Schwarzer herbSt 2001 - Gueti Gschichte...Schwarzer herbSt 2001 «Wer 9/11 vor Ort erlebt hat,...

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25 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Fotos © 2001 James Nachtwey, Christof Borner-Keller / NLZ, Markus A. Jegerlehner, Polizia Cantonale Ticino SCHWARZER HERBST 2001 Als unsere Welt aus den Fugen gerät. Diese vier Ereignisse stellen alles auf den Kopf. ZEHN JAHRE DANACH: Betroffene und Augenzeugen – wie geht es ihnen heute? 11. 9. 2001 27. 9. 2001 2. 10. 2001 24. 10. 2001 9/11 Gekidnappte Verkehrsflugzeuge fliegen in die Türme des World Trade Centers und ins Pentagon. 3000 Tote. Zuger Attentat Friedrich Leibacher erschiesst an einer Kantonsratssitzung 14 Politiker – und tötet sich selber. Grounding der Swissair Das Fotos des «gestrandeten» Piloten in Rio ist symbolisch für das Ende der Airline. Brand im Gotthardtunnel Das schwerste Tunnel- unglück in der Geschichte der Schweiz. 11 Tote.

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    Schwarzer herbSt 2001Als unsere Welt aus den Fugen gerät. Diese vier Ereignisse stellen alles auf den Kopf. Zehn Jahre danach: Betroffene und Augenzeugen – wie geht es ihnen heute?

    11. 9. 2001 27. 9. 2001

    2. 10. 2001 24. 10. 2001

    9/11 Gekidnappte Verkehrsflugzeuge fliegen in die Türme des World Trade Centers und ins Pentagon. 3000 Tote.

    Zuger Attentat Friedrich Leibacher erschiesst an einer Kantonsratssitzung 14 Politiker – und tötet sich selber.

    Grounding der Swissair Das Fotos des «gestrandeten» Piloten in Rio ist symbolisch für das Ende der Airline.

    Brand im Gotthardtunnel Das schwerste Tunnel-unglück in der Geschichte der Schweiz. 11 Tote.

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    Skelett aus Stahl Der Ort, wo die Zwillingstürme standen, wird zum Massengrab für Tausende von Menschen. Dieses Bild von «War Photographer» James Nachtwey ging 2001 um die Welt.

    Schwarzer herbSt 2001

    Blick auf Ground Zero SF-Börsen - korres pondent und NZZ-Kolumnist Jens Korte im World Financial Center New York.

    Als der zweite Flieger ins World Trade Center kracht, steht er direkt darunter. SF-Börsenkorres-pon dent Jens Korte erlebt 9/11 in Manhattan – jetzt blickt er zurück auf den Tag, der alles verändert hat.

    «Nichts ist mehr so, wie es war»

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    Text nina siegrist Fotos adrian Müller

    a ls sich der zweite Flieger in den Südturm des World Trade Cen-ters bohrt, steht Jens Korte auf diesem kleinen, mit Bäumen bepflanzten Platz nur wenige Meter entfernt. Heute blickt man von hier direkt auf das neue One World Trade Center. Aus Schutt und Asche erhebt sich der mit 514 Metern höchste Wolkenkratzer des Landes – die amerikanische Antwort auf die zer - störte Illusion der Unverletzlichkeit. Im Lärm der Grossbaustellen ertrinken die Worte. Damals, am 11. September, sagt Korte auf seinem Rundgang durch Man-hattan, sei es ganz still gewesen hier. «Der Aufprall des Fliegers verursachte unten nur ein dumpfes, lang gezogenes Rauschen.»

    Jens Korte arbeitet 2001 in ei-nem deutschen Korrespondentenbüro direkt hinter den Zwillingstürmen im

    17. Stock. Am Morgen des 11. Septem-ber sieht er plötzlich Papierfetzen durch die Luft fliegen. Er denkt an eine Werbe-aktion, sagt seiner Frau Heike Buchter, die im gleichen Büro arbeitet, er gehe kurz hin aus, um zu schauen, was los sei. Als er den brennenden Turm entdeckt und sieht, wie ein Flieger in den zweiten Turm kracht, will er Heike und seine elf Kollegen warnen. Doch das Handynetz ist zusammengebrochen, der Lift im Hochhaus ausser Betrieb. Korte rennt zur Börse, dort, endlich, findet er ein funktionierendes Festnetztelefon: «Haut ab, sofort raus aus Manhattan!» Seinen Eltern gibt er noch kurz ein Lebenszei-chen, dann beginnt er für verschiedene Fernsehstationen live aus der Börse zu

    senden. Inzwischen sind die Türme eingestürzt, überall ist Staub, es geht das Gerücht, weitere Flugzeuge seien unterwegs.

    auf seinem rundgang zehn Jahre danach macht Korte halt an der Wall Street. Die Börse, sagt er, habe sich seit 9/11 stark verändert. Vor fast allen grös-seren Gebäuden Kameras und Sicherheitsabschrankungen, die Zu-fahrts strasse gesperrt. Das ist aber längst nicht alles: Viele grosse Firmen wollten sich der geografischen Angreifbarkeit nicht länger aussetzen, zogen weg aus Manhattan – und sei es nur auf die ande-re Seite des Hudson River nach New Jersey. «Statt aufstrebende Banker in Nadelstreifenanzügen sieht man im Financial District heute Familien mit Kindern.» In den frei werdenden Gebäu-den wurden Schulen und Kindergärten eröffnet, in den leeren Tresorräumen Bars und Clubs. «Und die Wall Street», sagt Korte und zeigt auf eine Schar

    Fotos knipsender Chinesen, «hat sich zu einem kleinen Disneyland entwickelt.»

