Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache Ince (C-336/14)

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Eingangsdatum : 28/10/2015

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Eingangsdatum : 28/10/2015

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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTSMACIEJ SZPUNARvom 22. Oktober 201S1

Rechtssache C-336114

Sebat Ince

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Sonthofen [Deutschland])

"Freier Dienstleistungsverkehr - Glücksspiele - Staatliches Monopol aufSportwetten - Erlaubnis - Ausschluss privater Veranstalter - StrafrechtlicheSanktionen - Richtlinie 98/34/EG - Entwurf technischer Vorschriften -

Notifizierungspflicht - Vereinbarkeit einer Lizenz mit den Grundsätzen derTransparenz und der Gleichbehandlung"

Originalsprache: Englisch.

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INeE

1. Seit dem Grundsatzurteil in der Rechtssache Simmenthal'' ist imUnionsrecht fest verankert, dass ,jeder im Rahmen seiner Zuständigkeitangerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das [Unionsrecht] uneingeschränktanzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem erjede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts,gleichgültig, ob sie früher oder später als die [Unionsnorm] ergangen ist,unangewendet lässt". Diese Pflicht folgt aus dem Grundsatz des Vorrangs desUnionsrechts vor einzelstaatlichem Recht.

2. Im vorliegenden Fall, in dem Frau Ince von der deutschenStaatsanwaltschaft der Straftat der unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspielsnach dem deutschen Strafgesetzbuch angeschuldigt wird, weil sie einenSpielautomaten ohne Erlaubnis aufgestellt und öffentlich zugänglich gemacht hat,sieht sich das vorlegende Gericht bei seinem Bemühen umUnionsrechtskompatibilität der Schwierigkeit gegenüber, genau zu bestimmen,welche nationalen Bestimmungen es unangewandt lassen muss, um demUnionsrecht und insbesondere den Urteilen des Gerichtshofs in den RechtssachenWinner Wetten", Stoß u. a." sowie Carmen Media Group'' nachzukommen. Für dasvorlegende Gericht ist erforderlich, zu wissen, welche von mehrerenMöglichkeiten, die zu seiner Verfügung stehen, diejenige ist, die den Einklang mitdem Unionsrecht sicherstellt. Der vorliegende Fall gibt dem Gerichtshof somitGelegenheit, eine Reihe von Punkten im Zusammenhang mit denVertragsbestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit und mit dem Grundsatzdes Vorrangs des Unionsrechts in Erinnerung zu rufen.

I- Rechtlicher Rahmen

A - Unionsrecht

3. Art. 56 AEUV lautet:

"Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union fürAngehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat alsdemjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe derfolgenden Bestimmungen verboten.

"

4. Art. 1 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Ratesvom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen

2 106177, EU:C:1978:49, Rn. 21.

C-409/06, EU:C:201O:503.

4 C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-41O/07, EU:C:201O:504.

C-46/08, EU:C:2010:505.5

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SCHLUSS ANTRÄGE VON HERRN SZPUNAR - RECHTSSACHE C-336/14

und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste derInformationsgesellschaft" bestimmt:

"Für diese Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

2. ,Dienst': eine Dienstleistung der Informationsgesellschaft, d. h. jede in derRegel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellenAbruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung.

"

11. ,Technische Vorschrift': Technische Spezifikationen oder sonstigeVorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste, einschließlich dereinschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung rechtlich oder defacto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, dieNiederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung ineinem Mitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staates verbindlichist, sowie - vorbehaltlich der in Artikel 10 genannten Bestimmungen - dieRechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denenHerstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung einesErzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder dieNiederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden.

5. Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

"Vorbehaltlich des Artikels 10 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommissionunverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift, sofern es sich nicht umeine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Normhandelt; in diesem Fall reicht die Mitteilung aus, um welche Norm es sich handelt.Sie unterrichten die Kommission gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe,die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen, essei denn, die Gründe gehen bereits aus dem Entwurf hervor.

"

B - Deutsches Recht

6. Nach den Art.70 und 72 des deutschen Grundgesetzes fällt dieGesetzgebung im Bereich der Glücksspiele in die Zuständigkeit der Bundesländer.

6 ABI. L 204, S. 37.

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,lNCE

•7. Der zwischen den Bundesländern geschlossene Staatsvertrag zumGlücksspielwesen (GlüStV, im Folgenden auch: Glücksspielstaatsvertrag), der am1. Januar 2008 in Kraft trat und einen Vorgängervertrag ablöste, schuf einenneuen einheitlichen Rahmen für die Veranstaltung, die Durchführung und dieVermittlung von Glücksspielen.

8. § 4 Abs. 1 GlüStV bestimmt:

"Öffentliche Glücksspiele dürfen nur mit Erlaubnis der zuständigen Behörde desjeweiligen Landes veranstaltet oder vermittelt werden. Das Veranstalten und dasVermitteln ohne diese Erlaubnis (unerlaubtes Glücksspiel) ist verboten."

9. § 10 GlüStV sieht vor:

,,(1) Die Länder haben zur Erreichung der Ziele des § 1 die ordnungsrechtlicheAufgabe, ein ausreichendes Glücksspielangebot sicherzustellen. Sie werden dabeivon einem Fachbeirat beraten, der sich aus Experten in der Bekämpfung derGlücksspielsucht zusammensetzt.

(2) Auf gesetzlicher Grundlage können die Länder diese öffentliche Aufgabeselbst, durch juristische Personen des öffentlichen Rechts oder durchprivatrechtliche Gesellschaften, an denen juristische Personen des öffentlichenRechts unmittelbar oder mittelbar maßgeblich beteiligt sind, erfüllen.

(5) Anderen als den in Abs. 2 Genannten darf nur die Veranstaltung von Lotterienund Ausspielungen nach den Vorschriften des Dritten Abschnitts erlaubt werden."

10. Der Glücksspielstaatsvertrag lief Ende 2011 aus. Alle Bundesländer (mitAusnahme von Schleswig-Holstein) erließen jedoch Rechtsvorschriften, wonachdie Bestimmungen des Glücksspielstaatsvertrags bis zum Inkrafttreten eines neuenGlücksspielstaatsvertrags als Landesrecht weitergalten. In Bayern ergingen dieseRechtsvorschriften in Form des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung desStaatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (AGGlüStV, im Folgendenauch: Bayerisches Ausführungsgesetz zum Glücksspielstaatsvertrag). Wederdieses Gesetz noch die entsprechenden Gesetze der anderen Bundesländer wurdender Kommission notifiziert.

11. Der Glücksspieländerungsstaatsvertrag (GlüÄndStV) trat in Bayern am 1.Juli 2012 in Kraft.

12. § 10 Abs.2 und 6 dieses Vertrags sieht ein staatliches Monopol aufSportwetten vor", Nach § 4 GlüÄndStV sind das Veranstalten und das Vermittelnvon Sportwetten weiterhin erlaubnispflichtig. Allerdings darf für das Vermitteln

7 Genau wie § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV.

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•von Glücksspielen, die nach dem Glücksspieländerungsstaatsvertrag nicht erlaubtsind, keine Erlaubnis erteilt werden, und es besteht kein Rechtsanspruch auf dieErteilung einer Erlaubnis. Eine Neuerung des Glücksspieländerungsstaatsvertragsist eine .Experimentierklausel für Sportwetten" (§ 10a). Nach dieser Klauselfindet das in § 10 Abs. 6 vorgesehene staatliche Monopol auf Sportwetten auf dasVeranstalten von Sportwetten für einen Zeitraum von sieben Jahren abInkrafttreten des Glücksspieländerungsstaatsvertrags keine Anwendung. Währenddieses Zeitraums dürfen Sportwetten nur mit einer Konzession veranstaltetwerden, und es werden höchstens 20 Konzessionen erteilt. Die Konzessionspflichtgilt zunächst nur für nicht staatliche Wettveranstalter. Für die bereits tätigen 16staatlichen Veranstalter gilt sie erst ein Jahr nach Erteilung der Konzessionen.

