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SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – Band 12

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SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – BAND 12 Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer

Wolfgang Harich

Friedrich Nietzsche

Der Wegbereiter des Faschismus

Tectum

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Die Verö�entlichung des vorliegenden Bandes wurde gefördert durch die

Wolfgang Harich

Friedrich Nietzsche.Der Wegbereiter des Faschismus Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs. Band 12.Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer© Tectum – Ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019 E-Book: 978-3-8288-7360-5(Dieser 'Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4377-6im 'Tectum Verlag erschienen.)Umschlagabbildung: Wolfgang Harich, Quelle: Privatbesitz

Alle Rechte vorbehaltenBesuchen Sie uns im Internetwww.tectum-verlag.de

Ergänzende Bildnachweise: 77 | Bundesarchiv Bild 102-13774, Adolf Hitler.jpg; 87 | QS:P571,+1940-06-23T00:00:00Z/11; 372 | X. Schriftstellerkongress der DDR. Plenum, Berlin, 1988, Bildtafel 1 und 3; 470 | Bundesarchiv Bild 183-1983-0321-037, Wartburg, Klaus Höpcke aufLutherkonferenz.jpg; 486 | Bundesarchiv Bild 183-M0210-0039, Berlin, Brecht-Ehrung,Empfang.jpg; 494 | Bundesarchiv Bild 183-19204-3150, Otto Grotewohl.jpg; 497 | Bundesarchiv B145 Bild-F031406-0017, Erfurt, Treffen Willy Brandt mit Willi Stoph.jpg; 537 | BundesarchivBild 183-1985-0926-040, Berlin, Vorstandssitzung Schriftstellerverband.jpg; 584 | BundesarchivBild 183-H0611-0500-003, Berlin, Kundgebung des Kulturbundes.jpg; 590 | Bundesarchiv Bild183-34196-0001, Berlin, Akademie der Künste.jpg; 626 | Bundesarchiv Bild 183-1987-0907-017, Bonn, Besuch Erich Honecker, mit Helmut Kohl.jpg; 644 | Bundesarchiv Bild 183-14811-0012,Berlin, 3. Deutscher Schriftsteller-Kongress.jpg; 661 | https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Hitler#/media/Datei:Hitler_in_M%C3%BCnchen_1939. jpg; 685 | Bundesarchiv Bild 183-08583-0017, Zittau, Jugend-Dreiländertreffen, Erich Honecker.jpg; 694 | Bundesarchiv Bild 146-1974-082-44, Adolf Hitler im Ersten Weltkrieg retouched.jpg; 705 | Bundesarchiv Bild 183-1989-1024-027, Berlin, 10. Volkskammertagung.jpg

Bibliographische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Zur Edition

Wolfgang Harich (1923–1995) zählt zu den wichtigen und streitbaren Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Befreundet mit Georg Lukács, Bertolt Brecht und Ernst Bloch wirkte er als Philosoph, Historiker, Literaturwissenschaftler und durch sein praktisches politisches Engagement. Letzteres führte nach seiner Verhaftung von 1956 wegen Bildung einer »konterrevolutionären Gruppe« zur Verurteilung zu einer zehnjährigen Haftstrafe. Die nachgelassenen Schriften Harichs erscheinen nun erstmals in einer elfbändigen Edition, die das reichhaltige Werk dieses undogmatischen Querdenkers in seiner ganzen Breite widerspiegelt: von seinen Beiträgen zur Hegel-Debatte in der DDR über seine Abrechnung mit der 68er-Bewegung im Westen bis zu seinen Überlegungen zu einer marxistischen Ökologie.

Die Edition würdigt Wolfgang Harich als Philosophen, Literaturhistoriker, Feuilleto-nisten, als praktischen Streiter für die deutsche Einheit und die ökologische Umorien-tierung. Sie wird im Herbst 2013 erö�net mit drei Bänden zur klassischen Deutschen Philosophie des Idealismus sowie zum Verhältnis von Materialismus und Idealismus.

Zum Herausgeber

Andreas Heyer, Dr. phil., Jg. 1974, Politikwissenschaften und Jura. Von 2000 bis 2002 war er Stipendiat der Graduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt, im Anschluss dann Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Martin-Luther-Univer-sität Halle-Wittenberg. 2003 promovierte er u. a. bei Iring Fetscher mit einer Arbeit über Diderots politische Philosophie. 2005 erschien in zwei Bänden das Lehrbuch Die französische Aufklärung um 1750. Zwischen 2003 und 2007 war er Mitarbeiter des DFG-Projekts Sozialutopien der Neuzeit. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der politischen Utopien der Neuzeit sowie zur Philosophie in der DDR. Im Zuge dieser Arbeiten entstand sein besonderes Verhältnis zu den Schriften Wolfgang Harichs, das sich in mehreren Verö�entlichungen niederschlug. Seit 2012 arbeitet er mit Unterstützung durch Anne Harich an der Herausgabe der nachgelassenen Schrif-ten Wolfgang Harichs.

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Editionsplan (Stand August 2019)

1. Frühe Schriften (in 3 Teilbänden, erschienen)2. Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (erschienen)3. Widerspruch und Widerstreit – Studien zu Kant (erschienen)4. Herder und das Ende der Aufklärung (erschienen)5. An der ideologischen Front. Hegel zwischen Feuerbach und Marx (erschienen)6. Vorlesungen zur Philosophiegeschichte (in 2 Teilbänden, erschienen)7. Schriften zur Anarchie (erschienen)8. Ökologie, Frieden, Wachstumskritik (erschienen)9. Georg Lukács – Dokumente einer Freundschaft (erschienen)10: Nicolai Hartmann. Der erste Lehrer (erschienen)11: Arnold Gehlen. Eine marxistische An thro po lo gie? (erschienen)12: Friedrich Nietzsche. Der Wegbereiter des Faschismus13: Schriften zur Kultur (in 2 Teilbänden)14: Politik und Philosophie in der zweiten Lebenshälfte15: Schlüsseldaten deutscher Geschichte: 1953, 1956, 1968, 198916: Autobiographie

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A nd rea s H ey er

V orw ort

Die kritische Auseinandersetzungen mit der Philosophie Friedrich Nietzsches war für Wolfgang Harich eine lebenslange Herausforderung. Schon im Elternhaus bekam er seine Einstellung vermittelt, eigene Erfahrungen mit dem Faschismus, viele private Gespräche, umfangreiche Lektürestunden und auch seine universitäre Ausbildung bei Eduard Spranger und Nicolai Hartmann (den er freilich mit Blick auf dessen Arbeiten zur Wertproblematik in der Nachfolge Nietzsches kritisierte) vertieften diese Ansicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte er sich zum Marxismus sowie zu dessen Wei-terentwicklung samt permanentem Ausbau zum vollumfänglichen philosophischen System. Bis zu seinem Tod blieb Harich einem strikten und konsequenten Antifaschis-mus verp�ichtet. Diese Konstellation ist einer der Schlüssel zu seinem Werk und Denken. Viele Texte dieser Edition spiegeln diese seine Wahrnehmung der entspre-chenden �eorien und Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts wider.

Wichtig und zentral für seine intellektuelle Genese in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren waren die Freundschaften, die er schloss – zu den von ihm sehr ge-schätzten sowjetischen Kulturo�zieren, zu Paul Rilla oder beispielsweise zu Bertolt Brecht. Wichtig waren die Diskussionen, die er führte und an denen er sich beteiligte – über des Erbe-Verständnis des Sozialismus, zur Logik, zur Philosophiegeschichte, zu den Höhepunkten der bürgerlichen Kultur und Wissenschaften, über die Einschätzung der klassischen deutschen Philosophie des Idealismus im Allgemeinen und zur Philo-sophie Hegels im Besonderen. Wichtig waren schließlich auch die Feindschaften, in denen sich sein Verstand und sein Weltbild schärften – neben Nietzsche beispielsweise gegenüber Ernst Jünger oder Martin Heidegger, mit Blick auf den Existenzialismus oder die reaktionäre Gegenwartsphilosophie. Harich brauchte ein Gegenüber (das

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konnte eine Person sein, ein Text, eine �ese), an dem er sich abarbeiten konnte. In den Jahren seiner schlimmsten intellektuellen Isolation, ab ca. 1985, war er schließlich im Selbstgespräch. Er verfasste seine Manuskripte nun im Dialog mit sich, �ese und Gegenthese, Frage und Einwand in einer Person vertretend.

