in stärkerem Maße zu einer Integration von

Vorstellungen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler mit dem im Unterricht

vermittelten wissenschaftlichen Wissen bei als der Kontrollgruppenunterricht?“51

Dazu wurde eine Interventionsstudie mit Experimental-Kontrollgruppendesign entwickelt.

Experimental- und Kontrollgruppe erhalten jeweils eine aus 16 Unterrichtsstunden beste-

hende Einheit zu „Lernen und Gedächtnis“. Diese Einheiten sind für beide Gruppen ähnlich,

sie unterscheiden sich nur darin, dass bei der Experimentalgruppe auf typische Schüler-

vorstellungen eingegangen wird, die in der Vorstudie erhoben wurden. Die Schülerinnen

und Schüler beider Gruppen wurden vor und nach der Unterrichtseinheit interviewt, beant-

worteten nach jeder Unterrichtsstunde einen Fragebogen zur Interessantheit des Unterrichts

und nahmen nach der Unterrichtseinheit an einer unangekündigten schriftlichen Erhebung

49 Vgl. Schletter, S. 35 und 4150 Schletter, S. 851 Schletter, S. 49

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teil. „Im Unterschied zur Kontrollgruppe wurden somit im Unterricht der Experimental-

gruppe typische Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zu Lernen und Gedächtnis

explizit angesprochen und im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit den entsprechenden

wissenschaftlichen Konzepten untersucht. Es wurde angenommen, dass die explizite

Berücksichtigung der Schülervorstellungen im Unterricht der Experimentalgruppe erkenn-

bare Wirkungen auf Effekte des Unterrichts hat: Die Schülerinnen und Schüler der Experi-

mentalgruppe sollten insbesondere solche Vorstellungen, die auf internen Quellen basieren,

häufiger mit den wissenschaftlichen Konzepten der Neurobiologie und der Psychologie kor-

rekt in Beziehung setzen als die der Kontrollgruppe.“52

Die hierzu entwickelte Unterrichtseinheit bestand aus drei Sequenzen:

- Die zellulären Grundlagen von Lernen und Gedächtnis (Stunde 1 – 6)

- Gehirn, Lernen und Gedächtnis (Stunde 7 – 9)

- Kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung (Stunde 10 – 16).

Die Auswertung der oben angeführten Analyseinstrumente ergab folgende Ergebnisse:

• Die Voraussetzungen bei Schulleistungen und Interesse sind zwischen

Experimentalgruppe und Kontrollgruppe vergleichbar.

• Die Kontrollgruppe bewertete den Unterricht tendenziell als etwas interessanter als

die Experimentalgruppe.

• Bei der schriftlichen Wissenserhebung nach der Unterrichtseinheit hatten die Schüle-

rinnen und Schüler beider Gruppen vergleichbare Ergebnisse.

• Schüler und Schülerinnen beider Gruppen haben ihre Vorstellungen vom Lernen und

Gedächtnis in Richtung wissenschaftlicher Konzepte verändert.

• Es fand sowohl in der Experimentalgruppe als auch in der Kontrollgruppe eine Hin-

wendung zu einer konstruktiven Vorstellung vom Lernen statt, allerdings blieb dabei

die transmissive Vorstellung von der Gedächtnisspeicherung neuer Informationen

weitgehend erhalten.

• Aufgrund des Fehlens signifikanter Unterschiede zwischen Experimentalgruppe und

Kontrollgruppe kann angenommen werden, dass auch ein Unterricht, der die

Schülervorstellungen nicht berücksichtigt, einen Konzeptwechsel fördern kann.

• Unterschiede zwischen Experimentalgruppe und Kontrollgruppe zeigten sich ledig-

lich im Bereich der Wissenskompartmentalisierung: „Hinsichtlich des Begriffs des

Kurzzeitgedächtnisses vollzogen die Schülerinnen und Schüler der Experimental-

52 Schletter, S. 61

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gruppe einen Konzeptwechsel. Es wäre weiterhin zu prüfen, ob der Unterrichts-

ansatz, der in der Experimentalgruppe realisiert wurde, möglicherweise im Hinblick

auf den Wechsel von vorunterrichtlichen Vorstellungen deklarativer (propositio-

naler) Art, die auf direkte Erfahrungen zurückgehen (hier Gedächtnisspeicherung

beim Lernen für die Schule und beim Lernen in anderen Bereichen) besonders wirk-

sam ist.“53

2.4.2 Johnson/Wellman: Children’s Developing Conceptions of theMind and Brain

Auch im angloamerikanischen Raum gibt es nur wenige Arbeiten, die sich mit Schülervor-

stellungen zu kognitiven Leistungen befassen. Dazu zählt die hier umrissene Studie von

Johnson und Wellman sowie die im Anschluss daran aufgezeigte Untersuchung von Stipek

und Gralinski.

Johnson und Wellman gehen der Frage nach, wie sich die Vorstellungen von Verstand54 und

Gehirn55 vom Kindergartenkind bis hin zum Erwachsenen entwickeln. Aus zweierlei Grün-

den arbeiten Johnson und Wellman mit den beiden Begriffen Verstand und Gehirn. Zum

einen ist der Begriff Gehirn den Kindern besser bekannt als der Begriff des Verstandes,

obschon beide dazu verwendet werden, einen allgemein anerkannten Ort geistiger Aktivität

zu bezeichnen. Zum anderen ist es möglich, die kindlichen Vorstellungen von beiden

Begriffen miteinander zu vergleichen. Bei einer ausgereiften Vorstellung wäre der Verstand

als abstraktes Konstrukt zu bezeichnen und so vom physischen Gehirn zu unterscheiden.

Die Vorstellungen über Verstand und Gehirn umfassen zwei zentrale Komponenten:

• das, was Verstand und Gehirn tun: ihre Funktionen,

53 Schletter, S. 16254 Für das Wort „Mind“ existieren im Deutschen zahlreiche Übersetzungen. Der folgende Auszug aus derStudie soll verdeutlichen, wieso als Entsprechung das Wort „Verstand“ als treffend erschien. „It is importantto clarify the status of ordinary concepts of mind. Certainly we do not wish to claim that the mind is truly aCartesian substance. Yet, neither do we regard notions of an internal mental world as merely anepiphenomenal product of modern western thinking. Rather, the concept of mind reflects a basic categorizationof human activity, distinguishing a world of thoughts, beliefs, intentions, and knowledge from the world ofmere bodily presence. In this regard, such concepts represent a fundamental category, drawing a line betweeninternal mental versus external observable phenomena and being ventrally tied to concepts of persons. Further,the notion of mind reflects understanding of an integrated mental existence – that is the same mind being usedin different ways, encompassing different cognitive processes and states. Given that the notion of mindcaptures an essential, integrative feature of ordinary social and metacognitions, then an important questionbecomes, What is the development of these concepts in the child? … In mature understanding, the mind isconceived as an abstract concept and thus distinguished from the physical brain.” (Johnson/Wellman, S.222f.).55 Der Begriff „Brain“ wird mit „Gehirn“ übersetz. (Vgl. Breitsprecher u. a., S. 124).

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30

• das, was Verstand und Gehirn sind: ihr ontologischer Status.

Da vor allem die erste der beiden von Johnson und Wellman durchgeführten Studien im

Rahmen dieser Arbeit von Interesse ist, wird lediglich diese hier näher ausgeführt.

In dieser ersten Studie untersuchen Johnson und Wellman, welche Rolle das Gehirn bei

menschlichen Aktivitäten in der Vorstellung der Probanden spielt. Dazu wurden vierzehn

Kindergartenkinder, vierzehn Drittklässler, sechzehn Fünftklässler und vierzehn Erwach-

sene befragt. Sie alle urteilten darüber, ob das Gehirn bei einer Reihe von vorher festgeleg-

ten Aktivitäten gebraucht werde. Diese Aktivitäten umfassten ein breites Feld menschlicher

Tätigkeiten und Regungen. Abgefragt wurden („Brauchst du dein Gehirn für / um zu…?“):

- geistige Aktivitäten (denken, wissen, träumen, erinnern, schlau sein („to be smart“),

- Gefühle (neugierig sein, traurig sein, ängstlich sein, schläfrig sein, hungrig sein,

sicher sein),

- schulische Aufgaben (buchstabieren, zählen, lesen, schreiben, eine Geschichte

erzählen, ein Haus malen),

- einfache motorische Tätigkeiten (reden, gehen, etwas greifen, auf einem Fuß hüpfen,

mit den Zehen wackeln, einen Ball kicken),

- unwillkürliche Aktivitäten (husten, blinzeln, schlafen) sowie

- Sinnesleistungen (sehen, hören, fühlen, riechen).

Jedem der befragten Kinder wurden zuvor noch folgende zwei offene Fragen gestellt.

Wo ist dein Gehirn?

Was macht dein Gehirn?

Ergebnisse der Studie 1

• Die Lage des Gehirns konnten alle Kinder mit der Antwort „Kopf“ richtig lokalisie-

ren.

• Mit Ausnahme eines Kindergartenkindes lieferten alle Kinder eine vernünftige Be-

schreibung davon, was das Gehirn macht. Diese Beschreibungen bezogen sich am

häufigsten auf die Rolle des Gehirns bei kognitiven Aktivitäten und waren bemer-

kenswert einheitlich. 89% der Kinder erwähnten explizit „Denken“ als Tätigkeit des

Gehirns.

• Die Kindergartenkinder schätzten die Beteiligung des Gehirns am geringsten ein.

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• Eine hohe Zahl der Erwachsenen bestätigte, dass das Gehirn für jede der abgefragten

Aktivitäten erforderlich sei.

• Bei den geistigen und bei den schulischen Aktivitäten wurde die Beteiligung des Ge-

hirns über alle Altersgruppen hinweg konsistent positiv beantwortet.

• In den Kategorien „Sinnesleistungen“ und „einfache motorische Tätigkeiten“ gab es

die deutlichsten Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Die Kindergartenkinder

verbanden sowohl Sinnesleistungen als auch einfache motorische Tätigkeiten am

seltensten mit Aktivitäten des Gehirns, während dies Erwachsene am häufigsten

taten.

• Bei den Gefühlen zeigte sich ein gemischtes Bild. Kinder aller Altersgruppen gaben

an, dass „neugierig sein“ und „sicher sein“ mit Gehirnaktivitäten verbunden ist, aber

„hungrig sein“ und „müde sein“ – Gefühlszustände, die eher physisch dominiert sind

– wurden über alle kindlichen Altersstufen hinweg weniger häufig mit dem Gehirn

in Verbindung gebracht.

Fazit

Kindergartenkinder betrachten das Gehirn als notwendig für eine beschränkte Zahl streng

geistig-intellektueller Tätigkeiten. Diese Charakteristik zeigt sich auch in abgeschwächter

Form bei den Dritt- und Fünftklässlern, die die Rolle des Gehirns als etwas umfassender

einschätzen. Lediglich die Erwachsenengruppe zeigt die durchgehende Tendenz, für alle

oben aufgeführten Tätigkeiten die Beteiligung des Gehirns anzunehmen.

2.4.3 Stipek/Gralinski: Children’s Beliefs About Intelligence and SchoolPerformance

Stipek und Gralinski haben in ihrer Studie kindliche Überzeugungen zu Intelligenz, An-

strengung und Anstrengungsbereitschaft, Zielorientierung, Lernstrategien und kognitiven

Leistungen erhoben.56 Sie gingen der Frage nach, inwieweit Intelligenz und Leistung nach

Vorstellung der Schülerinnen und Schüler Einfluss auf das Lernen haben. Dabei legten sie

folgende Hypothese zugrunde: Kinder die glauben, dass Intelligenz eine relativ stabile, dau-

erhaft festgelegte Größe ist, die Einfluss auf die Leistung hat, sind eher leistungsorientiert.

Diese Kinder, so die Erwartung, werden mehr oberflächliche und weniger aktive Problem-

lösestrategien verwenden.

56 Vgl. Stipek/Gralinski, S. 397ff.

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Die Untersuchung wurde mit Hilfe eines Fragebogens durchgeführt, der 319 Dritt- bis

Sechstklässler sowohl zu Beginn als auch am Ende eines Schuljahres vorgelegt wurde. Der

Fragebogen umfasste 12 Punkte, die die folgenden Überzeugungen abfragten:

• Die persönlichen Fähigkeiten sind stabil und lassen sich durch Anstrengung nicht

ändern.Beispiel: Some kids will never be smart, no matter how hard they try.

• Die persönliche Leistung ist konstant und Anstrengung hat nur marginale Aus-

wirkungen darauf.Beispiel: Some kids can never do well in math, even if they try hard.

• Intelligenz ist eine spezifische und umfassende Ursache für kognitive Leistungen.Beispiel: You have to be smart to do well in math.

• Anstrengung ist eine Ursache kognitiver Leistung.Beispiel: Everyone could do well in math if they worked hard.

• Anstrengung steigert die Intelligenz.Beispiel: You can get smarter by working hard in school.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die kindlichen Vorstellungen von Intelligenz

und kognitiver Leistung in sich schlüssig sind. Besonders deutlich wird dies bei Kindern,

die die Vorstellung haben, dass die eigene Intelligenz nicht zu beeinflussen ist. Diese Kinder

glauben auch, dass das Intelligenz- und Leistungsniveau konstant bleibt und dass die Intelli-

genz den Erfolg bei allen kognitiven Leistungen erleichtert oder begrenzt. Trotz der Vor-

stellung, dass Intelligenz eine relativ statische Größe ist, die Einfluss auf die Leistung in

zahlreichen Sachgebieten hat, glaubten die Kinder, dass sich Anstrengung positiv auf die

Intelligenz und Leistung auswirkt. Weiterhin konnte die Studie zeigen, dass die Vorstel-

lungen der Schülerinnen und Schüler über Intelligenz und Leistung starken Einfluss auf die

kindlichen Zielorientierungen und Problemlösestrategien haben. Damit konnten Stipek und

Gralinski die von ihnen aufgestellte Hypothese verifizieren.

2.4.4 Kurzzusammenfassung der beschriebenen Studien

Diese Kurzzusammenfassung soll einen Überblick über die drei bereits vorgestellten Stu-

dien geben. Dabei werden jetzt nur Aspekte mit direkter Bedeutung für die nachfolgend

beschriebene Untersuchung herausgegriffen.

Die von Schletter befragten Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschüler verstehen unter

Lernen ausschließlich das schulische Lernen. In diesem schulischen Kontext verwenden sie

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ausschließlich reproduktive Lernstrategien. Ihre Vorstellungen vom Gedächtnis sind stati-

scher Art: ein Schrank mit Schubladen, ein Computer oder eine Bibliothek werden als

Analogien verwendet. Die meisten Schülerinnen und Schüler geben an, ihr Wissen außer-

halb der Schule erworben zu haben.

Johnson und Wellman konnten zeigen, dass bereits Kindergartenkinder die Lage des Ge-

hirns im Kopf lokalisieren können. Grundschulkinder können Tätigkeiten des Gehirns sinn-

voll beschreiben, wobei sie fast immer „denken“ als eine dieser Tätigkeiten erwähnen. Mit

zunehmendem Alter steigt die Tendenz, auch Sinnesleistungen oder einfache motorische

Tätigkeiten mit Gehirnaktivitäten zu verbinden.

Stipek und Gralinski kamen zu dem Ergebnis, dass Kinder in sich schlüssige Vorstellungen

von Intelligenz und kognitiver Leistung haben. Nimmt ein Kind an, dass es die eigene Intel-

ligenz nicht beeinflussen kann, so glaubt es auch, dass die eigene, statische Intelligenz den

Erfolg bei kognitiven Leistungen begrenzt. Unabhängig von einer variablen oder statischen

Vorstellung der eigenen Intelligenz glauben alle Kinder daran, dass geistige Anstrengung

sich lohnt und die eigene Leistung positiv beeinflusst.