    Am Nachmittag des 11. September 2001 verlässt Korte die Börse, läuft ein-fach los, ein feuchtes Tuch vor dem Mund. Drei Stunden später trifft er in Spanish Harlem ein. Hier hat Heike Buchter bei einem Freund ein Notbüro eingerichtet. Schockiert und gleichzeitig dankbar sitzen die beiden auf der Feuer-leiter, beobachten, wie das Militär ein-fährt. Unzählige Lastwagen mit schwer bewaffneten Soldaten ziehen vorbei, eine Sperrzone wird errichtet. Ein Gross-teil ihrer elf Korrespondentenkollegen reist heim nach Deutschland. Korte und Buchter bleiben. Jetzt erst recht.

    drei Kilometer nördlich von Ground Zero setzt Korte seinen Rundgang fort. Der Eingang des St Vincent’s Hospital ist mit Brettern zugenagelt. «Even if you’re gone, we still remember 9/11/2001», schrei-ben ehemalige Patienten auf ein Plakat. St Vincent’s, das Spital, in das am 11. Sep-tember 2001 die meisten Verletzten einge-liefert werden, geht 2010 pleite. «Hier hat man sich um alle gekümmert, auch um solche, die nicht zahlen konnten», erklärt Korte. Dass diese karitative Institution im New York der Zukunft keinen Platz mehr hat, traf viele ins Herz – und ist symptoma-tisch für die serbelnde Infrastruktur der USA. Ähnliche Emotionen löst eine weite-

    re Sparmassnahme aus: Weil immer mehr Firmen aus Manhattan wegziehen, fehlen Steuereinnahmen. Entlassen werden aus-gerechnet Feuerwehrleute, die Helden, die am 11. September ihr Leben riskierten, um das von anderen zu retten, und die auch Wochen später in den Aschebergen nach Leichenteilen suchten, um die 3000 Opfer zu identifizieren. Der süssliche Geruch von verkohltem Fleisch, erzählt Korte, lag noch Monate in der Luft. «Von all den Erinnerungen ist das die stärkste.»

    über 9/11 reden Jens Korte und Hei-ke Buchter die Jahre danach kaum. «Es ist kein Spektakel. Niemand, der das erlebt hat, spricht gerne darüber», erklärt er. Indirekt werde man oft an 9/11 erinnert: Wenn Eltern und Freunde aus Deutsch-land nicht mehr zu Besuch kommen, weil ihnen das Sicherheitsprozedere der Reise zu mühsam geworden ist. Wenn man – egal, ob in grösseren Gebäuden oder im Biergarten – sogar die Wasserflasche sei-nes 4-jährigen Sohnes am Eingang auskip-pen müsse, weil keine Flüssigkeiten er-laubt sind. Auch Obama wäre vermutlich nie gewählt worden ohne 9/11 und Bushs aggressiven Krieg gegen den Terror. Und ja, sagt Korte, natürlich habe auch die Nachricht von Bin Ladens Tod Erinnerun-gen geweckt. Von einem Triumph könne aber keine Rede sein: «Jene Wall-Street-Händler, die man jubeln sah, waren 2001 noch Kinder und sind mit der Terrorangst und diesem Feindbild aufgewachsen. Wir, die 9/11 erlebt haben, konnten in so einem Moment nicht applaudieren. Unsere Ge-danken waren bei den Opfern.»

    Gegenüber vom St Vincent’s Hospi-tal, an einem Drahtzaun, hängen Hun-derte handbemalte Kacheln – Andenken an die Opfer. Still liest Jens Korte die Botschaften von Angehörigen. «Vor zehn Jahren hingen hier die Fotos von Ver-missten», erzählt er. «Missed» stand je-weils oben auf dem Zettel. «You’re still missed» – wir vermissen euch immer noch – steht heute auf einer Kachel. «Every day» – jeden Tag.

    Zahlen und FaKtenuDie OpFer Mindestens 2989 Menschen ureTTung Bevor das WTC kollabiert, können 17 410 Menschen evakuiert werden uTäTer 19 islamistische Attentäter. Als ihr Auftraggeber gilt das Terrornetzwerk Al Kaida uKOnsequenzen US-Präsident George W. Bush lanciert einen «Krieg gegen den Terror» und leitet daraus das Recht der USA auf Präventionskriege ab. Folgen: Krieg gegen die Taliban in Afgha-nistan und der Irak-Feldzug

    Micky Theodoridis und Ehefrau Rahma Salie sterben im Jet, der sich in den WTC-Nordturm bohrt.

    Selina Sutter arbeitet 2001 im 79. Stock des WTC-Nordturms.

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    «Wer 9/11 vor Ort erlebt hat, jubelte nicht beim Tod von Bin Laden» Jens Korte

    uDrei Tage vor ihrem 64. Geburtstag stirbt Selina Sutter aus Thun BE in ihrem Büro (79. Stock, Suite 7967) im Nordturm des World Trade Centers. 1969 wanderte sie nach New York aus. Getötet wird sie vom American-Airlines-Jet AA 11, der um 8.46 Uhr in den WTC-Nordturm donnert. An Bord: der in Boston lebende St. Galler Micky Theodoridis, 32, und seine im 7. Monat schwan-gere Frau Rahma Salie. Von Selina Sutter werden keinerlei Spuren gefunden, Theodoridis’ DNA wird in sterblichen Überresten nachgewiesen.