Die größten und intensivsten Anregungen emp�ng er jedoch von Georg Lukács, mit dem er seit 1951 im Aufbau-Verlag intensiv zusammenarbeitete und dem er seit 1953, nunmehr Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, die Türen nicht nur dieser Zeitschrift ö�nete, sondern alles dafür tat, um dem ungarischen Philosophen einen hohen Stellenwert im kulturellen Leben des kleineren deutschen Staates zu sichern. Was beide, neben manch anderem, einte, war die radikale und explizite Kritik an Nietzsche sowie an dessen Charakterisierung als ideologischer Begründer des europä-ischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus.

In den Jahren nach seiner Haftentlassung bezog Harich nicht ausführlich zu Nietzsche Stellung. Aber die verstreuten kleineren (und größeren) Äußerungen in seinen verschie-denen Schriften, Manuskripten und Briefen zeigen deutlich an, dass sich seine Positi-on zu diesem nicht verändert hatte.

Die achtziger Jahre brachten in dieser Hinsicht jedoch eine Veränderung. Durch seine aus den Normen und Werten des Antifaschismus der Nachkriegszeit, die damals in der SBZ und der jungen DDR einen allumfassenden Konsens gebildet hatten, hervorge-gangenen �eorien und Stellungnahmen zu den aktuellen Herausforderungen von Politik, Kultur und Philosophie löste Harich die auch heute noch bekannte Nietz-sche-Debatte aus, die sogar die DDR überlebte. Harich war mit seinem Weltbild, in seinen Grundzügen entstanden in dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einem Fremdkörper in der Gegenwart geworden, die nicht mehr die seine war.

Der vorliegende Band zerfällt in zwei Teile. Zuerst wird das Manuskript Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift in sieben Dialogen mit Paul Falck. Zu dem Symposium »Bruder Nietzsche?« der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal präsentiert. Es entstand in den ersten Monaten des Jahres 1989 (Januar bis August) und enthält zwei Anhänge. Der erste vom November 1992, der zweite vom August 1994. Auch wenn das Buch nach den wichtigen Beiträgen der Nietzsche-Debatte geschrieben wurde und erschienen ist, so wird es doch zuerst präsentiert, da es eine sehr gute Zusammenfassung des Denkens von Harich gibt. Verfasst hatte Harich das Werk nach seinen guten Erfah-

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rungen mit den Erwägungen zu Nicolai Hartmann (Band 10) erneut in Dialogform, das heißt im Gespräch mit sich selbst. Ein methodisches Verfahren, das es ihm ermög-lichte, eigene Positionen zu überspitzen, mögliche Einwände bereits argumentativ zu entkräften und die gebildeten Ansichten zu hinterfragen.

Der zweite Teil enthält dann zahlreiche Manuskripte, Briefe, Eingaben, Dokumente, Vorträge und Aufsätze Harichs, die seinen permanenten Kampf gegen Nietzsche ab 1982 dokumentieren. Zum Abdruck kommen ausschließlich Texte, die sich in seinem Nachlass fanden und heute im Amsterdamer Internationalen Institut für Soziale Ge-schichte aufbewahrt sind. Alle wichtigen Texte und Schriften sind auf diese Weise in dem Band präsent. Leider war es nicht möglich, die deutschen Archive, darunter zu-vorderst das Bundesarchiv Berlin, intensiver zu durchforsten, da die dortigen Arbeits-bedingungen für akademische Studien nicht geeignet sind: Beginnend bei der Art und Weise und Dauer der Aktenbereitstellung über die Möglichkeiten des Kopierens (mehr-wöchige Wartezeiten, völlig überzogene Kopienpreise) bis hin zur Erlangung einer Abdruckgenehmigung. (Um von der Arbeitsatmosphäre und ähnlichem hier zu schwei-gen.) Bedauerlicherweise waren auch verschiedene der auf Seiten der DDR-Regierung damals beteiligten Personen nicht bereit, mit Informationen oder gar Kopien aus ihren Sammlungen diese Edition zu unterstützen. Sie setzen damit auch heute noch, wo die SED noch nicht einmal mehr, wie ihr späterer Arbeitgeber, PDS heißt, die Politik von Stalin und Ulbricht/Honecker mehr als nur fort und zeigen, ungeachtet aller autobio-graphischen Selbstmysti�zierung, ihre wahre Einstellung zum Vermächtnis von Wolf-gang Harich.

Über den vorliegenden Band hinaus, das klang bereits an, �nden sich Äußerungen Harichs zu Nietzsche in vielen Texten dieser Edition. Um darüber zumindest eine kleine Zusammenschau zu geben, lässt die folgende Einleitung vor allem Harich selbst zu Wort kommen und zeichnet in exemplarischer Auswahl dessen Urteile über Nietz-sche bis zu seiner Verhaftung 1956 nach. Die Einleitung in den zweiten Teil beschäftigt sich dann direkt mit der Nietzsche-Debatte der achtziger Jahre.

Hinzuweisen ist schließlich noch darauf, dass die Bände 9 (zu Georg Lukács), 10 (zu Nicolai Hartmann), 11 (zu Arnold Gehlen) und 12 (zu Nietzsche) eine ähnliche Ein-heit bilden wie die Bände 3 (zu Kant), 4 (zu Herder) und 5 (zu Hegel). Sie ergänzen sich gegenseitig und ihr jeweiliger Inhalt erschließt sich erst dann vollständig, wenn die anderen Texte mit berücksichtigt werden. Gerade da in den achtziger Jahren diese

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�emen für Harich zusammengehörten, er von einem Manuskript oder Brief zum nächsten überging.

Mit Blick auf Harich hört man in Diskussionen oft die Stellungnahme: »Sein Einsatz 1956 verdient schon Respekt, aber was er dann mit dem Nietzsche …« Viele Gerüch-te ranken sich um seine Briefe und Eingaben – und vom Hörensagen ist es ein weiter Weg zur Wahrheit. Nun kann nachgelesen werden, welche Meinung er in den achtzi-ger Jahren vertrat.

Andreas Heyer Braunschweig, im Juni 2019

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I nh a l t

Vorwort (Andreas Heyer) 7

Teil I: Nietzsche und seine Brüder

Wolfgang Harichs Positionierung gegen Nietzsche bis 1956 (Andreas Heyer) 17

Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift in sieben Dialogen mit Paul Falck 57

Vorwort (von Paul Falck) 57I. Nietzschebrüder in der DKP 59II. Der Faschismus und Nietzsche 66III. Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus 100IV. Ist das der ganze Nietzsche? 128V. Nietzsche-Renaissance und Globalprobleme 166VI. Nietzsche-Brüder, genauer besehen 198VII. Ins Nichts mit ihm? 232Anhang I: Zu Nietzsches spätstalinistischer Aufwertung 251Anhang II: Nachwort 1994 257

Teil II: Die Nietzsche-Debatte der achtziger Jahre

Wolfgang Harich und die Debatte über Nietzsche (Andreas Heyer) 2651. Auftakt ohne Diskussionen 2652. Der Ton wird deutlicher 2783. Erste Briefe nach »oben« 2954. Unverö�entlichte Manuskripte 1: Lukács 3105. Unverö�entlichte Manuskripte 2: Nietzsche 3246. Erste Briefe an Erich Honecker 3457. Der Ton wird rauer 3588. Nietzsches Genossen 1: Stephan Hermlin und die Schriftsteller der »Republik« 3699. Nietzsches Genossen 2: Manfred Buhr und die »Philosophen« der Partei 385