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3 Vorstellung der UntersuchungWie bereits aufgezeigt, stellen die Vorerfahrungen und Vorkenntnisse der Kinder einen

wichtigen Baustein für die Planung und Durchführung von Unterricht dar. Die Untersu-

chung soll dazu beitragen, basierend auf den bereits vorgestellten theoretischen Grundlagen,

Vorstellungen von Grundschulkindern zu kognitiven Leistungen zu erheben. Die For-

schungsfragen der Untersuchung sind im Kapitel 3.1 genauer ausgeführt.

3.1 Fragestellungen

Ziel der Untersuchung ist es, Hinweise auf Präkonzepte von Grundschülerinnen und Grund-

schülern bezüglich des Zustandekommens kognitiver Leistungen zu erhalten. Dabei sollen

Aussagen über deren Vielfältigkeit und Geartetheit gemacht werden. Folgende Forschungs-

fragen liegen dabei den ausgewählten fünf Untersuchungskomplexen zugrunde:

KOMPLEX 1: VISUELLE WAHRNEHMUNG UND WAHRNEHMUNGSVERARBEITUNG

• Wie erklären sich Grundschülerinnen und Grundschüler unterschiedliche Ergebnisse

bei visuellen Wahrnehmungsleistungen?

• Ziehen sie bei ihren Erklärungen Elemente einer konstruktivistischen Lerntheorie

heran?

KOMPLEX 2: SOMATOSENSORISCHE WAHRNEHMUNG UND WAHRNEHMUNGSVERAR-

BEITUNG

• Sind sich Grundschülerinnen und Grundschüler der Mitarbeit des Gehirns bei

Sinnesleistungen oder motorischen Leistungen bewusst?

• Wie stellen sie sich Abläufe der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

vor?

KOMPLEX 3: ORGAN GEHIRN

• Welche Vorstellungen bzw. welches Wissen besitzen die Schülerinnen und Schüler

über das Organ Gehirn?

• Welche Quellen geben sie für ihr Wissen an?

KOMPLEX 4: LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES GEHIRNS

• Sehen Grundschulkinder einen Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit des

Gehirns und kognitiver Anstrengung?

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• Welche Faktoren schätzen sie als positiv bzw. negativ für die Leistungsfähigkeit des

Gehirns ein?

KOMPLEX 5: GEDÄCHTNIS

• Wie erklären Schülerinnen und Schüler Gedächtnisleistungen bzw. –schwächen?

• Welche eigenen Lernstrategien/-hilfen nennen sie?

Die Reihenfolge der Untersuchungskomplexe ergibt sich aus den zugrunde liegenden Frage-

stellungen und dem damit verbundenen Vorgehen bei der Befragung, das im nächsten

Unterkapitel genauer erläutert werden wird.

3.2 Untersuchungsdesign

3.2.1 Untersuchungsmethode

Aufgrund der bereits aufgezeigten unzureichenden Forschungslage erscheint ein explorati-

ves Vorgehen zwingend notwendig. Aus diesem Grund wurde ein qualitatives Erhebungs-

instrument gewählt. Die schriftliche Beantwortung eines Fragebogens wäre bei dieser The-

matik für Grundschulkinder nicht angemessen, da diese im schriftsprachlichen Bereich auch

aufgrund des höheren Zeitaufwands weniger Ausdrucksmöglichkeiten besitzen und ich – im

Gegensatz zur Situation in einem Interview – nicht die Möglichkeit einer kommunikativen

Validierung nutzen könnte. So wird als Erhebungsinstrument ein halbstrukturierter Inter-

viewleitfaden entwickelt. Die Fragen des Interviewleitfadens orientieren sich an den fünf

Untersuchungskomplexen und werden durch verschiedene Stimulusmaterialien ergänzt

(Bildkarten, Filmsequenz, Fühlkiste), die im Zusammenhang zu den jeweiligen Unter-

suchungskomplexen stehen und für Grundschulkinder angemessen sind. Der Interview-

leitfaden wird im nächsten Kapitel ausführlich vorgestellt. Die Interviewdauer beträgt zwi-

schen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Minuten. Es werden nur Einzelinterviews

geführt, eine neutrale Interviewtechnik, jedoch mit einigen «weichen» Elementen wird

angestrebt. „In «weichen», nicht-direktiven Interviews soll der Interviewer durch zustim-

mende Reaktionen Hemmungen abbauen, das Gespräch unterstützen und weitere Antworten

ermuntern.“57 Dies erscheint im Umgang mit Grundschulkindern gerade in einer Einzel-

befragung notwendig. Aufgrund der langen Interviewdauer und der damit verbundenen

57 Diekmann, S. 376

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aufwändigen Transkriptions- und Auswertungsarbeit erscheint eine Probandengröße von

zwanzig Schülerinnen und Schülern angemessen.

3.2.2 Untersuchungszeitraum

Nach Konstruktion des Interviewleitfadens fand im April 2004 der erste Vortest mit vier

Schülerinnen und Schülern statt. Nach Auswertung desselben und Überarbeitung des Inter-

viewleitfadens fand der zweite Vortest mit zwei Schülerinnen und Schülern im Mai 2004

statt. Die Hauptuntersuchung wurde im Juni und Juli 2004 mithilfe des modifizierten Inter-

viewleitfadens mit zwanzig Schülerinnen und Schülern durchgeführt.

3.2.3 Untersuchungsteilnehmer

Jeweils fünf Schülerinnen und Schüler aus vier verschiedenen Schulen werden befragt. Alle

zwanzig Schülerinnen und Schüler besuchen zum Befragungszeitpunkt eine dritte Klasse.

Es werden ausschließlich Drittklässlerinnen und Drittklässler in die Untersuchung einbezo-

gen, da die Befragung von Kindern aus vierten Klassen aufgrund der zeitlichen Nähe zu den

ausgesprochenen Bildungsempfehlungen bei dieser Thematik nicht sinnvoll erscheint. Auch

eine Befragung von Erst- und Zweitklässlern scheidet sowohl aus inhaltlichen Gründen als

auch aufgrund der langen Interviewdauer aus. Die Auswahl der Schülerinnen und Schüler

einer Klasse obliegt der jeweiligen Klassenlehrerin. Allerdings bitte ich darum, von sehr

schüchternen Kindern oder Kindern mit extremen Sprach- und Verständigungsschwierig-

keiten abzusehen, ansonsten jedoch Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen schuli-

schen Leistungen auszuwählen.

3.2.4 Untersuchungsort

Befragt werden die Schülerinnen und Schüler an ihrer jeweiligen Schule. So kann den Kin-

dern ein gewohntes Umfeld ermöglicht werden. Zwei der Schulen gehören zur Stadt Lud-

wigsburg, die beiden anderen Schulorte liegen im ländlichen Umfeld von Ludwigsburg. An

den Schulen finden die Interviews in einem freien Klassen- oder Besprechungszimmer statt,

das mit einem Videorekorder58 ausgestattet ist bzw. wird. Für die Befragung wird aus zwei

Tischen ein Gruppentisch gebildet, so dass Interviewer und Kind weder nebeneinander noch

einander gegenüber sitzen müssen, sondern an zwei aneinandergrenzenden Tischseiten Platz

nehmen können.

58 Der Videorekorder ist nicht für die Datenaufzeichnung notwendig. Er wird jedoch für die Interview-durchführung benötigt, da den Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Interviews eine kurze Filmsequenzgezeigt wird.

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3.2.5 Datenaufzeichnung

Mit Hilfe von Mikrofon und Tonbandgerät werden alle Daten aufgezeichnet. Es könnte auch

ein Minidiscplayer für die Datensicherung verwendet werden. Dieser steht jedoch nicht für

den gesamten Zeitraum, der zur Transkription notwendig ist, zur Verfügung. Somit muss

auf diese komfortablere Möglichkeit verzichtet werden. Um die Anonymität der befragten

Kinder zu wahren, werden bereits bei der Verschriftlichung der Interviews ihre Namen ge-

ändert.

3.2.6 Datenanalyse

Zunächst werden alle zwanzig Interviews transkribiert. Da die inhaltlich-thematische Ebene

im Vordergrund steht, erfolgt die Transkription in normalem Schriftdeutsch. Die spärliche

Kommentierung der Transkription – nur lange Pausen und unverständliche oder schwer ver-

ständliche Äußerungen werden kommentiert – trägt ebenfalls zur besseren Lesbarkeit bei

und ist im Rahmen dieser Untersuchung möglich, da die Untersuchungsinhalte hierdurch

keine Veränderung oder Verzerrung erleiden.59

Anschließend werden die Interviews deskriptiv und interpretativ ausgewertet. Aufgrund der

anfallenden Datenmengen wird mit MAXQDA eine unterstützende Software für die qualita-

tive Datenanalyse verwendet, mit welcher sich qualitative und eingeschränkt auch quantita-

tive Aspekte erheben lassen.

3.3 Ablauf der Untersuchung

Im Folgenden werden die fünf Untersuchungskomplexe genauer aufgezeigt. Neben den

Leitfragen des Interviewleitfadens werden auch die zusätzlichen Komponenten des Inter-

views wie zum Beispiel die Arbeit mit einer kurzen Filmsequenz genauer erläutert.

3.3.1 Komplex 1: Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbei-tung

Dieser Komplex umfasst drei Frageblöcke. Bei allen drei Frageblöcken stehen Phänomene

der visuellen Wahrnehmung im Mittelpunkt.

Für den ersten Frageblock habe ich eine kurze Sequenz aus einem englischen Lehrfilm für

die Grundschule ausgewählt. Es handelt sich hierbei um „Phoebe calling“, den ersten Film

der insgesamt 8-teiligen Reihe „Wizadora“. Diese wird an vielen Grundschulen im Eng-

59 Vgl. Mayring, S. 65ff.

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lischunterricht eingesetzt, ist den befragten Schülerinnen und Schülern jedoch nicht be-

kannt. Bewusst wird die Dauer der gezeigten Filmsequenz auf 1,5 Sekunden begrenzt.

Jedem Kind wird der gewählte Ausschnitt drei Mal gezeigt, nach jedem Mal haben die Kin-

der Zeit, alle Beobachtungen zu notieren. Im Anschluss daran vergleichen sie ihren

Beobachtungsbogen mit einem von mir bereits ausgefüllten Beobachtungsbogen60 und

äußern sich zunächst frei dazu. Anschließend frage ich nach, wie sich die Schülerinnen und

Schüler die unterschiedlich notierten Beobachtungen erklären. Die Konfrontation mit dem

ausgefüllten Beobachtungsbogen eines anderen Kindes soll die Schülerinnen und Schüler

dazu anregen, die Unterschiede bei der Wahrnehmung des Filmausschnitts zu erklären.

Frageblock I

Instruktion 1: Ich möchte dir jetzt einen ganz, ganz kurzen Ausschnitt aus einem

Film zeigen. Du kannst den Ausschnitt insgesamt 3 Mal sehen, und jedes Mal hast du

hinterher Zeit, alles aufzuschreiben, was du gesehen hast.

Instruktion 2: Schreibe jetzt alles auf, was du gesehen hast.

Instruktion 3: Ein anderes Kind hat genau den gleichen Filmausschnitt angeschaut

und auch etwas aufgeschrieben (Vergleich mit einem anders ausgefüllten Beobach-

tungsbogen).

Frage 1: Fällt dir etwas auf? ODER Möchtest du dazu etwas sagen?

Frage 2: Wie erklärst du dir, dass ihr verschiedene Sachen aufgeschrieben habt?

Es wird erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler Unterschiede zwischen ihrem eigenem

Beobachtungsbogen und dem eines anderen Kindes feststellen. Von besonderem Interesse

ist nun, ob und welche Erklärungen die Kinder für die Unterschiede anführen. Enthalten

gegebene Erklärungen Elemente einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie wie zum Bei-

spiel Kontextgebundenheit, Selektivität, Interesse oder Konstruiertheit als zum Wahrneh-

mungsprozess gehörende Aspekte oder sind sie eher defizitorientiert im Sinne eines negati-

ven Selbstkonzepts?

Im Rahmen des zweiten Fragenblocks zeige ich den Kindern zunächst ein Kärtchen mit

folgendem Symbol und frage sie nach dessen Bedeutung.

60 Der Beobachtungsbogen ist im Anhang (Kap. 5.2) zu finden.

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e Anschließend zeige ich ihnen ein weiteres Kärtchen und frage sie ebenfalls, was sie auf dem

Kärtchen sehen.

Schule Ich frage dann die Schülerinnen und Schüler nach dem „ e “ in „ Schule “ und konfrontiere

sie mit ihrer ersten Interpretation dieses Symbols, das schon auf dem Kärtchen zuvor zu

sehen war. Auch hier sind die Schülerinnen und Schüler mit vermeintlichen Widersprüchen

bei der visuellen Wahrnehmung konfrontiert.

Frageblock II

Frage 1: Was siehst du hier?/Was denkst du, was ist das? (Kärtchen mit „ e “)

Frage 2: Was siehst du hier?/Was denkst du, was ist das? (Kärtchen mit „ schule “)

Frage 3: Was denkst du, was ist das? (auf e in Schule zeigen)

Frage 4: Vorher hast du gesagt, dass das „ e " ein ... ist.

Diese Aufgabe soll Aufschluss darüber geben, ob Grundschulkinder mehrere Deutungen

eines Symbols zulassen können und ob sie die Kontextabhängigkeit ihrer Wahrnehmungs-

leistung ohne weitere Vermittlungshilfen erkennen können. Es wird erwartet, dass die

Schülerinnen und Schüler das erste Symbol zunächst nicht als halbes „e“ wahrnehmen.

Diese Deutung wird erst aufgrund des Kontextes bei dem zweiten Kärtchen erwartet.

Den dritten Frageblock zur visuellen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung bildet

ein von John Ridley Stroop im Jahre 1935 erstmals beschriebene Test61, der den hohen Grad

der Automatizität beim Lesen von Wörtern belegt. Den Schülerinnen und Schülern werden

nacheinander die in Abbildung 5 gezeigten Textstreifen in den dargestellten Farben vorge-

legt, verbunden mit der Aufforderung, jeweils die Farben der Wörter zu benennen. Um die-

61 Vgl. Spitzer, S. 243ff.

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sen Test nachvollziehen zu können, empfehle ich dem Leser, nacheinander bei beiden Ver-

sionen laut und so schnell wie möglich die jeweiligen Druckfarben der Wörter zu nennen.

rotgrünblaugrünrotgrünblaurotblaugrünrotblau

rotgrünblaugrünrotgrünblaurotblaugrünrotblau

Abbildung 5: Textstreifen des Stroop-Tests

Version 1: Version 2:Wortfarbe entspricht der Wortbedeutung Wortfarbe entspricht nicht der Wortbedeutung

Frageblock III

Frage 1: Kannst du mir die Farben der Wörter (Wortfarbe entspricht Wortbedeu-

tung)sagen?

Frage 2: Kannst du mir die Farben der Wörter (Wortfarbe entspricht nicht Wortbe-

deutung) sagen?

Frage 3: Ist dir etwas aufgefallen?

Frage 4: Wie erklärst du dir, dass du die Farben der Wörter einmal besser und

einmal schlechter sagen konntest?

Während das Benennen der Druckfarben ein kontrollierter Prozess ist, ist das Lesen der

Wörter ein automatisierter Prozess. Bei der ersten Version ergänzen sich die beiden ablau-

fenden Prozesse, wohingegen es bei der zweiten Version zu einem Interferenzeffekt kommt,

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da der automatisierte und damit schnellere Leseprozess hier zu einem falschen Ergebnis

führen würde. - Dies gilt nicht für Personen, die nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten

lesen können62, davon ist bei Drittklässlern jedoch nicht auszugehen.

Der Stroop-Test stellt in meinen Augen eine gute Möglichkeit dar, Gehirnprozesse bewusst

zu machen. Verschiedene Prozesse laufen gleichzeitig ab und sind nur bedingt steuerbar.

