Schlick AE (1925)

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ALLGEMEINE ERKENNTNISLEHRE VON MOl{lTZ SCI-Il.,ICK ZWEITE AUFLAGE BERLIN VERLAG VON JULJUS SPRINGER

Transcript of Schlick AE (1925)

  • ALLGEMEINE

    ERKENNTNISLEHRE VON

    MOl{lTZ SCI-Il.,ICK

    ZWEITE AUFLAGE

    BERLIN VERLAG VON JULJUS SPRINGER

  • Aus der Vorrede zur ersten Auflage

    Da ein philosophisches Buch in einer den Naturwissenschaften ge-widmeten Serie und als deren erster Band erscheint, mag noch manchen befremden. Zwar ist wohl heute gewi die Ansicht herrschend gewor-den, da Philosophie und Naturwissenschaft sich aufs beste miteinander vertragen knnen, aber wenn der Erkenntnislehre gerade an dieser Stelle ein Platz angewiesen wird, so setzt das nicht blo eine Vertrglichkeit beider Forschungsgebiete voraus, sondern es liegt darin die entschie-dene Behauptung einer natrlichen Zusammengehrigkeit. Die Erschei-nungsweise des Buches ist also nur gerechtfertigt, wenn wirklich eine solche Zusammengehrigkeit, eine gegenseitige Abhngigkeit und Durch-dringung besteht.

    Ohne den folgenden Untersuchungen selber vorzugreifen, darf der Standpunkt des Verfasscrs in dieser Frage nach der Stellung der Er-kenntnistheorie zu den brigen Wissenschaften doch schon hier klar-gelegt werden; es ist sogar gut, auf diese Weise ein deutliches Licht auf die in dem Buche befolgte Methode von vornherein zu werfen.

    Nach meiner Ansicht nmlich, die ich auch sonst schon geuert habe u_~d zu wiederholen nicht mde werde, ist die Philosophie nicht eine selbstndige Wissenschaft, die den Einzeldisziplinen nebenzuordnen oder berzuordnen wre, sondern das Philosophische steckt in allen Wissen-schaften als deren wahre Seele, kraft deren sie berhaupt erst \Vissen-schaftcn sind. Jedes besondere Wissen, jedes spezielle Erkennen setzt allgemeinste Prinzipien voraus, in die es schlielich einmndet und ohne die es kein Erkennen wre. Philosophie ist nichts anderes als das System dieser Prinzipien, welches das System aller Erkenntnisse ver-stelnd durchsetzt und ihm dadurch Halt gibt; sie ist daher in allen Wissenschaften beheimatet, und ich bin berzeugt, da man zur Philo-sophie nicht anders gelangen kann, als in dem man sie in ihrer Heimat aufsucht.

    Wohnt demnach Philosophie in der Tiefe aller \Vissenschaften, so offenbart sie sich doch nicht in allen gleich bereitwillig. Die obersten Prinzipien mssen sich vielmehr am leichtesten in denjenigen Disziplinen

  • VI Aus der Vorrede zur ersten Auflage.

    finden lassen, die selbst schon eine mglichst hohe Stufe der Allgemein-heit erklommen haben. Da ist es nun die Naturwissenschaft, besonders die exakte, deren S;itze unbestritten die universalste Geltung fr die \Velt des \YirklichC'n bC'sitzC'n; nur ans ihren Schchten kann der Philo-soph die Schtze heben, die er sucht. \Vhrcnd z. B. die Historie es mit den Geschicken einer 'inzigen Spezies von Lebewesen auf einem ein-zigen Planeten zu tun hat, oder die Philologie wiederum nur die Geset~e einer ganz besonderen Bettigung dieser Spezies erforscht, ist die Gel-tung der durch naturwissenschaftliche Methoden gefundenen Gesetze nicht auf irgendeinen individuellen Bezirk des Wirklichen beschrnkt, sondern sie erstreckt sich im Prinzip auf das gesamte Universum in beliebige rumliche und zeitliche Fernen. Eine allgemeine Erkenntnis-lehre kann daher nur ausgehen vom Naturerkennen.

    Dabei ist also das Naturerkennen nicht etwa eine besondere Art von Erkenntnis; das Erkennen ist berall eines, die allgemeinsten Prin-zipien sind stets dieselbC'n, auch in den Geisteswissenschaften, nur er-scheinen sie in diesen auf viel speziellere, kompliziertere Dinge an-gewandt und sind deshalb viel schwerer sichtbar, wenn auch genau so wirksam- man denke zum Beispiel, wie vielleichter das Walten der Kausalitt sich etwa bei einem physikalischen Vorgang verfolgen lt, als bei einem historischen Geschehen.

    So ungefhr stellt sich das Verhltnis des einzdwissenschaftlichen Denkens zum philosnphi~clwn dar, nnd es winl deutlich, da der Er-kenntnistheoretikcr ~ich mit aller Energie auf das Naturerkennen hin-gewiesen sieht. Umgekehrt wird auch der Naturforscher von allen seinen grten Fragen mit Macht zur Erkenntnislehre gedrngt, weil seine Wissenschaft in ihnen wegen ihrer hohen Allgemeinheit das Gebiet des rein Philosophischen fortwhrend streift; er mu den Schritt in dieses Gebiet hinber tun, sonst kann er den Sinn seines eigenen Tuns nicht restlos verstehen. Der wirklich groe Forscher ist immer auch Philosoph. Diese enge Wechselbeziehung der Ziele gestattet und erheischt auch uerlich eine enge Verbindung der Erkenntnislehre mit den Natur-wissensch::tftcn. Es wre gut, W'nn sie in den Akademien und Universi-tten deutlicher in ErschC'inung trte, als es bisher (bei der blichen Gegenberstellung der philosophisch-historischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen) der Fall ist. Einstweilen findet sie einen bescheidenen Ausdruck in der Publikationsart dieser Schrift.

    Aus diesen Grnden habe' ich dem Vorschlage df's Verlegers, das Buch in die Serie der "Naturwissenschaften" aufzunehmen, freudig zugestimmt.

  • Vorrede zur zweiten Auflage. YII

    Ich habe mich durchweg einer mglichst einfachen, langsam auf-banenden Darstellungsweise beflissen, so da ein philosophisches Spezial-studium zum VersUi.ndnis der folgenden Betrachtungen nicht voraus-gesetzt wird. Die wenigen Stellen, an denen ein kritisches Eingehen auf speziellere philosophische Lehren ntig war, um fr den Blick des engeren Fachgenossen die eigene Position mglichst allseitig zu charak-terisieren- diese wenigen leicht kenntlichen Stellen kann der nur fr das groe Ganze interessierte Leser ohne Nachteil berspringen.

    Als eine Allgemeine Erkenntnislehre wurde der Inhalt der folgen-den Bltter bezeichnet, weil die Untersuchung ganz auf die obersten, letzten Prinzipien gerichtet ist. Treibt man die philosophische Neugierde nicht bis zu jenen allgemeinsten Stzen, sondern macht gleichsam in der vorletzten Schicht halt, so befindet man sich, wenn man von der Natur-wissenschaft ausging, in der Theorie der N aturerkenntnis, d. h. in der Naturphilosophie. Ebenso wrde man auf dem Wege von der Ge-schichtswissenschaft zur allgemeinen Erkenntnislehre eine Theorie der historischen Erkenntnis, d. h. Geschichtsphilosophie, durchschreiten knnen, oder man wrde der Mathematik eine Philosophie der Mathe-matik vorgelagert finden und so weiter. In dieser Schicht der speziellen Erkenntnislehren knnen wir im folgenden nicht verweilen, obwohl, wie ich gestehen mu, die Begrndung unserer Ergebnisse dadurch an einigen Stellen lckenhaft erscheint. Aber ein Eingehen auf die umfang-

    n~ichen Spezialuntersuchungen jener Gebiete verbot sich schon aus ueren Grnden durchaus; so mu denn die abschlieende Vervollstn-digung des Begrndungszusammenhanges einer Bearbeitung der Sonder-probleme vorbehalten bleiben, die ich spter vorzulegen hoffe.

    Vorrede zur zweiten Auflage

    Lnger als 2 1/ 2 Jahre war dies Buch vergriffen. \Vegen der auer-ordentlichen Verzgerung der neucn Auflage fhlt sich der Verfasser den Lesern zur H.echenschaft verpflichtet, denn die Nachfrage nach dem Buch ist whrend der Zwischenzeit immer lebhaft gewesen.

    Es waren zunchst Grnde des ueren Lebens, die den Verfasser lange bei andern, ja ganz andersartigen Aufgaben festhielten; dann aber haben auch innere Grnde den Beginn und Fortschritt der Neubear-beitung gehemmt. Sie entsprangen aus dem Bewutsein gewisser Unvoll-

  • VIII Vorrede zur zweiten Auflage.

    kommenheiten der ersten Auflage. Um diese radikal zu beseitigen, wre ein Ausbau nach der erkenntnislogischen Seite hin ntig gewesen, der nicht ohne einen Neuaufbau des Ganzen htte bewerkstelligt werden knnen. An einC' dC'rart durchgreifende nderung des Buches aber war nicht zu denken, denn in so verwandelter Form htte es seinen ursprng-lichen Charakter eingebt und htte schwerlich noch jenen berechtigten Bedrfnissen gengen knnen, durch deren Befriedigung es gerade seinen besonderen Platz in der philosophischen Literatur ausgefllt hat. Da-mit es diesen Platz auch frder einnehme, durfte die Anlage des Ganzen nicht gendert werden; damit es ihn aber noch besser als bisher aus-flle, muten Yide Einzdheiten einer Revision unterzogen werden.

    Auf solche Rc,isionen -- nderungen, Hinzufgungen, Auslassun-gen-- beschrnkte sich also die entsagungsvolle Arbeit an der zweiten Auflage; und die wichtige Aufgabe der logischen Ergnzung der in dem Buche entwickelten erkC'nntnistheoretischen Gedanken bis zu ihren letzten Grundlagen mu einer spteren zusammenhngenden Darstellung der Prinzipien der Logik vorbehalten bleiben.

    Ans der berzeugung heraus, da richtige Gedanken sich am besten durch die ihnen eigene Kraft der Wahrheit durchsetzen, ohne einen fort-whrenden Kampf gegen den Irrtum fhren zu mssen, habe ich alle irgendwie entbt'hrlichen polemischen Ausfhrungen aus dem Buche ent-fernt und die Entwicklung des eigenen Standpunktes nur dort an die Kri-tik entgegenstehender Ansichtt~n angeschlossen, wo die letzteren den natrlichen Ausgangspunkt der positiven Betrachtungen bilden. So konnte die kritische Stellungnahme zu den Grundgedanken Kants und seiner Schule auch in der neuen Auflage nicht umgangen werden. Das wichtige Kapitel "Kritik der Immanenzgedanken" mute sogar noch er-weitert werden, denn obwohl gerade dieses Stck weitgehende zustim-mende Beachtung gefunden hat, schien es mir doch einer nicht unwesentliclwn Ergnzung und V crbesserung zu bedrfen.

    Groe Sorgfalt habe ich der Umarbeitung derjenigen Kapitel gewid-met, die das psychophysische Probh~m behandeln, denn es hat sich herausgestellt, da jen

  • Vorrede zur zweiten Auflage. IX

    und da die Ausfhrungen des letzten Paragraphen des Buches noch krzer und skizzenhafter gestaltet wurden als in der ersten Auflage. Es war mir nmlich schon bei der Niederschrift der ersten Auflage klar ge-worden, da eine befriedigende Behandlung der in diesem Paragraphen angeschnittenen Fragen der induktiven Erkenntnis eigentlich ein beson-deres Buch erfordern wrde; da demgem eine tiefer dringende Bear-beitung der Probleme im vorliegenden Rahmen nicht in Frage kam, habe ich lieber eine weitere Verkrzung des Kapitels vorgenommen.

    Trotz mehrfacher Streichungen und Zusammenziehungen hat der Umfang des Buches im ganzen eine Vermehrung erfahren, die aber nicht betrchtlich ist.

    Um mehrfach geuerten Wnschen entgegenzukommen, ist dies-mal ein Sachverzeichnis hinzugefgt worden. Fr die Herstellung dieses Verzeichnisses und des Autoren-Registers, sowie fr uerst wertvolle Untersttzung bei den Korrekturen, bin ich Herrn stud. phil. Herb er t F eigl zu herzlichstem Dank verpflichtet.

    Wien, im Mrz 1925.

    Der Verfasser.

  • Inhaltsverzeichnis Erster Teil. Das Wesen der Erkenntnis ..

    I. Der Sinn der Erkenntnislehre ... 2. Das Erkennen im tglichen Leben . 3 Das Erkennen in der \Vissenschaft . 4 Das Erkennen durch Vorstellungen 5 Das Erkennen durch Begriffe 6. Grenzen des Definierens . 7 Die implizite Definition 8. Das \Vesen des Urteils Q. Urteilen und Erkennen

    10. \Vas ist \Vahrheit? ............ . n. Definitionen, Konventionen, Erfahrungsurteile 12. \Vas Erkenntnis nicht ist . . . . . . 13. Vom \Vert der Erkenntnis ..... .