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10. Der Brief an Honecker vom Mai 1988 40711. In der Isolation 42412. Schlussanmerkungen 434

1. Denkschrift zur Nietzsche-»Rezeption« (Juni–Juli 1982) 4422. Brief an Hermann Turley (26. Juli 1982) 4473. Brief an Lothar Berthold (02. Oktober 1982) 4604. Exposé für den geplanten Sammelband

Beiträge zur Nietzsche-Kritik (01. Oktober 1982) 4635. Brief an Klaus Höpcke (03. August 1985) 4696. Brief an Klaus Höpcke (02. September 1985) 4717. Brief an Klaus Höpcke (05. Oktober 1985) 4748. Brief an Hans Joachim Ho�mann (08. Oktober 1985) 4859. Brief an Klaus Höpcke (12. Oktober 1985) 48910. Brief an Heinz Malorny (28. November 1985) 49311. Brief an Max Walter Schulz (02. Dezember 1985) 49512. Brief an Willi Stoph (22. Dezember 1985) 49613. Brief an Klaus Höpcke (25. Januar 1986) 50314. Brief an Stephan Hermlin (28. Januar 1986) 50615. Brief an Kurt Hager (30. Januar 1986) 50816. Brief an Kurt Hager (04. Juni 1986) 51617. Brief an Stephan Hermlin (09. Mai 1987) 52118. Brief an Kurt Hager (27. August 1987) 53019. Brief an Kurt Hager (23. September 1987) 53620. Brief an GO der SED im Akademie-Verlag (23. September 1987) 53821. Brief an Manfred Buhr (25. September 1987) 54022. Brief an den Kulturbund (16. Oktober 1987) 54123. Revision des marxistischen Nietzschebildes? (September–Oktober 1987) 54224. Brief an Kurt Hager (19. Oktober 1987) 58125. Brief an Reinhard Pitsch (23. November 1987) 58226. Brief an den Kulturbund Magdeburg (02. Dezember 1987) 58327. Brief an den Kulturbund Magdeburg (03. Dezember 1987) 585

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28. Brief an Max Walter Schulz (27. Dezember 1987) 58629. Brief an Kurt Hager (17. Januar 1988) 58730. Brief an GO der SED im Akademie-Verlag (17. Januar 1988) 58731. Brief an Gregor Schirmer (25. Januar 1988) 58832. Brief an Roland Opitz (26. Januar 1988) 58933. Brief an die Akademie der Künste (26. Januar 1988) 58934. Brief an Stephan Hermlin (13. Februar 1988) 59135. Brief an Erich Honecker (29. Februar 1988) 59336. Brief an Erich Honecker (17. März 1988) 59537. Brief an Gregor Schirmer (07. April 1988) 59838. Brief an Gregor Schirmer (09. April 1988) 59939. Brief an Georg Anders (11. April 1988) 60140. Brief an Gregor Schirmer (16. April 1988) 60241. Brief an Lothar Berthold (26. April 1988) 60542. Gutachten zu Heinz Malornys Nietzsche-Buch (29. April 1988) 61243. Brief an Lothar Berthold (30. April 1988) 62144. Brief an Gregor Schirmer (13. Mai 1988) 62345. Brief an Manfred Bachmann (17. Mai 1988) 62346. Brief an Erich Honecker (18. Mai 1988) 62547. Brief an Eberhard Fromm (08. Juli 1988) 63248. Brief an Manfred Buhr (19. August 1988) 63249. Brief an Hans Schulze (19. August 1988) 63350. Brief an Erich Honecker (03. September 1988) 63451. Brief an Walter Grab (25. September 1988) 63652. Brief an Lothar Berthold (30. September 1988) 64053. Brief an Gregor Schirmer (30. September 1988) 64154. Brief an Gregor Schirmer (14. Oktober 1988) 64255. Brief an Stephan Hermlin (15. Oktober 1988) 64356. Brief an Gregor Schirmer (17. Oktober 1988) 64657. Brief an Reinhard Mocek (12. November 1988) 64758. Brief an Max Walter Schulz (19. November 1988) 654

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59. Nietzsche als Schöpfer der faschistischen Ideologie (16. Dezember 1988) 65760. Brief an Robert Steigerwald (03. Januar 1989) 67261. Das epochale Vorzeichen (Januar 1989) 67462. Nietzsche-Brüder in der DKP (Januar 1989) 67663. Brief an den Akademie-Verlag (03. April 1989) 67964. Brief an Kurt Hager (06. April 1989) 68265. Brief an Erich Honecker (12. Mai 1989) 68466. Vortrag am 16. Juni 1989 68867. Brief an die Botschaft der UdSSR (19. Juni 1989) 69668. Brief an Siegfried Otto (28. Juli 1989) 69669. Brief an Stefan Dornuf (02. August 1989) 69870. Brief an die Antifa-Gruppe (17. Oktober 1989) 69971. Brief an den Dietz-Verlag (15. November 1989) 70172. Brief an Siegfried Otto (18. Oktober 1989) 70273. Brief an Egon Krenz (26. Oktober 1989) 70474. Brief an Egon Krenz (09. November 1989) 70675. Brief an Christoph Links (02. Juli 1990) 70876. Brief an Wilfried Träder (05. Juli 1990) 70977. Zu Nietzsches spätstalinistischer Aufwertung.

Eine Replik (04. September 1990) 71378. Brief an Günther Grack (28. September 1990) 71879. Brief an Hermann Kurzke (18. Oktober 1990) 71980. Brief an Frank Schirrmacher (31. Oktober 1990) 72081. Brief an Vera Oelschlegel (04. November 1990) 72182. Brief an Frank Schirrmacher (24. April 1991) 72283. Brief an die Marx-Engels-Stiftung Wuppertal (02. August 1991) 72384. Brief an Heinz Jung (02. August 1991) 72385. Brief an German Werth (16. Januar 1994) 72486. Brief an Wolf Scheller (17. Januar 1994) 72687. Brief an Jürgen Horlemann (27. Januar 1994) 72888. Brief an Reinhard Semmelmann (19. März 1994) 73089. Brief an Ruth Kiesow (25. April 1994) 731

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T eil I

N ietz sc h e u nd seine B rü d er

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W ol f ga ng H a ric h s Positionieru ng gegen N ietz sc h e b is 1 9 5 6

Vom November 1945 bis zum Sommer 1946 arbeitete Wolfgang Harich als �eater-kritiker für die französische lizenzierte Tageszeitung Kurier.1 Die Bandbreite seiner dort publizierten Artikel reicht von �eaterkritiken über philosophische Versuche und politische Äußerungen bis hin zu jenen teilweise bitterbösen Satiren, in denen er seinen Zeitgenossen unter dem Pseudonym Hipponax einen Spiegel vorhielt. (Johannes R. Becher beispielsweise hat Harich nie verziehen, dass dieser ihn verspottete.)2 Wegen ihrer ideologisch-politischen Ausrichtung riefen Harichs Texte spätestens seit dem Frühjahr 1946 den Bruch mit dem Kurier hervor. Zeitlich parallel knüpfte Harich bereits Kontakte zu den russischen Kulturo�zieren. Dabei ging es um seine Pläne und seine Rolle bei der Neugründung der Weltbühne.3 Wolfgang Schivelbusch hat in der lesenswerten Monographie Vor dem Vorhang die entsprechenden damaligen Diskussi-onen nachgezeichnet und detailliert rekonstruiert, warum Harich scheiterte.4 Aber Harichs Niederlage bei dem Versuch, maßgeblicher Redakteur der Weltbühne zu werden, hatte positive Folgen. So schrieb er bis in die fünfziger Jahre nicht nur ca. vierzig Ar-

1 Eine Auswahl seiner Artikel kommt in Band 1.3, S. 1331–1438, zum Abdruck.2 Harich hatte in zwei Gedichten Becher nachgeahmt: Aufschrei gellt, nach Johannes R. Be-

cher, 1920 und Aufbau marschiert, nach Johannes R. Becher, 1946, beide abgedr. in: Band 1.3, S. 1383 f.

