Schweizer Monat, Sonderthema 17, August 2014

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DIE AUTORENZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, WIRTSCHAFT UND KULTUR Wir sind Wirtschaft. Aber die Angriffe auf den breiten Wohlstand häufen sich.Warum? SONDER THEMA Antworten und Analysen: Silvio Borner, Reiner Eichenberger, Christoph Schaltegger, René Scheu, Tito Tettamanti, Kaspar Villiger. Im Portrait: Zeynel Demir, Emilija Hristova, Carlos Ruiz, Olga Steidl.

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Wir sind Wirtschaft. Aber die Angriffe auf den breiten Wohlstand häufen sich. Warum?

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D i e A u t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h A f t u n D k u l t u r

Wir sind Wirtschaft.Aber die Angriffe auf den breiten Wohlstand häufen sich.Warum?

SONDERTHEMA

Antworten und Analysen: Silvio Borner, Reiner Eichenberger, Christoph Schaltegger, René Scheu, Tito Tettamanti, Kaspar Villiger. Im Portrait: Zeynel Demir, Emilija Hristova, Carlos Ruiz, Olga Steidl.

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So viele wirtschaftsfeindliche Initiativen wie aktuell waren noch nie. Die Schweiz

kommt nicht zur Ruhe. Steuergerechtigkeitsinitiative, 1:12-Initiative,

Erbschaftssteuerinitiative, Mindestlohninitiative, Initiative für ein bedingungs-

loses Grundeinkommen, die Ecopop-Initiative zur Beschränkung von Bevölkerung

und Wachstum: All diese Vorstösse zielen auf eine Korrektur angeblicher

gesellschaftlicher Ungleichheiten und wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten.

Zwar hat die Mehrheit der Bürger den neokollektivistischen Avancen bisher halbwegs erfolgreich

getrotzt. Aber allein der Umstand, dass sie in dieser massierten Form überhaupt zur Disposition

stehen, bedeutet zweifellos eine Wende, über die sich nachzudenken lohnt. Dies umso mehr, als

diese Initiativen bloss die Spitze des Eisbergs bilden – die grosse Masse aus wirtschafts-

und marktfeindlichen Steuern, Regulierungen und Verhaltensvorschriften, die kaum Thema

öffentlicher Debatten sind, hat ihren Ursprung im Parlament und vor allem in der Verwaltung.

Wer sich angesichts all dieser Avancen auf ein bestehendes «Erfolgsmodell» Schweiz beruft,

macht es sich zu leicht – nur schon deshalb, weil sich Erfolg nicht verwalten lässt.

Die Schweiz ist keine gottgegebene Komfortzone. Wenn schon, so ist der Erfolg das Ergebnis

riskanten unternehmerischen Handelns, individuellen Engagements, existenziellen Stresses,

politischer Klugheit und gewachsener Institutionen. Dieses Modell, sofern es denn eines ist,

verlangt nach Begründung. Nach Fakten, Zahlen und Analysen.

Ist die Schweiz also in den letzten Jahren wirtschaftsfeindlich(er) geworden?

Klar ist: verzerrte Selbstbilder dominieren den veröffentlichten und somit auch den öffentlichen

Diskurs. Die Schweiz ist keine Zweiklassengesellschaft, sondern eines der egalitärsten Länder

des Westens – sowohl mit Bezug auf Einkommen als auch auf Vermögen. Die Schweiz ist

keine Oligarchie, sondern ein Wirtschaftsraum mit hoher sozialer Mobilität. Die Schweiz ist kein

Steuerparadies, sondern eine Steuerhölle – die hiesige Progression erreicht europäische

Spitzenwerte. Die Schweiz ist kein schlanker Staat, sondern einer der teuersten der Welt – wobei

die realistisch gerechnete Staatsquote mittlerweile 50 Prozent beträgt.

Wir wollen mit dieser Publikation einen Beitrag zur Korrektur bestehender Wahrnehmungsverzer-

rungen leisten – und zur Bildung eines vernünftigen ökonomischen Urteils.

Erfolg lässt sich nicht verwalten, Erfolg lässt sich nur immer wieder neu erarbeiten. Die Schweiz

kann sich den Luxus, schlecht über das Gute und gut über das Schlechte zu reden, eigentlich nicht

leisten. Die Wirtschaft, das sind nicht die anderen. Wirtschaft, das ist jeder von uns.

Das sind WIR alle.

Erhellende Lektüre!

René Scheu

Herausgeber & Chefredaktor

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Schweizer Monat SonDertheMa 17 SePteMBer 2014

1 über den helvetischen kompromiss Tito Tettamanti 6

2 schweizer – schlafende Wirtschaftsfreunde Reiner Eichenberger 8

3 Die soziale frage Christoph A. Schaltegger 16

4 Wo ist die liberale konterrevolution? Kaspar Villiger 22

5 Der luxus, sich arm zu fühlen René Scheu 30

6 Der Preis des engagements Silvio Borner 32

leistungsträger im Gespräch von Florian Oegerli

Zeynel Demir 11 und 13 | Emilija Hristova 26 | Carlos Ruiz 27 | Olga Steidl 33

4

Inhalt

Schweizer Monat SonDertheMa 17 SePteMBer 2014

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3311 08In den USA ist es kein

Problem, wenn dein

Start-up scheitert.

Du fängst einfach wieder

von vorne an.

Olga Steidl

Wenn ich es den Leuten

ermögliche, ihr eigenes

Dönerrestaurant zu

führen, öffne ich ihnen

eine Tür.

Zeynel Demir

Der Schweiz geht

es gut – aber nur im

Vergleich mit Kranken

und Fusslahmen.

Reiner Eichenberger

16 22Die Einkommens­konzentration in der Schweiz war Anfang der 1970er Jahre stärker ausge­prägt als heute.Christoph A. Schaltegger

Der Erfolg der Schweiz hat neben glücklichen Zufällen viel mit den Institu­tionen und einer besonderen politi­schen Kultur zu tun.Kaspar Villiger

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Josef Ackermann, photographiert von Suzanne Schwiertz.

1 über den helvetischen kompromissIm Luxus gedeiht das frivole Denken. Junge, smarte Sozialisten arbeiten in der Schweiz an einer neorealsozialistischen Wende. Nicht nur ältere Genossen, auch viele Kirchenleute, Professoren und Publizisten applaudieren. Mit guten Gründen?

von Tito Tettamanti

Mit ihrer jetzigen Haltung hat die Linke zwar zu ihren dogma-tischen Ursprüngen zurückgefunden, aber sie hat auch den «hel-vetischen Kompromiss» gekündigt.

Nützlicher KompromissGewiss, Kompromisse sind stets unbefriedigend. Beide invol-

vierten Parteien müssen auf einen Teil ihrer Forderung verzichten und mit dem Zweifel leben, dass sie vielleicht doch zu viel nachge-geben haben. Aber Kompromisse können auch nützlich sein – ge-rade für ein auf Ausgleich bedachtes Land wie die Schweiz. Die So-zialdemokraten und die Vertreter einiger anderer linker politischer Strömungen sind in unserem bürgerlich dominierten Land seit je nominell in der Minderheit. Die Mehrheit von ihnen sah sich nach all den Pleiten zahlreicher alternativer Gesellschafts- und Wirt-schaftsmodelle im Laufe des 20. Jahrhunderts gezwungen zuzuge-ben, dass die auf Eigentum basierende Marktwirtschaft mit all ihren Unvollkommenheiten jedem anderen System überlegen ist. Nur sie schafft Reichtum und Wohlstand für alle. Punkt.

Aber der Wettbewerb, der in einer Marktwirtschaft spielt, kann zu Situationen führen, die einen Ausgleich nötig machen. Für ihre Anerkennung der Verdienste der Marktwirtschaft hat sich die pragmatische Linke Gegenleistungen ausbedungen. Der erwirtschaftete Reichtum soll nachträglich teilweise stark umver-teilt werden – und ja, es stimmt: diesbezüglich hat die Linke im letzten Jahrhundert viel erreicht.

Die steile Progression in der Besteuerung und die Begrenzung der AHV-Leistung für Gutverdienende unbesehen der einbezahl-ten Beiträge sind zwei Säulen der Umverteilung. Man führe sich darum vor Augen, anderslautendem Medientenor zum Trotz: In der Schweiz zahlen 10 Prozent der Steuerpflichtigen 77 Prozent der Bundessteuern; es sind jene mit einem hohen Einkommen. Von den 4,8 Millionen Steuerpflichtigen ist eine Million auf Bun-desebene von den Steuern befreit. Und wer eine AHV-Rente be-

Fichte, Hegel, überhaupt die Idealisten haben hierzulande ei-nen schweren Stand. In der Confoederatio Helvetica zieht man

dem stets netten Utopismus für gewöhnlich den stets soliden Rea-lismus vor. Zu Recht. Allerdings geht der Eifer für Bodenständig-keit zuweilen auch zu weit – auf Kosten einer echten Debatte. Denn auch die Realisten sollten es sich nicht zu leicht machen: Was die menschliche Welt letztlich antreibt, sind die Ideen, die unsere Köpfe bevölkern.

Eine dieser Debatten betrifft die «Überwindung des Kapitalis-mus». Statt den Kopf zu schütteln, sollten die Anhänger von freier Marktwirtschaft und offener Gesellschaft lieber streiten – mit of-fenem Visier (sic!). Angezettelt wurde die Debatte von den Juso (Jungsozialisten); die etablierten Genossen haben an der Partei-versammlung der Sozialdemokratischen Partei Schweiz in Lau-sanne gekuscht und das alte Bekenntnis erneuert. Die Juso sind nicht nur unerschrocken, sondern auch – dies sei ihnen zugestan-den – höchst geschichtsbewusst und marxistisch belehrt.

Zusammen mit gleichgesinnten Bewegungen haben sie mit der nicht immer enthusiastischen Unterstützung der Mutterpar-tei eine Reihe von Initiativen lanciert, die einen einzigen Zweck verfolgen: die neorealsozialistische Wende mit direktdemokrati-schen Mitteln herbeizuführen. Über die Begrenzung der Saläre in den Firmen (1:12, frei nach Marx: Herstellung materieller Einkom-mensgleichheit unabhängig von individueller Leistung) und die Einführung von Mindestlöhnen von 4000 Franken (frei nach Marx: Beseitigung der Lohnsklaverei) haben wir schon abge-stimmt, wobei das Stimmvolk die Initiativen mit indiskutabler Mehrheit ebenso abgelehnt hat wie seinerzeit die Forderung nach einer Erhöhung der Ferien auf sechs Wochen. Aber andere Initia-tiven werden zur Abstimmung kommen, mitunter jene über die Erbschaftssteuer (frei nach Marx: ein Schritt auf dem Weg zur Abschaffung des Eigentums) und über ein Grundeinkommen für alle (frei nach Marx: jeder nach seinen Bedürfnissen), weitere sind in Planung. Man kann einwenden, dass auch in der Vergangenheit die Linke ähnlich gerichtete Vorlagen lanciert habe, beispielsweise über eine Kapitalgewinnsteuer und kürzere Arbeitszeiten (2001 und 2002). Der Punkt ist jedoch: sie waren nicht Teil eines ge-samtprogrammatischen Vorgehens.

tito tettamantiist Anwalt, Unternehmer, Financier und Autor. Er wurde in Rechtswissenschaften promoviert und war Tessiner Regierungsrat (CVP).

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zieht, kriegt maximal leicht mehr als 2000 Franken im Monat, un-geachtet dessen, wie hoch die Beiträge waren, die er während sei-nes Arbeitslebens einzahlte.

Das ist der helvetische Kompromiss. Warum wird er nun plötz-lich in Frage gestellt? Woher kommt diese Unzufriedenheit, zumal angesichts einer wirtschaftlichen und sozialen Lage, um die uns unsere Nachbarn beneiden? Mein Verdacht: die Frage führt, so ge-stellt, in die Irre. Denn es ist gerade im Luxus, wo das frivole Denken und Handeln gedeiht – der Reichtum scheint naturgegeben, es geht bloss noch darum, ihn nach angeblich gerechten Kriterien zu ver-teilen. Erste These: die heutigen neorealsozialistischen Bewegun-gen sind eher ein Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung. Zweite These: sie leiden an einem Mangel an historischem Bewusstsein. Dieselben Jungen, die die Geschichte ihrer Partei bestens kennen, haben das Scheitern der kommunistischen und realsozialistischen Staaten nicht persönlich miterlebt – und halten es irrtümlich für eine Erfindung der Kapitalisten.

Gerade in den letzten Jahrzehnten ist ein tiefgehendes Ma-laise zustande gekommen: man hat feststellen müssen, dass unser europäisches Gesellschaftsmodell finanziell nicht mehr tragbar ist. Die Verschuldung der Länder, deren Explosion bis in die 1970er Jahre zurückreicht, hat eine Höhe erreicht, die nur mehr furchteinflössend ist. Die Jungen, mit den Juso an der Spitze, wol-len sich vielleicht nur holen, was noch zu holen ist – bevor nichts mehr zu holen ist.