"

13. Am 8. August 2012 gaben die deutschen Behörden die Eröffnung desVerfahrens zur Vergabe dieser Konzessionen im Amtsblatt bekannt. DiesesVerfahren ist offenbar noch nicht abgeschlossen.

14. In § 284 ("Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels") des deutschenStrafgesetzbuchs (StGB) heißt es:

,,(1) Wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oderhält oder die Einrichtungen hierzu bereitstellt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zweiJahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1

1. gewerbsmäßig oder

2. als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehungsolcher Taten verbunden hat,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

11- Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

15. Frau Ince, einer in Deutschland wohnhaften türkischen Staatsbürgerin, wirdzur Last gelegt, am 11. und 12. Januar 2012 (erster Tatvorwurf) sowie in der Zeitvom 13. April bis zum 7. November 2012 (zweiter Tatvorwurf) in der von ihrbetriebenen .Sportsbar" über einen dort aufgestellten Spielautomaten Sportwettenan einen Wettveranstalter mit Sitz und Lizenz in Österreich vermittelt zu haben,der nicht über eine deutsche Erlaubnis für Sportwetten verfüge. Sie wirdangeschuldigt, sich dadurch der "unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspiels"nach § 284 StGB strafbar gemacht zu haben.

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16. Mit bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 11. Juli 2014 eingegangenemBeschluss vom 7. Mai 2013 hat das Amtsgericht Sonthofen beschlossen, dasVerfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zurVorabentscheidung vorzulegen:

I. Zum ersten Tatvorwurf (Januar 2012) und zum zweiten Tatvorwurf bisEnde Juni 2012:

1.

1.

1.

a) Ist Art. 56 AEUV dahin auszulegen, dass denStrafverfolgungsbehörden untersagt ist, die ohne deutsche Erlaubniserfolgte Vermittlung von Sportwetten an im EU-Ausland lizenzierteWettveranstalter zu sanktionieren, wenn die Vermittlung auch einedeutsche Erlaubnis des Veranstalters voraussetzt, den nationalenStellen aber durch eine unionsrechtswidrige Gesetzeslage("Sportwettenmonopol") verboten ist, nichtstaatlichenWettveranstaltern eine Erlaubnis zu erteilen?

b) Ändert sich die Beantwortung der Frage 1 a), wenn in einem der 15deutschen Bundesländer, die das staatliche Sportwettenmonopolgemeinsam errichtet haben und gemeinsam vollziehen, staatlicheStellen in Verbots- oder Strafverfahren behaupten, das gesetzlicheVerbot, privaten Anbietern eine Erlaubnis zu erteilen, werde beieinem eventuellen Antrag auf eine Veranstalter- oderVermittlungserlaubnis für dieses Bundesland nicht angewendet?

c) Sind die unionsrechtlichen Grundsätze, insbesondere dieDienstleistungsfreiheit, sowie das Urteil des Gerichtshofs in derRechtssache C-186/11 dahin auszulegen, dass sie einer dauerhaften,als "präventiv" bezeichneten Untersagung oder Sanktionierung dergrenzüberschreitenden Vermittlung von Sportwettenentgegenstehen, wenn dies damit begründet wird, dass für dieUntersagungsbehörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht"offensichtlich, d. h. ohne weitere Prüfung erkennbar war", dass dieVermittlungstätigkeit alle materiellen Erlaubnisvoraussetzungen -abgesehen von dem monopolistischen Staatsvorbehalt - erfüllt?

2. Ist die Richtlinie 98/34 dahin auszulegen, dass sie der Sanktionierung derohne deutsche Erlaubnis erfolgten Vermittlung von Sportwetten über einenWettautomaten an einen im EU-Ausland lizenzierten Wettveranstalterentgegensteht, wenn die staatlichen Eingriffe auf einem nicht an dieEuropäische Kommission notifizierten Gesetz eines einzelnenBundeslandes beruhen, das den ausgelaufenen Staatsvertrag zumGlücksspielwesen zum Inhalt hat?

H. Zum zweiten Tatvorwurf für die Zeit ab Juli 2012:

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3. Sind Art. 56 AEUV, das Transparenzgebot, der Gleichheitssatz und dasunionsrechtliche Verbot der Günstlingswirtschaft dahin auszulegen, dasssie der Sanktionierung der Vermittlung von Sportwetten ohne deutscheErlaubnis an einen im EU-Ausland lizenzierten Wettveranstalter in einemFall entgegenstehen, der durch den für neun Jahre angelegtenGlücksspieländerungsstaatsvertrag mit einer ,,Experimentierklausel fürSportwetten" gekennzeichnet ist, der für sieben Jahre die theoretischeMöglichkeit vorsieht, maximal 20 Konzessionen auch an nicht staatlicheWettveranstalter mit Legalisierungswirkung für alle deutschenBundesländer als notwendige Voraussetzung für eineVermittlungserlaubnis zu vergeben, wenn

a) das Konzessionsverfahren und in diesem Zusammenhang geführteRechtsstreitigkeiten von der Konzessionsstelle gemeinsam mitderjenigen Rechtsanwaltskanzlei betrieben werden, die die Mehrzahlder Bundesländer und ihre Lotterieunternehmen im Zusammenhangmit dem unionsrechtswidrigen Sportwettenmonopol regelmäßigberaten und vor nationalen Gerichten gegen private Wettanbietervertreten hat und mit der Vertretung der staatlichen Stellen in denVorabentscheidungsverfahren Stoß u. a. (C-316/07, C-358/07,C-359/07, C-360/07, C-409/07 und C-41O/07, EU:C:2010:504),Carmen Media Group (C-46/08, EU:C:2010:505) und WinnerWetten (C-409/06, EU:C:2010:503) beauftragt war,

b) aus der am 8. August 2012 im Amtsblatt der Europäischen Unionveröffentlichten Konzessionsausschreibung keine Details zu denMindestanforderungen an die vorzulegenden Konzepte, zum Inhaltder übrigen verlangten Erklärungen und Nachweise sowie zurAuswahl der maximal 20 Konzessionäre hervorgingen, Detailsvielmehr erst nach Ablauf der Bewerbungsfrist mit einem sogenannten .Jnformationsmemorandum" und zahlreichen weiterenDokumenten nur Bewerbern mitgeteilt wurden, die sich für eine"zweite Stufe" des Konzessionsverfahrens qualifiziert hatten,

c) die Konzessionsstelle acht Monate nach Beginn des Verfahrensentgegen der Ausschreibung nur 14 Konzessionsbewerber zurpersönlichen Präsentation ihrer Sozial- und Sicherheitskonzepteeinlädt, weil diese die Mindestvoraussetzungen für eine Konzessionzu 100 % erfüllt hätten, 15Monate nach Beginn des Verfahrens abermitteilt, kein einziger Bewerber habe die Erfüllung derMindestvoraussetzungen in "prüffähiger Form" nachgewiesen,

d) der aus einem Zusammenschluss der staatlichenLotteriegesellschaften bestehende staatlich beherrschteKonzessionsbewerber ("Ods", Ods Deutschland Sportwetten GmbH)zu den 14 Bewerbern gehört, die zur Präsentation ihrer Konzepte bei

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der Konzessionsstelle eingeladen wurden, wegen seinerorganisatorischen Verflechtung mit Veranstaltern vonSportereignissen aber wohl nicht konzessionsfähig ist, weil dieGesetzeslage (§ 21 Abs.3 GlüÄndStV) eine strikte Trennung desaktiven Sports und der ihn organisierenden Vereinigungen von derVeranstaltung und Vermittlung von Sportwetten verlangt,

e) für die Erteilung einer Konzession unter anderem die Darlegung"der rechtmäßigen Herkunft der für die Veranstaltung desbeabsichtigten Sportwettenangebotes erforderlichen Mittel" verlangtwird,

f) die Konzessionsstelle und das über die Vergabe von Konzessionenentscheidende Glücksspielkollegium, das aus Vertretern derBundesländer besteht, von der Möglichkeit der Konzessionsvergabean private Wettveranstalter keinen Gebrauch machen, währendstaatliche Lotterieunternehmen bis ein Jahr nach der eventuellenKonzessionsvergabe Sportwetten, Lotterien und andere Glücksspieleohne Konzession veranstalten und über ihr flächendeckendes Netzgewerblicher Annahmestellen vertreiben und bewerben dürfen?

