Schotten dicht“ auf der europ¨aischen Arche Noah? · Me dicen el clandestino Por no llevar papel...

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Reisestipendium der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung f¨ ur Junges Europa ur eine Reise nach Spanien und Marokko September 2005 Schotten dicht“ auf der europ¨ aischen Arche Noah? Die spanische Außengrenze als Anlegesteg der Union Eine Bestandsaufnahme Von Niklas Schenck Karlsruher Straße 74 69126 Heidelberg Tel: +49-6221-338276 Mob: +49-163-2665927 [email protected]

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Reisestipendium der

Heinz-Schwarzkopf-Stiftung fur Junges Europa

fur eine Reise nach Spanien und Marokko

September 2005

”Schotten dicht“ auf der europaischen Arche Noah?

Die spanische Außengrenze als Anlegesteg der Union

Eine Bestandsaufnahme

Von Niklas Schenck

Karlsruher Straße 74

69126 Heidelberg

Tel: +49-6221-338276

Mob: +49-163-2665927

[email protected]

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Heinz-Schwarzkopf-Stiftung Niklas Schenck

Ein Reisestipendium der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung

Die Straße von Gibraltar und die Zau-

Abb. 1: Grenzzaun von Ceuta; El Paıs, 29.9.05

ne um die Exklaven Ceuta und Melil-

la sind unlangst in den offentlichen Fo-

kus geruckt als Pforten nach Europa, als

Bootssteg zur europaischen Arche Noah.

Jedes Jahr versuchen tausende Immigran-

ten aus Marokko und Algerien, aus Gha-

na, Sierra Leone, Liberia und anderen

afrikanischen Staaten, in denen Armut,

AIDS und Burgerkriege das tagliche Bild

beherrschen, mit dem Schritt nach Eu-

ropa ihrer Not zu entkommen. Spanien

kann viele von ihnen gut gebrauchen, weil

sie jung sind und bereit, hart zu arbeiten, wahrend die spanische Gesellschaft immer alter wird.

Nicht jeder jedoch kann diese mit einem der steilsten Einkommensgefalle der Welt verbundene

Grenze uberwinden und ins vermeintliche Paradies ubersiedeln. Wer illegal ins Land kommt,

als”Heimlicher“, als

”Clandestino“, der wird anonymisiert und aus dem kollektiven Gewissen

verbannt, was Gesellschaft und Behorden ein hartes Vorgehen erleichtert.

Welche Vorgaben macht die Europaische Uni-

Abb. 2: Die EU - ein sinkendes Schiff?

on? Gibt sie den Bewachern am Steg der

Arche das Kommando zum Ablegen auf ei-

gene Faust? Schotten dicht? Oder setzt sich

das Bewusstsein durch, dass alle, Afrikaner

und Europaer, im selben Boot sitzen? Mit

Unterstutzung der Heinz-Schwarzkopf Stif-

tung fur Junges Europa hat Niklas Schenck

auf einer Reise nach Sudspanien und Ma-

rokko versucht, Antworten auf diese und an-

dere Fragen zu finden.

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Manu Chao...

Solo voy con mi pena

Sola va mi condena

Correr es mi destino

Para burlar la ley

Perdido en el corazon

De la grande babylon

Me dicen el clandestino

Por no llevar papel

Pa’ una ciudad del norte

Yo me fui a trabajar

Mi vida la deje

Entre Ceuta y Gibraltar

Soy una raya en el mar

Fantasma de la ciudad

Mi vida va prohibida

Dice la autoridad

Mano negra clandestina (...)

Argelino clandestino, Nigeriano clandestino

Africano clandestino, mano negra ilegal

Me llaman el desaparecido

Que cuando llega ya se ha ido (...)

Yo llevo en el alma un camino

Destinado a nunca llegar

Cuando me buscan nunca estoy

Cuando me encuentran yo no soy

El que esta enfrente porque ya

Me fui corriendo mas alla

Me dicen el desaparecido

Fantasma que nunca esta

Me dicen el desagradecido

Pero esa no es la verdad (...)

...Clandestino

Ich bin allein mit meinem Leid

Allein mit meinem Schicksal

Ich bin verdammt immer zu rennen

Um dem Gesetz zu entkommen

Verloren im Herzen

des großen Babylon

Sie nennen mich den Heimlichen

Weil ich keine Papiere habe

Ich ging in eine Stadt im Norden

Um zu arbeiten

Mein Leben ließ ich zuruck

Zwischen Ceuta und Gibraltar

Ich bin eine Spur auf dem Meer

Ein Gespenst in der Stadt

Mein Leben ist verboten

So sagt es das Gesetz

Schwarze Hand im Verborgenen (...)

Algerier - heimlich, Nigerianer stets versteckt

Afrikaner - clandestino, schwarze Hande illegal

Sie nennen mich den Verschwundenen

Der, wenn er ankommt, schon wieder weg ist

Ich trage in meiner Seele einen Weg

Verdammt, niemals anzukommen

Wenn sie mich suchen, bin ich nie da

Wenn sie mich finden bin ich nicht der

Der vor ihnen steht denn schon

Bin ich weiter gerannt

Sie nennen mich den Verschwundenen

Das Gespenst das nie da ist

Sie nennen mich den Undankbaren

Aber das ist nicht wahr

Manu Chao, Clandestino (1998).

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Was fuhlt ein Clandestino?

Der Wind blast stark, als ich aus der Kabine

Abb. 3: Schiffbruch: Absolute Verzweiflung gegen

zweifelhafte Hoffnung eingetauscht.

in Richtung Bug blicke. So stark, dass die

Windsurfer nur mit Muhe ihre Segel unter

Kontrolle halten konnen, hier in Tarifa, der

”Windhauptstadt Europas“. Selbst bei ma-

ßiger Sicht wie heute Morgen lasst sich an

diesem sudlichsten Zipfel Andalusiens das

Rif-Gebirge in Marokko erkennen. Ich stehe

wenige Meter neben turkisfarbenenen Wel-

lenbrechern, deren Kamme von den Wind-

boen zerfurcht werden, in einem verfallenen

Boot am Strand. Auf ihm hatten im vorletz-

ten Sommer acht afrikanische Einwanderer

die rettende Kuste erreicht, als ihr Gefahrt

bereits zu sinken drohte. Der Wind hat das Wrack mit Sand bedeckt, so dass der Bug inzwi-

schen komplett versunken ist. Wie schon einige Tage zuvor, bei der Uberfahrt von Marokko

nach Spanien, spure ich auch diesmal nicht, was ich mir erhofft hatte. Ich wollte endlich wissen,

was es fur die Clandestinos in der Straße von Gibraltar bedeutet, als illegale Einwanderer auf

gefahrlichen Routen ihren Weg in die Europaische Union zu suchen. Auf der Fahre war gerade

die Sonne untergegangen, und dutzende Touristen mit ihren Digitalkameras im Anschlag hat-

ten die Vorstellung der halsbrecherischen Uberfahrt in baufalligen Booten schlicht zu abwegig

erscheinen lassen. So war das Leid der Immigranten mir weiterhin nur logisch nachvollziehbar

geblieben, und ich hatte mich dafur geschamt, ihre Verzweiflung nicht selbst spuren zu konnen.

Sollte ich diese Not nicht wenigstens erlebt haben, um sie angemessen beschreiben zu konnen?

Oder ist innere Distanz sogar notig, um ein akkurates Bild von der Situation der Immigranten

am Rande der Europaischen Union liefern zu konnen? Nachdenklich lausche ich in den Wind

hinaus. Nichts. Ich gahne kopfschuttelnd, enttauscht.

Dann geschieht etwas Uberraschendes: Der Wind blast so stark um meinen beim Gahnen weit

geoffneten Mund, dass ein Pfeifton entsteht. Erstaunt versuche ich den Ton zu halten, dann

fuhre ich langsam die Lippen zusammen und wieder auseinander. Es klingt wie eine Sirene. Und

plotzlich ist das Gefuhl da, plotzlich kommen die Erinnerungen an die hinter mir liegende Reise

wieder. Sie fugen sich zu einem Bild zusammen, und auch die erschopften Immigranten sehe ich

jetzt vor mir, wie sie bei ihrer Landung die Kuste erreichten. Ein Polizeiwagen hatte sie bereits

an der Kuste erwartet und mit Blaulicht und Sirene in Empfang genommen, so wie der Wagen

der Guardia Civil, der an meinem ersten Abend in Spanien mit quietschenden Reifen am Strand

von Zahara de los Atunes vorgefahren war. Vor meinem inneren Auge huschen die Menschen

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vorbei, denen ich in den letzten Wochen begegnet bin. Sie alle sind Teil desselben Bildes, zu dem

sich die Informationen jetzt endlich zusammenfugen, die unzahligen Statistiken, Anekdoten und

Fotos, die vertraulichen Erzahlungen und hitzigen Diskussionen.

