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Annette Deeken Traveling Shots 42 Schne Fremde Zur ˜sthetik von Reisefilmen Von Annette Deeken »Sehen Sie sich die Welt an! Die nchste Generati- on sieht sie nicht mehr so malerisch!« (Berliner Illustrierte Zeitung, 1924) »Ein Film ist wie eine Reise. Diese kann nach einem Programm geplant werden, aber die Orte selbst entdeckt man erst whrend der Fahrt.« (Federico Fellini) V orausgeschickt sei, dass Reisefilme ein u- erst inhomogenes Gegenstandsgebiet dar- stellen. Erster Befund: Im Unterschied zur Foto- grafiegeschichte, die Reise zumindest partiell als Sujet zur Kenntnis nimmt, wenn auch eingegrenzt auf die Frühzeit des Mediums im 19. Jahrhundert [1], ging die Mediengeschichtsschreibung bislang weitgehend an dem kinematografischen Gegen- stück zur Reisefotografie vorbei. Zweiter Befund: Die vorherrschende Form und damit auch die zeit- genssische Vorstellung von Reisefilmen wird ma- geblich geprgt durch das Medium Fernsehen, das kontinuierlich Dokumentationen, Magazine und sogar eigene Verkaufssender zum Thema Reise of- feriert. Hier wird man auf der anderen Seite aller- dings festhalten müssen: Das Gros modernerer Fil- me, die dem Genre des Reisefilms zuzuordnen wren und das Gesicht dieser Gattung geprgt haben, basiert seit etlichen Jahrzehnten auf der Mitfinanzierung der Abspielsttte Fernsehen. Eine strikte Sortierung nach Produktions- und Rezep- tionskontext lsst sich also für Reisefilme nicht durchhalten. Dritter Befund: Die Mediengeschich- te hat Millionen von Filmmetern vorzuweisen, die irgendwo in der so genannten Fremde auf Reisen gedreht wurden. Parallel zur Ausformung des mo- dernen Tourismus hat sich eine Kamerapraxis eta- bliert, sodass Reisen und Fotografieren/Filmen qua- si zu Synonymhandlungen geworden sind [2]. Dar- aus ergibt sich, dass wir gemessen an der Gesamt- produktion davon ausgehen knnen, dass nur eine geringe Zahl von Reisefilmen bekannt ist, zhlen Exemplare dieser Gattung doch zu dem einzigen Filmgenre, zu dem Professionelle, Semiprofessio- nelle und Amateure gleichermaen beigetragen haben, und dies praktisch seit Beginn der Film- geschichte. ˜hnlich wie die Fotografie kennt auch der Film gerade auf dokumentarischem Gebiet sehr durchlssige Grenzen zwischen Professionali- tt und Amateurtum. Dass eine so bekannte Auto- rin wie Ella Maillart, die als Reisefotografin und Reiseschriftstellerin in England und Frankreich glei- chermaen berühmt ist, auch das Medium Film als Dokumentationsmittel eingesetzt hat, wurde erst jüngst bekannt durch das Bonusmaterial, das ei- nem Spielfilm über sie und ihre Reise mit Anne- marie Schwarzenbach beigefügt wurde [3]. Dieses Beispiel zeigt, dass Reisefilme keinen so festgefüg- ten und übersichtlichen Ort in der sozialen Me- dienpraxis haben wie das eindeutig im Kinover- wertungskontext platzierte Road Movie. Entsprechend unüberschaubar ist das Kontin- gent an Reisefilmen, deren Spektrum von journali- stisch-dokumentarischer Zweckware über den pri- vaten Film bis zur experimentellen camØra stylo reicht. Letztere lsst den Gebrauch der Film-/Vi- deo-/DV-Kamera auf Reisen in einen kreativen Prozess der Filmkonstruktion münden, ohne vor- hersagbare Publikumsresonanz. Aus dem enorm breiten Spektrum an Akteuren und Zielsetzungen ergibt sich logischerweise eine Diffusion: Nur zum Teil bilden Reisefilme ein Genre im Sinne eines festgefügten und stetig wiederholten dramaturgi- schen Musters, wie es etwa der Western durch die Produktionsmechanismen des Studiosystems in Hollywood erfahren hat. In vielen Fllen unter- luft das freie Spiel mit dem Sujet jedoch die Erwartungshaltungen. Von ihnen soll im Folgen- den etwas ausführlicher die Rede sein. Doch blik- ken wir zunchst zurück auf die Anfnge des Gen- res, das heit auf jene Zeit, als Reisefilme, wie überhaupt Filme, als Bilder verstanden wurden.

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  • Annette Deeken Traveling Shots

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    Schöne FremdeZur Ästhetik vonReisefilmen

    Von Annette Deeken

    »Sehen Sie sich die Welt an! Die nächste Generati-on sieht sie nicht mehr so malerisch!«

    (Berliner Illustrierte Zeitung, 1924)

    »Ein Film ist wie eine Reise. Diese kann nacheinem Programm geplant werden, aber die Orteselbst entdeckt man erst während der Fahrt.«

    (Federico Fellini)

    V orausgeschickt sei, dass Reisefilme ein äu-ßerst inhomogenes Gegenstandsgebiet dar-stellen. Erster Befund: Im Unterschied zur Foto-grafiegeschichte, die Reise zumindest partiell alsSujet zur Kenntnis nimmt, wenn auch eingegrenztauf die Frühzeit des Mediums im 19. Jahrhundert[1], ging die Mediengeschichtsschreibung bislangweitgehend an dem kinematografischen Gegen-stück zur Reisefotografie vorbei. Zweiter Befund:Die vorherrschende Form und damit auch die zeit-genössische Vorstellung von Reisefilmen wird maß-geblich geprägt durch das Medium Fernsehen, daskontinuierlich Dokumentationen, Magazine undsogar eigene Verkaufssender zum Thema Reise of-feriert. Hier wird man auf der anderen Seite aller-dings festhalten müssen: Das Gros modernerer Fil-me, die dem Genre des Reisefilms zuzuordnenwären und das Gesicht dieser Gattung geprägthaben, basiert seit etlichen Jahrzehnten auf derMitfinanzierung der Abspielstätte Fernsehen. Einestrikte Sortierung nach Produktions- und Rezep-tionskontext lässt sich also für Reisefilme nichtdurchhalten. Dritter Befund: Die Mediengeschich-te hat Millionen von Filmmetern vorzuweisen, dieirgendwo in der so genannten Fremde auf Reisen

    gedreht wurden. Parallel zur Ausformung des mo-dernen Tourismus hat sich eine Kamerapraxis eta-bliert, sodass Reisen und Fotografieren/Filmen qua-si zu Synonymhandlungen geworden sind [2]. Dar-aus ergibt sich, dass wir gemessen an der Gesamt-produktion davon ausgehen können, dass nur einegeringe Zahl von Reisefilmen bekannt ist, zählenExemplare dieser Gattung doch zu dem einzigenFilmgenre, zu dem Professionelle, Semiprofessio-nelle und Amateure gleichermaßen beigetragenhaben, und dies praktisch seit Beginn der Film-geschichte. Ähnlich wie die Fotografie kennt auchder Film gerade auf dokumentarischem Gebietsehr durchlässige Grenzen zwischen Professionali-tät und Amateurtum. Dass eine so bekannte Auto-rin wie Ella Maillart, die als Reisefotografin undReiseschriftstellerin in England und Frankreich glei-chermaßen berühmt ist, auch das Medium Film alsDokumentationsmittel eingesetzt hat, wurde erstjüngst bekannt durch das Bonusmaterial, das ei-nem Spielfilm über sie und ihre Reise mit Anne-marie Schwarzenbach beigefügt wurde [3]. DiesesBeispiel zeigt, dass Reisefilme keinen so festgefüg-ten und übersichtlichen Ort in der sozialen Me-dienpraxis haben wie das eindeutig im Kinover-wertungskontext platzierte Road Movie.

    Entsprechend unüberschaubar ist das Kontin-gent an Reisefilmen, deren Spektrum von journali-stisch-dokumentarischer Zweckware über den pri-vaten Film bis zur experimentellen caméra styloreicht. Letztere lässt den Gebrauch der Film-/Vi-deo-/DV-Kamera auf Reisen in einen kreativenProzess der Filmkonstruktion münden, ohne vor-hersagbare Publikumsresonanz. Aus dem enormbreiten Spektrum an Akteuren und Zielsetzungenergibt sich logischerweise eine Diffusion: Nur zumTeil bilden Reisefilme ein Genre im Sinne einesfestgefügten und stetig wiederholten dramaturgi-schen Musters, wie es etwa der Western durch dieProduktionsmechanismen des Studiosystems inHollywood erfahren hat. In vielen Fällen unter-läuft das freie Spiel mit dem Sujet jedoch dieErwartungshaltungen. Von ihnen soll im Folgen-den etwas ausführlicher die Rede sein. Doch blik-ken wir zunächst zurück auf die Anfänge des Gen-res, das heißt auf jene Zeit, als Reisefilme, wieüberhaupt Filme, als Bilder verstanden wurden.

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    Reisebilder

    Der Begriff »Reisefilm« war in der Zeit des FrühenKinos nicht gebräuchlich. Filme dieses Genreswurden in der kinematografischen Presse entwe-der unter dem generellen Titel »Naturaufnahmen«inseriert oder unter der zeitgenössisch gängigenBezeichnung »Reisebilder« [4]. Vor allem die aufdie filmische Repräsentation ferner Länder spe-zialisierten Produktionsfirmen Raleigh & Robert,Eclipse Urban Trading und Welt-KinematographFreiburg i. Br. haben diesen Begriff in ihren Anzei-gen häufig gebraucht. Eine ihrer Standardformelnlautete: »Als prächtiges Reisebild für jedes Pro-gramm geeignet, denn jedes Publikum liebt schöneNaturaufnahmen.« [5] Die ersten Reisebilder ge-hören zu den traditionsreichsten Formaten desdokumentarischen Films und wurden bereits vondem Lyoner Foto- und Filmunternehmen Lumièreab 1896 produziert. Die Filmwissenschaft pflegtdie Periode der so genannten single shots des Frü-

    hen Kinos in der Regel zwar fein säuberlich abzu-grenzen von dem filmischen Geschehen der späte-ren Jahre und Jahrzehnte, doch die im Auftrag derBrüder Lumière gedrehten Kurzfilme können para-digmatischen Charakter beanspruchen für die Äs-thetik des Reisefilms, denn sie verbinden jeweils»exotische« Orte mit der Kunst der Bewegungs-darstellung.

