Schliemann

3
So warf ich mich denn mit besonderem Fleisse auf das Studium des Englischen und hierbei liess mich die Noth eine Methode ausfindig machen, welche die Erlernung jeder Sprache bedeutend erleichtert. Diese einfache Methode besteht zunächst darin, dass man sehr viel laut liest, keine Uebersetzungen macht, täglich eine Stunde nimmt, immer Ausarbeitungen über uns interessirende Gegenstände niederschreibt, diese unter der Aufsicht des Lehrers verbessert, auswendig lernt und in der nächsten Stunde aufsagt, was man am Tage vorher korrigirt hat. Mein Gedächtniss war, da ich es seit der Kindheit gar nicht geübt hatte, schwach, doch benutzte ich jeden Augenblick und stahl sogar Zeit zum Lernen. Um mir sobald als möglich eine gute Aussprache anzueignen, besuchte ich Sonntags regelmässig zweimal den Gottesdienst in der englischen Kirche und sprach bei dem Anhören der Predigt jedes Wort derselben leise für mich nach. Bei allen meinen Botengängen trug ich, selbst wenn es regnete, ein Buch in der Hand, aus dem ich etwas auswendig lernte; auf dem Postamte wartete ich nie, ohne zu lesen. So stärkte ich allmählich mein Gedächtniss und konnte schon nach drei Monaten meinen Lehrern, Mr. Taylor und Mr. Thompson, mit Leichtigkeit alle Tage in jeder Unterrichtsstunde zwanzig gedruckte Seiten englischer Prosa wörtlich hersagen, wenn ich dieselben vorher dreimal aufmerksam durchgelesen hatte. Auf diese Weise lernte ich den ganzen »Vicar of Wakefield« von Goldsmith und Walter Scott's »Ivanhoe« auswendig. Vor übergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das Gedächtniss bei Nacht viel concentrirter ist, als bei Tage, fand ich auch diese nächtlichen Wiederholungen von grösstem Nutzen; ich empfehle dies Verfahren Jedermann. So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir eine gründliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen..." Dieselbe Methode wendete ich danach bei dem Studium der französischen Sprache an, die ich in den folgenden sechs Monaten bemeisterte. Von französischen Werken lernte ich Fénelon's »Aventures de Télémaque« und »Paul et Virginie« von Bernardin de Saint-Pierre auswendig. Durch diese anhaltenden übermässigen

description

H. Schliemann

Transcript of Schliemann

So warf ich mich denn mit besonderem Fleisse auf das Studium des Englischen und hierbei liess mich die Noth eine Methode ausfindig machen, welche die Erlernung jeder Sprache bedeutend erleichtert. Diese einfache Methode besteht zunchst darin, dass man sehr viel laut liest, keine Uebersetzungen macht, tglich eine Stunde nimmt, immer Ausarbeitungen ber uns interessirende Gegenstnde niederschreibt, diese unter der Aufsicht des Lehrers verbessert, auswendig lernt und in der nchsten Stunde aufsagt, was man am Tage vorher korrigirt hat. Mein Gedchtniss war, da ich es seit der Kindheit gar nicht gebt hatte, schwach, doch benutzte ich jeden Augenblick und stahl sogar Zeit zum Lernen. Um mir sobald als mglich eine gute Aussprache anzueignen, besuchte ich Sonntags regelmssig zweimal den Gottesdienst in der englischen Kirche und sprach bei dem Anhren der Predigt jedes Wort derselben leise fr mich nach. Bei allen meinen Botengngen trug ich, selbst wenn es regnete, ein Buch in der Hand, aus dem ich etwas auswendig lernte; auf dem Postamte wartete ich nie, ohne zu lesen. So strkte ich allmhlich mein Gedchtniss und konnte schon nach drei Monaten meinen Lehrern, Mr. Taylor und Mr. Thompson, mit Leichtigkeit alle Tage in jeder Unterrichtsstunde zwanzig gedruckte Seiten englischer Prosa wrtlich hersagen, wenn ich dieselben vorher dreimal aufmerksam durchgelesen hatte. Auf diese Weise lernte ich den ganzen Vicar of Wakefield von Goldsmith und Walter Scott's Ivanhoe auswendig. Vor bergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das Gedchtniss bei Nacht viel concentrirter ist, als bei Tage, fand ich auch diese nchtlichen Wiederholungen von grsstem Nutzen; ich empfehle dies Verfahren Jedermann. So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir eine grndliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen..."