Die Schülerinnen und Schüler sollen bei beiden Versionen die jeweiligen Wortfarben be-

nennen und sich anschließend zu ihren Erfahrungen äußern. Nachfragend bitte ich sie um

ihre Erklärungen für diesen so genannten Stroop-Effekt. Konfrontiert mit ihren „Fehlleis-

tungen“ oder langsameren Ergebnissen bei der zweiten Version, sollen die Schülerinnen und

Schüler diese erklären. Von Interesse ist hierbei, wo die Schülerinnen und Schüler die Ursa-

che für ihre vermeintlichen „Fehlleistungen“ vermuten.

3.3.2 Komplex 2: Somatosensorische Wahrnehmung und Wahrneh-mungsverarbeitung

Obwohl das Gehirn ein Zentralorgan unseres Körpers ist, können wir seine Existenz nicht

wahrnehmen, wie dies beim Herz über das Pulsfühlen oder Pulsverändern, zum Beispiel

durch körperliche Anstrengung, möglich ist. So verwundert es auch nicht, dass das Gehirn

in unserer Kulturgeschichte erst spät als Ort kognitiver Prozesse anerkannt wurde. So be-

schrieb beispielsweise Aristoteles als bekanntester Vertreter einer cardiozentristischen

These das Herz als Sitz des Verstandes und attestierte dem Gehirn lediglich die Aufgabe der

Blutkühlung, da dieses dort am kältesten sei.63

Heute wissen in unserem Kulturkreis die allermeisten Menschen um die Bedeutung des

Gehirns bei Denkvorgängen. Dieses Wissen kann nicht durch Erfahrungen erworben oder

überprüft werden, sondern muss durch Vermittlung gelernt – und so akzeptiert - werden. Ob

sich Grundschülerinnen und Grundschüler der Mitarbeit des Gehirns bei Sinnes- und

motorischen Leistungen bewusst sind, ist die zentrale Forschungsfrage dieses Komplexes.

Um dieser Frage nachzugehen, habe ich den im Folgenden beschriebenen Untersuchungs-

aufbau entwickelt.

Die Schülerinnen und Schüler haben die beiden in Abbildung 6 gezeigten Fühlkisten vor

sich auf dem Tisch stehen. In der linken Fühlkiste befindet sich ein den Schülerinnen und

Schülern geläufiger Gegenstand (Federball oder Apfel). In der rechten Fühlkiste liegen

62 Auch bei hypnotisierten Personen ist der Stroop-Effekt nicht nachzuweisen, sie verlieren also unter Hypnoseihre Lesefähigkeiten. (Vgl. Tegethoff, auch Stöcker).63 Vgl Prinz, Roth & Maasen, S. 5f.

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Zettel und Stift bereit. Die Aufgabe besteht darin, gleichzeitig mit der linken Hand in die

linke Kiste und mit der rechten Hand in die rechte Kiste zu greifen. Wenn das Kind den Ge-

genstand der linken Kiste erfühlt hat, notiert es sein Ergebnis in der rechten Kiste.64 Im An-

schluss daran wird es aufgefordert, die ausgeführten Leistungen detailliert zu beschreiben.

Die Aufgabenstellung mit den beiden

Fühlkisten wurde gewählt, da der

kürzeste Weg zwischen der linken und

der rechten Hand nicht über den Kopf

führt. Das Gehirn bzw. der Kopf als Sitz

desselben bedeutet also einen „Umweg“,

der bei der Informationsübertragung be-

wusst „eingeplant“ werden muss. Zudem

spielt die visuelle Wahrnehmung, die bei den meisten Sinnes- und motorischen Leistungen

von zentraler Bedeutung ist, bei dieser Aufgabe keine Rolle. So kann bei diesem Komplex

erhoben werden, ob sich die Kinder der Mitarbeit des Gehirns bewusst sind und wie sie sich

die somatosensorische Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung vorstellen.

Frageblock

Instruktion 1: Du siehst hier zwei Fühlkisten. Du sollst mit deiner linken Hand in

diese Kiste greifen und fühlen, was sich darin verbirgt. Gleichzeitig sollst du mit

deiner rechten Hand in der anderen Fühlkiste den Gegenstand aufschreiben, den du

gefühlt hast. …

Frage 1: Kannst du mir jetzt ganz genau, Schritt für Schritt erklären, wie du diese

Aufgabe gelöst hast?

Frage 2: Wenn du jemandem beschreiben solltest, was alles passiert ist, bis du das

Wort hingeschrieben hast, wie würdest du das machen?

Von Interesse ist bei diesem Frageblock, ob die Schülerinnen und Schüler das Gehirn bzw.

den Kopf als Sitz des Gehirns erwähnen und ob und wie sie dessen Beteiligung an dieser

Aufgabe begründen bzw. welche Aufgaben sie ihm zuweisen. Auch die Schülervorstel-

lungen von der Art und Weise der Informationsübertragung von der linken zur rechten Hand

stehen im Fokus des Interesses.

64 Bei Linkshändern werden die Kisten getauscht.

Abbildung 6: Für den Komplex 2 verwendete Fühlkisten

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3.3.3 Komplex 3: Organ Gehirn

In den ersten beiden Untersuchungskomplexen wird bewusst das Gehirn nicht von mir als

Interviewerin angesprochen. So kann herausgefunden werden, ob die Schülerinnen und

Schüler ohne zusätzlichen Impuls von außen kognitive Leistungen mit dem Gehirn verbin-

den. Im dritten Untersuchungskomplex wird nun nach der jeweiligen Vorstellung vom Or-

gan Gehirn gefragt. Dabei sollen sich die Schülerinnen und Schüler zunächst frei äußern. Im

Anschluss daran erfolgen gezielte Nachfragen zu Lage, Form, Größe, Aussehen, Substanz

und Vernetzung des Gehirns mit anderen Körperteilen. Abschließend werden die Kinder

gebeten, ihre Wissensquellen zu diesem Thema anzugeben.

Frageblock

Instruktion 1: Ich möchte jetzt von dir alles wissen, was du zum Gehirn weißt.

Frage 1: Wo ist das überhaupt, das Gehirn?

Frage 2: Was für eine Form hat es?

Frage 3: Wie groß ist es?

Frage 4: Wie sieht es aus?

Frage 5: Aus was besteht es?

Frage 6: Ist es ganz für sich oder gibt es Verbindungen zu anderen Bereichen?

Frage 7: Kannst du mir sagen, woher du all das weißt?

Auch aufgrund der bereits vorgestellten Untersuchung von Johnson/Wellman wird erwartet,

dass alle Drittklässlerinnen und Drittklässler das Gehirn im Kopf lokalisieren. Bei den Fra-

gen nach Form, Größe, Aussehen, Substanz und Vernetzung mit anderen Körperteilen wer-

den im Sinne der konstruktivistischen Erkenntnistheorie Schülervorstellungen erwartet, die

auf Gelerntem beruhen, dann jedoch selbsttätig weiterentwickelt und verändert, also kon-

struiert wurden. Bei der Frage nach den Wissensquellen sind die Schülerangaben von zent-

ralem Interesse. Als Exkurs soll aber auch ein Vergleich der Angaben der Grundschüle-

rinnen und Grundschüler mit den befragten Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschülern

bei Schletter vorgenommen werden.

3.3.4 Komplex 4: Leistungsfähigkeit des Gehirns

Nachdem die Schülerinnen und Schüler sich im vorherigen Komplex zum Organ Gehirn

geäußert haben, soll jetzt erhoben werden, welche Vorstellungen sie von der Leistungsfä-

higkeit des Gehirns haben. Dazu sind vier Frageblöcke konzipiert. So werden die Kinder im

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ersten Frageblock gefragt, ob Aussehen, Größe und Substanz des Gehirns Auswirkungen

auf die kognitiven Leistungen haben.

Frageblock I

Frage 1: Was denkst du: Können Menschen mit einem größeren Gehirn besser den-

ken als Menschen mit einem kleineren Gehirn?

Frage 2: Was denkst du über dein Gehirn?

Frage 3: Könnte man an einem Gehirn erkennen, ob der Mensch, dem es gehört, be-

sonders schlau ist?

Frage 4: Könnte man es irgendwie anders erkennen, ob ein Mensch schlau ist?

Die Antworten der Schülerinnen und Schüler können Aufschluss über ihr jeweiliges Ver-

ständnis vom Lernen und dem Zustandekommen kognitiver Leistungen geben und sollen

daraufhin ausgewertet werden. Von besonderem Interesse ist, ob die Schülerinnen und

Schüler einen Zusammenhang zwischen der physischen Substanz des Gehirns und seinen

Leistungen sehen und welcher Art dieser Zusammenhang ist.

In die gleiche Richtung zielt auch der zweite Frageblock. Hierbei steht die Frage im Mittel-

punkt, ob Menschen ihr Gehirn trainieren können, ob also die eigene kognitive Leistung

eine individuell beeinflussbare Größe ist.

Frageblock II

Frage 1: Was denkst du: Können die Menschen ihr Gehirn trainieren?

Frage 2: Wie stellst du dir das vor?

Frage 3: Trainierst du dein Gehirn?

Es wird erwartet, dass diejenigen Kinder, die beim vorherigen Frageblock angeben, dass die

Größe des Gehirns nicht mit der Denkleistung korreliert, die erste Frage bezüglich der Trai-

nierbarkeit des Gehirns bejahen. Von Interesse sind die Möglichkeiten, welche die Schüle-

rinnen und Schüler dafür angeben. Bei Schletter versteht die Mehrheit der Oberstufen-

schülerinnen und Oberstufenschüler unter Lernen ausschließlich das Lernen im schulischen

Kontext, wohingegen das Lernen im Alltag von den meisten Probanden nicht als Lernen

wahrgenommen wird. Die Antworten der Grundschülerinnen und Grundschüler sollen auch

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45

daraufhin ausgewertet werden, ob die Trainierbarkeit sich auf den schulischen Rahmen be-

schränkt. Auch diese Ergebnisse sollen mit Schletters Ergebnissen verglichen werden.

Zudem werden die Schülerinnen und Schüler nach der Funktionsweise des Gehirns gefragt,

ebenso wie nach den Aufgaben, an denen das Gehirn beteiligt ist.

Frageblock III

Frage 1: Wozu brauchen wir unser Gehirn?

Frage 2: Was denkst du, wann benutzt du dein Gehirn? Wofür?

Frage 3: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Frage 4: Was denkst du, wie arbeitet dein Gehirn?

Von Interesse sind bei diesen Fragen, welche Aufgaben die Kinder dem Gehirn zuordnen.

Mit der Frage Macht dein Gehirn auch mal Pause? können hingegen Situationen ermittelt

werden, in denen das Gehirn nicht arbeitet.

Der vierte Frageblock ist im Hinblick auf das persönliche Verständnis von Lernen wichtig.

Können die Schülerinnen und Schüler Aspekte benennen, die Einfluss auf das Lernen ha-

ben? Hierbei äußern sie sich zunächst frei, werden dann aber aufgefordert, konkret zu eini-

gen Aspekten Stellung zu nehmen.

Frageblock IV

Frage 1: Wovon hängt es denn ab, ob ein Gehirn gut arbeitet?

Frage 2: Kann man das beeinflussen? Kannst du Sachen machen, dass dein Gehirn

gut arbeiten kann?

Frage 3: Hilft dem Gehirn viel Schlaf/Gemüse/Traubenzucker/Sport/Medikamente/

Ferien/ viel mehr Unterricht/strenge Lehrer/nette Lehrer? (+ Nachfrage „Wieso

denkst du das?“)

Diese Fragen geben Aufschluss darüber, welche Bedingungen die Schülerinnen und Schüler

mit positiven Auswirkungen auf die Gehirnleistung assoziieren. Von Interesse sind beson-

ders die Antworten bei Frage 3 und die Begründungen, die die Schülerinnen und Schüler für

ihre Antworten liefern.

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46

3.3.5 Komplex 5: Gedächtnis

Wie gut unser Gedächtnis arbeitet, merken wir zumeist erst, wenn es einmal nicht so funkti-

oniert, wie wir es uns wünschen. Deshalb habe ich diesen Komplex mit einer Gedächtnis-

Aufgabe verbunden. Vor jedem Interview wird die entsprechende Schülerin bzw. der ent-

sprechende Schüler gebeten, sich sechs Bildkarten (Abbildung 7) genau anzuschauen und

sich einzuprägen, was darauf zu sehen ist. Bei der Auswahl der Bildkarten wurden nur

Fotografien berücksichtigt, um keine zusätzlichen Reize zu liefern,

Abbildung 7: Verkleinerte Darstellung der sechs verwendeten Bildkarten

Am Ende eines jeden Interviews, also ungefähr dreißig Minuten nach Betrachtung der Bild-

karten, frage ich die Schülerinnen und Schüler nach den zuvor eingeprägten Bildkarten

sowie ihren Erklärungen, wieso sie sich einige der Bilder haben merken können und andere

nicht.

Frageblock I

Instruktion 1: Bevor wir anfangen, möchte ich dir einige Bilder zeigen. Du kannst

sie dir so lange anschauen, wie du möchtest. Wenn du denkst, dass du dir merken

kannst, was darauf zu sehen ist, kannst du sie mir wieder geben. (Instruktion wird

vor allen anderen Fragen des Interviews gegeben.)…

Frage 1: Du hast dir am Anfang verschiedene Bilder angeschaut. Kannst du sagen,

was darauf zu sehen ist?

Frage 2: Wie viele fehlen dir noch?

Frage 3: Wie erklärst du dir, dass du die Bilder noch aufzählen kannst?

Frage 4: Ein Bild/Zwei Bilder/... hast du jetzt nicht mehr genannt. Ich zeige es/sie

dir. Wie erklärst du dir das, dass du das nicht mehr weißt, du hast doch alles ange-

schaut?

Es wird erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler sich auch zu ihren Vorstellungen vom

Gedächtnis äußern. Abhängig von der bis dato verstrichenen Interviewzeit stelle ich auch

gezielte Nachfragen dazu. Es wird untersucht, ob die Schülervorstellungen von Gedächtnis

und Gedächtnismodell denen der von Schletter befragten Oberstufenschülerinnen und Ober-

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stufenschülern ähneln. Interessant sind wieder die Begründungen für nicht-erinnerte Bild-

karten. Suchen die Schülerinnen und Schüler dafür bei sich die Schuld oder führen sie

andere Gründe wie zum Beispiel fehlendes Interesse an?

Die letzten beiden Fragen des Interviewleitfadens werden nur noch gestellt, wenn die Inter-

viewdauer und die Konzentration des jeweiligen Kindes dies noch zulassen. Die Schüle-

rinnen und Schüler sollen ihre bewussten Lernstrategien nennen und sich zu ihren eigenen

Merktechniken äußern.

Frageblock II

Frage 1: Hast du Tipps, wie man gut lernen kann?

Frage 2: Wie kannst du dir Sachen am besten merken?

3.4 Auswertung und Interpretation

Vor dem beschriebenen theoretischen Hintergrund werden nun die Ergebnisse der Unter-

suchung beschrieben. Auch diese sind wieder entsprechend der fünf Untersuchungs-

komplexe aufgeführt. Der Lesefreundlichkeit wegen sind die zugrunde liegenden For-

schungsfragen nochmals aufgeführt.65

3.4.1 Komplex 1: Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbei-tung

Wie erklären sich Grundschülerinnen und Grundschüler unterschiedliche Ergebnisse bei

visuellen Wahrnehmungsleistungen?

Ziehen sie bei ihren Erklärungen Elemente einer konstruktivistischen Lerntheorie heran?