    Zweiter Teil. Denkprobleme .... . 14. Der Zusammenhang der Erkenntnisse . . . . . 15. Die analytische Natur des strengen Schlieens . 16. Skeptische Betrachtung der Analyse . . . . . . . 17. Die Einheit des Bewutseins .......... 18. Das Verhltnis des Psychologischen zum Logischen. 19. Von der Evidcnz . . . . . . . . . . 20. Die sogenannte innere \Vahrnehmung 21. Die Verifikation . . . . . . . . . .

    Dritter Teil. Wirklichkeitsprobleme A. Die Setzung des \Virklichen ...

    Seite

    I I 4 8

    14 '19 25 29 36 44 55 64 74 86

    94 94 99

    106 112

    124 IJ5 1J9 148

    22. Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage

    157 157 I 57 161

    24. Die Zeitlichkeit des Wirklichen . . . 25. Ding an sich und Immanenzgedanke. . . . . . 26. Kritik der Immanenzgedanken . . . . . . . . . .

    a) Nichtwahrgenommene Gegenstnde . . . . . r. Nichtwahrgenommene Dinge als wirkliche . 2. Nichtwahrgenommene Dinge als unwirkliche .

    172 178

    186 , , 186

    . 187 198

    b) Von mehreren Individuen wahrgenommene Gegenstnde 2o6 B. Die Erkenntnis des \Virklichen

    27. \Vesen und ,.Erscheinung" . . . . . . 28. Die Subjektivitt der Zeit . . . . . . 29. Die Subjektivitt des Raumes . . . . . 30. Die Subjektivitt der Sinnesqualitten . 31. Quantitative und qualitative Erkenntnis . 32. Physisches und Psychisches . . . . . . . 33 Weiteres zum psychophysischen Problem. 34 Einwnde gegen den Parallelismus ... . 35 Monismus, Dualismus, Pluralismus ... .

    C. Die Gltigkeit der \Virkli chkeitserken n tn is 36. Denken und Sein . . . . . . . 37 Erkennen und Sein . . . . . . 38. Gibt es eine reine Anschauung? 39 Gibt es reine Denkformen? . . 40. Von den Kategorien ..... . 41. Von der induktiven Erkenntnis

    Autorenverzeichnis . . . Sachverzeichnis . . . . .

    214 214 224 230 242 249

    ... 264 275 287 298 306 307 313 320 329 336 353 368 370

  • Erster Teil.

    Das Wesen der Erkenntnis. r. Der Sinn der Erkenntnislehre.

    Es gab eine Zeit, in der Philosophen sich darber wunderten, da der Mensch imstande sei, seine Glieder zu bewegen, obgleich er doch die Vorgnge nicht kenne, welche sich in seinen Nerven und Muskeln ab-spielen mssen, damit die gewnschte Bewegung der Gliedmaen zu-stande kommt. Sie wagten sogar den Schlu, der Mensch vermge wirklich nicht, von selber seinen Krper zu rhren; sie meinten vielmehr,

    jf'

  • 2 Das \Vesen der Erkenntnis.

    tet, fr ihn bleiben sie Erkenntnisse, erreichte Ziele seiner Wissenschaft. Er steckt Ziele und erreicht sie, stellt sich Aufgaben und lst sie; diese Lsungen sind eben Erkenntnisse, Fakta, die der Philosoph vorfindet, so gut wie er die menschlichen Krperbewegungen vorfindet.

    Um seine Glieder zu bewegen, hat niemand ntig, die physiologischen Prozesse zu kennen, ohne welche die Bewegung nicht erfolgen kann: ebensowenig bedarf es einer Erforschung des Erkcnnens, um in der \Vissenschaft Erkenntnis zu gewinnen. Mit anderen Worten: wie zum Handeln keine Physiologie erforderlich ist, so bestehen die Erkenntnisse der Wissenschaft im Prinzip unabhngig von der Erkenntnislehre. Das Interesse, welches die Physiologie an jenen Nerven- und Muskelprozes-sen hat, ist ein rein theoretisches, und das gleiche gilt von dem Interesse, das die Erkenntnistheorie an dem Prozc des wissenschaftlichen Fort-schrittes nimmt. \Vie physiologisches Wissen nicht die Fhigkeit zu Krperbewegungen schafft, sondern sie nur erklren und ihre Mglich-keit begreiflich machen will, so kann auch die Lehre vom Erkennen niemals einen Machtspruch fllen, durch den sie eine Erkenntnis in der Wissenschaft etwa ermglichte oder leugnete, sondern ihre Aufgabe ist nur, sie ihrerseits aufzuklren und zu deuten.

    Dies schliet natrlich nicht aus, da ihre Ergebnisse dem einzel-wissenschaftlichen Betriebe unter Umstnden doch zugute kommen, wie ja auch physiologische Kenntnis der Nerven und Muskeln in ge-wissen Fllen von praktischer Bedeutung werden kann fr die Bewe-gungsfhigkeit der Gliedmaen, dort nmlich, wo diese etwa durch pathologische Vernclerungen beeintrchtigt wurde und wo es gilt, sie wieder herzustellen. Der V crlauf des Erkennens in den Wissenschaften geht ja auch nicht immer normal vonstatten, auch in ihm knnen gleich-sam pathologische Erscheinungen auftreten - sie heien Widersprche und Paradoxa -, zu deren Beseitigung die Dienste der Erkenntnis-theorie in Anspruch genommen werden. Aber ihre primre Aufgabe besteht nicht in solchen Hilfeleistungen, sie ist unabhngig von den nchsten Aufgaben der einzelwissenschaftlichen Disziplinen und inso-fern von diesen wohl abtrennbar.

    Hier mu nun eine wichtige Bemerkung gemacht werden, damit unser erluternder Vergleich des Erkennens mit den physiologischen Innervationsvorgngen nicht zu einem fundamentalen Miverstndnis Anla gebe, dessen Motive im Laufe der Untersuchung immer wieder wirksam werden und falsche Auffassungen erzeugen knnten, wenn es nicht gleich zu Anfang zurckgewiesen wird. Man knnte nmlich glauben, die Erkenntnislehre habe es mit der Erforschung der psycho-logischen Prozesse zu tun, in denen das wissenschaftliche Denken sich abspielt, hnlich wie die Physiologie jene lnnervationsvorgngc zu ana-lysieren sucht. So verstanden aber ist die Analogie keineswegs richtig. Denn jene Erforschung wre natrlich eine rein psychologische Auf-

  • Der Sinn der Erkenntnislehre. 3

    gabc, deren Lsung fr den Erkenntnistheoretiker bis zu einem gewissen Grade wichtig sein mag, die aber nie sein eigentliches Ziel bilden kann -schon deshalb nicht, weil ihm ja das psychologische Erkennen selbst wieder zum Problem wird. Sein Ziel ist also weiter gesteckt und liegt in einer ganz anderen H.ichtung. Er fragt nach den allgemeinen Grnden, durch welche gltiges Erkennen berhaupt mglich wird, und diese Frage ist offenbar prinzipiell verschieden von derjenigen nach der Natur der psychischen Prozesse, in denen irgendwelche Erkenntnisse sich in diesem oder jenem Individuum zeitlich entwickeln. -Erst im Laufe der Untersuchungen wird der hier berhrte prinzipielle Unterschied der Be-trachtungsweisen sich zu voller Klarheit erheben; an dieser Stelle kam es nur darauf an, einen naheliegenden Irrtum vorlufig abzuwehren und die Lehre vom Erkennen der einzelwissenschaftlichen Forschung -auch der psychologischen - als etwas Selbstndiges und im Prinzip Unab-hngiges gegenberzustellen.

    Man kann alle Einzelwissenschaften sehr wohl betreiben, ohne ihnen erkenntnistheoretische Grundlagen zu geben; verstehen aber kann man sie in ihrer letzten Tiefe niemals ohne solche. Dies letzte Verstndnis ist ein eigentlich philosophisches Bedrfnis, und die Erkenntnislehre ist Philosophie.

    Der Wege zur Philosophie sind unendlich viele. Zu ihr gelangt man in der Tat, wie besonders HELMHOL TZ hervorhob, von jeder wissenschaft-lichen Frage aus, wenn man sie nur gengend weit verfolgt. \Yenn man nmlich in einer Spezialwissenschaft irgendeine Erkenntnis, also die Grnde fr irgendeine Erscheinung gewonnen hat, und wenn nun der forschende Geist noch weiter fragt nach den Grnden dieser Grnde, also nach den allgemeineren Wahrheiten, aus denen jene Erkenntnis abgeleitet werden kann, so gelangt er bald an einen Punkt, wo er mit den Mitteln seiner Einzelwissenschaft nicht mehr weiter kommt, son-dern von einer allgemeineren, umfassenderen Disziplin Aufklrung er-hoffen mu. Es bilden nmlich die Wissenschaften gleichsam ein in-einandergeschachteltes System, in welchem die allgemeinere immer die speziellere umschliet und begrndet. So behandelt die Chemie nur einen begrenzten Teil der Naturerscheinungen, die Physik aber umfat sie alle; an sie also mu sich der Chemiker wenden, wenn er seine funda-mentalsten Gesetzmigkeiten, etwa die des periodischen Systems der Elemente, der Valenz usw. zu begrnden unternimmt. Und das letzte, allgemeinste Gebiet, in welches alle immer weiter vordringenden Erkl-rungsprozesse schlielich mnden mssen, ist das Reich der Philosophie, der Erkenntnislehre. Denn die letzten Grundbegriffe der allgemeinsten Wissenschaften - man denke etwa an den Begriff des Bewutseins in der Psychologie, an den d(s Axioms und der Zahl in der Mathematik, an Raum und Zeit in der Physik - gestatten zuletzt nur noch eine philosophische, eine erkenntnistheoretische Aufklrung.

  • 4 Das Wesen der Erkenntnis.

    Sie lassen sie nicht nur zu, sondern sie erheischen sie auch fr jeden, der dem philosophischen Trieb, aus dem ja auch alle einzelnen Wissen-schaften in letzter Linie hervorgehen, nicht ein willkrliches Halt ge-bieten will.

    2. Das Erkennen im tglichen Leben. Ehe eine \Vissenschaft ihre Arbeit beginnen kann, mu sie sich einen

    deutlichen Begriff von dem Gegenstande machen, den sie untersuchen will. Man mu an die Spitze der Betrachtungen irgendeine Definition des Objektes stellen, dem die Forschungen gewidmet sein sollen, denn es mu ja zunchst einmal klar sein, womit man es eigentlich zu tun hat, auf welche Fragen man Antwort erwartet. Wir mssen uns also zu allererst fragen: Was ist denn eigentlich Erkennen?

    So selbstn'rstndlich. so einleuchtend es scheint, da mit dieser Frage der Anfang gemacht werden mu, so merkwrdig ist es, wie selten sie an der richtigen Stelle und mit der richtigen Sorgfalt be-handelt worden ist, wie wenige Denker darauf eine klare, sichere und vor allem hranchhare Antwort gegeben haben. Das liegt natrlich daran, da der Sinn des \Vortcs Erkenntnis den meisten zu selbstver-stndlich erscheint, da es somit an einem Motiv fr eine nhere ge-wissenhafte Erklrung mangelt, ja, da ihnen gar nicht der Gedanke kommt, eine scharfe und genaue Definition mchte notwendig sein. Es gibt ja genug Begriffe, die jedem so gelufig sind und in solcher Weise verwandt werden, da eine besondere Definition ganz berflssig wre. Wenn ich sage: ich erkenne etwas, so kann es in der Tat leicht scheinen, als bedeute dieser Ausdruck etwas ebenso Allbekanntes, als wenn ich sage: ich hre etwas, oder: ich sehe etwas. Das ist ja nun in vielen Fllen auch ganz richtig. Jeder wei, was gemeint ist, wenn der Arzt uns erzhlt, er habe als Ursache einer Krankheit gewisse Bakterien erkannt, oder wenn der Chemiker behauptet, er erkenne ein Gas als Helium, und niemand fhlt das Bedrfnis einer Erluterung.

    Es knnen aber Umstnde eintreten, in denen eine nhere Erklrung und festere Begriffsbestimmung des Wortes Erkennen durchaus ntig ist, wo viele gnzlich in die Irre gehen wrden, die da glauben, ber den Sinn des Wortes vllig im Klaren zu sein. Wir werden in der Tat bald sehen, da derjenige Erkenntnisbegrifi, den wohl die meisten Denker stillschweigend vorauszusetzen pflegten, kein zuverlssiger Wegweiser in der Philosophie ist. Wie zwar fr die Bedrfnisse des tglichen Lebens jeder einen gengend scharfen Sinn mit den Worten Sehen und Hren verbindet, wie aber fr die wissenschaftliche Untersuchung der Ge-sichts- und Gehrswahrnehmungen dieser Sinn noch auerordentlich przisiert werden mn, so hat auch die Lehre vom Erkennen sich erst einmal genau darber klar zu werden, welcher ganz bestimmte Proze mit diesem \Vorte eigentlich bezeichnet werden soll.