Dieselbe Methode wendete ich danach bei dem Studium der franzsischen Sprache an, die ich in den folgenden sechs Monaten bemeisterte. Von franzsischen Werken lernte ich Fnelon's Aventures de Tlmaque und Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre auswendig. Durch diese anhaltenden bermssigen Studien strkte sich mein Gedchtniss im Laufe eines Jahres dermassen, dass mir die Erlernung des Hollndischen, Spanischen, Italienischen und Portugiesischen ausserordentlich leicht wurde, und ich nicht mehr als sechs Wochen gebrauchte, um jede dieser Sprachen fliessend sprechen und schreiben zu knnen.

Hatte ich es nun dem vielen Lesen mit lauter Stimme zu danken oder dem wohlthtigen Einflusse der feuchten Luft Hollands, ich weiss es nicht: genug, mein Brustleiden verlor sich schon im ersten Jahre meines Aufenthaltes in Amsterdam und ist auch spter nicht wiedergekommen..."

"Endlich, am 1. Mrz 1844, glckte es mir, durch die Verwendung meiner Freunde Louis Stoll23 in Mannheim und J.H. Ballauf24 in Bremen, eine Stellung als Correspondent und Buchhalter in dem Comptoir der Herren B.H. Schrder & Co.25 in Amsterdam zu erhalten; hier wurde ich zuerst mit einem Gehalt von 1200 Francs engagirt, als aber meine Principale meinen Eifer sahen, gewhrten sie mir noch eine jhrliche Zulage von 800 Francs als weitere Aufmunterung. Diese Freigebigkeit, fr welche ich ihnen stets dankbar bleiben werde, sollte denn in der That auch mein Glck begrnden; denn da ich glaubte durch die Kenntniss des Russischen mich noch ntzlicher machen zu knnen, fing ich an, auch diese Sprache zu studieren. Die einzigen russischen Bcher, die ich mir verschaffen konnte, waren eine alte Grammatik, ein Lexikon und eine schlechte Uebersetzung der Aventures de Tlmaque. Trotz aller meiner Bemhungen aber wollte es mir nicht gelingen, einen Lehrer des Russischen aufzufinden; denn ausser dem russischen Viceconsul, Herrn Tannenberg, der mir keinen Unterricht geben wollte, befand sich damals niemand in Amsterdam, der ein Wort von dieser Sprache verstanden htte. So fing ich denn mein neues Studium ohne Lehrer an, und hatte auch in wenigen Tagen, mit Hlfe der Grammatik, mir schon die russischen Buchstaben und ihre Aussprache eingeprgt. Dann nahm ich meine alte Methode wieder auf, verfasste kurze Aufstze und Geschichten und lernte dieselben auswendig. Da ich niemand hatte, der meine Arbeiten verbesserte, waren sie ohne Zweifel herzlich schlecht; doch bemhte ich mich, meine Fehler durch praktische Uebungen vermeiden zu lernen, indem ich die russische Uebersetzung der Aventures de Tlmaque auswendig lernte. Es kam mir vor, als ob ich schnellere Fortschritte machen wrde, wenn ich jemand bei mir htte, dem ich die Abenteuer Telemachs erzhlen knnte: so engagirte ich einen armen Juden, der fr vier Francs pro Woche allabendlich zwei Stunden zu mir kommen und meine russischen Declamationen anhren musste, von denen er keine Silbe verstand.

Da die Zimmerdecken in den gewhnlichen hollndischen Husern meist nur aus einfachen Bretern bestehen, so kann man im Erdgeschoss oft alles vernehmen, was im dritten Stock gesprochen wird. Mein lautes Recitiren wurde deshalb bald den andern Miethern lstig, sie beklagten sich bei dem Hauswirthe, und so kam es, dass ich in der Zeit meiner russischen Studien zweimal die Wohnung wechseln musste. Aber alle diese Unbequemlichkeiten vermochten meinen Eifer nicht zu vermindern, und nach sechs Wochen schon konnte ich meinen [14] ersten russischen Brief an Wassili Plotnikow schreiben, den Londoner Agenten der grossen Indigohndler Gebrder M.P.N. Malutin26 in Moskau; auch war ich im Stande, mich mit ihm und den russischen Kaufleuten Matwejew und Frolow, die zu den Indigoauctionen nach Amsterdam kamen, fliessend in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

Als ich mein Studium des Russischen vollendet hatte, begann ich mich ernstlich mit der Literatur der von mir erlernten Sprachen zu beschftigen.