Bei dem gezeigten Filmausschnitt erkennen alle Kinder Unterschiede zwischen ihrem eige-

nen Beobachtungsbogen und dem eines anderen Kindes. Allerdings können sich nicht alle

Grundschülerinnen und Grundschüler die unterschiedlichen Ergebnisse der visuellen Wahr-

nehmung erklären. Wie Abbildung 8 zeigt, sind die gegebenen Erklärungen vielfältig. Die

Mehrheit der Schülerinnen und Schüler macht unterschiedliche Interessen oder individuelle

Unterschiede verantwortlich. Von zwei Schülerinnen wird der Wahrnehmungsprozess als

65 Trotz gewissenhafter Einarbeitung in Interview- und Fragetechniken (Diekmann, S. 375 – 455;Friebertshäuser, S. 371 – 395; Heinzel, S. 396 – 413; Lamnek, S. 35 – 70) konnte ich diese aufgrund der nochgeringen Interviewerfahrung nicht immer konsequent anwenden.

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ein selektiver Vorgang beschrieben. Vereinzelt wird die optische Wahrnehmung auch als

bewusste Entscheidung erklärt bzw. die eigene Wahrnehmungsleistung wird als fehlerhaft

eingeschätzt.

0

1

2

3

4

5

6

7

Keine Erkl

ärung

dafür

Intere

sse

Indivi

duell

e Untersc

hiede

Selekti

ver Prozes

s

Bewuss

teEnts

cheidu

ng

Eigene

Schuld

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Kategorie BeispielaussagenInteresse Er hat sich halt für andere Sachen inte-

ressiert und ich für andere Sachen.(Paul66)

IndividuelleUnterschiede

Das ist nicht gleich, wie die Leute, die,ähm, die denken alle anders, weil diehaben eine andere Fantasie. (Alexandra)

SelektiverVorgang

Ja. Aber vielleicht hat jemand, ähm, desangeguckt und das nicht angeguckt undvielleicht das nicht aufgeschrieben undvielleicht das aufgeschrieben. (Lilli-May)

BewussteEntscheidung

Vielleicht weil er es nicht wollte. (Marc)

Eigene Schuld Vielleicht habe ich nicht richtig aufge-passt. (Sergej)

Abbildung 8: Erklärungen für unterschiedliche Wahrnehmungsleistungen beim Filmausschnitt

Bemerkenswert sind die häufigen Nennungen von Interesse und Selektion bei der Wahr-

nehmung. Diese drücken ebenso wie das Zurückführen von Wahrnehmungsunterschieden

auf individuelle Unterschiede eine intuitive konstruktivistische Denkweise aus.

Wie Abbildung 9 zeigt, geben die meisten Schülerinnen und Schüler bei der nächsten Auf-

gabe zunächst an, dass sie das Symbol „ e “ für ein „D“ halten. Die hohe Buchstaben-

dominanz zeigt sich auch darin, dass bereits bei der ersten Betrachtung drei von zwanzig

Kindern „ e “ als abgeschnittenes „e“ interpretieren. Interessanter als die erste Deutung des

Symbols ist die zweite Deutung, nachdem den Schülerinnen und Schülern das Kärtchen „

Schule “ vorgelegt wurde. Nun sind fast alle Schülerinnen und Schüler der Auffassung,

dass es sich um ein abgeschnittenes „e“ handeln kann (vgl. Aussage von Brenta), bzw. han-

deln muss (vgl. Aussage von Tim). Positiv fällt auf, dass die meisten Kinder mehrere Inter-

pretationen zulassen.

66 Wie bereits in Kapitel 3.2.5 erwähnt, wurden die Namen der Schülerinnen und Schüler geändert.

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Erste Aussage zu " e "

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

D

Halbkre

is

Abgesch

nitten

es"e"

Mund

Brücke

Mond

Zeiche

ngerä

t

Halbe Null

mit Strich

Kanal

Schüss

elod

erTell

er

Sonne

hinter

Wolken

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Zweite Aussage zu " e "

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

Abgesc

hnitte

nes "e" D

Halbkre

is

Halbe Son

ne

Halbes

OMon

d

Wappen

zeich

en

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Abbildung 9: Schülerantworten auf die Frage: Was denkst du, was ist das? e (Mehrfachnennungen möglich.)

Beispielhafte Gesprächsauszüge:I: Und was denkst du, was ist das (e)?

Brenta: Dann ist das vielleicht ein e.

I: Aber vorher hast du doch gesagt, das wäre ein D oder ein Halbkreis?

Brenta: Ja, so ein D (dreht) und so ein Halbkreis (dreht). Das ist viel. Das sind mehrere Sachen.

I: Aber vorher hast du gesagt, dass das (e) ein Mund ist.

Tim: (lacht). Es gibt auch das Wort nicht - nur e. So ist es ein e, ein abgeschnittenes e. Es gibt zwar

das Wort nicht, e, abgeschnittenes e – was sieht besser aus? Das ist glaube ich doch ein e abgeschnit-

ten, doch, doch, e abgeschnitten.

I: Wie kommt es denn, dass du jetzt denkst, das ist ein abgeschnittenes e?

Tim: Das hier ist ein bisschen dünner als das, deshalb kann es eigentlich kein Mund sein. So, so, das

muss ein e sein….

Der bereits beschriebene Stroop-Test bildet die dritte Aufgabe des ersten Komplexes. Alle

Kinder können bei der ersten Version des Tests die Wortfarbe schnell und sicher benennen.

Bei der zweiten Version sind erwartungsgemäß alle Antworten deutlich langsamer, erfor-

dern mehr Konzentration und sind häufig nicht ohne Versprecher oder Verbesserungen von

den Kindern zu leisten. Die Schülerinnen und Schüler führen diese Unterschiede häufig auf

das automatisiert ablaufende Lesen von Wörtern zurück, wie Abbildung 10 zeigt. Die von

den Schülerinnen und Schülern gegebenen Erklärungen sind recht ähnlich. So geben acht

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Kinder an, dass sie automatisch lesen, wenn sie ein Wort sehen. Vier Kinder führen die

Schwierigkeiten bei der zweiten Version darauf zurück, dass man hierbei denken muss,

während man zuvor die Farbe „nur“ zu lesen brauchte. Ähnlich argumentieren drei weitere

Kinder, die angeben, dass das geschriebene Wort sie irritiert habe. Zwei Schüler sind der

Meinung, dass sie die zweite Version aufgrund der ersten Version nicht so schnell bearbei-

ten können, da die bei der ersten Version verwendete Lösungsstrategie noch präsent ist, jetzt

aber zu falschen Ergebnissen führt. Ein Mädchen führt die Schwierigkeiten nicht auf die

Aufgabenstellung zurück, sondern gibt auch auf Nachfragen an, dass sie die Aufgabe nicht

lösen konnte, da sie die Aufgaben verwechselt habe.

Erklärungen fürden Stroop-Effekt

0

1

2

3

4

5

6

7

8

Lese

nist

dom

inan

t/erfo

lgt a

utom

atisc

hEi

nmal

"nur

" les

en, e

inm

alde

nken

"Das

Wor

t hat

mich

irriti

ert."

Zweit

eV

ersio

nan

ders

a lser

ste.

Eige

ner F

ehle

r

Kei

neBe

grün

dung

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Abbildung 10: Erklärungen für den Stroop-Effekt

Kategorie Beispielaussagen

Lesen ist domi-

nant/erfolgt

automatisch

Aber auch, wenn man es nicht soll, dann liest man es halt einfach. (Martin)

Ja, aber irgendwann fängt man an es zu lesen. Weil ich lese die und dann sage ich auch

den Namen. Aber dabei hier ist blau, dann kommt gelb, aber hier steht eigentlich grün.

Und dann sagt man einfach das, was da steht. Aber irgendwann fängt man einfach von

alleine an, das zu lesen. (Jan)

Einmal „nur“

lesen, einmal

denken

Ja, weil da konnte man es ablesen und hier musste man erst denken, überlegen. (Paul)

„Das Wort irri-

tiert mich.“

Ja, weil rot, da denkt man, das wäre halt mit roter Farbe. Aber man muss das ja blau

sagen, weil das Wort irritiert einen mit der falschen Farbe. (Derrick)

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Zweite Version

anders als erste.

Beim zweiten Mal denkt man, das ist das vom ersten noch mal. (Felix)

Eigener Fehler Dann bin ich da ein bisschen durcheinander gekommen. (Sandra)

3.4.2 Komplex 2: Somatosensorische Wahrnehmung und Wahrneh-mungsverarbeitung

Sind sich Grundschülerinnen und Grundschüler der Mitarbeit des Gehirns bei Sinnesleis-

tungen oder motorischen Leistungen bewusst?

Wie stellen sie sich Abläufe der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung vor?

Bei der Aufgabe mit den Fühlkisten zeigt sich deutlich, dass sich die meisten Schülerinnen

und Schüler der Mitarbeit des Gehirns bei Sinnesleistungen oder motorischen Leistungen

bewusst sind. So beschreiben siebzehn der zwanzig befragten Kinder nicht den direkten

Weg von Hand zu Hand, sondern beziehen den Kopf als „Zwischenstation“ ein. Zwei Kin-

der erwähnen den Kopf bzw. das Gehirn nicht explizit, geben aber als Zwischenschritt zwi-

schen „fühlen“ und „schreiben“ „denken/wissen“ an. Ein Schüler hat keine Erklärung dafür,

wie die links erfühlte Information von der rechten Hand zu Papier gebracht werden kann.

Die Ausführungen der siebzehn Schülerinnen und Schüler sind so unterschiedlich, dass an

Stelle einer quantitativen Darstellung einige Beispiele angeführt werden:

Tim: Das ist von der Hand in den Kopf rein zum Durchdenken und dann ist es in die rechte Hand rein

zum Schreiben.

I: Und wie passiert das? Wie stellst du dir das vor?

Tim: Wahrscheinlich durch irgendwelche Zellen oder so, die das hier transportieren da oben rein und

dann wieder weitertransportieren in die Hand.

I: Und was genau haben die jetzt transportiert?

Tim: … (überlegt, lacht). Oder sie haben sich gemerkt das Wort „Apfel" im Kopf, das hat es über-

arbeitet und dann haben die es sich weitergemerkt und dann ist es in die rechte Hand reingekommen.

I: Wieso denn zum Kopf?

Tim: Weil der Kopf das überarbeiten muss, äh, das muss ins Gehirn und das Gehirn muss es überar-

beiten.

I: Und was genau passiert da im Gehirn?

Tim: Da wird es noch mal überprüft sozusagen.

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Für Tim findet die Denkarbeit, die bei dieser Aufgabenstellung zu leisten ist, im Gehirn

statt. Der Weg von der Hand in den Kopf wird von Zellen zurückgelegt, denen Tim kogni-

tive Fähigkeiten zuschreibt. Das Gehirn fungiert in seinen Augen auch als Kontrollorgan.

Paul: Ich hab da, in der linken Hand gefühlt und dann habe ich es mir im Hirn gespeichert und dann

habe ich es mit der rechten Hand aufgeschrieben.

I: Wie ist das denn in dein Hirn gekommen?

Paul: Ja, ich habe es gefühlt und ich habe schon oft Äpfel gefühlt und weiß, wie die aussehen und

weiß, wie die sich anfühlen und dann habe ich es mit der rechten Hand geschrieben.

I: Und wieso musste das erst in dein Hirn?

Paul: Ja, weil man kann ja nicht mit der rechten Hand was fühlen und dann, äh, mit der linken Hand

was fühlen und dann mit der rechten Hand was schreiben, das geht ja gar nicht, wenn ich nur zwei

Hände habe, das geht ja gar nicht. Weil in der linken Hand, genau, wenn ich zum Beispiel was fühle

und ein anderer Mensch das aufschreibt, der weiß ja gar nicht, was dort ist, der kann ja irgendwas auf-

schreiben und nicht den Begriff, was da drin ist.

I: Und dafür braucht man dann das Gehirn?

Paul: Ja.

I: Und was genau passiert da im Gehirn?

Paul: Da geht das rein, erst ins Kurzzeitgedächtnis, und wenn man das lang fühlt, dann geht es ins

Langzeitgedächtnis. Dann weiß man, dann fühlt man es an und dann weiß man automatisch, das ist

ein Apfel.

I: Und dann?

Paul: Und dann speichert man sich das und dann weiß man es ein Leben lang.

Paul äußert sich nicht zu Art und Weise, wie die Information ins Gehirn gelangt. Es ist für

ihn jedoch klar, dass das Gehirn Speicherfunktionen übernimmt. Herauszustellen ist bei

Paul die Bedeutung, die er der Erfahrung beimisst („Ich habe schon oft Äpfel gefühlt… und

weiß, wie die sich anfühlen.“). Auch verwendet er die Begriffe Kurz- und Langzeitgedächt-

nis abhängig von der Länge der Informationsaufnahme. Interessant ist, dass die Bedeutung

der Erfahrung in Widerspruch zu seiner Aussage am Ende steht, dass einmal gespeicherte

Informationen ein Leben lang präsent sind - dann würde ja ein Apfel genügen.67

I: Du hast hier gefühlt mit der linken Hand und mit der rechten Hand geschrieben. Wie ist das denn

von hier nach hier gekommen?

67 Obwohl sich beide Aussagen vermeintlich widersprechen, so ist unser Gehirn nicht nur in der Lage,aufgrund von vielzähligen Erfahrungen zu lernen. Auch einmalige Erlebnisse können ein Leben langgespeichert werden.

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Miro: Ich glaube, durch den Kopf irgendwie. Das ist ja wie wenn irgendwie ein Stich ist, haben sie

im Fernsehen ja auch schon gebracht, oder nein, beim Kitzeln, da geht das ja auch erst von der Hand

in den Kopf rein und dann irgendwie werden erst die Gefühle da angeregt.

I: Kannst du noch ein bisschen genauer erklären, wie du dir das vorstellst, dass das von der Hand in

den Kopf geht?

Miro: Hm, nein, eigentlich nicht. Also beim Kitzeln war es ja so, da haben sie irgend so eine Linie

eingezeichnet in den Kopf hoch, aber …

I: Glaubst du dann, du hast auch so Linien?

Miro: Ja, so, ja, normal, ja, hat normal jeder Mensch, glaube ich.

Miro hat eine eher vage Vorstellung von der Beteiligung des Gehirns an dieser Aufgabe. Als

Quelle gibt er Informationen aus dem Fernsehen zum Kitzeln an, die er auf diese Aufgabe

überträgt. Dass er von einer „eingezeichneten Linie in den Kopf hoch“ spricht, legt den

Schluss nahe, dass er die schematisch dargestellten Informationen als realitätsentsprechend

aufgefasst hat. Dieses Phänomen habe ich im Verlauf der Studie häufig erleben können, am

deutlichsten bei einem Kind im Vortest. Dieser Schüler erklärte unter Bezugnahme auf sein

Kinderlexikon, dass unser Gehirn verschiedenfarbige Bereiche besitzt, die unterschiedliche

Aufgabenfelder wie Geometrie oder Sprachverständnis abdecken.

Markus: Hm, das ist irgendwie halt in, erst habe ich es hier gefühlt, dann ist es irgendwie in mein

Gehirn reingegangen und dann ist es irgendwie in die Hand reingekommen und dann habe ich es ge-

schrieben.

I: Wieso ist das in dein Gehirn reingegangen?

Markus: Hm, weil das halt irgendwie alles hier zusammengebunden ist vielleicht.

I: Kannst du das ein bisschen genauer erklären, wie du dir das vorstellst?

Markus: Ja, dass halt irgendwie, ich stell mir das jetzt einfach irgendwie so vor, dass wie wenn da so

ein Schlauch oder so ist wo hier hochgeht und dann hier beim Hals oder halt hier und dann da ins Ge-

hirn hoch. Weil manchmal habe ich ja schon ein Film oder so angeschaut und da sind ja auch die Ge-

hirne. Aber das weiß ich nicht, ob das auch in echt so ist, da schauen die Gehirne immer wie so ganz

viele Schläuche zusammen.