Man hat versucht, die Ausgaben mit einer höheren Staatsbetei-ligung am Nationaleinkommen zu decken. Heute sind wir bei 50 Prozent angelangt, aber wenn wir alle möglichen Zwangsabgaben addieren, die erfinderische und kreative Bürokraten und Politiker eingeführt haben, liegen wir höher. Daher ist es nur konsequent, wenn der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch schon eine Staatsquote von 75 Prozent vorschlägt. Die Verschul-dung der europäischen Staaten ist in den letzten Jahrzehnten expo-nentiell gestiegen und liegt bei rund 100 Prozent des Bruttoinlands-produkts (BIP), mit Spitzen zwischen 120 und 160 Prozent. Dies, ohne die versteckten Schulden aus dem wohlfahrtsstaatlichen Vor-sorgesystem einzubeziehen; zählt man diese ungedeckten Ver-pflichtungen mit, landet man bei 300 bis 400 Prozent des BIP.

Die Zentralbanken sehen sich gezwungen, die Zinsen bei rund null Prozent zu halten – müssten viele Staaten Marktzinsen für ihre Schulden bezahlen, wären sie heute schon pleite. Die Kosten dieser indirekten Subventionierung tragen Sparer, Pensionierte, Versicherte – die Bezüger von morgen, also die Jungen von heute.

Es braucht keine Ratschläge von Nobelpreisträgern, um sich darüber klar zu werden, was in einer solchen Lage zu tun ist. Wer auf die Dauer mehr ausgibt, als er einnimmt, muss – sparen. Das Problem ist nur: Was bei Privatfirmen und Familien möglich ist, kommt auf Staatsebene nicht in Frage.

Die Staaten sind überdimensionierte Verteilungsmaschinen geworden, an die sich viele Bürger gewöhnt haben. Niemand will freiwillig auf die eigenen Pfründen verzichten, und die Politik ist

zu feige und zu kurzsichtig, um echte Reformen einzuleiten. Wer es dennoch wagen sollte, riskiert, abgewählt zu werden.

Selbst wer das Ausmass des Malaise begriffen hat, hofft dar-auf, dass andere die Zeche bezahlen. Die Politiker tun so, als hät-ten sie die Lage im Griff – bis zur nächsten Krise. Viele Wirt-schaftsführer setzen auf direkte oder indirekte Subventionen durch den Staat, der in harten Zeiten Standortförderung betreibt. Die Alten bringen ihre Schäfchen ins Trockene. Und die Jungen mutieren zu Wutbürgern. Oder zu Neosozialisten.

Die Aufgabe der UnternehmerDie Rolle der Unternehmer, also jener, die auf eigenes Risiko

tätig sind, gewinnt angesichts der beschriebenen Lage weiter an Bedeutung.

Wenn sie scheitern, kräht kein Hahn nach ihnen; und wenn sie Erfolg haben, werden sie von aufgescheuchten Publizisten, Kirchenvertretern und Neidern als «Abzocker» beschimpft. Es gibt «Abzocker», keine Frage; gemeint sind damit aber jene, die mit dem Geld anderer Leute spielen. Wenn das Differenzierungsver-mögen des grossen Publikums schwindet, ist dies problematisch – und zwar nicht nur für die Unternehmer. Wie Deirdre McCloskey überzeugend in ihren Büchern «The Bourgeois Virtues» und «Bourgeois Dignity» beschrieben hat, wäre die kapitalistische Re-volution ohne die soziale Anerkennung, die Unternehmer und Geschäftsleute im Laufe der Jahrzehnte erworben haben, nicht denkbar gewesen. Die bürgerliche Gesellschaft, die den Adel ab-löste, hat bisher unerreichten Wohlstand geschaffen. Schwindet dieses ethische Fundament, werden alle ärmer. Wer nun behaup-tet, materieller Reichtum sei nicht alles im Leben, kann sich diese Haltung nur darum leisten, weil er mehr hat, als er zum Leben braucht.

Die pragmatischen reformistischen Sozialisten haben die Un-ternehmer nie idealisiert, aber sie waren klug genug, ihre Funk-tion als Reichtumsschaffer zu verstehen. Und sie haben durchaus recht: Der in einer Marktwirtschaft tätige Unternehmer schafft auf eigenes Risiko den Wohlstand, der die Lebensbedingungen (inklusive Arbeitsplätze) für alle verbessert. Aber man muss sich darüber im klaren sein, dass Gesetze, Reglementierungen, Staats-interventionen, Steuerlasten und diffuses Misstrauen, in einem Wort: all das, was die Marktwirtschaft fesselt und einengt, massiv die selbstgesetzten Aufgaben des Unternehmers behindern. Die Unternehmer waren nie wichtiger – und wurden nie stärker ange-feindet als heute.

Bisher haben die Schweizer Bürger sich gegenüber neorealso-zialistischen Avancen und politischer Neidbewirtschaftung als erstaunlich robust erwiesen. Sie halten den helvetischen Kompro-miss hoch – mit dem ihnen eigenen Pragmatismus. Sie tun sich damit selbst den grössten Gefallen. Dennoch ist ihre Aufgabe nicht leicht – sie haben die meisten Publizisten, Politiker, Intel-lektuellen, Professoren und Kirchenleute gegen sich. Ich wünsche ihnen – uns – dabei viel Erfolg. �

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2 schweizer – schlafende Wirtschaftsfreunde

Die Schweizer Bürger beweisen mehr wirtschaftlichen Sachverstand als ihre Politiker und die angeblichen «Eliten» der Nachbarländer. Die Erfolge der Schweiz beruhen jedoch stark darauf, dass sie oft mit Kranken und Fusslahmen verglichen wird. Illusionen sind weitverbreitet, das zeigen die harten Zahlen.

von Reiner Eichenberger

Gerne wird behauptet, die Schweizer seien in jüngster Zeit wirt-schaftskritischer geworden. Das sehe ich anders.

Mit «1:12» und dem Mindestlohn kamen zwar zwei wirklich wirtschaftskritische Initiativen der Linken zur Abstimmung, und es wurde sehr viel über Wirtschaftsfeindlichkeit gesprochen und geschrieben. Aber die Bürger haben die Initiativen abgeschmet-tert und dabei viel Wirtschaftsverständnis gezeigt.

Anderseits ist alles eine Frage der Perspektive: Gemessen an den Wunschvorstellungen mancher Ökonomen stimmt es natür-lich, dass die Schweizer wirtschaftskritisch sind. Gemessen an den relevanten Vergleichsgruppen ist die Aussage aber falsch. Die Schweizer sind wirtschaftsfreundlicher als die meisten Europäer.

Gerade haben in Deutschland als fast letztem europäischem Land Regierung und Parlament den schädlichen Mindestlohn ein-geführt und dabei weniger Wirtschaftsverständnis als die Schwei-zer Wähler gezeigt. Die Schweizer Bürger sind auch wirtschafts-freundlicher als viele ihrer eigenen Politiker und Chefbeamten. Gegenüber der Wirtschaft sind sie oft zu Recht kritisch, wenn es um staatsnahe Branchen wie Finanzen und Pharma geht, aber noch kritischer sind sie – ebenfalls zu Recht – gegenüber Politi-kern, Gewerkschaften, Medienschaffenden, Ärzten, Lehrern oder Kirchenvertretern. Kritisch sind sie oft auch gegenüber den Wirt-schaftswissenschaftern, aber noch kritischer sind sie gegenüber Politikwissenschaftern, Soziologen und Psychologen.

Das grosse Vertrauen der Schweizer in die Wirtschaft ist we-der gottgegeben noch genetisch, sondern institutionell bedingt. Die Schweizer Wirtschaft funktioniert vergleichsweise gut, weil sie sich dank besseren politischen Institutionen – insbesondere der direkten Demokratie und dem kleinräumigen Föderalismus – in einem gesünderen gesetzlichen Umfeld befindet. So ist in der Schweiz das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Wechselkursen umgerechnet rund 80 Prozent höher als in Deutschland und mehr als doppelt so hoch wie etwa in Italien, und auch unter Berück-sichtigung der hohen Schweizer Preise ist der Vorsprung noch er-staunlich gross.1 Genauso hat die Schweiz eine sehr tiefe Arbeits-losigkeit und erscheint in allen Rankings zur Wettbewerbsfähig-keit in der absoluten Spitzengruppe und ist fast immer das füh-rende europäische Land. Die komfortable wirtschaftliche Lage der

Schweiz spiegelt sich in der hohen Lebenszufriedenheit der Schweizer, die – zusammen mit Dänemark – weltweit Spitze ist. Die Abwanderung ist im internationalen Vergleich sehr tief und die Zuwanderung riesig. Die Bürger legen ihr Geld vorzugsweise in Schweizer Aktien und Anlagen an, und in Abstimmungen stim-men die Bürger zumeist wirtschaftsfreundlich und oft gewerk-schaftsfeindlich.

Das zeigt sogar die zuweilen als Gegenbeispiel angeführte Minder-Initiative. Da haben die Bürger für den marktwirtschaftli-chen Umgang mit überhöhten Gehältern gestimmt: Die Aktionäre als Zahler sollen über die Gehälter entscheiden. Der Wirtschafts-dachverband Economiesuisse war dagegen, weil er nicht «die Wirtschaft» oder die Aktionäre, sondern die Interessen der Mana-ger und Verwaltungsräte vertritt.

Die Gefahr falscher VergleicheLeider aber ist in der Schweiz dennoch nicht alles zum besten

bestellt. Ihr geht es gut – aber nur im Vergleich mit Kranken und Fusslahmen. Die meisten EU-Länder, die USA und Japan leiden an frivoler Überschuldungspolitik.2 Die EU-Länder leiden zudem an einer falsch konstruierten Währung, einem falsch konstruierten Altersvorsorgesystem mit riesiger impliziter Verschuldung3, an völliger Überregulierung ihrer Arbeitsmärkte4 sowie an einer fehlgeleiteten Bildungspolitik mit Überakademisierung und Ge-ringschätzung der Berufslehre. Das alte Vorbild USA mit ihren einst vielgepriesenen Freiheiten erscheint heute als Überwa-chungsstaat mit ausbeuterischer Besteuerung der eigenen Bürger im Ausland und imperialistischer Überstülpung eigenen Rechts auf die ganze Welt. Auch die aufstrebenden Nationen China, In-dien und Brasilien sind nicht wirklich Erfolgsgeschichten. Ihr Wachstum beruht nicht darauf, dass ihre Politik besonders gut ist, sondern darauf, dass sie weniger schlecht ist als früher. Jede Ver-besserung der Politik führt zu Wachstum, weil dann die knappen

reiner eichenbergerist Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Fribourg (Schweiz) und Forschungsdirektor von CREMA (Center for Research in Economics, Management, and the Arts, Schweiz).

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Reiner Eichenberger, photographiert von Philipp Baer.

«Schon gut, aber eben nicht so gut

wie oft behauptet.»reiner eichenberger

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Ressourcen – Arbeit, Kapital, Land, Umwelt, Infrastruktur – bes-ser genutzt und entwickelt werden können.

Der Erfolg der Schweiz relativiert sich stark, wenn sie mit Län-dern verglichen wird, die die grundsätzlichen Weichenstellungen wenigstens halbwegs richtig vorgenommen haben. Das gilt zum Teil für Deutschland, Österreich und die Niederlande sowie die skandinavischen Staaten, ganz besonders Dänemark. Dieses Land mit 5,6 Millionen Einwohnern hat ähnlich wie die Schweiz eine recht gesunde Finanzpolitik (mit einer Schuldenquote von 47 Pro-zent im Jahre 2011), einen flexiblen Arbeitsmarkt, eine gut besi-cherte Altersvorsorge, ein duales Bildungssystem und einige wichtige fruchtbare politische Institutionen bewahrt, insbeson-dere eine wenigstens im internationalen Vergleich bemerkens-werte Gemeindeautonomie und das Vernehmlassungsverfahren, das von grösster Bedeutung für ausgewogene und nachhaltige po-litische Entscheidungen ist.5 Solche Länder sind wirtschaftlich ähnlich erfolgreich wie die Schweiz, und deren erfolgreichste Re-gionen sind sogar erfolgreicher als viele Regionen in der Schweiz.

Falsches Selbstbild und IllusionenAngesichts der wirtschaftlichen Situation der Schweiz sind

eine gewisse Ratlosigkeit und Selbstzweifel nur zu gut verständ-lich. Denn viele ahnen bzw. wissen: Es geht uns gut, aber es geht uns vor allem gut, weil wir uns an Ländern mit offensichtlichen Problemen messen. Mit der Schuldenkrise in der EU ist der Vor-sprung der Schweiz sogar noch gestiegen. Je komfortabler die eigene Situation wird, desto schwächer werden die Anstrengun-gen für weitere Verbesserungen. Zudem erscheinen Vergleiche

mit dem Ausland wenig lehrreich. In vielen Ländern ist die Poli-tik so schlecht, dass sie der Schweiz kaum interessante Anre-gungen geben kann. Das schlägt sich auch darin nieder, dass es den Schweizer Parteien und Interessengruppen offensichtlich schwerfällt, fruchtbare Vorschläge zur Verbesserung der Schweizer Politik zu entwickeln. So ist es mehr als bekümmernd, dass die Linken und Gewerkschaften nur so offensichtlich schädliche statt wirksame und realistische Vorschläge zur Ver-besserung der Situation der wirtschaftlich weniger gut Gestell-ten an die Urne bringen. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn man leicht gute Konzepte aus dem Ausland übernehmen könnte und nicht selbst denken müsste.