III - Würdigung

A - Vorbemerkungen

17. Der vorliegende Fall ist erstens anhand der Vertragsbestimmungen zuprüfen. Die Richtlinie 2006/123/EG8 findet auf Glücksspiele keine Anwendung.

18. Zweitens bedeutet, wie vom vorlegenden Gericht richtigerweiseangenommen, die Drittstaatsangehörigkeit von Frau Ince nicht, dass sie sichgrundsätzlich nicht auf Art. 56 Abs. 1 AEUV berufen könnte, der Beschränkungendes freien Dienstleistungsverkehrs "für Angehörige der Mitgliedstaaten" verbietet.Es liegt eine grenzüberschreitende Dienstleistung des in Österreich ansässigenDienstleistungserbringers an die Dienstleistungsempfänger in Deutschland vor.Frau Inces Rolle beschränkt sich auf die Vermittlung zwischen dem Erbringer undden Empfängern der betreffenden Dienstleistungen. Sie handelt für denösterreichischen Dienstleistungserbringer und erbringt die Dienstleistung nichtselbst. Dennoch fällt ihr Handeln unter Art. 56 AEUV, so dass sie sich vor demnationalen Gericht auf diese Bestimmung berufen kann. Würde nämlich derGesamtvorgang der Dienstleistungserbringung vom österreichischen Veranstalteran den Empfänger in Deutschland in mehrere Untervorgänge aufgeteilt, würdenSachverhalte, die Teil dieses Gesamtvorgangs sind, häufig nicht vonArt. 56 AEUV erfasst, weil entweder einer der Mittler in der Kette ein

8 Siehe Art. 2 Abs. 2 Buchst. h der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABI. L 376, S. 36).

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Drittstaatsangehöriger ist oder bei dem Untervorgang kein grenzüberschreitenderSachverhalt gegeben ist.

19. Drittens geht es bei diesem Fall nicht um die Vereinbarkeit einesSportwettenmonopols mit dem Unionsrecht, denn das vorlegende Gericht scheintkeinerlei Zweifel zu haben, dass die Durchführung eines Sportwettenmonopols inDeutschland gemäß den oben im "Rechtlichen Rahmen" angeführtenBestimmungen einer Reihe von Urteilen des Gerichtshofs" zufolge unrechtmäßigeZiele verfolgt und damit gegen die vertraglich verbürgte Dienstleistungsfreiheitverstößt. Die Ungewissheit des vorlegenden Gerichts besteht darin, welcheunionsrechtlichen Konsequenzen aus diesen Urteilen im Kontextverwaltungsrechtlicher Verbote und strafrechtlicher Sanktionen zu ziehen sind.

20. Die erste Frage formuliert das vorlegende Gericht im Bewusstsein einerungerechtfertigten Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit und damit einesVerstoßes gegen Art.56 AEUV. Die Ungewissheit dieses erstinstanzliehenGerichts rührt meines Erachtens daher, dass die innerstaatliche Rechtsprechunginsoweit alles andere als kohärent ist. Konfrontiert mit einer verwirrenden undwidersprüchlichen Rechtsprechung in Deutschland benötigt das vorlegendeGericht eine Orientierungshilfe seitens des Gerichtshofs. In einem Fall, in dem dieStaatsanwaltschaft eine Person strafrechtlich verfolgt, die keine Erlaubnisbeantragt hat, ist für das vorlegende Gericht erforderlich, zu wissen, welcheBestimmung des nationalen Rechts genau es unangewandt lassen muss, um demUnionsrecht nachzukommen. Demgegenüber wird die dritte Frage im Kontexteiner anderen Rechtslage gestellt, bei der die deutschen Behörden einKonzessionsverfahren ausgerichtet haben. Hier fragt sich das vorlegende Gericht,ob ein Verstoß gegen Art. 56 AEUV vorliegt. Es möchte wissen, ob das laufendeKonzessionsverfahren gerechtfertigt ist oder nicht, da es möglicherweise mitallgemeinen Rechtsgrundsätzen in Einklang steht, möglicherweise aber auchnicht.

21. Bei der ersten Frage geht es daher im Wesentlichen um den Vorrang desUnionsrechts, während die dritte Frage die Verhältnismäßigkeit einesLizensierungsverfahrens betrifft.

B - Erste Frage

22. Mit seiner ersten Frage, die in drei Unterfragen gegliedert ist, die abergleichwohl gemeinsam geprüft werden sollten, möchte das vorlegende Gerichtwissen, ob Art. 56 AEUV mit den darin aufgestellten GrundsätzenStrafverfolgungsbehörden daran hindert, die ohne deutsche Erlaubnis erfolgteVermittlung von Sportwetten an in anderen Mitgliedstaaten lizenzierteWettveranstalter zu sanktionieren. Das vorlegende Gericht sieht sich der Frage

9 Urteile Stoß u. a. (C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, EU:C:201O:504)sowie Carmen Media Group (C-46/08, EU:C:201O:505).

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gegenüber, ob Frau Ince den Tatbestand von § 284 StGB verwirklicht hat. Dieshängt davon ab, ob die Regelung in Deutschland rechtmäßig ist oder nicht. Dasvorlegende Gericht zweifelt an ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, da esnicht sicher ist, wie die Gerichte und die Exekutivbehörden eines Mitgliedstaatsmit einer Situation umgehen sollten, in der der nationale Gesetzgeber noch keineMaßnahmen erlassen hat, um einer unionsrechtswidrigen Lage abzuhelfen.

1. Art. 56 AEUV - Sach- und Verfahrensanforderungen infolge der UrteileWinner Wetten, Stoß u. a., Carmen Media Group sowie Stanleybet u. a.

23. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gehen deutsche Gerichtegemäß den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Stoß u. a.lO sowieCarmen Media Group" davon aus, dass das staatliche Monopol in Deutschlandgegen Art. 56 AEUV verstößt, da es nicht geeignet sei, das Erreichen des mit ihmverfolgten Ziels sicherzustellen, nämlich dazu beizutragen, dass die Gelegenheitenzum Spiel verringert und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter undsystematischer Weise begrenzt würden.

24. Vor diesem Hintergrund soll an dieser Stelle nicht die gesamteRechtsprechung des Gerichtshofs zu gerechtfertigten Einschränkungen vonArt. 56 AEUV im Glücksspielbereich in Erinnerung gerufen werden. Für dieZwecke des vorliegenden Falles sind jedoch einige Punkte hervorzuheben.

25. In der Rechtssache Winner Wetten12 wurde der Gerichtshof gefragt, obnach den jetzigen Art. 49 AEUV und 56 AEUV nationale Regelungen für einstaatliches Monopol, die eigentlich gegen diese Bestimmungen verstießen, "trotzdes Anwendungsvorrangs unmittelbar geltenden [Unionsrechts]ausnahmsweise für eine Übergangszeit" aufrechterhalten werden durften.