Noch einmal sehe ich Youssef Boutkhannte, einen marokkanischen Gastarbeiter in Tunesien. Er

hatte mir von seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben erzahlt - endlich wollte er sich von

den Fesseln seiner patriarchalischen Erziehung befreien; weil er taglich mit westlichen Touristen

verkehrt und seine Ideale aus dem illegal empfangenen Satellitenfernsehen ableitet, ist er sicher,

seine Freiheit in Europa zu finden.”Ich will leben. Und selbst entscheiden durfen“, hatte er ge-

sagt, und”Houria“ als sein Ziel genannt. Das ist das arabische Wort fur Freiheit.

Pa´ una ciudad del norte, yo me fui a trabajar. Wahrend ich diese Zeile aus dem Liedtext von

Manu Chao zwischen meinen Lippen hin- und herschiebe, weil sie mir mehr Gefuhl gibt fur die

Sehnsucht, von der Youssef mir erzahlt hatte, wird seine Silhouette durch Maria Bris Portillo

abgelost, die zuletzt in einem SOS Kinderdorf in Granada gearbeitet hatte. Dort leben viele

marokkanische Kinder, deren Eltern ohne sie abgeschoben wurden. Ich stelle mir vor, wie sie in

dem Clown-Kostum ausgesehen haben muss, als sie fruher mit christlichen und muslimischen

Kindern in den Straßen von Ceuta arbeitete.

Dort leben die Mitglieder von vier Religionsgemein-

Abb. 4: Bris Portillo: Als Straßenclown

fur Integration gearbeitet.

schaften friedlich nebeneinander, doch wenigstens bei

den Kindern wollte Bris Portillo sich neben Multikultu-

ralismus auch fur echte Integration einsetzen, erarbei-

tete Sketche mit ihnen und brachte sie beim Puppen-

theater zusammen. Kurz sehe ich Mohammed Al Geli-

um, dessen sehnsuchtige geistige Landkarte von Spani-

en die eines jeden Spaniers an Genauigkeit ubertrifft;

der taglich mit spanischen Freunden in den Bergen des

Rif wandert, die Markte durchstreift oder mit ihnen an

die Kuste nach Asilah fahrt - dessen Augen allerdings

wassrig werden, wenn er von dem Reisepass redet, den

er so gerne hatte.

Zwischendrin immer wieder die feuerrote Mahne von Mabel Carlos, die ich nur wenige Stun-

den zuvor in einer Bar in Tarifa zum Interview getroffen habe. 2002 horte sie desillusioniert

bei”Algeciras Acoge“ auf, einer Nicht-Regierungsorganisation (NGO), die Immigranten helfen

will, legalen Status zu erreichen und Arbeit zu finden. Den Erfolg spanischer NGOs sieht Mabel

heute zunehmend kritischer. Mit immer hektischeren Handbewegungen hatte sie im Gesprach

die”fatale Sprache“ der Medien im Umgang mit Immigranten angeprangert.

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Und sie hatte mir das spanische Wort”Ningunear“ erklart,

Abb. 5: Ningunear:”Die Presse

macht Niemande aus ihnen.“

das”Zum Niemand machen“ bedeutet. Gepragt hat es der

uruguayische Journalist und Historiker Eduardo Galeano,

der mit seinen Werken gegen das kollektive historische Ver-

gessen ankampft. Auch mir waren im Verlauf meiner Recher-

che Verallgemeinerungen begegnet, durch die Immigranten

in den Medien und im spanischen Sprachgebrauch zu anony-

men Teilen einer schwammigen Masse umgeformt werden.

Noch einer taucht wiederholt auf in diesen Serien verschwom-

mener Gesichter und verwobener Erinnerungen. Es ist Nico-

las Sarkozy, der franzosische Innenminister. Was hatte ihn dazu gebracht, gleich mehrere Artikel

in der spanischen Tagespresse zur Erlauterung seiner Immigrationspolitik zu verfassen? Er wech-

selt sich ab mit einem seiner Kritiker: Sandro Mezzadra, Professor fur Politik an der Universitat

Bologna, der die Idee der Transitlager fur Asylbewerber verurteilt und sich fur eine Erleichterung

des Legalisierungsprozesses stark macht.”Weil wir sonst eine europaische Apartheid erleben wer-

den“, wie er erklart,”wenn sich immer mehr Menschen gezwungen sehen, ein Leben ohne Papiere

und mit hochstens illegaler Arbeit zu akzeptieren.“

Und naturlich die Bilder aus Ceuta und Melil-

Abb. 6: Clandestinos im Auffanglager: Unge-

wisse Zukunft; El Paıs, 30.9.05

la, die mich so verwirren. Warum flimmern nun

plotzlich Berichte von der Problematik in Sudspa-

nien uber jeden europaischen Bildschirm? Schon

seit langem kommen laut einer Statistik der CIA

jahrlich rund 40.000 Immigranten nach Spanien.

Wie passt die Darstellung als”plotzliche Invasi-

on“ also zu den 1000 Afrikanern, die mit einem

Ansturm auf die Zaune versuchen, europaisches

Territorium zu erreichen und endlich am Ziel ih-

rer verzweifelten Reise anzukommen? Sie haben

sich lediglich, wie so oft in den letzten Jahren, mit einer neuen Methode zum Uberqueren der

Grenze an die hochtechnologisierten Sicherheitsvorkehrungen angepasst, die eine Passage der

Straße von Gibraltar in Booten immer schwerer machen. Die Frage drangt sich auf, ob tausend

Immigranten wirklich eine”Lawine“ darstellen, ein unerwartetes, neues und in seinen Ausmaßen

beispielloses Phanomen. Oder ob sie einfach die jungste Auspragung eines im”Off“ der Berichter-

stattung stattfindenden Prozesses sind, der bereits Jahre anhalt: Menschen aus den afrikanischen

Staaten sudlich der Sahara sind verzweifelt genug, um fur den Weg in eine bessere Zukunft ihr

Leben zu riskieren. Konnte es sich also um Stimmungsmache handeln, bei der diese neue Variante

der Grenzuberquerung als Invasion dargestellt wird, um strengere Gesetze und eine radikalere

Auslegung der Asylvorschriften zu rechtfertigen? Ich blinzle. Fur ein Urteil ware es zu fruh.

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Sarkozy braucht Spanien...

Anfang September 2005 schrieb Nicolas Sarkozy, ehr-

Abb. 7: Sarkozy; Le monde, 13.7.05

geiziger franzosischer Innenminister und selbst Sohn

einer Griechin und eines Ungarn, in Spaniens großter

Tageszeitung El Paıs einen sechsspaltigen Kommentar

uber Immigrationspolitik. Er stellte darin klar, dass er

im staatsphilosophischen Diskurs um Immigration nie

die Position einer”Festung Europa“ vertreten habe,

die in Spanien als”Null Immigration“ bezeichnet wird.