I: Und was denkst du dann – du hast gesagt, da geht dann hier so ein Schlauch hoch. Wieso? Was hat

der für eine Aufgabe, der Schlauch? Oder wie stellst du dir das dann vor?

Markus: Dass da irgendwie das Gefühl von dem, ja, Apfel da ist halt irgendwie das Gefühl geht das

dann so mit Druck oder so, weil ich das halt spür, so hoch in mein Gehirn rein und dann äh, tut das

Gehirn halt überlegen und dann geht es in, ist hier auch wieder so ein Rohr runter und da fliegt es

dann runter und geht zu meiner anderen Hand und da weiß ich dann, was ich schreibe.

I: Du hast gesagt „dann tut das Gehirn überlegen". Kannst du das noch ein bisschen genauer be-

schreiben?

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Markus: Hm, ja, das ist halt so, ja, so genau kann ich das jetzt nicht beschreiben. Ich war, ich habe es

ja noch nie in echt gesehen. Ich weiß ja auch nicht selber, wie so ein Gehirn aussieht. Ich habe es ja

bloß in einem Film manchmal gesehen. Aber das sind vielleicht auch so Zellen oder so was oder wie

so Blutkörper oder so, die schaffen dann in meinem Gehirn und die, ja, da hat wahrscheinlich dann

jeder irgendeine Aufgabe. Die einen haben vielleicht die Aufgabe zum das Blut irgendwie, weil im

Gehirn ist ja auch Blut drin, dass das dann irgendwie – also die haben die Aufgabe. Und andere, die

haben vielleicht eine, wo dann halt das überlegen. Und dann gibt es wieder welche, wo halt, wenn

man läuft, braucht man ja auch irgendetwas zum Denken, welcher Schritt, welcher Fuß jetzt zuerst

dran kommt und so. […]

I: Und was genau passiert dann in deinem Gehirn? Das kam hier hoch und dann fiel es irgendwann

wieder hier runter durch den anderen Schlauch und was ist dazwischen passiert in deinem Gehirn?

Markus: Dann hat es das also aufgespürt und hat es dann, vielleicht haben die auch wie so Bücher,

wo es dann drin steht, dann durchgelesen und als sie es dann gewusst haben, haben sie es wieder run-

ter.

I: Wenn es wer gewusst hat?

Markus: Wahrscheinlich auch so Blutkörper oder so was.

I: Du hast gesagt, die haben es aufgespürt. Kannst du das noch ein bisschen genauer beschreiben?

Markus: Nein, nicht so gut.

Markus ist sich sicher, dass das Gehirn an dieser Aufgabe beteiligt ist. Aufgrund von Fern-

sehbildern des Gehirns bzw. der gewundenen Großhirnrinde vermutet Markus, dass das Ge-

hirn und dessen Verbindungen zum Rest des Körpers aus Schläuchen oder Rohren bestehen.

Markus geht ähnlich wie Tim davon aus, dass Blutkörperchen die eigentliche Denkleistung

vollbringen. Er schreibt ihnen nicht nur kognitive Fähigkeiten zu, sondern vermenschlicht

sie68 und traut ihnen sogar Bücher als Informationsquelle zu.

Martin: Also ich denke eher, dass hier (linker Arm) so eine Verbindung ist zum Gehirn und dann zu

den Händen. Und das Gehirn hat so einen, so einen Schalter oder so ähnlich, und das bewegt halt die

Hände.

I: Kannst du das noch ein bisschen genauer erklären?

Martin: Ja,. Also wenn ich jetzt mit meinem Gehirn, also das denkt ja, und wenn ich jetzt nach rechts

will, dann geht die Hand automatisch nach, also dann weiß ich, also das Gehirn steuert zum Beispiel,

das ist wie ein Fernlenkauto, das Gehirn ist die Fernlenk und das (Hand) ist das Auto sozusagen. Also

man weiß immer und wenn man immer da so fühlt, dann denke ich, das geht hier so zum Gehirn und

das Gehirn leitet dann das da hier runter und dann weiß die Hand, wie so eine Schaltwelle, also dass

die weiß, jetzt muss sie nach rechts und dann muss sie nach oben und nach unten und nach links. Also

dass irgendwie da so eine Verbindung ist, eine Ader oder so.

68 Dies wird im Interview mit Markus immer wieder deutlich.

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I: Das wollte ich gerade fragen. Wie stellst du dir denn die Verbindung vor?

Martin: So ähnlich wie eine Ader, also hier sieht man ja, so lila-blau und geschlängelt, so wie eine

klei-, große Schlange, so wie ein kleiner Regenwurm, der sich hier überall rumschlängelt und im Ge-

hirn alle Gedanken aufspürt und dann die Hände bewegt.

I: Jetzt sagst du „der im Gehirn alle Gedanken aufspürt". Wie stellst du dir denn das Gehirn vor?

Martin: Hm, hm, wie eine ganz hubblige Kartoffel, nur halt so groß (zeigt ungefähre Gehirngröße).

Also wie so ganz viele Blasen, nur die Blasen sind halt fest und ähm, also wie so ganz viele Seifen-

blasen auf einmal nur bloß ganz fest. Ja, und innen drin ist irgendwie so ein kleiner Hohlraum, und da

sind die Gedanken drin.

I: Und wie kommen die da rein? Oder wo kommen die her, die Gedanken?

Martin: Hm, …, ich glaube eher irgendwie von oben. Dass das Gehirn irgendwie, wenn ich jetzt

nach hinten laufen will, dann ähm, oder jetzt muss ich mal überlegen, wo das herkommt. Von oben.

Oder von oben, oder irgendwie so. Ich glaube, das ist hier irgendwo (zeigt auf Schädelplatte). Also

unter dem Skelett, das es irgendwie da so etwas gibt, einen Bollen oder irgendwie so und da kommen

irgendwie die Ideen her und wenn das dann beim Gehirn ist, dann führt man sie aus. Also dann will

man sie machen.

Martin vergleicht das Gehirn mit einer Fernsteuerung und die Hand mit dem Auto, das

durch die Fernsteuerung bedient wird.69 Dieser Vergleich ist insofern interessant, da auch

bei einem ferngesteuerten Auto die Funktionsweise für den Beobachter nicht ersichtlich ist.

Gleiches gilt für die Datenspeicherung und den Computer im Allgemeinen, der ebenfalls

häufig als Vergleich herangezogen wird. Seine Vorstellung der Hand-Kopf-Verbindungen

entwickelt Martin aus der Beobachtung seiner Arme. Da die Blutgefäße teilweise durch-

scheinen, stellt er sich so auch die Nervenbahnen vor. Das Gehirn enthält bei ihm, wie bei

zahlreichen der anderen Interviewten, Hohlräume, in denen sich die Gedanken befinden und

Ideen produziert werden.

3.4.3 Komplex 3: Organ Gehirn

Welches Wissen besitzen die Schülerinnen und Schüler über das Organ Gehirn?

Welche Quellen geben sie für ihr Wissen an?

Die Lage des Gehirns im Körper geben alle Kinder korrekt mit „im Kopf“ an. Dies bestätigt

auch die Studie von Johnson und Wellman, bei der ebenfalls alle Kinder die Lage des Ge-

69 Diesen Vergleich verwendet auch Jana in ihrem Interview.

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hirns richtig angeben konnten. Bei der Frage nach Form und Größe des Gehirns dominieren

realitätsnahe Vorstellungen, wie in Abbildung 11 dargestellt ist.

realitätsnah

Keine Vorstellung

deutlich kleiner

deutlich abweichendvon Realität

abhängig von Übung

abhängig vonKörpergröße

Abbildung 11: Angaben zu Form und Größe des Gehirns

Häufig wird das Gehirn auch deutlich kleiner beschrieben, wie zum Beispiel von Denise:

I: Was für eine Form könnte es haben?

Denise: So eine Walnussform oder so was. Aber es ist glaube ich kleiner, weil bei den Dinosauriern

ist es ja schon irgendwie bei manchen. Aber vielleicht auch wie so eine Apfelgröße, ich weiß es nicht

genau.

I: Also meinst du, dass es bei den Menschen größer oder kleiner ist als bei den Dinosauriern?

Denise: Einerseits größer, aber einerseits auch kleiner, denke ich. Weil die Dinosaurier sind ja so

groß, aber dann habe ich irgendwo auch schon gehört, dass auch irgendwie die Gehirne so klein wa-

ren. Und dann habe ich irgendwas schon einmal gehört, ich weiß aber nicht mehr, das bringt mich auf

irgend so einen Gedanken. Aber ich weiß nicht, was ich da gehört habe so richtig.

I: Was denkst du, wie groß ist es?

Denise: Bisschen größer als eine Walnuss.

Auch die Abhängigkeit der Gehirngröße von Übung und Körpergröße wird genannt, ebenso

wie ganz individuelle Vorstellungen.

I: Ich möchte jetzt von dir alles wissen, was dir zum Thema „Gehirn“ einfällt.

Alexandra: Das Gehirn ist eigentlich viel größer als der Mensch, aber ganz klein zusammengeklappt

oder wie man es nennen will. Und ähm, da sind so verschiedene Zellen drin.

I: Was denn für Zellen?

Alexandra: Mit denen kann man, glaube ich, denken.

I: Wie geht das?

Alexandra: Ähm, da gibt es verschiedene. Da ist glaube ich eine Zelle für das, was man schmeckt,

eine für das Hören, eine für das Sehen, eine für das Fühlen und eine für das Riechen.

I: Und fällt dir noch was ein?

Alexandra: Nein.

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I: Wo ist das denn überhaupt, das Gehirn?

Alexandra: So, das fängt hier an der Stirn an und geht hier über die Ohren zum Hinterkopf. So ir-

gendwie glaube ich.

I: Was für eine Form hat es?

Alexandra: Ich glaube, so ähnlich wie hier rund und dann da so wie gerade, aber nicht ganz, weil das

ist ja alles wie so zusammengekrumpelt und das ist ja nie ganz gerade.

I: Wie groß ist es?

Alexandra: Aufgeklappt oder zusammen?

I: Beides.

Alexandra: Zusammen ungefähr so, denke ich mal (Zeigt mit Händen annähernde Gehirngröße). Und

aufgeklappt, weiß ich nicht, weil ich habe noch nie ein aufgeklapptes Gehirn gesehen.

Auch bei Aussehen und Farbe des Gehirns zeigt Abbildung 12 die Vielfalt der

Schülervorstellungen. Die Farbnennungen begründen die Schülerinnen und Schüler auf

Nachfrage meinerseits bei der Antwortkategorie „rot“ mit dem Blut. Die weißen Anteile des

Gehirns führen die beiden Kinder, die weiß nennen, auf die Knochen zurück und die „Haut-

farbe“ des Gehirns wird auf ebendiese zurückgeführt.

hautfarben/rosa11

durchsichtig, beiRauchern schwarz

1weiß oder rot

2blau und rot

2

rot4

Abbildung 12: Angaben zu Aussehen und Farbe des Gehirns

Zunächst überraschend ist die Antwortkategorie „blau und rot“, die die Schüler mit Ab-

bildungen in Büchern begründen:

I: Wie stellst du dir das vor? Wie sieht es da aus?

Linda: Ich denke so Schläuche, so wie Kabel denke ich das. …So, manchmal so blaue Flüssigkeit, so

rote. Also ich habe auch so ein Buch mit so einem, wo so ein Mensch ist und dann klappe ich das auf

und dann sieht man die ganzen Kabel da. Die sind rot und so blau und dann ist das Herz dort, habe ich

gesehen.

Ähnlich wie Miro aufgrund einer Informationssendung „eingezeichnete Linien“ in unserem

Körper vermutet (vgl. S.52), interpretiert Linda die Venen und Arterien als rote und blaue

Kabel. Dabei bezieht sie sich auf ein Sachbuch, in dem der Blutkreislauf in roter und blauer

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Farbe dargestellt ist. Diese Schüleräußerungen zeigen, dass die vermeintlich vereinfachte,

leichter zu durchschauende Darstellung von Arterien und Venen in rot und blau in Sach-

büchern für Kinder oder in Schulbüchern zu Fehlvorstellungen führen kann. Eine kind-

gerechte Erklärung ist bei einer solchen schematischen Darstellung stets notwendig.

Jana gibt an, dass das Gehirn normalerweise durchsichtig ist und sich bei Rauchern schwarz

färbt. Vermutlich hat Jana schon gehört, dass Rauchen der Gesundheit schadet und der beim

Rauchen inhalierte Teer schwarze Ablagerungen auf der Lunge hinterlässt. Diese ange-

botene Information hat sie zu einem für sie schlüssigen Konzept verarbeitet.

Auch bei der Frage, aus was das Gehirn besteht, sind die Antworten äußert heterogen (siehe

Abbildung 13).

Fleisch undSchläuche

Fleisch

Blut und Haut

Fleisch und Knochen

Knochen undNerven

Blasen/Knollen

Blut und Rohre

Blut und FleischFleisch, Knorpel undNerven

verschwommeneVorstellung/mehrere

Alternativen

Keine Vorstellung

Abbildung 13: Angaben zu den Bestandteilen des Gehirns

Die Antwort von Michaela zeigt sehr deutlich, dass die Antworten der Schülerinnen und

Schülern stets kontextgebunden interpretiert werden müssen.

I: Aus was besteht es?

Michaela: Oh Gott, aus was besteht das? Hm, aus was besteht das, oh Gott. Vielleicht … vielleicht ist

das so wie bei einer Kuh die Nachgeburt oder so was.

Michaelas Eltern führen einen landwirtschaftlichen Betrieb mit ungefähr hundert Kühen, so

dass der Vergleich des menschlichen Gehirns mit der Nachgeburt einer Kuh nicht mehr

ganz so erstaunt.

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Auf die Frage, woher die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen über das Gehirn haben, wird

nur zwei Mal die Schule genannt, während Bücher, Fernsehen und Eltern als Wissens-

quellen dominieren (vgl. Abbildung 14).

0

1

2

3

4

5

6

7

Eige

neV

orst

ellu

ngen

/ke

ine

Que

llean

gege

ben Bü

cher

Fern

sehe

n

Mut

ter/V

ater

Schu

le

Radi

o

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Abbildung 14: Angaben zu Wissensquellen (Mehrfachnennungen möglich)

Häufig geben Kinder auch an, zu ihren Kenntnissen ohne andere Wissensquellen gelangt zu

sein bzw. können keine Quellen für ihr Wissen nennen, wie die folgenden Beispiele bele-

gen:

Michaela: Also, ein bisschen kenne ich aus einem Buch und den Rest eigentlich, äh, woher weiß ich

den eigentlich, hm, äh, woher weiß ich das denn? …

Annabel: Ich habe es halt einfach so gesagt, wie ich es mir vorgestellt habe.

Sandra: Das denke ich so, das denke ich mir aus.

Diese Ergebnisse ähneln denen von Schletter. Ebenso wie die Oberstufenschülerinnen und

Oberstufenschüler geben die Grundschulkinder Wissen aus externen wie aus internen

Quellen an. Informationen aus der Schule spielen ebenfalls kaum eine Rolle.

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60

3.4.4 Komplex 4: Leistungsfähigkeit des Gehirns

Sehen Grundschulkinder die Leistungsfähigkeit des Gehirns als gegeben oder beeinflussbar

an?

Welche Faktoren schätzen sie als positiv bzw. negativ für die Leistungsfähigkeit des Gehirns

ein?

Dieser Komplex beschäftigt sich mit der Leistungsfähigkeit des Gehirns. Hierbei geht es um

einen Zusammenhang zwischen Größe und Leistungsfähigkeit, die Möglichkeiten, das Ge-

hirn zu trainieren, wann und wozu es benutzt wird sowie um Faktoren, die die Leistungsfä-

higkeit des Gehirns positiv wie negativ beeinflussen können.