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    Stille Zeugen Jens Korte vor dem St Vincent’s Hospital. Noch immer hängen hier Botschaften für die 9/11-Opfer: «Wir vermissen euch. Jeden Tag.»

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    Karl Betschart Der 65-Jährige aus Baar sammelt alle Zeitungsartikel, Briefe und Dokumente zum Zuger Amoklauf.

    Moritz Schmid, 62, aus Walchwil will nicht ständig ans Attentat denken. Sein Enkel hilft ihm, die schönen Seiten des Lebens zu sehen.

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    Ein Amokläufer erschiesst im Zuger Kantonsparlament 14 Politiker und sich selber. MoritZ schMid und Karl Betschart haben das Massaker über-lebt. Und versuchen, damit zu leben.

    Ein Foto geht um die Welt Nur Minuten nach dem Attentat: ganz links SVP-Kantonsrat Karl Betschart, neben ihm der verletzte Partei-kollege Moritz Schmid.

    es bleiben Fragen und Narben

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    Betschart ist nicht das einzige unver-letzte Opfer, das Narben davonträgt. Und anfällig ist für Retraumatisierungen. Ein Ratskollege trat aus der Politik zurück, nachdem er Jugendliche mit einer Waffe verfolgt hatte, weil diese sein Haus mit Schneebällen beworfen hatten. Geprägt vom Attentat wollte er sich wohl nicht noch einmal so wehr-los fühlen wie damals im Ratssaal.

    Im Februar 2002 wurde Friedrich Leibachers Asche nahe Portugal in den Atlantik gestreut. Karl Betschart sagt, er könne Leibacher «niemals» verzeihen, Moritz Schmid sagt, er weine jetzt viel

    schneller und öfter und noch heute habe er «den Geruch von Pulverdampf und Blut in der Nase».

    die Mutter des Zuger attentäters, Martha Leibacher, schickt den Angehörigen später einen Brief. Man habe ihr gesagt, schreibt sie, als 85-jährige Mutter sei sie nicht mehr verantwortlich für ihren bald 60-jährigen Sohn. «Trotzdem war Fritz mein Kind, und das Leben jeder Mutter ist mit dem Leben des Kindes eng verbunden. Deshalb trägt mein Herz mit an der grossen Schuld, die er auf sich geladen hat.»

    Zahlen und FaKten

    uDie OpFer 3 Regierungsräte und 11 Kantonsräte sterben, 18 Ratsmitglieder und Medienleute werden zum Teil schwer verletzt uAnlAuFsTelle Eine neu geschaffene Ombudsstelle vermittelt bei Schwierigkeiten zwischen der Bevölkerung und den Zuger Behörden, in acht Jahren werden 1833 Fälle bearbeitet uDie FOlgen Im Bundeshaus, aber auch in vielen lokalen Parlamenten und Büros werden die Zutrittskontrollen massiv verschärft

    «Reisst alte Wunden wieder auf» Betschart mit einem Foto von einem Eishockey-Match 2004 in Zug. Ein gegnerischer Fan schockiert damals mit einem «Danke Leibacher»-Plakat.

    Text Marcel huwyler Fotos KatJa lehnergrossi, Marcel nöcKer

    beide sagen, sie seien ruhiger geworden, weicher auch und – für Politiker ein seltsames Wort – väterlicher. Und beide betonen, sie könnten nicht mehr streiten. Moritz Schmid aus Walchwil ist Fraktionschef der Zuger SVP, da müsse er, sagt der 62-Jährige, schon von Amtes wegen streiten. «Es ist mir nicht immer wohl dabei.» Karl Betschart, der 65-jährige Kaufmann, ist heute Gemeinderat in Baar und überzeugt, dass er seit dem Attentat am 27. September 2001 sach-licher politisiere «und weniger auf den Mann ziele». Man zuckt zusammen. Er sagt «zielen». Hat es allem Anschein nach aber nicht gemerkt. «Zielen.» Poli-tikerjargon halt, im Kanton Zug jedoch ein schwer be ladenes Wort, erst recht für ihn, für Betschart, der damals als einer der letzten den Ratssaal verliess,

    über Patronenhülsen, Verletzte und Tote steigen musste, um ins Freie zu gelangen. Und dort auf seinen Partei-kollegen Moritz Schmid stiess, der die blutende, Fünfliber-grosse Schuss wunde an seiner linken Hand zu versorgen versuchte. In diesen Moment macht ein Fotograf ein Bild, welches wie kein anderes die ganze wahnsinnige Situation erfasst – und später Pressebild des Jah-res wird.

