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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat (1) M1 Wichtige Etappen bis zur Bildung des Parlamentarischen Rates 07./08.05.1945 Kapitulation der deutschen Wehrmacht 17.07.-02.08.1945 Potsdamer Konferenz: Einigung der Vier Mächte (SU, GB, F, USA) auf politische Grundsätze zur Behandlung Deutschlands (Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Dezentralisierung, Dekartellisierung, Demokratisierung) 06.11.1946 Stuttgarter Rede des US-amerikanischen Außenministers Byrnes: Forderung nach wirtschaftlicher Einheit Deutschlands 10.03.-24.04.1947 Moskauer Viermächtekonferenz über einen Friedensvertrag mit Deutschland scheitert 12.03.1947 Der US-amerikanische Präsident Truman führt in einer Botschaft an den Kongress aus: Die USA wollen den in ihrer Freiheit bedrohten Völkern beistehen 06.06.1947 Ein großes ökonomisches Hilfsprogramm für Europa wird von dem US-amerikanischen Außenminister Marshall angekündigt 22.06.1947 Der sowjetische Außenminister Molotow lehnt eine Teilnahme am Marshallplan ab; die Osteuropäischen Staaten haben sich dieser Entscheidung anzuschließen 25.11.-15.12.1947 Londoner Außenministerkonferenz der vier Großmächte u.a. über die Themen deutsche Zentralverwaltung, deutsche Wirtschaftseinheit und Reparationen bleibt ergebnislos 23.02.-06.03.1948 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz (1. Teil) 20.03.1948 Ende der alliierten Zusammenarbeit im Kontrollrat 20.04.-02.06.1948 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz (2. Teil): Beschluss über Schaffung einer verfassunggebenden Nationalversammlung für die drei westlichen Besatzungszonen 07.06.1948 Londoner Konferenz beschließt deutschlandpolitische Empfehlung 20./21.06.1948 Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen; zwei Tage später folgende Währungsreform in der sowjetischen Zone 24.06.1948 Sowjetunion reagiert auf die Währungsreform der westlichen Alliierten mit der Blockade Berlins (Unterbrechung aller Land- und Wasserverbindungen); zur Versorgung der 2,1 Millionen West-Berliner organisiert der US-Militärgouverneur, Lucius D. Clay, eine Luftbrücke 01.07.1948 Die westlichen Militärgouverneure übergeben den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder drei Dokumente zur künftigen politischen Entwicklung Deutschlands („Frankfurter Dokumente“) 08.-10.07.1948 Konferenz der Ministerpräsidenten in Koblenz (Rittersturz) über die Frankfurter Dokumente (Stellungnahme: Koblenzer Beschlüsse) 14.07.1948 Besprechung der Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone mit General Clay in Frankfurt 15./16.07.1948 Konferenz der Ministerpräsidenten in Rüdesheim (Jagdschloss Niederwald) über die Reaktion der Alliierten auf die Koblenzer Beschlüsse 20.07.1948 Konferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten der Westzonen in Frankfurt 21.-22.07.1948 Erneute Konferenz der Ministerpräsidenten in Rüdesheim; Beratung der Frankfurter Dokumente 26.08.1948 Ministerpräsidenten und Militärgouverneure einigen sich auf die Errichtung eines Parlamentarischen Rates 10.-23.08.1948 Beauftragte der Ministerpräsidenten beraten und erstellen auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee einen ersten Grundgesetzentwurf 15.-30.08.1948 Die einzelnen Landtage wählen die Abgeordneten des zukünftigen Parlamentarischen Rates 01.09.1948 Der Parlamentarische Rat nimmt in Bonn seine Arbeit auf 7 Adenauer macht Schule © Fundament unserer Demokratie – der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus Bad Honnef-Rhöndorf, Idee und Konzeption: Jan Hendrik Winter

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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat (1)

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Wichtige Etappen bis zur Bildung des Parlamentarischen Rates

07./08.05.1945 Kapitulation der deutschen Wehrmacht

17.07.-02.08.1945 Potsdamer Konferenz: Einigung der Vier Mächte (SU, GB, F, USA) auf politische Grundsätze zur Behandlung Deutschlands (Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Dezentralisierung, Dekartellisierung, Demokratisierung)

06.11.1946 Stuttgarter Rede des US-amerikanischen Außenministers Byrnes: Forderung nach wirtschaftlicher Einheit Deutschlands

10.03.-24.04.1947 Moskauer Viermächtekonferenz über einen Friedensvertrag mit Deutschland scheitert

12.03.1947 Der US-amerikanische Präsident Truman führt in einer Botschaft an den Kongress aus: Die USA wollen den in ihrer Freiheit bedrohten Völkern beistehen

06.06.1947 Ein großes ökonomisches Hilfsprogramm für Europa wird von dem US-amerikanischen Außenminister Marshall angekündigt

22.06.1947 Der sowjetische Außenminister Molotow lehnt eine Teilnahme am Marshallplan ab; die Osteuropäischen Staaten haben sich dieser Entscheidung anzuschließen

25.11.-15.12.1947 Londoner Außenministerkonferenz der vier Großmächte u.a. über die Themen deutsche Zentralverwaltung, deutsche Wirtschaftseinheit und Reparationen bleibt ergebnislos

23.02.-06.03.1948 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz (1. Teil)

20.03.1948 Ende der alliierten Zusammenarbeit im Kontrollrat

20.04.-02.06.1948 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz (2. Teil): Beschluss über Schaffung einer verfassunggebenden Nationalversammlung für die drei westlichen Besatzungszonen

07.06.1948 Londoner Konferenz beschließt deutschlandpolitische Empfehlung

20./21.06.1948 Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen; zwei Tage später folgende Währungsreform in der sowjetischen Zone

24.06.1948 Sowjetunion reagiert auf die Währungsreform der westlichen Alliierten mit der Blockade Berlins (Unterbrechung aller Land- und Wasserverbindungen); zur Versorgung der 2,1 Millionen West-Berliner organisiert der US-Militärgouverneur, Lucius D. Clay, eine Luftbrücke

01.07.1948 Die westlichen Militärgouverneure übergeben den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder drei Dokumente zur künftigen politischen Entwicklung Deutschlands („Frankfurter Dokumente“)