Auf die Frage „Sind die Gehirne der Erwachsenen gleich groß oder unterschiedlich groß?“

geben alle befragten Kinder mit Ausnahme eines Schülers an, dass die Größe variiert (vgl.

Abbildung 15).Gleich groß, aberunterschiedlich

"voll"Größe variiert

Abbildung 15: Angaben zur Größe der Gehirne von Erwachsenen

Wie dem nächsten Diagramm zu entnehmen ist (Abbildung 16), hängt die Größe des Ge-

hirns für die Schülerinnen und Schüler zumeist von der Körper- bzw. Kopfgröße der jewei-

ligen Person ab.

Größe desMenschen/Kopfes

11

Keine Vorstellung3

Anzahl derDenkvorgänge

1

Wissen1

Anstrengung in derSchule

1

Vereerbung1

Abbildung 16: Antworten auf die Frage: Wovon ist die Gehirngröße abhängig?

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61

Die meisten Kinder, vierzehn Schülerinnen und Schüler, verneinen jedoch die Frage, ob

Menschen mit einem größeren Gehirn besser denken können als Menschen mit einem klei-

neren Gehirn:

Jana: Glaube ich nicht, weil wenn jetzt kleine, ein kleiner Mensch halt, zum Beispiel ein Kind, ganz

schlau ist, und es gibt ja auch Erwachsene, die wo halt nicht so schlau sind. Und dann kann es ja auch

sein, dass das Kind schlauer ist als der erwachsene Mensch. Und wenn der erwachsene Mensch aber

auch schlau ist, dann kann es aber auch sein, dass er halt schlauer ist als ein kleines Kind.

Birgit: Nein, nicht unbedingt. Also zum Beispiel können ja kleine Leute genauso gut denken wie

große.

Martin: Das glaube ich eigentlich nicht. Weil die Erwachsenen waren bestimmt schon mal im Ur-

laub, alleine mit ihren Eltern zum Beispiel und da haben sie Sachen gesehen, die zum Beispiel andere

Menschen noch nie gesehen haben und jeder Mensch weiß eigentlich beinahe gleich, also jeder

Mensch weiß eigentlich Sachen, die jemand nicht weiß.

Brenta: Ich glaub gar nichts. Ich glaube, das kommt einfach nur darauf an, wie man lernt und ob das

einem Spaß macht zu lernen und so. Ich glaube nicht, dass das was mit Gehirnen zu tun hat.

Vier Kinder sind der Auffassung, dass die Größe des Gehirns ausschlaggebend für die kog-

nitive Leistung der jeweiligen Person ist:

Tim: Die mit dem größeren können besser denken auf jeden Fall.

Jan: Ja, weil die können ja mehr speichern im Kopf dann.

Derrick: [...] Weil da sind die Bereiche halt ein bisschen größer, da könnte ja auch ein bisschen mehr

reinpassen – aber dann ist es doch, dass die vielleicht ein bisschen besser denken können wie Men-

schen mit einem kleineren Gehirn, glaube ich doch, dass die ein bisschen besser denken können.

Sergej: Also die Erwachsenen können nur mit einem größeren Gehirn besser denken.

Bei der Frage der Trainierbarkeit sind fast alle Kinder der Meinung, dass es möglich ist, sein

Gehirn zu trainieren (Abbildung 17). Dies entspricht auch den Ergebnissen von Stipek und

Gralinski. Jene konnten ebenfalls zeigen, dass die Kinder der Überzeugung sind, die per-

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sönliche Anstrengung wirke sich positiv auf die eigene Leistung und Intelligenz aus (vgl.

Kapitel 2.4.3).

Nein1

Keine Vorstellung1

Ja18

Abbildung 17: Antworten auf die Frage: Kannst du dein Gehirn trainieren?

Auf die Frage, wie sie ihr Gehirn trainieren, antworten die meisten der achtzehn Kinder, die

die vorherige Frage bejahten, mit Elementen aus dem Bereich schulischen Lernens (vgl.

Abbildung 18), wie zum Beispiel Kopfrechnen üben, Lernwörter schreiben, sich etwas

diktieren lassen:

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Schulisches Lernen

Lesen

Mitraten bei Fernsehshows

Sport

KonzentrationsübungenReisen

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

Abbildung 18: Antworten auf die Frage: Wie trainierst du dein Gehirn?

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63

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

Denke

n/nach

denk

en/m

erken

Motoris

che Aufg

aben

Steuern

von Körp

erfun

ktion

en

Schuli

sche Aufg

aben

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

.

Interessant sind die Antworten aus den Antwortkategorien Sport, Reisen und Mitraten bei

Quiz-Shows:

Markus: Mehr so wenn man rennt, und wenn man mit den Armen zum Beispiel Volleyball spielt, da

muss man ja nicht so arg rennen. Zwar auch, aber man braucht mehr Muskeln in den Händen, aber

das kann man ja auch in den Füßen haben und da muss auch das Gehirn irgendwie was tun.

Martin: Ich stelle mir das eher so vor, dass man wohin fährt, also zum Beispiel auf die Berge. Und da

sieht man ja was und das merkt man sich halt. Also wenn ich schon mal in China wäre, dann hätte ich

zum Beispiel gewusst, dass der schiefe Turm von Pisa, ähm, schräg gebaut ist oder ähm, dass es ein

Erdbeben gegeben hat oder dann weiß ich halt etwas, das andere vielleicht nicht gewusst haben und

dass man das halt im Kopf aufbewahren kann. Also dass das dann halt irgendwie in so einer Blase

steckt und die hebt das dann auf.

Derrick: Ja, das kann man, mit solchen IQ-Tests und so. Bei Wissensshows so, wer wird Millionär

und so, da gibt es ja auch solche Fragen, da kann man sein Gehirn trainieren von zuhause aus.

Ähnlich wie bei der Studie von Johnson/Wellman, bei der 89% der Kinder Denken als

Tätigkeit des Gehirns nennen, beschreiben neunzehn von zwanzig Kindern Denken, nach-

denken, sich etwas merken als Aufgabe des Gehirns (vgl. Abbildung 19).

Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler

erwähnt bei der Frage Wozu brauchen

wir unser Gehirn? motorische Aufgaben.

Das Steuern von Körperfunktionen zählt

ein Viertel zu den Gehirntätigkeiten. In

dieser Kategorie sind Äußerungen wie

Blut verarbeiten, zum Leben, zum Steu-

ern, zum Fühlen nach einem Bienenstich

zusammengefasst.

Auch bei dieser Aufgabe zeigt sich in der

expliziten Nennung von schulischen

Aufgaben die große Bedeutung der

Schule für die Kinder. Ähnlich wie in der

Studie von Johnson/Wellman werden

affektive Komponenten nicht erwähnt.

Abbildung 19: Antworten auf die Frage: Wozu brauchen wir unser Gehirn? (Mehrfachnennungen möglich)

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Die Frage Macht dein Gehirn auch mal Pause? verneinen sieben Kinder wie zum Beispiel

Denise:

I: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Denise: Nein, auch nicht im Schlaf, weil da träume ich ja und da macht mein Gehirn, da gibt es mir

den Traum halt, sonst könnte ich das ja auch nicht.

Die anderen dreizehn Schülerinnen und Schüler bejahen diese Frage (vgl. Abbildung 20).

Ein Kind vertritt die Meinung, sein Gehirn arbeite beim Fernsehen nicht, ein weiteres Kind

ist der Auffassung, dass sein Gehirn beim Faulenzen und beim Schlafen nicht aktiv sei. Die

anderen elf Schülerinnen und Schüler antworten ähnlich wie Jan:

I: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Jan: Ja, wenn ich schlafe. Da muss man ja nichts machen. Da denkt man ja nicht und da hat das

Pause.

Ja, beimFaulenzen/Schlafen

Ja, beim TV schauen

Ja, im Schlaf

Nein.

Abbildung 20: Antworten auf die Frage: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Wie das nachfolgende Beispiel zeigt, beschäftigen sich viele Schülerinnen und Schüler das

erste Mal mit einer solchen Frage. Ihre Erklärungen sind deshalb häufig Ad-hoc-Konstruk-

tionen:

I: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Markus: Ja, wenn ich schlafe, denke ich. Nein! Das denke ich ni- Nein, also glaube ich nicht, weil

man träumt ja auch was nachts, das träumt ja jeder. Bloß manchmal weiß man es nicht und manch-

mal, ja, das denke ich jetzt doch nicht.

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Auf die Frage, wovon es abhängt, ob ein Gehirn gut arbeiten kann, sind die Antworten recht

vielfältig (vgl. Abbildung 21).

0

1

2

3

4

5

6

7

8

Fleiß/

Übung

Schu

lisch

esLern

en

Gesund

e Leben

sweis

e

Konze

ntrati

onsüb

unge

n

Moti

vatio

n/Inte

resse

Sozial

klima,

kein

Streit

Anz

ahld

erSc

hüle

rant

wor

ten

.

Abbildung 21:Antworten auf die Frage: "Wovon hängt es ab, ob ein Gehirn gut arbeitet?" (Mehrfachnennungen möglich)

Die folgenden Schülerantworten stehen beispielhaft für einzelne Kategorien:

Kategorie Fleiß/Übung

I: Wovon hängt es denn ab, ob ein Gehirn gut arbeitet?

Paul: Wenn man halt nicht so viel übt, dann arbeitet es halt nicht so gut.

I: Woran könnte das liegen?

Paul: Weil Menschen sind fleißig und sind halt nicht fleißig und die, wo halt nicht fleißig sind, die

wissen das halt nicht.

I: Kannst du Sachen machen, dass dein Gehirn gut arbeiten kann?

Paul: Ja, ich kann viel üben, ich kann alles mir merken, wenn ich halt viel übe an einer Sache.

Manuel: Hm, kommt darauf an, ob ich es oft mache oder nicht so.

Kategorie Gesunde Lebensweise

Markus: Wovon das abhängt? Also, ich finde, es hängt da davon ab, wenn man sportlich ist und so

und halt, ja und nicht so viel raucht und so und soviel Alkohol trinkt. Das finde ich, das würde ich für

das Gehirn nicht so gut finden. Aber wenn man dann halt bloß so Sprudel oder so Saft oder so trinkt

und viel Sport macht, das fände ich dann eigentlich, ist gut für das Gehirn.

Derrick: Ob man jetzt ein gesunder Mensch ist, ob man raucht, Drogen nimmt, alkoholsüchtig ist

oder so. Wenn man halt ein gesunder Mensch ist, kann es besser arbeiten, wenn man von irgendetwas

abhängig ist nicht immer gut. Weil wenn man ein bisschen betrunken ist, da wird das Gehirn so be-

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nebelt und so halbwegs außer Kraft gesetzt. Deswegen torkelt man ja auch manchmal so rum, wenn

man betrunken ist.

Kategorie Motivation/Interesse

Brenta: Oh Gott, hm, das wird schwierig. Wenn mich was wirklich interessiert, dann merke ich es

mir auch, das ist irgendwie automatisch so. Wenn mich jetzt nur was, wenn es mir jetzt am Kopf vor-

bei geht, was jetzt zum Beispiel, wenn was andere im Fernsehen geguckt haben, ist mir eigentlich

egal. Und das merke ich mir dann auch nicht.

Kategorie Sozialklima, kein Streit

Jan: Äh, ob man, wenn man halt jetzt mehr halt so sich oft schlägert, dann arbeitet es nicht so gut,

weil dann denkt man immer nur so an Rache und so was und an böse Sachen. Aber wenn man jetzt

ganz friedlich ist und mehreren hilft, dann ist das Gehirn halt besser. Dann macht es halt nicht, dann

kann das halt besser lernen. Weil sonst kann man sich ja nicht konzentrieren.

Kategorie Schulisches Lernen

Marc: Ob man viel rechnet und schreibt und lernt.

Birgit: Wenn man es regelmäßig trainiert, dann arbeitet es gut, aber wenn man zum Beispiel so wie

alte Leute, die zum Beispiel jetzt nicht mehr in die Schule gehen oder wenn nichts mehr, nur noch im

Bett liegen, die können ja ihr Gehirn nicht mehr trainieren, also können sie auch nicht mehr so viel

wissen.

Die letzten Beispiele von Marc und Birgit zeigen, dass manche Antworten nicht nur einer

Kategorie zugeordnet werden können. Bei beiden klingt das Lernen in und für die Schule

ebenso an wie der Wert von Übung und Fleiß.

Beim Nachfragen nach konkreten Dingen („Was denkst du, hilft viel Schlaf/ Gemü-

se/Ferien/nette Lehrer/Sport/mehr Unterricht/Traubenzucker/Medikamente/strenge Lehrer

dem Gehirn?“) zeigt sich eine große Vielfalt im Antwortspektrum der Schülerinnen und

Schüler, wie Abbildung 22 zeigt:

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Hilft dem Gehirn...?

1512 12 11 10 9 8 7 6

4

3

7 8

5 77 8 10

2

5

1 1

5 4 5 5 4

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

VielSchl

af

Gemüse

Ferien

Nette Lehr

erSpo

rt

MehrUnte

rrich

t

Traube

nzuc

ker

Medika

mente

Streng

e Lehrer

unsicherneinja

Abbildung 22: Antworten auf die Fragen: Hilft dem Gehirn ...? (Zahlenwerte entsprechen der Anzahl der Antworten.)

Die Begründungen für ihre Antworten sind bei den Schülerinnen und Schülern so individu-

ell, dass eine Kategorisierung nicht sinnvoll erscheint, sondern anstelle dieser exemplarisch

einige Beispiele angeführt werden:

Antworten auf die Frage: „Helfen nette Lehrer?“

Brenta: Ja, dann lernt man auch besser. Wenn es ein netter Lehrer ist, dann glaube ich, dann lernt

man besser, weil es einem dann mehr Spaß macht zu lernen.

Lilli-May: Ja, weil die einem auch erklären, wie das geht. Und halt, die anderen Lehrer die schreien

halt immer so und ja.

I: Kannst du das noch ein bisschen besser erklären?

Lilli-May: Oh, das ist schwer. Ja, also die netten Lehrer, die schreien auch nicht so viel, wenn die

Kinder gehorchen und dann ist auch ein bisschen Ruhe in der Klasse und die Kinder machen dann

das, was die Lehrer sagen. Und das ist halt ein bisschen gut, wenn die Lehrer nicht immer so viel

schreien, weil dann kriegt man auch meistens Ohrenweh.

Denise: Eigentlich schon mehr als so strenge da. Weil die sind, es können ja auch gute, nette Lehrer

sein und da, da sagt man zum Beispiel so, ja, lobt einen halt ganz oft. „Ach, das hast du ja schon toll

gemacht!“, und dann macht das viel mehr Freude weiterzumachen als wenn man sagt „Das musst du

aber noch besser machen!", so und dann hat man viel mehr Freude da dran an der Arbeit und macht

das viel gerner irgendwie.

Alexandra: Auch nicht, weil wenn man immer nur Quatsch macht und der Lehrer ist zu nett –

manchmal bisschen streng ist schon gut. Weil wenn man dann alles macht was man will oder jeder

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macht, was er will bei einem ganz netten Lehrer, der sagt „Ja, macht, was ihr wollt!", so, dann wäre es

ja ein Chaos.

Antworten auf die Frage: „Helfen strenge Lehrer?“

Manuel: Ja, ja, schon. Weil wenn das jetzt keine strengen Lehrer sind, dann ist das halt alles so „Na

ja, mach halt deine Hausaufgaben nicht" oder „Hast sie halt vergessen, musst sie nicht nachmachen."

Markus: Nein, das glaube ich dann auch nicht, weil dann kriegt man vielleicht dann manchmal Angst

und dann ist das Gehirn vielleicht ganz aufgeregt und denkt, ja, hm, nein, das denke ich nicht.