    Schaut man sich den kurzen Streifen an, derim Lumière-Katalog die Nummer 381 und denTitel LES PYRAMIDES trug, so wird man auf demkurzen dokumentarischen Film in brillanter Schär-fe sehen, wie genau der zuständige OperateurAlexandre Promio auf seiner Ägyptenreise 1896/97 ein klassisches Reiseziel kadriert, wie er diePyramide als geometrische Figur im Hintergrundso positioniert hat, dass deren Spitze fast bis zumoberen Bildrand ragt und doch noch ein wenigHimmel sehen lässt. Davor thront der Sphinx, des-sen markanter Kopf oben fast auf derselben Höheendet wie die Pyramide. Promio verzichtete hier

    Inserat aus dem Kinematograph, 1910

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    auf die Anordnung mit räumlicher Tiefe, wie siebeim bereits klassischen Filmmotiv (Brüder Lu-mière: LARRIVÉE DUN TRAIN À LA CIOTAT / DieAnkunft eines Zuges im Bahnhof von La Ciotat;1895) üblich war. Die exakte Kadrierung erlaubtdurch die Einbuchtung am Hals der Sphinx einenBlick auf die fallende Linie der rechten Pyramiden-seite, sodass die Figur trotz Verdeckung vollstän-dig wirkt. Nach kaum zwei Sekunden, wobei mandavon ausgehen darf, dass das erste Filmbild sei-nerzeit als Standbild projiziert wurde, kommt derKopf eines Kamels von links ins Bild, gefolgt voneinem Kamelreiter in weißem Kaftan. Insgesamtdefilieren 19 weiß gekleidete Araber, zwei dunkelgekleidete Männer mit Schlägermütze und Hutsowie elf Kamele an der Kamera vorbei. Sehr vielAktion also in einem Film, der noch nicht einmaleine Minute dauert [6]. Und ein sehr dicht kom-primiertes Arrangement, das die raumgreifendeArchitektonik kombiniert mit einer Choreografieder Vordergrundbewegung. Wie gewagt diese Bild-aufteilung seinerzeit gewirkt haben muss, machendie Fotografien deutlich, die fast zeitgleich am sel-ben Ort entstanden.

    Der touristische Blick

    Im Unterschied zu heutigen Reisefilmen warendie Reisebilder des Frühen Kinos unangefochten.Selbst Literaten jener Zeit, denen man nicht gera-de eine populistische Haltung nachsagen kann,zeigten sich beeindruckt von filmischen Reise-ereignissen, die ihnen »eine Reise nach Australien«(Max Brod, 1909) oder »ein junges marokkani-sches Weib, in gestreifter Seide, aufgeschirrt mitKetten, Spangen und Ringen« (Thomas Mann inDer Zauberberg) darboten. In der Auswahl derMotive hatte der Reisefilm der frühen Jahre leich-tes Spiel, war doch für das zeitgenössische (Kolo-nial-)Bewusstsein die Repräsentation von Fremdenoch nicht diskreditiert durch den Tourismus, derzur Jahrhundertwende, exakt parallel zur Entwick-lung des Kinos, erstmals in größerem Stil etabliertwurde. Im Ensemble der Reisebilder, die den tou-ristischen Blick konstituiert haben, nahm das Me-dium Film keineswegs den prominenten erstenPlatz ein, wie wir es heute aus Unterhaltungs-

    branche und Traumfabrik gewohnt sind. Bevor dasMotiv »Reise« überhaupt erstmals im Film dar-stellbar war, hatte es schon rund vier Jahrhunderteintensiver medialer Bearbeitung hinter sich. ZuBeginn seiner Geschichte traf der Reisefilm daherauf eine stattliche Zahl ernst zu nehmender Kon-kurrenten, die das weiträumige Feld der ikonogra-fischen Formen vorgeprägt beziehungsweise mit-bestimmt haben.

    Ein deutliches Indiz bildet die Tatsache, dassdas filmische Angebot auf das bereits popularisier-te Medium der Ansichtskarten reagierte. Schondie zahllosen Filmtitel, die kinematografische An-sichten von fremden Städten, Landschaften und sogenannten Volkstypen anboten, machen dies deut-lich. In dem Film ANSICHTEN VON SPANIEN AUFPOSTKARTEN wurde 1907 sogar explizit Bezug aufdas konkurrierende Bildmedium genommen. DerFilm stammt von der französischen FilmfirmaPathé Frères, die sich rühmte, die größte Kinema-tografen- und Filmfabrikation der Welt zu haben,und wurde den Zeitgenossen in dem Fachblatt DerKinematograph wie folgt beschrieben: »Ansichtenvon Spanien auf Postkarten. Komische Figuren,malerische Ansichten, enge, krumme Gassen längsdes Guadalquivir, Granada und die Sierra Nevada,die Alhambra, dieses Wunderwerk, dessen Farbendie Maler entzücken und verzweifeln [sic!], dasPanorama des Parks von Barcelona etc. ziehen inschnellen malerischen Szenen vorüber und sindoriginellerweise auf Postkarten in einem Laden derAlhambra ausgestellt.« [7]

    Der Film basierte auf dem simplen optischenTrick, die abgebildeten Motive zunächst als foto-grafische Standbilder zu zeigen, die als Postkartenan einem Kiosk verkauft werden, um sich anschlie-ßend als Film herauszustellen. Diese Demonstrati-on der Aggregatveränderung von stehender zu be-wegter Fotografie ist erst viele Jahrzehnte späterals ästhetisches Instrument für die Gestaltung ex-perimenteller Reisefilme wiederentdeckt worden.

    Die Ästhetik von Ansichtskarten und Reise-filmen, davon zeugen heutzutage ja hinreichenddie Reisedarstellungen in Fernsehmagazinen, wirdmaßgeblich bestimmt von ihrer ideologischen Funk-tion. Beide Medien konstituieren jenen touristi-schen Blick, dessen Qualität eine hoffnungslos ro-

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    mantische Weltverklärung ist, dieVergangenheit (zeitlich) bezie-hungsweise Fremde (räumlich)mit Idylle und Harmonie gleich-setzt. Der touristische Blick suchtKontraste zum eigenen Alltag undfindet diese in nostalgisch ver-winkelten Gassen, romantischenSonnenuntergängen etc., mithin inAusdrucksformen vor-industriel-ler Gesellschaften und so genann-ter freier Natur. Romantisch, pit-toresk und malerisch sind dem-entsprechend die stereotypen At-tribute, mit denen früher Reise-filme beschrieben wurden. Einwichtiger und nicht immer ideo-logisch verklärend gemeinter As-pekt ist dabei die Erwartung einerkulturellen und sozialen Andersartigkeit.

    Die Dimensionen dieses Erwartungshorizontesfreilich haben sich verschoben. Nur schwer nach-vollziehbar ist heute der exotische Reiz eines Filmswie DIE SCHÖNSTEN WASSERFÄLLE DER OSTAL-PEN (um 1908). Der Film der Emelka-Kulturfilmist dramaturgisch mittig geteilt und entwirft inseinem ersten Teil das Kaleidoskop einer Bergregi-on, das folgendermaßen abläuft: Eine Totale zeigteinen munteren Flusslauf, eingebettet in eine Ge-birgslandschaft; aus einer schattigen Weinlaubeheraus blickt man auf die Dorfstraße, auf der eineGruppe mit einem beladenen Maulesel heran-kommt; Bauern dreschen; ein Alter hockt (halb-total) im Schneidersitz und schmaucht eine lang-stielige Pfeife (nah); zurück zur Dorfstraße, woeine junge Frau in Tracht am Tragegestell des Eselshantiert und in die Kamera lächelt; im Vollprofildie Nahaufnahme einer alten Frau in Tracht, diezu lachen beginnt und sich offen zur Kamera wen-det; Männer und Frauen besteigen einen Leiterwa-gen; eine junge Frau lehnt an einem Baum und hältdemonstrativ eine Spindel hoch; Kühe weiden aufsaftigem Grund; auf dem geschnitztem Balkon ei-nes großen Holzhauses steht eine Frau in Tracht;diese kommt durch ein Gatter; in der nun folgen-den Totale dient die Frau als klassische Rücken-figur: Sie steht stellvertretend für den Zuschauer

    im Bild und betrachtet die vor ihr ausgebreiteteGebirgslandschaft mit Wasserfall. Dieser erste Teildes Films ungefähr die Hälfte der viereinhalbMinuten erfüllt in seinem behäbigem Rhythmuseine ethnografische Funktion. Der folgende Teilwechselt in der Dramaturgie und entwirft einerasante Wasser-Choreografie, die in zwölf Einstel-lungen ihr Motiv geschickt variiert und den rau-schenden, tosenden, hoch aufstäubenden Wasser-fall aus den unterschiedlichsten Kameraperspekt-iven zeigt. Der gesamte Film besteht aus festenEinstellungen in wechselnden Größen, die meistin harten Schnitten montiert sind. Trotz derselbenMittel wirkt die Inszenierung des stürmischenWasserfalls dynamisch rasant, während der ersteTeil kontrapunktisch eine Kollektion verschiede-ner Ansichten der Bergwelt in gemächlichem Tem-po »abblättert«. Dieser statische, bildhafte Ein-druck verdankt sich der offenkundig abgesproche-nen Handlung und dem starren Posieren vor derKamera. Unterstützend wirkt dabei, dass fast je-der Schnitt ein neues Motiv bringt. Diese Motivewiederum wirken wie ausgesuchte visuelle »Be-weise« für eine exotische, rückständige Bergwelt.Ein Esel als Transportmittel, die verwitterten Ge-sichter der Alten, die bäuerliche Arbeit und dasTragen von Trachten, diese Zusammenstellung eig-net sich für die subtile ideologische Funktion, das

    Filmpionier Felix Mesguich vor den Pyramiden

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    Bild einer schönen Dorfidylle hervorzubringen. Be-stärkt wird diese gefällige Lesart durch die Schön-wetter-Optik: Gefilmt wurde ausschließlich bei

    strahlendem Sonnenschein und mit Handlungs-trägern in schmucken, blitzend weißen Sonntags-trachten. Eine solche Darstellungsart, die einzelneEinstellungen als autonome und erkennbar zumEinzelbild arrangierte Ansichten aneinanderreiht,ist typisch für die »Postkarten-Ästhetik« [8] derReisefilme. Der in dieser Formulierung gelegent-lich mitschwingende pejorative Unterton zielt aufdie ideologische Funktion, die Konstruktion einestouristischen Blicks, und sollte nicht mit der ästhe-tischen Leistung verwechselt werden, denn dieReisefilme des Frühen Kinos sind mitunter vonhoher fotografischer Qualität und beträchtlichemGestaltungsreichtum. Ihr spezifischer ästhetischerCharakter, wie er im Rahmen des Genres zu spä-teren Zeiten nicht oft wieder erreicht wurde, zeigtsich bereits an der Vielzahl origineller Bildlösungenfür die statische Form der Ansicht.