08.-10.07.1948 Konferenz der Ministerpräsidenten in Koblenz (Rittersturz) über die Frankfurter Dokumente (Stellungnahme: Koblenzer Beschlüsse)

14.07.1948 Besprechung der Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone mit General Clay in Frankfurt

15./16.07.1948 Konferenz der Ministerpräsidenten in Rüdesheim (Jagdschloss Niederwald) über die Reaktion der Alliierten auf die Koblenzer Beschlüsse

20.07.1948 Konferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten der Westzonen in Frankfurt

21.-22.07.1948 Erneute Konferenz der Ministerpräsidenten in Rüdesheim; Beratung der Frankfurter Dokumente

26.08.1948 Ministerpräsidenten und Militärgouverneure einigen sich auf die Errichtung eines Parlamentarischen Rates

10.-23.08.1948 Beauftragte der Ministerpräsidenten beraten und erstellen auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee einen ersten Grundgesetzentwurf

15.-30.08.1948 Die einzelnen Landtage wählen die Abgeordneten des zukünftigen Parlamentarischen Rates

01.09.1948 Der Parlamentarische Rat nimmt in Bonn seine Arbeit auf

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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat (2)

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Pläne der Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen über die zukünftige politische Entwicklung in Westdeutschland (Frankfurter Dokumente) Dokument Nr. 1 [Verfassungsrechtliche Bestimmungen] In Übereinstimmung mit den Beschlüssen ihrer Regierungen autorisieren die Militärgouverneure der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone in Deutschland die Ministerpräsidenten der Länder ihrer Zonen, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die spätestens am 1. September 1948 zusammentreten sollte. Die Abgeordneten zu dieser Versammlung werden in jedem der bestehenden Länder nach den Verfahren und Richtlinien ausgewählt, die durch die gesetzgebende Körperschaft in jedem dieser Länder angenommen werden. […] Die Verfassungsgebenden Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält. Wenn die Verfassung in der von der Verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeiteten Form mit diesen allgemeinen Grundsätzen nicht in Widerspruch steht, werden die Militärgouverneure ihre Vorlage zur Ratifizierung genehmigen. Die Verfassungsgebende Versammlung wird daraufhin aufgelöst. […] Dokument Nr. 2 [Länderneugliederung] Die Ministerpräsidenten sind ersucht, die Grenzen der einzelnen Länder zu überprüfen, um zu bestimmen, welche Änderungen sie etwa vorzuschlagen wünschen. Solche Änderungen sollten den überlieferten Formen Rechnung tragen und möglichst die Schaffung von Ländern vermeiden, die im Vergleich mit den anderen Ländern zu groß oder zu klein sind. […] Dokument Nr. III [Grundzüge eines Besatzungsstatuts] Die Schaffung einer verfassungsmäßigen deutschen Regierung macht eine sorgfältige Definition der Beziehungen zwischen dieser Regierung und den Alliierten Behörden notwendig. Nach Ansicht der Militärgouverneure sollten diese Beziehungen auf den folgenden Grundsätzen beruhen: A. Die Militärgouverneure werden den deutschen Regierungen Befugnisse der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung gewähren und sich solche Zuständigkeiten vorbehalten, die nötig sind, um die Erfüllung des grundsätzlichen Zwecks der Besatzung sicherzustellen. […]

Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat Bd. 1, S. 30ff.

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Beratungen auf Herrenchiemsee:

Auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee kamen am 10. August 1948 auf Anregung des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard (CSU) und nach Zustimmung seiner zehn Länderkollegen 33 Experten für Verfassungsrecht zusammen. Sie erarbeiteten innerhalb von nur dreizehn Tagen einen kompletten Entwurf für das in Bonn zu beratende Grundgesetz. Unter Leitung des Chefs der bayerischen Staatskanzlei Anton Pfeiffer entstand ein Werk mit 95 Seiten und 149 Artikeln. Im Falle abweichender Meinungen der Experten wurden diese schriftlich als Alternativformulierungen in der Vorlage aufgenommen. Pfeiffer war ein entschiedener Verfechter des Föderalismus: Für ihn und die bayerische Staatsregierung war es besonders wichtig, die Länder gegenüber der gesamtstaatlichen Ebene stark zu halten.

„Koblenzer Beschlüsse“ v. 10.07.1948: Antwort der Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder auf die „Frankfurter Dokumente“

[…] Die Ministerpräsidenten sind davon überzeugt, dass die Notstände, unter denen Deutschland heute leidet, nur bezwungen werden können, wenn das deutsche Volk in die Lage versetzt wird, seine Angelegenheiten auf der jeweils höchsten möglichen Stufe selbst zu verwalten. Sie begrüßen es daher, dass die [westlichen] Besatzungsmächte entschlossen sind, die ihrer Jurisdiktion [=Rechtsgewalt] unterstehenden Gebietsteile Deutschlands zu einem einheitlichen Gebiet zusammenzufassen, dem von der Bevölkerung selbst eine kraftvolle Organisation gegeben werden soll, die es ermöglicht, die Interessen des Ganzen zu wahren, ohne die Rechte der Länder zu gewähren. Die Ministerpräsidenten glauben jedoch, dass […] alles vermieden werden müsste, was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde:; sie sind darum der Ansicht, dass auch das auch durch das hierfür einzuschlagende Verfahren zum Ausdruck kommen müsste, dass es sich lediglich um ein Provisorium handelt […].

Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. 143ff.

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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat (3) M5 M4

erschienen in: Der Spiegel Nr. 25 v . 19.06.1948, S. 2.

Der Karikaturist zeichnet die Außenminister der vier Siegermächte in die Karte ein.

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Begriffsklärung:

Der Parlamentarische Rat soll „(einen) Staat machen“: Zu den Kennzeichen eines Staates gehört 1) ein gemein-sames Staatsgebiet, 2) ein Staatsvolk und die entsprechende 3) Machtaus-übung über dasselbe.