3 Verschiedene Artikel Harichs aus der Weltbühne kommen in der Edition zum Abdruck (u. a. in Band 1.1, S. 226–288, Band 6.2, S. 1376–1444). In Band 1.2 auch Abdruck des Planes von Harich zur Neugründung der Weltbühne (S. 209–226).

4 Schivelbusch, Wolfgang: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin, 1945–1948, Frankfurt am Main, 1997.

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tikel für die Weltbühne, sondern die Vertreter der sowjetischen Militäradministration in der SBZ hielten sozusagen ein Trostp�aster für ihn parat: Die Anstellung bei der Täglichen Rundschau.5 Für die war er dann bis 1950 tätig.6 Sein erster Artikel erschien am 28. Juli 1946 – Und noch einmal: Ernst Jünger. Kurz darauf folgte Röpke, Pechel und der »Totalitarismus«. Zudem war Harich beispielsweise an der Gründung des Kultur-bundes beteiligt.

Für Harich war diese Entwicklung überaus vorteilhaft. Er knüpfte in den Jahren der SBZ Kontakte zu den russischen Kulturo�zieren, auf privater, freundschaftlicher und beru�ich-kollegialer Ebene, die ihm zwar im November 1956 bei seiner Verhaftung durch Ulbricht nicht mehr helfen konnten, bis zu diesem Zeitpunkt aber überaus nützlich waren: Sie ö�neten ihm Türen, halfen ihm bei Diskussionen (beispielsweise bei dem Streit um seine Hegel-Interpretation in seiner heute noch berühmten Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität)7, stärkten seine Rolle im Berlin der Nachkriegs-zeit. Sicherlich war es auch dieser Konstellation geschuldet, dass Harich neben Anna Seghers und anderen zu der Delegation der deutschen Schriftsteller gehörte, die 1948 knapp einen Monat lang die Sowjetunion besuchte.8

Vor allem war sein Wechsel aber auch ein deutliches politisches, ideologisches und, wenn man so will, moralisch-humanistisches Bekenntnis. Ein Ja zum Marxismus, zum Sozialismus, zu grundlegend-radikalen Reformen bzw. Brüchen mit der bisherigen bürgerlichen Gesellschaft, in deren Schoß der Nationalsozialismus entstanden war. Und wahrlich nicht zuletzt bestätigt der beru�iche Weg Harichs in der SBZ dessen strikten

5 Siegfried Prokop stellte heraus, dass Harichs »Freunde und Gönner in Karlshorst« den Übergang vom Kurier zur Täglichen Rundschau forcierten, Harich also eine Alternative anboten. Prokop, Siegfried: Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs, Berlin, 1997, S. 41.

6 Eine Auswahl seiner Artikel kommt in Band 1.2, S. 1013–1218, zum Abdruck.7 Die entsprechenden Texte und Debatten präsentiert der 5. Band, die Vorlesung dort

S. 437–714. Eine sehr gute Einführung bieten die Texte von: Warnke, Camilla: Bemer-kungen zu Wolfgang Harichs Philosophievorlesungen in den frühen fünfziger Jahren, in: Heyer (Hrsg.): Diskussionen aus der DDR, Norderstedt, 2015, S. 159–166. Der junge Harich und die Philosophiegeschichte. Wolfgang Harichs Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, 1951–1954, Berlin, 1999.

8 Im Nachklang der Reise schrieb Harich verschiedene Aufsätze, so u. a. für die Weltbühne die drei Artikel Gleichschaltung?, in: Band 1.1, S. 230–250, für die Tägliche Rundschau die vierteilige Serie Moskauer �eaterimpressionen und den Beitrag Humanität und Vertrauen. Das Verhältnis der Sowjetmenschen zu Deutschland, in: Band 1.2, S. 1147–1168.

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Antifaschismus, der diesen Zeit seines Lebens in allen Facetten seines Denkens und Handelns prägte.

Diese kurze Einleitung stellt sich dem Versuch, Harichs Einstellung zu Friedrich Nietz-sche, wie sich diese bis 1956 herausbildete und verfestigte, zumindest überblicksartig zu rekonstruieren. Am 26. Juli 1982 schrieb Harich in einem Brief an Hermann Turley:9

»Meine Bekanntschaft mit Nietzsche begann in den Jahren 1938/1939. Ich gehörte damals, als Vierzehn- bis Sechzehnjähriger in Neuruppin einem philosophisch-literarisch-musi-kalischen Zirkel des Bayreuther Bundes an, dessen dortige Ortsgruppe von einem Studi-enrat Dr. Werner Kuntz geleitet wurde. Dieser war vor 1933 SPD-Mitglied gewesen, dachte aber nicht entfernt daran, uns mit marxistischem Gedankengut vertraut zu machen, sondern führte uns in Kant, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Oswald Spengler ein. Das spielte sich ab vor dem Hintergrund der damaligen Sudetenkrise und des beginnen-den Zweiten Weltkriegs. In dieser Situation vertrat meine Mutter die Ansicht, zu Kriegen käme es vor allem deswegen immer wieder, weil die Menschen nicht genügend Phantasie hätten, sich vorzustellen, was ein Krieg ist. Damit ich davon eine realistische, illusionslo-se Vorstellung gewönne, gab sie mir systematisch die im Ersten Weltkrieg spielenden Bücher von Barbusse, Gläser, Remarque, Renn, Arnold Zweig und anderen Kriegsgegnern zu lesen. Unter dem Ein�uss dieser Lektüre lernte ich den gleichzeitig genossenen Nietz-sche nachhaltig und von Grund auf verabscheuen. Auch später hat er mich nie interessiert, geschweige denn irgend einen Ein�uss auf mich ausgeübt. Nachdem ich mich dem Marxismus zugewandt hatte, akzeptierte ich die einschlägigen Darlegungen Franz Mehrings und besonders Georg Lukács’ als das endgültig und abschließend Zutre�ende, was über Nietzsche gesagt werden kann. An dieser Überzeugung halte ich auch heute nach wie vor fest. Dabei können mir nicht einmal Nietzsches Kritik am Christentum und seine viel gerühmte ›entlarvende Psychologie‹ imponieren. Beides �nde ich um Vieles besser und überdies mit humaner Grundtendenz bei Ludwig Feuerbach, dessen Verdrängung durch die Schopenhauer-Mode aus dem bürgerlichen Bildungsbesitz mir die Voraussetzung für Nietzsches maßlose Überschätzung gewesen zu sein scheint, um von der dem Bürgertum ohnehin fernliegenden Religions- und Ideologiekritik des Marxismus noch ganz zu schwei-gen. Ja, selbst von Nietzsches stilistischen Qualitäten halte ich nicht viel. In dieser Bezie-hung folge ich dem sehr nüchternen, gesunden Urteil Kurt Tucholskys.«

9 Zitate aus Texten, die dem vorliegenden Band entnommen sind, werden im Folgenden nicht gesondert nachgewiesen.

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In dem undatierten Manuskript Meine Lehrer nannte Harich Werner Kuntz ebenfalls. Dort heißt es:

»Dr. Werner Kuntz, Studienrat, Sozialdemokrat, Freund meiner Eltern. Er hatte in der Weimarer Zeit ein ganz konfuses philosophisches Buch geschrieben: Vor den Toren der neuen Zeit – eine Mischung von Spengler und sozialdemokratischem Pseudomarxismus. Er hatte mit großen Plänen begonnen, war dann aber gescheitert und zu nichts gekommen, gab Chemie- und Physik-Unterricht in einem Lyzeum und erzählte ununterbrochen von Leuten, die ihm durch Schikanen seine Laufbahn verdorben hätten. Seinen ›Drang zum Höheren‹ reagierte er dadurch ab, dass er das ›Richard-Wagner-Kränzchen‹ in Neuruppin leitete. Er hielt hier Vorträge über den philosophischen Sinn von Wagners Opern und sang zwischendurch, sich selbst begleitend, mit fürchterlicher Stimme Wagner-Arien oder gar Duette, zusammen mit seiner Mutter, einer siebzigjährigen Majorswitwe. Außerdem leitete er in seiner Wohnung einen philosophischen Zirkel, der vor allem von Schülerin-nen des Lyzeums besucht wurde, die ihn anschwärmten. Zu diesem Zirkel wurde ich eingeladen, als ich kon�rmiert war, also mit 15 Jahren. Hier wurde gemeinsam die Kritik der reinen Vernunft von Kant, Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, Nietzsches Zarathustra und Spenglers Untergang des Abendlandes durchgearbeitet und besprochen, oder ›Bobby Kuntz‹ (wie ihn die Schülerinnen nannten) philosophierte auch selbst über die ewige Antinomie von himmlischer und irdischer Liebe. Immerhin weckte er mein Interesse für die Philosophie.«10