Denise: Hm, da wird man eher traurig, wenn die dann immer schimpfen. Bei der Frau A, da wird man

eher viel trauriger, und dann konzentriert man sich nicht mehr so richtig da drauf. Also sie können

streng und lieb sein, das gibt es. Das ist eine gute Lehrerin, die Frau B da unten, aber sie können auch

so schimpfen wegen jedem kleinen Murks und dann wird man ganz arg ängstlich und hat Angst vor

der und dann wird man ganz arg traurig und man konzentriert sich nicht mehr. Und dann kann man es

auch nicht mehr so richtig.

Antwort auf die Frage: „Hilft Gemüse?“

Miro: Ich glaube, irgendjemand sagt immer, wenn man Karotten ist, das ist gut für die Augen oder

für das Gehirn.

Antwort auf die Frage: „Hilft Traubenzucker?“

Manuel: J.., ein bisschen. Der gibt einem Kraft und ein bisschen Nährstoffe für das Gehirn.

Jana: Traubenzucker? Hm, weiß ich nicht. Ja, glaube ich schon, wenn es die Apotheke jemandem

gibt, dann glaube ich es eher schon.

Antwort auf die Frage: „Helfen ´Medikamente?“

Markus: … Das sind dann vielleicht auch irgendwie so Körper, die wie aus dem Ausland kommen

und denen dann helfen.

I: Kannst du das noch mal genauer beschreiben?

Markus: Also das denke ich halt, in denen Tabletten sind auch wie so kleine Blutkörperchen drin, wo

dann auch ins, also wenn man es schluckt, geht das dann halt – weiß auch nicht, wie das ins Gehirn

hochkommt, aber das hilft halt – und dass die dann hoch ins Gehirn gehen und den anderen helfen,

das zu verarbeiten, was sie wenn sie es nicht mehr schaffen. So denke ich auch wenn man Kopfweh

hat, dass es dann das Gehirn, dass es dann zu viel in sich drin hat und dass es dann andere braucht

zum Helfen.

Alexandra: Also, es gibt so Krankheiten, die dem Gehirn schaden, so Alzheimer und so was. Da gibt

es auch Medikamente dagegen, die entweder das bisschen mindern oder verhindern, dass es noch

schlimmer wird. Und Alzheimer greift ja das Gehirn arg an und deswegen, wenn man da Medi-

kamente dagegen nimmt, ist das schon gut.

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Antwort auf die Frage: „Hilft viel Schlaf?“

Miro: Hm, da, meine Mutter sagt ja immer, viel Schlaf brauchst du, aber in der Nacht verarbeitet das

Gehirn ja glaub was man am Tag erlebt hat und da ist die Nacht glaube ich besser, wenn man mehr

schläft, weil da kann das Gehirn auch mehr verarbeiten.

3.4.5 Komplex 5: Gedächtnis

Wie erklären sich Schülerinnen und Schüler Gedächtnisleistungen bzw. –schwächen?

Welche eigenen Lernstrategien/-hilfen nennen sie?

Der Übersicht in Abbildung 23 ist zu entnehmen, welche Bildkarten sich die einzelnen

Schüler und Schülerinnen über die gesamte Interviewzeit von ungefähr dreißig Minuten

hinweg merken konnten:

Bild erin-nert?

Tim X X X --- --- XPaul X X X --- --- XManuel X X X X X ---Lilli-May X X --- X X XSandra X X X --- X XMiro X X X X X XBrenta X X X X --- XMarkus X X X X X XBirgit X X X --- --- XMarc X X X --- X XMartin X X X --- --- XDenise --- X X X X XJan X X X --- --- ---Derrick X X --- X --- XJana X X X --- X XSergej X X X --- X ---Alexandra X X X --- X XMichaela X X X X X XFelix --- X X --- X ---Annabel X X X X --- ---Summe 18 20 18 9 12 15

Abbildung 23: Erinnerte Bildkarten (X = erinnert, --- = nicht erinnert)

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Die Bildkarten wurden nicht in einer gleich bleibenden Reihenfolge gezeigt, sondern stets

vorher gemischt. Bei der Durchsicht der Tabelle in Abbildung 23 fällt auf, dass sich alle

Kinder an die Ponys mit Reitern erinnern können. Mit Ausnahme von jeweils einem Mäd-

chen und einem Jungen können sich am Ende der Untersuchung die Schülerinnen und

Schüler an den Fußballspieler sowie an den Formel-1-Wagen erinnern. Die wenigsten Kin-

der, nur neun, können sich das leere Klassenzimmer merken, auch an den Schlüssel erinnern

sich nur zwölf Kinder.

Während sich zwei Kinder nur drei Bildkarten merken können, sind drei Kinder in der Lage,

sich an alle sechs Bildkarten zu erinnern. Die meisten Schülerinnern und Schüler können

sich vier oder fünf Bildkarten merken (vgl. Abbildung 24).

0

1

2

3

4

5

6

7

8

1 2 3 4 5 6Anzahl der erinnerten Bildkarten

Anz

ahld

erSc

hüle

r

Abbildung 24: Anzahl der erinnerten Bildkarten je Kind

Im Zusammenhang mit der Auflistung der erinnerten bzw. nicht erinnerten Bildkarten ste-

hen die jeweiligen Erklärungen der Schülerinnen und Schüler für ihre Gedächtnisleistungen

bzw. –schwächen. Die Schülerinnen und Schüler geben sowohl Begründungen für erinnerte

als auch für nicht erinnerte Bildkarten an. Häufig begründen sie ihre Gedächtnisleistungen

mit Wahrnehmungsaspekten, wie sie bereits in Kapitel 2.2 angesprochen wurden.

Beispiele für Erklärungen erinnerter Bildkarten:

Tim: Also das Fußballbild und das Ferraribild kann ich mir gut merken, wegen weil ich auch Fußball

spiele und ich ein bisschen Ferrari-Fan bin. Und das Pony, das habe ich mir wahrscheinlich lange an-

geguckt, ein bisschen länger, meine ich.

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I: Jetzt haben wir ja so lange was anderes gemacht, wie erklärst du dir das, dass du das noch weißt?

Markus: Also, wo wir vorher geredet haben, habe ich es nicht mehr gewusst, aber irgendwie denke

ich, das hat es jetzt eingespeichert und wenn Sie mich dann wieder fragen, dann kommt das irgendwie

wieder raus.

I: Kannst du das noch ein bisschen genauer erklären „das hat es eingespeichert und jetzt kommt es

wieder raus"?

Markus: Ja, das hat es vielleicht auch wie so ganz viele Bücher haben sie da vielleicht, und dann ha-

ben sie es da so reingeschrieben und ja, und dann denke ich, ist auch wie so Post so ähnlich, wo die

dann da rein geschrieben haben. Und dann, wenn es mir dann wieder einfallen muss, tut die Blutkör-

perchen dann vielleicht die Seite rausreißen und schicken es anderen und die tun es dann wieder in

mein Gehirn in die oberste Schicht und dann weiß ich es dann auf einmal wieder.

I: Wie erklärst du dir das, dass du das noch weißt?

Martin: Ich glaube, das irgendwie die Blasen, das was ich gesagt habe, hebt das auf. Irgendwie ja, in

den Blasen ist so ein Wort drinnen und das hebt das halt auf.

I: Wie erklärst du dir das, dass du das noch weißt? Jetzt haben wir ja so lange etwas anderes gemacht!

Felix: Also Ferrari und Schlüssel – für einen Ferrari braucht man einen Schlüssel und auf dem Ferrari

ist ein Pferd drauf.

I: Aha, und wieso hast du dir den Ferrari gemerkt?

Felix: So halt.

I: Wie erklärst du dir das, dass du das noch weißt, obwohl wir jetzt so lange was ganz anderes ge-

macht haben?

Annabel: Vielleicht sehe ich die Sachen öfter, dass ich sie dann noch weiß.

Paul: Manche Sachen, die kenne ich halt schon, gucke sie auch oft im Fernsehen an und dann kann

ich mir das besser merken.

I: Kannst du da ein Beispiel dafür sagen?

Paul: Zum Beispiel den Kopfball von dem Fußballspieler. Manchmal gucke ich auch ein Rennen an,

Formel Eins und den Hund, ich habe auch schon viele Hunde gesehen und meine Oma besitzt selber

einen, ja.

Beispiele für Erklärungen nicht erinnerter Bildkarten:

Lilli-May: Weil, also, das habe ich angeguckt und dann habe ich es halt auch in so eine Kiste getan

und halt mir gemerkt. Und die anderen Sachen, wo ich nicht mehr weiß, die konnte ich mir halt nicht

mehr merken, weil es auch viele Blätter waren.

I: Und was ist dann mit denen passiert?

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Lilli-May: Die sind dann verschwunden.

I: Wo verschwunden? Aus der Kiste?

Lilli-May: Ja, die sind halt aus der Kiste raus und dann sind sie halt weg gewesen.

I: Du hast jetzt bei dem Bild mit den Tischen und den Stühlen länger gebraucht. Wie erklärst du dir

denn das?

Lilli-May: Weil ich, mh, das weiß ich nicht.

I: Ein Bild hast du jetzt nicht mehr gesagt. Ich zeige es dir. Kommt es dir jetzt bekannt vor?

Lilli-May: Ja.

I: Dann war es ja doch nicht weg, oder?

Lilli-May: Mh, nein, aber das ist halt aus der Kiste raus und das ist dann halt im Gehirn halt gewesen

und halt gerade verschwunden und wenn es jemand mir gerade zeigt, dann, aha, dann ist es wieder in

der Kiste drin.

Brenta: Ja. Das andere habe ich, ich habe alles schon mal gesehen, sagen wir es mal jetzt so. Aber

der Schlüsselbund ist irgendwie langweilig. Da sieht man ja nur Schlüssel und bei den anderen, da

sieht man mehr, das ist interessanter irgendwie.

Marc: Vielleicht habe ich mir das zu kurz angeguckt.

Derrick: Ja, ich bin ja nicht unbedingt Fan vom Schumi, deswegen habe ich ihn mir ja auch nicht so

gut eingeprägt.

I: Ein Bild hast du jetzt nicht mehr gesagt. Findest du es?

Alexandra: Das da. Das mit dem Klassenraum, das habe ich nicht mehr gewusst.

I: Aber jetzt kommt es dir bekannt vor?

Alexandra: Ja, weil jetzt fällt es mir wieder ein, dass ich das vorher schon gesehen habe.

I: Wie stellst du dir denn das vor?

Alexandra: Man kann sich nicht an alles erinnern. Und mit denen Zellen, die speichern, habe ich mir

das auch so vorgestellt, dass manchmal geht das gar nicht richtig rein und dann kann es auch nicht

mehr raus, wenn man es wieder braucht. Und deswegen kann man sich nicht mehr erinnern.

I: Ein Bild hast du jetzt nicht mehr gesagt. Ich zeige es dir mal.

Manuel: Ich hab den, da war noch ein Bild mit einem Hund drauf, das habe ich nicht mehr gesagt.

I: Und wieso nicht?

Manuel: Weil das Langzeitgedächtnis oder weil ich mich für Hunde wahrscheinlich nicht so interes-

siere oder ich interessiere mich jetzt für Fußball und deswegen habe ich mir das gemerkt oder Mi-

chael Schuhmacher habe ich mir gemerkt oder so Sachen halt, für die wo man sich interessiert.

I: Und den Hund hast du dir nicht gemerkt?

Manuel: Nein, weil ich bin kein so Tiere-Fan oder nicht so Hunde-Fan.

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I: Wie erklärst du dir das, dass du das nicht mehr weißt, du hast doch alles angeschaut?

Birgit: Ja, weil im Klassenzimmer war so viel drin und im Schlüssel war so wenig. Und aber bei dem

da hat es mehr Farbe gehabt (Fußballer), und bei dem, das ist mein Lieblingstier (Hund), und bei den

Pferden wusste ich gleich, das habe ich mir ganz gut merken können und bei dem Rennauto, da habe

ich an den Michael Schuhmacher gedacht.

I: Wie erklärst du dir das, dass du die Bilder noch weißt, obwohl wir jetzt so lange etwas anderes ge-

macht haben?

Denise: Ich habe mir das gemerkt, das hat mein Gehirn gemacht und zum Beispiel ich kann mir so

was merken halt.

I: Wie machst du denn das, merken?

Denise: Mit meinem Gehirn.

I: Und wie genau?

Denise: Durch die rosanen Röhren. Denn da habe ich es dann auch wieder gesehen, in den Augen,

dann geht es hier irgendwie durch das Ohr so hier hoch und dann habe ich es gedacht und dann geht

es hier irgendwie so, oder nein, dann wird das in dieser Wasserstelle, die ich mir da gedacht habe,

aufgehoben.

I: Und dann wird es in dieser Wasserstelle…?

Denise: Also, dann bleibt das da als Wort. So als ganz viele Worte, die da rumschwimmen und dann

klaube ich die mir da immer einzeln raus oder so.

I: Ein Bild hast du jetzt nicht mehr gesagt.

Denise: Dieser Kopfballer da (zeigt auf Foto), den habe ich vergessen.

I: Wie erklärst du dir denn das „vergessen"?

Denise: Den habe ich mir halt nicht mehr aus dem Teil da, aus diesem Wasserbecken rausgefischt.

I: Aber drin war er? Oder war er gar nicht drin?

Denise: Doch, der war auch drin. Aber nur ganz kurz oder er war drin, aber auch nicht. Oder ich

wusste das Wort nicht mehr, aber das glaube ich jetzt nicht. Keine Ahnung.

Da zwei der zwanzig Interviews zu diesem Zeitpunkt schon sehr lang dauern, frage ich nur

die anderen achtzehn Schüler und Schülerinnen, ob sie Tipps haben, wie man gut lernen

kann. Ein Drittel der Schüler und Schülerinnen verneint diese Frage, zwei Drittel der Kinder

bejaht sie. Dabei wird von fünf Kindern die Bedeutung des Übens betont, wie das Beispiel

von Denise verdeutlicht:

I: Hast du Tipps, wie man gut lernen kann?

Denise: Mh, üben vielleicht. Ich kann jetzt nicht so gut abschreiben und dann habe ich das in den Fe-

rien geübt und jetzt ist meine Schrift viel schöner, jetzt kann ich viel besser abschreiben, ohne weni-

ger Fehler halt.

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Auch die anderen, jeweils von einzelnen Schülerinnen oder Schülern angeführten Tipps

zielen alle in eine schulisch auf die Hauptfächer Mathematik und Deutsch ausgerichtete

Richtung. Beispiele dafür sind Bücher lesen, mittags und nicht erst am Abend lernen,

Rechtschreibtraining machen, viele Wörter schreiben oder auch zusätzliche Übungen für die

Schule machen. Die einzige Ausnahme bildet die „Freude am Lernen“, die von zwei Kin-

dern als Tipp angeführt wird.

I: Hast du Tipps, wie man gut lernen kann?

Brenta: Es soll einem Spaß machen das Lernen, weil sonst kann man es eigentlich vergessen. Wenn

man es nur macht, dass man weiterkommt, dann bringt es eigentlich nicht so viel. Es soll einem Spaß

machen.

I: Hast du Tipps, wie man gut lernen kann?

Jan: Ja, wenn man keinen Bock zum Lernen hat, das bringt nichts. Weil nur, wenn man halt so sagt,

„Nein, ich habe jetzt echt keinen Bock zu lernen" und man muss dann trotzdem lernen. Aber wenn

man jetzt sagt „Okay, dann lerne ich halt.", dann bringt es mehr. […]

Brenta und Jan betonen die affektive Komponente beim Lernen. Dominant sind jedoch, und

dies deckt sich mit der Studie von Schletter, reproduktive Strategien. Auch auf die Frage

„Wie kannst du dir Sachen am besten merken?“ werden reproduktive Strategien am häu-

figsten genannt: Häufiges Wiederholen (sieben Nennungen), aufschreiben (zwei Nennun-

gen), lange anschauen, vorsagen und anschauen oder kurz vor dem Einschlafen vorsagen

(jeweils eine Nennung).