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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat (4) M7

5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Karl-Heinz Janßen schreibt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ anlässlich der 25jährigen Jubiläums der Verabschiedung des Grundgesetzes über dessen Vorgeschichte: […] Die Etappen auf dem Weg vom Reich zur Bundesrepublik und zur Integration des Teilstaates in die westliche Gemeinschaft wurden von den fremden Mächten vorgezeichnet: 1945 Potsdamer Konferenz (Reparationszonen West und Ost); 1946 Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Zone zur Bizone; 1947 Marshallplan (Europäisches Wiederaufbauprogramm); 1948 Währungsreform. […] Aus sicherheitspolitischen Gründen bevorzugten die Alliierten, insbesondere die Franzosen, eine föderative Ordnung; entweder knüpften sie an historische Traditionen an (Bayern, Württemberg, Hamburg) oder sie schufen neue Länder, vornehmlich aus der Erbmasse Preußens. Der politische Willen der Westdeutschen formte sich in den wiedererstandenen Parteien, deren Führer 1933 hatten abtreten oder auswandern müssen oder in die Konzentrationslager gesperrt worden waren. Auch die Gründer der einzig neuen Partei – der Christlich Demokratischen Union – entstammten ehemaligen bürgerlichen oder christlichen Parteien. Innerhalb der Parteien und im Umkreis der Länderregierungen wurden schon 1947/48 Entwürfe für eine neue Verfassung ausgearbeitet, am detailliertesten von der CDU und CSU. […] Der Kalte Krieg in Europa beschleunigte den Klärungsprozess: Februar 1948: kommunistischer Putsch in Prag, März: Brüsseler Verteidigungspakt (England, Frankreich, Benelux), Auszug der Russen aus dem Kontrollrat, April: Gründung der europäischen Wirtschaftsbehörde OEEC, dem auch die Westzonen angehören. Juni: die Londoner Sechs-Mächte-Konferenz beschließt, unverzüglich die Gründung des westdeutschen Staates einzuleiten. Am Monatsende sperren die Russen alle Land- und Wasserwege nach Westberlin. General Clay inszeniert die Luftbrücke, Präsident Truman verlegt seine Atombomber nach England – es riecht nach heißem Krieg. Vor diesem dramatischen Hintergrund trafen sich am 1. Juli 1948 im Frankfurter Hochhaus des ehemaligen Chemiekonzerns IG Farben zum ersten Mal alle drei Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten und Bürgermeistern der elf westdeutschen Länder. Ihnen, den höchsten gewählten Repräsentanten des Volkes, wurde in frostig-steifer Atmosphäre drei Dokumente übergeben. In der ersten „Empfehlung“ (ein anderes Wort für Befehl) wurden sie ermächtigt, bis spätestens 1. September eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Die Verfassung sollte dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. In Dokument zwei wurden ihnen nahegelegt, die Grenzen ihrer Länder zu ändern, im dritten wurde ein Besatzungsstatut angekündigt, das die Beziehungen zwischen Okkupanten und Okkupierten auf rechtliche Grundlagen stellen sollte. Die Länderchefs ließen sich Zeit mit ihrer Antwort. Allen war klar, was die Annahme des ersten Dokuments bedeuten konnte: Sollten sie bei der Spaltung des Vaterlandes mit Hand anlegen? Ehe sie sich auf dem „Rittersturz“, einem inzwischen abgerissenen Hotel bei Koblenz, auf eine Antwort festlegten, verhandelten sie mit den Spitzenpolitikern der großen Parteien, Adenauer und Ollenhauer. Sie wollten sich absichern. Die SPD plädierte dafür, doch alles so provisorisch wie möglich zu lassen: um Himmels willen keine Verfassung, lieber ein Verwaltungsstatut; statt einer Regierung genüge ein Direktorat, statt einer Konstituante [=verfassungsgebende Versammlung] ein kleiner Ausschuss, statt eines Plebiszits [=Volksabstimmung] eine Ratifizierung durch die Landtage. Der Hamburger Bürgermeister Brauer erfand das Wort „Grundgesetz“ (basic law), die vermeintliche Zauberformel, die das deutsche Dilemma zu lösen schien. Doch General Clay, der amerikanische Militärgouverneur, war empört über so viel Laschheit. Er wollte die Weisung der Londoner Konferenz fristgerecht ausführen und musste nun befürchten, dass der französische Militärgouverneur, General König, die Gelegenheit benutzen würde, die ganze Sache zu verzögern (ohnehin waren die Londoner Beschlüsse nur mit knapper Mehrheit von der Nationalversammlung in Paris angenommen worden). Clay sprach von Verantwortungsscheu und Sabotage und setzte die Ministerpräsidenten unter Druck: Diskret ließen seine Leute in Gesprächen einfließen, sie könnten nun nicht mehr garantieren, dass Berlin gegen den kommunistischen Duck gehalten werde. Am 22. Juli setzten sich die bedrückten Länderchefs noch einmal zusammen, diesmal im Jagdschloss Niederwald, unweit des Nationaldenkmals, auf dem die Reichseinigung von 1871 verherrlicht wird. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“, steht dort in großen Lettern zu Füßen der Germania. Beruhigen ließen sich die Politiker in der Tat, als der designierte, aber von den Russen nicht anerkannte Berliner Bürgermeister Ernst Reuter seinen zaudernden Kollegen den Rücken steifte. Reuter hatte sich inzwischen für eine harte Auseinandersetzung mit dem Osten entschieden, Seite an Seite mit Amerika wollte er die Blockade durchstehen: „Wir können eines in Berlin und im Osten nicht ertragen – das Verbleiben des Westens in seinem bisherigen unentschiedenen Status. Wir sind der Meinung, dass die Konsolidierung des Westens eine elementare Voraussetzung für die Gesundung auch unserer Verhältnisse und für die Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland ist.“ Das war die Geburtsstunde der Kernstaatsidee. Ein freiheitlich organisiertes, wirtschaftlich aufblühendes Westdeutschland sollte wie ein Magnet die östlichen Gebiete an sich ziehen. Diesen offensiven Antikommunismus praktizierte Reuter auch als Abgeordneter im Parlamentarischen Rat […]. Nachdem die gesamtdeutschen Skrupel zerstreut waren, stand nichts mehr im Wege, den alliierten Fahrplan einzuhalten. Die Militärgouverneure hatten nichts gegen die Bezeichnungen „Parlamentarischer Rat“ und „Grundgesetz“ einzuwenden, und sie zeigten sich geneigt, statt einer Volksabstimmung auch eine Annahme durch die Landtage als Prozedur zuzulassen. Mit deutscher Gründlichkeit und Pünktlichkeit gingen die Länderregierungen ans Werk. Bayern nutzte die Chance, um seine eigenen föderalistischen Pläne ins Spiel zu bringen. Ministerpräsident Ehard lud aus jedem Land Verfassungsexperten zu einem Konvent auf der Insel Herrenchiemsee. Nach knapp vierzehn Tagen lag ein Entwurf für das Grundgesetz mit 149 Artikeln fertig vor, ausführlich erläutert und unterteilt nach Mehrheits- und Minderheitenmeinungen. […]

aus: Die Zeit Nr. 22 v. 24.5.1974.