  • Das Erkennen im tglichen Leben. 5

    Man knnte nun glauben, eine vollstndige, einwandfreie Begriffs-bestimmung der Erkenntnis werde sich erst im weiteren Verlaufe der Untersuchungen oder gar erst am Ende derselben geben lassen, sie sei nmlich die vornehmste Aufgabe der Erkenntnistheorie selber- aber das wre eine falsche Bedenklichkeit, die uns die Grenze unseres Forschungs-gebietes, und mithin die rechte Eingangspforte dazu verhllen wrdf'.

    Es ist fast komisch zu sehen, wie oft in philosophischen Traktaten --besonders in den Einleitungen zu solchen (siehe auch KANT, Kr. d. r. V. KEHRBACH, S. s6o) - die Frage aufgeworfen und wie ein tiefes Pro-blem behandelt wird, ob eine Wissenschaft mit der Definition ihres Gegenstandes beginnen oder endigen msse. Die Antwort lautet, da sie auf jeden Fall eine wenn nicht ausgesprochene, so doch vorausge-setzte Umgrenzung ihres Objektes zugrunde legen mu. Die am Ende ihrer Arbeit gewonnenen Einsichten ermglichen es, aus dem abgeschlos-senen System von Erkenntnissen den bearbeiteten Gegenstand ganz scharf herauszuheben, indem sie seine Beziehungen nach allen Seiten darsteHen und so in einem ncuen Sinne eine "Definition" von ihm liefern. Alwr hi

  • 6 Das Wesen der Erkenntnis. ----------

    so"' allein vermeidet man eine Reihe von Scheinproblemen, die oft das philosophische Denken verwirrten, zu deren Lsung es aber nur einer Reflexion auf das \VC'sen des Erkenncns selbst bedurft htte. Man ver-langte blindlings nach Erkenntnis, ohne zu wissen, was eigentlich damit gefordert war. 1\fan fragte f.'twa: Kann der l\h'nsch das Unendliche erkennen? oder: Vermgen wir zu erkennen, wie die Wirkung aus der Ursache hervorgeht? oder man behauptete: das Wesen der Kraft ist unerkennbar, oder: alles physikalische Geschehen kann nur dann als erkannt gelten, wenn es auf Druck und Sto bewegter Massen zurck-gefhrt ist -solche Stze und Fragen sind nur so hufig ausgesprochen worden, weil das Wort Erkennen gedankenlos verwendet wurde. Hier-her gehrt auch die groe Frage, die in der Geschichte der Philosophie so viel bedeutet: Vermgen wird die Dinge zu erkennen, wie sie an sich selbst sind, nnabhngig davon, wi

  • Das Erkennen im tglichen Leben. 7

    Bewegung) wiedercrlwnnt, die ein Gegenstand haben mu, um als Tier bezeichnet zu werden. Unter Vorbehalt der Verbesserung des phycho-logisch anfechtbaren Ausdrucks kann ich sagen: ich habe in der Wahr-nehmung jenes braunen Etwas die Vorstellung wiedergefunden, die dem Namen "Tier" entspricht; das Objekt ist damit zu etwas Bekanntem geworden und ich kann es bei seinem rechten Namen nennen.

    Wenn ich nun beim Nherkommen sage: ich erkenne jetzt das Tier als Hund - was soll damit gemeint sein? Es soll offenbar heien (wiederum in vorlufiger, spter zu przisierender Ausdrucksweise), da der Anblick des fraglichen Objektes nicht blo mit der Vorstellung ber-einstimmt, die ich von einem Tiere berhaupt habe, sondern mit der Vorstellung, die ich von einer ganz bestimmten Klasse der Tiere habe, nmlich derjenigen, die man im Deutschen als Hunde bezeichnet. Ich habe das Tier erkannt, heit abermals: ich vermag es mit seinem rechten Namen zu bezeichnen, n~imlich als Hund, und dieser Name heit des-halb der rechte, weil er eben allgemein gebraucht wird fr die Klasse der Tiere, welcher dieses Tier tatschlich angehrt. Es liegt also auch hier ein Wiederfinden von etwas Bekanntem vor.

    Nicht anders steht es mit der dritten Stufe dieses Erkcnntnisaktes. Ich erkenne den Hund als den meinen, heit auch hier: ich erkenne ihn wieder; ich bestimme nmlich das Tier, das ich vor mir sehe, als identisch mit dem Hunde, den ich tglich um mich zu haben gewhnt bin. Und dies wird natrlich wieder dadurch mglich, da ich eine mehr oder minder genaue Erinnerungsvorstellung von dem Aussehen meines Hundes besitze, und da diese Vorstellung die gleiche ist, die der An-blick des auf mich zukommenden Tieres mir liefert: die Gestalt, die Farbe, die Gre, vielleicht auch der Ton des Bellens, alles stimmt mit dem Bilde berein, das die Erinnerung mir von meinem Hunde gibt. Vorher waren die Namen, mit denen ich das Objekt richtig bezeichnen konnte, nur Klassennamen, nmlich Tier und Hund. Jetzt aber nenne ich es mit einem Namen, der nur einem einzigen Individuum in der ganzen Vlelt zukommt: ich sage, das ist "mein Hund Tyras", und da-durch ist das Tier als Individuum eindeutig bestimmt.

    Allen drei Stufen dieses Erkennens ist gemeinsam, da dabei ein Objekt wiedererkannt wird, da in etwas Neuern etwas Altes wieder-gefunden wird, so da es nun mit einem vertrauten Namen bezeichnet werden kann. Und der Proze ist abgeschlossen, wenn der Name ge-funden ist, welcher dem erkannten Gegenstand ganz allein zukommt, und keinem andern. Eine Sache erkennen heit im gewhnlichen Leben in der Tat weiter nichts als ihr den rechten Namen geben.

    Dies alles ist simpel und selbstverstndlich; es erscheint fast tricht, darber so viele Worte zu machen. Aber oft erwchst der Philosophie groer Nutzen gerade aus der sorgfltigen Betrachtung des Alltglichen und Unscheinbaren. Was man bei den einfachsten Ycrhltnissen findet,

  • 8 Das Wesen der Erkenntnis.

    wiederholt sich nicht selten bei den kompliziertesten Problemen, aber in solcher Verschlingung und Verkleidung, da man es nie entdecken wrde, htte man es sich nicht schon bei alltglichen Erfahrungen klar vor Augen gestellt.

    brigens ist sdbst ein so schlichter Vorgang wie das Erkennen eines Hundes vom psychologischen Gesichtspunkt aus keineswegs ein ganz ein-facher durchsichtiger Prozci3. Es ist sogar riitsclhaft, wie cs zugeht, da eine Vorstellung als eine bereits bekannte angesprochen werden kann; woher wei man denn, da dasselbe Wahrnehmungsbild frher schon einmal im Bewutsein war? Und tatschlich war ja auch niemals ganz genau dasselbe da, sondern hchstens ein hnliches. Die Psychologen haben denn auch viel darber gestritten, wie man sich den Vorgang des Wiedererkennens zu denken habe, und die Akten ber diesen Punkt sind nicht geschlossen. l\lit dieser psychologischen Frage haben wir hier aber gar nichts zu tun, und wir knnen sie gnzlich beiseite lassen. Hier lernen wir an einf'm deutlichen Beispiele den Unterschied der erkenntnis-theoretischen und der psychologischen Betrachtungsweise kennen, von dem im vorigen Paragraphen die Rede war: den Erkenntnistheoretiker interessiert hier gar nicht, nach welchen psychologischen Gesctzmilig-keiten der Wiedererkennungsvorgang verluft und mglich ist, sondern fr ihn kommt jetzt nur die Tatsache in Betracht, da unter gewissen Umstnden ein \Viedererkennen berhaupt eintritt, und diese Tatsache steht fest, ganz unabhngig davon, wie die Frage nach dem psychischen Vorgang entschieden werden mag, durch den es zustande kommt.

    3 Das Erkennen in der Wissenschaft. Eine tiefere oder erhabenere Bedeutung als im tglichen Gebrauche

    scheint dem Worte Erkennen in der wissenschaftlichen Forschung eigen zu sein; es wird hier gleichsam mit ganz anderer Betonung ausgesprochen. Dennoch wird sich sogleich zeigen, da es in der Wissenschaft keines-wegs einen neuen, ganz besonderen Sinn bekommt, sondern da das Wesentliche beim Erkennen hier wie dort ganz dasselbe ist. Nur der erhabenere Gegenstand und Zweck des Erkenntnisprozesses in der For-schung und Philosophie verleihen ihm hier eine hhere Dignitt.

    Um den Gegensatz gegen das vorher betrachtete Beispiel mglichst gro zu machen, wollen wir nun eines aus einer ganz strengen Wissen-schaft ins Auge fassen, aus der exaktesten Naturwissenschaft, der Physik. Zahllos in der Geschichte dieser Disziplin sind die Flle, wo nach dem einmtigen l Trtcil aller Berufenen das Erkennen einen groen Schritt vorwrts machte, und die Betrachtung eines jeden solchen Falles mu uns Antwort gebf'n knnen auf die Frage nach dem Wesen der Erkennt-nis; d. h. die stillschweigend voransgcsdzte Definition des Erkenntnis-begriffs mu sich darans ablesen lassen.

    So ist es der Physik geglckt, dil' Natur der Lichterscheinungen zu

  • Das Erkennen in der Wissenschaft. 9

    erkennen, oder zu erklren, oder zu begreifen - denn alle diese Worte bedeuten ein und dasselbe. Als was hat man denn das Licht erkannt? Bereits im 17. Jahrhundert stellte HuYGHENS die Undulationstheorie des Lichtes auf, nach welcher es besteht in der wellenfrmigen Fort-pflanzung eines Zustandes, und spter, etwa seit den Experimenten FHESNELs und YoUN(;s, wnnlc unzweifelhaft festgestellt, da die Eigen-schaften und Gesetze der Lichtausbreitung identisch sind mit den Eigen-schaften und Gesetzen der Fortpflanzung von Wellen unter gewissen Umstnden. Beide lassen sich durch dieselben mathematischen Formeln darstellen, kurz, in den Verhltnissen der Lichterscheinungen wurden dieselben Verhltnisse wiedererkannt, die allgemein bei der Ausbreitung von Wellen auftreten und von dort her vertraut waren. Gerade so er-klrte ich in dem vorigen Beispiele ein Tier fr einen Hund, weil ich an ihm diejenigen Merkmale wiedererkannte, die mir als Merkmale der Hunderasse vertraut waren. - Man kannte aber damals keine anderen Wellen als die, welche in der mechanischen Bewegung eines Mediums bestehen, wie etwa Wasserwellen, Luftwellen oder sonstige Schwingungen clastiscll

  • IO Das Wesen der Erkenntnis.

    Allerdings ist hier auf einen bedeutsamen Unterschied aufmerksam zu machen. In dem Beispiel aus dem tglichen Leben wurde die ber-einstimmung, die Gleichheit an zwei Erlebnissen, einer Wahrnehmung und einer Vorstellung, unmittelbar festgestellt - im wissenschaftlichen Beispiel aber ist das Gemeinsame der beiden durch den Erkenntnisakt verbundenen Glieder ein "Gesetz", also jedenfalls etwas, das nie direkt wahrgenommen werden kann, sondern nur auf Umwegen zu erreichen ist. Ob diese Umwege dazu fhren, da die Gleichheit von Gesetzmig-keiten auch wieder nur als eine Gleichheit zweierWahrnehmungenoder sonstiger Erlebnisse konstatiert werden kann oder nicht, das soll hier nicht untersucht werden; die Frage gehrt der Theorie der wissenschaft-lichen Methodik berhaupt an, und ihre Lsung ist zur bloen Fest-legung des Erkenntnisbegriffes noch nicht erforderlich. Es gilt auf jeden Fall. da beim Erkennen die beiden Glieder als "ein und dasselbe" fest-gestellt werden. Es handelt sich also um Gleichheit, die in Identitt bergehen kann. Ist das Gemeinsame, wie im obigen Falle, ein Gesetz, so ist damit stets ehvas I do1fiscltcs gefunden, denn ein Gesetz ist ein begriffliches Gt>hildc, bei Begriffen aber fallC'n Gleichheit und Identitt bekanntlich zusammen. Vorlufig interessieren uns die hier berhrten Unterschiede nicht weiter, wir halten vielmehr fest, da auch dort, wo man in der Wissenschaft von "Erkenntnis~~ spricht, ein Wiederfinden des Gleichen stattfindet.