Allerdings ist bei allen Interviews bereits vor den letzten beiden Fragen eine Dauer von

dreißig Minuten überschritten, so dass die sehr kurz ausfallenden Antworten auch auf die

nachlassende Konzentrationsfähigkeit und Motivation der Schülerinnen und Schüler zu-

rückzuführen sind. Die Antworten auf die beiden letzten Fragen sind somit nur begrenzt

interpretierbar.

Obwohl Lähmungen nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind, äußern zwei Kinder an

verschiedenen Stellen des Interviews ihre Vorstellungen zum Zustandekommen von Läh-

mungen.

I: Wozu brauchen wir unser Gehirn?

Brenta: Zum Denken, ja, weil ich glaube, ohne Gehirn, da könnten wir nicht richtig leben. Da könn-

ten wir uns ja eigentlich nicht mehr bewegen. Und es gibt ja auch welche, die gelähmt sind, und bei

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denen sind dann wahrscheinlich ein paar Gehirnzellen ausgestorben. Das habe ich mir jetzt mal so

gedacht, weil es irgendwie logisch ist.

I: Du hast vorher gesagt „so Schläuche, die von den Armen zum Gehirn gehen“. Gibt es von den

Schläuchen, die zum Gehirn gehen oder vom Gehirn kommen, gibt es davon mehrere?

Markus: Ja, wahrscheinlich auch wohl. Also ich denke jetzt so schon ein paar. Weil in die Füße müs-

sen ja auch welche reinkommen, dass man sie bewegen kann. Und wenn man zum Beispiel gelähmt

ist oder so, schafft das halt das Gehirn vielleicht nicht mehr oder so. Oder es ist halt ein Knochen oder

so schräg.

I: Wie stellst du dir das vor, wenn jemand gelähmt ist?

Markus: Dass das halt, weil so hat man ja Knochen, wo dann sich bewegt und dann denke ich halt,

dass man wie so eine ganz schlimme Krankheit hat. Weil das ist ja so zusammen und das ist ja

irgendwie dahinten bei der, da wo man es so bewegt, wie so ein Stein drin ist, dass man es nicht mehr

bewegen kann oder wie so eine Sperre.

[…]

Markus: Kann ich noch was zum Gelähmt-Sein sagen?

I: Ja, natürlich.

Markus: Ja, dann ist vielleicht auch irgendwie ein kleines Stückchen vom Gehirn irgendwie kaputt,

dass es dann nicht mehr zum Fuß geht.

I: Also du denkst, wenn man den Fuß nicht mehr bewegen kann, kann das auch am Gehirn liegen?

Markus: Ja!

Sowohl Brenta als auch Markus führen Lähmungen auf Ausfälle im Gehirn zurückführen.

Aus den Interviewprotokollen geht außerdem hervor, dass sie ihre Vermutungen erst im

Verlauf den Interviews generieren. Da Lähmungen im Interview von meiner Seite nicht

thematisiert werden, zeigen diese Hypothesen, dass die Kinder bereits bei der Befragung mit

dem Interviewthema konstruktiv umgehen und es für sich weiterentwickeln.

3.5 Zusammenfassung der zentralen Untersuchungsergebnisse

und Schlussbemerkung

Zusammen mit den wichtigsten Untersuchungsergebnissen werden Möglichkeiten für die

Integration des Themas in den Grundschulunterricht aufgezeigt, die sich aus den Ergeb-

nissen der Untersuchung ergeben haben.

Die Aufgaben zur visuellen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung haben gezeigt,

dass die Schülerinnen und Schüler zahlreiche konstruktivistische Aspekte der Wahrneh-

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mung erkannt und benannt haben. Die visuelle Wahrnehmungsleistung ist bei geeigneten

Aufgabenstellungen für die meisten Schülerinnen und Schüler als individuell unterschied-

lich erfahrbar. Hier könnte der Grundschulunterricht anknüpfen, da sich über visuelle

Wahrnehmungsaufgaben, wie sie in dieser Untersuchung verwendet wurden, die konstruk-

tivistischen Aspekte unserer Wahrnehmung thematisieren lassen. Daran anschließend

könnten im Unterricht auch die Bedeutung, der Nutzen und die Grenzen von Konventionen

und Regeln thematisiert werden. Das Kulturgut Schrift würde sich hierbei zum Beispiel gut

eignen. Als Einstieg würde sich dafür eine Interpretationsaufgabe ähnlich der in der Unter-

suchung vorgestellten Aufgabe mit dem Kärtchen mit „ e " eignen.

Wie die Aufgabe mit den beiden Fühlkisten sowie die später gestellten Fragen zur Leis-

tungsfähigkeit des Gehirns gezeigt haben, sind sich die meisten Schülerinnen und Schüler

der Mitarbeit des Gehirns bei zahlreichen kognitiven Leistungen bewusst. Die Verwendung

des Stroop-Tests im Unterricht wäre eine sinnvolle didaktische Möglichkeit, den Schüle-

rinnen und Schülern die unbewusst im Gehirn ablaufenden Prozesse bewusst zu machen.

Weiterhin kann festgestellt werden, dass die meisten der befragten Schülerinnen und Schü-

ler die in Kapitel 2.1 aufgezeigten Schulbuchinformationen auch ohne Kenntnis dieser Bü-

cher bereits besitzen. Alle befragten Kinder haben bereits Abbildungen des Gehirns gese-

hen. Die Gehirndarstellungen werden allerdings vielfältig interpretiert. So erkennen die

Schülerinnen und Schüler beispielsweise Knollen, Rohre oder Blasen in der Großhirnrinde.

Auch die häufig verwendeten farblichen Unterscheidungen bei Darstellungen des mensch-

lichen Körpers bergen Gefahren. Die Untersuchung hat gezeigt, dass zahlreiche Schüle-

rinnen und Schüler nicht wissen, dass es sich bei der blauen und roten Darstellung von arte-

riellem und venösem Blut um eine festgelegte Konvention handelt, die nicht die tatsäch-

lichen Farben von Arterien und Venen wiederspiegelt. Gleiches gilt für die farbliche Unter-

scheidung, wie sie zum Teil auch in Kinderlexika für unterschiedliche Gehirnzentren vorge-

nommen wird. Diese farblichen Unterscheidungen, dies geht aus dieser Untersuchung her-

vor, sollten zumindest mit einer aufklärenden Information versehen werden, um Miss-

konzepten vorzubeugen.

Die Funktionsweise des Gehirns haben die befragten Schülerinnen und Schüler bisher ent-

weder nicht kennen gelernt oder nicht adäquat nachvollziehen können. Bei Fragen nach der

Funktionsweise wird das Gehirn entweder antropomorphisiert (z. B. bei der Vermutung,

dass im Gehirn Blutkörperchen arbeiten, die in Büchern nachschlagen können) oder tech-

nisiert (z. B. bei Vergleichen des Gehirns mit einem Computer oder einer Fernsteuerung).

Beim Annähern an ein sinnvolles Konzept vom Organ Gehirn scheint deshalb der in den

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beiden Schulbuchseiten eingeschlagene Weg als nicht unbedingt Erfolg versprechend. Sinn-

voller erscheint ein Vorgehen über Wahrnehmungsphänomene wie den Stroop-Test, opti-

sche Täuschungen oder ähnliches. Wenn es die Grundschule schafft, die dabei zu erken-

nende konstruktivistische Sichtweise der Schülerinnen und Schüler weiter zu fördern und

sie ihnen über Wahrnehmungsaufgaben bewusst zu machen, wäre dies ein wichtiger Bau-

stein im Grundschulleben. Dieser Baustein könnte beim Aufbau bzw. Erhalt eines positiven

Selbstkonzeptes helfen und bei der Förderung von Toleranz und Offenheit in fachlichen,

methodischen, sozialen und persönlichen Kompetenzfeldern der Kinder hilfreich bzw. sogar

notwendig sein. Allerdings müssen solche Wahrnehmungsaufgaben stets in Unterrichts-

gespräche eingebettet sein, um negative Auswirkungen für das kindliche Selbstkonzept zu

vermeiden. So haben auch im Rahmen dieser Untersuchung immer wieder einzelne Schüle-

rinnen und Schüler Unterschiede bei Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen auf per-

sönliche Defizite zurückgeführt. Diese Gefahr muss im Unterricht berücksichtigt werden, so

dass sich ein negatives Selbstkonzept nicht manifestieren kann.

Beim Untersuchungskomplex zum Gedächtnis haben die Schülerinnen und Schüler viele

Faktoren angegeben, die für die langfristige Speicherung von Informationen wichtig sind,

zum Beispiel Interesse, positive Emotionen oder regelmäßiges Wiederholen. Auch hier bie-

ten sich Möglichkeiten, diese Inhalte im Unterricht zu thematisieren und daraus Faktoren,

die auch beim Lernen wichtig sind, abzuleiten. Als Fazit sollte dabei stehen, dass Gedächt-

nisleistungen nicht festgelegt sind, sondern von jedem Einzelnen trainiert werden können

und müssen. Aber auch hier hat die Untersuchung gezeigt, dass die Möglichkeit, Gehirn und

Gedächtnis zu trainieren, von den meisten Kindern als gegeben angenommen wird.

Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter sind bereits mit vielen Informationen zum

Gehirn und seinen Leistungen in Berührung gekommen. Diese Informationen werden im

Sinne einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie von jedem Kind individuell weiterver-

arbeitet. Ziel muss nun sein, aufgrund der hier gesammelten Untersuchungsergebnisse die

Schülerinnen und Schüler beim Aufbau sinnvoller und angemessener Konzepte zum Gehirn

und seinen kognitiven Leistungen zu unterstützen. Denn das Wissen um kognitive Prozesse

kann den Schülerinnen und Schülern bei der Verbesserung und Anwendung individueller

Lernstrategien konkrete Hilfsmöglichkeit sein.

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5 Anhang

5.1 Interviewleitfaden

Komplex 1:Visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Frageblock I

Instruktion 1: Ich möchte dir jetzt einen ganz, ganz kurzen Ausschnitt aus einem Film zei-

gen. Du kannst den Ausschnitt insgesamt 3 Mal sehen, und jedes Mal hast du hinterher Zeit,

alles aufzuschreiben, was du gesehen hast.

Instruktion 2: Schreibe jetzt alles auf, was du gesehen hast.

Instruktion 3: Ein anderes Kind hat genau den gleichen Filmausschnitt angeschaut und

auch etwas aufgeschrieben (Vergleich mit einem anders ausgefüllten Beobachtungsbogen).

Frage 1: Fällt dir etwas auf? ODER Möchtest du dazu etwas sagen?

Frage 2: Wie erklärst du dir, dass ihr verschiedene Sachen aufgeschrieben habt?

Frageblock II

Frage 1: Was siehst du hier?/Was denkst du, was ist das? (Kärtchen mit „ e “)

Frage 2: Was siehst du hier?/Was denkst du, was ist das? (Kärtchen mit „ schule “)

Frage 3: Was denkst du, was ist das? (auf e in Schule zeigen)

Frage 4: Vorher hast du gesagt, dass das „ e " ein ... ist.

Frageblock III

Frage 1: Kannst du mir die Farben der Wörter (Wortfarbe entspricht Wortbedeu-

tung)sagen?

Frage 2: Kannst du mir die Farben der Wörter (Wortfarbe entspricht nicht Wortbedeutung)

sagen?

Frage 3: Ist dir etwas aufgefallen?

Frage 4: Wie erklärst du dir, dass du die Farben der Wörter einmal besser und einmal

schlechter sagen konntest?

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Komplex 2: Somatosensorische Wahrnehmung und Wahrneh-

mungsverarbeitungFrageblock

Instruktion 1: Du siehst hier zwei Fühlkisten. Du sollst mit deiner linken Hand in diese

Kiste greifen und fühlen, was sich darin verbirgt. Gleichzeitig sollst du mit deiner rechten

Hand in der anderen Fühlkiste den Gegenstand aufschreiben, den du gefühlt hast. …

Frage 1: Kannst du mir jetzt ganz genau, Schritt für Schritt erklären, wie du diese Aufgabe

gelöst hast?

Frage 2: Wenn du jemandem beschreiben solltest, was alles passiert ist, bis du das Wort

hingeschrieben hast, wie würdest du das machen?

Komplex 3: Organ Gehirn

Frageblock

Instruktion 1: Ich möchte jetzt von dir alles wissen, was du zum Gehirn weißt.

Frage 1: Wo ist das überhaupt, das Gehirn?

Frage 2: Was für eine Form hat es?

Frage 3: Wie groß ist es?

Frage 4: Wie sieht es aus?

Frage 5: Aus was besteht es?

Frage 6: Ist es ganz für sich oder gibt es Verbindungen zu anderen Bereichen?

Frage 7: Kannst du mir sagen, woher du all das weißt?

Komplex 4: Leistungsfähigkeit des Gehirns

Frageblock I

Frage 1: Was denkst du: Können Menschen mit einem größeren Gehirn besser denken als

Menschen mit einem kleineren Gehirn?

Frage 2: Was denkst du über dein Gehirn?

Frage 3: Könnte man an einem Gehirn erkennen, ob der Mensch, dem es gehört, besonders

schlau ist?

Frage 4: Könnte man es irgendwie anders erkennen, ob ein Mensch schlau ist?

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Frageblock II

Frage 1: Was denkst du: Können die Menschen ihr Gehirn trainieren?

Frage 2: Wie stellst du dir das vor?

Frage 3: Trainierst du dein Gehirn?

Frageblock III

Frage 1: Wozu brauchen wir unser Gehirn?

Frage 2: Was denkst du, wann benutzt du dein Gehirn? Wofür?

Frage 3: Macht dein Gehirn auch mal Pause?

Frage 4: Was denkst du, wie arbeitet dein Gehirn?

Frageblock IV

Frage 1: Wovon hängt es denn ab, ob ein Gehirn gut arbeitet?

Frage 2: Kann man das beeinflussen? Kannst du Sachen machen, dass dein Gehirn gut ar-

beiten kann?

Frage 3: Hilft dem Gehirn viel Schlaf/Gemüse/Traubenzucker/Sport/Medikamente/ Ferien/

viel mehr Unterricht/strenge Lehrer/nette Lehrer? (+ Nachfrage „Wieso denkst du das?“)

Komplex 5: Gedächtnis

Frageblock I

Instruktion 1: Bevor wir anfangen, möchte ich dir einige Bilder zeigen. Du kannst sie dir so

lange anschauen, wie du möchtest. Wenn du denkst, dass du dir merken kannst, was darauf

zu sehen ist, kannst du sie mir wieder geben. (Instruktion wird vor allen anderen Fragen des

Interviews gegeben.)…

Frage 1: Du hast dir am Anfang verschiedene Bilder angeschaut. Kannst du sagen, was

darauf zu sehen ist?

Frage 2: Wie viele fehlen dir noch?

Frage 3: Wie erklärst du dir das, dass du die Bilder noch aufzählen kannst?

Frage 4: Ein Bild/Zwei Bilder/... hast du jetzt nicht mehr genannt. Ich zeige es/sie dir. Wie

erklärst du dir das, dass du das nicht mehr weißt, du hast doch alles angeschaut?

Frageblock II

Frage 1: Hast du Tipps, wie man gut lernen kann?

Frage 2: Wie kannst du dir Sachen am besten merken?

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5.2 Beobachtungsbogen für die Filmsequenz

_________ schaut genau!

Das habe ich beim ersten Mal beobachtet:

Das habe ich beim zweiten Mal beobachtet:

Das habe ich beim dritten Mal beobachtet:

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Verbindliche Versicherung

Ich versichere, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig verfasst und keine ande-

ren als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe.

Ort, Datum Anja Vocilka

Hiermit erkläre ich mein Einverständnis, dass die Arbeit interessierten Personen zugänglich

gemacht werden kann.

Ort, Datum Anja Vocilka