    auch zehn Jahre nach dem attentat geistert Amokläufer Friedrich Leibacher durch die Seelen der Men-schen. Und durch ihren Schlaf. Letzthin hat Moritz Schmid von ihm geträumt, auf seinem Lieblingsweglein wanderte er dem Rigi-Ostfuss entlang, da trat der Mörder ihm entgegen, mit einer Waffe in der Hand. «Ich will von dem Typ nichts mehr hören und wissen», sagt Schmid mit viel Wut in der Stimme, er starrt auf den Zugersee hinaus und knetet den vernarbten Rücken seiner täglich schmerzenden, unbrauchbar geworde-nen linken Hand. Zehn Jahre sind seit dem Attentat vergangen, und eigentlich mag Moritz Schmid nicht mehr darüber reden. Andere reden umso mehr da-rüber, sagt er, andere, jüngere Politiker,

    die gar nicht dabei waren damals, aber heute so tun, wie wenn sie alles mit -erlebt hätten. Das widert ihn an. Die ersten zwei Jahre hat er noch Zeitungs-artikel gesammelt, Untersuchungs-berichte geordnet, seinen Aktenkoffer mit den Schussspuren gezeigt, dann packte er alles auf den Estrich, und heute sagt er, werfe vielleicht er den «ganzen Plunder» einfach weg. Oder doch aufbewahren? Um seinem Enkel dann mal alles zu zeigen und zu er-klären? Sein Enkel, das Büblein … zum ersten Mal an diesem schönen warmen Nachmittag lächelt Moritz Schmid.

    Karl Betschart bewältigt das attentat mithilfe von vier schwarzen Bundesordnern, gefüllt mit Briefen von lieben Menschen und Zeitungsartikeln über den Amoklauf. Archiviert sind auch die Bilder jenes Eishockeyspiels von 2004 in Zug, als ein gegnerischer Fan mit dem Transparent «Danke Leibacher» schockierte. Betschart blättert auch immer wieder im «Untersuchungsrich-

    terlichen Schlussbericht», 29 Seiten dick, gegen «Leibacher Friedrich Heinz, geb. 21. 07. 1944 in Zug». Beschart sagt, ihm helfe es bei der Verarbeitung, wenn er möglichst viele Details kenne. Etwa, dass Leibachers Amoklauf 154 Sekunden dauerte, er 91 Schüsse abfeuerte, sich um 10 Uhr 34 und 58 Sekunden selber in den Kopf schoss. Und dass er einen Zettel auf sich trug mit der An weisung: «Mediziner: Ich, Friedrich Leibacher, AHV-Nr. 590.44.321, erkläre: Im Falle einer Verletzung will ich keine medi-zinische Hilfe, werde keine bezahlen und habe keine Versicherung. Im Todes-fall lehne ich jede Sektion od. Organ-entnahme inkl. Blut strikte ab. Ich stehe keiner Anstalt als Schauobjekt zur Ver-fügung.»

    Betschart hat nie mehr ein Schüt-zenfest besucht, Türen im Rücken erträgt er nicht, genauso wenig Krimis im Fernsehen. Er ist besinnlicher ge-worden, fährt mit seiner Frau oft mit der Bahn, da könne man in die Natur schauen und nachdenken. Und ewig wird ihn die Frage plagen: Warum legte sich ein Ratskollege beim Attentat neben mich, deckte meinen Körper ab und wurde – an meiner Stelle – erschossen?

    «Ich kann Friedrich Leibacher nicht verzeihen. Niemals» Karl Betschart

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    Aufarbeitung In seinem Büro in Zug blättert Karl Betschart in den Attentat-Ordnern.

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    Glänzen muss alles Daniel Riediker heute: Der ehemalige Swissair-Pilot ist nun Geschäftsleiter der Amag in Jona SG.

    Der «gestrandete» Jet-Pilot daniel riediKer wurde zum Symbol für das grounding der swissair. Heute verkauft Riediker Autos. Und die gute alte Swissair? Sie darf doch tatsächlich wieder fliegen!

    Vom Swissair- z um auto-Piloten

    Schwarzer herbSt 2001

    In den Sand gesetzt Dieses Foto steht stellvertretend für das Aus der Swissair. Es zeigt Pilot Riediker am Strand von Rio de Janeiro.

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    Durchmesser trägt den Namen Swissair. Zudem hat sich die Swiss die Marke Swissair gesichert und sie ausgeliehen an die Flugsportgruppe Swissair in Hausen am Albis ZH, deren Sport-maschinen nun das schöne alte Swissair-Logo wieder in die Luft tragen dürfen (siehe Box linke Seite).

    groundingpilot Daniel Riediker vermisst die Fliegerei, gibt er ganz ehr-lich zu. Im Militär darf er noch die F-5 Tiger fliegen, was ihm den Kontakt zu seinen Kollegen und zu seinem Hand-werk ermöglicht. Er sagt: Vor allem die Grundwerte jeder Flugcrew – Ehrlich-

    keit, Zuverlässigkeit, Vertrauen – haben in der «restlichen Privatwirtschaft» ei-nen anderen Stellenwert als im Cockpit. Verbittert? «Nein, um eine Erfahrung reicher.» Riediker erzählt, wie er letzthin nach Nizza geflogen ist. «Fliegen macht nur dann Spass, wenn man vorne sitzen darf.» Aber er weiss auch um die Vor teile des neuen Berufslebens. Seine Frau und die vier Kinder freuen sich, dass er nun jeden Abend daheim ist. Auch schläft er besser, die Piloten-typische latente Müdigkeit ist weg. Und trotzdem, sagt er, es stimme halt schon: einmal Pilot, immer Pilot. Ab und zu kommen

    ehemalige Swiss-Kollegen bei ihm im Geschäft vorbei und interessieren sich für ein neues Auto. Dann wird gefach-simpelt, der Piloten-Jargon gepflegt, vom «schönsten Büro der Welt» erzählt. Nicht immer einfach für Riediker. In zwei Jahren verfällt seine Lizenz als Linien-pilot. Dann wird er definitiv nur noch Auto-Pilot sein.