Auch die extreme Forderung der Gegenseite, eine to-

tale Offnung der EU-Grenzen fur Zuwanderung, lehne

er selbstverstandlich ab:”Eine große Nation wie unse-

re muss offen sein fur die Bereicherung und Erneue-

rung, die Zuwanderung mit sich bringt, aber innerhalb

kontrollierter Schranken.“ Weiter zeigte sich Sarkozy

verargert uber die seiner Meinung nach populistische

Darstellung, dass Zuwanderung per se ein wichtiges Element fur den Umgang mit dem demo-

graphischen Defizit sei. So wird der hypothetische Bevolkerungsruckgang bezeichnet, der in den

postindustriellen Staaten Europas wie Frankreich, Spanien und Deutschland ohne den Zuwande-

rungsuberschuss entstehen wurde. Sarkozy betonte, dass das demographische Defizit in seinem

Land von steigender Lebenserwartung abhangig sei, nicht von sinkenden Geburtenzahlen. Somit

steigerten Immigranten lediglich die Zahl der Einwohner mit Rentenanspruch in der Zukunft,

ohne jedoch die Finanzierungslucke im Rentensystem zu verringern.”Da sind ein verspateter

Renteneintritt und die Schaffung neuer Arbeitsplatze effektivere Maßnahmen“, urteilte Sarko-

zy, und ging zur Erklarung seines Systems von”Zuwanderungsquoten“ uber: Den Bedurfnissen

des Arbeitsmarktes angepasst sollten gezielt Immigranten nach Frankreich gelenkt werden, die

unterbesetzte Sektoren der franzosischen Wirtschaft entlasten konnten.”Denn dann zahlen sie

auch gleich in die Sozialsysteme mit ein, anstatt wie bisher erst monatelang selbst Sozialhilfe

zu beziehen, bevor sie einen Job finden oder sich eine Existenz aufbauen.“ Zuletzt sprach sich

Sarkozy fur die Ausweitung der Abkommen mit den Entsendelandern der Zuwanderer aus: Sie

sollten bei der Rekrutierung der benotigten Arbeitskrafte behilflich sein und außerdem Ruckfuh-

rungsabkommen unterzeichnen, die Frankreich eine leichtere Abschiebung illegaler Einwanderer

ermoglichen.

Alles Maßnahmen, die in Europa bereits seit langerem kontrovers diskutiert werden. Ebenso wie

die Transitlager, zuerst von Tony Blair und spater auch vom deutschen Innenminister Otto Schily

vorgeschlagen, die in den nordafrikanischen Maghreb-Staaten Libyen, Tunesien, Algerien, Ma-

rokko und Mauretanien installiert werden sollten, um Asylantrage auf EU-fremdem Territorium

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zu prufen und gegebenenfalls abzulehnen. Oder wie der kostspielige Ausbau von Radarsystemen,

Soldatenpatrouillen und Grenzzaunen an Spaniens Sudgrenze. Nichts Neues also von Sarkozy?

Was bezweckte er dann, als er seine Meinung der spanischen Offentlichkeit prasentierte?

Fur Spanien ist Zuwanderung ein noch jun-

Abb. 8: Spanien: Fruher selbst Entsendeland.

ges Phanomen. Auch nach der Franco-Diktatur

war das Land lange selbst eine Quelle von

Emigration. Erst Anfang der 90er Jahre er-

reichte der Wandel vom Aus- zum Zuwande-

rungsland das offentliche Bewusstsein. Die

neuen Entsendelander waren nun dem Kauf-

kraftgefalle folgend konzentrisch weiter”au-

ßen“ zu finden. Im Fall Spaniens bedeutete

dies Immigration aus Nordafrika und Sud-

amerika, inzwischen erganzt durch beacht-

liche Zahlen nordeuropaischer Zuwanderer,

die ihren Alterswohnsitz im”Florida Euro-

pas“ suchen. Wie viele konservative Politi-

ker in der EU hatte Nicolas Sarkozy die Zuwanderungspolitik der sozialistischen spanischen

Regierung unter Jose Luis Rodriguez Zapatero argwohnisch verfolgt. Besonders eine von Zapa-

tero durchgefuhrte Kampagne zur Legalisierung bereits illegal in Spanien lebender Immigranten

hatte dazu gefuhrt, dass Sarkozy sich um die Zukunft seiner Zuwanderunspolitik sorgte. Schließ-

lich stellt Frankreich seit dem EU-Beitritt Spaniens 1986 nicht mehr die Außengrenzen der Union

dar und ist wegen der im Schengen-Abkommen als offen festgeschriebenen europaischen Innen-

grenzen auf die Kooperation mit den spanischen Nachbarn am Rande Europas angewiesen.

... und die EU auch

Zapateros Amnestiekampagne sorgte nicht nur bei Sarkozy fur Stirnrunzeln. Viele konservative

Politiker in Europa befurchteten, die Aussicht auf legalen Status konnte einen”efecto llamada“,

d.h. eine Sogwirkung auf potentielle weitere Zuwanderer haben. Schon eimal, namlich vor seinem

EU-Beitritt, hatte Spanien erst unter dem Druck der EU strengere Richtlinien fur die Einreise

aus Nicht-EU-Staaten eingefuhrt.

Weil Nicolas Sarkozy also seine Moglichkeiten schwinden sah, die Immigration im Sinne der von

ihm geforderten Kontrolle zu beeinflussen, wandte er sich an die spanische Offentlichkeit, um

seine Ansichten zu erlautern. Auch weil das spanische Volk seine zunehmende Politisierung unter

Beweis gestellt hatte, als es nach den Madrider Attentaten vom 11. Marz 2004 die rechtskonser-

vative Regierung von Jose-Marıa Aznar abwahlte und Jose Zapatero das Vertrauen aussprach.

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Sarkozys Ziel muss es gewesen sein, den Vorwurf

Abb. 9: Thema Zuwanderung: Welche Kon-

zepte hat die Europaische Union?

zu entkraften, dass in der EU kaum griffige Kon-

zepte fur eine umfassende Losung der Zuwande-

rungsproblematik in Sicht seien. Drei Tage spa-

ter las man in El Paıs, dass neben den bereits

praktizierten Quotenregelungen, die von vorne-

herein nur den als okonomisch”wunschenswert“

betrachteten Auslandern den Weg in die Euro-

paische Union ebnen, noch auf anderem Wege

die Zuwanderung gebremst werden soll: Spanien

und Frankreich verpflichteten sich, Marokko mit

einem gemeinsamen Finanzpaket zu unterstutzen, um durch wirtschaftliche Entwicklung des

Maghreb-Staates den Druck auf die europaischen Grenzen zu mindern.

Mabel Carlos wird wutend, wenn sie von solchen Versprechen hort. Nachdem sie mehrere Jah-

re als Freiwillige fur die NGO”Algeciras Acoge“ am sudlichsten Zipfel Andalusiens gearbeitet

hatte, gab die 53-Jahrige dort 2002 frustriert und desillusioniert auf:”Weil wir vom Geld der

Regierung und den damit verbundenen Bedingungen an unsere Arbeitsweise abhangig waren,

konnten wir nie frei vorgehen und Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, so Carlos. Und das sei bei den

Finanzspritzen fur Entwicklungslander und Immigranten nicht anders. Langst hatten in Spanien

Strukturen entstehen konnen, in denen sich die im Land ansassigen Einwanderer selbst orga-

nisieren und fur ihre Interessen eintreten konnten. Algeciras Acoge will Einwanderer bei den

Antragen auf Legalitat, bei der Jobsuche und der Eingliederung in die Gesellschaft untersutzen.

Doch mitnichten, so Carlos:”Die ganze Struktur ist so vorgegeben, dass man den Unternehmer-

geist dieser dynamischen Menschen bricht. Wir vermitteln ihnen ein Gefuhl der Ohnmacht und

Abhangigkeit.“

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”Den NGOs sind die Hande gebunden“

Auch seit ihrem Ausscheiden bei der Nicht-Regie-

Abb. 10: Dauerbrenner Immigration:

Langst kein marginales Phanomen mehr.

rungsorganisation (NGO)”Acoge“ verfolgt die Irin

mit der feuerroten Haarpracht die nordafrikanische

Zuwanderung aufmerksam. Die verscharften Geset-

ze der Regierung Aznar, nach denen Spanier sich

strafbar machen, wenn sie in Not geratenen Immi-

granten helfen, statt die Polizei zu informieren, be-

obachtete Carlos mit wachsender Sorge; ein Freund,

der fur die”Comision Espanola de Ayuda al Refu-

giado“ arbeitete, die Immigranten nach der Ankunft

in Booten uber ihre Rechte informieren sollte, durfte

seine Arbeit nie aufnehmen. Und noch etwas ande-

res macht Carlos Sorgen:”Die Sprache der Medien,

aber auch das Auftreten mancher NGOs und der

kirchlichen Organisationen haben bewirkt, dass Im-

migranten hier in Spanien zunehmend uber einen

Kamm geschert werden.“ Wenn Manu Chao singt,

dass die Clandestinos ihr Leben zwischen Ceuta und

Gibraltar lassen, dann meint er nicht die hunderten

Immigranten, die jahrlich in der Straße von Gibraltar bei dem Versuch sterben, in schrecklich

ungeeigneten Booten nach Europa zu gelangen. Sondern er meint die, die es geschafft haben.