    Htten wir irgendein anderes Beispiel aus einer beliebigen anderen \Vissenschaft betrachtet, so wren wir doch zu dem gleichen Ergebnis gelangt; berall enthllt sich der Kern des Erkenntnisprozesses als ein \Yiederfinden. \Yenn man z. B. feststellt, da ARISTOTELES die Schrift ber den Staat der Athener verfat hat - dies wre also eine histo-rische Erkenntnis -, so identifiziert man den Urheber dieser Schrift mit dem anderweitig wohlbekannten Philosophen, erkennt also diesen in jenem wieder. \:Venn man in der Philologie die Verwandtschaft zweiC'r Wrter aus verschiedenen Sprachen erkennt, so heit dies weiter nichts, als da die Gleichheit der Wurzeln konstatiert wird, auf welche beide Wrter zurckgehen. Und den nmlichen Sachverhalt entdeckt man in allen erdenklichen Beispielen. Doch wir knnen hier auf die Durchfh-rung weiterer derartiger Analysen verzichten. Das Resultat der Analysen ist immer, da Erkennen in der Wissenschaft, wie schon im tglichen Leben, ein \Viederfinden des einen im andern bedeutet.

    Aus diesem einfachen Satze knnen wir bereits gewichtige Schlsse ziehen ber Zit:'l nnd Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis.

    Zunchst sei bt:'merkt, da zum Erkennen nur die Zurckfhrung zweier vorher getrt:'Imter Erscheinungen aufeinander gefordert wird; es ist also nicht ntig (wie man hufig meint), da das Erklrende lnger bekannt sein msse als das Erklrte, da also der Mensch nur dort Er-kt:'nntnis errungen habe, wo gleichsam das Gewohnte im Ungewohnten

  • Das Erkennen in der Wissenschaft. II --------.-.::c-=--=-=--=-==;_

    wiedergefunden worden sei. Das lt sich leicht an Beispielen aus dem Betriebe der Forschung zeigen. Wenn es etwa der modernen Physik ge-lingt, mechanische Gesetzmigkeiten auf elektromagnetische zurckzu-fhren, so bedeutet das genau ebensogut eine Erklrung, einen Erkennt-nisfortschritt, als wenn das frher so oft versuchte umgekehrte Ver-fahren, nmlich die mechanische Erklrung der Elektrizitt, gelungen wre, obgleich die mechanischen Gesetze sehr viel lnger bekannt und dem menschlichen Geist sehr viel vertrauter sind als die elektrischen. Oder wenn eine neue Sprache auf der Erde entdeckt wird, so kann diese natrlich sehr wohl das Bindeglied und den Erklrungsgrund abgeben, wodurch die Erscheinungen der nchstliegenden und bekanntesten Spra-chen erkannt werden.

    Hufig findet man auch die Formulierung, Erkennen sei "Zurck-fhrung des Unbekannten auf Bekanntes". Dies ist aber eine verkehrte Ausdrucksweise. Das zu Erklrende mu uns immer bekannt sein -denn wie knnten wir es erklren wollen, wenn wir nichts von ihm wten? Man begeht hier eine Verwechslung von Kennen und Erkennen,

  • I:Z Das Wesen der Erkenntnis.

    Problemen und der philosophischen Seite aller Probleme mit derselben Waffe auf den Leib rcken. Wir mssen stets erstens fragen: Auf welche Momente kann denn das zu Erkennende mglicherweise zurckgefhrt werden? und zweitens: Auf welchem Wege mu diese Reduktion ge-schehen?

    Die Einzelwissenschaften stellen sich diese Fragen bei der Lsung ihrer Spezialaufgaben ganz von selbst, und an ihnen kann man die Methode leicht studieren. Es gibt dort F~ille, in denen der Weg der Reduktion vorgezeichnet ist; die A ufgahe besteht dann darin, die er-klrenden Momente zn finden - und oft gehrt nicht geringe Tapfer-keit dazu, den Dingen, denen man auf diesem Wege begegnet, fest in_s Auge zu sehen. Anf diese \V eise ist man in der Physik z. B. zur modernen Quantenhypothesf' und zur Relativitiitstheoric gelangt. In anderen Fllen sind di~ crkHirendcn l\lomente vorhanden, und dann ist der JtVeg des Erklrens zu suchen. Dies ist der gewhnliche Fall. Ihn haben wir z. B. vor uns, wenn wir alle Bewegungen im Planetensystem durch das Newtonsehe Gesetz zu erklren trachten, oder die meteorologischen Er-scheinungen auf thermodynamische, oder die biologischen auf physi-kalische und chemische Gesetzmigkeiten zu reduzieren streben, oder die Ursachen eines historischen Ereignisses aus den bekannten vorauf-gehenden Geschehnissen abzuleiten suchen. Freilich tuscht man sich hier oft darber, welche Momente als erklrende Prinzipien herange-zogen werden mssen, und dann wird man durch Irrlichter abseits ge-fhrt. Als Beispiel erinnere ich an die eben schon erwhnte frher herr-schende l\Ieinung. alle physikalischen Erscheinungen mten sich als mechanische. als BcwC'gnngsvorgnge, erkennen lassen.

    Es gibt aber auch Flle, in denen beides noch fehlt, Weg und Prin-zipien der Erklrung, Ziel und K ompa. Da ist es dann wohl das beste, das Problem (das dann berhaupt noch kein wohl formuliertes sein kann) ruhen zu lassen, bis man auch auf anderen Wegen noch zu ihm gefhrt wird und dadurch Fingerzeige zur Lsung erhlt.

    Eine Vorstellung vom letzten Zt:cl alles Erkenncns-knncn wir schon an diesem frhen Punkte der Untersuchung uns verschaffen.

    Wir brauchen nur darauf zn achten, da alles HegrC'ifen dadurch von Stufe zu Stufe weiterschrcitct, da zuerst das eine im andern wieder-gefunden wird, dann in j

  • Das Erkennen in der Wissenschaft. 13

    der erreichten Hhe der Erkenntnis dienen, die hchste Erkenntnis wird nmlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklrender nicht weiter erklrungsfhiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum mglichst klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens. Wie weit die Verminderung der letzten Prinzipien getrieben werden kann, darber etwas Bestimmteres sagen zu wollen, wre voreilig. Aber das ist sicher: nur eines Lchelns wrdig sind die Bemhungen jener Philosophen, die da vorgaben, sie vermchten bereits die Gesamtheit des Seienden, den ganzen Reichtum der Welt, aus einem einzigen Prin-zip abzuleiten. Hchste B

  • 14 Das Wesen der Erkenntnis.

    Marmor und eines Stckes Holz eindeutig und vollstndig durch allge-meine Namen zu bestimmen. Und nicht wesentlich anders liegt der Fall, wenninderneueren Metaphysik z. B. der Satz aufgestellt wurde: alles, was existiert, ist Geist. Trotz tieferer Begrndung und feinster Dialektik stehen solche modernen Formulierungen prinzipiell doch auf einer Linie mit derjenigen des THALES (vgl. unten 35).

    Dem Ungebildeten kommt jener Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis kaum zum Bewutsein; ihn beruhigt es schon sehr, wenn nur jedem Ding oder jeder Erscheinung irgendein Name beigegeben wird. Wie klug dnkt sich nicht ein Grtner, der von allen seinen Pflanzen den lateinischen Namen wei, wie oft hrt man nicht mit Kenntnis von Namen, Ausdrcken und Zahlen prunken, die sich fr Erkenntnis aus-geben mchte! 1 )

    \Vir werden spter sehen, da in der Tat nur eine einzige Methode wirklich imstande ist, wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten, voll-gltigen Sinne zu vermitteln, also den beiden besprochenen Bedingungen Genge zu tun; vollstndige Bestimmung des Individuellen, und sie zu leisten durch Zurckfhrung auf das Allgemeinste; es ist die Methode der mathematischen Wissenschaften. Bis dahin ist aber noch ein weiter Weg zurckzulegen. Hier kam es nur darauf an, flchtig einige Aus-blicke zu zeigen, die sich auf dem gewonnenen Standpunkte bereits ffnen. Ehe wir diese Ausblicke erweitern, wollen wir uns erst die Mittel schaffen zur schrferen Unterscheidung alles dessen, was sie uns zeigen werden.

    \Vir kehren zn diesem Zwecke zur Analyse des Erkenntnisprozesses zurck, um die bisher nur unvollstndig formulierten Ergebnisse zu przisieren und zu ergnzen.

    4 Das Erkennen durch Vorstellungen. Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden. Und

    alles Wiederfinden ist ein Gleichsetzen dessen, was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird. ber diesen Akt des Gleichsetzens mssen wir jetzt Klarheit schaffen, um unsere Einsicht in das Wesen des Er-kennens zu vertiefen.

    Gleichfinden setzt Vergleichung voraus. Was wird nun beim Er-kenntnisproze miteinander verglichen?

    Die Frage ist leicht genug zu beantworten bei den Erkennungsvor-gngen des tglichen Lebens: dort sind es im allgemeinen V orstellttngen, die verglichen werden. Blicken wir auf unser frheres Beispiel zurck, so sahen wir schon, da ich ein wahrgenommenes Tier dadurch als einen Hund erkenne, da die Wahrnehmungsvorstellung, die ich von dem

    t) Vgl. hierzu LoTzEs Bemerkungen in seinem Mikrokosmos. 5 Aufl. Bd. II. S. 249 f.; ferner VAIHINGER, Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. s. 318.

  • Das Erkennen durch Vorstellungen. -~~--~~ Tiere habe, in gewisser Weise bereinstimmt mit der Erinncrungsvor-stcllung, die ich von Hunden im allgemeinen habe, also mit einer der Vorstellungen, die in meinem Geiste auftauchen, wenn ich die Worte Spitz, Bulldogge, Neufundlnder od. dgl. vernehme. Psychologisch mag sich der Vorgang so abspielen, da bei Gelegenheit der Wahrnehmung die zum Vergleich dienende Erinnerungsvorstellung durch Assoziation hervorgerufen wird, es mgen hier Verschmelzungen stattfinden, es mag eine besondere "Bekanntheitsqualitt" auftreten - mit allem diesem haben wir es nicht zu tun. Aber hinter diesen psychologischen Fragen liegt doch eine erkenntnistheoretische verborgen, deren Verfolgung uns sogleich ein gutes Stck auf unserm Wege weiter bringen \vird.

    Dabei lassen wir hier die fundamentale Frage noch ganz auer Be-tracht (an die der Lcscr zunchst denken mag), wie sich denn die Vor-stellungen zu der Wirklichkeit verhalten, die in ihnen vorgestellt wird. Wir lassen es vorlufig ganz dahingestellt, ob es berhaupt eine von den Vorstellungen verschiedene Wirklichkeit auerhalb des Bewutseins gibt oder nicht. Das Problem, das wir jetzt betrachten mssen, ist davon ganz unabhngig und mu auf jeden Fall zuerst gelst werden.

    Bei der Vergleichung der Vorstellungen, wie sie zum Erkennen er-fordert wird, erhebt sich nmlich eine groe Schwierigkeit. Zur Auf-findung und Feststellung der Gleichheit ist doch, so scheint es, erforder-lich, da die Vorstellungen absolut scharf umrissene und bestimmte Ge-bilde seien. Denn wenn sie etwa verschwommen und undcutlieh sind, wie soll es da mglich sein, Gleichheit mit Sicherheit festzustellen? was knnte uns Gewiheit verschaffen, da kleinere Verschiedenheiten oder selbst betrchtliche Abweichungen nicht bersehen sind? Nun sind aber, wie wir alle aus der Erfahrung wissen, smtliche Erinnerungsvorstel-lungen in der Tat auerordentlich flchtige und unscharfe, nebelgleich zerflieende Gebilde. Wenn ich etwa ein oft gesehenes Objekt, z. B. ein jenseits der Strae stehendes Haus, mir im Geiste vergegenwrtige, so glaube ich vielleicht, das mit groer Przision tun zu knnen, aber sowie ich mich nach irgendwelchen Einzelheiten frage, nach der Zahl der Fen-ster, nach der Form des Daches od. dgl., so bin ich nicht imstande, ber solche Details meiner Erinnerungsvorstellung gcnauc Angaben mit Sicherheit zu machen. Keine Bilder stehen wohl deutlicher vor unserm geistigen Auge als die Gesichter der nchsten Angehrigen, die wir tglich anschauen, und doch stellt sich bei nherer Betrachtung heraus, da auch dergleichen Vorstellungen beraus geringe Klarheit und Be-stimmtheit besitzen. Jede Person bietet ja total verschiedene Gesichts-bilder dar, je nach der Seite, von welcher man sie betrachtet, je nach der Haltung, die sie gerade einnimmt, je nach der Stimmung, in der sie sich befindet, je nach der Kleidung, die sie trgt. Von diesen unendlich vielen Ansichten der Person sind nun in der Erinnerungsvorstellung immer nur ganz wenige Besonderheiten herausgehoben, und auch diese

  • 16 Das Wesen der Erkenntnis.

    nur undeutlich. Man kann sich davon leicht berzeugen, wenn man eine Versuchsperson nach der Farbe der Augen, nach der Nasenform oder der Lage des Scheitels usw. ihrer n~ichsten Angehrigen oder Freunde befragt. Was uns von irgend einem Gegenstand im Gedchtnis haftet, sind nicht irgendwelche Teile oder Einzelh('iten, sondern gewisse dem Gegenstand als Ganzem zukommende Eigentmlichkeiten, die der Psy-chologe "Gestaltqnalitten" nennt.