    Die Ästhetik der Ansicht

    Um die Bildhaftigkeit und den Ansichtskarten-Charakter einer filmischen Einstellung zu beto-nen, wurde in der Zeit des Frühen Kinos die Tech-nik der künstlerischen Nachbearbeitung einzelnerBildfolgen angewandt. Ein auffälliges Stilmittel istdie Schablonen-Optik, die Kamerabilder mit ei-nem schwarzen Rahmen montiert, wodurch einHintergrund im Stil eines Fotokartons simuliertwird. Welchen Schauwert diese Art der Montageerreichen kann, belegt eindrücklich der Film SAN-TA LUCIA, der um 1910 mit der Bildvariante einesbreiten Querovals aufwartet, womit der Bildin-halt, eine ruhige Kamerafahrt am Ufer entlang, zueiner Vignette komponiert ist, in der jeder Bruch-teil der Einstellung seinen ästhetischen Eigenwertin Anspruch nehmen kann.

    Eine zweite Variante stellen zwei Halbkreiseohne Mittellinie dar, mit denen ein Bi-Okular an-gedeutet wird. Um dem Publikum den Sinn dieserungewohnten Optik zu verdeutlichen, wurde die-se Bildmontage meist in den filmischen Kontexteingebettet; sie folgt einer Einstellung, in der Rei-sende beim Gebrauch ihres Fernglases zu sehenwaren.

    Analog zur statischen Bildästhetik der An-sichtskarte, die auf einer visuellen Oberfläche ver-

    Ein Lateral-Traveling in SANTA LUCIA (1910)

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    schiedene Ansichten kombiniert, verhält sich einedritte Bildvariante: der Split-Screen. Diese Optikvermehrt den Schauwert einer Einstellung, indemmehrere Bildstreifen verkleinert und auf einerOberfläche zusammengesetzt werden. Auf dieseWeise werden in SANTA LUCIA drei Filme gleich-zeitig zu einem Simultanbild verschaltet: Links undrechts ziehen Häuserfassaden am Ufer vorbei, dasmittlere Bild zeigt zunächst eine Brücke und wech-selt dann durch harten Schnitt auf eine Uferpro-menade. Alle drei Bildteile zeigen unterschiedli-che Bewegungen, für deren visuelle Integration derschwarze Hintergrund einer Schablone sorgt.

    Die Reisefilme der frühen Filmgeschichte wa-ren Kurzfilme mit einer durchschnittlichen Lauf-zeit von fünf Minuten. Ihre Genrezugehörigkeitgeben sie in der Regel durch einen geografischenTitel zu erkennen, wie etwa DIE FIDJI-INSELN.Typisch waren erweiterte Titel, die bereits eineexplizit touristische Warte einnehmen (zum Bei-spiel EINE REISE DURCH HOLLAND, SEHENSWÜR-DIGKEITEN IN PORTUGAL) oder die auf den me-dialen Charakter des Reisens aufmerksam machen(zum Beispiel BILDER AUS PALÄSTINA, ANSICH-TEN AUS PORTUGAL, PANORAMA DER SÄCHSI-SCHEN SCHWEIZ). Noch häufiger als diese me-dienübergreifenden Formulierungen, mit denenReisefilme ihre Reverenz an die Nachbarmedienleisteten, wurden Filmtitel gewählt, die das exklu-siv filmische Vermögen unterstreichen und derneuartigen Medienpotenz der Bewegungsdarstel-

    lung Rechnung tragen, indem sie das Durchquerendes Raumes betonen (zum Beispiel »Quer durch...«, »Eine Fahrt nach ...«, »Eine Reise durch ...«,»Ein Streifzug in ...« etc. ).

    Traveling

    In der Pionierzeit des Kinos bezogen Reisefilmeihren besonderen ästhetischen Reiz aus dem Fak-tum, dass das dynamische Grundelement der Rei-se im Sinne von Bewegung und Ortsveränderungeinen adäquaten sinnlichen Ausdruck in den zeit-basierten Aufnahmen eines Filmapparates findenkonnte. Der Prozess des Unterwegsseins ist visuellreproduzierbar in der Dauer der einzelnen Einstel-lungen und das Bild der dynamischen Kamera alsmobiler Blick erfahrbar, wie ihn ein Reisender alsPassagier gehabt haben könnte. Zum ersten Mal inder Geschichte der Reisemedien konnte also dasZurücklegen einer Wegstrecke zwischen den Sta-tionen (und damit tendenziell die Dauer ihrer Be-wältigung) dargestellt und somit das Unterwegs-sein als solches simuliert werden. Nichts könntedeutlicher auf diese Simulationskunst verweisenals der französische terminus technicus für Kamera-fahrten: das Traveling. Während die Ästhetik derAnsicht Anleihen bei anderen Formen visuellerReisebilder machte, bewährte sich das Travelingals originär ästhetisches Instrument des kinemato-grafischen Mediums. Das Bewegtbild triumphier-te, indem es zunächst im »Huckepack«-System [9]

    TRIPOLIS (1911)Split-Screen in SANTA LUCIA

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    auf Schiffen und in Ruderbooten, in Automobilenund Schienenbahnen aller Art mitfuhr, doch dasTraveling wurde ein bleibendes, stilistisches Grund-element des Reisefilms.

    Das simulierte Mitfahren auf fahrbarem Un-tersatz brachte ein wesentliches Moment von Dy-namik in den Schauwert hinein: Handlungsarmeund undramatische Stadt- und Naturlandschaftenwerden seither auch im Road Movie mit einemTraveling angereichert. Es entsteht der Eindruckvon action, weil sich während einer Fahrt die per-spektivische Abbildung kontinuierlich verschiebt.Zu diesem räumlichen Aspekt der erweiterten Per-zeption kommt der zeitliche, denn ein Travelingvermittelt, da ununterbrochen gefilmt, ein Gefühlfür Dauer, Geschwindigkeit und Verlauf einerFahrt. Besonders plastisch überträgt sich diesesGefühl, wenn, wie etwa in dem Film SEEBILDERAUS SWINEMÜNDE die Kamera relativ niedrig po-stiert und der Wellengang stark ist. (Übrigens hatauch NANOOK OF THE NORTH [Nanook, der Eski-mo; 1922; R: Robert Flaherty] diese Technik alsEntree verwendet.) Nicht umsonst hat der Opera-teur dieses Films von 1913 Wert darauf gelegt,

    eine Maßstabfigur in Form einesBootsmannes stetig im Bild zu hal-ten, um das Meer als verursachen-des Bewegungsmoment (und nichtsein apparatives Unvermögen) her-auszustellen.

    1911, konstatierte die ErsteInternationale Film-Zeitung, sahman in »landschaftlichen Bildernim Kino [...] immer und immerwieder Schiffe, Ballons, Flugma-schinen usw. vorübergleiten« [10].Die Hauptakteure des frühen Rei-sefilms waren vor allem techni-scher Natur. Die rapide Innovati-on der Verkehrsmittel begründe-te zugleich die Entwicklung desTourismus und der Kinoreisen.Wenngleich es wohl übertriebensein dürfte, zwischen der europä-ischen Produktion von Reiseauf-nahmen und dem touristisch ge-nutzten Eisenbahnnetz ein Gleich-

    heitszeichen zu setzen, so haben Reisefilme undTourismus doch von Anfang an eine besondereBeziehung durch ihren gemeinsamen Bezugspunkt,den Ausbau der technischen Infrastruktur. »ImZeitalter der Technik ist man bemüht, alles auf diebequemste und möglichst rascheste Weise zu er-zielen. Auch die Touristen profitieren durch dieTechnik. Touren, die man früher kaum in Tagenund nur unter größten Mühen und Schwierigkei-ten vollenden konnte, bewältigt man heute mühe-los in wenigen Stunden.« [11] Der Reisefilm be-trachtete sich in solchen Branchenankündigungenalso als Teil des Tourismus, was erklärt, warumandere Fortbewegungsgründe wie Migration oderForschungsexpedition nicht unter den Begriff Rei-se fielen. Der Reisefilm sah seine Rolle in der Zeu-genschaft des Fortschritts und gebrauchte gern dieSymbole der Moderne, weil sie positiv besetztschienen. 1908 erschien es noch unbedenklich, IMAUTOMOBIL ÜBER DIE ALPEN zu fahren und einenAufzug aufs Wetterhorn im Film zu bewundern.

    Aus der spezifischen Seherfahrung von Film-bildern, die während einer realen Kamerafahrt ge-dreht wurden und bei ihrer Projektion den Blick

    Across Brooklyn Bridge (American Mutoscope Company; 1899)

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    mobilisieren, leitet sich die reklamewirksame Re-deweise ab, Reisefilme seien ein Ersatz für dietatsächliche Anschauung: »Unser Film gestattetuns einen Einblick, um diejenigen Naturwunder zuschauen, die für gar so viele für immer und ewigfremd und verschlossen bleiben, denn nicht jeder-mann bietet sich die Gelegenheit, eine Tour in dieAlpen zu unternehmen.« [12] Als Argument wur-de häufig angeführt, wie kostengünstig ein Kinobe-such sei im Verhältnis zum Luxus des touristischenReisens: »Wer nicht die Mittel hat, eine Reise vonBremen nach New York und von dort nach Genuazu machen, kann sich diesen großen Genuss aufbillige Weise verschaffen, wenn er unsere Filmskauft.« [13] Neben dem finanziellen Aspekt wur-de gern auch der Komfort filmischen Reisens ge-genüber dem wirklichen Leben herausgestrichen:»Die Annehmlichkeit einer Seefahrt ohne dieUnannehmlichkeiten der Seekrankheiten« wurde1907 für den Film ÜBER DEN ATLANTISCHENOZEAN NACH NEW YORK versprochen [14].