Und die dennoch ihr Leben zuruckgelassen haben. Ihre Identitat. Und genau die meint auch

Mabel Carlos. Zum Beispiel den 22-jahrigen liberianischen Politikstudenten, dessen Tagebuch

sie im Internet beim”Colectivo Frontera Sur“ gefunden hat.

Mi vida la deje entre Ceuta y Gibraltar...

Er schreibt dort:”Ich bin doch nur eine Ware, an der jeder Geld verdient. Nicht nur die Grenz-

beamten und Schleuser, auch die NGOs, angeblich gerade unabhangig vom Staat. Die benutzen

unsere Leichen und zerzausten Gesichter, um Subventionen zu beantragen. Seit ich unterwegs

bin, hat mich niemand mehr als Person wahrgenommen.“ Genau davor warnt Mabel Carlos:”Die-

se Menschen werden nie einfach als Menschen dargestellt, sondern immer als ein anonymisierter

Durchschnitt aller Einwanderer, als Kriminelle, als Illegale. Das ist gefahrlich, besonders in einer

Welt, die so viel Wert auf Individualismus legt.“ Denn naturlich sind restriktive Gesetze leichter

umzusetzen, wenn man nicht von konkreten Einzelschicksalen ausgeht, dem Leben der Zuwan-

derer kein Gesicht gibt. So werden die schwarzen Immigranten in der spanischen Presse meist

als”Subsaharianos“ bezeichnet, selten wird dieses

”sudlich der Sahara“ geographisch prazisiert.

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Ningunear ist das Wort, mit dem Mabel Carlos diesen Iden-

Abb. 11: Immigranten in Spanien:

Ankommen bleibt eine Illusion.

titatsverlust an der Grenze zu Europa beschreibt. Es heißt

”Zum Niemand machen.“ Und es heißt außerdem, dass die

Immigranten meist unerwahnt bleiben, so dass die Offent-

lichkeit von ihnen nur erfahrt, wenn es opportun scheint.

Dessen ist sich Carlos sicher, die taglich die Blogs verschie-

dener Hilfsorganisationen im Internet durchforstet, wo Akti-

visten ihre Erfahrungen direkt beschreiben. Denn sie hat ei-

ne krasse Diskrepanz festgestellt zwischen dem Ausmaß der

Zuwanderung und der Gewichtung der Medienberichte. So

suchte sie in den großen Tageszeitungen vergeblich nach den

ersten Meldungen uber Misshandlungen durch die marokkanische Polizei in den provisorischen

Lagern der Immigranten in spe. Die hatten sich in den Waldern vor Ceuta und Melilla eingerich-

tet, den beiden autonomen spanischen Stadten in Marokko. Erst nach massivem Druck durch

die renommierte Organisation”Arzte ohne Grenzen“ erfuhr die Offentlichkeit von den Berichten,

die Mabel Carlos in den Blogs langst gelesen hatte.

Als dann einige tausend Immigranten versuchten, uber

Abb. 12: Melilla: Erste Hilfe vom Roten

Kreuz; Agence France Press

die Grenzzaune in Melilla und Ceuta zu klettern, da

bekam die vermeintliche”Bedrohung“ plotzlich ein Ge-

sicht und konnte in den Medien als”Lawine“ oder

”In-

vasion“ dargestellt werden. Dabei ist es nur eine andere

Form der Immigration, angepasst an die erneut ver-

scharften Kontrollen des Meerweges. Eine medienwirk-

same Form gleichwohl, weil die Immigranten vor dem

kollektiven Gewissen der Welt fur kurze Zeit wieder ein

Gesicht bekommen. Alejandro J. Rodrıguez Carrion,

Professor fur internationales offentliches Recht in Malaga, schreibt in El Paıs:”Die massiven

Eintritte in Melilla sind nur ein kleiner Prozentsatz der Immigranten, die alljahrlich unsere Kus-

ten erreichen.“ Im Jahr 2003 wurden allein in der Straße von Gibraltar 15.985 illegale Einwanderer

abgefangen, und die Zahl derjenigen, die es versuchten, muss entsprechend hoher gelegen haben.

Hinzu kommt die wachsende Gruppe der Afrikaner, die aus dem Suden Marokkos die lange und

gefahrliche Uberfahrt auf die kanarischen Inseln wagen - als Reaktion auf immer treffsicherere

Uberwachungssysteme in der Straße von Gibraltar.

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Una raya en el mar:”Der Ansturm in Melilla ist nur ein kleiner Prozentsatz“

Mabel Carlos erzahlt, dass die Anzahl tag-

Abb. 13:”Mi vida va prohibida, dice la autoridad“:

Wovon Manu Chao singt, konnen Illegale in Me-

lilla ein Lied singen; El Paıs, 29.9.05

lich aufgegriffener Afrikaner in den Pateras,

den fur eine sichere Uberfahrt viel zu klei-

nen Booten, durch die selektive Berichter-

stattung lange Zeit niemandem bewusst ge-

wesen sei. Das anderte sich erst, als der An-

dalusier Jose-Luis Tirado in dem Dokumen-

tarfilm”Breitengrad 36“ die taglichen Abfang-

Aktionen der Polizei mit der Kamera beglei-

tete.

Werden Immigranten von der Polizei aufge-

griffen, beginnt damit fur sie oft erst der ei-

gentliche Spießrutenlauf. Vom Hafen in Ta-

rifa beispielsweise werden sie in die Polizei-

station auf der Isla de Palomas gebracht,

wo sie unter einem kleinen Leuchtturm erstmals verhort werden. Ziel ist dabei, wie auch spater,

die eindeutige Feststellung ihres Heimtlandes, um eine schnelle Abschiebung zu ermoglichen.

Nach polizeilicher Registrierung und Abnahme der Fingerabdrucke werden die”Neuen“ in die

Internierungslager in Tarifa oder Algeciras gebracht, wenn sie zur Umgehung der strengen Zu-

wanderungsgesetze ihre Herkunft verschleiern konnten. Dort treffen sie auch auf diejenigen, die

es geschafft haben, aus den CETIs in Ceuta und Melilla auf das Festland verlegt zu werden. Das

sind die”Centros de Estancia Temporal de Inmigrantes“, was

”Temporares Aufenthaltszentrum

fur Immigranten“ bedeutet. Bezeichnenderweise wurden diese Lager nach dem Ansturm auf die

Grenzzaune in der spanischen Presse als”Centros de Estacionamiento“ bezeichnet, was ein

”Par-

ken“ der Immigranten, ein Wegschließen, impliziert.

”Sind sie einmal in den Internierungslagern, muss innerhalb von 40 Tagen ihre Nationalitat fest-

gestellt werden, wenn die Behorden sie abschieben wollen“, erklart Manuel Lancha, der als Anwalt

in Algeciras Immigranten uber ihre Rechte informiert.”Und selbst dann geht es nur, wenn die

Herkunftslander ein Ruckfuhrungsabkommen mit Spanien unterzeichnet haben.“ Dazu wird von

Seiten der spanischen Regierung enormer Druck ausgeubt - wogegen sich die Herkunftslander

jedoch wehren, weil das Geld, das die Immigranten nach Hause schicken, oft den großten Anteil

ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) darstellt. Uber vier Milliarden Euro schicken die afrikani-

schen Migranten jahrlich in die Heimat. Weltweit sind es 150 Milliarden, rund 10% des BIP der

Bundesrepublik Deutschland.