26. Die Frage lief darauf hinaus, ob es in Entsprechung zu der auf derGrundlage von Art. 264 Abs. 2 AEUV ergangenen Rechtsprechung desGerichtshofs gerechtfertigt war, einen Grundsatz anzuerkennen, nach dem unteraußergewöhnlichen Umständen die Wirkungen einer nationalen Norm, in der einVerstoß gegen eine unmittelbar geltende Norm des Unionsrechts gesehen wird,vorübergehend aufrechterhalten werden dürfen.

27. Der Gerichtshof befand, dass .aufgrund des Vorrangs des unmittelbargeltenden Unionsrechts eine nationale Regelung über ein staatlichesSportwettenmonopol, die nach den Feststellungen eines nationalen GerichtsBeschränkungen mit sich bringt, die mit der Niederlassungsfreiheit und demfreien Dienstleistungsverkehr unvereinbar sind, weil sie nicht dazu beitragen, die

10 _ C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-41O/07, EU:C:2010:504, Rn. 107.

11 _ C-46/08, EU:C:2010:505, Rn. 71.

12 _ C-409/06, EU:C:201O:503, Rn. 28.

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Wetttätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen, nicht füreine Übergangszeit weiter angewandt werden darf,13.

28. Dieser Grundsatz ist meiner Ansicht nach durch das Urteil Stanleybet u. a.nicht abgeschwächt worden.

29. In jener Rechtssache bekräftigte der Gerichtshof die Feststellungen desUrteils Winner Wettenl4• Er wies sodann auf die Rechtsprechung hin, nach der diestaatlichen Stellen innerhalb der Schranken des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzesüber ein ausreichendes Ermessen bei der Festlegung der Anforderungen verfügen,die sich aus dem Verbraucherschutz und der Sozialordnung ergeben 15, und nachder der Glücksspielsektor ein "sehr spezifischer Markt" ist, auf dem derWettbewerb zwischen mehreren Veranstaltern, die die gleichen Glücksspielebetreiben dürfen, nachteilige Folgen haben und für die Verbraucher die mit demSpiel verbundenen Ausgaben und die Gefahr der Spielsucht erhöhen könnte".

30. Aus dieser Rechtsprechung schloss der Gerichtshof, dass im Fall derUnvereinbarkeit der innerstaatlichen Regelung mit den Art. 49 AEUV und 56AEUV die Versagung einer Übergangszeit "nicht zwangsläufig zur Folge hat,dass der betroffene Mitgliedstaat, wenn er eine Liberalisierung desGlücksspielmarkts mit dem von ihm angestrebten Schutz der Verbraucher und derSozialordnung nicht für vereinbar hält, zu einer derartigen Liberalisierungverpflichtet wäre. Nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts steht es denMitgliedstaaten nämlich frei, das bestehende Monopol zu reformieren, um es mitden Bestimmungen des Vertrags in Einklang zu bringen, indem es insbesondereeiner wirksamen und strengen behördlichen Kontrolle unterworfen wird"!".

31. Der Gerichtshof stellte weiter fest, dass "der betroffene Mitgliedstaat[,wenn er] der Ansicht [ist], dass eine derartige Reform des bestehenden Monopolsnicht in Betracht kommt und eine Liberalisierung des Glücksspielmarkts eher demvon ihm angestrebten Schutz der Verbraucher und der Sozialordnung entspricht,... die Grundregeln der Verträge, insbesondere [Art. 49 AEUV und 56 AEUV],den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Verbot der Diskriminierung aus Gründender Staatsangehörigkeit und das daraus folgende Transparenzgebot beachten[muss] ... In einem solchen Fall muss die Einführung eines Systems dervorherigen behördlichen Genehmigung für das Angebot bestimmter Arten vonGlücksspielen in diesem Mitgliedstaat auf objektiven und nicht diskriminierendenKriterien beruhen, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der

13 _ Ebd. (Rn. 69).

14 _ Siehe Urteil Stanleybet u. a. (C-186/11 und C-209/11, EU:C:2013:33, Rn. 38, 39 und 42).

15 _ Ebd. (Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

16 _ Ebd. (Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17 _ Ebd. (Rn. 46).

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nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchlicheAusübung verhindern ...,,18.

32. Dieser Rechtsprechung entnehme ich Folgendes: Erstens verstößt weder einstaatliches Monopol als solches gegen Art. 56 AEUV, noch verlangt dieseVorschrift von den Mitgliedstaaten eine Liberalisierung der Glücksspielmärkte.Zweitens ist ein System der behördlichen Genehmigung für das Angebot vonGlücksspielen grundsätzlich zulässig, solange es auf objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien beruht, die im Voraus bekannt sind und derErmessensausübung durch die nationalen Behörden Grenzen setzen, die einenErmessensmissbrauch verhindern. Grundsätzlich steht den Mitgliedstaaten eineReglementierung dieses Bereichs also frei, solange sie das Unionsrechtbeachten'". Drittens setzt der Gerichtshof keine Übergangszeiten fest, in deneneine als unionsrechtswidrige angesehene Regelung weiterhin angewandt werdenkönnte.

2. Verpflichtung, die Erlaubnispflicht unangewandt zu lassen

33. Im Anschluss an ein Urteil des Gerichtshofs, ausweislich dessen einenationale Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, trifft die Pflicht zurAbhilfe sämtliche Stellen eines betroffenen Mitgliedstaats. Dies ergibt sich ausdem Vorrang des Unionsrechts und dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankertenGrundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Insoweit ist es ständige Rechtsprechungdes Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten die rechtswidrigen Folgen einesVerstoßes gegen das Unionsrecht beheben müsserr". Der Gerichtshof hat betont,dass eine solche Verpflichtung jeder Stelle des betreffenden Mitgliedstaats imRahmen ihrer Zuständigkeiten obliegt". Für den Gesetzgeber bedeutet dies, dasser rechtliche Bestimmungen, die gegen Unionsrecht verstoßen, abschaffen muss22•

18 Ebd. (Rn. 47).

19 Siehe auch Lacny, J., "Swoboda panstw czlonkowskich w zakresie regulowania gierhazardowych - przeglad orzecznictwa TS", Europejski Przeglqd Sqdowy grudzien, 2010, S. 37-47, auf S. 39.

20 Siehe z. B. Urteil Jonkrnan u. a. (C-231106 bis C-233/06, EU:C:2007:373, Rn. 37 und die dortangeführte Rechtsprechung).

21 Siehe Urteil Wells (C-201l02, EU:C:2004:12, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Im Kontext von Vertragsverletzungsklagen ist es ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs,dass sich die Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht nur durch verbindlichenationale Bestimmungen ausräumen lässt, die denselben rechtlichen Rang haben wie die zuändernden Bestimmungen. Eine bloße Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäßbeliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, kann nicht als rechtswirksameErfüllung der Verpflichtungen aus dem Vertrag angesehen werden: siehe z. B. UrteilKomrnissionlItalien (C-358/98, EU:C:2000:114, Rn. 17 und die dort angeführteRechtsprechung). Resultiert aus einem Urteil zu einem Vorabentscheidungsersuchen, dass dasUnionsrecht bestimmten nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, ist der betreffendeMitgliedstaat zur Abhilfe verpflichtet.

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Die nationalen Gerichte müssen, wie seit dem Urteil Simmenthal wohlbekannt ist,unionsrechtswidrige Bestimmungen des nationalen Rechts unangewandt lasserr".Die gleiche Pflicht trifft alle Behörden.