Wer sich nicht mehr intensiv und systematisch mit anderen vergleicht, die es besser machen, entwickelt leicht ein falsches Selbstbild. Und in der Tat – heute haben viele Bürger und Politiker ein völlig falsches Bild der Schweiz. Die herrschende Wahrneh-mungsverzerrung muss auch den Medien angelastet werden, die oft unfähig sind, den Wahrheiten ins Auge zu schauen. Das sollen die folgenden Beispiele aus der aktuellen Politik illustrieren:

1. «Die Schweiz ist ein Steuerparadies und Tiefsteuerland.» Das glauben viele, und die Regierung sagt es uns dauernd. Aber leider ist es völlig falsch.6 Zwar ist die Gesamtsteuerbelastung in der Schweiz tatsächlich eher tief.7 Doch für Gutverdienende sind die meisten Kantone unattraktiv. Erstens hat die Schweiz die progressivsten Steuertarife Europas. Während die Steuersätze für Durchschnittsverdiener deutlich tiefer als in den meisten EU-Ländern sind, sind die Spitzensteuersätze in vielen Kanto-nen praktisch europäischer Durchschnitt oder sogar höher8.

«So gilt heute in Österreich ein Steuersatz von 25 Prozent, in Deutschland von rund 27 Prozent und in Schweden von 30 Prozent, wohingegen ein Stadtzürcher rund 43 Prozent bezahlen muss.»reiner eichenberger

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Hinzu kommen die AHV-Beiträge von Arbeitnehmern und Ar-beitgebern. Während sie in der Schweiz für Gutverdienende nichts anderes als Steuern sind9, werden die entsprechenden Rentenbeiträge in den meisten anderen Ländern nur bis zu einer gewissen, zumeist nicht sehr hohen Einkommensgrenze erho-ben. So beträgt dann die tatsächliche Einkommenssteuerspit-zenbelastung auf Arbeitseinkommen zum Beispiel in der Stadt Zürich rund 50 Prozent, was knapp über dem europäischen Durchschnitt von 47 bis 50 Prozent liegt.

Zweitens haben viele Kantone eine aussergewöhnlich hohe Besteuerung der persönlichen Vermögen mit einem Grenzsteuer-satz für Vermögen von über einigen wenigen Millionen von bis fast 1 Prozent.10 Ähnliche Vermögenssteuern gibt es im OECD-Raum nur noch in Norwegen und Frankreich, wobei auch in diesen Ländern die Gesamtbelastung der Vermögen deutlich tiefer als in der Schweiz ist. Hingegen erheben die immer wieder als besonders «so-zial» gepriesenen Schweden und Dänemark oder auch Deutschland und Österreich keine Vermögenssteuern. Zugleich werden in die-sen Ländern auch die Vermögenserträge deutlich tiefer besteuert, weil sie dort anders als in der Schweiz nur einem weit tieferen Satz als Arbeitseinkommen unterliegen. Zumeist werden sie mit rund der Hälfte des normalen Spitzensteuersatzes besteuert. So gilt heute in Österreich ein Steuersatz von 25 Prozent, in Deutschland von rund 27 Prozent und in Schweden von 30 Prozent, wohingegen ein Stadtzürcher rund 43 Prozent bezahlen muss.

Damit ist die Schweiz steuerlich praktisch nur noch für Perso-nen attraktiv, die ihre Steuern in Tiefsteuerkantonen zahlen oder so wie nicht wirtschaftlich tätige Ausländer der Pauschalbesteue-rung unterliegen. Für gutverdienende Normalbesteuerte hinge-gen sind die meisten Kantone nichts anderes als Steuerhöllen.11

2. «Die Gesundheitskosten explodieren.» Dies wird allgemein als grosses Problem wahrgenommen und dient auch als wichtigs-tes Argument für die im Herbst dieses Jahres zur Abstimmung kommende Einheitskasse. Tatsächlich aber sind in der Schweiz die realen Gesundheitskosten pro Einwohner in den letzten 15 Jahren weniger stark gestiegen als in fast allen anderen indust-rialisierten Ländern.12 Zudem hat ihr Anteil an der gesamten Wirt-schaftsleistung seit 2004 nicht mehr zugenommen. Von der Ge-samtkostensteigerung von durchschnittlich gut 3 Prozent jährlich gehen rund 1 Prozent auf die allgemeine Teuerung, 1 Prozent auf das Bevölkerungswachstum und der Rest zu einem guten Teil zu-lasten der Alterung. Aber Vorsicht, das Problem der Alterung be-steht grossenteils nicht in der Zunahme medizinischer Probleme – wir werden ja älter, weil wir immer gesünder werden. Vielmehr haben die Alten wegen der Zwangspensionierung mit spätestens 65 viel Zeit für den Konsum von Gesundheitsleistungen. Unser wahres Problem ist also nicht das Wachstum, sondern das Niveau der Gesundheitskosten. Zwar sind die Gesundheitskosten relativ zum gesamtwirtschaftlichen Einkommen ähnlich hoch wie in vie-len EU-Ländern wie etwa Deutschland oder auch Frankreich, aber wie bereits erwähnt ist ja auch unser Einkommen zum Wechsel-

Wer zum Dönerkönig will, muss an den Rand von Winterthur fahren. Steigt man dort einen unscheinbaren Lieferantenzugang hoch, findet man sich bald in einem Grossraumbüro wieder. Dort sitzt Zeynel Demir in einer Nische, über sich ein Foto seiner Heimat, die er seit 1985 nicht mehr

betreten darf. Damals floh der Kurde aus der Türkei nach Griechenland. Wegen seines Engagements in einer linken kurdischen Partei drohte ihm die Todesstrafe. Weil er als Flüchtling nicht arbeiten durfte, wäre er trotz der grossen Gefahr fast in die Heimat zurückgekehrt. Wäre da nicht ein alter Freund gewesen, der inzwischen in Basel arbeitete und ihm vorschlug, sein Glück in der Schweiz zu versuchen. Demir zog in eine WG und wartete, während er auf dem Bau schuftete, jahrelang auf die Anerkennung als Flüchtling. Dabei wäre es wohl auch geblieben, hätte sich ihm nicht eine einmalige Chance geboten. Sein türki-scher Metzger litt an einer Hautkrankheit. Eines Tages sagte er zu Demir: «Die Leute kaufen nichts mehr bei mir, weil sie Angst haben, sich anzustecken. Übernimm du doch meinen Laden. Gratis.» Demir schlug ein. Und versprach, dem Metzger alles zurückzuzahlen, sollte er zu Reichtum kommen. Aufgrund seines Aufenthalts-status war es ihm damals verboten, ein eigenes Geschäft zu besitzen. So kaufte ein Schweizer, der ihn kannte, die Metzgerei. Demir war aber de facto Chef. Er ärgert sich über die herablassende Behandlung von Asylbewer-bern. Dem «Sonntagsblick» sagte er einmal: «Ich habe es selbst erlebt. Asylsuchende wollen arbeiten, dürfen es aber nur in bestimmten Funktionen.»Sein Entscheid traf in seinem Umfeld auf wenig Gegen-liebe. «Die meisten haben mich ausgelacht und gesagt, ich könne ja kaum Deutsch. Es sei besser, wenn ich mich nicht selbständig machen würde», erinnert sich der Unternehmer. «Mein Chef auf der Baustelle meinte: ‹Geh nicht! Du verstehst nichts von Geschäftsführung!›» Doch Demir liess sich nicht beirren. Und baute ab 1993 mit der Royal Döner AG ein Unternehmen auf, das heute 60 Prozent der Schweizer Dönerbuden mit Fleisch beliefert und jährlich einen Umsatz von 40 Millionen Franken generiert.

Florian Oegerli

Zeynel Demir Leiter der Royal Döner AG, Teil I

Leistungsträger im Gespräch

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«Richtige Vergleiche müssten sich für die Schweiz auf ähnlich grosse Räume wie die Schweiz beziehen: Dänemark, Hongkong, Isle de France oder Greater London.»reiner eichenberger

kurs umgerechnet sehr viel höher. Deshalb sind unsere Gesund-heitskosten pro Einwohner zu laufenden Wechselkursen umge-rechnet gut 80 Prozent höher als etwa in Deutschland. Folglich brauchen wir nicht weniger Kostenwachstum, sondern echte Kos-tensenkungen. Die ganze Politik ist aber heute auf dem Holzweg, weil sie – Don Quijote lässt grüssen – gegen die nicht existierende Kostenexplosion kämpft.

3. «Die Zuwanderung bringt Wirtschaftswachstum.» Das ist die Dauerleier unserer Regierung. Natürlich ist das richtig – aber halt völlig unwichtig. Entscheidend ist die Wirkung der Zuwande-rung auf das Einkommen pro Kopf der bisherigen Einwohner. Lei-der gibt es kaum gute Argumente für eine positive Wirkung der Zuwanderung auf das Einkommen pro Kopf, aber sehr viele gute Argumente für eine negative Wirkung. Sehr hohe und freie Zu-wanderung wirkt weniger über den Arbeitsmarkt als über die Ver-knappung der natürlich oder politisch fixierten Faktoren wie Bo-den und Infrastruktur. Dadurch steigen die Wohn-, Energie-, In-frastruktur- und Verkehrskosten, wodurch das Niveau unseres realen Wohlstands sinkt. Die Verlierer der Personenfreizügigkeit sind die bisherigen Arbeitnehmer. Die Gewinner sind diejenigen, die mehr Immobilien besitzen, als sie zum Eigenbedarf benötigen. Damit ist die Personenfreizügigkeit ein gigantisches Umvertei-lungsprogramm. Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass unsere Regie-rung und unsere Spitzenverbände nicht auf die so offensichtli-chen Probleme eingehen. Das tun sie nicht nur aus Eigeninteresse nicht, sondern weil sie in vielerlei Denkfallen stecken.13 In diese Denkfallen sind sie geraten, weil eine so starke längerfristige Zu-wanderung unter Personenfreizügigkeit, beschränktem Sied-lungsraum und ohne Abschöpfungsmöglichkeit für die Gewinne der Zuwanderung ein fast rein schweizerisches Problem ist. Die

anderen Zuwanderungsländer haben entweder keine Personen-freizügigkeit oder aber Mechanismen zur diskriminierenden im-pliziten Besteuerung der Zuwanderer.14 So werden etwa in Singa-pur der grösste Teil der wegen der Zuwanderung nötigen Neubau-ten auf Land im Staatsbesitz errichtet, wobei dann die Einheimi-schen Wohnungen zu günstigen Vorzugspreisen kaufen können, aber die Zuwanderer den hohen Normalpreis bezahlen müssen. Wiederum gilt, dass von einfachen Vergleichen mit EU-Ländern und einfacher Sichtung der wissenschaftlichen Literatur wenig zu lernen ist, weil die Schweiz hier ein spezielles Problem hat. Sehr lehrreich sind aber Vergleiche mit sorgfältig gewählten Ver-gleichsländern, hier insbesondere Singapur, Hongkong und Lu-xemburg.

4. «Die Einkommensverteilung wird immer ungleicher.» So werden Forderungen wie Mindestlöhne und 1:12, aber auch viele andere Umverteilungsanliegen und Markteingriffe begründet. Aber: nach OECD ist in der Schweiz die Ungleichheit der Einkom-men nach Steuern etwa gleich hoch wie im Durchschnitt der EU-15-Länder.15 Hingegen ist die Einkommensverteilung vor Steuern weit ausgeglichener als in allen EU-Ländern. Bei den selbstver-dienten Einkommen der Bevölkerung im Erwerbsalter ist die Schweiz sogar extrem egalitär und hat im ganzen OECD-Raum zu-sammen mit Südkorea die weitaus ausgeglichenste Einkommens-verteilung. Die Ungleichheit vor Steuern ist besonders wichtig. Zum einen ist für viele Menschen wichtiger, was sie aus eigener Leistung erreichen können als durch Umverteilung und Almosen vom Staat. Zum anderen führt starke staatliche Umverteilung fast zwangsläufig zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten.16

5. «Öl wird immer knapper. Deshalb ist der Ölpreis heute mit rund 105 bis 110 Dollar pro Fass so hoch und steigt dauernd.» Die

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zunehmende Knappheit fossiler Energien dient stereotyp als Ar-gument für Energiesparmassnahmen und auch als wichtiges Ar-gument für unsere unsäglich teure und völlig ineffizient aufge-gleiste Energiewende. Dabei ist die Behauptung nur falsch: Heute sind 105 bis 110 Dollar rund 95 Franken. Schon in den 1980er Jah-ren war Öl real praktisch gleich teuer. Zwar kostete es nur 30 bis 35 Dollar, aber bei einem Dollarkurs von 1.60 bis 2.00 Franken und einer Frankeninflation von seither über 60 Prozent macht das rund 95 Franken pro Fass.

Solche grundlegenden Fehleinschätzungen sind heute in der Schweizer Politik allgegenwärtig (aber natürlich gibt es im Aus-land noch schlimmere Illusionen). Die Fehler sind immer die glei-chen: Insbesondere wird zu wenig und mit den falschen Ländern verglichen, es werden oft grosse Aggregate betrachtet statt «kopf-gerechnet» (also das interessierende Phänomen pro Einwohner gerechnet), und es wird nicht hinreichend deflationiert.