Um ein weiteres Beispiel aus der Spätphase Harichs zu bringen. Am 17. Mai 1988 schrieb dieser an Manfred Bachmann, der Harich einen von dessen Artikeln zu Ernst Jünger zusandte (aus der »Kulturpolitischen Monatsschrift« Aufbau):

»Was Insonderheit den von mir darin erwähnten Nietzsche angeht, so hatte ich den al-lerdings schon vorher, 1939/1940, verabscheut. Damals las ich ihn, mit 15, 16 Jahren, zum ersten Mal, freilich vor dem Hintergrund einer ganz anderen Situation als derjenigen, die den Nietzsche-Enthusiasten um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts zu Gute gehalten werden mag, was aber wiederum nicht besagen soll, dass denen Nietzsche in irgendeiner Hinsicht förderlich gewesen wäre. Die Beliebtheit Hitlers und seiner Politik war zwischen der Sudetenkrise im Herbst 1938 und bis zu der Zeit, die dem Frankreich-feldzug 1940 unmittelbar vorausging, auch in bürgerlichen Kreisen sehr gering, und beim Kriegsausbruch gar sank sie auf den Nullpunkt. Eine mit 1914 vergleichbare Euphorie

10 Band 1.1, S. 117.

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hat es nicht gegeben. Just damals gab mir meine Mutter, während ich in Nietzsche vertieft war, die Antikriegsromane der Barbusse, Remarque, Ludwig Renn, Ernst Gläser (Jahrgang 1902) und Arnold Zweig (Grischa) zu lesen. Sie nämlich huldigte der – wie wir es jetzt nennen würden – ›idealistischen Geschichtsau�assung‹, dass der Ausbruch von Kriegen auf die Phantasielosigkeit der Menschen zurückzuführen sei, die sich nicht vorstellen könnten, was ein Krieg ist. Sie selbst war 25 Jahre älter als ich, hatte also den Weltkrieg I als ihrerseits 15–20jährige erlebt. Gegen diesen Ein�uss hatte Nietzsche bei mir von Anbeginn keine Chance.«

In Nietzsche und seine Brüder beschrieb Harich 1989 die Angelegenheit dann im Ge-spräch mit sich selbst mit den Worten:

»PF: Trotzdem sind Sie Nietzsche-Kenner. Warum?WH: Sich seiner Lektüre zu entziehen, wäre in der Nazizeit für einen jungen Menschen,

der über Philosophie mitreden wollte, unmöglich gewesen.PF: Haben Sie damals Nietzsche gemocht?WH: Nicht im Geringsten. Er hat mich schon damals angewidert, bestenfalls gelangweilt.

Als ich dann Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre spürte, dass er wieder en vogue wird, hielt ich es, voller Entsetzen, für meine politische P�icht, ihn erneut und nunmehr gründlicher zu lesen, einzig zu dem Zweck, gegebenenfalls fundiert vor ihm warnen zu können. An sich interessiert er mich überhaupt nicht. Er gibt mir nichts. Ohne die Nietzsche-Renaissance, gegen die ich nach Kräften ankämpfe, würde ich ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenken. Es wäre mir lieber, mich ungestört meinem Buch über Nico-lai Hartmann widmen zu können. Das ist ein Philosoph, mit dem zu beschäftigen sich lohnt. Jede Stunde der Auseinandersetzung mit Nietzsche betrachte ich, nach dem Maß-stab meiner geistigen Bedürfnisse und Interessen, als verlorene Zeit.«

Matthias Steinbach hat aus dem ersten der gerade gebrachten vier Zitate zu Kuntz und Harichs Jugenderlebnissen mit Nietzsche übrigens die völlig überraschende »Schluss-folgerung« gezogen:

»Harich ist, das ist meine feste Überzeugung, durch den Neuruppiner Ein�uss, den Le-sezirkel, ein begeisterter Leser und Kenner Nietzsches geworden, und zwar nicht ex ne-gativo von Anfang an, sondern positiv. Und daher kommt die Kenntnis. Man eignet sich nicht irgend jemanden so an, von dem man von Anfang an nichts hält. Also Harich ist jemand, der Nietzsche mit der Muttermilch aufgesogen hat und ein Nietzscheaner war.

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Aber das können Sie sich ja gar nicht vorstellen. Deswegen weiß der auch alles. Harich ist der beste Nietzsche-Kenner, den wir hatten in Deutschland. Und zwar nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland. Das ist meine feste Überzeugung. Und das bricht sich dann vielleicht am Pazi�smus der Mutter. Harich ist übrigens ein wunderbarer Schwindler und Lügner. Der lügt sich alles zurecht im Ahnenpass.«11

Diese »Interpretation« muss hier nicht kommentiert werden. Wenn man jemanden der Lüge bezichtigt, dann sollte eigentlich die Verp�ichtung vorhanden sein, sich selbst an die Fakten zu halten. Wie Steinbach von der Aussage Harichs zu seinen �esen kommt, ist jedoch völlig unklar. (Auch die folgenden brie�ichen Äußerungen Harichs lassen einen vor den Steinbachschen »festen Überzeugungen« kopfschüttelnd zurück.) Es gilt nun in die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges zeitlich-chronologisch zu gehen und Harichs erste überlieferte Äußerungen zum �ema Nietzsche zusammenzutragen. Es sind, daran sei erinnert, Überlegungen eines jungen Mannes, um die 20 Jahre alt, su-chend nach seinem Platz in der Welt.

Aus den Jahren 1941 und 1942 sind mehrere Briefe überliefert, die er an die Schrift-stellerin Ina Seidel geschrieben hatte. Ihr Abdruck erö�net diese Edition (in Band 1.1). Am 19. August 1942 teilte er ihr mit, dass er nunmehr seinen Einberufungsbescheid bekommen habe.12

»Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Nachricht so gefasst aufnehmen würde. Ich fürchte, dass ich, bei Versäumnis des zwar unangenehmen Militärerlebnisses, um mit Hegel spre-chen, ›eine Fülle von Realität außer mir gelassen‹ hätte. Und das soll man doch nicht. Außerdem: Ich bin nicht kriegsfähig, sondern wegen meiner Epheben�gur und meiner Gallenblase, meiner Augen und meines einen Zentners mit (Knochen) nur garnisonsver-wendungsfähig Heimat, Ersatzreserve II B. Wenn man bedenkt, wie Autostraßen, die auf Landkarten als Klasse II B gekennzeichnet sind, aussehen, dann ist das ein ziemlich minderwertiger Tauglichkeitsgrad. Ich komme, soviel ich weiß und soviel mein Einberu-fungsschein kundtat, zu den Sanitätern. Ich glaube, dass man da eine Menge helfen kann, wenn man sich etwas Mühe gibt. Nietzsche war 70/71 übrigens auch Sanitäter. (Womit ich nicht etwa eine Vergleich anschneiden möchte. Erstens bin ich zu bescheiden dazu,

11 Aus der Diskussion, in: »Ins Nichts mit ihm!« Ins Nichts mit ihm? Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der DDR, Berlin, 2016, S. 51.