    Also unsere Vorstellungen sind unzweifelhaft ganz verschwommene und unscharfe Gebilde. Ein Erkennen, das auf dem Vergleichen und der Konstatierung der Gleichheit derartiger Gebilde beruht, mte doch, so sollte man meinen, ein hchst unsicherer und fragwrdiger Proze sein. Dabei sind die Vorstellungen des Gesichtssinnes - nur solche hatten wir eben als Beispiele herangezogen - im allgemeinen noch die allerdeutlichsten.

    Dennoch lehrt die Erfahrung. da das vViedcrerkennen und Erkennen im tglichen Leben mit einer Genauigkeit und Sicherheit stattfindet, die fr gewhnliche Bedrfnisse unter allen Umstnden ausreicht. Diese Tatsache mag psychologisch vor allem darauf beruhen, da wahrschein-lich die ins Bewutsein tretende Wahrnehmungsvorstellung eines Gegen-standes die Erinnerungsvorstellung desselben Gegenstandes mit viel grerer Schrfe ins Gedchtnis ruft, als ohne solchen ueren Anla mglich ist, und dann mit ihr verschmilzt - doch diese Frage iJt, wie bemerkt, nur von psychologischem Interesse. Von erkenntnistheoreti-scher Bedeutung ist aber die Tatsache, da ein Erkennen im alltglichen Leben auf diese 'V eise zustande kommt und praktisch ausreichende Sicherheit besitzt. In der Tat wird es jeder fr ausgeschlossen halten, da ich etwa einen fremden Hund infolge einer Tuschung, eines flsch-liehen Wiedererkennens fr meinen eigenen ansehen knnte, oder da ich bei hinreichend naher Betrachtung meinen eigenen Vater nicht er-kennen wrde, vorausgesetzt natrlich, da der Hund oder der Vater inzwischen nicht - etwa durch den Einflu des Alters - solche Ver-nderungen durchgemacht haben, da wirklich die Wahrnehmungsvor-stellung von der Erinnerungsvorstellung gnzlich verschieden ist; aber in diesem Falle wre ja auch das zu erkennende Objekt in Wahrheit gar nicht dasselbe geblieben, sondern ein anderes geworden.

    Theoretisch freilich - und daran mssen wir gerade vom philosophi-schen Standpunkt aus festhalten - bleibt immer die Mglichkeit, da entweder mdn Gedchtnis nicht zuverlssig war und die Erinnerungs-vorstellungen ganz und gar entstellt hat (bei Geisteskranken kommt ja dergleichen wirklich vor), oder auch, da ein erinnertes und ein wahr-genommenes Objekt sich so sehr gleichen, da die scheinbare Erkenntnis in Wirklichkeit ein Irrtum war. Prinzipiell wre es ja doch mglich, da etwa ein fremder Hund dem meinigen "aufs Haar" gliche und durch die genaueste Betrachtung nicht von ihm unterschieden werden knnte.

  • Das Erkennen durch Vorstellungen. 17 =-=-===~==

    Whrcnd es sich abc~r hier nur um theoretische 1\lglichkeiten handelt, die fr das Leben ohne Bedeutung sind (die Komdie der Irrungen konnte sich nur im Geiste Shakespcares, nicht in Wirklichkeit abspif~lcn), steht es schon ganz anders in solchen Fllen, wo bei dem Proze des Erkennens nkht inclividuf'11e Vorstellungen ins Spiel kommen, wie in den betrach-teten Beispielen, sondern sogenannte "Allgemeinvorstellungen". Mit diesem Worte bezeichnet man Vorstellungen, die in unserem Denken nicht einen einzelnen, individuellen Gegenstand vertreten, sondern gleich eine ganze Klasse von Objekten. Also z. B. die Vorstellung, die dem Worte "Hund" entspricht. Was fr ein Gesichtsbild z. B. steigt in mei-nem Geiste auf, wenn ich dieses Wort hre, wenn ich also an Hunde ganz im allgemeinen denke? Da finden ziemlich bunte psychische Prozesse statt. Meistens wird es so sein, da ein undeutliches Bild eines zu einer bestimmten Rasse gehrigen Hundes, also etwa eines Bernardiners, sich in meinem Bewutsein bildet, und da dabei zugleich der Nebengedanke auftritt, da nicht nur dieser, sondern zugleich auch alle brigen Arten von Hunden in Betracht gezogen werden sollen; und dieser Nebenge-danke wiederum wird sich vieHeicht so in meinem Bewutsein bemerkbar machen, da zugleich, leise angedeutet, auch die Gesichtsvorstellungen von anderen Hundearten, Doggen, Terrier usw. verschwommen und fr einen kurzen Augenblick auftauchen. Soviel steht jedenfalls fest: ganz unmglich kann ich mir eine anschauliche Vorstellung bilden von einem Hunde, der weder ein Bernardiner, noch ein Neufundlnder, noch ein Dackel, noch sonst irgendein bestimmter Hund ist, der weder braun noch wei, weder gro noch klein, kurz, ein Tier, das weiter nichts wre als eben ein Hund im allgemeinen. Es ist unmglich, sich ein Dreieck im allgemeinen vorzustellen, ein Dreieck also, das weder rechtwinklig noch spitzwink1ig, weder gleichschenklig noch ungleichseitig ist, ein Dreieck, dem die allgemeinen Eigenschaften, die jedes Dreieck hat, smtlich zu-kommen, und nur diese, nicht aber irgendwelche spezie1len Eigenschaften. Sowie man sich ein Dreieck vorstellt, ist es schon ein spezielles, denn seine Seiten und Winkel mssen in der Vorstellung doch irgendeine Gre haben.

    Es gibt also berhaupt keine Allgemeinvorstellungen, solange man nicht die Bedeutung des Wortes Vorstellung verschiebt, solange man darunter eben jene Gebilde versteht, die uns in der Sinneswahrnehmung oder der Erinnerung anschaulich gegeben werden. Dieser Satz ist zuerst mit aller Schrfe von RERKELEY ausgesprochen und seitdem zu einem bleibenden Besitz der Philosophie geworden.

    Wenn wir in unserem l>enken mit Allgemeinbegriffen wie "Mensch" oder "Metall" oder" Pflanze" operieren, so geschieht das, wie schon oben angedeutet, meist in der Weise, da ein schwaches individuelles Bild eines Exemplars der gemeinten Gattung vor unser geistiges Auge tritt, und da damit zugleich das Bewutsein sich verknpft, diese Individual-

  • 18 Das Wesen der Erkenntnis.

    Vorstellung solle nur als Reprsentant der ganzen Gattung gelten. So der psychologische Tatbestand.

    Aus ihm ergeben sich, wie man ohne weiteres sieht, betrchtliche erkenntnistheoretische Schwierigkeiten. Wenn schon bei den Individual-vorstellungen die Identifikation und damit das Wiedererkennen wegen der Undeutlichkeit aller Vorstellungen theoretisch niemals als vollkom-men sicher gelten konnte - wie steht es da erst mit Erkenntnissen, durch die ein Individuum als zu einer bestimmten Klasse gehrig be-stimmt wird? Dazu wre ja, wie wir sahen, erfordert, da die Wahr-nehmungsvorstellung, durch die das Individuum uns gegeben ist, ver-glichen wird mit der Vorstellung der ganzen Klasse und beide dann gleich gefunden wrden. Nun kann ich aber von einer ganzen Gattung berhaupt keine Vorstellung haben, sondern sie kann hchstens durch eine indhiduelle ErinnenmgsYorstdlnng rcprse11tiert werden - wie ist da noch ein Vergleichen und Gleichfinden mglich?

    Die Erfahrung lehrt auch hier, da es tatschlich mglich ist und zwar mit einem Grade der Sicherheit, der fr die Flle des tglichen Lebens fast immer ausreicht, aber doch auch schon hier manchmal zu Irrtmern fhrt. Im allgemeinen werde ich einen Hund ganz richtig als Hund erkennen, indem das Wahrnehmungsbild in gengendem Grade bereinstimmt mit irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte. Es werden jedoch auch zweifelhafte Flle vorkommen knnen. Manche Hunde z. B. sehen Wlfen so hnlich, da es bei gegebenen ueren Umstnden ganz wohl zu einC'r V(rw

  • Das Erkennen durch Begriffe. 19

    anderes, scharf Bestimmtes zu setzen, das fest umgrenzt ist und stets mit absoluter Sicherheit identifiziert werden kann. Dies andere, das an die Stelle der Vorstellungen treten soll, sind die Begriffe.

    5 Das Erkennen durch Begriffe. Was ist ein Begriff? Ein Begriff soll sich von einer anschaulichen

    Vorstellung jedenfalls dadurch unterscheiden, da er vollkommen be-stimmt ist und nichts Schwankendes sich an ihm findet. Man knnte daher versucht sein. einfach zu sagen - und in der Tat sagten manche Logiker so -: ein Begriff ist eine Vorstellung mit fest bestimmtem Inhalt. Es gibt aber, wie wir sahen, derartige Gebilde in der psychologischen Wirklichkeit berhaupt nicht, weil eben alle Vorstellungen in irgend-einem Grade unscharf sind. Man knnte sie sich zwar wenigstens als mglich denken, ahcr nur so lange, als es sich um individuelle handelt; bei Allgemeinvorstellungen (und ihrer bedrfte man ja gerade zum Er-kennen) geht auch das nicht an, denn sie sind als reale psychische Wesen-heiten berhaupt unmglich, wie wir uns soeben klar machten.

    Begriffe sind also nicht Vorstellungen, sind nicht reale psychische Gebilde irgendwelcher Art, berhaupt nichts Wirkliches, sondern nur etwas Gedachtes, das wir uns an Stelle der Vorstellungen mit fest be-stimmtem Inhalt gesetzt denken. Wir schalten mit Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit vllig genau umrissenen Eigenschaften wren, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen. Diese Eigen-schaften heien die Merkmale des Begriffes, und sie werden durch be-sondere Bestimmungen festgelegt, die dann in ihrer Gesamtheit die Definition des Begriffes ausmachen. Die Gesamtheit der Merkmale eines Begriffes heit in der Logik bekanntlich sein "Inhalt", die Gesamtheit der Gegenstnde, die er bezeichnet, wird sein "Umfang" genannt.

    Durch die Definition sucht man also das zu erreichen, was man in der Wirklichkeit der Vorstellungen niemals vorfindet, aber zum wissen-schaftlichen Erkennen notwendig gebraucht, nmlich absolute Konstanz und Bestimmtheit. Nicht mehr mit verschwommenen Vorstellungen wird der zu erkennende Gegenstand verglichen, sondern es wird unter-sucht, ob ihm gewisse, durch Definition fixierte Eigenschaften zukom-men, und dadurch wird es mglich, ihn zu erkennen, d. h. mit dem rechten Namen zu bezeichnen. Denn die Definition gibt eben den ge-meinsamen Namen an, mit dem alle Objekte genannt werden sollen, welche die in der Definition aufgefhrten Merkmale besitzen. Oder, in der herkmmlichen Sprache der Logik ausgedrckt: jede Definition ist eine Nominaldefinition.

    Der Begriff spielt also die Rolle eines Zeichens fr alle diejenigen Gegenstnde, unter deren Eigenschaften sich smtliche Merkmale des Begriffs finden.

    Es braucht wohl kaum besonders 1wrYorgchoben zu werden, da die

  • 20 Das Wesen der Erkenntnis.

    Worte ;,Gegenstand" und "Eigenschaft" hier im allerweitesten Sinne zn verstehen sind. Gegenstand kann schlechthin alles sein, an das man nur denken und das man nur bezeichnen kann, also nicht blo "Dinge", sondern ebensowohl etwa Vorgnge, Beziehungen, beliebige Fiktionen, also auch Begriffe usw., und ganz Analoges gilt von dem Ausdruck "Eigenschaft": er soll alles bedeuten, was einen Gegenstand irgendwie charakterisiert und zu seiner Bestimmung dienen kann, mag es nun etwas Greifbares, eine Relation, etwas Eingebildetes oder sonst etwas sein.