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Correr es mi destino, para burlar la ley - der Spießrutenlauf beginnt spater

”Kann die Herkunft der Immigranten innerhalb der Frist von 40 Tagen nicht ermittelt werden,

bekommen sie einen Ausweisungsbescheid, der aber in aller Regel nicht vollstreckbar ist“, so

Lancha weiter. Damit bewegen sie sich fortan zwischen zwei Welten, konnen einzig auf dem

”parallelen Arbeitsmarkt“ Geld verdienen. Weder haben sie eine soziale Absicherung noch legale

Vertrage. Sie leben fortan als Fantasma de la ciudad, als Gespenst der Stadt, wie Manu Chao die

illegalisierten Zuwanderer nennt, die”schon nicht mehr da sind, wenn man sie sucht.“ Jetzt mus-

sen sie hoffen, politisches Asyl zu erhalten oder bei einer erneuten Legalisierungskampagne Gluck

zu haben. Dafur wiederum ware ein Arbeitsvertrag unerlasslich, so dass bei der letzten Aktion

im April 2005 rund 800.000 der 1,7 Millionen insgesamt in Spanien lebenden Illegalen keine echte

Chance auf den Wechsel in die legale Gesellschaft hatten. Sandro Mezzadra, Politikprofessor an

der Universitat Bologna, fordert daher vehement die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen

auch an Immigranten, die keinen Arbeitsvertrag vorweisen konnen:”Wir zwangen diese Men-

schen in eine Parallelgesellschaft: Sie werden nicht abgeschoben, eine Existenz durfen sie sich

aber auch nicht aufbauen. Das ist nichts anderes als eine europaische Apartheid.“

Außer aus Sudamerika sind die meisten Clan-

Abb. 14: Aspiranten in Chefchaouen: Viele Tee-

nager sind mit Perspektivlosigkeit konfrontiert.

destinos aus Marokko. Besonders in Andalu-

sien, Katalonien und der Hauptstadt Madrid

siedeln sich viele an; in jungster Zeit kommen

immer mehr Afrikaner aus Landern sudlich

der Sahara. Fast jeder Spanier kann von sei-

nen eigenen Erfahrungen mit der Immigrati-

on berichten, und die wachsende Politisierung

der Bevolkerung ist neben dem Terrorismus

vor allem mit dem Thema der Zuwanderung

verknupft.”Fruher war es eine Seltenheit, in

der U-Bahn Fremde zu treffen“, erzahlt Mi-

guel Salgado Subiza aus Madrid,”heute sind

es meist weit uber 50% der Nutzer.“ Anfangs

habe es noch Graffiti und eine rechtsradikale Bewegung gegeben, in denen sich die Skepsis der

Bevolkerung manifestierte.”Doch inzwischen haben erstaunlich viele das immense Potential der

Zuwanderung erkannt“, so Subiza. Die peruanische Haushalterin seiner Familie war anfangs sehr

skeptisch, als Miguels Vater ihr helfen wollte, im Rahmen der Legalisierungskampagne Anfang

2005 ihre Papiere in Ordnung zu bringen. Obwohl sie einen Vertrag vorweisen konnte und auch

die weiteren Bedingungen erfullte, furchtete sie den Kontakt mit den spanischen Behorden - und

weil sie wegen der Steuerzahlungen als legal Beschaftigte monatlich 30 Euro weniger verdiente,

hatte sie anfangs die Legalisierung am liebsten ruckgangig gemacht.

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Als Salgado Subiza am Morgen des 11. Marz 2004

Abb. 15: Karikatur:”Das Afrika nordlich der

Sahara“ in Anspielung auf den Kulturenmix

im neuen Europa, El Paıs, 26.9.05

von den Anschlagen in seiner Heimatstadt erfuhr,

war einer seiner ersten Gedanken der an die vielen

Immigranten, die in der Hauptstadt lebten.”Ich

dachte, dass es jetzt eine Welle von Fremdenhass

geben wurde und war wirklich besorgt“, so Subi-

za. Doch in Wirklichkeit war die Anspannung in

Madrid wesentlich großer, solange Politiker noch

die baskische Terrorgruppe ETA fur die Anschla-

ge verantwortlich machten.”Und spater richtete

sich unser aller Zorn eher auf Ministerprasident

Jose Maria Aznar, der kurz vor den Wahlen wich-

tige Informationen uber die wahren Hintergrunde

der Attentate verschleiert hatte.“ Bei den folgen-

den Großdemonstrationen seien die Burger der Hauptstadt eher enger zusammengeruckt, wie

Subiza damals erleichtert beobachtete.

Abschiebelager fur Kinder?

Neben dem fantasma de la ciudad von Manu Chao geis-

Abb. 16: Abschiebelager fur Kinder:

Wer junger ist als 14, darf bleiben.

tert noch ein anderes Gespenst durch die Stadte Spa-

niens, in denen viele Zuwanderer leben. Das Gespenst

von den Lagern fur Minderjahrige namlich, das in Spa-

nien derzeit kontrovers diskutiert wird. Maria Bris Por-

tillo hat dieses Gespenst oft gesehen: In den Augen der

Jugendlichen, die sie in einem SOS-Kinderdorf in Gra-

nada betreut.”Wer junger als 14 Jahre ist, der wird

ohne seine Eltern nicht abgeschoben“, erklart sie.”Und

das wissen die Schleuser, so dass sie Eltern und Kinder

voneinander trennen, um zumindest den Kindern eine

bessere Zukunft in Europa zu ermoglichen.“ Naturlich

weiß die spanische Regierung das auch. Deshalb will sie jetzt ein Abschiebelager fur Kinder in

Marokko finanzieren, um die Anreize fur verzweifelte Eltern abzuschwachen: Die Kinder wurden

ohne weitere Uberprufung sofort auf marokkanischen Boden zuruckgebracht.”Das wurde sie de-

moralisieren“, hofft der Prasident von Melilla, Juan Jose Imbroda. Dass Spanien die angemessene

Behandlung der Abgeschobenen nicht garantieren kann, erfuhr die Welt, als die in den Waldern

vor Melilla wartenden Afrikaner von der marokkanischen Polizei ohne Wasser oder Essen in der

Wuste Algeriens abgesetzt wurden.”Da gab es bei euch in Deutschland einmal eine ahnliche

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Sache“, erinnert sich die bestens informierte Sozialarbeiterin Bris Portillo:”Deutschland konnte

Einwanderer aus Osteuropa ohne langwierige Uberprufung der Papiere nach Polen zuruckbrin-

gen. Ob sie von dort nicht in die Ukraine weiter verladen wurden, wohin Deutschland selbst sie

nicht abgeschoben hatte, das war nicht immer klar.“

Internierungslager fur Minderjahrige einzurichten, das findet

Abb. 17: Kinderlager:”Ihre

Moral noch weiter gebrochen.“

Bris Portillo”kurzsichtig und verantwortungslos.“ Es zeige nur,

wie weit verbreitet die Einstellung”aus den Augen, aus dem

Sinn“ tatsachlich sei. Da werde außerdem klar, dass Immigra-

tion weit mehr Gebiete umfasse als Geographie, Politik oder

Wirtschaft allein. Schließlich sei auch Psychologie ein entschei-

dendes Instrument:”Mit diesen Lagern wird ihre Moral wieder

ein Stuck weiter gebrochen, wird ihnen wieder das Existenz-

recht abgesprochen“, argert sie sich.”Dabei sind das Leute, die

bereit sind, alles anzupacken, sich abzurackern.“ Selbst die SOS-

Kinder wurden zwar mit großem Erfolg in die spanische Gesellschaft entlassen, doch ihre Traume

seien dabei haufig engen Scheuklappen gewichen. Ihre Willenskraft und der fur einen gelungenen

Beitrag zum Wohl der westeuropaischen Gesellschaft so wichtige Unternehmergeist werden den

Immigranten schnell ausgetrieben.

Haufig sind es die Zuwanderer, die fur die spanische Wirt-

Abb. 18: Kultureller Reichtum:

”Das Potential erkannt.“

schaft unerlassliche Jobs verrichten. Als das Stadtchen Lepe

in der Provinz Huelva Anfang unseres Jahrzehnts die Kon-

trollen der Arbeitserlaubnisse intensivierte, verrotteten ton-

nenweise ungeerntete Erdbeeren, weil keine Einheimischen

bereit waren, die Arbeitsbedingungen und niedrige Bezah-

lung auf den Feldern zu akzeptieren. Ahnlich werden auch

die Ernten im Raum Almerıa und die besonders harte Ar-

beit in den gluhend heißen Gewachshausern in derselben Ge-

gend inzwischen zum Großteil nur noch von Immigranten

ubernommen. Entsprechend sind in Spanien kaum populis-

tische Stimmen zu vernehmen, die Einwanderern die Schuld

fur Arbeitslosigkeit geben, wie das in Deutschland bisweilen

versucht wird.

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Sie haben Gesichter...

Einer, der auszog, um bei der Ernte in Spanien zu helfen, ist

Abb. 19: Mahnend: Einzelne

werden kaum wahrgenommen.