12 Vor dem Wehrdienst hatte ihn bis zu diesem Zeitpunkt seine Tätigkeit an der japanischen Botschaft geschützt. Siehe die weiteren Ausführungen in den verschiedenen autobiogra-phischen Schilderungen Harichs in: Band 1.1, S. 71–148.

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und zweitens betrachte ich Nietzsche doch als meinen persönlichen Feind!) Vielleicht wird es mir auch sehr gut gefallen beim Kommiss. Dann ist es gut. Und wenn es mir nicht gefällt, dann wird später einmal meine Weltanschauung, mit den gehörigen Ressentiments durchtränkt, fürs ganze Leben unumstößlich sein. Und das ist auch etwas wert!«13

Nietzsche – der »persönliche Feind«. Es ist dies keine Einschmeichelei bei Ina Seidel, sondern o�ensichtlich Harichs eigene Positionierung. Formiert und entstanden durch die Ein�üsse des Elternhauses (eben die Neuruppiner Jugend) und ebenso durch erste eigene Denkleistungen an der Berliner Universität sowie die dortigen Lehrer Eduard Spranger und Nicolai Hartmann, wobei der Ein�uss des zuerst Genannten in diesem Fall wahrscheinlich höher einzuschätzen ist als derjenige Hartmanns. Eine Vermutung, die trotz der lebenslangen Auseinandersetzung Harichs mit Hartmanns Philosophie14 Geltung beanspruchen kann. In der Schrift Zur Lebensgeschichte Nicolai Hartmanns schrieb Harich, die beiden Philosophen und ihr Handeln in der Nachkriegszeit cha-rakterisierend, Anfang der achtziger Jahre:

»So war Eduard Spranger: In seiner Scha�enskraft durch die erlittene Gestapohaft wie gelähmt, nervlich zermürbt auch von den sich häufenden Bombenangri�en auf Berlin, harrte er in Dahlem seit Dezember 1944 der Befreiung. Die Maitage 1945 erst rüttelten ihn auf. Er zeigte sich rührig als Aktivist der ersten Stunde. Mit Johannes R. Becher, Paul Wegener und Otto Winzer rief er auf zur Gründung des Kulturbundes, nahm teil an dessen Gründungsversammlung in der ehemaligen Villa Strauß, Cecilienallee.15 Es erfolg-

13 Band. 1.1, S. 93.14 Alle Wortmeldungen Harichs zu Hartmann präsentiert der 10. Band. Siehe außerdem

den 2. Band, dort weitere Texte und Dokumente.15 Siehe zum Folgenden die verschiedenen autobiographischen Schilderungen Harichs, auf

die bereits verwiesen wurde (Band 1.1). In dem autobiographischen Fragment Widerstand und Neubeginn im zerstörten Berlin erinnerte sich Harich: »Im Mai/Juni 1945 erreichte ich es dann, dass Spranger sich dafür gewinnen ließ, bei der Gründung des Kulturbundes mitzuwirken. Ich vereinbarte eine in seiner Wohnung statt�ndende Begegnung zwischen ihm und Becher, Erpenbeck und Willmann, der ich auch selbst beiwohnen durfte. Becher setzte Spranger in allen Details auseinander, worin er die Aufgaben und den Sinn des Kulturbundes sehe. Spranger sagte: ›Wenn Sie Kommunist sind, so muss ich Ihnen gleich sagen, dass ich mich zum dialektischen Materialismus schwerlich werde bekehren lassen. Aber das Programm des Kulturbundes, wie Sie es mir dargelegt haben, �ndet meine volle Zustimmung.‹ Das Gespräch kam dann auf die Gründung einer Zeitschrift des Kulturbundes. Spranger machte dazu eine Reihe interessanter Vorschläge, die später auch verwirklicht worden sind, und Becher unterbreitete, soweit ich weiß, zum ersten Mal den Vorschlag, dass diese Zeitschrift Aufbau heißen solle. Die Einberufung des Gründungs-

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te bald seine Ernennung zum Rektor. Geschäftig eilte er von einer Besprechung zu ande-ren. Als er, liberal-konservativ bis in die Knochen, das Fürchten bekam, die geliebte Alma mater könne, wie er es nannte, zur ›kommunistischen Klippschule herabgewirtschaftet‹ werden, sprach er bei den Amerikanern vor, gewillt, mit ihnen gegen den ihm gar nicht geheuren Paul Wandel, den Präsidenten der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone, Mitglied des Zentralkomitees der KPD, zu intrigieren. 1946, zwei Jahre zu früh, schlug Spranger die Neugründung der Universität, als garantiert bürgerliche Bildungsstätte, in Dahlem vor. US-O�ziere, wohl noch aus der Roosevelt-Ära, mochten derlei Machenschaften nicht. Sie zeigten dem eigenmächtigen Politikus die kalte Schulter, veranlassten die ›rein zufällige‹ Beschlagnahmung seiner Villa, wo man ihn zum Wohnen in den Keller verwies. Aus dieser Klemme erlöste ihn der rechte SPD-Füh-rer Carlo Schmid, indem er ihm eine Berufung nach Tübingen, in die französische Zone, verscha�te. Und so war Nicolai Hartmann: So lange die S-Bahn verkehrte, kam er in der Universitäts- und der Dorotheenstraße seinen Lehrverp�ichtungen nach. Philosophie der Geschichte bildete im Winter 1944/1945 den Gegenstand seiner Vorlesung, bis zum Februar. Da zerstörte ein Bombenangri� das Gebäude mit seinem und Sprangers Hörsaal. Unverdrossen suchte Hartmann einen anderen Raum. Es half nichts mehr. Auch die S-Bahn versagte nun ihren Dienst. So blieb ihm nur übrig, den weiteren Gang der Dinge in Babelsberg abzuwarten. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm die lange ersehn-te Gelegenheit war, seine Ästhetik zu Papier zu bringen. Sie subsumiert das Erhabene dem Schönen. Sie analysiert die Wechselbeziehung von Lebenswahrheit und Schönheit. Sie fragt, worin in den darstellenden Künsten Wahrheit bestehen mag – und ob auch in der Musik, falls die Programmmusik ausgeklammert werde. Sie stellt die subtilsten Betrach-tungen an über die Rolle der Grazie in der sinnlichen Phantasie, über das Sanfte und

ausschusses des Kulturbundes ist wenige Tage später gemeinsam von Johannes R. Becher, Eduard Spranger, Paul Wegener und Otto Winzer unterzeichnet worden. (Winzer war damals Leiter des Dezernats für Volksbildung beim Magistrat von Großberlin, jetzt ist er Erster Stellvertreter des Ministers und Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR.) Becher forderte mich dazu auf, an der Arbeit des Gründungs-ausschusses teilzunehmen und auf der ersten Kundgebung, mit der der Kulturbund vor die Ö�entlichkeit treten sollte, als Sprecher der jungen antifaschistischen Intelligenz eine kurze Rede zu halten. (Der Text kommt in Band 1.3 zum Abdruck, AH.) Der Gründungs-ausschuss konstituierte sich in der Villa Strauß in Berlin-Dahlem, Cecilien-, jetzt Pacel-li-Allee, und neben Becher, Spranger und Paul Wegener traten bei der Gründungssitzung Dr. Ferdinand Friedensburg von der CDU und Pfarrer Dilschneider besonders aktiv hervor. Auf der Gründungsversammlung im Großen Sendesaal des Funkhauses Masuren-allee ergri�en u. a. Bernhard Kellermann, Paul Wegener, Johannes R. Becher und Pfarrer Dilschneider das Wort. Die Rede des gerade erkrankten Professor Spranger wurde von einem anderen Professor der Berliner Universität verlesen.« (Abgedr. in: Band 1.1, S. 139.)