Konkrete LösungsansätzeWie bringen wir die Politik dazu, trotz der relativ guten Posi-

tion der Schweiz aktiver zu sein und neue Lösungen zu suchen? Langfristig ist entscheidend, die grundlegenden politischen Insti-tutionen der Schweiz zu verbessern. Der entscheidende Ansatz-punkt ist die Stärkung des politischen Wettbewerbs, sowohl des repräsentativdemokratischen, des direktdemokratischen und des föderalistischen Wettbewerbs als auch desjenigen zwischen ver-schiedenen Regierungsgremien. Entsprechende Vorschläge wur-den in diesem Magazin schon verschiedentlich entwickelt.17 Im folgenden sollen deshalb zwei neue schnell umsetzbare Massnah-men diskutiert werden.

Erstens muss der gefühlte Wettbewerbsdruck aus dem Aus-land erhöht werden. An der Politik des Auslandes können wir kaum etwas ändern. Wir können aber wählen, an wem wir uns orientieren. Solange wir uns vor allem mit unseren Nachbarlän-dern vergleichen, messen wir uns mit Ländern mit nur allzu offen-sichtlichen Problemen aufgrund von schlechter Politik, unzurei-chenden Institutionen, grossen Unterschieden zwischen den Re-gionen sowie riesigen Belastungen durch Umverteilungsmass-nahmen, sei es wie zwischen Nord- und Süditalien oder zwischen dem ehemaligen Westen und Osten Deutschlands.

Richtige Vergleiche müssten sich für die Schweiz auf ähnlich grosse Räume wie die Schweiz und für die Schweizer Kantone auf ähnlich grosse Regionen wie die betreffenden Kantone beziehen. Dazu müsste der Bund ein Programm zum intelligenten Bench-marking der Schweiz aufgleisen. In der Schweiz könnten wohl ungeahnte Kräfte geweckt werden, wenn der Bund die Schweiz vor allem mit Ländern wie Dänemark, Schweden, Österreich, den Niederlanden, Singapur und Hongkong sowie mit den erfolgrei-chen Regionen Bayern, Baden-Württemberg, Lombardei, Pie-mont, Isle de France und Greater London vergleichen würde. Ge-nauso müssten einzelne Kantone an Vorarlberg, Salzburg, Luxem-burg, Liechtenstein und besonders erfolgreichen Regionen in

Inzwischen hilft der Dönerkönig seinen Landsleuten dabei, sich selbständig zu machen. Er vergibt ihnen zinslose Kredite, damit sie ihre eigenen Dönerläden eröffnen können. «Ich habe damals Hilfe bekommen», erklärt er, «jetzt möchte ich selbst helfen.»

Der Unternehmer beobachtet mit Sorge, dass Niedrigqualifizierte in der Schweiz keine Arbeit finden und auf der Strasse landen: «Wenn ich es den Leuten ermögliche, ihr eigenes Dönerrestau-rant zu führen, öffne ich ihnen eine Tür.»Demir vermutet, dass Ausländer sich eher selbstän-dig machen als Schweizer. Der Grund: Schweizer haben es leichter, mit dem Eintritt in die Arbeitswelt zuzuwarten. «Wenn ein siebzehnjähriger Schüler aus der Türkei hierherkommt, kann er nicht studie-ren, denn es dauert zu lange, bis er überhaupt Deutsch gelernt hat.» Gefragt, ob sich die Arbeitsmo-ral der Schweizer von der der Türken unterscheidet, antwortet Demir: «In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gingen die Leute nur dann zur Arbeit, wenn sie dazu Lust hatten. Das ist in der Schweiz anders.»Er kann verstehen, dass nicht jeder dazu bereit ist, sich unternehmerisch zu betätigen. Besonders heutzu tage, wo staatliche Auflagen die Unterneh-mensgründung immer mehr erschweren. «Wer acht Stunden in einer Fabrik arbeitet, denkt, wenn er einmal zuhause ist, nicht mehr an die Arbeit. Da lebt es sich natürlich angenehmer.» Doch der Preis für weniger Verantwortung ist weniger Unabhängigkeit. Demir ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er kann tun, was er will. Das Leben, sagt er, sei ein Geben und ein Nehmen. Zeynel Demir gibt nicht nur über 120 Menschen eine Arbeit, viele davon ehemalige Asylsuchende, die unbedingt arbeiten wollen. Eben hat er auch eine Stiftung gegründet, die junge Türken unterstützt, die sich kein Studium leisten können. Und dafür verzichtet er gerne auf ein paar freie Tage.

Florian Oegerli

Zeynel Demir Leiter der Royal Döner AG, Teil II

Leistungsträger im Gespräch

SCHWEIZER MONAT SONDERTHEMA 17 SEPTEMBER 2014

Skandinavien gemessen werden. So würde plötzlich klar: Die Schweiz ist schon gut, aber eben nicht so gut wie oft behauptet, und es gibt viele Ideen, die es wert sind, genau studiert und auch übernommen zu werden. Viele Illusionen würden platzen oder zumindest in einem ganz neuen Licht erscheinen. Ein Beispiel ist die oben noch gerühmte hohe Gleichheit in der Schweiz. Im Ver-gleich zu grossen Ländern wie etwa Deutschland ist es für die Schweiz oder auch die skandinavischen Staaten viel leichter, eine kleine Ungleichheit zu erreichen, weil die Gleichheitsmasse auch die teils riesigen Unterschiede zwischen den Regionen mitmes-sen. Dass also Italien und Deutschland und erst recht die USA eine relativ grosse Ungleichheit aufweisen, heisst nicht notwendiger-weise, dass die Ungleichheit zwischen den Personen der gleichen Region gross ist. Ein fruchtbarer Vergleich sollte deshalb auf etwa gleich grosse Einheiten abstellen oder die regionalen Unter-schiede herausrechnen. Bemerkenswerterweise ist in der Schweiz das Einkommen vor Steuern sogar in einem solchen Vergleich mit ähnlich grossen Staaten sehr egalitär verteilt.

Die Erarbeitung und Bereitstellung solcher Vergleiche sind ein öffentliches Gut oder in Neuschweizerisch: wahrer Service public. Heute werden sie wenigstens teilweise von privaten Orga-nisationen wie Avenir Suisse oder BAK Basel in verdienstvoller Weise erbracht, sind jedoch aus Kostengründen zu wenig breit abgestützt und bei vielen Organisationen (Avenir Suisse ist eine löbliche Ausnahme) oft nur zu hohen Preisen einsehbar. Deshalb wäre es wichtig, dass der Staat hier unterstützend eingreift. Er sollte verschiedene geeignete Institutionen beauftragen, regel-mässig vernünftige, konkurrierende Vergleiche aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Zweitens muss der interne Wettbewerb gestärkt werden. Der föderalistische Wettbewerb zwischen den Kantonen und Gemein-den war einst das treibende Element hinter der erfolgreichen Ent-wicklung der Schweiz. Mittlerweile ist dieser Wettbewerb durch die Finanzausgleichsmechanismen auf Bundes- und Kanton-sebene stark abgeschwächt. Sie nehmen den erfolgreichen Kanto-nen und Gemeinden einen grossen Teil ihres Erfolgs weg und ent-schädigen die weniger erfolgreichen für einen sehr grossen Teil ihres Misserfolgs. Auf Bundesebene sind insbesondere die Ent-schädigungen für die weniger erfolgreichen Kantone problema-tisch. Den Nehmerkantonen werden bei einer Verbesserung ihrer Lage die Ausgleichszahlungen gekürzt. Heute müssen die Neh-merkantone bis zu 80 Prozent der Steigerung ihres Leistungspo-tentials an die anderen Kantone abgeben. Für die betroffenen Kantone kann das jeden Anreiz zur Verbesserung der eigenen Lage zerstören. Schafft es beispielsweise ein bisher finanziell leis-tungsschwacher Kanton, dank einer Senkung der Steuersätze Fir-men aus dem Ausland anzuziehen und so die Gewinnsumme im Kanton stark und die Steuereinnahmen trotz tieferer Steuersätze ein wenig zu erhöhen, beträgt die Senkung der Ausgleichszahlung – weil die Ausgleichszahlungen indirekt aufgrund der Gewinnsum-men im Kanton berechnet werden – leicht ein Vielfaches der zu-

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sätzlichen Steuereinnahmen. Deshalb lohnen sich innovative Poli-tiken zur Steigerung der Standortattraktivität heute kaum noch. Eindrücklich illustriert dies der Streit der Schweiz mit der EU und der OECD um die Besteuerung von Spezialgesellschaften. Der Bun-desrat schlägt nun vor, dass die Schweizer Kantone nicht mehr so wie bisher ausländische und inländische Gewinne unterschiedlich und damit diskriminierend behandeln sollten, sondern so wie die Niederlande und mittlerweile viele andere Länder sogenannte Li-zenzboxen einrichten sollten, also Gewinne aus Lizenzeinnahmen anders als andere Gewinne behandeln und so international mobile Firmen anziehen sollten. Die entscheidende Frage wird aber kaum je gestellt: Weshalb haben die Holländer und nicht die Schweizer die Lizenzboxen erfunden? Die Antwort ist einfach: Wegen dem Fi-nanzausgleich lohnen sich solche Innovationen für den potentiel-len Innovator kaum noch oder schaden ihm sogar. Folglich gilt es, den Finanzausgleich möglichst schnell zu verbessern.

Sinnvoll wären drei Massnahmen: Erstens sollten die Kan-tone, wenn sie ihre Situation dank innovativen Massnahmen ver-

1 Die hier angegebenen Zahlen finden sich in OECD.StatExtracts auf http://stats.oecd.org/. 2 Die explizite Schuldenquote (explizite Staatsschulden relativ zum Bruttoinlands-produkt) beträgt heute in der EU durchschnittlich rund 90 Prozent, in den USA 105 Prozent und in Japan 240 Prozent. In der Schweiz liegt sie bei 35 Prozent. 3 Die ungedeckten Versprechungen in der Sozialpolitik insbesondere an die zukünftigen Rentner belaufen sich in Deutschland auf nochmals rund 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in vielen Ländern wie Grossbritannien, Frankreich oder auch den Niederlanden aber auf 300 bis 500 Prozent und in manchen EU-Ländern auf über 1000 Prozent (vgl. Moog, Stefan und Raffelhüschen, Bernd [2014], Ehrbare Staaten? Update 2013. Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finan-zen in Europa. Argumente zu Marktwirtschaft und Politik 125, Mai 2014). Allerdings beruhen die Zahlen auf Schätzungen, die von vielen Annahmen (z.B. zukünftige Wachstumsraten, Zinssätze, Bevölkerungsentwicklung) abhängen und bei kleinen Änderungen der Annahmen stark variieren. 4 Neue Studien zeigen die grosse Bedeutung von regionaler und branchenspezifi-scher Flexibilität der Arbeitsbedingungen auf. Vgl. Dustmann, Christian, Fitzen-berger, Bernd, Schönberg, Uta and Spitz-Oener, Alexandra (2014). From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy. Journal of Economic Perspectives, 28(1): 167–188. 5 Vgl. Chistoffersen, Henrik, Beyeler, Michelle, Eichenberger, Reiner, Nannestad, Peter und Paldam, Martin (2014), The good society – A comparative study of Denmark and Switzerland. Berlin: Springer. 6 Vgl. Eichenberger, Reiner (2013). Erbschaftssteuern für direkte Nachkommen: Die schlechteste Steuer. In Pierre Bessard (Hrsg.), Nachteil Erbschaftssteuer, Zürich: Liberales Institut: 45–71. 7 Aber Vorsicht: Die oft für die Schweiz herumgereichten sehr tiefen Abgabenquo-ten vernachlässigen normalerweise die Krankenkasse und die zweite Säule der Altersvorsorge, die in vielen andern Ländern über die Steuern finanziert werden. Wenn die Daten für die Schweiz um diese Grössen korrigiert werden, erreicht die Schweiz Gesamtabgabenquoten von um die 50 Prozent, was ähnlich ist wie in vielen anderen europäischen Ländern. Allerdings muss dann wiederum berück-sichtigt werden, dass darin die ganze Kapitalbildung der zweiten Säule enthalten ist, wohingegen in den meisten anderen Ländern diese Kosten erst in Zukunft anfallen. 8 In Ländern wie Österreich, Deutschland und Dänemark, ja ganz generell in der EU setzt der höchste Steuersatz schon bei Löhnen an, die vollzeitarbeitende Normalverdiener erreichen (in Österreich z.B. gilt der höchste Satz von 50 Prozent ab 60 000 Euro). In der Schweiz hingegen setzen die höchsten Steuersätze zumeist bei Einkommen von deutlich über 200 000 CHF ein. 9 Da die AHV-Rente von den Einzahlungen über das Leben abhängt, gibt es keine eindeutige Einkommensschwelle, ab der die AHV eine Steuer ist. Da aber die meis-ten Vollzeitarbeitenden im Alter so oder so die volle AHV-Rente erhalten, bringen