    «Das Undenkbare war passiert, und dies schlug nachher in Wut und Aggression um» Beatrice tschanZ, daMals srsprecherin

    Zahlen und FaKtenuVOr gerichT Im März 06 wird gegen 19 frühere Swissair-Verantwortliche Anklage erhoben. Im Urteil vom 7. Juni 07 werden alle Angeklagten vollumfänglich freigesprochen ueinDrücKlich Zwi-schen 1931 und 2002 transportiert die Swissair über 260 Millionen Passagiere uDer Film 2006 ist das Airline-Ende auch im Kino zu sehen. Mit dem Schweizer Spielfilm «Grounding – Die letzten Tage der Swissair»

    Die Swissair – am Boden Die stolze Flotte wird gegroundet. Am Flughafen Zürich werden die Maschinen parkiert. Ein Stich ins Herz der Schweiz. Oder wie Swissair-Kommunika-tionschefin Beatrice Tschanz sagt: «Eine Schande.»

    Text Marcel huwyler Fotos Marcel nöcKer, FaBienne Bühler

    Seine Augen beginnen sofort wie-der zu leuchten. Wenn er vom «schönsten Büro der Welt» spricht. 16 Jahre sass Daniel Riediker im Cockpit von Linienflugzeugen, er pilotierte Fokker 100, Jumbo, MD-11 und zuletzt Airbus 330/340, jettete um die ganze Welt, sah exotische Länder, die Sterne und sämtliche Blautöne des Himmels. Dann, am 2. Oktober 2001, kam der G-Day, der Grounding-Tag.

    Riediker flog damals von Rio de Janeiro nach Buenos Aires, Kurs SR 143. Während des Fluges erhält die Crew die Hiobsbotschaft aus Kloten, Flugzeug und Besatzung kehren nach Rio zurück. Hier schiesst der Maître de Cabine ein Foto von Riediker – mit Shorts, Uniform-hemd und -mütze, in Rodins Denkerpose an der Copacabana sitzend – und ge-winnt mit dem Bild den Pressefoto-Preis. Die Aufnahme vom «gestrande-ten» Swissair-Piloten wird zum Symbol für die gegroundete Schweizer Airline.

    heute handelt daniel riediker mit autos. In Jona SG ist er Geschäfts-leiter der Amag. Airbag statt Airbus. Da steht er und wischt mit seinem Stoff-taschentuch Fingerabdrücke von der Kühlerhaube eines Audis. Noch immer versprüht der 45-Jährige seinen Piloten-Charme, nach wie vor das bestimmte, seriöse und Sicherheit vermittelnde Auf-treten, mit dem er früher Passagiere bei Turbulenzen beruhigte und heute das Vertrauen der Kunden gewinnt. Auch wenn er Kaufinteressierten Kaffee an-

    bietet und Tasse und Rähmchen dra-piert, merkt man, dass er früher auch in der Galley, der Flugzeugküche, hin und wieder gerne mal aushalf.

    am 2. oktober 2001 um 16.17 uhr hallt durch den Flughafen Zürich über Lautsprecher eine nüchterne, dennoch freundliche Frauenstimme: «Aus finan-ziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durch-zuführen.» Charmanter ist nie zuvor ein Desaster verkündet worden – Swissair-Standard halt, bis zuletzt. Allein an dem Tag werden 262 Flüge annulliert, welt-weit stranden 19 000 Passagiere, und Abertausende Tickets sind wertlos. Dann die Entlassungen: 10 000 Swissair-ler verlieren ihren Job, immerhin 6000 von ihnen stellt die Swiss später wieder ein. Im Ausland bewirkt das Grounding weitere 15 000 Entlassungen. Es ist die grösste Wirtschaftspleite der Schweiz.

    Daniel Riediker hatte Glück, die Swiss «übernimmt» ihn, er fliegt sieben Jahre lang weiter und sei, sagt er, weit entfernt gewesen vom «Zustand unhappy». Und doch – er wägt seine Worte vorsichtig ab – habe es bei der Swiss «gewisse Entwicklungen» gege-ben, die ihm nicht gefielen. Ein Kollege offeriert ihm den Job bei der Amag, und Riediker, schon immer ein Auto-Fan, packt die Chance. Mit 10 000 Flugstun-den auf dem Buckel, 13 Jahre Erfahrung als Instruktor und nur gerade ein Jahr vor der Beförderung zum Captain kün-digt er. «Kein leichter Entscheid.»

    «der schock über das grounding war gewaltig», sagt Beatrice Tschanz, damals Kommunikationschefin der Swiss-air. «Das Undenkbare war passiert, und

    dies schlug nachher in Wut und Aggres-sion um.» Die Menschen im Cockpit, in der Kabine und am Boden hätten die Mar-ke Swissair zur Weltspitze gebracht! Sie waren, sagt Tschanz, «The Brand», und sie waren die Besten. «Ihre Dienstleis-tungsbereitschaft kannte kaum Grenzen, und sie standen für Schweizer Qualität, Schweizer Zuverlässigkeit und Schweizer Freundlichkeit. Tempi passati …»

    Matthias Mölleney, der letzte Perso-nalchef der Swissair, sagt, immerhin hät-ten die Verantwortlichen in der Schweiz daraus gelernt, das sei das einzige Posi-tive am Grounding. «Ich glaube nämlich, dass die späteren, schlimmeren Krisen wie die um die UBS weniger gut be-wältigt worden wären, wenn es nicht die Erfahrung mit dem Scheitern der Swissair-Rettung gegeben hätte.»