34. Aber welche Bestimmungen sind von den deutschen Gerichten hierunangewandt zu lassen? Nur die Bestimmungen über das staatliche Monopol(§ 10 GlüStV) oder auch noch die Vorschrift über die Erlaubnispflicht für dasVeranstalten und das Vermitteln von Sportwetten (§ 4 GlüStV)? Diese Fragebereitet dem vorlegenden Gericht Schwierigkeiten. Dass es in Deutschland zweiRechtsprechungslinien gibt, macht die Entscheidung darüber, welcheBestimmungen unangewandt zu lassen sind, nicht leichter. BeideRechtsprechungslinien sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

35. Nach einer vor allem von den oberen Verwaltungsgerichten vertretenenAuffassung ist ein Verbot der Vermittlung von Sportwetten nurunionsrechtswidrig, wenn es auf § 10 Abs.2 und 5 GlüStV gestützt ist. Diesbedeute aber nicht, dass ein privater Betreiber ohne die durch § 4 GlüStVvorgeschriebene Erlaubnis vermitteln dürfe und § 284 StGB unanwendbar werde.Die betreffenden Gerichte prüfen, ob private Veranstalter oder Vermittler unterden Bedingungen, die der Glücksspielstaatsvertrag und dessenAusführungsgesetze für die staatlichen Monopolträger und deren Vermittlervorsehen, eine Erlaubnis erhalten könnten. Das vorlegende Gericht weist jedochdarauf hin, dass diese (fiktive) .Erlaubnisfähigkeit" stets verneint werde, was u. a.damit begründet werde, dass der private Wettveranstalter dieVermarktungsbeschränkungen oder andere im Glücksspielstaatsvertrag für dieMonopolträger zur Rechtfertigung des Monopols vorgesehene Bestimmungennicht einhalte.

36. In diesem Zusammenhang entschied das Bundesverwaltungsgericht im Maiund Juni 2013 in mehreren Urteilen, dass die deutschen Stellen die Veranstaltungund Vermittlung von Sportwetten ohne deutsche Erlaubnis "präventiv" verbietendürften, es sei denn, dass der betreffende Veranstalter oder Vermittler diemateriellen Erlaubnisvoraussetzungen - mit Ausnahme der möglicherweiserechtswidrigen Monopolvorschriften - erfüllt habe und dies für dieUntersagungsbehörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung offensichtlich, d. h. ohneweitere Prüfung erkennbar gewesen sei.

37. Andere Gerichte meinen dagegen, dass der Erlaubnisvorbehalt des § 4Abs.l GlüStV nicht isoliert von dem Verbot des § 10 Abs.2 und 5 GlüStVangewendet werden dürfe. Die Fiktion eines Erlaubnisverfahrens für Private durch

23 _ Im Unionsrecht gilt, dass ein nationales Gericht, wenn es die Vereinbarkeit nationalen Rechtsmit dem Unionsrecht beurteilt, seine Prüfung nicht auf den Wortlaut der nationalen Vorschriftenbeschränken darf, sondern auch berücksichtigen muss, wie diese Vorschriften von dennationalen Behörden angewandt werden: siehe Lacny, J., .Swoboda panstw czlonkowskich wzakresie regulowania gier hazardowych - przeglad orzecznictwa TS", Europejski PrzeglqdSqdowy grudzien. 2010, S. 37-47, auf S. 44.

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den Richter sei selbst unzulässig. Das Erlaubnisverfahren desGlücksspielstaatsvertrags und seiner Ausführungsgesetze sei zudem nicht aufprivate Wettveranstalter und deren Vermittler zugeschnitten, sondern nur auf diestaatlichen Monopolträger und deren Vermittler.

38. Vor dem Hintergrund der oben gemachten Ausführungen könnte man derAntwort zuneigen, dass nur die Bestimmung über das staatliche Monopolunangewandt zu lassen ist. Schließlich stellt der Gerichtshof in keiner Weise diegenerelle Zulässigkeit eines Erlaubnisverfahrens in Frage.

39. Gleichwohl stehe ich diesem Ansatz skeptisch gegenüber und würdevorschlagen, dass der Gerichtshof weiter gehen sollte. Meine Würdigung derFragen lässt mich zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das vorlegende Gericht,wie ich nachstehend darzutun versuchen werde, beides unangewandt lassen muss.Betonen möchte ich, dass es der spezifische Sachverhalt im vorliegenden Fall ist,der mich veranlasst, die zweite Möglichkeit vorzuschlagen.

40. Erstens sorgt der Umstand, dass die innerstaatliche Rechtsprechung zu derPflicht, sich einem Erlaubnisverfahren zu unterziehen, widersprüchlich ist, nichtfür Rechtssicherheit auf Seiten der Wirtschaftsteilnehmer. Meiner Ansicht nachkann von ihnen in einer solchen, durch Unsicherheit geprägten Situation nichtverlangt werden, dass sie die für sie ungünstigere Option wählen.

41. Zweitens erhielt kein privater Betreiber, der sich einem Verfahrenunterzog, eine Erlaubnis. Es scheint in der Tat, dass die nationalen Behördenkeine Erlaubnis erteilen, wenn für die Behörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidungnicht ganz offensichtlich war, dass die Vermittlungstätigkeit alle materiellenErlaubnisvoraussetzungen erfüllt. Diese Praxis macht das ganzeErlaubnisverfahren natürlich nutzlos. Ein solches Verfahren stellt sich nicht alsVerfahren dar, bei dem das Ergebnis von Anfang an offen ist (fehlende.Ergebnisoffenheit''). Es wäre zynisch, von einem Wirtschaftsteilnehmer zuverlangen, dass er sich einem Verfahren unterzieht, das zum Scheitern verurteiltist. Rechtlich kann daraus nur die Konsequenz gezogen werden, dass ein solchesVerfahren für ihn nicht notwendig ist.

42. Drittens bedeutet der Umstand, dass nationale Stellen unionsrechtswidrigeRechtsvorschriften unangewandt lassen müssen, nicht, dass ein Einzelner vonihnen auch tatsächlich erwartet, dass sie es tun. Immerhin gilt für Gesetze ausSicht des Einzelnen eine Rechtmäßigkeitsvermutung. Der Grundsatz derRechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften vor allem dann, wenn sienachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können, klar, bestimmtund in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind24• Eine solche Bestimmtheit ist hiereindeutig nicht gegeben. Das kann nur zulasten des Einzelnen gehen.

24 _ Siehe Urteil Costa und Cifone (C-72/10 und C-77/1O, EU:C:2012:80, Rn. 74 und die dortangeführte Rechtsprechung).

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43. Viertens habe ich ein Problem mit der Trennung der Erlaubnispflicht vomstaatlichen Monopol. Beide Bestimmungen sind untrennbar miteinanderverbunden, da das ganze Erlaubnisverfahren auf öffentliche Einrichtungenausgerichtet ist. Die ganze Logik des Glücksspielstaatsvertrags besteht darin, dasser nur für staatliche Einrichtungen gilt. Wenn nach dieser Logik nur staatlicheEinrichtungen eine Erlaubnis beantragen können, kann von einem privatenWirtschaftsteilnehmer kaum erwartet werden, dass er eine solche Erlaubnisbeantragt, wenn das Gesetz daran ausdrücklich hindert.

3. Keine strafrechtliche Sanktion

25 Siehe Urteil Placanica (C-338/04, C-359/04 und C-360/04, EU:C:2007:133, Rn. 69).

44. Die Folge dieser Auslegung ist, dass der Tatbestand von § 284 StGB nichtverwirklicht ist.

45. Bestätigung findet dies auch in den Ausführungen des Gerichtshofs imUrteil Placanica. Der Gerichtshof befand dort unmissverständlich, dass "einMitgliedstaat keine strafrechtlichen Sanktionen wegen einer nicht erfülltenVerwaltungsformalität verhängen darf, wenn er die Erfüllung dieser Formalitätunter Verstoß gegen das [Unionsrecht] abgelehnt oder vereitelt hat"25. DieseFormulierung wiederholte der Gerichtshof im Urteil Stoß u. a.26, das in einerRechtssache erging, die, wie oben ausgeführt, die deutschen Rechtsvorschriftenüber Sportwetten zum Gegenstand hatte.