Abdel Aziz, ein Berg von einem Mann, der mit seiner Fami-

lie inzwischen wieder in Asilah wohnt.”Ich bin auf der Lade-

flache eines LKWs zwischen Teppichen und Kleidungsstucken

nach Spanien gelangt und wollte bei der Ernte oder als Ho-

telbediensteter gutes Geld verdienen.“ Schließlich sind die fur

spanische Verhaltnisse extrem niedrigen Lohne fur viele Ma-

rokkaner Gold wert: Das kaufkraftbereinigte Jahreseinkommen

in Spanien liegt rund sechsmal hoher als das in Marokko. Die

spanisch-marokkanische Grenze weist damit eines der großten

Rentengefalle der Welt auf - nicht umsonst wird die Straße von Gibraltar auch als der”Rio

Grande Europas“ bezeichnet. Außerdem liegt in Marokko das Durchschnittsalter der Bevol-

kerung rund 16 Jahre unter dem in Spanien, die Anzahl der Kinder unter 15 Jahren ist im

Maghreb-Staat mehr als doppelt so hoch. Kein Wunder also, dass sogar trotz des großen infor-

mellen Dienstleistungssektors die Arbeitslosigkeit in Marokko die spanische deutlich ubersteigt:

Das Wirtschaftswachstum kann mit dem der Bevolkerung nicht annahernd Schritt halten. Wah-

rend die spanische Bevolkerungspyramide am Ubergang von der Urne zur Pilzform steht und

damit derselben Versorgungslucke entgegengeht wie andere westeuropaische Staaten, wird in der

marokkanischen Pyramide die Basis immer breiter. Daran lasst sich der Zuwachs an Kleinkindern

ablesen, die auf einen bereits uberfullten Arbeitsmarkt nachstromen. Das erklart in Ansatzen

die wirtschaftlichen Faktoren, die viele bewegen, nach Europa uberzusiedeln, sei es legal oder

ohne Papiere.

Fur Abdel Aziz endete das Abenteuer Spanien mit Erniedrigung. Heute arbeitet er wieder mit

Touristen in seiner marokkanischen Heimat, verdient sein tagliches Brot selbst und lebt im ei-

genen Haus, ohne standig auf der Hut sein zu mussen. Er ist uberzeugt:”Ich war einfach nicht

verzweifelt genug, um standig unter freiem Himmel zu schlafen, immer wegzurennen und keinerlei

Sicherheit zu haben.“ Auch das gibt es also. Mitlaufer und solche, die gar nicht aus tiefster Ver-

zweiflung den Sprung in die EU versuchen wollen, sondern schlicht interessiert sind, wie es sich

auf der anderen Seite der Grenze zum Nachbarland lebt - ahnlich den meisten Europaern eben.

Naturlich gibt es das. Doch im alltaglichen Prozess der Anonymisierung vergisst man schnell -

dann wird jedem Immigranten die gleiche Lebensgeschichte angedichtet und der Einzelne kaum

noch wahrgenommen.

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Ein Einzelner wie Mohammed Al Gelium. Zehn seiner bisher 21 Lebens-

Abb. 20: Mohammed

Al Gelium:”Eine

Existenz aufbauen.“

jahre hat er mit Drogengeschaften verbracht. Von seinem siebten bis

zum 17. Wiegenfest, anfangs als unauffalliger Kurier mit einem Ruck-

sack voller Haschich, spater mit noch gefahrlicheren Auftragen. Dann

besuchte er seinen Onkel in Malaga, dienstlich sozusagen. Mit dem Geld

aus dem Drogenhandel war es nicht schwierig, einen Reisepass zu be-

kommen. Doch als Mohammed sah, wie schnell sein Onkel nach der

Enttarnung seiner Machenschaften tief absturzte, da schwor er der Lust

auf das schnelle Geld ab.”Ich will nach Spanien, nach Europa. Aber

dann will ich auch bleiben konnen und mir eine Existenz aufbauen“,

erklart er den Schritt. Seither hat er so viele Spanier kennengelernt, die

in seinem Dorf Chefchaouen im Rif-Gebirge Halt machten, dass er seine

Dienste als Fremdenfuhrer gar nicht mehr auf der Straße anbietet.

Zu ihm kommt nur, wer seine Telefonnummer schon im

Abb. 21: Umweltverschmutzung:

”Wenn ich an die Zukunft denke...“

Gepack hat. Und wer mit ihm zu Abend isst, wird von

mindestens drei Handy-Kurznachrichten aus Spanien un-

terbrochen. Mohammed hat Freunde in jeder spanischen

Provinz und eine innere Landkarte der iberischen Halb-

insel, wie die wenigsten Spanier sie verinnerlicht haben.

Wie ein Schwamm saugt er die Namen und Beschreibun-

gen aller Orte auf und stellt Fragen ohne Unterlass. Ist er

denn in Chefchaouen nicht besonders gut dran? Taglich

kann er mit seinen auslandischen Freunden in die Berge,

ist in der Natur, und verdient so viel, dass er hervorsticht

unter den einheimischen Kameraden.

Sicher gehe es ihm gut, druckst er herum, doch er wol-

Abb. 22:”...hier kann ich mich nicht

weiterentwickeln“

le eben selbst wahlen durfen und nicht immer die Halfte

seines Geldes an Polizisten abgeben, die ihren Anteil am

Geschaft fordern.”Um den Moment mache ich mir we-

nig Sorgen. Aber wenn ich an die Zukunft denke - hier

kann ich mich nicht weiterentwickeln.“ Er wird unterbro-

chen vom Muezzin, der die Burger per Mikrofon an ihre

Gebetspflicht erinnert. Zum Abschied an diesem Abend

schlagt Mohammed mit der rechten Hand ein - mit der-

selben beruhrt er dann sein Herz, voller Respekt fur seinen

neuen Freund.

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”Stell Dir nur vor! Weggehen zu konnen...“

Was mussten Burger afrikanischer Staaten tun, um einen

Abb. 23: Auf dem Weg in die Moderne.

Pass fur die legale Einreise nach Spanien zu bekom-

men? Einen dieser Passe, mit denen Touristen in dem

Buch”Welcome to Paradise“ den Autor Mahi Binebine

in Rage bringen:”Was wollten diese Fremden, die in

unserer Armut herumstocherten? Ich hatte bereitwil-

lig noch mit der armseligsten dieser Figuren den Platz

getauscht.“ Vertraumt ruft er seinem Cousin Reda zu:

”Stell Dir nur vor! Weggehen zu konnen...“

In der Theorie muss der Antragsteller eine Einladung

vorweisen, eine Hotelreservierung und ein Ruckflug-

ticket, zuletzt einen Kontoauszug, der ausreichendes Guthaben belegt. Die meisten dieser Papiere

sind auch gefalscht erhaltlich, und die Antrage konnen aufgrund ihrer schieren Masse kaum mehr

als stichprobenhaft gepruft werden. Daher hangt die Visa-Vergabe bisweilen nur von der Laune

des Konsulatsbeamten ab. Und doch scheint die illegale Einreise fur viele die einzige Option,

aus Angst vor den Behorden oder weil die Tagesform des Sachbearbeiters ungunstig ausfiel. In

der Praxis ist die so genannte”Harraga“ weiter verbreitet, bei der die illegalen Immigranten

lange vor der marokkanisch-spanischen Grenze samtliche Papiere verbrennen, die ihre Herkunft

dokumentieren. Das ist der erste Schritt der Anonymisierung und zugleich notig, um nicht nach

der Ankunft in Spanien unverzuglich abgeschoben zu werden.