    Der Begriff seinerseits mu nun, da er etwas Unwirkliches ist, in allen Denkakten durch irgend etwas psychisch Heales vertreten, be-zeichnet werden, denn das aktuelle Denken ist ja ein realer psychischer Vorgang. Als solch ein Zeichen dient uns, wie bereits hervorgehoben, beim wortlosen Denken hufig eine anschauliche Vorstellung, in der wenigstens einige l\Ierkmale des Bf'griffs annhernd realisiert sind; beim Sprechen wird der Begriff durch Worte, durch Namen bezeichnet, und diese wiederum knnen zum Zwecke der Mitteilung und Fixierung durch Schriftzeichen reprsentiert werden. Die Worte der Sprache werden oft nicht als ZC'khC'n fr HC'griffC', sonrlcrn auch zur Bezeichnung anschau-licher Vorstellnngcn verwendet, besondl'rs im vorwisscnschaftliclwn Sprechen. In der wissenschaftlichen Sprache aber sollten alle Worte soviel als mglich echte Begriffe bezeichnen, so da einige Logiker in der Gegenwart den Begriff sogar umgekehrt als "Wortbedeutung" defi-nieren wollen.

    Da ein Begriff im aktuellen Denken durch anschauliche Vorstel-lungen vertreten wird, schadet trotz der Unschrfe aller derartigen Ge-bilde so lange nichts, als man sich nur bewut bleibt, da es sich eben um eine Vertretung handelt und sich davor htet, alle Eigenschaften der Vorstellung fr Merkmale des Begriffs zu halten. Man kann das in anschaulichen Vorstellungen verlaufende Denken ein bildliebes nennen, und in diesem Sinne ist dann wohl all unser Denken in mehr oder weniger hohem Grade bildlich. Dies braucht aber die Richtigkeit der Ergebnisse unserer Gedanken nicht zu hindern, wenn wir nur dessen eingedenk bleiben, da die anschaulichen Bilder blo Vertreterrollen spielen, und wenn wir stets genau wissen, was sie vertreten. In Wirklichkeit ist das aber nicht immer leicht, und so ist tatschlich die Stellvertretung der Begriffe durch Vorstellungen wohl die ergiebigste Quelle von Irrtmern im Denken aller Philosophen gewesen. Der Gedanke fliegt vorwrts, ohne die Tragfhigkeit seiner Flgel zu prfen, ohne nachzusehen, ob die Vorstellungen, die ihn tragen, ihre begriffliche Funktion auch richtig erfllen. Das mu aber durch stetes Zurckgehen auf die Definitionen festgestellt werden. Nicht selten fehlen sogar brauchbare Definitionen ganz, und der Philosoph wagt den Flug mit Vorstellungen, die durch kein festes begriffliclH's Gerst gehalten werdC'n. Verirrung und frh-zeitiger Sturz ~ind die Folge.

  • ])ns Erk~nn~n dun:h Begriffe. 21

    Es soll hier nicht unerwhnt bleiben, da man gegenwrtig immer nachdrcklicher betont und auch durch experimentelle Untersuchungen zu erhrten sucht, da keineswegs alles Denken nur anschaulicher, bild-lieher Natur sei. Das ist zweifellos richtig; man darf aber natrlich nicht etwa glauben, da dieses unanschauliche Denken ein Denken in reinen Begriffen wre, ein Denken, in welchem sich Begriffe realiter aufweisen lieen, wie Vorstellungen im anschaulichen Denken. J cne unanschau-lichen Gedanken bestehen vielmehr in gewissen realen, von der Psycho-logie nher zu untersuchenden Bewutseinsvorg~ingen (vorzugsweise "Akte" genannt}, und als solche tragen sie den Charakter des Unscharfen und Flchtigen, whrend Begriffe das schlechthin Bestimmte und Scharfe sein sollen. Die "Akte" knnen immer nur, wie die Vorstellungen im bildliehen Denken, Reprsentanten von Begriffen sein, nicht aber diese selbst. lVelche psychischen Zustnde oder Prozesse beim wirklichen Denken die Begriffe vertreten, ob anschauliche Vorstellungen oder etwas anderes, das ist eine rein psychologische Frage, die uns hier nicht inter-essiert. Da die einen Begriff reprsentierenden Bilder nicht seine "Be-

  • 22 Das Wesen der Erkenntnis.

    \Vissen, dieses l'v.f einen der Tne, dieses Gerichtetsein, diese "Intention" auf den Gegenstand der Vorstellung, ist etwas von dieser letzteren ganz Verschiedenes, eben ein seelischer Akt, eine psychische Funktion. Sie ist nicht nur etwas anderes als eine anschauliche Vorstellung, sondern nach C. STUMPF nicht einmal notwenrlig an solche gebunden 1). Die Einsicht in die grundlegende Bedeutung dieser Funktionen fr das Verstndnis dC's geistigen Lelwns ist eine wichtige Errungenschaft der modernen Forschung, die besonders dem eben erwhnten Psychologen zu danken ist, welcher in der Untersuchung der Funktionen geradezu die Aufgabe der Psychologie erblickt. Auch die Schule 0. KuLPEs und E. HussERL haben groe Verdienste um die Wrdigung der "Akte". Zu diesen Funktionen gehrt nun auch das Denken eines Begriffes, das Gerichtetsein auf ihn. Die begriffliche Funktion ist also etwas Wirk-liches, nicht aber der Begriff selber.

    Doch diese' BcmC'rkungcn nur nelwnbC'i zur psychologischen Klrung. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der begrifflichen Funktion be-steht eb

  • Das Erkennen durch Begriffe.

    und unerschpflich, ist doch streng genommen kein einziges Erlebnis irgendeinem andern genau gleich. Die gegenwrtig so viel gepriesene und gebte Methode der "phnomenologischen Analyse", welche eben jene Unterscheidungen zur Aufgabe hat, fhrt deshalb um so mehr ins Ufer-lose, je strenger sie durchgefhrt wird, ohne doch wirkliche Erkenntnisse zu vermitteln. Sie bereitet solche nur vor. Denn sie fhrt nirgends das eine auf das andere zurck, sondern sucht im Gegenteil alles mglichst voneinander zu trennen, auseinander zu halten.

    Doch sei dies nur nebenbei bemerkt. Wir kehren zu unseren Er-rterungen ber das Wesen des Begriffs zurck.

    Man hat sich oft dagegen gestrubt, den Begriffen jede Existenz abzusprechen, wie wir das oben taten, indem uns das Reden vom Begriff gleichsam nur als abkrzende Sprechweise galt, weil es nur begriffliche F1-tnktionen wirklich gibt. Aber es bestehen doch ganze \Vissenschaften, die nichts als Begriffe und deren Verhltnisse zum Gegenstande haben, wie Mathematik und reine Logik, und es scheint daher, als knne man das Sein der Begriffe nicht leugnen, ohne zu so absurden Behauptungen zu kommen wie einst OKEN, der so hbsch sagte: "Die Mathematik ist auf das Nichts hcgrndct, und entspringt mithin aus dem Nichts". Deshalb zieht man es meist vor, zu sagen: es gibt Begriffe, ihnen kommt ebensowohl ein Sein zu, wie etwa sinnlichen Objekten, aber nicht ein reales, wie diesen, sondern ein ideales Sein. Die Begriffe des Dreieckes, der Zahl Fnf, des Syllogismus usw. haben gewi, so schliet man, nirgendwo reale Existenz; da man aber doch vielerlei gltige Aussagen von ihnen machen kann, so sind sie auch nicht nichts, man mu ihnen also eine Art von Sein zuschreiben, das man eben als ideales bezeichnet zum Unterschiede vom wirklichen Sein.

    Gegen diese Ausdrucksweise lt sich ohne Zweifel gar nichts ein-wenden, solange sie nur eine rein terminologische Bedeutung behlt. Aber gar zu leicht fhrt diese Rede von den idealen Gegenstnden zu unklaren und irrigen Anschauungen, die in die Richtung der platonischen Metaphysik weisen, an die sie sich in der sprachlichen Formulierung an-lehnen. Man gelangt unvermerkt dazu, der Welt des Wirklichen eine von ihr 'Unabhngige Welt des idealen Seins gegenberzustellen, das Reich der Ideen, das Reich der Werte und Wahrheiten, des Geltenden, eben die unzeitliehe Welt der Begriffe. Sie erscheint als eine starre, an sich selber existierende Welt, in der Begriffe und Wahrheiten unver-nderlich thronen, und die auch da sein wrde, wenn es gar kein Reich des realen Seins gbe; denn, so sagt man, es wre z. B. 2 mal 2 auch dann gleich 4, wenn berhaupt nichts Wirkliches existierte. Und dann erhebt sich die Frage nach dem V crhiiltnis der beiden Reiche zueinander, nach den Beziehungen des J dealen zum Realen, mit zahlreichen Schein-problemen, welche die philosophische Spekulation belasten. Man stellt sich vor, da die idealen Gegenstnde durch reale Prozesse irgendwie

  • Das Wesen der Erkenntnis.

    erfat oder ergriffen wrden, Begriffe durch Vorstellungen, Wahrheiten durch Urteilsakte usw., und man hat fr den Akt des Erfassens den besonderen Namen Ideation erfunden. So wird das aufzuklrende Ver-hltnis in Wahrheit immer unklarer, zumal man den letzten Schritt zur vlligen Hypostasiernng der B

  • Grenzen des Definierens.

    psychischer Wirklichkeit. Wie also reale Dinge oder Vorstellungen nicht aufgebaut werden knnen aus bloen Begriffen, so knnen Begriffe auch nicht aus Dingen und Vorstellungen durch \Veglassung bestimmter Eigenschaften entstehen.

    Man kann im allgcm~inrn i1h~rhanpt nicht dnP Eig~nschaft von einem Dinge fortdenken und die brigen ungendert bestehen lassen. ldt kann z. B. nicht rkn Rrgriff d~r math~matisdwn Kngf'l hilcl~n. inrlem ich mir eine wirkliche Kugel vorstelle und dann von allen ihre physi-

    sch~n Eig~nschaft~n. wi(~ Farb~ 11sw. ahstrahif'r~; df'nn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel von gar keiner Farbe visuell vorstellen. Nicht dadurch also gelangt man zu den Begriffen, da man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortliee (denn es ist, wie das Beispiel eben lehrte, unmglich, sie einfach ohne Ersatz fortzulassen), sondern dadurch, da man die Merkmale von-einander unterscheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hu~IE 1 ) eingesehen hat, dadurch ermglicht, da die einzelnen Merkmale unahhn{!,iR voneinander verii.ndcrlich sind: so ver-mag ich bei der Kugel

  • Das \Vcs('n der Erkenntnis.

    rungcn, zu unterscheiden. Ganz anders jedoch, wenn ich den wissen-schaftlichen Begrilf des Silbers zu Hilfe nehme. Dann ist es definiert als ein Stoff vom spezifischem Gewicht 10,5, vom Atomgewicht 108, von bestimmter elektrischer Leitfhigkeit usw., und ich brauche nur nachzusehen, ob das mir vorliegende Metall diese Eigenschaften besitzt, um mit aller wnschenswerten Genauigkeit zu entscheiden, ob ich Silber vor mir habe od die Wie

  • Grenzen des Dcfinicrcns.

    erkennung mit hinreichender Genauigkeit garantiert werden kann, ob-gleich sie in letzter Linie nur mit Hilfe sinnlicher Vorstellungen zustande kommt. Und hnliches gilt in allen anderen Fllen.

    Mgen jedoch die Anforderungen der Praxis und aller Wissenschaften auf diese Weise in noch so weitreichendem Mae befriedigt sein: die An-forderungen der Erkenntnistheorie sind nicht befriedigt. Fr sie besteht jene Schwierigkeit im Prim;ip fort, wie weit sie sich auch hinausschieben lasse. Sie mu vielmehr fragen, ob die Schwierigkeit sich ganz beseitigen lt. Nur wenn das der Fall ist, scheint es absolut sichere Erkenntnis geben zu knnen. Auf diese Frage also konzentriert sich das Interesse der Erkenntnislehre.

    Leicht genug, so scheint es, lt sich die Antwort durch eine kurze berlegung finden. Die Definition eines Begriffes besteht in der Angabe seiner Merkmale; diese aber mssen zu ihrer genauen Bestimmung wie-derum definiert, d. h. in weitere Merkmale aufgelst werden, und so fort. Mte und knnte nun die Reihe der Subdefinitionen ohne Aufhren fortgesetzt werden, so wrde durch diesen Regressus in infinitum natr-lich a11es Definieren berhaupt i11usorisch gemacht. In der Tat kommt man aber sehr bald auf Merkmale, clie sich schlechterdings nicht mehr definieren lassen; die Bedeutung der diese letzten Merkmale bezeich-nenden Worte kann nur demonstriert werden durch die Anschauung, durch unmittelbares Erleben. Was "blau" ist oder was "Lust" ist, kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erleheus von Lust. Damit scheint aber unsere Frage endgltig, und zwar verneinend beantwortet zu sein: das schlieliehe Zurckgehen auf das unmittelbar Gegebene, auf Anschauung und Erlebnis, ist unvermeidlich, und da allem Derartigen prinzipiell stets eine gewisse Unschrfe anhaftet, so erscheint die Ge-winnung absolut exakter Begriffe berhaupt unmglich. Mssen wir also nicht schon hier dem Skeptizismus recht geben, der jede unanfechtbar sichere Erkenntnis leugnet?