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Schritte auf dem Weg zum Parlamentarischen Rat Anregungen für die Arbeit mit den Materialien A1. Arbeite die Voraussetzungen für den Beginn der Tätigkeit des Parlamentarischen Rates und seine Aufgabenstellungen heraus. [M1,2,3,6] A2. Erkläre, warum die Begriffe Grundgesetz statt Verfassung und Parlamentarischer Rat statt Verfassungsgebende Versammlung gebraucht worden sind. [M7] A3. Entschlüssele die vorliegende Karikatur, indem Du den ersten Eindruck festhälst, die Einzelheiten beschreibst, die Bedeutung der Bildelemente klärst und ihre Aussage formulierst. Nimm kritisch hierzu Stellung. [M4] A4. Die Frankfurter Dokumente werden von Historikern als „Geburtsurkunden für die Bundesrepublik“ bezeichnet. Stimmst Du dieser Einschätzung zu? [M1,2,3,6,7] Weiterführende Impulse I1. Recherchiere in Lexika oder im Internet nach den Begriffen „Staat“ und „Verfassung“. Vergleiche die gefundenen Definitionen mit der Situation in Deutschland in den Jahren 1948/49. Konnte der Parlamentarische Rat „(einen) Staat machen“? I2. Erstelle eine illustrierte Zeitleiste bezüglich der wesentlichen Weichenstellungen alliierter und deutscher Stellen zur Einrichtung eines Parlamentarischen Rates.

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Auftakt in Bonn: Der Parlamentarische Rat nimmt seine Arbeit auf (1)

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Der „Spiegel“ berichtet über die Auftaktsitzungen des Parlamentarischen Rates unter der Überschrift „Zur Geschäftsordnung: Rotes Tuch für Russen-Bären“:

[…] Der Tagungssaal in der Pädagogischen Akademie gibt ein Äußerstes an Licht, Klarheit und Zweckmäßigkeit her. Die rechte Seitenwand ist ein einziges großes, Fenster mit Blick zum Rhein. In der Akademie, im nahezu unzerstörten Bonn selbst, das ehedem als Deutschlands vornehmste Universität galt, ist alles mustergültig und unauffällig organisiert, von lückenloser blau-weißer Wegbeschilderung bis zu den 20 Telephonzellen der Zeitungsleute. […] Die vornehme und freizügige Atmosphäre des Hauses, die „kühlere nördlichere Atmosphäre“ der Stadt (Menzel) scheinen auf die Abgeordneten überzugehen. […] Den festlichen Worten […] hörten außer den Parlamentariern und ihren Gästen auch Perlhühner und ausgestopfte Flamingos zu, letztere sämtlich auf einem Bein. Die Museumsschaukästen auf der Galerie hatte man stehengelassen. Die russischen Bären im Erdgeschoss hatte man mit roten Tüchern zugehängt, ebenso die Wölfe […]. Sogar den langen Giraffenhals hatte man rot drapiert und die wilden Leoparden, so dass nichts an einen Tiergarten erinnerte. Das Tiermuseum war die Idee des seligen Alexander König, der es für unmenschlich hielt, Tiere im Zoo zu zeigen, und für menschlicher, sie auszustopfen. […]

Feierliche Eröffnung des Parlamentarischen Rates am 1.9.48, Vorfahrt vor dem Bonner Museum König.

Bestand: StBKAH; © Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer, Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn.

aus: Der Spiegel Nr. 36 v. 04.09.1948, S. 3f.

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Eröffnung des Parlamentarischen Rats am 1.9.1948

Zeitfolge

13 Uhr Festakt Museum König in Bonn 15 Uhr Eröffnungssitzung des

Parlamentarischen Rats in der Pädagogischen Akademie

19 Uhr Empfang, gegeben von Ministerpräsident Arnold in der Redoute in Godesberg

Bestand: StBKAH I/09.03, Bl. 040.

Feierliche Eröffnung des Parlamentarischen Rates im Lichthof des Museum König am 1.9.48, Rede des gastgebenden NRW-Ministerpräsidenten Arnold. Bestand: StBKAH; © Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer, Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn.

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Auftakt in Bonn: Der Parlamentarische Rat nimmt seine Arbeit auf (2) M5

Der in der ersten Sitzung des Rates zum Vorsitzenden des Hauptausschusses gewählte SPD-Politiker Carlo Schmid schreibt über die Eröffnungsfeier:

Am 1. September 1948 versammelten sich die Abgeordneten [des Parlamentarischen Rates] mit den Ministerpräsidenten der Länder und Vertretern der alliierten Militärregierungen, Gästen und Journalisten zur Eröffnung der Arbeiten des Parlamentarischen Rates im Museum König zu Bonn. Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden. In der Halle dieses in mächtigen Quadern hochgeführten Gebäudes standen wir unter den Länderfahnen – rings umgeben von ausgestopftem Getier aus aller Welt. Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor. Die bizarre Umgebung ließ trotz der Beethovenschen Musik, mit der die Feier eröffnet und beschlossen wurde, keine rechte Feierlichkeit aufkommen, gleichgültig jedoch war keinem von uns zumute. Karl Arnold, als Ministerpräsident des Gastgeberlandes, hielt die Festrede; nach ihm sprach Christian Stock, der Ministerpräsident Hessens, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. So war zwischen den größten Parteien der Proporz gewahrt.

Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern/München/Wien 1979, S. 357.