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Süße, das Bezaubernde und den Liebreiz. Dem Komischen widmet sie an die fünfzig Seiten, davon drei der Di�erenzierung zwischen ›herzloser und herzhafter Lustigkeit‹ und so fort. Frida Hartmann erinnert sich: ›Er begann die Niederschrift am 9. März und schloss sie am 11. September ab. Es war die Zeit der Zerstörung Potsdams, der Einkreisung und Eroberung von Berlin, einer allgemeinen Hungersnot und Verwirrung. Die völlige Ab-schnürung begünstigte andererseits die konzentrierte Arbeit. Inmitten dieses Zusammen-bruchs schrieb er Tag für Tag seine Seiten.‹ Tag für Tag, d. h., weil unbehelligt vom Lehrbetrieb und wohl auch wegen momentaner Stromsperren, nicht mehr ausschließlich in den Nächten. Kein Aktivist der ersten Stunde also. Und vom Geist der ersten Stunde ist allenfalls dort etwas zu verspüren, wo die Ästhetik eben noch verbotene Dichtung, so die �omas Manns, aus der zeitgenössischen Literatur als Beispiel heranzieht (ohne den faschistisch kompromittierten Hamsun deswegen nun auszugrenzen). Im Ganzen stellt das Werk die Ausführung eines weit zurückreichenden, längst bis ins einzelne durchdach-ten Vorhabens dar. Die ästhetischen Re�exionen in den früheren Arbeiten, vom Seminar-referat des Marburger Studenten bis hin zur Philosophie der Natur, in der etwa der Realraum unter anderem auch vom Phantasieraum der Malerei und Bühnenkunst abgehoben wird, belegen es. In der Metaphysik der Erkenntnis und, deutlicher noch, in der Ethik begegnet uns bereits die �eorie der ästhetischen Werte. Ausschließlich ihr war der Vortrag an der Harvard-Universität gewidmet. Das im Problem des geistigen Seins über die Künste, über ihre ›heraufreißende Kraft‹ Gesagte setzt sie voraus.«16

Zurück zu Harichs Brief an Ina Seidel, in dem es weiter heißt:

»Wenigstens bin ich zufrieden damit, dass ich die letzten Jahre in Berlin so gut genutzt habe. Ich habe mich in die Universität eingeschlichen und mich dort für die ersten Schritte meiner Lebenslaufbahn vorbereitet, ich habe eine Menge mir lieber Menschen kennengelernt, ich habe unendlich viel gelesen und noch viel mehr erlebt und meine diplomatischen Beziehungen bis nach Tschunking-China, Mandschukuo und Japan aufgenommen. Vor allen Dingen aber ist mir ein Geschenk, eine Freundschaft geworden, die ich mein ganzes Leben lang halten werde: Der Philosoph Hegel. Gerade im letzten halben Jahre habe ich mich tiefer und tiefer in die unerschöp�ichen Goldadern seiner Philosophie hineingebohrt.«17

16 Band 10, S. 805–808.17 Band. 1.1, S. 93 f. Weiter heißt es dort: »Wer Hegel kennt, kann nie im Leben ganz

unglücklich sein. Er ist spröde und wenig zugänglich. Aber wenn man einen winzigen Zugang zu ihm gefunden hat, dann strömt es auf einen ein. Seine ganze Philosophie ist ein gewaltiger Mythos: Die Geschichte des göttlichen Weltgeistes, der sich durch die Welt

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Aus Harich kurzen Studientagen an der Berliner Universität sind zwei Manuskripte (samt inhaltlich abweichender Varianten) von ihm erhalten geblieben, die im 2. Band abgedruckt sind. Zum einen der in verschiedenen Versionen überlieferte Text Einfüh-rung in die Erkenntnistheorie, zum zweiten die in sich abgeschlossene Studie Erlebnis und Bildung. Prinzipielle Diskussion einer brennenden pädagogischen Gegenwartsfrage.18 Verschiedene der späteren Kritikmuster Harichs klingen in beiden Arbeiten bereits an. So �ndet sich eine, noch aus kulturell-wissenschaftlichen Motiven gespeiste Kritik an Nietzsche, Schopenhauer, Leibniz und an verschiedenen mittelalterlichen sowie früh-neuzeitlichen Denkern. (Hierzu gleich ausführlicher.) Gleichzeitig sind aber die Erb-teile der bürgerlichen Kulturau�assung Harichs in grundlegender Funktion Bestandteil der Studien. Die »klassischen« Werke bürgerlichen Denkens, gerade diejenigen, die die Weimarer Zeit prägten, sind in positiven Konnotationen präsent – von Weininger bis Spengler, von Heidegger (»mit seinem genialen Buch Sein und Zeit«, wie es heißt)19 bis Jaspers. Man merkt den entsprechenden Passagen Harichs aber auch an, dass das ver-teilte Lob sich aus jenen Motiven speiste, die später seine Kritik eben dieser Werke stimulierten. Harich konnte, um es einfach zu formulieren, ohne radikale Brüche oder Kehrtwendungen von A nach B kommen – im Rahmen einer intellektuellen Entwick-lung, die nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich war.

Unbedingt hervorzuheben ist außerdem ein weiterer Punkt. Gerade Erlebnis und Bildung transportiert in aller Deutlichkeit Harichs frühe Kritik am Nationalsozialismus. Selbst wenn es eine partielle Übernahme beispielsweise Heideggerscher Gedanken gab, so war

hindurch in einem tragischen Prozess entwickelt. Die Darstellung dieses tragischen Pro-zesses in allen einzelnen Stadien ist die Philosophie Hegels. Und wer gefangen ist in dem gewaltigen Netz des Hegelschen Systems, der ist sicher in einer uneinnehmbaren Festung, aber nicht etwa abgeschnitten von der bunten Fülle der Welt, sondern lauscht beseeligt und verständnisvoll dem Herzschlag des Kosmos. Gestern kaufte ich mir gerade als Er-gänzung zu meiner schon recht stattlichen Hegel-Bibliothek die Dokumente zu Hegels Entwicklung, ein Buch, das ich schon einmal vor etwa einem Monat in der Bibliothek des Seminars verschlang, ein Werk der speziellen Hegelforschung, und las wieder Hegels Lyrik. Es war eine schöne und beseeligende Stunde. Als Spranger Ende Juli seine Hegel-vorlesung schloss, sagte er: ›Ich weiß, dass es einige unter ihnen geben wird, die Hegel mit Begeisterung aufgenommen haben. Hüten Sie sich, Hegel zu verfallen. Wer ihm verfällt, ist unrettbar verloren, und wird ihn, sollte er sich jemals wieder von ihm lösen, dann unbeschreiblich hassen und verächtlich machen. Aber eines muss ich zugeben: Eine Hegel-Periode – die nie weniger als zehn Lebensjahre anhält – ist für jeden einzelnen zumindest leben- und geistfördernd!‹ Ich bin neugierig, ob das auf mich zutre�en wird.«

18 In: Band 2, S. 405–540 und 541–651.19 Band 2, S. 446.

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doch für Harich die entscheidende Trennlinie zu den Tendenzen und den realen Ent-wicklungen der Kriegsjahre klar. Dem »Ja« zu Humanismus und Bildung korrespon-dierte das deutliche »Nein« zu Nationalsozialismus und Krieg. Dabei sah Harich zudem die tiefe Verwurzelung charakteristischer Merkmale der nationalsozialistischen Ideolo-gie und Diktatur in der Gesellschaft. In einer Fußnote von Erlebnis und Bildung schrieb er:

»Es hat mich zutiefst erschreckt, als ich bemerken musste, dass die notwendigen soldati-schen Verhaltensweisen im Felde einem bereits als Kind, verborgen im selbstgenügsamen Sport und in den dazugehörigen Spielen, beigebracht wurden, wie man auf den Krieg gedrillt wurde, ohne es zu ahnen. Das eben ist die tiefe Schuld unserer Erziehung, dass sie uns Kindern vormachte, wir würden für das Leben geschult, während sie uns systema-tisch zum Krieg und mithin zur Vernichtung des Lebens erzog! Das ist wohl vor dem Zweiten Weltkrieg in allen Ländern der Fall gewesen. Gerade die Erzieher, sowohl die ›alten Knochen‹, als auch die jungen ›Himmelsstürmer‹ hatten vom Ersten Weltkrieg noch nicht genug und �eberten auf den zweiten. Hinter ihrem Scheinpatriotismus verbarg sich die Wut über das Aufblühen einer neuen Jugend, ein Aufblühen, das ihnen selbst versagt geblieben war!«20