    Farbästhetik der frühen Jahre

    Die Ära des Stummfilms und vor allem des FrühenKinos wird fälschlicherweise mit einem Kinopro-gramm in trister Schwarzweiß-Optik assoziiert.Das Reisesujet jedoch trat sehr farbenfroh undzudem bildtechnisch äußerst avanciert auf. »Reise-bilder«, schrieb die Erste Internationale Film-Zei-tung 1909, »kann man in der verschiedensten Wei-se aufnehmen, und es lassen sich immer neue undhübsche Arrangements ersinnen« [15]. Längst be-vor Le Film Esthétique Gaumont sich 1910 fragte,warum es der Kinematografie nicht vergönnt seinsollte, durch Lichteffekte, Inspiration und Schön-heit der Komposition anhaltende und künstleri-sche Genüsse auszulösen, wurde in der Fachpressenachdrücklich betont, wie außergewöhnlich diefotografische Qualität sei. Mitunter ist allerdingsnicht zu entscheiden, ob bei den als »photogra-phische Leistung 1. Ranges« [16] angekündigtenFilmen die Tatsache herausgestellt werden soll,dass man überhaupt Filmaufnahmen aus einer fer-nen Region wie etwa Syrien anzubieten hat, oderob die ästhetische Wirkung der Bilder als solchergemeint ist.

    Die Reisefilme des Frühen Kinos waren zwarkurze, dafür aber umso intensivere Schaustücke,denn sie wurden überwiegend in Farbfassungenangeboten. Landschaften und Naturschönheitenerschienen auf der Leinwand in einer impressivenund spezifischen Ästhetik, die in der späterenFilmgeschichte ihresgleichen sucht. Angewandtwurden zwei zentrale Methoden, die gern auchkombiniert wurden: die Kolorierung (von Handoder mittels Schablone) und die Einfärbung. Imersten Fall erhält man bunte Bilder, im zweitenmonochrome. Kolorierung war gerade im erstenJahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein populäres Ver-fahren der Drucktechnik, das zur Entstehung zahl-reicher so genannter Kunstverlage beitrug, wäh-rend die monochrome Tönung ein spezifisch filmi-sches Instrument war, das den Schauwert des Ki-nos erhöhen und zugleich die beträchtlichen Her-stellungskosten senken sollte. Handkolorierte Fil-me sind bis etwa 1904 gebräuchlich gewesen undleicht erkennbar am verfahrensbedingten Farbflim-mern. Ein Kennzeichen der Tönung wiederum istdie deutliche Reduktion der Kontraste. Da dasSchwarz erhalten bleibt, während die Weißanteileder Filmschicht im Farbbad mit eingefärbt wer-den, nehmen alle grauen Abstufungen einen unter-schiedlichen Grad an Farbe an, womit der Kon-trast gemindert wird und das Bild weicher wirkt.

    Grundsätzlich wird man der ausgesuchten Farb-ästhetik nicht gerecht, wollte man sie an den Maß-stäben eines naturalistischen Erscheinungsbildesmessen. In dem Film GENFER SEE von 1913 würdeman sicher blaues Wasser erwarten und kein kräf-tiges Orangerot. In PARK UND GROSSE WASSER INVERSAILLES von 1904 sprühen die gewaltigen Fon-tänen in Gelb-Orange. Die Farbdramaturgie er-folgte nicht nach den Regeln der Wahrscheinlich-keit, sondern nach dem Prinzip der dekorativenAbwechslung, So ändert der Film IN DEN HERRLI-CHEN SCHWEIZER ALPEN seine Virage jeweils mitder Einstellung: gelb die Bergtotale grün die Alm-hütte mit Vater, Sohn und Ziegen blau die Berg-spitzen und der Talnebel rot die Alpenblumen gelb das Berghotel grün die Kühe sepia einKletterer auf der Suche nach Edelweiß grün dieWolken violett die Hirsche im Schnee orangedas Matterhorn grün der Bergrücken. Die Farb-

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    gebung pro Einstellung unterstreicht den Charak-ter der statischen Ansicht als jeweils autonomesBild. Die Reihung schafft ein spektakuläres Schau-spiel, das die Augenlust stimulieren will, unabhän-gig von der Frage, ob diese Art der Präsentationrealistisch anmutet oder nicht. Im Gegenteil haf-tet den Farbverfahren eine drastische Un-Natür-lichkeit an, die ihren Sinn in der Prachtentfaltungund in der Freude am Visuellen entwickelt. Einean sich banale Umgebung kann dadurch zu einemunvergleichlichen Schauwert aufgewertet und dieWelt »malerisch« verschönert werden. Diese ideo-logische Bedeutung verhält sich durchaus analogzur touristischen Praxis, Sehenswürdigkeiten her-vorzuheben, indem man Gebäude oder Wasser-spiele zu bestimmten Zeiten illuminiert und damiteinen so genannten Event schafft.

    In ihrer Farbenpracht zeichneten die Reise-filme jenes enervierende Bild von Exotik nach, dasden weltläufigen oberen Schichten aus der Orient-malerei vertraut war. Und sie unterstrichen dieVorstellung von der Eleganz touristischen Reisens,das zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Privilegdarstellte. Auch Farblichkeit galt seinerzeit als Gut,mit dem sich umgeben zu können Luxus bedeute-te, denn Anilinfarben waren teuer und gerade inder großstädtischen Architektur selten vertreten,erst recht im Privathaushalt. Umso stärker mussdie animierend kräftige Buntheit der Reisefilmegewirkt haben, umso empfänglicher dürfte das Pu-blikum für das Stimmung erzeugende Stilmittelder Farbgebung gewesen sein. Nicht umsonst wur-den in der Fachpresse Standardformulierungen ge-braucht wie: »Zu dem gesamten Stimmungsbild[trägt] die außerordentlich schöne, abwechslungs-reiche Zusammenstellung der Virage bei.« [17]Das frühe Kino nutzte die Aura der Schönheitdurch Buntheit und den privilegierten Status derFarblichkeit auch in seinen Werbemitteln. So botRaleigh & Robert 1907 für ihren getönten undkolorierten Film DIE VIKTORIA-FÄLLE MIT DEMREGENBOGEN als Reklamematerial eine zehnfar-bige Chromolithografie in Plakatgröße an.

    Ein auch heute noch überzeugendes, ästhetischansprechendes Beispiel dürfte der Film LAGO MA-GGIORE aus dem Jahr 1913 sein, der seine aparteWirkung einer Kombination aus ausgesucht schö-

    nen, schwebend gleitenden Kamerafahrten aufdem Wasser und einer eleganten Farbtemperaturverdankt. Hier tritt deutlich zutage, dass die Scha-blonen-Kolorierung dem Bild seine Flächigkeitnimmt (die durch die monochrome Durchfärbungder Tönung betont wird) und die Formen der Ob-jekte unterstreicht.

    Verbale Ereignis-Dramaturgie

    Reisebilder des Frühen Kinos setzten auf die visu-elle Wirkung und konnten weitgehend nonverbalarbeiten. Was sie zu zeigen hatten, erschloss sichdurch den Filmtitel, der die bereiste Region an-noncierte. Sie zwangen jedenfalls nicht zu irgend-einer Art von sprachlicher Anstrengung oder über-haupt akustischer Artikulation. Eben deshalb äh-nelt ihre grundlegende ästhetische Konzeptionstark der fotografischen Abfolge in einem Albumoder in einer Fotoschau. Im Lumière-Format undin den Kurzfilmen des Frühen Kinos sah man sichmeist der Mühe enthoben, das Gefilmte zu erläu-tern. Sobald die Reisebilder länger wurden, fügteman Zwischentitel ein, doch Eloquenz war auchhier nicht gefragt, noch nicht einmal Sätze. EinOrtsname reichte, um das nachfolgende Reisebildgeografisch präzise oder im Ungefähren einzuord-nen. Es dominierte die musikalische Untermalung,womit sich, by the way, eine ästhetische Parallelezum Road Movie zeigt, das stets pünktlich mitjeder Kamerafahrt die Musik einsetzen lässt.

    Von der Methode der aufwändigen farb- undformästhetischen Anreicherung der einzelnen Bil-der wie auch von der verbalen Enthaltsamkeit ha-ben die Reisefilme seit den 1920er Jahren mehrund mehr Abstand genommen. Obwohl dem Be-ruf des Kino-Erzählers noch nicht der technischeGaraus gemacht war, waren die meisten Reise-filme der Zwischenkriegszeit von sich aus redselig.Zumal die abendfüllenden Filme gaben sich, ne-ben den so genannten Städte- und Verkehrsfilmen,ausgesprochen geschwätzig, in Form von Zwi-schentiteln. Das klassische Schema wurde aus dermonotonen Abfolge Titel Bild Zwischentitel Bild Zwischentitel Bild etc. gebildet.

    Wer ein Anschauungsbeispiel für diese Stan-dardtechnik sucht, wird mühelos in all jenen Fil-

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    men fündig, die bis heute als Klassiker des Reise-films gelten. Ein legendäres Beispiel, das zahlreicheRemakes erfahren hat, wäre GRASS, A NATIONSBATTLE FOR LIFE (auch: THE EPIC OF A LOSTTRIBE [Gras; 1925; R: Merian C. Cooper, Ernest B.Schoedsack]). Der Film ist schwarzweiß, stumm,hat mit 71 Minuten die so genannte Spielfilmlängeund zeigt den Zug der Bakhtiari von ihrer Winter-zur Sommerweide in Richtung Isfahan. Währendeiner Orientreise 1924 gedreht, kaufte ihn dieamerikanische Filmgesellschaft Paramount am 29.Januar 1925 und brachte ihn noch im selben Jahr inden Verleih, wo er »zu einem der sensationellstenErfolge des dokumentarischen Genres wurde«[18]. Der Film von Merian C. Cooper und ErnestB. Schoedsack erzählt in nur teilweise spektakulä-ren Aufnahmen vom Stamm der Bakhtiari in Süd-persien; dramaturgisch dominant sind seine Zwi-schentitel, die mehr als die Hälfte [sic!] des Filmsausmachen. Schwarze Tafeln mit weißer Schriftbilden das tragende Gerüst, zwischen das die do-kumentarischen Filmaufnahmen gewissermaßeneinsortiert wurden, und summieren sich zu einerfür heutige Sehgewohnheiten schwer erträglichenMenge schriftlicher Kommentierung.