    Hier mu eine wichtige Bemerkung eingeschaltet werden. \Venn wir von der Undeutlichkeit anschaulicher Gebilde reden, so ist das nicht so zu verstehen, als seien psychische Erlebnisse nicht etwas vollkommen bis ins kleinste Bestimmtes; als reale Vorgnge sind sie vielmehr in jeder Hinsicht durchaus bestimmt - jedes Wirkliche ist in eindeutig be-stimmter Weisegenauso wie es ist und nichts anderes -; die Unschrfe, von der wir hier reden, ist aber doch immer vorhanden. Wohl sind diese Vorgnge stets vllig bestimmt, aber in jedem Augenblick anders; sie sind flchtig und vernderlich, schon die Erinnerung des nchsten Mo-mentes ist nicht imstande, den vorhergehenden vollkommen genau zu reproduzieren. Zwei nahezu gleiche Farben, zwei fast gleich hohe Tne knnen nicht voneinander unterschieden werden; es ist nie mit Sicher-heit zu sagtn, oh zwei nahezu parallde Kantc~n cimn Winkel miteinandf'r

  • Das Wesen der Erkenntnis.

    bilden oder nicht: kurz - wenn auch Anschauungen als reale GcbildP nicht eigentlich als an sich unbestimmt bezeichnet werden drfen, so geben sie doch zu Unbestimmtheit und Unsicherheit Anla, sowie man Urteile ber sie fllen will, denn dazu ist ein Vergleichen, ein Imgedcht-nisbehalten t.'rfon.h-rlich, dem ihre Flchtigkeit widerstrebt. Abkrzend werden wir diese Tatsache auch fernerhin so ausdrcken, da allem An-schauen oder sonstigem Erleben die vllige Schrfe und Exaktheit mangelt.

    Bis in die neueste Zeit hinein hat sich die Logik im allgemeinen bei der geschilderten Sachlage beruhigt. Sie hat erklrt, da jene letzten Begriffe, bei denen alles Definieren Halt machen mu, einer Definition nicht blo nicht fhig, sondern auch gar nicht bediirftig wren; die Sucht, alles definieren zu wollen, erschien als berflssige Spitzfindigkeit, welche den Ban der \Yissenscltaft strt. statt ihn zu frdern. Der Inhalt der einfachstE'n Begriffc wird in der Anschauung aufgezeigt (z. B. die Hhe des TonE's "a" durch Erklingenlassen einer Stimmgabel), und eine solche Aufzeigung leistet ungefhr das, was ARISTOTELES als Leistung der so-genannten Realdefinition vorschwebte, nmlich die Angabe des "We-sens" des durch den Begriff bezeichneten Gegenstandes. Man hat diese Aufzeigung auch wohl als "konkrete" oder als "psychologische" Defini-tion bezeichnet, im Gegensatz zur eigentlichen, logischen Definition, von der jene natrlich toto genere verschieden ist.

    Die Erklrung nun, da fr die einfachsten Begriffe eine Definition entbehrlich sei, kann zweierlei heien.

    Erstens kann cs bctlcutcn. da die Anschauung doch imstande sei, gewissen Begrifkn eincn vollkomnH'n klaren und bestimmten Inhalt zu geben; in diesem Falle mte unsere Behauptung von der Unschrfe aller Anschauung (im oben crlntt:'rtcn Sinne) widerlegt und berichtigt werden.

    Zweitens aber kann es bedeuten, da wir einer absolut exakten, prinzipiell vollkommenen Erkenntnis nirgends bedrfen. Damit wre vorausgesetzt, da dem Menschen auf allen Gebieten nur approximatives oder wahrscheinliches Erkennen erreichbar sei und da daher das Ver-langen nach absoluter Sicherheit keinen Sinn habe.

    Was zunchst die zweite Alternative angeht, so ist sie in vollem Umfange nur von ganz wenigen Philosophen vertreten worden. Als historisches Beispiel wi\re hier etwa eine Lehre wie die des Sophisten GORGlAS zu nennen; doch auch die radikalste empiristische Theorie, wie sie etwa von J OHN STUART l\hLL ausgebildet wurde, mndet, streng folgerecht durchgefhrt, in die gleiche Ansicht. Nach ihr drfte fr keine Erkenntnis absolute Gewiheit in Anspruch genommen werden, also auch nicht fr die sogenannten reinen Begriffswahrheiten, wie z. B. die Stze der Arithmetik, denn auch zur Einsicht in solche Erkenntnisse wie etwa die, da 3 mal 4 gleich 12 ist, gelangen wir schlielich nur durch reale psychische Prozesse, die an jener Unsch~irfe alles Gegebenen teil-

  • Die implizite Definition. 29

    haben. Das erkenntnistheoretische Problem, zu wekhcm man beim Durchdenken dieses Standpunktes gelangt, werden wir erst spter zu behandeln haben; dann wird sich von selbst ergeben, welche Stellung wir gegenber der zweiten der beiden Alternativen einnehmen mssen, die hier zur Erwiigung stehen. l'iir jetzt wenden wir uns nun der ersten zu.

    Wenn es sich darum handelt, die Sicherheit und Strenge von Er-kenntnissen zu retten, obgleich sie durch flchtige, unscharfe Erlebnisse zustande kommen, so kann man das nur auf dem Wege, da man an-nimmt, die Erlebnisse seien doch nicht in jeder Hinsicht in irgendeinem Grade undeutlich, es sei vielmehr an ihnen etwas vollkommen Kon-stantes, scharf Bestimmtes, das unter Umstnden rein zutage trete. Da aber an der Flchtigkeit des jeweils Gegebenen nicht zu zweifeln ist, so kann jenes Konstante nur das Gesetz sein, welches es beherrscht und ihm seine Form gibt.

    Hier ffnen sich Mglichkeiten, mit denen man hoffen knnte, aus dem hcraklitischen Flusse der Erlebnisse ein festes Uff~r zu gewinnen. Es scheint freilich, als msse immer ein prinzipieller Zweifel zurck-bleiben: Gesetzt nmlich, unsere anschaulichen Vorstellungen werden irgendwie von absolut strengen Regeln beherrscht (und das ist sicherlich der Fall), so fragt es sich immer noch, was wir denn von ihnen wissen. Besteht unser Wissen nicht seinerseits in letzter Linie aus flchtigen Erlebnissen? Dann wrde sich die Frage von neuem erheben, und so ginge es ohne Abschlu fort.

    Hier ist noch nicht der Ort, zu entscheiden, wie weit dieser Zweifel recht hat, ob man also wirklich der absoluten Strenge nicht mehr ver-sichert ist, sobald man auf die anschauliche Bedeutung der Begriffe zurckgeht. - Wie die Entscheidung auch fallen mge, die Erkenntnis-theorie mu fr einen ungnstigen Ausgang gerstet sein; es ist also von hchster Wichtigkeit fr sie, zu untersuchen, ob man wirklich den Inhalt aller Begriffe in lehtcr Linie nur im Anschaulichen finden kann, oder ob nicht unter Umstnden von der Bedeutung eines Begriffes auch ohne Zurckfhrung auf anschauliche Vorstellungen sinnvoll die Rede sein darf. Die Bestimmtheit solcher Begriffe knnte dann sichergestellt sein, unabhngig davon, welcher Grad von Schrfe unseren Anschau-ungen eigentmlich ist, das ewig Flieende unserer Erlebnisse brauchte uns nicht mehr zu schrecken, unbekmmert darum knnte es doch ein streng exaktes Denken geben.

    In welchem Sinne Derartiges in der Tat behauptet werden darf, soll im nchsten Paragraphen gezeigt werden.

    7 Die implizite Definition. Obwohl die Logik der soeben aufgeworfenen Frage von Anbeginn

    ins Auge sehen konnte, ist der Ansto zu ihrer endgltigen Erledigung doch nicht von ihr selber ausgegangen, sondern von der Einzelforschung,

  • Das Wesen der Erkenntnis. ===============----- ---------

    deren Bedrfnissen sich die Logik, hier wie in den meisten Fllen, erst nachtrglich anpate. Unter den Einzelwissenschaften konnte natur-gem auch nur diejenige bis zur strengen Formulierung unserer Frage vordringen, in deren Charakter es liegt, da jedem ihrer Schritte absolute Sicherheit gewhrleistet werden soll: die Mathematik. Fr die brigen Wissenschaften, die nicht blo wegen unzulnglicher Definitionen, son-dern schon aus anderen Grnden solche hohen Ansprche an Strenge nicht erheben konnten, fehlte jeder Anla zu einer so prinzipiellen Frage-stellung. Trotzdem ist die Bedeutung der nun zu besprechenden Unter-suchungen keineswegs auf die Mathematik beschrnkt, sie gelten viel-mehr im Prinzip fr alle wissenschaftlichen Begriffe ganz ebenso wie fr die mathematischen; die letzteren legen wir aber zweckmig der Betrachtung als Paradigma zugrunde.

    Als die Mathematiker zu der Einsicht gelangt waren, da die elemen-tarsten geometrischen Begriffe, wie etwa der des Punktes oder der Ge-raden, nicht eigentlich definierbar sind, d. h. in noch einfachere Begriffe auflsbar, beruhigten sie sich zuerst dabei, weil die Bedeutung dieser Begriffe in der Anschauung mit so groer Deutlichkeit gegeben war, da es schien, als knne die Gltigkeit der geometrischen Axiome aus ihr ohne weiteres mit vollkommener Sicherheit abgelesen werden. Der neueren Mathematik aber gengte der Hinweis auf die Anschauung nicht. Sie wandte sich den Prinzipienfragen zu, sie suchte auer nach neuen geometrischen Stzen auch nach den Grnden der Gltigkeit aller geometrischen Wahrheiten. Die mathematische Beweisfhrung, d. h. die Ableitung neuer Stze aus schon bekannten, gewann immer mehr an Strenge, indem man jede Berufung auf die Anschauung zu ver-meiden strebte; nicht aus ihr, sondern aus ausdrcklich formulierten Stzen wollte man alle Schlufolgerungen rein logisch ableiten. Wen-dungen, wie "Aus Betrachtung der Figur folgt ... "oder "Aus der Zeich-nung sieht man ... " waren fortan verpnt, vor allem aber sollten im geometrischen Beweise nicht stillschweigend Eigenschaften benutzt werden, deren Vorhandensein nur durch die Anschauung der verwen-deten Figur festgestellt war; es galt vielmehr, ihr Bestehen aus den Vor-aussetzungen und Axiomen auf logischem W

  • Die implizite Definition. 31

    sich auch die von ihnen geltenden Axiome nur aus der Anschauung ab-lesen; und die Legitimitt einer solchen Begrndung steht eben in Frage.

    Um solche Unsicherheit zu vermeiden, beschritten nun die Mathe-matiker einen Weg, der fr die Erkenntnistheorie von hchster Bedeu-tung ist. Nachdem manche Vorarbeit geleistet war 1), hat DAVID Hn.-BERT es unternommen 2), die Geometrie auf einem Fundamente aufzu-bauen, dessen absolute Sicherheit nirgends durch Berufung auf die An-schauung gefhrdet wird. Ob HILBERT nun im einzelnen diese Aufgabe vollkommen gelst hat, oder ob seine Lsung noch vervollstndigt und verbessert werden mu, das interessiert uns hier gar nicht. Hier kommt es allein auf das Prinzip an, nicht auf die Durchfhrung und Ausge-staltung.

    Und dies Prinzip ist von berraschender Einfachheit. Die Aufgabe war: die im gewhnlichen Sinne undefinierbaren Grundbegriffe auf solche Weise einzufhren, da die Gltigkeit der von ihnen handelnden Axiome streng verbrgt wird. Und sie wird nach HILBERTeinfach so gelst, da man festsetzt: die Grundbegriffe sollen eben dadurch definiert sein, da sie den Axiomen gengen.

    nas ist die sogenanntP Definition dnrch Axiom(, oder Definition durch Postulate, oder die implizite Definition.