Quoten wenden den Fokus von den Herkunftslandern ab

Spanien hat mit 16 Landern Ruckfuhrungsabkommen

Abb. 24: Spanische Entwicklungshilfe:

Druck in Entsendegebieten lindern.

geschlossen. Sechs davon liegen in Afrika, und weitere

sollen folgen. Mit okonomischer Kooperation lockt das

Land die afrikanischen Regierungen, auf einen Teil der

von den Emigranten heimgeschickten Devisen zu ver-

zichten, die meist einen Großteil des Inlandsproduktes

ausmachen. Mit zusatzlichen Quotenkontingenten lasst

sich die Peitsche der Abschiebung mit dem Zuckerbrot

eines Teilersatzes verbinden. Doch gerade die Quoten

fur den spanischen Arbeitsmarkt, nach denen die Zu-

wanderer in wunschenswerte und solche, die schon in

ihrer Heimat eine Abfuhr bekommen sollen, unterteilt

werden - gerade sie zeigen in symptomatischer Form, warum der Immigrationsdruck auf die Eu-

ropaische Union bisher kaum gemindert werden konnte: Der Fokus liegt auf den okonomischen

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Bedurfnissen der Union, und die Situation in den Entsendelandern wird bereitwillig ausgeblen-

det. Es interessiert, wer die Quoten erfullen kann - wer jedoch dem Selektionsprozess zum Opfer

fallt, der kann aus dem kollektiven Gewissen zumindest solange verbannt werden, bis er sich am

Grenzzaun von Melilla die Hande zerschneidet.

Um tatsachlich nur die der okonomischen Notwendig-

Abb. 25: Gerberei, Arbeit im Schmutz:

Im Laufschritt das Weite suchen.

keit angepasste Zuwanderung zu gestatten, zugleich aber

den Druck der illegal Einlass Suchenden zu mindern,

musste der Blick dorthin wandern, woher immer mehr

der Immigranten stammen: Ins Afrika von Hunger, Bur-

gerkrieg und AIDS, nach Sierra Leone, Liberia und

Ghana, nach Senegal und Burkina Faso. Dem spani-

schen Ministerprasidenten Jose Luis Rodriguez Zapa-

tero wird wegen seiner Legalisierungskampagne eine

Sogwirkung angekreidet, verstarkt durch hochglanzen-

de TV-Bilder eines vermeintlichen europaischen Alltags

auf vergoldeten Straßen. Doch die konnte uber mehr als

3500 Kilometer und quer durch die großte Wuste der Welt ihre Distanzwirkung kaum entfalten,

wenn nicht in den Landern selbst Grund genug bestunde, im Laufschritt das Weite zu suchen.

Wer mehrere Jahre großter Entbehrungen, der Erniedrigung durch Polizei und der standigen Un-

gewissheit zweifelhafter Erfolgsaussichten auf sich nimmt, um irgendwann vor den Toren Melillas

oder Ceutas eine Leiter aus Holz und Stofffetzen zusammenzubauen, der ist nicht aus Fernweh

unterwegs. Wie Abdel Aziz aus Asilah mir bestatigt hatte, der”schlicht nicht verzweifelt genug“

gewesen war, um diese Verluste an Lebensjahren zu ertragen.

Statt Zaun rauf bald Subventionen runter?

Die Erhohung der Grenzzaune in Ceuta und Melilla von drei

Abb. 26: Coca-Cola-Pferd: Ab-

hangigkeiten in Kauf genommen.

auf sechs Meter und die Installation von Uberwachungsan-

lagen, Kameras und weiteren Kraften der Guardia Civil soll

die spanische Regierung uber 170 Millionen Euro kosten. Die

Europaische Union bezuschusste zwischen 2002 und 2004 die

Entwicklung des technisch aufwandigen Kontrollsystems SI-

VE, das sich auf Satelliten, Radars und Infrarotgerate stutzt,

mit 103 Millionen Euro. Die gleiche Summe wurde fur den

Ausbau bis 2008 zugesichert. Und nach dem Ansturm auf

die Zaune der beiden Exklaven sagte die Union 40 Millionen

Euro fur die Ausbildung des marokkanischen Grenzschutzes

zu.”Schotten dicht“ also? Normalerweise ist das die Vorgabe fur ein sinkendes Schiff, um die Zeit

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bis zum Untergang zu verlangern. Doch nehmen wir nicht eher fur uns in Anspruch, als Arche

Noah des 21. Jahrhunderts gerade einen zukunftsfahigen Ausbau zu durchlaufen? War es bei den

jungsten Erweiterungen der Europaischen Union nicht das Ziel, einen prachtvollen Dampfer zu

konstruieren?

Deswegen machen andere Konzepte die Runde: Statt”Zaune rauf“ soll die Formel

”Subventionen

runter“ zum Ausdruck bringen, wie der Auswanderungsdruck in den Herkunftsgebieten afrikani-

scher Immigranten gelindert werden kann. Denn hohere Zaune werden auch in Zukunft hochstens

bewirken, dass die Illegalen noch mehr Risiko eingehen und noch unmenschlichere Behandlung

von Seiten der Schleuser ertragen mussen - schließlich steigt mit erhohtem Risiko auch der Preis.

Zaune stoppen die Zuwanderung genausowenig wie Friedhofsmauern die Menschen vom Sterben

abhalten. In diesem Sinne hatte Jose Manuel Barroso, Prasident der EU-Kommission, seinem

afrikanischen Pendant Alpha Oumar Konare versichert, dass er sich fur einen konstruktiveren

Dialog mit Afrika einsetzen werde, denn, so Barroso:”Es geht nicht nur um unsere Werte wie

Solidaritat oder Großzugigkeit, es geht auch um unsere Interessen.“ Weil die langfristige Wirt-

schaftslage Europas auch vom Ertragsgefalle zu den Nachbarstaaten abhangt, stimmte Konare

ihm zu und warnte vor selektiver Einwanderungspolitik, die bewirken konnte, dass das”wert-

vollste geistige Potential Afrikas“ abgeschopft wird.

Die Ideen, wie eine effektivere und umfassendere Investition in die Zukunft Afrikas und damit

auch Europas aussehen konnte, sind vielfaltig. Aus Frankreich stammt der Vorschlag, Flugtickets

zugunsten afrikanischer Entwicklungsprogramme zu besteuern. Dadurch wurde unsere privile-

gierte Reisefahigkeit denen zu Gute kommen, die davon derzeit noch weit entfernt sind. Der

Wiener Migrationsforscher Michael Jandl schlagt den Verkauf befristeter Visa vor, die ahnlich

teuer sein sollen wie die illegale Einreise mit Schleppern. Die Einnahmen sollen zu gleichen Tei-

len fur Entwicklungsprojekte im Herkunftsland und die Sozialversicherung in Europa verwendet

werden, außerdem fur eine Kaution, die nach Ruckkehr in die Heimat ausbezahlt wird.

Die EU hat bereits beschlossen, die Entwicklungshilfe bis

Abb. 27: Zapateros Allianz der

Zivilisationen muss glaubwurdiger

werden.

2010 auf 0,56 und bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonatio-

naleinkommens zu steigern. Damit die von Spaniens Minis-

terprasident Zapatero ausgerufene Allianz der Zivilisationen

jedoch glaubwurdig wird, fehlt derzeit noch die Zusage eines

betrachtlichen Abbaus der Agrarsubventionen. Noch lasst

sich leicht ein fur alle Europaer relevanter Kreislauf postulie-

ren: Die Subventionierung europaischer Agrarprodukte und

das Abladen von Uberschussproduktion in Afrika zu Dum-

pingpreisen erzeugen den Auswanderungsdruck, der fur den

enormen Zustrom an jungen Afrikanern in die EU sorgt. Mit

schrittweisem Subventionsabbau wurden die zu großen Teilen

von der Landwirtschaft abhangigen Okonomien Afrikas zunehmend auf eigene Beine gestellt und

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auch der innerafrikanische Handel konnte endlich wachsen. Nur so kann die Versorgung mit dem

rapiden Bevolkerungswachstum Schritt halten, und nur so konnen die”verhinderten Akteure“

Afrikas ihre dringendsten Probleme bald wieder selbst angehen - sei es das ungebremste Bevolke-

rungswachstum, die seuchenartige Ausbreitung von AIDS oder die oft minimalen Bildungsmog-

lichkeiten als Grundlage zukunftiger Entwicklung. Die Verantwortung, den afrikanischen Staaten

wieder auf eigene Fuße zuruckzuhelfen, erwachst aus den politischen und finanziellen Abhangig-

keiten, die westliche Staaten in Zeiten von Kolonialisierung und Industrialisierung zumindest in

Kauf genommen, wenn nicht gezielt entwickelt haben - denn erst diese Abhangigkeiten haben

aus materieller Armut etwas gemacht, das viel schlimmer ist: Elend.