    So ungewöhnlich, wie diese Methode heutewirken mag, ist sie jedoch nicht. Ersetzte mannämlich die Tafel durch einen Sprecher, die schrift-liche also durch die mündliche Sprache, erschienedas Muster vertraut, weil in der Fernsehästhetikgang und gäbe. Unter dem Kriterium eines »filmi-schen« Darstellens, das sich auf die Möglichkeitendes visuellen Mediums verlässt, wirkt die Proporti-on zwischen kurzen Bildern und vielen Wortenunbeholfen, wie eine offenkundige Notlösung. DieZwischentitel sind es, die die Chronologie der Rei-se in eine schlüssige Erzählfolge verwandeln, undsie dokumentieren somit ex negativo, was die Au-toren verpasst haben ins Bild zu setzen. Müttertaumeln unter der Last ihrer Babywiegen, taumelnund stürzen aber nicht im Bild. Eine Texttafelbeteuert: Als wir schlafen gingen, waren wir umge-ben von Zelten, doch als wir aufwachten war dasFilmmotiv abgebaut. Ein Zwischentitel weist dieBetrachter an, was sie sehen sollten: Ein Mädchenmit einem lebenden Kalb auf dem Rücken kämpftsich Stunde um Stunde voran. Sie ist in der Bild-

    mitte zu sehen. Andere Zwischentitel kommentie-ren nach Art von Sprechblasen: B-R-R-R!!! DiesesWasser ist kalt!, oder im dramatisierenden Repor-terstakkato: Tosende Wasser! Schreiende Men-schen! Blökendes Vieh! Hilferufe der Ertrinkenden!Gelegentlich gleichen die Zwischentitel geschwät-zigen Texttafeln, die vergessen haben, dass sie ineinem Film mitspielen.

    Seit der Text aus dem Off integraler Bestand-teil des Films selbst geworden ist, hat er den Bil-dern die Funktion von so genannten Bildertep-pichen zuweisen wollen. Fernsehpionier Peter vonZahn, der in den 1950er Jahren für die Reportage-reihe Bilder aus der farbigen Welt zwei Jahre langmit seinem Kameramann Uwe Petersen durchAsien reiste, berichtet: »Wichtig war zunächst mal,was gesagt wurde. [...] Das ist ein großer und ent-scheidender Unterschied gegenüber den Kulturfil-men wir haben sie abschätzig Ufa-Filme genannt.Den Regisseuren und Cuttern, die aus dem altenFilmschneidegeschäft kamen, musste diese Tech-nik überhaupt erst beigebracht werden [...], einenText als den wesentlichen Bestandteil des Films zusehen und nicht die Bilder.« [19]

    Globaler Blick und experimentelleVerwandlung

    In Filmtiteln wie VON POL ZU POL oder DAL POLOALLEQUATORE (Vom Pol zum Äquator) hat diedramaturgisch extrem offene Form der Reise Uni-versalformat angenommen. Hier bieten die geo-grafischen Eckdaten noch nicht einmal konkretephysikalische Besonderheiten, die für das Augesinnlich wahrnehmbar wären. Nord- und Südpolsind nichts als Schnittpunkte der Meridiane, ge-dachte Linien wie die Wendekreise. Diese Stre-ckenführung macht gar keine inhaltlichen Aufla-gen, deutet noch nicht einmal Ausgrenzungen an womit tatsächlich alles hineinpasst, was der Glo-bus visuell zu bieten hat. Womit allerdings auchder Reisefilm gefährlich nah an den imperialisti-schen Gestus herankommt, weltumspannend undnach Belieben auf jede Art von Bildmotiv und visu-eller Information zugreifen zu können.

    Ein interessantes Beispiel für diese Fiktionstammt aus Mailand. Unter dem italienischen Ori-

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    ginaltitel DAL POLO ALLEQUATORE sind dort zweiFilmversionen entstanden, wie sie wohl unter-schiedlicher kaum vorstellbar sind. Die erste Fas-sung geht auf das Ende der 1920er Jahre zurückund auf den gebürtigen Mailänder Luca Comerio,einen Pionier des italienischen Dokumentarfilms.Comerios Film beginnt mit einer für das Aktualitä-tenkino typischen Titelgestaltung, der grafischenAbbildung der Weltkugel. Mit dem Globus erhältdas bunte Kaleidoskop der Bilder aus aller Welteine formelle Ordnung; alle Einzelsegmente zwi-schen den Polen sind auf einen Blick »auf die Rei-he« gebracht, scheinbar sinnvoll verkettet durchihren Auftritt in demselben Filmprogramm, dasmit dem Globus signalisiert wird. Die geografischeLinie mündet letztlich in einen Kreis, der den Erd-ball umschreibt. Von außen, aus gleichsam extra-terrestrischer Position besehen, zeigt sich die Welt-kugel klein, überschaubar. Diese erhabene Positi-on wirkt noch sachlich, wenn man sie mit demwerbewirksamen Logo des Berliner ReisereportersColin Ross vergleicht, das einen allgewaltigen Über-vater zeigte, der über der Welt steht, als wäre siesein possierliches Privatgelände. Ein Scheitern desSinnverstehens, ein kritisches Hinterfragen oderSuchen nach Zusammenhängen ist mit der Titel-grafik nicht vorgesehen. Im Gegenteil wird zuver-sichtlich dem naiven Glauben signalisiert, dass das,was nach dem Globo-Logo folgt, die kompletteWelt vom Pol zum Äquator sei.

    Comerio brachte seinen Reisefilm in der Hoff-nung heraus, am Institute Luce, dem italienischenInstitut für den faschistischen Dokumentarfilm,arbeiten zu können. Mit seinem in der Standard-Dramaturgie verfassten Weltreisefilm wollte erEnde der 1920er Jahre anknüpfen an seine Erfolgevor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als ersich als Pionier eines aktionsreichen Reisefilms ei-nen Namen gemacht hatte, »dem bahnbrechende,atemberaubende Aufnahmen gelangen aus Eisen-bahnen, Luftschiffen und Fesselballons« [20]. Be-reitwillig war er zu Beginn des Jahrhunderts in dieabgelegensten Gebiete gereist, um dem Kinopub-likum Spektakuläres bieten zu können. Comeriosprivates Filmarchiv spiegelte seine thematischenPräferenzen wider: Reise-Expeditionen, archaischeLebensformen, Jagdszenen. Die Bilder, die Luca

    Comerio zu einer Reiseroute um die Welt zusam-mengestellt hatte, wirken durch »Endsieg« und»Herrenmenschen« unverhohlen imperialistisch,als Stationen im Kontext eines selbstherrlichen fa-schistischen Programms.

    Die zweite Fassung von DAL POLO ALLEQUA-TORE läuft unter demselben Titel und mit dersel-ben Titelgrafik. Sie stammt jedoch von YervantGianikian und Angela Ricci-Lucchi und entstand,mitproduziert vom ZDF, 1986. Die Autoren ha-ben das Filmmaterial des Kameramanns und Film-produzenten Comerio 1982 aufgekauft und zurGrundlage ihres gleichnamigen Films gemacht.Ihre Methode: »Wir reisen beim Katalogisieren,wir katalogisieren, indem wir quer durch Filmereisen, die wir ein zweites Mal herstellen.« [21] ImZentrum ihrer Poetik steht die Suche nach Ent-deckungen, nicht in der physischen Welt, sondernin der auf Film konservierten Welt der Reisebilder.Es sind fremde und von fremder Hand gemachteWeltbilder, Bilder, die ihnen entgegentreten wieihrem Urheber Comerio einst die exotische Welt.Geo-, Ethno- und Topografie werden somit inKinematografie verwandelt. Reisebilder treten beiGianikian und Ricci-Lucchi auf als visuelle Inter-pretation von Bildern, die einmal die Welt bedeu-tet haben. In der historischen und ideologischenDistanz sind es nur mehr Stücke der Erinnerung,fotografisch konservierte Fragmente der Fremde.

    Um diesen historischen Status filmisch zu in-szenieren, haben Ricci-Lucchi und Gianikian dasstark angegriffene Filmmaterial mit zwei Kamerasbearbeitet. Die erste im 35mm-Format filmte dasOriginalmaterial vertikal und wurde, der heiklenPerforation wegen, von Hand gekurbelt. Die zwei-te Kamera im 16mm-Format diente als kreativesReproduktionsmittel, das unterschiedliche Winkelund Vergrößerungen aufnahm. Diese Methode der»analytischen Kamera« operiert kaderweise, ver-wandelt Totalen in Close-ups, filtert Details her-aus, fokussiert Elemente vom Bildrand und bringtsie ins Vollformat, verlängert Sequenzen, ver-schiebt Schwarzabdeckungen. Dadurch wurde einsubjektiver Blick auf historisches Material derReisebild-Epoche konstruiert, analog zur zentralenAussage, dass all die Aufnahmen Comerios ausAsien und Afrika, von Polen, Eisbären und Elefan-

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    ten, auch nicht anders als mit subjektivem Blickentstanden sind.

    Die Montage erfolgte abschnittweise, nachthematischen Blöcken zu zehn Sequenzen. Jededieser Sequenzen ist zwischen sieben und zehnMinuten lang. Der gesamte Film kommt ohneKommentar aus. Um die Verwandlungsleistungvon der Affirmation zur Kritik der eurozentrischenWeltsicht zu verstehen, die in diesem experimen-tellen Zugang liegt, soll kurz der Ablauf skizziertwerden:1. Euro-zentrisch. Entgegen dem Titel startet dieReiseroute nicht am Pol, sondern mitten in Euro-pa. Der Film beginnt mit einer Zugfahrt in slowmotion. Dieses Opening führt hin zum Thema undüberbrückt die Kluft zwischen den Jahrzehnten,zwischen heute und damals. In Form eines Vor-wärts-Travelings wird die Subjektive betont, dieden Betrachter hineinziehen will in das Gesche-hen, eine Erinnerung an die notorisch subjektiveBetrachtungsweise der Welt aus der Perspektiveder eurozentrischen Werteskala.2. Die weiße Sphinx. Eiswüste. Zum ersten Malsieht man einen Menschen in diesem Film: einenPolarjäger. Seine Opfer, die Eisbären, sind in ova-ler und runder Schablone ins Visier genommen eine Reminiszenz an die ästhetischen Standardsdes frühen Reisefilms. Eine blau getönte Sequenzverweist auf die Tradition des Reisefilms, die le-gendären Arktis- und Antarktis-Expeditionsfilme.3. In Georgien. Bilder des Operateurs Vitrotti an

    der russisch-persischen Grenze 1911. Die Auf-nahmen stammen aus einer Pathé-Produktion, wo-mit deutlich wird, dass Nachrichten- und Reise-bilder mediengeschichtlich verwoben sind, je nachStandpunkt.4. Die schwarze Sphinx der Missionare. Schwarz-afrika. Die Aufnahmen stellen die christlichen Mis-sionierungspraktiken heraus. Religiöse Unterwei-sung: schwarze Kinder in blütenweißen Kleidchen,artig angetreten zum Schulunterricht, lernen, dasKreuzzeichen zu machen. Taufe und militärischerDrill. Die typische Ikonografie der Kolonialzeit.Die Missionare folgten dem italienischen BaronFranchetti, dem späteren Geheimagenten Mus-solinis in Afrika. Luca Comerio begleitete ihn 1910Richtung Uganda, wo er diese Sequenz aufnahm.5. In Indien. Diese Sequenz vereint Aufnahmenverschiedener Provenienz; sie stammen zum Teilvon den Firmen Gaumont und Pathé und zum Teilvon italienischen Reisenden um 1911. Die Farbe,Pathé-color, von Hand in Schablonentechnik auf-getragen, fügt eine Note von Irrealität und Abstrak-tion ein. Wie eine aquarellierte, filmische Postkarte,die in den Westen geschickt werden soll. Die kolo-niale Kamera verhält sich zum Leben der Einheimi-schen wie eine moderne Überwachungskamera.Erbarmungslos registriert sie private Verrichtun-gen des Alltäglichen im öffentlichen Leben. DasLokalkolorit repräsentieren Inder, die sich am Flussreinigen, und Mädchen, die sich wechselseitig ent-lausen. Die Sequenz geht weiter mit der Gegen-