    Und trotz dem Grounding – die Swissair fliegt noch immer. Zweifach sogar: Ein im Jahre 1968 entdeckter Asteroid (Nr. 2138) mit 12,7 Kilometern

    uDie gute alte Swissair ist wieder in der Luft. Die Swiss hat sich 2009 die Markenrechte für den Namen Swissair gesichert. Damit dieses Recht nicht verloren geht, muss die Marke aktiv betrieben werden. Auf dem Flugplatz Hausen am Albis operiert darum heute die SFSwissair, die Sportfluggruppe Swissair, deren kleine Flotte von Motor-flugzeugen das berühmte Logo tragen darf. SFSwissair betreibt zudem eine Flugschule, welche die gesamte Aus-bildungs-Palette der Fliegerei (bis hin zum Linienpiloten) anbietet. Chef- Fluglehrer ist Roland Peier, ein Ex- Swissair-Pilot. Die SFSwissair unterrichtet derzeit 18 Grundschüler. Infos unter www.sfswissair.ch

    die swissair Fliegt

    Inklusive Swissair-Logo Fluglehrer Peier mit einer Cessna.

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    Aus glücklichen Tagen Ein Foto aus dem Sommer 2000: Otto Schwarz aus Rüegsau BE mit seiner damals dreijährigen Tochter Nicole.

    «Du musst für die Kinder stark sein» Susanne Schwarz, 44, trägt noch immer ein Foto ihres Mannes im Portemonnaie.

    Elf Menschen sterben beim Brand im Gotthardtunnel. Das einzige Schweizer Opfer ist der Lkw-Chauffeur otto schwarZ. Erstmals spricht seine Frau susanne über das Unglück.

    Inferno Zwei Lkws prallen am Morgen des 24. 10. 01 im Gotthardtunnel zusammen und fangen Feuer. Es herrscht eine Hitze von 1200 Grad. Vielen gelingt die Flucht, doch elf Menschen sterben.

    «bäppu liebte Lastwagen»

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    otto schwarz’ leiche wurde nahe am Südportal gefunden. Man nimmt an, dass er Flüchtenden half, mehrmals zu-rückrannte, bis es für ihn selber zu spät war. Es sei zwar ein Trost, zu wissen, dass ihr Mann andern geholfen habe, sagt Susanne, und doch – sie zögert, darf sie das sagen? –, doch wäre es ihr lieber, Otto wäre einfach losgerannt und hätte sich selber gerettet. Zehn Jahre hat die Frau ihre Familie durchgeboxt, hat geschaut, gekämpft, oft stumm gelitten. Nicole Schwarz, heute 14, erinnert sich, wie sie an Bäppus Beerdigung am Grab

    stand «und Mami meine Hand so fest drückte, dass es wehtat».

    Jannik könnte sich vorstellen, später als Lkw-Chauffeur zu arbeiten. Ein heikles Thema? Überhaupt nicht, sagt Susanne Schwarz, das Leben gehe doch weiter. «Jannik mag Lastwagen, sein Bäppu liebte Lastwagen, so ist das, und es ist in Ordnung so.»

    Otto Schwarz’ Grabstein steht auf dem Friedhof Rüegsau, ein schwarzer Granit, darauf eingraviert sein Name, sein Geburts- und Sterbedatum – und ein Bild seines Lastwagens.

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    uAuslöser Ein für ein belgisches Unter-nehmen fahrender türkischer Chauffeur prallt in einen italienischen Lkw uOpFer Von den elf Opfern sterben zehn an Rauchvergiftung, ein Mensch verbrennt uDie FOlgen Bessere Tunnel belüftung und Fluchtwegbeleuchtung. Ein neues «Tropfensystem»: Der Durchlass wurde auf 1000 Einheiten pro Richtung und Stunde gesenkt, ein Auto gilt als eine Einheit, ein Lkw entspricht drei Einheiten

    Text Marcel huwyler Fotos Kurt reichenBach

    a ls der Rettungstrupp Otto Schwarz findet, nahe am Süd-ausgang des Gotthardtunnels bei Airolo, tot, erstickt an den giftigen Rauchgasen, hat er die Hand zur Faust geballt. In ihr finden die Gerichtsmedi-ziner später ein zerknülltes Foto, ein Familienbild, darauf seine Frau Susanne und die Kinder Jannik und Nicole.

    «Zehn Jahre», sagt Susanne Schwarz heute, «sind eine lange Zeit», und das sei gut so, man müsse selbst mit einer so schlimmen Sache abschliessen können, weitermachen, weiterschauen, weiter-leben halt, irgendwie … Trotzdem kommt es der 44-Jährigen vor, als sei es gestern gewesen, als Otto sich frühmorgens von ihr verabschiedete und versprach, zum Znacht sei er dann wieder daheim.