ihnen die AHV-Beiträge auf zusätzlichem Einkommen keine zusätzlichen persönlichen Erträge und sind deshalb nichts anderes als eine Steuer. 10 Da Vermögenssteuern jährlich anfallen, belasten sie über mehrere Jahre die Vermögen weit mehr als auch sehr hohe Erbschaftssteuern. 11 Auch hier muss natürlich wie immer zwischen der Total- und der Grenzbelas-tung unterschieden werden. Weil die ersten 150 000 bis 200 000 Franken deutlich tiefer als im Ausland besteuert werden, zahlen auch Personen mit höheren Einkommen insgesamt lange weniger Steuern als im Ausland. Ihre Grenzbelas-tung auf zusätzlichem Einkommen ist aber derjenigen im Ausland sehr ähnlich und sogar deutlich höher, wenn sie Kapitaleinkommen haben. 12 Vgl. OECD (2013), Health at a Glance 2013. OECD Publishing, insb. S. 155. 13 Vgl. Eichenberger, Reiner (2014). Mehr als falsch (Personenfreizügigkeit: 21 Denkfallen). Weltwoche, Nr. 3/2014: 14–16. 14 Alle EU-Länder ausser Luxemburg und für einige Zeit Irland hatten eine viel tiefere Nettozuwanderung als die Schweiz mit in den letzten Jahren 0,8 bis 1,1 Prozent. Über mehrere Jahre gerechnet hatten sie alle eine Nettozuwanderung von unter 0,6 Prozent und waren damit unter dem auch von vielen «harten Zuwanderungsgegnern» und «Isolationisten» angestrebten Wert für die Schweiz. Insbesondere Deutschland hatte in letzter Zeit (abgesehen von den letzten zwei Jahren mit rund 0,4 Prozent) kaum Nettozuwanderung. Folglich gibt es in Europa kaum Erfahrung im Umgang mit grosser längerfristiger Nettozuwanderung. 15 So war der Gini-Koeffizient für das marktlich erzielte Einkommen als Mass für Ungleichverteilung in der Schweiz mit 0,35 und Südkorea mit 0,34 am tiefsten, weit vor Finnland (0,39), Dänemark und Niederlande (je 0,42), Schweden (0,43), USA, Grossbritannien und Österreich (je 0,46), Frankreich (0,48) und Deutschland (0,51). Genauso war der Anteil des am besten verdienenden Dezils am Gesamtein-kommen in der Schweiz mit 23,5% und Südkorea mit 23,4% am tiefsten, vor Frankreich (25,5), Dänemark (25,7), Österreich (26,1), Schweden (26,6), Finnland (26,9), Niederlande (27,5), Deutschland (29,2), Grossbritannien (32,3), USA (33,5) und Italien (35,8). (Vgl. OECD [2008]. Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries. Paris: OECD, Tabelle 4–5.) 16 Die Verteilungsmasse zeigen, dass in der Schweiz insgesamt relativ wenig umverteilt wird. Umverteilung ist aber auch weniger nötig, weil eben die Einkom-men vor Steuern im internationalen Vergleich sehr gleichmässig verteilt sind. Die erwähnte starke Progression der Steuersätze würde eigentlich vermuten lassen, dass die Umverteilung in der Schweiz auch sehr stark ist. Die Umvertei-lungswirkung der Steuern wird aber dadurch gemildert, dass die Gutverdienenden tendenziell in Kantonen und Gemeinden mit tieferen Steuern wohnen (dafür haben sie dann dort wesentlich höhere Wohnkosten; die Hauptprofiteure des Steuerföderalismus sind nicht die Gutverdienenden, sondern die Bodenbesitzer in den Tiefsteuerkantonen). 17 Vgl. Eichenberger, Reiner und Funk, Michael. Wider den politischen Heimat-schutz. Schweizer Monat, Nr. 993, Februar 2012: 22–25.

bessern, nicht sofort durch die Anpassung der Finanzausgleichs-zahlungen bestraft werden. Sinnvoll wäre es, die Ausgleichszah-lungen erst mit einer Karenzfrist von acht bis zehn Jahren der fi-nanziellen Situation der Kantone anzupassen. So hätten die Re-gierungen trotz Finanzausgleich Anreize, die finanzielle Situation ihres Kantons zu verbessern. Zweitens sollten diese Anreize noch gestärkt werden, indem Kantone, die ihre Situation verbessern, nicht wie heute nur mit einem Malus in Form einer Kürzung der Ausgleichszahlung bestraft, sondern schnell mit einem Bonus be-lohnt werden. Drittens sollte zwischen Ressourcen unterschieden werden, die Konzerne aus anderen Kantonen anlocken, und sol-chen, die sie aus dem Ausland anlocken. Für letztere sollte es grössere Boni und kleinere Kürzungen der Ausgleichszahlungen geben. Dank diesen Massnahmen ginge es den heute finanzschwa-chen Kantonen bald besser, so dass auch die gesamte Umvertei-lung zwischen den Kantonen gesenkt werden könnte und so ihre Anreize und schliesslich ihre wirtschaftliche und finanzielle Situ-ation weiter verbessert würde. �

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3 Die soziale frageEs heisst gerne, die Ungleichheit nehme in der Schweiz zu. Was sagen die Daten?

von Christoph A. Schaltegger

Am 7. Februar 1849 soll sich der Berner Radikale Jakob Stämpfli, Regierungsrat und ab 1855 Bundesrat, gegenüber dem Berner

Grossen Rat wie folgt geäussert haben: «Wie gesagt wurde, ist der Magen mit der politischen Freiheit und Gleichheit nicht befrie-digt; es ist wahr, dass der Mensch mit der Presse- und Redefreiheit nicht gelebt hat, dass auch seine materiellen Bedürfnisse befrie-digt werden müssen. Das ist die Frage, mit der sich die künftige Hälfte des Jahrhunderts beschäftigen wird…»1

Tatsächlich: eine der bedeutendsten Kontroversen in der Gründungsphase des modernen Bundesstaats von 1848 war die sogenannte «soziale Frage». Welche sozialpolitischen Eingriffe sind gerechtfertigt, um die verfassungsrechtlich geforderte «ge-meinsame Wohlfahrt» zu stärken und die unbewältigten sozialen Probleme zu lösen? Was in der Folge mit dem Erlass von Schutzge-setzen für Arbeitnehmer begann, führte über die Gründung grundlegender Sozialversicherungen wie der Alters- und Hinter-lassenenversicherung (AHV) 100 Jahre später hin zum modernen Sozialstaat. Er gilt in der Schweiz über die Parteigrenzen hinweg als Errungenschaft und Garant des sozialen Friedens. Auch wenn es viele nicht wissen: Fakt ist, dass die soziale Wohlfahrt mittler-weile den grössten Ausgabenposten des Bundeshaushalts dar-stellt, und er ist in den letzten Jahren stets gewachsen. Gemessen am Gesamthaushalt von Bund, Kantonen und Gemeinden, flies-sen gemäss Daten der Eidgenössischen Finanzverwaltung derzeit über 38 Prozent aller Staatsausgaben den verschiedenen Berei-chen der sozialen Sicherheit zu – alleine in den letzten 20 Jahren ist eine Zunahme von 8 Prozentpunkten an den Gesamtausgaben zu verzeichnen. Es stellt sich daher die Frage, was diese eindrück-liche Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit im Bereich der sozia-len Wohlfahrt für den Zusammenhalt der schweizerischen Gesell-schaft bedeutet. Wie breit verteilen sich die Einkommenszu-wächse in der Schweiz? Kann von einer Polarisierung der Gesell-schaft gesprochen werden, diesem Dauerbrenner in aktuellen po-litischen Debatten?

In den 1950er Jahren formulierte der einflussreiche russisch-stämmige und spätere Harvard-Ökonom Simon Kuznets2 die These eines allgemeinen Trends in der Einkommensverteilung moderner Gesellschaften. Danach sollte sich die Einkommensver-

teilung mit dem Übergang einer agrarisch geprägten Gesellschaft in die Industriegesellschaft zunächst stärker konzentrieren, um danach mit zunehmend breiter verteiltem Wohlstand wieder ab-zuflachen. Was intuitiv einleuchtet, wird durch aktuelle Zahlen allerdings nicht gestützt. Jüngere internationale Vergleichsstu-dien von Facundo Alvaredo, Tony Atkinson, Thomas Piketty und Emmanuel Saez3 zeigen, dass der langfristige Trend in der Ein-kommensverteilung in vielen Ländern eher einem umgekehrten Verlauf folgt (Graphik 1). Nach einem Einbruch der Einkommens-konzentration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einer flachen Entwicklung in den Nachkriegsjahren steigen seit den 1980er Jahren die Spitzeneinkommen insbesondere in den angel-sächsischen Ländern teilweise wieder stark an. Dies gilt im beson-deren für das Spitzenperzentil – aber auch allgemeiner für das oberste Dezil der Einkommensbezieher.

Die Schweiz: ein stabiler SonderfallWie präsentiert sich die Situation in der Schweiz? Ist auch bei

uns ein Wiedererstarken der Spitzeneinkommen während der letzten Jahre zu beobachten? Mit meinen Mitarbeitern Christian Frey und Christoph Gorgas bin ich dieser Frage nachgegangen. Die Auswertung der für eine solche Analyse geeigneten Steuerstatisti-ken, beginnend ab 1915 mit der ersten Einkommenssteuer des Bundes (Eidgenössische Kriegssteuer), ergibt ein erstaunliches Bild (Graphik 2): Die Konzentration von Einkommen im obersten Perzentil in der Schweiz (1 Prozent aller Haushalte; entspricht ak-tuell allen Reineinkommen von über 280 000 CHF) verläuft seit über 90 Jahren konstant zwischen 8 und 11 Prozent aller Einkom-men. Oder anders gesagt: in der Entwicklung der letzten Jahre gibt es keinen Hinweis auf ein Anschwellen der Spitzeneinkommen – der Wert liegt derzeit knapp unter 9 bzw. 10 Prozent, je nach Be-rücksichtigung der steuerlichen Sonderfälle. Dies ganz im Gegen-satz zu den angelsächsischen Ländern wie England, Kanada oder den USA mit Werten um 15 Prozent am Gesamteinkommen für

christoph A. schalteggerist Professor für politische Ökonomie an der Universität Luzern und Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen.

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Breit verteilte EinkommenszuwächseDie Konstanz der Einkommensverteilung in der Schweiz ist

umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass sich die Wirt-schaftsleistung – das BIP pro Kopf – in der Schweiz seit dem Ende des 2. Weltkriegs stark ausgeweitet hat (Graphik 4). Allem An-schein nach kamen die grossen Einkommenszuwächse während des letzten Jahrhunderts nicht nur einer privilegierten Schicht zu, sondern verteilten sich breit über alle Gesellschaftsschichten. Der Gini-Koeffizient als Mass der Einkommensgleichverteilung, be-rechnet aus den Steuerdaten, zeigt keinen deutlichen Anstieg, sondern vielmehr einen anfangs volatilen, später steten Verlauf um den Wert 0,37.

Gelegentlich wird eingewendet, nicht die Einkommensvertei-lung, sondern die zunehmend einseitige Vermögensverteilung sei ein Problem der Schweizer Gesellschaft. Die Studie von Dell, Pi-ketty und Saez (2007)4 kommt zu einem anderen Schluss: auch die Entwicklung der Vermögenskonzentration in der Schweiz ver-läuft bemerkenswert stabil. Hierzu ist allerdings zu sagen, dass im Gegensatz zu den relativ verlässlichen Daten für die Einkom-mensverteilung die Daten zur Vermögensverteilung höchst un-vollständig sind. Wichtige Vermögensbestandteile wie die obliga-torische kapitalgedeckte Vorsorge in den Pensionskassen oder korrekt bewertete Immobilien bleiben genauso unberücksichtigt wie das Humankapital. Allerdings liesse sich die Frage einer allfäl-lig problematischen Vermögenskonzentration über einen Umweg eruieren. Wäre es tatsächlich so, dass die Vermögenskonzentra-tion in der Schweiz stark zunähme, müsste dies mit einem Erstar-ken des Kapitalanteils an den Spitzeneinkommen zu Lasten des Erwerbseinkommens über die letzten Jahre einhergehen. Denn letztlich geht ein Aufbau von Vermögen aus der Ersparnisbildung der erfassten Einkommen langfristig mit höheren Zinseinkom-men einher. Für die USA zeigen Piketty und Saez (2003)5, dass eher das Gegenteil zutrifft. Während Anfang des 20. Jahrhunderts die Kapitaleinkommen noch einen wesentlichen Anteil an den Spitzeneinkommen ausmachten, hat sich dieser Anteil über die Jahre stark reduziert. Dagegen ist der Lohnanteil gerade in den letzten Jahren stark angeschwollen. Leider gibt es zu dieser Frage für die Schweiz keine gesicherten Erkenntnisse. Gemäss Favre, Föllmi und Zweimüller (2012)6 blieb der Lohnanteil am Volksein-kommen über die letzten 20 Jahre jedenfalls stabil bei leicht über 60 Prozent. Von einer starken Zunahme der Vermögenskonzent-ration in der Schweiz im Unterschied zu den USA auszugehen, ist höchstwahrscheinlich falsch und mit Bestimmtheit spekulativ.