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Antonius John, der als junger Journalist die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates besuchte, erinnert sich:

Ich sah mich damals in der Pädagogischen Akademie um, wo das erlauchte Gremium des Parlamentarischen Rates tagen würde. Journalisten traf ich noch keine an. Nur der NWDR hatte sich in einer Ecke ein primitives Studio eingerichtet. Nun waren die Dinge in Gang gekommen. Das, was bereits am 1. September da unten tagte, war also der Parlamentarische Rat, die Verfassungs-gebende Versammlung. Es war nur ein ganz kurzer Augenblick, der mich innerhalb etwas erregte: Da sitzen sie, die unser Land wieder zu einem Staat machen sollen. Ein kurzes etwas voreiliges Aufflackern eines Restes von Nationalstolz. Nein, das konnten sie gar nicht, zuviel war in den vergangenen Jahren geschehen. Waren das die wichtigen Männer und Frauen?

Abgeordnetenausweis Adenauer, unterzeichnet von dem hessischen Ministerpräsidenten Stock

Die Erregung legte sich. Aber dann nochmals eine Gemütsbewegung: Das Bonner Orchester erinnerte daran, was unser Land an Klassik hervorgebracht hatte. Es war lange her, dass ich eine solche Leistung gehört hatte. Vielen der Herren in Schwarz wird es ähnlich ergangen sein.

Bestand: StBKAH.

aus: John, Antonius: Wege und Holzwege zum Grundgesetz, Bonn 1999, S. 17.

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Auftakt in Bonn: Der Parlamentarische Rat nimmt seine Arbeit auf (3)

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Bestand: StBKAH. Adenauer macht Schule ©

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Auftakt in Bonn: Der Parlamentarische Rat nimmt seine Arbeit auf (3) M9 Konrad Adenauer kurz vor seiner Wahl zum

Präsidenten des Parlamentarischen Rates Bestand: StBKAH; © Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-

Winterer, Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn. M10

Konrad Adenauer betont nach seiner Wahl zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates:

[…] Und nun lassen Sie mich einige Worte über Wirken und Aufgabe des Parlamentarischen Rates sagen. Er ist ins Leben gerufen durch einen Akt der Militär-Gouverneure der drei Westzonen, durch einen Akt, wie in den Dokument niedergelegt ist, das den Ministerpräsidenten der drei Westzonen am 1. Juli dieses Jahres übergeben wurde. Nachdem er aber nunmehr sich konstituiert hat, ist er im Rahmen der ihm gestellten Aufgaben völlig frei und völlig selbstständig. Es wird meines Erachtens die vornehmste Pflicht des Rates, aber auch des Präsidenten und seiner Stellvertreter sein, diese völlige Freiheit und Unabhängigkeit ständig zu wahren und sicherzustellen. Der Parlamentarische Rat beginnt seine Tätigkeit – wir haben es heute morgen bei der Feier im Museum König gehört und wir wissen es ja alle – in einer Zeit der völligen Ungewissheit über Deutschlands Zukunft. Ja, auch die Zukunft Europas und der Welt ist dunkel und unsicher, und Deutschland selbst ist politisch ohnmächtig. Es ist in zwei Teile geteilt. Wir Vertreter des Parlamentarischen Rates hier in diesem Saale […] vertreten 46 Millionen Deutsche. Meine Damen und Herren! Das Dasein des Parlamentarischen Rates selbst ist, wie ich eingangs sagte, zurückzuführen auf einen Entschluss eines Teiles der Siegermächte. Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands, bei der mangelnden Souveränität auch dieses Teiles Deutschlands zur Mitarbeit zur Verfügung stellen dürfe und solle. Ich glaube, verehrte Anwesende, eine richtige Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man sich klar macht, was denn sein würde, welche Folgen für Deutschland und für das deutsche Volk eintreten würden, wenn dieser Rat nicht ins Leben träte. Die drei Mächte, die sich entschlossen haben, diesen Rat ins Leben zu rufen, ließen sich dabei von der Absicht leiten, dass dem politisch völlig auseinandergebrochenen deutschen Volke eine neue politische Struktur gegeben werde, in seinem Interesse, aber auch im Interesse Europas und der gesamten Welt. Das muss auch unser Ziel sein, und darum müssen wir die uns gebotene Möglichkeit nutzen, um den jetzigen unmöglichen politischen Zuständen in Deutschland ein Ende zu bereiten. Wir müssen das tun, auch wenn unsere Arbeit vorerst nur einem Teil Deutschlands zugute kommt. Denn, meine Damen und Herren, einmal muss ein Anfang gemacht werden, und einmal muss Schluss sein, mit dem ewigen Weiterwursteln und Auseinanderfallen. Wir gehen an unsere Arbeit in der festen und unerschütterlichen Absicht, auf diesem Wege wieder zur Einheit von ganz Deutschland, der Einheit, die unser Ziel ist und unser Ziel bleibt, zu gelangen.

5 10 15 20 25

Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht v. 1.9.1948, S. 4f., Bestand: StBKAH I 09.12-1, Bl. 002f. Adenauer macht Schule ©

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Auftakt in Bonn: Der Parlamentarische Rat nimmt seine Arbeit auf Anregungen für die Arbeit mit den Materialien A1. Spüre anhand der vorliegenden Materialien der Atmosphäre und Stimmung unter den Teilnehmern und Beobachtern der Eröffnungsfeier und der ersten Sitzung des Parlamentarischen Rates nach. Halte die Erwartungen und Hoffnungen, die anklingenden Probleme und Herausforderungen fest. [M1-3,5-7] A2. Ziehe den Auszug der Titelseite der „Westdeutschen Rundschau“ heran: Notiere, welche Besonderheiten Dir im Vergleich zu heutigen Ersten Seiten einer Tageszeitung auffallen. Erkläre diese Unterschiede. Fasse die wesentlichen Informationen der Artikel zusammen. [M8] A3. Schreibe heraus, - welche Aufgaben Adenauer dem Parlamentarischen Rat zuschreibt, - wie er das Verhältnis von Parlamentarischem Rat und den Besatzungsmächten einschätzt, - welche Gründe er den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates anführt. [M9,10] A4. Du bist ein Radio-Reporter des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR): Du hast den Auftrag einen dreiminütigen Beitrag für die abendliche Nachrichtensendung zu „produzieren“. Schreibe Deine Ansagen und versehe Sie mit aussagekräftigen Auszügen der vorliegenden Reden. Alternativ: Verfasse einen Radio-Kommentar: Beurteile den Beginn und die Chancen der Arbeit des Parlamentarischen Rates. Nutze ggf. entsprechende technische Geräte. [M1-10] Weiterführende Impulse I1. In den Tageszeitungen Deiner Heimatstadt/Region (Anfang September 1948) werden sich sicherlich ebenfalls Berichte und Kommentare über den Beginn der Arbeiten des Parlamentarischen Rates finden lassen. Mach´ Dich auf und recherchiere im örtlichen Zeitungs-/ Stadtarchiv. I2. Befrage mögliche Zeitzeugen wie Deine Großeltern etc. über ihre Wahrnehmung des Auftakts der Arbeiten des Parlamentarischen Rates: Womit waren sie beschäftigt? Welche Rolle spielten die Vorgänge in Bonn etc.?