46. Die Antwort auf die erste Frage sollte demnach lauten, dass Art. 56 AEUV,wenn ein nationales Gericht festgestellt hat, dass ein Sportwettenmonopol gegenUnionsrecht verstößt, und wenn nach den Bestimmungen des nationalen Rechtsnur öffentliche Einrichtungen eine innerstaatliche Erlaubnis erlangen können,nationale Strafverfolgungsbehörden daran hindert, die ohne innerstaatlicheErlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten an einen in einem anderenMitgliedstaat lizenzierten Wettveranstalter zu sanktionieren.

C - Zweite Frage

47. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dieRichtlinie 98/34 die Anwendung der Bestimmungen des BayerischenAusführungsgesetzes zum Glücksspielstaatsvertrag nach Auslaufen desGlücksspielstaatsvertrags ausschließt, weil dieses Gesetz nicht der Kommissionnotifiziert wurde.

48. Trotz der beträchtlichen Gesamtlänge des Vorabentscheidungsersuchensmacht das vorlegende Gericht an dieser Stelle keine besonders genauenAusführungen zur Relevanz dieser Frage für den vorliegenden Fall. Es lässt offen,welche Bestimmungen des Bayerischen Ausführungsgesetzes zum

26 _ C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, EU:C:2010:504, Rn. 115.

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Glücksspielstaatsvertrag es insoweit für relevant hält. Darauf werde ich späternoch zurückkommen.

49. Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34, der eine unmittelbar anwendbareBestimmung in dem Sinne ist, dass sich Einzelne vor einem nationalen Gerichtdarauf berufen können", müssen die Mitgliedstaaten der Kommission "jedenEntwurf einer technischen Vorschrift" übermitteln. Eine technische Vorschriftwird in Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34 definiert als "[t]echnischeSpezifikationen oder sonstige Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste,einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtungrechtlich oder de facto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, dieNiederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung in einemMitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staates verbindlich ist, sowie -vorbehaltlich der in Artikel 10 genannten Bestimmungen - die Rechts- undVerwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr,Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oderNutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Dienstenverboten werden".

50. Der Entwurf des Glücksspielstaatsvertrags wurde der Kommission vordessen Erlass nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 zur Gänze notifizierr'". Nachseinem Wortlaut in der der Kommission notifizierten und letztlich erlassenenFassung'? trat der Glücksspielstaatsvertrag mit Ablauf des vierten Jahres nachseinem Inkrafttreten außer Kraft30•

51. Als der Glücksspielstaatsvertrag Ende 2011 auslief, galten dieBestimmungen des Glücksspielstaatsvertrags in Bayern nach dem BayerischenAusführungsgesetz zum Glücksspielstaatsvertrag weiter. Eine Notifizierung dieserFortgeltung an die Kommission erfolgte zu keiner Zeit.

52. Meiner Ansicht nach war eine Notifizierung erforderlich, so dass einVerstoß gegen Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 vorliegt.

27 Dies ist seit dem Urteil CIA Security International (C-194/94, EU:C:1996:172, Rn. 44) ständigeRechtsprechung.

28 An dieser Stelle braucht nicht untersucht zu werden, welche Bestimmungen desGlücksspielstaatsvertrags genau technische Vorschriften im Sinne dieser Richtlinie sind unddamit die Notifizierungspflicht auslösten. Es genügt der Hinweis, dass eine Bestimmung, mitder das Glücksspiel im Internet verboten wird, sicher eine technische Vorschrift wäre.

29 Sowohl der Entwurf als auch die endgültige Fassung finden sich auf der Website derKommission: http://ec.europa.eulgrowth/tools-databases/tris/enlindex.cfrnlsearch/?trisaction=search.detail&year=2006&num=658&mLang=EN.

30 Dies stand unter dem Vorbehalt, dass die Ministerpräsidentenkonferenz nicht unterBerücksichtigung des Ergebnisses der Evaluation bis Ende des vierten Jahres mit mindestens 13Stimmen das Fortgelten des Staatsvertrags beschlösse, was aber nicht geschah.

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53. Da die Richtlinie ein präventives Ziel verfolgt, nämlich Komplikationenzuvorzukommen, die sich aus etwaigen zukünftigen Handelshemmnissen ergeben,liegt es im Interesse sowohl der Kommission als Hüterin der Verträge als auch deranderen Mitgliedstaaten, dass sie über Entwürfe technischer Vorschriftenumfassend informiert werden. Ist ein Gesetz zeitlich beschränkt, so ist dies einwichtiger, um nicht zu sagen wesentlicher Gesichtspunkt. Die Kommission unddie Mitgliedstaaten haben ein Interesse daran, zu erfahren, ob ein Gesetz, vondessen Außerkrafttreten sie ausgehen, wieder in Kraft gesetzt wird.

31 Siehe Urteil KommissionlItalien (C-279/94, EU:C:1997:396, Rn. 40 und 41).

54. An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, dass die Mitgliedstaaten nachder Rechtsprechung des Gerichtshofs der Kommission die Entwürfe von ganzenGesetzen vorlegen müssen, auch wenn nur einige ihrer Bestimmungen tatsächlichtechnische Vorschriften sind". Der Gerichtshof hat dies mit dem Ziel von Art. 8Abs. 1 Unterabs. 1 letzter Satz der Richtlinie 98/34 begründet, das darin besteht,der Kommission zu jedem Entwurf einer technischen Vorschrift eine möglichstvollständige Information über ihren Inhalt, ihre Tragweite und ihren allgemeinenZusammenhang zu verschaffen, damit sie die ihr durch die Richtlinie verliehenenBefugnisse so wirksam wie möglich ausüben kanrr".

55. Deshalb haben die bayerischen Behörden meiner Ansicht nach durch dieunterbliebene Notifizierung des Bayerischen Ausführungsgesetzes zumGlücksspielstaatsvertrag gegen Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 98/34 verstoßen. DieVerlängerung der Geltung eines Gesetzes durch ein anderes Gesetz ist mit anderenWorten ein neuer Entwurf einer technischen Vorschrift, der von Art. 8 Abs. 1Unterabs. 1 der Richtlinie 98/34 erfasst wird'".

56. Welche Rechtsfolgen hat nun aber diese unterbliebene Notifizierung?

57. Man könnte versucht sein, zu sagen, dass bei unterbliebener Notifizierungeines Gesetzes durch einen Mitgliedstaat das ganze Gesetz nicht anwendbar ist.Begründet wird diese Ansicht damit, dass sich, wenn die Notifizierungspflicht dasganze Gesetz erfasst, logischerweise auch die Nichtanwendbarkeit auf das ganzeGesetz erstrecken sollte". Diese Lösung, die den Reiz hätte, dass sie einfach

32 Ebd.

33 Somit spielt meines Erachtens Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 98/34 an dieser Stellekeine entscheidende Rolle, denn es ist eindeutig nicht der Fall, dass ein Mitgliedstaat an einemEntwurf "wesentliche Änderungen [vorgenommen hat], die den Anwendungsbereich ändern,den ursprünglichen Zeitpunkt für die Anwendung vorverlegen, Spezifikationen oderVorschriften hinzufügen oder verschärfen".