Verliert der Mittelstand?Bisher unbeantwortet blieb die Frage nach der Polarisierung

der Einkommen. Es wäre denkbar, dass die Entwicklung der Spitzeneinkommen zwar relativ stabil verläuft, sich die Pole der Einkommensverteilung gegenüber der Mitte aber zu segregieren beginnen. Leidet der Mittelstand, weil eine Entfremdung zwi-schen den mittleren Einkommen und den Spitzeneinkommen

das 1 Prozent mit den höchsten Einkommen. Das gleiche Bild zeigt sich auch für die Konzentration des Einkommens im obersten Dezil (10 Prozent) bzw. bei den nächsten 4 der obersten 5 Prozent, dem sogenannten oberen Mittelstand. Die jährlichen Schwankun-gen sind vor allem dem Konjunkturverlauf zuzuschreiben und sollten daher auch am aktuellen Rand nicht überinterpretiert werden. Aber es mag doch manchen überraschen zu hören: Die Einkommenskonzentration in der Schweiz war noch Anfang der 1970er Jahre stärker ausgeprägt als heute.

Bisher haben wir die Einkommensverteilung vor Steuern be-trachtet. Mit einer Fiskalquote (Fiskaleinnahmen von Bund, Kanto-nen und Gemeinden sowie Sozialabgaben) von insgesamt etwas über 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – also ohne Zwangsabgaben wie die Beiträge zur 2. Säule und Krankenkassen-prämien – liegt die fiskalische Belastung in der Schweiz zwar im in-ternationalen Vergleich unterhalb des Durchschnitts. Bereits auf-grund des schieren Steuervolumens von knapp einem Drittel des BIP ist allerdings eine Berücksichtigung der Besteuerung für die Frage der Einkommensverteilung durchaus bedeutend. Gerade für hohe Einkommen ist es ausserdem besonders relevant, die verfüg-baren Einkommen nach Steuern genauer zu erfassen, da aufgrund der starken Progression in der Einkommensbesteuerung die Steu-erbelastung für diese Einkommensgruppen eine wesentliche Ein-kommenseinbusse darstellt. Graphik 3 verdeutlicht die Entwick-lung des Einkommensanteils des obersten Perzentils jeweils vor und nach Einkommenssteuern. Es zeigt sich, dass heute die tat-sächliche Progressionswirkung der Einkommenssteuer die Ein-kommenskonzentration im Spitzenperzentil bereits wesentlich, nämlich um einen Prozentpunkt, verringert. Die langfristige Diffe-renz zwischen Vor- und Nachsteuereinkommenskonzentration ist dabei ausgesprochen stabil. Das heisst: die effektive Progressions-wirkung des Einkommenssteuersystems für das Spitzenperzentil in der Schweiz hat sich mit Höchstwerten zu Beginn der 1950er und der 1970er Jahre nicht stark verändert. Noch einmal wird damit be-stätigt, dass der internationale Trend in der Schweiz keinen Nieder-schlag findet: die Entwicklung der Spitzeneinkommen vor und nach der Besteuerung ist bemerkenswert stabil.

Berücksichtigt man die Entwicklung der gesetzlichen Steuer-sätze für die Spitzeneinkommen, wird das Ergebnis des stabilen Steuerkeils zwischen der Einkommenskonzentration vor und nach Steuern plausibel; denn die durchschnittliche Steuerbelastung der 1 Prozent höchsten Einkommen durch Bund, Kantone und Gemein-den hat sich über die letzten 90 Jahre parallel zur Einkommenszu-nahme zuerst ausgedehnt, um seit den 1970er Jahren relativ stabil zu bleiben. Gelegentlich wird eingewendet, dass auch die Bedeu-tung der Abzüge von der Steuerbasis zugenommen habe, wobei sich durch deren regressive Wirkung die tatsächliche Steuerbelas-tung für hohe Einkommen effektiv reduziert habe. Dieses Argu-ment wird durch die Empirie nicht gestützt, widerspiegelt sich mit-hin nicht in den Daten in Graphik 3. Der Steuerkeil für die Einkom-menskonzentration vor und nach Steuern engt sich nicht ein.

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Graphik 1: Anteil der Top-1-Prozent Einkommensbezieher am Gesamteinkommen (in Prozent)

Graphik 2: Anteil der Topeinkommensbezieher am Gesamteinkommen der Schweiz (in Prozent)

Graphik 3: Anteil der Top-1-Prozent Einkommensbezieher am Gesamteinkommen der Schweiz (in Prozent) jeweils vor und nach Einkommenssteuern sowie der Steuerkeil zwischen der Einkommenskonzentration vor und nach Steuern.

Quelle: Alvaredo, Facundo, Anthony B. Atkinson, Thomas Piketty and Emmanuel Saez, The World Top Incomes Database, http://topincomes.g-mond.paris-schoolofeconomics.eu/, Aktualisierung von Schaltegger, C. A. und Gorgas, C. (2011). The Evolution of Top Incomes in Switzerland over the 20th Century. Swiss Journal of Economics and Statistics. 147(4): 479–519.

Quelle: Aktualisierung von Schaltegger, C. A. und Gorgas, C. (2011).

Quelle: Eigene Berechnungen

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Graphik 4: Historische Entwicklung des BIP pro Kopf sowie des Gini-Index für die Schweiz

Graphik 5: Entwicklung des Durchschnitts-, Medianeinkommens und des Gini-Koeffizienten (Real 2010 = 1)

Graphik 6: Polarisierung der Einkommen in den Kantonen nach Esteban, Gardín und Ray

Quelle: BIP pro Kopf: Bolt, J. and J. L. van Zanden (2013). The First Update of the Maddison Project: Re-Estimating Growth before 1820. Maddison Project Working Paper 4; Gini Index: eigene Berechnungen auf Basis des steuerbaren Einkommens.

Quelle: Gorgas, C. und Schaltegger, C. A. (2014). Schrumpfende Mittelschicht in der Schweiz?

Quelle: Gorgas, C. und Schaltegger, C. A. (2014).

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2008

2009

0.45

0.4

0.35

0.25

0.2

0.15

0.1

0.05

0

0.3

CH Durchschnittseinkommen

CH Gini (rechte Skala)

CH Medianeinkommen

43-4

4

45-4

6

1947

1948

49-5

0

51-5

2

53-5

4

55-5

6

57-5

8

59-6

0

61-6

2

63-6

4

65-6

6

67-6

8

69-7

0

71-7

2

73-7

4

75-7

6

77-7

8

79-8

0

81-8

2

83-8

4

85-8

6

87-8

8

89-9

0

91-9

2

93-9

4

95-9

6

97-9

8

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

0.18

0.16

0.14

0.12

0.1

0.08

0.06

0.04

0.02

0

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stattfindet? Erste Hinweise liefert uns der Vergleich zwischen dem Median- und dem Durchschnittseinkommen (Graphik 5). Ein Auseinanderdriften dieser beiden Grössen wäre ein Indiz für eine verstärkte Entfremdung. Es würde bedeuten, dass das Einkom-men des mittleren Steuerzahlers im Vergleich zu den durch-schnittlichen Einkommen aller Steuerzahler zusammen absinkt. Doch auch hier zeigt sich, dass sich die beiden Indikatoren seit den 1970er Jahre nicht auseinanderbewegen.

Ein genauerer Indikator zur Messung der Entfremdung zwi-schen den höchsten und tiefsten Einkommen bieten Polarisie-rungsmasse. Steigende Einkommenspolarisierung beschreibt eine sich öffnende «Lücke» zwischen Arm und Reich beziehungsweise ein Schrumpfen der Mittelschicht als Bindeglied zwischen den Polen. «Entfremdung» bedeutet somit zunehmende Heterogeni-tät zwischen der Mittel-, Ober- und Unterschicht bei gleichzeitig zunehmender Homogenität innerhalb der sozialen Schichten. Dies wäre der Nährboden für von der Politik ausgemachte soziale Spannungen in einer Gesellschaft. Ist für die Schweiz eine solche Entwicklung zu beobachten?

Die langfristig stabilen Werte des entsprechenden Polarisie-rungsmasses von Esteban, Gardín und Ray (2007)7 um 0,1 in Gra-phik 6 für die Einkommensentfremdung in den Kantonen spre-chen auch hier eine eindeutige Sprache. Es lässt sich keine Polari-sierung bei zunehmender Heterogenität beobachten. Stabil bleibt sowohl die Polarisierung der Einkommen im mittleren Kanton (Median) wie auch der Interquartilsabstand unter den Kantonen, was auf eine ähnliche Entwicklung in allen Kantonen schliessen lässt. Die Bevölkerungsanteile in der Ober-, Unter- und Mittel-schicht sind im allgemeinen stabil, und es wird keine zunehmende Spaltung der Einkommen zwischen den sozialen Schichten sicht-bar. Offensichtlich können wir in der Schweiz von einem stabilen Mittelstand ausgehen.

In der bisherigen Argumentation haben wir letztlich auch noch vernachlässigt, dass ein wichtiger Aspekt in der Verteilungs-diskussion die Chancengerechtigkeit darstellt. Welche Chancen bietet eine Gesellschaft, in der Einkommenspyramide aufzustei-gen, und welche Risiken bestehen, den Status einzubüssen? Eine chancenreiche meritokratische Gesellschaft ist durchlässig und zeichnet sich durch eine hohe soziale Mobilität aus. Das heisst, talentierte und fähige Personen können unabhängig von Herkunft und sozialem Status zu Reichtum gelangen. Für die Schweiz gibt es zu dieser Frage relativ wenig systematische empirische Evi-denz, zudem ist die internationale Vergleichbarkeit einge-schränkt. Untersucht wurden Fragen zur Einkommens-, Lohn- und Bildungsmobilität. Insgesamt gehen Bauer (2006)8 und de Coulon und Zürcher (2004)9 von einer höheren sozialen Mobilität in der Schweiz im Vergleich zu den USA aus. Die skandinavischen Länder scheinen allerdings noch grössere Chancen zu bieten als die Schweiz. Interessant ist dabei, dass die soziale Mobilität in der Schweiz bei einheimischen Bürgern wesentlich höher ist als bei Zugewanderten. Weiter scheint das Schulalter, ab welchem die

Schultypen selektioniert werden, von Bedeutung zu sein – je spä-ter die Trennung vorgenommen wird, desto geringer die Bedeu-tung des elterlichen Status für die Chancen der neuen Generation.

Einen Gesunden nicht therapierenFassen wir zusammen: Über 165 Jahre nach Jakob Stämpflis

Verdikt kann die «soziale Frage» als weitgehend gelöst betrachtet werden. Die rasante Bedeutungszunahme des Sozialstaats und die umfassende Konzeption des Sozialversicherungsschutzes haben ihre Wirkung entfaltet. Die Verteilung der Einkommen in der Schweiz ist bemerkenswert stabil, eine zunehmende Öffnung der Einkommensschere zwischen Spitzeneinkommen und dem restli-chen Einkommen in der Gesellschaft ist nicht zu beobachten, eine Polarisierung der gesellschaftlichen Schichten muss nicht be-fürchtet werden, und die gesellschaftlichen Realitäten lassen durchaus ein beachtliches Mass an sozialer Mobilität erkennen.

Wesentlicher Treiber dieser günstigen Ausgangslage ist ers-tens die bisher relativ liberale Arbeitsmarktregulierung, die eine hohe Erwerbsquote und damit ein breites Streuen der Einkom-menszuwächse erlaubt. Gleichzeitig ist die hohe Erwerbsquote der sozialen Mobilität zuträglich. Zweitens ist die Steuer- und So-zialversicherungspolitik der Schweiz ein wesentlicher Grund da-für, dass einerseits über den kantonalen Steuerwettbewerb in der Besteuerung weitgehend intakte Erwerbsanreize bewahrt werden konnten und andererseits aber über die starke Progression der di-rekten Bundessteuer und des steuerlichen Charakters der AHV für hohe Einkommen eine effektive Kompression der Einkom-mensspreizung erreicht wird. Die Verteilungspolitik der Schweiz ist ein fein austariertes System, das insgesamt betrachtet relativ effektiv wirkt. Grundlegender sozialpolitischer Handlungsbedarf zu einer angeblichen Stärkung des gesellschaftlichen Zusammen-halts lässt sich aus einer nüchternen Analyse der Verteilung des Wohlstandes nicht ableiten. �

1 Zitiert nach Sommer, Jürg (1978). Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz: eine politisch-ökonomische Analyse der Ursprünge, Entwicklungen und Perspektiven sozialer Sicherung im Widerstreit zwischen Gruppeninteressen und volkswirtschaftlicher Tragbarkeit, Rüegger: 41. 2 Vgl. Kuznets, Simon (1955). Economic Growth and Income Inequality. In: American Economic Review 45 (March): 1–28. 3 Vgl. http://topincomes.g-mond.parisschoolofeconomics.eu/ 4 Vgl. Dell, F., Piketty, T. and Saez, E. (2007). Income and Wealth Concentration in Switzerland of the 20th Century. In: Atkinson, A. B. and Piketty, T. (Eds.), Top Incomes over the Twentieth Century: A Contrast between Continental European and English-Speaking Countries. Oxford: Oxford University Press. 5 Vgl. Piketty, T. und Saez, E. (2003). Income Inequality in the United States, 1913–1998. In: Quarterly Journal of Economics, 118(1): 1–39. 6 Vgl. Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen für das Lohngefüge. In: Schellenbauer, Patrik und Müller-Jentsch, Daniel (Hrsg.): Der strapazierte Mittelstand, Zürich: Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung: 99–122. 7 Vgl. Esteban, Joan, Gardín, Carlo und Ray, Debraj (2007). An Extension of a Measure of Polarization, with an application to the income distribution of five OECD countries. In: Journal of Economic Inequality, 5 (1): 1–19. 8 Vgl. Bauer, Philipp, 2006. The Intergenerational Transmission of Income in Switzerland: A Comparison between Natives and Immigrants, WWZ Discussion Paper 0601. 9 Vgl. de Coulon, Augustin, und Zürcher, Boris A. (2004). Low Pay Mobility in the Swiss Labour Market. In: Minimum Wages, Low Pay and Unemployment, Hrsg. D. E. Meulders, R. Plasman und F. Rycx. Palgrave Macmillan.