    DAL POLO ALLEQUATORE von Luca Comerio, einem der Pioniere des Dokumentarfilms

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    welt, einem Defilee der bewaffneten britischenKolonialbeamten.6. Exotische Postkarten aus Indochina. Die Auf-nahmen, undatiert, wurden bei Pathé handkolo-riert. Buddhistische Mönche kleiden sich an, trom-meln, verteilen Reis.7. Exotische Postkarten aus den französischen Kolo-nien. Tanger 1910. Das Footage stammt aus denweltumspannenden Reiseaktivitäten der französi-schen Filmfirma Pathé. Die »analytische Kamera«fixiert die Objekte des Exotismus: ein Zelt flattertim Wind, Burnusse, Reiter am Rande der Wüste;Krüppel, Zwerge, blinde Sänger.8. Gondar, Ostafrika, 1910. Panorama der Schloss-ruinen von Gondar, der ehemaligen portugiesi-schen Kolonie. Es sieht aus wie eine Pappmaché-Kulisse mit Palmen. Im Hintergrund defiliert eineParade vorbei aus Esel, Kamel, Zebra, Strauß undKriegern. Die Fantasia africana gleicht einer Kriegs-fantasie. Der Schuss eines Weißen gibt das Signalzum Beginn der Schlacht und treibt Mensch undTier auseinander. Die Kamera schaut reglos zu.Porträts von Frauen, die Betel kauen.9. »Die schwarze Sphinx« des Baron Franchetti.Diese Sequenz stammt aus Comerios Pol-Film undgehörte ursprünglich mit den Aufnahmen aus Teilvier zusammen. Luca Comerio war hier der Ope-rateur. Comerio filmte den Baron Raimondo Fran-chetti in Äthiopien 1910 mit seiner Jagdbeute.10. Der Erste Weltkrieg, 1918. Die Bilder, aufge-nommen von Luca Comerio, zeigen Kampfhand-lungen im Negativ. Schemenhaft sind Soldaten amUfer des Isonzo und im Adamellogebirge zu erken-nen. Die Aufnahmen am Berg werden unterbro-chen durch den Tod eines Operateurs. Der chemi-sche Nebel hat die Emulsion des Filmmaterialsderart zersetzt, dass die Soldaten, die Menschenverschwinden und nur die Felsen bleiben. In ei-nem Tal formiert sich eine Schafherde [sic!] zudem Schriftzug Viva il re (Es lebe der König).

    De-/Kontextualisierung

    Mit den Sequenzen zwei, vier und neun gingenGianikian und Ricci-Lucchi bildinhaltlich auf ihreVorlage zurück. Comerio hatte seine Version invier Kapitel unterteilt: Der ewige Kampf Im Reich

    der Weißen Sphinx Im Reich der SchwarzenSphinx Der Sieg des Menschen. Diese Bezeich-nungen sind in seinem Film als wörtliche Zwi-schentitel zu lesen. Sie zeigen zum Teil schon denideologischen Ballast an, den viele historische Rei-sefilme im Allgemeinen und Comerios weltum-spannender Film im Besonderen transportierten.Während in Comerios Version zehn der insgesamt57 Minuten Film aus Zwischentiteln bestehen, for-muliert vom italienischen Dichter Gabriele dAn-nunzio, der »ruhmreichen Fahnen«, der »Blumedeiner Rasse«, »ewiger Jugend« und der »gestähl-ten Gestalt« das Wort redete, eine krasse Partei-lichkeit für den Faschismus, haben Angela Ricci-Lucchi und Yervant Gianikian auf die propagandi-stische Textmenge mit einer Art offensivem Ver-stummen reagiert. Damit die Filmbilder nicht vomideologischen Ballast erdrückt werden, haben siesich entschieden, die für den Reisefilm der Stumm-filmzeit typische Organisation der Bilder, die durchden Kommentartext der Zwischentitel gelenkt wer-den, in diesem Fall ganz auf den »Müllhaufen derGeschichte« zu werfen. Durch die radikale Elimi-nierung der Zwischentitel bekommt der Rückgriffauf die filmgeschichtlichen ready-mades den Cha-rakter eines Experiments, eines Versuchs, die tie-fen Wunden der Epoche in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts mit historischen Archivbildernneu zu interpretieren. Dabei galt es allerdings derTatsache Rechnung zu tragen, dass auch das non-verbale Ausgangsmaterial ideologisch befrachtetund in einem moralisch fragwürdigen Kontext be-fangen ist.

    Durch die Bildauswahl von Gianikian und Ricci-Lucchi wird die koloniale Ikonografie, durchausgewollt, intensiviert: die Missionare in ihren grellweißen Kleidern, die Europäer mit ihrem unver-meidlichen Tropenhelm, überhaupt die Kleidungals Zeichen der zugereisten Herrschaften gegen-über den minderbemittelten, wenn nicht nacktenEingeborenen. Es ist der parteiliche Blick der Ko-lonialisten selbst, der aus all den Bildern von Jagd-szenen, Missionierungen und Militärparaden spricht,denn der Fokus liegt eindeutig auf einer Welt, dievom Polarbär bis zum Äquatorialafrikaner einzigfür die Interessen der Kolonialherrschaften vor-handen zu sein scheint.

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    »Exotisch« wäre früher das passende Attributfür Comerios Reisebilder gewesen. Doch das prik-kelnde Gemisch aus Faszination und Ablehnung,das in dem Wort Exotik mitschwingt, hat keineEntsprechung mehr im Abgebildeten. Dass diesemvisuellen Repertoire einmal ein unerhörter Sen-sationseffekt auf die westlichen Kinobesucher zu-geschrieben wurde, versteht sich nicht mehr vonselbst, wie auch die Choreografie der Masse demheutigen Verständnis vom Reisebild widerspricht.Fremd, befremdlich, exotisch wirkt heute allen-falls noch das Bild auf der Leinwand oder demFernsehschirm, aber die Welt, die es einst tech-nisch akkurat reproduziert hat, ist längst verschwun-dene Realität. Das Bild hat keine Referenzpunktein der Welt mehr. Man denkt nicht an Afrika,wenn man Bilder von paramilitärischen Formatio-nen schwarzer Schulkinder in adretten weißenKleidchen sieht. Man denkt an Kino, an die visuel-len Artefakte der modernen Medien. Und daran,wie weit deren Bilder von der Realität entferntsein können. Diese Entfremdung des dokumenta-rischen Bildes vom wirklichen Leben und damitauch die Darstellung, wie die historischen Schrek-ken und das kollektive Erinnerungsvermögen all-mählich verblassen korrespondiert mit der che-misch erzeugten Amnesie des Trägermaterials.Yervant Gianikian und Angela Ricci-Lucchi habensozusagen die durch das Cellulosenitrat verursach-ten Deformationen kreativ angewandt, verleihtdoch der optische Schimmel dem Film die Patinaentrückter Ferne. Sichtlich geschädigt und phy-sisch verbraucht, machen gerade diese unverlang-ten medientechnologischen Gratisgaben den Cha-rakter des Werkes aus. Die Materialität des Bild-trägers ein Bewusstsein, das Filme für gewöhn-lich vergessen zu machen bemüht sind ist hier injedem Bild gegenwärtig, wobei das allmählicheVerschwinden der visuellen Information umsodeutlicher zu sehen ist, je weiter das Ende (desFilms als Werk) naht. Gianikian und Ricci-Lucchihaben die Reisebilder Comerios einem intensivenBearbeitungsprozess unterworfen, wodurch DALPOLO ALLEQUATORE von einem agitatorisch ge-meinten Dokumentarfilm in eine freie ästhetischeKomposition umgestaltet wurde. Die Realitäts-partikel von einst haben keinen zweifelsfrei loka-

    lisierbaren Dokumentcharakter mehr, sondern ste-hen in einem völlig neuen Kontext und lesen sichnun wie vage Traumbilder. Ratlos sucht der Be-trachter nach Indizien der Einordnung, des einfa-chen Verstehens, und findet immerzu nur Bilder.Welches Volk, welches Land, welches Fest undwelcher Krieg? Beharrlich schweigt der Film. Die-se Ästhetik der Ansicht irritiert und macht dochgerade das Ausmaß deutlich, wie sehr wir es ge-wohnt sind, Orientierungshilfen aus dem Off zubeziehen und Lektüreanweisungen zu folgen.