Und an anderer Stelle heißt es:

»Vor allem p�egt der kollektiv gezüchtete politische Hass zu versiegen, wenn man sich re�ektiv mit seinen Ursachen und seiner Berechtigung beschäftigt. Deshalb sind Nach-denken und Objektivität auch jenen politischen Führern so tief verdächtig, die den kol-lektiven Hass in den Gemütern ihre Gefolgsleute als politische Wa�e und als seelischen Kraftquell militärischer Anstrengungen benötigen. Vor allem p�egt die heutige Führung in Deutschland dem deutschen Volk vorzuwerfen, es sei viel zu human, viel zu objektiv und denke viel zu viel nach. Das sei gewissermaßen eine deutsche Nationalschwäche. Ich kann das nun eigentlich nicht �nden, besonders wenn ich an den deutschen Antisemitis-mus denke! Jedoch hat die heutige deutsche Führung in dieser ihrer Au�assung einen klassischen Fürsprecher – in Heinrich von Kleist. Bekanntlich lässt Kleist Hermann in der Hermannsschlacht selbst die germanischen Dörfer niederbrennen, um dann die Nach-richt verbreiten zu können, das seien die Römer gewesen. Hermann will durch dieses und durch viele andere Mittel seinen Germanen ihre humane Objektivität gewaltsam austrei-ben, und zwar in der Au�assung, dass diese die Kampfmoral schwäche. Wahrhaft gekämpft

20 Band 2, S. 600.

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wird nur dann, wenn nicht nachgedacht wird. Die Ungebrochenheit des kämpferischen Mutes ist nur möglich auf dem Grund eines re�ektionslos ausschließlichen Hasses.«21

Um Harichs damalige Einstellung zu Nietzsche hier darzustellen und damit einen Überblick über sein Nietzsche-Bild der vierziger und fünfziger Jahre zu gewinnen, bietet es sich an, seine diesbezüglichen Äußerungen aus den frühen Manuskripten der Studienzeit wiederzugeben.

»Um die Jahrhundertwende war die Philosophie eine Wissenschaft unter anderen. Die Jugend beschäftigte sich mit ihr als mit einer Bildungsmöglichkeit, erarbeitete sie sich, um von ihr zu wissen. Die Grundtendenz dieser Beschäftigung lief daraus hinaus, nicht einer Wissenschaft gegenüber ein Ignorant zu bleiben, die beanspruchte, die Königin der Wissenschaften zu sein. Man wollte sie, wenn man gesinnt war, als ernsthafter Mensch der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, nur kennenlernen, um sie ablehnen zu können und die wirkliche Erfüllung des Wissensdranges in einer Naturwissenschaft �nden oder in dem Aufgehen in einem bürgerlichen oder auch künstlerischen Beruf. Die Philosophie selbst mochte dann der Tummelplatz weniger bleiben, die im verstiegenen Systembau ihr Heil suchten, die man als leichten Ballast noch so mit durch das Leben der Gemeinschaft schleppen würde. Mit um so größerem Eifer gab man sich der Wirklichkeit hin. Man kritisierte in dem unstillbaren Drang, ›erleben‹ zu wollen. Andererseits erwachte man auch im Lager der Philosophie aus dem Traum eines Jahrhunderte währenden Systeme Bauens und erhob die Forderung, ›mit dem Hammer zu philosophieren‹, die Wirklichkeit in den Vordergrund der Betrachtung zu ziehen. Diese Tendenz gri� auf alle anderen Gebiete des Lebens über. Aus ihr resultierte der ›Naturalismus‹ in der Kunst und eine fast epikureische Einstellung zur Ethik, die sich als willkürliche Umwandlung des Guten in Nützliches charakterisieren lässt, ja, man ging weiter und identi�zierte das Gute mit dem Angeneh-men. Schopenhauer hatte den Willen als erstes Daseinsprinzip erkannt, den Willen, der bei ihm allerdings als zu verneinender vom pessimistischen Standpunkt aus betrachtet wird. Darwin sah im Kampf um die Erhaltung der Existenz das Urprinzip alles Lebendi-gen. Nietzsche verlieh diesem Kampf einen herrisch-übermenschlichen Zug.«22

»Man konnte sehr wohl mit den exoterischen Aphorismen Nietzsches beginnen und, nach einiger Zeit, bei den streng esoterischen Paragraphen Husserls aufhören. Wenn die Phi-losophie in der Gegenwart, aus sich heraus, aus dem Erkenntnisproblem heraus den Weg

21 Band 2, S. 579.22 Band 2, S. 406.

Page 30: SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG … · 2019. 12. 9. · Wolfgang Harich (1923–1995) zählt zu den wichtigen und streitbaren Intellektuellen des 20.˜Jahrhunderts. Befreundet

2 9W ol f ga ng H a ric h s Positionieru ng gegen N ietz sc h e b is 1 9 5 6

zum Sein gefunden hat – diese Entwicklung vollzieht sich in der Existenzphilosophie Karl Jaspers’ wie in der Ontologie Nicolai Hartmanns –, dann ist sie, die strenge, die ›reine‹ Philosophie deshalb nicht in�ziert von den lebensphilosophischen Tendenzen des ach so verachteten, weil so populären und ›primitiven‹ Lagers des Feindes, sondern dann liegt der Keim zu dieser Entwicklung in der strengen Philosophie selbst. Aus dem erkenntnis-theoretischen Problem erwächst letzten Endes die Frage nach dem Sein, das man als Sein an den irrationalen Restbeständen im Erkannten beweisen kann wie Nicolai Hartmann oder sich ›schenken‹ wie Karl Jaspers. In der Rechtfertigung des Seins, der Existenz recht-fertigt sich auch die Philosophie des Lebens.«

»Die Systeme der Philosophen selbst – Platons reizvolle Dialoge, Kants ›packpapierne‹ Kritiken, Nietzsches gewaltige Aphorismen und Hartmanns vorsichtige Formulierungen – sind der Urquell, aus dem man einzig und allein Anregungen schöpfen kann. Und das Beruhigende ist: Dieser Urquell versiegt nie. Man kann niemals auslernen. Es gibt so viel, was man immer noch lesen muss.«23

»Der Mensch hat sich keine der Fähigkeiten seines Geistes genommen. Sein Geist ist ihm mit allen seinen Fähigkeiten gegeben worden. Nur die Begrenzung des Geistes und seiner Fähigkeiten hat er selbst verschuldet! So richtig also auch Hartmanns phänomenologische Herauskristallisierung der Grundfähigkeiten des Geistes ist (obwohl er die Wurzel, das Distanzscha�en, übersieht!), so falsch ist wiederum seine theologisch-theoretische Aus-wertung des Gewonnenen! Meines Erachtens ist der Geist nicht etwas Wertwidriges (wie bei Klages), sondern das höchste Besitztum des Menschen. Das ist er nun bei Hartmann auch. Aber bei Hartmann wird dieses höchste Besitztum nicht als das eingeschätzt, was es ist: als Geschenk! (Wozu ich noch sagen möchte, dass ich es in diesem Zusammenhang nicht für erforderlich halte, kritisch auf die bei Nietzsche auftretende, theoretisch weniger begründete Modi�kation des theologischen Relativismus einzugehen! Der Relativismus ist und bleibt der Größenwahn des abendländischen Geistes, auch dort, wo er von einer an sich unbestreitbaren phänomenologischen Wesensdeskription des geistigen Seins ausgeht!)«24

Die soeben wiedergegebenen Wortmeldungen sind suchend, tastend, gehen in verschie-dene Richtungen und sind natürlich von der späteren expliziten Nietzsche-Kritik Harichs weit entfernt. Aber zusammen mit der brie�ich-persönlichen Aussage gegenüber

23 Band 2, S. 502.24 Band 2, S. 586.