    Geblieben ist der Familie nur Ottos Lkw-Namensschild mit den silbernen Lettern. Der schwarze Lack hat an einigen Stellen Hitzeblasen geworfen, auch das Berner und das Schweizer Wap-pen zeigen Blessuren. 1200 Grad herrsch-ten damals in der «zona rossa», wie die Tessiner Retter den Unfallort nannten.

    otto schwarz, 35 Jahre alt, aus rüegsau im Emmental, fuhr Lastwagen für die Firma seiner Schwiegereltern, die Flückiger Transport AG. Am Morgen des 24. Oktober 2001, es ist ein Mittwoch, lenkt er seinen gelb-blauen Lkw mit den aufgepinselten Flammen an der Kabi-nentür durch den Gotthardtunnel. Noch heute fahren zwei Lkws gleichen Typs mit gleicher Lackierung herum. Deren Anblick lässt Susanne Schwarz jedes Mal

    einen Moment lang erstarren und nach-denken. Und zurückdenken.

    Auf seiner Fahrt durch den 16,9 Ki-lometer langen Strassentunnel wird Otto in seiner Fahrerkabine wohl Ländler-musik gehört haben. «Denn Bäppu mochte Schwyzerörgeli am liebsten», sagt sein Sohn Jannik. Er begleitete als Sechsjähriger seinen Vater hin und wie-der auf eine Tour. Der heute 16-Jährige hat das «Otto»-Schild in seinem Zimmer aufgestellt, auch eine Jacke des Vaters bewahrt er auf und trägt sie manchmal. Jannik lernt Landschaftsgärtner, trai-

    niert im Hornussen-Verein, und seine Mutter erwähnt – mit Stolz, aber auch Schmerz in der Stimme – wie sehr Jan-nik sie, mit seinen Worten und Gesten, zunehmend an ihren Mann erinnere.

    um 9.44 uhr kommt es im Gott-hardtunnel zu einer Frontalkollision zweier Lkws, 975 Meter vom Südportal bei Airolo entfernt. Feuer bricht aus, Tanks explodieren, Beton platzt, die De-cke stürzt auf hundert Metern Länge ein, unvorstellbare Hitze und giftige Gase wälzen sich vorwärts – der Tunnel wird zum Schmelztiegel. Elf Menschen ster-ben, zehn Ausländer, ein Schweizer.

    reto habermacher, damals wie heute Urner Polizeikommandant, spricht rückblickend vom «schwärzesten Tag in meiner 16-jährigen Tätigkeit». Alle wuss-ten, sagt er, dass so etwas geschehen kann, aber man hoffte, dass es nie pas-sieren würde. Habermacher fährt seither nur ungern durch den Gotthardtunnel. «Wenn immer möglich weiche ich auf die Passstrasse aus, obschon ich weiss, dass dieser Weg nicht sicherer ist.»

    Auch für Susanne Schwarz ist es undenkbar, den Gotthardtunnel zu passieren, den Ort zu sehen, wo Otto starb. Seit dem Unglück fürchtet sie sich vor Tunnels aller Art. Letzthin fuhr sie mit dem Auto in einen Stau, kam aus-gerechnet in einem Tunnel zum Stehen, ein ganz kurzer nur seis gewesen. «Doch ich erlebte grauenvolle Minuten.»

    im radio hört sie vom Unglück im Gotthardtunnel, ruft ihren Mann auf dem Handy an, immer wieder, wohl hundert Mal, den ganzen Tag. Klar kamen schlim-me Gedanken auf, sagt sie, doch man ver-

    dränge diese sofort, weil doch nicht sein kann, was nicht sein darf. Wie zum Trotz macht sie Znacht, Kartoffelsuppe, und ist überzeugt, Otto werde sich bald an den Tisch setzen. Irgendwann dann die Todesnachricht und die Bitte der Behör-den, ins Tessin zu fahren, zwecks Identi-fizierung des Ehemannes. Selbst jetzt will sie Ottos Tod nicht wahrhaben, ver-mutet eine Verwechslung und verspricht den Kindern: «Ich bringe ihn euch wie-der heim.» Und Jannik gibt ihr ein Kissen mit ins Tessin, «damit sich Bäppu auf der Heimfahrt ausruhen kann».

    «Ich wollte nicht glauben, dass Otto tot ist. Wie zum Trotz machte ich Znacht und wartete auf ihn» susanne schwarZ

    Familie Schwarz Susanne, 44, mit Jannik, 16, und Nicole, 14, daheim in ihrer Stube. Ottos Lkw-Namensschild hat dem Höllenfeuer widerstanden.

    Ottos Lastwagen Noch heute fahren zwei Lkws mit der gleichen Bemalung herum.

    Schwarzer herbSt 2001

  • 42 schweizer illustrierte

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    Schwarzer herbSt 2001

    Aus heiterem Himmel

    Der Schwarze Herbst 2001 erwischte uns auf dem falschen Fuss. Wir waren eben dabei, uns auf eine längere Zeit der Gemütlichkeit ein-zustellen. Das 20. Jahrhundert lag hinter uns: Kriege, Holocaust und Gulag, Wirtschafts-krisen, Tschernobyl, der Kalte Krieg. Zum Millennium zündeten wir ausgelassen das

    Feuerwerk, der Himmel wirkte wolkenlos, die Zukunft rosig. Manche sprachen schon vom «Ende der Geschichte», der Kampf der Systeme schien ja entschieden, der Sieger hiess Kapitalismus; plötzlich dachten alle marktwirtschaftlich – dass es schlauer sei, voneinander zu profitieren, als sich gegen seitig tot zu schlagen.

    aus diesem heiteren himmel schlug 9/11 ein – und traf direkt unseren Nerv. Die Geschichte begann von Neuem, der Feind hiess jetzt «Terror», er hatte kein Gesicht, aber eine Handschrift: monströse Skrupellosigkeit. Diesem Terror ging es nicht um 3000 Tote, die nahm er gleichgültig in Kauf, er zielte auf symbolische Zerstörung, er führte Krieg gegen unsere Seelenruhe, kränkte unser Selbstbewusstsein. Mit dem Anschlag auf die Twin Towers sollten wir in unserer Ohnmacht vorgeführt werden.