    Stilmittel der Entfremdung

    Die Entfremdung des filmischen Bildes vom Be-wusstsein seiner Rezipienten wird visualisiert durcheine ausgefeilte Stilistik der Verfremdung. 327.600Fotogramme haben die beiden Mailänder mit hand-werklicher Akribie bearbeitet, bestehende Reihen-folgen zersetzt und neu zusammengesetzt zu ei-nem poetischen Film. Das Instrumentarium dieserUmdeutung umfasst, neben der nonverbalen Aku-stik und der analytischen Kamera, drei Stilmittel:1. Andante. Die Wahrnehmung, dass die Zeit derKolonialherrschaft und ihrer Exotika historischlängst überholt ist, übersetzen die beiden Filme-macher in lange und gedehnte Einstellungen. Sel-ten greifen sie zum Zeitraffer, ihr Hauptinstru-ment heißt Zeitlupe. Indem sie das Tempo be-trächtlich reduzieren, fast so, als lernten die Bilderunter den Augen des Zuschauers ein zweites Mallaufen, wächst spürbar das Gefühl von Distanzund schemenhaftem Sehen. Um die Anormalitätzu betonen (technisch: den Verfall des Bildträgers;ideologisch: Comerios Exotikbegriff), gibt es keineNormalzeit bei Gianikian/Ricci-Lucchi. Ihr 16mm-Film ist mit 96 Minuten in der Fernseh- bzw. 101Minuten in der Kinofassung nicht nur erheblichlänger (Comerios 35mm-Film hatte rund 57 Mi-nuten Laufzeit), sondern kennt auch keine einzigeEinstellung in Echtzeit. Mit diesem operativen Ein-griff wird den Reisebildern ihre Fähigkeit zur le-bensechten Reproduktion ein Stück weit genom-men. Das Dokumentarbild wird zum Artefakt. Bis-weilen schwer wie ein Albtraum lastet dieses ge-dehnte Zeitmaß auf der Schaulust. Alle grausamenSzenen sind erkennbar in der Zeit manipuliert,

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    drei- bis zum Teil zwölffach verlangsamt, wodurchder Akt des Quälens und Tötens eindringlich beo-bachtbar wird. Nur Militärparaden defilieren imZeitraffer, um die rasante Wiederkehr des immer-gleichen Rituals spürbar zu machen.2. Kunstfarben. DAL POLO ALLEQUATORE ist inbeiden Fassungen farbig, überwiegend sequenz-weise viragiert. Die Filmtönungen ähneln der kar-tografischen Darstellung von Klimazonen: blau fürdie Polargebiete, gelb für wärmere Regionen, rotfür die Tropen. Gianikian und Ricci-Lucchi habendas Monochrome als Stilprinzip übernommen, ge-rade weil es sich bei der Virage um eine historischeTechnik handelt, die Dokumentarismus mit artifi-ziellem Charakter kombiniert hat, der also ein Ab-rücken von der Realität inhärent war. Durch dieEliminierung der Zwischentitel müssten die unter-

    schiedlich getönten Sequenzen hart aneinanderstoßen, doch ihre Version wirkt optisch fließen-der, weil die Farbintensität der einzelnen Sequen-zen bei längerer Laufzeit vermindert wurde, wasden Effekt der optischen Schwebe verstärkt. Die-se Leichtigkeit der Farbe wirkt zusammen mit derZeitlupe wie ein Traumbild, das sich jederzeit ver-wandeln und in der Stimmung umschlagen könn-te, vom naiven Zuschauen in grausame Handlung.Eine subtile Bedrohung des fragilen ästhetischenGewebes schwebt so von Anfang an mit.3. Geräuschlos. Korrespondierend zur Verfrem-dung von Normalzeit und authentischer Farbre-produktion haben Yervant Gianikian und AngelaRicci-Lucchi die Tonspur behandelt. Die Katego-rie natürlicher Töne gibt es bei ihnen ebenso wenigwie Geräusche und Stimmen. Zum gesamten Film

    CARTES POSTALES VIDEO: Zwischen 1984 und 1985 schufen Robert Cahen und Alain Longuet ...

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    ist ein Soundtrack angelegt, der eigens von denbeiden kalifornischen Komponisten Keith Ullrichund Charles Anderson komponiert wurde: einegleichförmige, minimalistische Musik, gewollt syn-thetisch instrumentiert. Sanft und bedächtig hauchtder monotone Klang dem optischen Andante Le-ben ein. Der langsame Atem der elektronischenAkustik, deren Klangfolgen sequenzweise wech-seln, wodurch die zehn verschiedenen Reisezielebeziehungsweise Themenblöcke erkennbar wer-den, und die optische Stille der Slow Motion kon-trastieren krass mit dem bildinhaltlichen Lärm undWaffengeschrei der kolonialistischen, nationalisti-schen Gesellschaft. Der optische Fluss, die wie-gende Trance monochromer Bilder und monoto-ner Tonserien, all diese Stilmittel bringen an demdokumentarischen Material Comerios Zeichen derVerfremdung an. Mit der Zeit bildet sich so dieparadoxe Wahrnehmung heraus, dass selbst dieSchrecken des Eises und der Kriege zum Phäno-men der Reise dazuzugehören scheinen, eingehülltin eine ästhetische Form, die nicht anders als schönbezeichnet werden kann. Verführerisch schön,aber vielleicht auch verführend im ästhetizistischbedrohlichen Unterton des Wortes.

    CARTES POSTALES VIDEO

    Eine zweite Art, auf die Ästhetik des Frühen Kinoszu reagieren, stellen die CARTES POSTALES VIDEOdar, die Robert Cahen mit Alain Longuet undStéphane Huter geschaffen hat. Zwischen 1984und 1986 haben sie eine Sammlung von 450 video-grafischen Postkarten angelegt, gedreht an denklassischen Stationen des Tourismus: Rom, Algier,Paris, New York, London, Ägypten, Island, dieCote dAzur, die Normandie etc., und ausgestrahltvon vielen internationalen Fernsehstationen. DieVideos sind jeweils etwa 25 Sekunden lang. Alleindie Menge dieser Kürzestfilme illustriert auf elek-tronische Art einen Habitus, der stets mit visuel-len Reisebildern verknüpft war: die Idee des Sam-melns. Haptisch sinnfällig geworden ist diese Ideein der Einrichtung von Sammelalben, in die manfrüher Fotografien oder Ansichtskarten einzustek-ken pflegte. Die Art der Betrachtung des Gesam-melten greifen die Filme von Cahen, Longuet und

    Huter durch die Abfolge während der Präsentati-on auf. Nach und nach »blättert« sich ihre Samm-lung ab in einem kontemplativen, aber stringentenRhythmus, der Raum gibt für Tagträume und dieSuggestion, qua Bildfolge einer Reise um die Weltgefolgt zu sein.

    Nicht ganz formatfüllend heben sich die jewei-ligen Bilder vom grauem Hintergrund durch einenSchatten ab, der gegenständliche Tiefe suggeriert.Als »Postkarten« sind diese elektronischen Minia-turen am Layout erkennbar: Ein kleiner weißerRand rahmt ein rechteckiges Farbbild ein, das amBildrand mit weißer Schrift »bedruckt« ist. Le St.Laurent Québec, Camargue Flamant Rose, Is-land, Nice etc. Die filmischen Miniaturen spielenauf leichte, selbstvergessene Art gegen das medien-spezifische Vorurteil an, das der Fotografie die

    ... 450 videografische Postkarten

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    Statik und dem Film die Bewegung als Grundei-genschaft zuweisen will.

    Die CARTES POSTALES VIDEO sind das be-kannteste Werk des französischen VideokünstlersRobert Cahen. Sie beginnen jeweils mit einem Ef-fekt, der einem Bild aus einer Polaroid-Fotokameraähnelt: Nach und nach entwickeln sich aus einerweißen Fläche Farbe und Kontur, es entsteht, ge-nau wie bei der fotochemischen Sofortbildtechnik,ein Abbild. Dieser Prozess basiert bei Cahen na-türlich nicht auf einem chemischen, sondern elek-tronischen Prozess. Der Effekt liegt in der Wahr-nehmbarkeit des Mediums, denn die Zuschauerwerden zu Zeugen eines Vorgangs, einer »filmi-schen Entwicklung«, deren Ergebnis paradoxerwei-se ein Standbild ist, das von einer naturalistischabgefilmten Ansichtskarte visuell nicht zu unter-scheiden ist.

    Mit Bedacht hat Cahen den Titel Videopost-karten gewählt und die Kurzfilme damit in dieTradition der populären Reisemedien der Jahrhun-dertwende gestellt. Gleichzeitig nehmen sie die inder Filmwissenschaft gängige Vorstellung, der Be-griff »Postkarten-Ästhetik« sei eine diskreditieren-de Formel, ins Visier. Sie erbringen den audio-visuellen Beweis, dass sich Film auch in Form ein-zelner Bilder konzipieren lässt, als eigenständigevisuelle Miniaturen, die jede für sich die Aufmerk-samkeit des Betrachters fordern. Im Zentrum derKonzeption Cahens steht der Verweis auf die An-sichtskarten, die mit der Geschichte des Touris-mus unmittelbar verknüpft sind und die Welt ste-reotyp, als Klischee (allein diese Begriffe verwei-sen schon auf das Printmedium) repräsentieren.Und so zeigen die CARTES POSTALES VIDEO: einesaftig grüne Palme vor blauem Wasser: Nice. Einpaar bunte Fischerboote am Strand vor verwinkel-ten Häusern mit roten Dächern: eine Karte ausSanary. Einen menschenleeren Innenhof, holpri-ges Pflaster, blauer Himmel: Marseille La VieilleCharité. Überhaupt zählt der strahlend blaue Him-mel ja zu den Grundausstattungen touristischerÄsthetik. Notorisch ist es die Schönwetterlage, diedas Glück des Reisenden meteorologisch bezeu-gen soll. Die Motive der hoffnungslos antimodernorientierten Wunschweltästhetik werden kommen-tiert durch Augenblicke sichtbarer Bewegung. In

    Cahens Videofilmen kommt jedoch immer einebedeutende akustische Ebene hinzu. Solange seinFilm Ansichtskarte zu sein scheint, gibt es keinAudio. Dann aber übernimmt die akustische Ebe-ne die Regie; der Ton (Musik, Geräusch oder Stim-me) gibt die Initialzündung, die das Bild entfesseltund befreit aus seinem Standbildcharakter, aberauch aus seiner stereotypen Rezeption. Im kon-ventionell filmischen Ablauf (der nur wenige Se-kunden dauert) wird die Konvention der Sehge-wohnheit gesprengt. Augenzwinkernd lassen dieVideopostkarten die populäre Magie des Mediumsaufleben. Die langweilige Welt der Sehenswürdig-keiten, die einmalig und in ihren postalisch ver-schickten Konterfeis doch so austauschbar wirken,wird bei Cahen aufmüpfig für die Dauer der Vi-deo-Bewegung. Nur scheinbar setzen die gefilm-ten Objekte fort, was sie als Fotografierte erwar-ten lassen. In Wahrheit werden sie aus dem Offdirigiert. Die Bilder »gehorchen« dem Künstler,der sich auf diese Art das entwertete Medium derAnsichtskarte wieder aneignet.