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SCHWEIZER MONAT SONDERTHEMA 17 SEPTEMBER 2014

Kai Felmy

Schweizer Monat SonDertheMa 17 SePteMBer 2014

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4 Wo ist die liberale konterrevolution?Ich hatte einen Onkel, der mir alle zwei Wochen ins Stammbuch schrieb: Wenn es dir gut geht, musst du besonders aufpassen! Das will ich weitergeben: Ein Sensibilisierungsprogramm in 10 Punkten.

von Kaspar Villiger

Die Schweiz ist ein äusserst erfolgreiches Land mit nur etwas mehr als 8 Millionen Einwohnern. Das entspricht einer mitt-

leren chinesischen Grossstadt. Dieser Erfolg hat neben glückli-chen Zufällen viel mit den Institutionen und einer besonderen politischen Kultur zu tun, die beide von Generationen von Bür-gern aufgebaut worden sind. Heutzutage werden Nobelpreise in Ökonomie bisweilen auf der Basis von Erkenntnissen vergeben, die durch Experimente mit Studenten in Labors gewonnen wur-den. Warum eigentlich wird nicht auch die Schweiz als interes-santes politisches und ökonomisches Experiment aufgefasst, al-lerdings mit 8 Millionen werktätiger Probanden anstelle einer Handvoll Jugendlicher im Seminarraum? Statt dass man aller-dings von diesem Experiment zu lernen versucht, wird die Schweiz von vielen ausländischen Politikern (allerdings weniger von deren Bürgern!) zunehmend kritisiert. Aber Neid ist ja be-kanntlich die ehrlichste Form der Anerkennung. Das Problem ist nur: Lange währender Erfolg macht träge und selbstzufrieden. Und überheblich.

Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolg wird in der Schweiz mittlerweile als selbstverständlich betrachtet. Die Erfah-rung, dass Erfolg stets aufs neue erkämpft werden muss, geht ver-loren, und jene, die daran erinnern, werden belächelt. Nur wenige im Lande machen sich grundsätzliche Gedanken zu den Funda-menten unseres Wohlstands und sind bereit, für deren Erhalt auf die Barrikaden zu steigen. Und viele, die es wissen müssten, bril-lieren durch Bequemlichkeit und Mangel an Mut. Die professio-nellen Empörungsbewirtschafter sorgen dafür, dass sich die Poli-tik im Modus einer sorgsam gepflegten Daueraufregung auf Ne-benkriegsschauplätzen befindet. Alle reden von Ungleichheit, alle reden von Ungerechtigkeit, alle reden von Umverteilung, und dies in einem Lande, dessen Zustand den Bewohnern anderer Staaten schlicht als paradiesisch erscheint.

Ich hatte einen Onkel, der mich noch mit über 90 Jahren wö-chentlich im Büro besuchte und mir jedes zweite Mal ins Stamm-buch schrieb: Wenn es dir gut geht, musst du besonders aufpas-sen! Dann beginnst du Fehler zu machen. Das, meine ich, müsste man auch vielen Akteuren der Schweizer Politik und deren Gehil-fen in der Medienlandschaft ins Stammbuch schreiben.

Die 10 Gebote des WohlstandsDie Schweiz ist nach dem Weltreichtumsreport der Allianz-

Versicherung gemessen am Pro-Kopf-Vermögen vor den USA, Ja-pan, Dänemark und Holland mit Abstand das reichste Land der Welt. Die Schweizer haben seit dem letzten Jahr die höchste Le-benserwartung der Welt, ganz abgesehen davon, dass sie über ei-nes der besten Gesundheitssysteme verfügen. Die Einkommens-verteilung ist gemessen an allen verfügbaren statistischen Daten ausgeglichener als in den meisten OECD-Ländern. Man beachte: Nur Kuba und Nordkorea sind noch wesentlich ausgeglichener. Diese Verteilung ist trotz ganz wenigen Ausreissern nach oben in den letzten Jahrzehnten stabil geblieben, und die Armut hat unge-achtet problematischer Berechnungsweisen («relative Armut») abgenommen. Das World Economic Forum hat die Schweiz auf der Basis einer Reihe von Indikatoren zum wettbewerbsfähigsten Land der Welt erklärt und die EU-Kommission zum innovativsten. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 3 Prozent die tiefste in Europa, die Beschäftigung mit Abstand die höchste. Das alles ist indes nicht gottgegeben.

Es gibt eine Unzahl von Büchern und Studien, die sich mit der Frage befassen, warum einige Länder Wohlstand erarbeiten und andere nicht. Es ist dies die Frage, die mich schon als Finanzminis-ter umtrieb. Ich habe einerseits versucht, Erkenntnisse aus mei-nen Erfahrungen als Unternehmer und Politiker herauszudestil-lieren. Andererseits habe ich in der ökonomischen Literatur und in Gesprächen mit Wissenschaftern nach Bestätigung oder Nicht-bestätigung meiner Erfahrungen gesucht. Dort, wo sich wissen-schaftliche Erkenntnis und Erfahrung decken, gehe ich davon aus, dass das Ergebnis robust ist. Ich will versuchen, das in zehn Gebote des Wohlstandes zu verdichten.

kaspar Villigerist alt Bundesrat und Autor u.a. von «Pendler zwischen Wirtschaft und Politik. Essays und Reden» (Stämpfli, 2014). Er leitete das Familien-unternehmen Villiger Söhne AG in Pfeffikon/Luzern, bis er 1989 von der Bundesversammlung in den Bundesrat gewählt wurde. Er stand zuerst dem Militärdepartement vor, ab 1996 dem Finanzdepartement. 1995 und 2002 war er Bundespräsident. 2003 trat er aus dem Bundesrat zurück und übernahm seither verschiedene Verwaltungsratsmandate.

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Kaspar Villiger, photographiert von Philipp Baer.

«Lange währender Erfolg macht träge und selbstzufrieden.Und überheblich.»kaspar Villiger

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Erstes Gebot: Der Staat soll die Steuerung von Angebot und Nachfrage den Märkten überlassen.

Ein Staat kann keinen Wohlstand erwirtschaften, das können nur seine Bürger. Erarbeiten die wirtschaftlichen Akteure keinen zureichenden Wohlstand, verliert der Staat in den Augen seiner Bürger rasch seine Legitimation. Die Belohnung von Erfolg und Bestrafung von Misserfolg auf den Märkten ist ein unermüdlicher Treiber des Wohlstandes. Die Märkte erfüllen ihre Allokations-funktion aber nur dann zureichend, wenn der Staat ihnen genü-gend Freiräume belässt. Nur eine freiheitliche Wirtschaftsord-nung wird die erwartete Leistung erbringen. Staatseingriffe in die Märkte haben das Potential, auch gut funktionierende Marktwirt-schaften abzuwürgen. Der Preis der Freiheit ist allerdings die Ver-antwortung. Es liegt im ureigensten Interesse der Unternehmen, eine Unternehmungskultur zu pflegen, welche sich an die Prinzi-pien des ehrbaren Kaufmanns hält – sonst machen sich die Regula-toren an die Arbeit, und die Unternehmen dürfen sich nicht bekla-gen. Mit ein Grund für die aktuelle Regulierungswelle ist die Wahr-nehmung der Politiker, viele Manager hätten solche Werte massiv verletzt. Allerdings ist diese Wahrnehmung oftmals bloss vorge-schoben, denn der weitaus grösste Teil der Unternehmen wird ta-dellos geführt. Sonst ginge es der Schweiz niemals so gut. Freiraum für Märkte bedeutet auch, den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsaustausch zu liberalisieren. Dieses Konzept, unter dem Stichwort «Globalisierung» gelobt und verteufelt, war in den letzten 60 Jahren beispiellos erfolgreich. Im Gegensatz zu dem, was uns Medien und Hilfswerke immer einreden wollen, ist die Welt nicht ungleicher geworden, hat die Armut trotz Bevölke-rungsexplosion abgenommen, hat sich der Hunger verringert, ist die Lebensqualität für einen grossen Teil der Weltbevölkerung markant gestiegen und bildet sich in vielen früher mausarmen Ländern ein Mittelstand, der die Armut überwunden hat.

Zweites Gebot: Der Staat soll die Reaktion der Menschen bedenken, wenn er etwas reguliert.

Ohne die Durchsetzung elementarer Regeln ist auch eine mo-derne Marktwirtschaft nicht funktionsfähig. Regeln aber vermit-teln immer Anreize. Die Verhaltensökonomie zeigt, dass Men-schen auf solche «Incentives» reagieren. Die gleichen Menschen verhalten sich unterschiedlich, wenn ihre Institutionen und Kul-turen unterschiedliche Anreize vermitteln. Weil Politiker diesen Tatbestand aufgrund des in der Politik verbreiteten statischen Denkens oder wegen ideologischer Scheuklappen oft nicht be-rücksichtigen oder falsch einschätzen, hat ein grosser Teil der staatlichen Erlasse andere als die beabsichtigten Wirkungen. Ein Beispiel sind die Eingriffe in die Arbeitsmärkte zum Schutz der Arbeitnehmer oder hohe Mindestlöhne, welche bloss zu höherer Arbeitslosigkeit führen, damit die gegenteilige als die beabsich-tigte Wirkung entfalten und sich gegen die zu Schützenden rich-ten. Eine weitere Erkenntnis ist wichtig: Auch eine Häufung im einzelnen begründbarer Regulierungen entwickelt in der Summe

durch ihre unberechenbaren Interaktionen eine neue wachstums-lähmende Qualität. Montesquieus weiser Satz darf heute noch mehr Gültigkeit beanspruchen als damals: «Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es nötig, kein Gesetz zu machen!»

Drittes Gebot: Die Menschen sollen die Früchte ihrer Arbeit behalten dürfen.

Innovationen, die von Unternehmern, Kaufleuten und Inge-nieuren entwickelt und umgesetzt werden, sind Motoren des Wohlstandes. Dafür müssen die Menschen hart arbeiten, sparen, investieren, innovieren, sich ständig aus- und weiterbilden. Das alles werden sie nur dann tun, wenn sie dazu die nötigen Frei-räume haben und wenn sie die Früchte ihrer Arbeit behalten dür-fen. Hier ist der Staat gefordert: Er muss Eigentum schützen durch moderate Steuern, stabilen Geldwert, gutes Patentrecht. Er muss Freiräume durch Wirtschafts- und Vertragsfreiheit sowie durch zurückhaltende Regulierung sichern. Er muss weiter durch den Rechtsstaat langfristige Stabilität und Berechenbarkeit schaffen, den Wettbewerb vor der Wirtschaft selber schützen, in leistungs-fähige Infrastrukturen investieren und Dienstleistungen in Berei-chen wie etwa des Rechtswesens, der Bildung, der Aussenwirt-schaftspolitik oder des Sozialwesens erbringen. Das alles belegt, dass die Marktwirtschaft auf einen effizienten Staat angewiesen ist, weil sie selber die Bedingungen für ihr eigenes Überleben nicht zu schaffen vermag. Staat und Wirtschaft bilden ein niemals konfliktfreies, aber im Idealfall fruchtbares Zusammenspiel.

Viertes Gebot: Alle müssen die Chance erhalten, ihre Talente, Fähigkeiten und Neigungen zu nutzen.

Eine moderne Volkswirtschaft muss den Talentpool des gan-zen Volkes nutzen können, nicht nur den einer privilegierten Min-derheit. Das braucht eine offene und durchlässige Gesellschaft, Chancen- und Rechtsgleichheit sowie Bildungsmöglichkeiten für alle. Das kann auf Dauer wohl nur eine Demokratie sichern. Was es nicht braucht, sind Lohnpolizisten, Genderkontrolleure und an-dere Vertreter einer neuen staatlichen Misstrauenskultur.

Fünftes Gebot: Neues muss Obsoletes ersetzen können.Nur die stete Erneuerung kann Wohlstand auf Dauer sichern.

Sie entsteht durch die Initiative von Individuen, die bereit sind, grosse persönliche Risiken auf sich zu nehmen und Neues zu wagen. Joseph Schumpeter nannte dies die «schöpferische Zerstörung». Es muss alles vermieden werden, was diesen Prozess behindert: übersteigerter Kündigungsschutz, Behinderung von Betriebsstill-legungen, Ächtung neuer Technologien.

Sechstes Gebot: Alle sollen angemessen am Wohlstand teilhaben können.