    Entsprechend reagierten wir mit einem Gemisch aus Wut und Scham. Dass dies keine Katastrophe unter anderen sei, war rasch klar, das war eine neue Gangart «des Bösen». «Unglaublich», sagten alle, «unfassbar.» Undenkbar, aber äusserst durchdacht. Das Werk eiskalter Überlegung. Wer immer da Regie führte, brauchte strategisch wie taktisch ei-nen hellen Kopf, dazu ein ausdauernd hassendes Herz. Unfass-lich blieb, dass jemand so etwas tatsächlich tat. Menschen sind unter Umständen zu allem fähig, davon zeugt jeder Krieg. Neu war, dass sie aus heiterem Himmel zuschlagen und Tausende umbringen. Damit legten sie nicht nur das World Trade Cen-ter in Schutt, sie zerstörten das Grundvertrauen in die gesi-cherte Zivilisa tion. Wenn es Leute gibt, die an einem sonnigen Septembermorgen ins Flugzeug steigen, es kidnappen und mit ruhiger Hand ins Lebenszentrum New Yorks steuern können, dann können die auch unser Trinkwasser vergiften, U-Bahn-höfe mit Killerviren verseuchen. Ans Lebendige ging 9/11, weil es das Gefühl erzeugte, jederzeit und überall verletzbar zu sein. In London, in Madrid, wie sich bald zeigen sollte.

    auch in Zug? Bei aller wütenden Bestürztheit blieben wir Zuschauer – bis zum helvetischen 9/27. Attentat in Zug. Drei Regierungsräte, elf Kantonsräte erschossen. Auch diese Tat war bis dahin schlicht undenkbar. Der Attentäter Leibacher

    lag jenseits unserer Vorstellung. Sein Anschlag förderte ein Gefühl grundsätzlicher Schutzlosigkeit – und veränderte so die Vorstellung von Sicherheit im Rechtsstaat Schweiz.

    ein schock für die schweiz. Nicht nur weil quer durchs Land ein irrwitziger Sicherheitsaufwand nötig wurde – für alle Fälle! Wir mussten auch zusehen, wie sogar bei uns, wo die Welt noch in Ordnung schien, einer durchdreht und reihen-weise Menschen niedermäht. Einer von uns, kein Taliban. Bloss weil er sich von der Rechtspflege nicht fair behandelt fühlte. Das erschütterte unser Vertrauen in die Normalität des Normalen.

    Und rief nach Vergeltung. Bloss wie? Die USA zogen nach 9/11 in den Krieg gegen «Schurkenstaaten», die «Achse des Bösen». Uns fehlte der Feind. Leibacher hatte sich selbst er-schossen, ein Einzeltäter, seltener als verheerende Sturm fluten. Auch unerträglicher. Die Natur ist Übermacht, kriminelle Mons-ter müssen wir im Griff haben. Egal wie. Dass Zug nie mehr passieren darf, darin waren alle einig. Also: Prävention pushen. Sicherheitslöcher stopfen. Spinner und Verdächtige im Zweifels-fall verwahren. Wenigstens streng überwachen, abhören? Je böser der Feind, desto geringer der rechtsstaatliche Skrupel.

    das Böse fand mit 9/11 und 9/27 eine neue Waffe. Atten-tate hat es immer schon gegeben, gegen Cäsaren, Kaiser, Zaren. 2001 kamen wahllos Unbeteiligte um, Feuerwehrleute, Sekretärinnen, Banker, linke wie rechte Politiker. Wo der Hass auf das «System» blind durchschlägt, sind wir alle in der Schusslinie. In New York die liberale Gesellschaft. In Zug die Demokratie. In beiden Fällen kam die Attacke aus heiterem Himmel – um unser Sicherheitsvertrauen zu verletzen. Ist das gelungen?

    Jedenfalls trauen wir seither dem Schicksal nicht mehr über den Weg. Schicksal ist, was wir nicht kontrollieren können. Schweinegrippe, Minarette, Super-GAU. Je diffuser die Gefahr, desto intensiver die Angst. Wir glauben gar, nie zuvor sei das Leben so riskant gewesen. Dabei war es nie so sicher wie heute. Nur dass damals die Gefahren (Hunger, Krieg, Pest) real waren, während wir heute auf unwahrschein-lichste Risiken panisch reagieren.

    der herbst 2001 nährte unsere gefühlte Bedrohung. Dass auch sie tödlich ausgehen kann, zeigt folgende Statistik: Nach 9/11 nahmen Amerikaner aus Angst vor Terror in der Luft öfter das Auto. Resultat: Innert Jahresfrist starben auf den Strassen 1500 Menschen mehr als sonst. Das Unfass-bare des Terrors kippt leicht in irrationale Reaktionen. Dann ist das terroristische Kalkül aufgegangen.

    Ludwig Hasler, geboren 1945, ist Publizist und Philosoph. Sein aktuelles Buch: «Des Pudels Fell, Neue Verführung zum Denken».