    Da wäre das Beispiel Buckingham Palace, Lon-don: Die berühmte Palastgarde wird aus dem ein-gefrorenen Augenblick erlöst und marschiert wei-ter, nachdem ein dreifaches Drehgeräusch, so alsob eine alte Spieluhr aufgezogen würde, zu hörenwar. Statt britisch-militärischer hört man einevolkstümlich-südländische Marschmusik. Da wäredas Beispiel Horse Guard, London: Der legendäre,zur stoischen Ignoranz seiner Umgebung verpflich-tete Soldat der britischen Palastwache bleibt un-bewegt, während sein Pferd die Ohren bewegt: aufKommando, ein Schnalzen aus dem Off. Oder dawäre das Beispiel Chutes du Niagara Canada:der im Westen berühmteste Wasserfall bei strah-lend blauem Himmel. Im Vordergrund ein Gelän-der und ein zweiäugiges Münzfernglas. Mit demTosen des Wasserfalls und kurzen, kecken Syn-thesizertönen dreht sich der Apparat um 180 Gradund wirkt mit einem Mal wie ein Gesicht, das sichdem Betrachter zuwendet. Das Motiv eines opti-schen Instrumentes, das sich selbstständig machtund sich vom Betrachteten (worin eine Gemein-samkeit von Kamera- und Zuschauerblick enthal-ten ist) weg und auf den Betrachter zubewegt, hatschon Dziga Vertov in seinem dokumentarisch-

  • Frühes Kino Schöne Fremde

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    experimentellen Klassiker TSCHELOWEK S KINO-APPARATOM (Der Mann mit der Kamera; 1929)verwendet. Die CARTES POSTALES VIDEO greifendas Motiv jedoch spielerischer auf, fragender, iro-nischer. Alle Postkartenvideos enden, ebenso ab-rupt wie sie zu Film wurden, in eingefrorener Be-wegung, ein so genannter freeze-Effekt. Das Foto-grafische wird hier zu einem ästhetischen Signalmedialer Differenz, denn das visuelle Kontinuumwird aus vollem filmischen Lauf heraus angehaltenund erstarrt zum Standbild. Damit ein Standbildals freeze erkennbar ist, muss das Bild erkennbarbewegte Motive darstellen, die ihre Position imBildraum deutlich verändern. Auch das demon-striert Cahen mit einer Karte: Le St. Laurent Québec. Im Vordergrund der St.-Lorenz-Strom,im Mittelgrund ein Dorfrelief mit Kirchturm unddarüber wolkenloser Himmel; Foto und Film sindin dieser Totalen nicht signifikant unterscheidbar.Erst die folgende Sequenz macht die mediale Dif-ferenz deutlich sichtbar. Man sieht einen SchwarmVögel anfliegen, die den leeren Himmel füllen. Sieerstarren mitten in der Luft, nachdem ein lauterGewehrschuss eine Anspielung auf die fotografi-sche Flinte von Jules Marey gefallen ist. Aus demVideofilm scheint wieder ein Foto geworden zusein.

    Der neue Reisefilm

    Den beiden hier vorgestellten Beispielen aus derjüngeren Geschichte des Reisefilms ist gemein,dass sie sich auf kreative, experimentelle Weisemit dem Thema Reise und deren medial repräsen-tierter Ikonografie auseinandersetzen. Ihre Ziel-scheibe stellt allerdings eine verblichene Konturder Reisemedien dar, denn deren propagandisti-sche Effekte spielen heutzutage nur noch indirekteine Rolle in der modernen bürgerlichen Touris-muskultur. In einer Zeit, in der man am AthenerFlughafen die Ansichtskarten sämtlicher griechi-scher Inseln kaufen kann, wenn man sie sich nichtgleich vom Internet herunterlädt, schlägt sich der»kulturelle Einheitsbrei« [22] der Globalisierungauch auf die medialen Reiseangebote deutlich nie-der. Das wohl bekannteste Statement, mit demdas Reisen als westlicher Mythos verbucht wurde,

    stammt von dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss,der 1955 schrieb: »Nie wieder werden uns dieReisen, Zaubertruhen voll traumhafter Verspre-chen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wu-chernde, überreizte Zivilisation stört für immerdie Stille der Meere. Eine Gärung von zweifelhaf-tem Geruch verdirbt die Düfte der Tropen unddie Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünscheund verurteilt uns dazu, halb verfaulte Erinnerun-gen zu sammeln. Heute, da die polynesischenInseln in Beton ersticken und sich in schwerfällige,in den Meeren des Südens verankerte Flugbasenverwandeln, da ganz Asien das Gesicht eines ver-fluchten Elendsgebiets annimmt, Afrika von Ba-rackenvierteln zerfressen wird, Passagier- und Mi-litärflugzeuge die Reinheit des amerikanischenoder melanesischen Urwalds beflecken, noch be-vor sie seine Jungfräulichkeit zu zerstören vermö-gen was kann die angebliche Flucht einer Reiseda anderes bedeuten, als uns mit den unglücklich-sten Formen unserer historischen Existenz zu kon-frontieren? [...] Was uns die Reisen in erster Liniezeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitzder Menschheit besudelt haben. Und so versteheich die Leidenschaft für Reiseberichte, ihre Ver-rücktheit und ihren Betrug. Sie geben uns die Illu-sion von etwas, das nicht mehr existiert und dochexistieren müsste, damit wir der erdrückendenGewissheit entrinnen, dass 20.000 Jahre Geschich-te verspielt sind.« [23]

    Auch wenn Lévi-Strauss mit der »westlichenKultur« ein zweifelhaftes Kollektivsubjekt erfun-den hat, um die drastischen Veränderungen aufdem Globus zu erklären, so hat er doch deutlichdie Funktion von Reisemedien benannt, wider bes-seres Wissen am romantischen Ideal festzuhalten.Reisefilme, die sich ernsthaft mit dem Aussehender Welt befassen und nicht im Mythos des Gen-res versinken wollen, haben von daher logischer-weise einen kritischen Ansatz. Von Filmen wieGRASS oder, um ein modernes Beispiel zu nennen,BARAKA (1992) von Ron Fricke, die unverdrossen»Düfte der Tropen« imaginieren, heben sich jeneab, die auch die Kehrseiten des politökonomischenGlobalisierungsgetriebes zur Kenntnis bringen. UN-SERE AFRIKAREISE (1966) von Peter Kubelka,AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE (1997) von Johan

  • Annette Deeken Traveling Shots

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    van der Keuken oder die Reisefilme Ulrike Ottin-gers zeigen diese Wende deutlich an: den Um-schwung vom unbeschwerten Reisefilm in Ent-deckerfunktion hin zu einem kritischen Blick aufdie Welt unter den Auswirkungen der Globali-sierung. Die ästhetische Konzeption all der genann-ten Filme ist höchst unterschiedlich, mal reineMontagesprache, mal sorgfältige Kamerabeobach-tung, doch allen ist gemein, dass sie den landläufi-gen Akt der Filmbetrachtung mit stilistischen Mit-teln unterlaufen. Sie offerieren weder behaglichesZurücklehnen noch kommentartechnische Lektü-reanweisungen. Sie sind keine auktorialen Bild-besitzer. Kurzum: Gerade dass sie als wenig ein-gängig empfunden werden, macht ihre Qualitätaus. Denn wie anders ließe sich in Zeiten des Mas-sentourismus und der Globalisierung die Welt zei-gen, wenn nicht durch eine sperrige Ästhetik, weitdavon entfernt, Fremde mit Schönheit gleichzu-setzen?

    Anmerkungen

    1 Vgl. Jens Jäger: Photographie. Bilder der Neuzeit.Einführung in die historische Bildforschung. Tübin-gen 2000.

    2 Vgl. Gisele Freund: Photographie und bürgerlicheGesellschaft. München 1968.

    3 DIE REISE NACH KAFIRISTAN (2001; R: Fosco undDonatello Dubini). Die DVD-Edition enthält u.a.den Dokumentarfilm NOMADES AFGHANS (1939;R: Ella Maillart; 1. Teil: Schwarzweiß, 57 Min.; 2.Teil: Farbe, 38 Min.; mit einem nachträglichen Origi-nalkommentar von Ella Maillart).

    4 Der Kinematograph Nr. 50, 11.12.1907. Filmogra-fische Details der im Folgenden genannten Filme ausder Frühzeit finden sich in: Annette Deeken: Ge-

    schichte und Ästhetik des Reisefilms. In: Uli Jung /Martin Loiperdinger: Geschichte des dokumentari-schen Films in Deutschland. Bd. 1: Kaiserreich(1895-1918). Stuttgart 2005, S. 299-323.

    5 Der Kinematograph Nr. 50, 11.12.1907.6 Der Film befindet sich auf der DVD: Thierry Fre-

    maux (Hg.): THE LUMIÈRE BROTHERS FIRST FILMS.Lumière Brothers Association and the Archives duFilm du Centre National de la Cinématographie 1996.

    7 Der Kinematograph Nr. 36, 4.9.1907.8 Roland Cosandey: Welcome Joyce! Film um 1910.

    (Kintop Schriften 1). Frankfurt/Main, Basel 1993,S. 68.

    9 Annette Deeken: Reisefilme. Ästhetik und Geschich-te. Remscheid 2004, S. 149.

    10 Erste Internationale Film-Zeitung Nr. 16, 22.4.1911.11 Erste Internationale Film-Zeitung Nr. 22, 2.6.1910.12 Der Kinematograph Nr. 327, 2.4.1913.13 Der Kinematograph Nr. 146, 13.10.1909.14 Der Kinematograph Nr. 9, 3.3.1907.15 Erste Internationale Film-Zeitung Nr. 16, 22.4.1911.16 Der Kinematograph Nr. 199, 19.10.1910.17 Der Kinematograph Nr. 319, 5.2.1913.18 Werner Petermann: Die Fremden sehen. Ethnologie

    und Film. München 1984, S. 34. Vgl. auch den Auf-satz von Irmbert Schenk in diesem Band.

    19 Peter Zimmermann: Beruf Reporter. Ein Interviewmit Peter von Zahn. In: Heinz-B. Heller / Peter Zim-mermann (Hg.): Blicke in die Welt. Reportagen undMagazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den50er und 60er Jahren. Konstanz 1995, S. 127-140,hier S. 130.

    20 Richard Verheul: Aspecten van het documentaire fil-men. Bd. 4. Nijmegen 1995, S. 1248.

    21 Yervant Giankian / Angela Ricci-Lucchi im Pro-grammheft zur Retrospektive ihrer Filme. Galeriennationale du Jeu de Paume. Paris 3. 28. Mai 1995.

    22 Karl-Heinz Kohl: Die andere Seite der Globalisie-rung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000.

    23 Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt/Main 1991 (Übersetzung: Eva Moldenhauer), S. 31.