”Ich wollte leben, das war Alles.“

Nach vier Wochen in Spanien und Marok-

Abb. 28: Sagt mir, warum liebt ihr die Freiheit?

ko stehe ich also hier am Strand von Tari-

fa in einem verfallenen Boot, und sehe das

Spiel der Wellen nur mit halber Aufmerk-

samkeit. Ich denke noch einmal an Yous-

sef Boutkhannte. Der hatte in Marokko ei-

ne Ausbildung und sogar einen Job als Au-

tomechaniker. Doch das war ihm nicht ge-

nug. Taglich flimmerte die glanzende Welt

spanischer Daily Soaps vor seinen Augen,

standig begegneten ihm Touristen, die sich

frei in seiner Welt bewegen durften. Warum

sollte ihm nicht das gleiche Recht zustehen?

Warum sollte er nicht frei sein?”Ich wollte leben, das war alles“, zuckt er mit den Schultern,

”und ich wollte mich nicht mehr bevormunden lassen, sondern selbst entscheiden wie die Ju-

gendlichen in Europa.“ Also schaffte er es irgendwie nach Malaga und von dort nach Frankreich,

wo er sich wegen seiner gebrochenen Kenntnisse in Franzosisch besser verstandigen konnte. In

Italien arbeitete er fur den Sicherheitsdienst in einem Fußballstadion und gelangte schließlich

nach Suditalien, von wo er nach Tunesien ubersetzte. Immer noch auf der Suche nach”Houria“,

nach Freiheit. Alles mit einer gebrochenen Nase:”Das war mein erster Befreiungsversuch, in Ma-

rokko“, grinst er,”weil ich meine Rechte einforderte, bekam ich mit einem Polizeistock Prugel.“

Ich hatte ihm von der kleinen Welle im Ozean erzahlt, die manchmal auf der großen Welle des

Systems surft, um nicht zu viel Kraft zu verlieren, und die sich dann immer wieder selbstandig

macht, um nie ganzlich verschluckt zu werden. Er hatte gelachelt. Das Ende hatte er schon gar

nicht mehr gehort, weil er ein Lied im Radio mitsummte.”Dites-moi, pourquoi vous aimez la

liberte?“ -”Sagt mir, warum liebt ihr die Freiheit?“

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Quellen

Neben den unzahligen informellen Gesprachen in Bussen, Cafes, auf Fahren und in Warteschlan-

gen habe ich einige ausfuhrliche Interviews in Spanien, Marokko, Tunesien und Deutschland

gefuhrt. Wegen der brisanten Situation in Ceuta und Melilla habe ich die Recherchen und In-

terviews per Internet, e-mail und Telefon von zu Hause aus auch nach der Reise noch fortgesetzt.

Interviewpartner:

1. Youssef Boutkhannte, Marokkaner, der in Italien, Spanien und Tunesien als Gastarbeiter

gelebt hatte.

2. Mohammed Al Gelium, Marokkaner im Bergdorf Chefchaouen, der nach Spanien will.

3. Abdel Aziz, Marokkaner in Asilah, der aus Neugier mehrere Monate illegal in Spanien lebte

und nach eigener Aussage”nicht verzweifelt genug war, die Demutigung eines versteckten

Lebens zu ertragen.“

4. Mabel Carlos, vor 20 Jahren nach Spanien emigrierte Irin, die lange in der NGO”Algeciras

Acoge“ arbeitete.

5. Maria Bris Portillo, Sozialarbeiterin in der NGO”SOS-Kinderdorfer“, die vorher als Clown

in den Straßen von Ceuta in einem Integrationsprojekt tatig war.

6. Miguel Salgado Subiza, Spanier, der mir ausfuhrlich seine personlichen Erfahrungen mit

dem Thema Immigration und den Attentaten in seiner Heimatstadt Madrid im Marz 2004

schilderte.

7. Miriam Sanchez, die in einem”Centro de Primera Acogida“ in Madrid arbeitet, einer der

Acoge-Organisation ahnlichen Einrichtung.

8. Cody Selby, bei dem ich zehn Tage wohnen durfte und der wegen seiner Arbeit als Journalist

selbst viele weitere Gesprachspartner empfehlen oder vermitteln konnte.

9. Marie Liden, die eine TV-Dokumentation uber Roma in Rumanien gedreht hatte und mich

erinnerte, die Recherche nicht zu sehr ausufern zu lassen, ein Thema im Auge zu behalten

und mit der Strukturierung der Arbeit nicht zu lange zu warten.

10. Manuel Lancha, spanischer Anwalt in Algeciras, der versucht, Immigranten uber ihre Rech-

te gegenuber den Behorden zu informieren.

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Weiterhin las ich taglich die spanischen Zeitungen El Paıs und EuropaSur aus Tarifa, sowie

spater die Nachrichten aus FAZ, ZEIT und Tagesschau, als es zur mediengerechten Eskalation

der Situation in Ceuta und Melilla kam. Das Buch”Welcome to Paradise“ vom marokkanischen

Autor Mahi Bihebine gab mir einen bewegenden Eindruck von den personlichen Geschichten der

Clandestinos, die so oft weg-anonymisiert werden. Auch”Gesichter der Erde“ von dem Heidelber-

ger Geographie-Professor Horst Eichler war ein treuer Begleiter und gab vielfaltige Denkanstoße,

was die Forderung wirtschaftlicher Entwicklung in den Entsendegebieten der Zuwanderer anbe-

langt.”The age of migration“ von Stephen Castles/ Mark J. Miller sowie

”Derecho a la fuga“ von

Sandro Mezzadra erlaubten Einblicke in die wissenschaftlichen Konzepte rund um das Thema

Migration, Globalisierung und Grenzdialoge.”Asylum and Migration policies in the European

Union“ von Steffen Angenendt (Hrsg.) erweiterte dabei den Blickwinkel um die EU-Perspektive.

Die Internet-Blogs vom”Colectivo Frontera Sur“ und des

”Red de dos orillas“ halfen, die

”News

behind the news“ von einer alltaglicheren Warte aus zu betrachten, und das internet-basierte

CIA World Factbook ermoglichte die einheitliche Auswahl der Zahlen zu Bevolkerung, Wirt-

schaft und Bildung in Spanien, Marokko und Deutschland sowie der EU.

Soweit nicht anderweitig markiert, sind alle Fotos eigene Aufnahmen von meiner Reise.

(a) Lekture...

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Route

Ich verbrachte insgesamt 20 Tage in Spanien und 10 Tage in Marokko. Nach vier Tagen am

Ankunfstort Jerez de la Frontera und in Zahara de los Atunes wurde ich beim Trampen von zwei

der o.g. Interviewpartner mitgenommen und durfte 10 Tage bei ihnen in Vejer de la Frontera

wohnen. Von dort aus erwanderte ich die Kuste zwischen Tarifa und Algeciras sowie die zwischen

Tarifa und der Playa de Bolonia, bekannt fur die Vielzahl an Fluchtlingsbooten, die dort anlegen

und bisweilen stranden. Außerdem fuhrte ich mehrere Interviews in Tarifa, Algeciras und Vejer,

die ich erst vor Ort arrangierte. Nach der Uberfahrt von Algeciras nach Ceuta ließ ich mir von

Maria Bris Portillo die spanische Exklave zeigen und sprach ausfuhrlich mit ihr. In Chefchaouen

im Norden des Landes verbrachte ich vier Tage mit Mohammed Al Gelium, der durch seinen

taglichen Kontakt mit Touristen viele interessante Ansichten zum Thema Immigration entwi-

ckelt hat. Eine Rundreise bis in die Sahara im Suden und nach Essaouira an der Kuste brachte

mich zuruck in die marokkanische Hauptstadt Rabat. Im Hotel Afrika verbrachte ich die Nacht

auf dem Dach mit Immigranten aus Ghana auf ihrem Weg nach Norden - auch auf dem fol-

genden Straßenabschnitt bis Asilah und schließlich Tanger bemerkte ich die enorme Anzahl der

in nordlicher Richtung wandernden Menschen. Weil inzwischen die Zaune in Melilla und Ceuta

besturmt worden waren, blieb ich nach der Fahrquerung noch einmal funf Tage in Tarifa und

Vejer de la Frontera, wo ich viele Hintergrunde erfuhr, die mir in den Tageszeitungen verborgen

geblieben waren. Den Ruckflug trat ich erneut von Jerez de la Frontera nach Frankfurt an.

(b) Quelle: Encarta World Atlas 2005, Microsoft Corporation

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