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Parlamentarische Köpfe (1) M1

Jedes dritte Mitglied des Parlamentarischen Rates ist älter als sechzig Jahre und hat das Kaiserreich in Friedenszeiten bewusst erlebt. Über die Hälfte der Abgeordneten gehört der Altersgruppe der 40- bis 60jährigen an. Diese Abgeordneten sind vor allem durch den Ersten Weltkrieg geprägt worden; 8 % der Abgeordneten sind jünger als 40 Jahre und verlebten Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik. Zwei Drittel der Mitglieder des Rates waren Akademiker. Fast die Hälfte der Ratsmitglieder hat vor 1933 als Mitglied der 1919 eingerichteten verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar, des Reichstages oder eines Landtages parlamentarische Erfahrungen sammeln können. Insgesamt 57 Mitglieder des Parlamentarischen Rates arbeiteten in den Landtagen, die zwischen 1945 und der Einberufung des Parlamentarischen Rates ernannt oder gewählt wurden.

zusammengestellt nach: Bundesarchiv: Der Parlamentarische Rat, Katalog, Koblenz 1988, S. 19f.

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„Von den Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion hatten nur wenige bisher Gelegenheit gefunden, sich in gemeinsamer Arbeit zu erproben. Unter ihnen befanden sich Landtagsabgeordnete und Landesminister, Rechtsanwälte, Professoren, Richter und Bürgermeister, Landräte und Gewerkschafter. Von Berufs wegen hatten bisher nur wenige mit Verfassungsrecht zu tun gehabt; aber alle waren lebenserfahrene und ihrer Verantwortung bewusste Frauen und Männer ohne persönlichen Ehrgeiz und immer ihrer vaterländischen Pflicht eingedenk. Sie waren von den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates durchdrungen und hatten den festen Glauben, dass für ein Leben in Freiheit und Würde die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, die günstigsten Voraussetzungen biete.“

Der Parlamentarische Rat war eine Versammlung überwiegend von Großvätern: Das Durch-schnittsalter lag bei knapp über 55 Jahren. Die meisten seiner Mitglieder hatten politische Erfahrungen in der Weimarer Republik gesammelt; viele waren von den Nationalsozialisten drangsaliert worden.

Hans Schüler: Die erste Republik von Dauer, aus: Die Zeit Nr. 21 v. 19.5.1989.

Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern/München/Wien 1979, S. 356f.

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Wie soll man mit den Vertretern Berlins

Stärke der Parteien

umgehen?

Zwischen dem 5. und 30. August wählten die elf westdeutschen Landtage die insgesamt 65 Abgeordneten des Parlamentarischen Rates. Die Aufteilung erfolgte jeweils nach dem Ergebnis der letzten Landtagswahl oder nach der Anzahl der Landtagsmandate der einzelnen Parteien. Auf CDU/CSU und SPD entfielen so jeweils 27, auf FDP 5, auf KPD, DP und Zentrum jeweils 2 Abgeordnete. Die drei vertretenen liberalen Parteien FDP, LDP und DVP schlossen sich zu einer Fraktion zusammen.

Für die fünf Berliner Vertreter musste vor dem Hintergrund des alliierten Sonderstatus´ für die vormalige Reichshauptstadt eine Lösung gefunden werden. Jakob Kaiser (CDU), Paul Löbe (SPD), Ernst Reuter (SPD), Hans Reif (FDP) und Otto Suhr (SPD) wurden nicht als Mitglieder des Parlamentarischen Rates (aller Länder der drei westlichen Besatzungszonen) bezeichnet und erhielten auch kein Stimmrecht. Während seiner Eröffnungssitzung am 1. September 1948 beschloss der Rat aber, die Berliner Vertreter mit beratender Stimme teilnehmen zu lassen. Der zum Präsidenten gewählte Konrad Adenauer bat diese zudem, auf den Plätzen der regulären Abgeordneten einzunehmen. Die anwesenden westlichen Alliierten zeigten sich darüber sehr verstimmt.

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Parlamentarische Köpfe (2) M6 M7 M8 M9

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v n links nach rechts: NRW-Ministerpräsident Arnold (CDU), Adenauer (CDU) und Schmid (SPD) o

Bestand: StBKAH; © Bundesbildstelle.

Biographie: Prof. Dr. Theodor Heuss

*31.1.1884 in Brackenheim, †12.12.1963 in Stuttgart, Studium u.a. der Nationalökonomie und Geschichte, Promotion, Tätigkeiten als Journalist und Politikwissenschaftler; aktives Mitglied aufeinanderfolgender liberaler Parteien, Mitglied des Reichstages von 1924-1928 und 1930-1933 für die Deutsche Demokratische Partei bzw. die Deutsche Staatspartei; Aberkennung seines Reichstagsmandats durch die National-sozialisten, Publikations- und Lehrverbot; 1945 Mitbegründer der Rhein-Neckar-Zeitung, Kultusminister in Land Württemberg-Baden; am 17. März 1948 zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei, am 12.12.1948 zum Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei (FDP) gewählt; Mitglied des Parlamentarischen Rates; am 12.09.1949 Wahl zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland; Wiederwahl 1953.