34 Siehe Streinz, R.lHerrmann, Ch./Kruis, T., "Die Notifizierungspflicht desGlücksspielstaatsvertrags und der Ausführungsgesetze der Länder gern. der Richtlinie Nr.98/34/EG (Informationsrichtlinie)", Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht, 2007, S.402-408, auf S. 406.

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anwendbar wäre, gäbe darüber hinaus den Mitgliedstaaten einen zusätzlichenAnreiz zur Notifizierung von Gesetzesentwürfen an die Kommission.

58. Dennoch sehe ich keinen Raum für solch eine enge Auslegung.

59. Seit dem Urteil CIA Security International." entscheidet der Gerichtshof inständiger Rechtsprechung, dass "der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht zurUnanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften führt, so dass sieEinzelnen nicht entgegengehalten werden können".

60. Ich verstehe dies dahin, dass damit nur die konkreten technischenVorschriften gemeint sind, die die Notifizierungspflicht überhaupt auslösen. DerGerichtshof hat nämlich in Bezug auf einen italienischen Gesetzesentwurfentschieden, dass die Italienische Republik durch die bloße Tatsache, dass sie derKommission sämtliche in dem Gesetz enthaltenen Bestimmungen zur Kenntnisgebracht hatte, nicht daran gehindert war, die Bestimmungen, die keinetechnischen Vorschriften darstellten, unmittelbar, also ohne die Ergebnisse des inder Richtlinie vorgesehenen Untersuchungsverfahrens abzuwarten, in Kraft zusetzerr'". Anders ausgedrückt muss ein Mitgliedstaat nach der Rechtsprechung desGerichtshofs zwar den gesamten Gesetzentwurf übermitteln, doch er muss nichtdas Inkrafttreten derjenigen Teile, die keine technischen Vorschriften darstellen,aufschieben. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung scheint es mirdenkrichtig, dass nur diejenigen Bestimmungen eines Gesetzes, die tatsächlichtechnische Vorschriften darstellen, unanwendbar sind".

61. Dies führt mich zurück zum vorliegenden Fall. Weder die Erlaubnispflichtnoch das staatliche Monopol sind meiner Meinung nach technische Vorschriftenim Sinne der Richtlinie 98/34.

62. Die Richtlinie 98/34 soll sowohl den freien Warenverkehr als auch dieDienstleistungsfreiheit bezüglich Diensten der Informationsgesellschaft durchvorbeugende Kontrolle schützen.

63. Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Bestimmungen überAutomatenspiele mit niedrigen Gewinnen, die die Durchführung solcher Spiele ananderen Orten als in Kasinos und Spielsalons beschränken oder sogar allmählichunmöglich machen können, "technische Vorschriften" im Sinne von Art. 1 Nr. 11der Richtlinie 98/34 darstellen können". In einem solchen Fall könnte man

35 _ C-194/94, EU:C:1996:172, Rn. 54.

36 Siehe Urteil Kommissionlltalien (C-279/94, EU:C:1997:396, Rn. 42).

37 _ Diese Ansicht wird geteilt von Dietlein, J., .Jnformationsrichtlinie", inJ. DietleinIM. Hecker/M. Ruttig (Hrsg.), Glücksspielrecht, C.H. Beck, München, 2008, Rn. 19.

38 Siehe Urteil Fortuna u. a. (C-213/11, C-214/11 und C-217/11, EU:C:2012:495, Rn. 40). DerGerichtshof war jedoch eher zurückhaltend, denn in derselben Randnummer führte er weiteraus, dass die Notifizierungspflicht nur gilt, sofern feststeht, dass die fraglichen Bestimmungen

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versuchen, einen Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr herzustellen, da esum Spielautomaten geht. Im vorliegenden Fall ist das Verbot aber wesentlichweiter gefasst. Der Zusammenhang mit einem Automaten scheint mir zu dürftig.

64. Deshalb schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage zuantworten, dass Art. 8 der Richtlinie 98/34 daran hindert, die ohne innerstaatlicheErlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten über einen Spielautomaten aneinen in einem anderen Mitgliedstaat lizenzierten Wettveranstalter zusanktionieren, wenn die staatlichen Eingriffe auf technischen Vorschriftenberuhen, die der Europäischen Kommission nicht notifiziert worden sind.Nationale Bestimmungen wie die §§ 4 Abs. 1 und 10 Abs. 2 und 5 GlüStV sindkeine "technischen Vorschriften" im Sinne von Art. 1Nr. 11 der Richtlinie 98/34.

D - Dritte Frage

65. Die dritte Frage beruht auf der zutreffenden Prämisse, dass eineBeschränkung der Dienstleistungsfreiheit und ein Lizensierungsverfahren nurgerechtfertigt sind, soweit sie dazu dienen, ein im übergeordneten öffentlichenInteresse liegendes Ziel zu schützen, und außerdem gemessen an dem verfolgtenZiel verhältnismäßig sind und in Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen desUnionsrechts stehen.

66. Das vorlegende Gericht sucht also Orientierung in der Frage, ob daslaufende Konzessionsverfahren auf der Grundlage desGlücksspieländerungsstaatsvertrags mit Art. 56 AEUV und den allgemeinenGrundsätzen des Unionsrechts in Einklang steht. Sollte dies nicht der Fall sein,könnte Frau Ince nicht nach § 284 StGB strafrechtlich belangt werden. Dasvorlegende Gericht nimmt auf eine lange Liste von Faktoren Bezug, die seinerAnsicht nach dazu führen könnten, dass das laufende Konzessionsverfahren alsunionsrechtswidrig anzusehen ist.

67. Zu Beginn sollte daran erinnert werden, dass es letztlich Sache des für dieBeurteilung des Sachverhalts sowie für die Auslegung des nationalen Rechtsallein zuständigen nationalen Gerichts ist, zu bestimmen, ob das nationale Rechtgemessen an dem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel verhältnismäßig ise9•Der Gerichtshof kann jedoch Hinweise auf der Grundlage der im Rahmen desVerfahrens erteilten Auskunft geben". Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshofnicht in der Lage, jede vom nationalen Gericht angeführte Einzelheit zubeurteilen, da die dritte Frage voller Sachgesichtspunkte ist. Ich würde ihm

Vorschriften darstellen, welche die Art oder die Vermarktung des betreffenden Erzeugnisseswesentlich beeinflussen können, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

39 Siehe Urteile Rinner-Kühn (171/88, EU:C:1989:328, Rn. 15), Schönheit und Becker (C-4/02und C-5/02, EU:C:2003:583, Rn. 82), sowie Bressol u. a. (C-73/08, EU:C:201O:181, Rn. 64).

40 _ Siehe Urteil Bressol u. a. (C-73/08, EU:C:2010:181, Rn. 65).

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,deshalb raten, die vom vorlegenden Gericht angeführten Sachgesichtspunkte nichtim Einzelnen zu prüfen, da dafür Zugang zu allen Aspekten des nationalenKonzessionsverfahrens erforderlich wäre.

68. Aus diesem Grund werde ich einige allgemeine Grundsätze in Erinnerungrufen, die von den nationalen Behörden zu beachten sind, wenn sie sich einesLizensierungssystems bedienen. Diese Grundsätze ergeben sich aus derRechtsprechung des Gerichtshofs zur Auftragsvergabe, zu Konzessionen und zuVerfahren der vorherigen behördlichen Genehmigung. Der Gerichtshof wendet indiesen Bereichen die gleichen Grundsätze an. Es besteht stets die Pflicht, dieGrundregeln des Vertrags und die daraus folgenden Grundsätze zu beachten, dadie Ausübung der betreffenden Tätigkeiten auch Wirtschaftsteilnehmer in anderenMitgliedstaaten interessieren könnte".