    Es ist nun wichtig, sich ganz klar darber zu werden, was diese Art des Definierens bedeutet und leistet und wodurch sie sich von der ge-whnlichen unterscheidet. Alles Definieren in der Wissenschaft ber-haupt hat den Zweck, Begriffe zu schaffen als scharf bestimmte Zeichen, mit denen sich die Erkenntnisarbeit vllig sicher verrichten lt. Die Definition baut den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu eben dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denkarbeit aber - alsbald werden wir ihr Wesen noch nher zu betrachten haben -besteht im Schlieen, das heit im Ableiten neuer Urteile aus alten. Von Urteilen, von Aussagen allein kann das Schlieen seinen Anfang nehmen; zur Verwertung des Begriffs beim Denkgeschfte wird also von seinen Eigenschaften keine andere gebraucht als die, da gewisse Urteile von ihm gelten (z. B. von den Grundbegriffen der Geometrie die Axiome). Fr

  • ~2 Das \Vesen der Erkenntnis.

    mathematischen \Vahrheiten auseinander, ist also die anschauliche Be-deutung der Grundbegriffe ganz belanglos; es ist daher fr die Gltigkeit und den Zusammenhang der mathematischen Stze schlechthin gleich-gltig, ob wir z. B. unter dem Worte "Ebene" gerade dasjenige anschau-liche Gebilde Yerstehen, das jedermann beim Hren des Wortes sich vor-stellt, oder irgendein anderes: nur darauf kommt es an, da das Wort ein gewisses Etwas bedeutet, von welchem bestimmte Aussagen {die Axiome) gelten. Und von den brigen in diesen Axiomen noch vorkom-menden Begriffen gilt wohlgemerkt genau das gleiche: auch sie sind allein dadurch definiert, da sie zu den andern in jenen bestimmten Bezie-hungen stehen.

    So beginnt denn die HILBERTsche Geometrie mit einem System von Stzen. in denen eine Reih(' von \\'orten auftritt, wi

  • Die implizite Definition. 33

    fach die Stze der gewlmlichen Euklidischen Geometrie nehmen und berall, wo das Wort "Ebene" in diesen Stzen auftritt, darunter eine jener Kugelflchen verstehen, unter dem Worte "Punkt" wiederum einen Punkt, unter dem Worte "Gerade" aber grte Kreise auf den Kugel-flchen, in analogerWeise das Wort "parallel" umdeuten usw. Es be-stehen mithin in jenem Gebsch zwischen den Kugeln, grten Kreisen usw. ganz genau dieselben Relationen wie zwischen Ebenen, Geraden usw. im gewhnlichen Raume (aus welchem kein Punkt ausgeschlossen ge-dacht ist); das anschauliche Bild ist aber in beiden Fllen fr uns natr-lich ein total anderes. Wir haben also ein Beispiel von Gebilden, die ein anderes anschauliches Aussehen haben als die Geraden und Ebenen der gewhnlichen Geometrie, aber doch in denselben Beziehungen zueinander stehen, denselben Axiomen gehorchen. Es ist dem Mathematiker ein Leichtes, beliebig viele andere Gebilde zu ersinnen, die ganz dasselbe leisten.

    Ein anderes Beispiel: Die Stze der sogenannten Riemannschen Geo-metrie der Ebene sind vollkommen identisch mit denen der Euklidischen sphrischen Geometrie, wenn unter den Geraden der ersteren grte Kreise der letzteren verstanden werden usw. Ferner: die Stze der pro-jektiven Geometrie bleiben richtig, wenn man darin die \V orte Punkt und Gerade miteinander vertauscht, und wie verschieden sind die an-schaulichen Gebilde, die wir mit jenen Worten gewhnlich bezeichnen!

    Diese Beispiele lieen sich leicht beliebig vermehren. Auch die theore-tische Physik bietet ihrer genug: es ist ja bekannt, da wesensverschie-dene Erscheinungen doch denselben formalen Gesetzen gehorchen; eine und dieselbe Gleichung stellt die eine oder die andere Naturerscheinung dar, je nachdem man den in ihr auftretenden Gren die eine oder die andere physikalische Bedeutung gibt. Ein einfachster, jedem gelufiger Fall, in welchem die Beziehungen der Begriffe zueinander gnzlich los-gelst erscheinen von ihrem anschaulichen Gehalt, liegt vor in den For-meln, deren man sich zur Verdeutlichung der Aristotelischen Schlu-figuren zu bedienen pflegt. Wenn aus den beiden Stzen "M ist P" und "S ist M" gefolgert wird "S ist P", so gilt diese Relation vollkommen unabhngig davon, welche Bedeutung die Symbole S, :M und P haben. Auf diese kommt es berhaupt nicht an, sondern nur darauf, da die Begriffe in den durch die Vorderstze angegebenen Beziehungen stehen: S kann ebensogut etwa einen Menschen wie eine Schiffsschraube oder einen Logarithmus bezeichnen. Man sieht leicht, da mit jeder Einfh-rung mehrdeutiger Symbole ein Anfang zu der Trennung des Inhaltes von der bloen logischen Form gemacht ist, die bei konsequenter Verfolgung schlielich zur Begriffsbestimmung durch implizite Definitionen fhrt.

    Wir sehen also: der streng deduktive Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie er etwa in der Mathematik uns vorliegt, hat mit dem an-schaulichen Bilde, das wir uns von den Grundbegriffen machen, gar

  • 34 Das \Vesen der Erkenntnis.

    nichts zu tun. Fr ihn kommt allein dasjenige in Betracht, was durch die impliziten Definitionen festgelegt wird, nmlich die in den Axiomen ausgesprochenen Beziehungen der Grundbegriffe zueinander. Fr die Mathematik als festes Gefge zusammenhngender Stze haben die an-schaulichen Vorstdlnngen, die wir mit dC'n Worten Ebene, Punkt usw. verknpfen, nur die Bedeutung von illustrierenden Beispielen, die durch ganz andere Beispiele ersetzt werden knnC'n, wie wir eben an bestimmten Fllen uns klar machten. Was in den besprochenen Fllen an die Stelle der gewhnlichen Bedeutung der Grundbegriffe trat, waren freilich immer noch rumliche Gebilde, die uns aus der gewhnlichen Geometrie bekannt waren; prinzipiell steht aber nichts im Wege, uns darunter auch ganz andere, unrumliche Gegenstnde zu denken, etwa Gefhle oder Tne. Oder auch ganz unanschauliche Dinge: bedeutet doch z. B. in der analyti-schen Geometrie das \Vort "Punkt" streng genommen nichts anderes als den Inbegriff drC'ier Zahlen. Denn da diesen Zahlen die auschanliehe Bedeutung von rumlichC'n Koordinat{'n beigelegt werden kann, ist fr ihre Beziehung{'n znC'inander und fr die Rechnung mit ihnen ganz gleichgltig.

    Die Geometrie als fester Bau streng exakter Wahrheiten ist also nicht eigentlich Wissenschaft vom Raume, sondern die rumlichen Gebilde spielen nur die Rolle von anschaulichen Beispielen, in welchem die in den geometrischen Stzen in abstracto aufgestellten Beziehungen ver-wirklicht sind. Ob nun umgekehrt die Geometrie, sofern sie Wissen-schaft vom Raume sein will, als ein festgefgter Bau von absolut strengen \Vahrheiten angesehen werden darf - diese Frage aus der Theorie der mathematischen Erkenntnis soll hier nicht entschieden werden, denn wir haben es vorlufig nur mit den allgemeinen Problemen zu tun. Da aber die Bejahung der Frage keineswegs selbstverstndlich ist, wie man das sonst wohl glaubte, geht aus allem Gesagten schon genugsam hervor, denn gerade der Zweifel an der absoluten Strenge der Aussagen ber anschauliche rumliche Gebilde war es ja, der dazu fhrte, die Begriffe nicht mehr durch Beziehung auf die Anschauung, sondern durch ein System von Postulaten zu definieren.

    Die Bedeutung und Leistung dieser impliziten Definition und ihr Unterschied von der gewhnlichen Art des Definierens drften jetzt wohl klarer geworden sein. Bei letzterer endet der Definitionsproze damit, da die letzten indefiniblen Begriffe irgendwie in der Anschauung auf-gezeigt werden (konkrete Definition, vgl. S. 28), man weist also dabei immer auf etwas \Virkliches, individuell Existierendes hin, man erlutert etwa den BC'griff des Punktes durch DC'monstration eines Sandkrnchens, den der GeradC'n durch eine gespannte Schnur, den der Gerechtigkeit durch Hinweis auf bestimmte Gefhle, die der zu Belehrende in der Wirk-lichkeit seines Bewutseins vorfindet - kurz, durch rlic konkrete Defini-tion wird der Zusamn1C'nhang der Begriffe mit der \Virklichkeit hergc-

  • ===========D_i~c=t=.m=p=l=iz=i=te==D=e=f=in=t=.t=io=n===~~===========- 35 stellt, sie zeigt in der anschaulichen oder erlebten Wirklichkeit dasjenige auf, was nun durch den Begriff bezeichnet werden soll. Die implizite Definition dagegen steht nirgends in Gemeinschaft oder Verbindung mit der Wirklichkeit, sie lehnt sie absichtlich und prinzipiell ab; sie verharrt im Heich der Begriffe. Ein mit Hilfe impliziter Definition geschaffenes Gefge von Wahrheiten ruht nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebt gleichsam frei, wie das Sonnensystem die Gewhr seiner Stabilitt in sich selber tragend. Keiner der darin auftretenden Begriffe bezeichnet in der Theorie ein Wirkliches, sondern sie bezeichnen sich gegenseitig in der Weise, da die Bedeutung des einen Begriffes in einer bestimmten Konstellation einer Anzahl der brigen besteht.

    So bedeutet also das Aufbauen jeder strengen deduktiven Wissen-schaft ein bloes Spiel mit Symbolen. In einer so abstrakten Wissen-schaft wie z. B. der Zahlentheorie ist es wohl die Lust an diesem Begriffs-spiele selber, um deren willen der Mensch das Gebude auffhrt; in der (ieometrie dagegrn, und noch viel mehr in allen Wirklichkeitswissen-schaften, ist es vor allem das Interesse an gewissen anschaulichen oder wirklichen Gcgenst1i.ndcn, welches fr uns den Anla zur Knpfung dcc; Begriffsnetzes abgibt. Nicht so sehr an den abstrakten Zusammen-hngen selbst haftet hier das Interesse, als vielmehr an den anschaulichen Beispielen, die den begrifflichen Beziehungen parallel gehen. Im allge-meinen beschftigen wir uns mit dem Abstrakten nur, um es auf das Anschauliche anzuwenden. Aber - und dies ist der Punkt, zu dem unsere Betrachtung hier immer wieder zurckkehrt - im Augenblick der bertragung der begrifflichen Relation auf anschauliche Beispiele ist die exakte Strenge nicht mehr verbrgt. Wenn irgendwelche wirk-lichen Gegenstnde uns gegeben sind, wie knnen wir jemals mit abso-luter Sicherheit wissen, da sie in genau denjenigen Beziehungen zu-einander stehen, die in den Postulaten festgelegt sind, durch die wir unsere Begriffe definieren knnen?

    KANT glaubte, eine unmittelbare Evidenz versichere uns dessen, da wir in der Geometrie und der reinen Naturwissenschaft apodiktisch ge-wisse Urteile ber anschauliche und wirkliche Objekte zu fllen ver-mgen. Fr ihn handelte es sich nur darum, diese Tatsache zu erklren, nicht darum, ihr Bestehen zu erweisen. Wir aber, die in jenem Glauben schwankend geworden sind, befinden uns in einer ganz anderen Lage. Wir haben nur das Recht zu sagen: die KANTsche Erklrung wre wohl geeignet, eine vorhandene apodiktische Wirklichkeitserkenntnis ver-stndlich zu machen; da sie aber vorhanden ist, drfen wir - wenig-stens an diesem Punkte der Untersuchung - nicht behaupten, und es ist hier auch nicht abzusehen, wie der Beweis fr ihr Restchf'n erbracht werden sollte.

    Ehen deshalb ist es von um so grerer \:Vichtigkeit, da wir in der impliziten Definition ein Mittel gefunden haben, welches vollkommene

  • Das Wesen der Erkenntnis.

    C'stimmthcit von f'griffcn und damit strf'ngc Exaktheit des Dcnkcns ermglicht. Allerdings bedurfte es dazu einer radikalen Trennung des Begriffes von dC'r Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit. Wir beziehen beide Sphren wohl aufeinander, aber sie scheinen gar nicht miteinander verbunden, die Brcken zwischen ihnen sind abgebrochen.

    Mag dieser Kaufpreis auch sehr hoch erscheinen, er mu vorlufig gezahlt werden. Wir drfen ja nicht mit der vorgefaten Absicht ans Werk gehen, die Strenge und Gltigkeit unserer Wirklichkeitserkenntnis unter allen Umstnden zu retten, sondern unsere Aufgabe ist allein das Erkennen der Erkenntnis. Und auf dem Wege dazu sind wir ein be-achtenswertes Stck vorwrts gekommen durch die Einsicht in die Mg-lichkeit einer vollstndigen Scheidung beider Reiche. Je deutlicher und entschlossrnrr wir dirsr Scheidung hier vollziehen, um so klarer werden wir die Brzirhungrn berschauen, in die sie im Erkenntnisakt zueinander treten.

    Anhangsweise und zur Vermeidung von Miverstndnissen sei noch hervorgehoben, da nicht etwa jede beliebige Gruppe von Postulaten sich auffassen lt als implizite Definition einer Reihe von Begriffen, sondern die definierenden Axio