Theodor Heuss am Rednerpult in der Pädagogischen Akademie

Bestand: StBKAH; © Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer, Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn.

Biographie: Prof. Dr. Carlo Schmid

*3.12.1896 in Perpignan/F, †11.12.1979 in Bad Honnef; absolvierte nach Teilnahme am 1. Weltkrieg ein juristisches Studium, Promotion, Tätigkeit als Rechtsanwalt, Richter, Privatdozent, Einberufung zur Wehrmacht, nach Kriegsende politische Ämter im Land Württemberg-Hohenzollern, seit 1946 Mitglied der SPD, verschiedene hohe Parteifunktionen, Mitglied im Parlamentarischen Rat und dort Vorsitzender der SPD-Fraktion und des Hauptausschusses; 1949-1972 Abgeordneter des Deutschen Bundestages und zeitweise dessen Vizepräsident, 1966-69 Bundesminister.

Biographie: Karl Arnold

*21.3.1901 in Herrlishöfen, †29.6.1958 in Düsseldorf; Schuhmacher-Geselle und später Studium in München, seit 1920 hauptamtlicher Funktionär der christlichen Gewerkschaften, Mitglied in der Zentrumspartei, Verfolgung und 1944 Verhaftung durch die Gestapo (im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli), Mitgründung der Einheitsgewerkschaften im Rheinland 1945 und der Düsseldorfer Christlich Demokratische Partei (CDP, später CDU), 1946 Oberbürgermeister von Düsseldorf, 1947-1956 Ministerpräsident von NRW.

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Parlamentarische Köpfe (3) M11 von links nach rechts.: H. Wessel,

H. Weber, F. Nadig, E. Selbert

Bestand: StBKAH; © Erna Wagner-Hehmke/Hehmke-Winterer, Düsseldorf; Haus der Geschichte, Bonn.

M12 Biographien der weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates

Friederike Nadig: *11.12.1897, †14.8.1970; 1922 Examen als Wohlfahrtspflegerin, 1913 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, 1916 Eintritt in die SPD, 1930-33 Abgeordnete im Westfälischen Provinziallandtag, 1933 Berufsverbot durch die Nationalsozialisten, 1947-1950 Mitglied des NRW-Landtages, 1948 in den Parlamentarischen Rat berufen, Streiterin für die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie für die Gleichstellung unehelicher Kinder, 1949-61 Abgeordnete des Deutschen Bundestages.

Elisabeth Selbert: *22.9.1896, †9.06.1986; Mitarbeiterin einer Handelsfirma, dann im Reichspostdienst, 1918 Eintritt in die SPD, setzte sich für aktive Beteiligung von Frauen in der Politik und die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau ein, 1925 nachgeholtes Abitur, juristisches Studium in Kassel, Promotion 1930, 1934 gegen den Widerstand zahlreicher (NS-)Stellen Zulassung als Rechtsanwältin, ernährte ihre Familie, 1946 für die SPD Wahl in die Verfassungsberatende Landesversammlung des Landes Hessen, Mitglied des Hessischen Landtages, im Parlamentarischen Rat forderte sie die grundrechtliche Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.

Helene Weber: *17.3.1881, †25.7.1962; Studienrätin am Lyzeum in Bochum, später Leiterin der Sozialen Frauenschule Aachen und Ministerialrätin im Preußischen Wohlfahrtsministerium, Mitgliedschaft im Katholischen Deutschen Frauenbund, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und damit Beteiligung an der Entwicklung der Weimarer Reichsverfassung, 1924-33 Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Entlassung durch die Nationalsozialisten, nach dem Krieg Beteiligung am Aufbau der CDU Mitglied der NRW-Landtages, Wahl in den Parlamentarischen Rat durch den Landtag, 1949-1962 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1951-1958 Vorsitzende der Frauenvereinigung von CDU und CSU.

Helene Wessel: *6.7.1898, †13.10.1969; 1915-1928 Parteisekretärin der katholischen Zentrumspartei, 1933-1945 Tätigkeit als Sozialarbeiterin der katholischen Kirche in Dortmund, Beteiligung an der Wiedergründung des Zentrums, 1946-1950 Mitglied des NRW-Landtages, 1948/49 Mitglied im Parlamentarischen Rat, 1949-1952 Bundesvorsitzende des Zentrums, 1952 Austritt aus dem Zentrum und Mitgründung der Gesamtdeutschen Volkspartei, die 1953 bei der Bundestagswahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, 1956 mit Gustav Heinemann und anderen Übertritt in die SPD, sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete 1957-1969.

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Parlamentarische Köpfe (4) M13a

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Parlamentarische Räte (5) M14

Zweiter Teil einer Gesamtabdruckes aller 65 Abgeordneten des Parlamentarischen Rates aus: Neue Zeitung v. 25.9.1948, S. 8.

Bestand: StBKAH.

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Parlamentarische Köpfe Anregungen für die Arbeit mit den Materialien A1. Verschaffe Dir einen Überblick über die wichtigen Kennzeichen der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates (Alter, Geschlecht, (soziale) Herkunft, Ausbildung/Qualifikation etc.) und halte Deine Ergebnisse schriftlich fest. [M1-3,6,9,10,12] A2. Überlege, welchen Einfluss die Lebenserfahrungen und Prägungen der Abgeordneten auf deren Herangehensweise bei der Erarbeitung einer Verfassung haben konnten. Beziehe ihre Äußerungen aus der „Neuen Zeitung“ mit ein. Spekuliere, warum relativ wenige jüngere Abgeordnete im Rat vertreten waren. [M1-14] A3. Nimm Stellung zu der Überschrift des Artikels aus der Neuen Zeitung: „Väter der Verfassung“. [M13] A4. „Im Parlamentarischen Rat haben zu viele „Großväter“ über das Schicksal des Landes entschieden! Junges Blut hätte der Verfassung gut getan.“ Kommentiere diese Aussage. Weiterführende Impulse I1. Achte darauf, aus welchen Regionen/Ländern die Abgeordneten jeweils stammen. Untersuche beispielsweise bei den nordrhein-westfälischen Vertretern, ob er/sie aus Deinem Ort/Deiner Region stammt. Forsche nach biographischen Hintergründen (Internet etc.). I2. Erstelle ein Lern-Plakat zu dem Thema: „Antriebskräfte und Ziele der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates“.