69. Öffentliche Stellen, die Lizenzen erteilen, haben die Grundregeln desVertrags, insbesondere den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot derDiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie das daraus folgendeTransparenzgebot zu beachten'". Die Mitgliedstaaten müssen insoweit einenangemessenen Grad an Öffentlichkeit sicherstellen, der eine Öffnung derDienstleistungskonzessionen für den Wettbewerb und die Nachprüfungermöglicht, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt wurden".

70. Ferner muss ein Lizensierungssystem auf objektiven, nichtdiskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruhen, damit derErmessensausübung durch die Behörden Grenzen gesetzt werden, die einenErmessensmissbrauch verhindern". Jedem, der von einer einschränkendenMaßnahme berührt wird, die auf einer Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheitberuht, muss der Rechtsweg offen stehen".

71. Weitere Orientierung findet sich in der Richtlinie 2014/23IEU desEuropäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über dieKonzessionsvergabe'". Diese Richtlinie, die am 18. April 2014 in Kraft trat, ist biszum 18. April 2016 umzusetzen. Obwohl die Richtlinie auf ein

41 Siehe Urteil Belgacom (C-221112, EU:C:2013:736, Rn.33 und die dort angeführteRechtsprechung). Siehe auch Urteil Sporting Exchange (C-203/08, EU:C:2010:307, Rn. 39 bis47)

42 _ Siehe Urteil Sporting Exchange (C-203/08, EU:C:201O:307, Rn. 39 und die dort angeführteRechtsprechung).

43 Ebd. (Rn. 41).

44 _ Ebd. (Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45 _ Ebd.

46 _ ABI. L 94, S. 1.

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Lizensierungsverfahren wie das hier in Rede stehende nicht anwendbar scheint"und jedenfalls die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, können die ihrzugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze in Anbetracht dessen, dass derGerichtshof bei Verfahren zur Erteilung von Lizenzen und von Konzessionen aufdie gleichen Grundsätze zurückgreift", der Erhellung und Unterrichtung dienen.

72. In Bezug auf einen Interessenkonflikt im Kontext einer Auftragsvergabehat der Gerichtshof befunden, dass sich eine Person, die bestimmte vorbereitendeArbeiten ausgeführt hat, in einer Situation befinden kann, in der nicht geltendgemacht werden kann, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung es erfordert, dasssie in der gleichen Weise behandelt wird wie jeder andere Bieter". Außerdembestimmt die Richtlinie 2014/23 in ihrem Art. 35 ("Bekämpfung von Bestechungund Verhinderung von Interessenkonflikten"), dass, ,,[u]mWettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und die Transparenz desVergabeverfahrens und die Gleichbehandlung aller Bewerber und Bieter zugewährleisten, . . . die Mitgliedstaaten von öffentlichen Auftraggebern undAuftraggebern [verlangen müssen], geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung vonBetrug, Günstlingswirtschaft und Bestechung sowie zur wirksamen Verhinderung,Aufdeckung und Behebung von Interessenkonflikten, die bei der Durchführungvon Konzessionsvergabeverfahren auftreten, zu treffen". Weiter heißt es dort, dass,,[d]er Begriff ,Interessenkonflikt' ... zumindest alle Situationen [abdeckt], indenen Mitarbeiter des öffentlichen Auftraggebers oder des Auftraggebers, die ander Durchführung des Konzessionsvergabeverfahrens beteiligt sind oder Einflussauf den Ausgang des Verfahrens nehmen können, direkt oder indirekt einfinanzielles, wirtschaftliches oder sonstiges privates Interesse haben, das alsBeeinträchtigung ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit im Rahmen desKonzessionsvergabeverfahrens wahrgenommen werden könnte".

73. Nach dem Transparenzgrundsatz muss der Auftraggeber zugunstenpotenzieller Bieter einen angemessenen Grad an Öffentlichkeit sicherstellen, derden Dienstleistungsmarkt dem Wettbewerb öffnet und die Nachprüfungermöglicht, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt wurden'". Ebensoenthält die Richtlinie 2014/23 in ihrem Anhang V eine ausführliche Liste der,,Angaben in Konzessionsbekanntmachungen gemäß Art. 31".

47 _ Siehe 14. Erwägungsgrund der Richtlinie. Obwohl sowohl imGlücksspieländerungsstaatsvertrag als auch im Vorabentscheidungsersuchen der deutscheBegriff .Konzessionien)" verwendet wird, sollte betont werden, dass es sich für die Zwecke desUnionsrechts eindeutig um Lizenzen und nicht um "Konzessionen" im Sinne der Richtliniehandelt.

48 _ Siehe Urteil Sporting Exchange (C-203/08, EU:C:201O:307, Rn. 39 bis 47).

49 _ Urteil Fabricom (C-21/03 und C-34/03, EU:C:2005:127, Rn. 31).

50 _ Siehe Urteil Telaustria und Telefonadress (C-324/98, EU:C:2000:669, Rn. 62).

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74. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht der vorstehendenAusführungen zu ermitteln, ob das laufende Konzessionsverfahren mit denallgemeinen Grundsätzen in Einklang steht und damit eine gerechtfertigteEinschränkung von Art. 56 AEUV darstellt.

75. Die Antwort auf die dritte Frage sollte demnach lauten, dass Art. 56 AEUVder Sanktionierung der Vermittlung von Sportwetten ohne innerstaatlicheErlaubnis an einen in einem anderen Mitgliedstaat lizenzierten Wettveranstalterentgegensteht, wenn ein nationales Gericht festgestellt hat, dass einKonzessionsverfahren, in dem höchstens 20 Konzessionen für Wettveranstaltervergeben werden, nicht mit allgemeinen Grundsätzen wie demGleichheitsgrundsatz, dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen derStaatsangehörigkeit und dem Transparenzgrundsatz in Einklang steht.

IV - Ergebnis

76. Im Licht aller vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshofvor, die vom Amtsgericht Sonthofen (Deutschland) vorgelegten Fragen wie folgtzu beantworten:

1. Hat ein nationales Gericht festgestellt, dass ein Sportwettenmonopol gegenUnionsrecht verstößt, und können nach den Bestimmungen des nationalenRechts nur öffentliche Einrichtungen eine innerstaatliche Erlaubniserlangen, so hindert Art. 56 AEUV nationale Strafverfolgungsbehördendaran, die ohne innerstaatliche Erlaubnis erfolgte Vermittlung vonSportwetten an einen in einem anderen Mitgliedstaat lizenziertenWettveranstalter zu sanktionieren.

2. Art. 8 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Ratesvom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet derNormen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Diensteder Informationsgesellschaft hindert daran, die ohne innerstaatlicheErlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten über einen Spielautomatenan einen in einem anderen Mitgliedstaat lizenzierten Wettveranstalter zusanktionieren, wenn die staatlichen Eingriffe auf technischen Vorschriftenberuhen, die der Europäischen Kommission nicht notifiziert worden sind.Nationale Bestimmungen wie die §§ 4 Abs. 1 und 10 Abs.2 und 5 desStaatsvertrags zum Glücksspielwesen sind keine "technischenVorschriften" im Sinne von Art. 1Nr. 11 der Richtlinie 98/34.

3. Art. 56 AEUV steht der Sanktionierung der Vermittlung von Sportwettenohne innerstaatliche Erlaubnis an einen in einem anderen Mitgliedstaatlizenzierten Wettveranstalter entgegen, wenn ein nationales Gerichtfestgestellt hat, dass ein Konzessionsverfahren, in dem höchstens 20Konzessionen für Wettveranstalter vergeben werden, nicht mit allgemeinenGrundsätzen wie dem Gleichheitsgrundsatz, dem Verbot der

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Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und demTransparenzgrundsatz in Einklang steht.