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Streitfrage: Grundgesetz oder Einheit? In der Auftaktsitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 bringt der kommunistische Abgeordnete Reimann (KPD) einen Antrag zur direkten Auflösung des Parlamentarischen Rates ein. Der CSU-Abgeordnete Pfeiffer antwortet auf ihn in der Debatte:

Arbeitsanregungen:

A1: Stelle die unterschiedlichen Positionen von Reimann und Pfeiffer vergleichend gegenüber. Notiere, welche sprachlichen Mittel beide Redner einsetzen. Kläre die jeweiligen Absichten.

A2: Du bist ein Reporter der Ost-Berliner SED-Zeitung „Neues Deutschland“ und befragst Max Reimann zu seiner Einschätzung der Arbeit des Parlamentarischen Rates. Entwirf ein kurzes Interview.

Max Reimann (KPD): Der Parlamentarische Rat ist auf Grund der Londoner Empfehlungen zusammengesetzt worden, um einen westdeutschen Staat zu schaffen und diesem westdeutschen Staat eine Verfassung zu geben. Somit wird Deutschland gespalten. […] Es hat keinen Zweck, wenn wir als Deutsche die sich anbahnenden Verhandlungen der alliierten Großmächte durch einen solchen Akt stören. Die Uneinigkeit der alliierten Großmächte wird letzten Endes auf dem Rücken des deutschen Volkes ausgetragen, und wir haben als Deutsche allen Grund, jedes Moment der Störung zu beseitigen. […] Ich stelle daher folgenden Antrag: Der Parlamentarische Rat stellt seine Beratungen über eine separate westdeutsche Verfassung ein. […] Begründung: 1. Die Bildung des Parlamentarischen Rates erfolgte auf der Grundlage der Londoner Empfehlungen. Diese aber verstoßen gegen die völkerrechtlich bindenden Verträge von Jalta und Potsdam. […] In diesen Verträgen haben die vier Großmächte in Ausübung der staatsrechtlichen Souveränität in Deutschland mit der Verpflichtung übernommen, für die Errichtung eines einheitlichen demokratischen Deutschlands zu sorgen und dann die Souveränität an das deutsche Volk zurückzugeben. Bis zu diesem Zeitpunkt könnten staatsrechtliche Veränderungen nur durch alle vier Großmächte gemeinsam vorgenommen werden. 2. Der Parlamentarische Rat hat kein Mandat vom deutschen Volk. Er ist sogar gegen den Willen der Mehrheit aller Deutschen errichtet worden. […] Das deutsche Volk will eine einheitliche demokratische Republik mit einer Verfassung, die von einer durch das ganze deutsche Volk ausgearbeitet und dann dem Volke zur Abstimmung vorgelegt wird.

Anton Pfeiffer (CDU/CSU): […] Wir sind zum ersten Mal eine Volksvertretung, die immerhin 46 Millionen Menschen vertritt. Wir haben die Aufgabe, ein Grundgesetz zu schaffen, auf dem in dem Teil Deutschlands, der durch den Parlamentarischen Rat vertreten wird, die ganze staatliche, die moralische Ordnung, die ganze Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik aufbauen muss, einen Boden zu legen, der uns gestattet, aus eigener Kraft alles zu tun, was wir für den Wiederaufbau Deutschlands gestalten können, und der auch für Deutschland wieder den Weg in die große europäische Völkerfamilie hinein öffnet. In dieser Stunde uns zuzumuten, gewissenlos genug zu sein, diese Möglichkeit, die in unsere Hand, die uns aufs Gewissen gelegt ist, beiseite zu schieben, finde ich geradezu unerhört. Es liegt auf uns die Pflicht, zu tun, was uns möglich ist, um unser Volk im Bereich der drei Westzonen, da wir leider die vierte Zone nicht einschließen können, voranzubringen, zu stärken und ihm die Anfänge eines wirklich rechtlichen, demokratischen staatlichen Lebens zu bauen. […] Ich glaube, wir sind verpflichtet, hier im Namen des deutschen Volkes zu sprechen und seine Stimme durch die ganze Welt erklingen zu lassen. Wir sind berufen, ein deutsches Staatsgrundgesetz zu schaffen, und wir sind die Wortführer gesamtdeutscher Interessen. Nun von der Erfüllung unserer Pflicht deswegen abzusehen, weil vielleicht im Gefüge der internationalen Politik da und dort ein Stirnrunzeln entstehen könnte, dazu halte ich uns nicht für berechtigt. Als Deutsche müssen wir erst recht zeigen, dass wir eine deutsche Arbeit für unser Volk leisten wollen und dass wir nicht schauen nach einem fremden Gängelband oder nach dem Reflex fremder Interessen und fremder internationaler Politik auf unser Volk.

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aus: Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, Erste Sitzung v. 1.9.1948, Bestand: StBKAH I/09.12-1, Bl. 2f.

Biographie: Max Reimann Biographie: Anton Pfeiffer *31.10.1898, † 18.1.1977; arbeitete als Nieter, trat 1916 in den kommunistischen Spartakusbund ein, wurde 1921 hauptamtlicher KPD-Funktionär, 1934 Emigration nach Paris, Verhaftung durch die Nationalsozialisten 1940, KZ-Haft, 1948 Vorsitzender der westdeutschen KPD (=Kommunistische Partei Deutschlands), 1946-1954 Abgeordneter im NRW-Landtag, Vorsitzender der KPD-Gruppe im Parlamentar. Rat, 1949-1953 Bundestagsabgeordneter, 1954 Übersiedlung in die DDR, 1974 Rückkehr in die Bundesrepublik

*7.4.1888, † 20.7.1957; Gymnasiallehrer, 1927 Gründung einer amerikanischen Schule in München, 1928-1933 Mitglied des bayerischen Landtages, 1933 von den Nationalsozialsten verhaftet (Schutzhaft), nach 1945 Mitbegründer der CSU, Staatsminister, Mitinitiator des Ellwanger Kreises (Verfassungsentwurf der Union), Vorsitzender des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee, Mitglied des Parlamentarischen Rates und Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, später Botschafter in Belgien

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