Man mag dies wollen oder nicht: Die Verhaltensökonomie zeigt, dass die Menschen eine angeborene Fairnesspräferenz haben. Sie bekunden Mühe, zu grosse und nicht nachvollziehbare Wohl-

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standsunterschiede innerhalb der Grossgesellschaft zu akzeptie-ren. Die emotionale Diskussion über Managersaläre ist ein Aus-druck davon. Fakt ist: Marktwirtschaft schafft materielle Un-gleichheiten. Der Staat muss diese massvoll glätten, sonst verliert die Marktwirtschaft an Akzeptanz beim Volk, was ihre notwendi-gen Freiräume politisch gefährdet. Progressive Steuern und So-zialwerke, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit berück-sichtigen, sind geeignete Umverteilungsinstrumente zum Wohl-standsausgleich. Allerdings zeigt sich hier ein grundsätzlicher Zielkonflikt: Greift der Staat zu viel ein, schafft er Fehlanreize. Beide, Zahler und Bezüger, erhalten Anreize zur Leistungsvermin-derung, die den Wohlstand gefährden. Greift der Staat hingegen gar nicht ein, empfinden die Menschen das System als ungerecht. Das wirkt sich politisch aus durch mehr Interventionismus, der am Ende alle ärmer macht. Gleichheit und Wohlstand sind eben nicht gleichzeitig maximal erreichbar oder anders gesagt: Gleich-heit ist nur um den Preis allgemeiner Armut zu haben. Der Staat darf erstens keine Illusionen nähren und muss zweitens dafür sorgen, dass alle genug zum Leben haben und Leistung nicht be-straft wird. Weil die Grösse des zu verteilenden Kuchens von einer möglichst effizienten Marktwirtschaft abhängt, darf die Glättung des Wohlstandes nicht über Markteingriffe erfolgen. Sonst wird der Kuchen kleiner, und es gibt weniger zu verteilen. Es geht da-rum, die primäre marktbedingte Ungleichheit hinzunehmen und diese in einem zweiten Schritt angemessen zu glätten.

Siebtes Gebot: Du sollst den Wert des Geldes in Ehren halten.Langfristig ist die Bewahrung des Geldwertes für die Erhal-

tung von Wohlstand äusserst wichtig. Inflation enteignet viele und begünstigt wenige. Zu tiefe Zinsen, welche die Risiken nicht mehr reflektieren, führen zu Verzerrungen, Fehlallokationen und Blasen. Sie vermitteln Anreize zu übermässiger Verschuldung. Die Erfahrung zeigt, dass politisch nicht unabhängige Notenbanken stets von den Politikern für ihre Interessen missbraucht werden, beispielsweise um Menschen kalt zu enteignen und um Struktur-schwächen zu überdecken, deren Behebung politisch unange-nehm ist. Deshalb müssen Notenbanken einen klar und eng defi-nierten Auftrag haben. Dieser Auftrag kann nur die Sicherung der Geldwertstabilität sein. Ich halte die Erweiterung des Auftrages wie in den USA auf die Maximierung der Beschäftigung oder wie bei der EU auf die Bankenaufsicht für verhängnisvoll. Sie führt zu einer fatalen und demokratisch nicht legitimen Politisierung der Notenbanken.

Achtes Gebot: Staaten, Gliedstaaten und Kommunen müssen ihre Aufgaben selbstverantwortlich und im Wettbewerb wahrnehmen.

Nur wenn Gliedstaaten und Kommunen auch für die Finan-zierung ihrer Aufgaben zuständig sind und gleichzeitig wissen, dass ihnen niemand hilft, wenn sie in Finanznot geraten, haben sie genügend Anreize, ihre Selbstverantwortung wahrzunehmen.

Der Systemwettbewerb führt zu innovativen Lösungen, die sich im Erfolgsfall verbreiten, und er ist der beste Test für Regulie-rungsfolgen. Der Steuerwettbewerb schützt den Bürger vor staat-licher Ausbeutung und zwingt den Staat zu einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis wie bei einem Unternehmen.

Neuntes Gebot: Der Staat soll seine Verschuldung an Nachhaltigkeit orientieren.

Alle Finanzkrisen sind Verschuldungskrisen. Sie haben tief-greifende und lange anhaltende negative Effekte auf Assetpreise, Wachstum und Beschäftigung. Das weiss man eigentlich schon lange. Man kann auch empirisch belegen, dass Schuldenstände über 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das Wachstum signifikant beeinträchtigen. Der staatliche Handlungsspielraum geht verloren, Lasten, beispielsweise im Sozialbereich, werden auf künftige Generationen verlagert. Man wagt sich nicht auszu-denken, was etwa in den USA oder in europäischen Ländern ge-schähe, wenn die Zinsen ein normales Niveau erreichten. Die Fi-nanzpolitik vieler Industrieländer in den guten Jahren vor der Krise war schlicht unverantwortlich. Es zeigt sich auch, dass nur Konsolidierungsstrategien erfolgreich sind, die schwergewichtig bei den Ausgaben ansetzen. Hinzu kommt ein weiteres: Die Staatsrechnungen zeigen nur einen Teil der Wahrheit, nämlich die explizite Verschuldung. Nicht ausgewiesen werden die recht-lich verbindlich versprochenen, aber nicht finanzierten Sozial-leistungen. Sie bilden die sogenannte implizite Verschuldung. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass global allein die demographiebedingten nicht finanzierten Mehrkosten der So-zialversicherungen das Zehnfache der Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise ausmachen. Der CFO einer Grossbank, der seine Bilanz wie ein Staat darstellte, wäre längst im Gefängnis.

Zehntes Gebot: Die Demokratie muss ihre Fehlanreize institutionell und kulturell bändigen.

Eigentlich gibt es zur Demokratie keine vertretbare Alterna-tive. Nur sie kann Machtmissbrauch bändigen und die Entstehung einer ausbeuterischen politischen Oligarchie verhindern. Die Pu-blic-Choice-Theorie von Nobelpreisträger George Buchanan zeigt und die Erfahrung bestätigt, dass auch die Politiker wie die Wirt-schaftenden ihren Eigeninteressen folgen. Sie sind nicht von hö-herer Moral beseelte Menschen. Ich möchte drei Fehlanreize der Demokratie erwähnen: Erstens wollen Politiker wiedergewählt werden und denken deshalb in Legislaturen und nicht in Genera-tionen. Zweitens versprechen und beschliessen Politiker aus wahlpolitischen Gründen mehr, als Staat und Wirtschaft zu finan-zieren vermögen. Sie tun das deshalb, weil nicht sie, sondern ihre Nachfolger oder die nächsten Generationen für die Schulden haf-ten. Es kam noch kein Politiker ins Gefängnis, weil er seinen Staat in den Bankrott führte. Manche bekamen sogar Denkmäler! Drit-tens werden häufig jene Probleme angepackt, die gerade von den Medien oder den Politikern selber hochgespielt werden und nicht

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die wirklich wichtigen. Nicht nur von den Führungskräften der Wirtschaft, sondern auch von Politikern ist eine Verstärkung der Kultur der Verantwortung zu fordern. Institutionell gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Anreize in der richtigen Rich-tung zu verändern, etwa durch Schuldenbremsen oder durch eine strukturelle Stärkung der Selbstverantwortung, wie ich sie vorher bei den Strukturen der Gliedstaaten erwähnt habe.

Die politische Kultur der Schweiz: die sechs PrinzipienDie Schweiz wird nicht von einer gemeinsamen Kultur, Kon-

fession oder Sprache zusammengehalten. Im Gegenteil: sie ist im Grunde voller zentrifugaler Kräfte. Trotzdem ist sie seit langem überdurchschnittlich stabil. Sie wird im wesentlichen von sechs politischen Prinzipien zusammengehalten.

Das erste Prinzip (1) ist die Freiheit, und zwar einerseits als in-dividuelle Freiheit, gepaart mit Selbstverantwortung, anderer-seits als Freiheit gegenüber einem übermächtigen eigenen Staat und gegenüber politischer Einflussnahme von aussen, beispiels-weise von Brüssel.

Das zweite (2) ist das genossenschaftliche Prinzip, das zum freiheitlichen in einem permanenten Spannungsverhältnis steht und sich etwa äussert in breit akzeptierten Sozialwerken, in kolle-gial strukturierten Regierungen oder in der Suche nach Lösungen im Konsens.

Weil praktisch jeder Schweizer irgendeiner Minderheit ange-hört, sei es einer sprachlichen, konfessionellen, regionalen oder kulturellen, gibt es drittens (3) einen verwurzelten Respekt Min-derheiten gegenüber.

Die Schweiz unterscheidet sich von anderen europäischen Ländern durch einen tief verwurzelten kulturellen Faktor. Der be-deutende politische Denker Karl Schmid bezeichnete ihn als die allgemeine Sorge aller um das Gemeinwesen. Die Politik wird nicht an eine abgehobene politische Kaste delegiert, sondern die Bürger treten, wie einst Gottfried Keller schrieb, vor die Haustüre und sehen zum Rechten. Daraus erwächst das, was wir als Miliz-prinzip bezeichnen. Es ist das vierte (4) der sechs Prinzipien und drückt sich darin aus, dass zahllose Bürger nebenamtlich für die res publica tätig sind, beispielsweise in kantonalen oder nationa-len Parlamenten oder als Kader in der Armee.

Ausdruck der gleichen Kultur ist die direkte Demokratie, das fünfte (5) unserer Prinzipien. Sie ist zum eigentlichen Identitäts-merkmal der Schweiz geworden. Fast alle zentralen politischen Entscheide werden in letzter Instanz vom Stimmvolk getroffen. Das gibt politischen Entscheiden hohe Legitimität, es fördert die Identifikation mit dem Staat und es zwingt die Bürger zur perma-nenten Befassung mit der Politik.

Das sechste (6) Prinzip ist der Föderalismus mit Kantonen und Gemeinden mit hoher Autonomie, auch hoher Finanzautonomie. Er gestattet den Minderheiten die Gestaltung des näheren politi-schen Umfeldes gemäss ihrer besonderen Identität. Er bändigt die Macht des Staates durch Teilung, er führt durch Systemkonkur-

Emilija Hristova stammt aus Mazedo-nien, einer der schwächsten Volkswirt-schaften Europas. Seit 2012 doktoriert sie im Gebiet Epigenetik am Botani-schen Institut der Universität Basel. Ihre Heimat sieht sie kritisch: «Wir haben praktisch keinen Privatsektor. Stell dir vor, in einem Land zu leben,

in dem die Arbeitslosigkeit zwischen 30 und 40 Prozent liegt. Ebenso viele Leute arbeiten für die Regierung. Das kann nicht gesund sein. Geforscht wird nur an den Universitäten, und die stellen allein Leute mit der passenden politischen Einstellung an.» Die Botanikerin würde später gerne für die Privatwirtschaft forschen, am liebsten bei der Agrarfirma Syngenta oder beim Pharma-konzern Roche. Nach Mazedonien zurückkehren möchte sie auf keinen Fall. Schliesslich sei die Lebensqualität einer Schweizer Putzfrau bei dem hohen Mindestlohn, den wir hätten, höher als die von Leuten mit Doktortitel in Mazedonien. «Leider wissen die meisten Schweizer nicht einmal, wie gut es ihnen geht.» Immerhin könnten sie problemlos überallhin reisen und auf der ganzen Welt arbeiten. Emilija ist erstaunt, trotzdem manchmal Drogenabhängigen zu begegnen, da in der Schweiz jeder unabhängig von seiner Herkunft die Möglichkeit hätte, ein gutes Leben zu führen. Nach den jüngsten Abstimmungsresultaten gefragt, meint sie: «Bis jetzt haben die Schweizer immer vernünf-tig abgestimmt, siehe Mindestlohninitiative. Ich war überrascht, dass das Referendum vom 9. Februar ange-nommen wurde.» Die junge Mazedonierin weiss zwar, dass die Schweiz einen der höchsten Ausländeranteile Mitteleuropas hat. Dennoch kann sie nicht verstehen, weshalb die Schweizer die Einwanderung begrenzen wollen. «Firmen wie Novartis leben doch davon, dass sie die Besten aus der ganzen Welt anstellen können. Wenn man ihnen das verbietet, werden sie an Einfluss verlieren. Und das wird der Schweiz schaden.» Sie lehnt sich zurück und denkt einen Moment nach. «Wenn sich diese Entwicklungen fortsetzen, werden die Überflieger und klugen Köpfe auswandern. Und dann könnte es der Schweiz eines Tages so ergehen wie Mazedonien.»

Florian Oegerli

Emilija Hristova Botanikerin, *1986

Leistungsträger im Gespräch

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renz zu bürgernäheren, gezielteren und effizienteren staatlichen Dienstleistungen, und er bewahrt die Bürger vor überbordendem Fiskalismus.

Wie halten es die Schweizer mit den zehn Geboten?Ich glaube, dass die geschilderte politische Kultur mit ein

Grund dafür ist, dass die zehn Gebote in der Schweiz zwar bei weitem nicht perfekt, aber doch im internationalen Vergleich überdurchschnittlich befolgt werden. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz auf den Weltmärkten.

Die verfassungsmässig abgesicherten Handels-, Gewerbe- und Vertragsfreiheiten sind ausgeprägt. Die Skepsis gegenüber einem zu mächtigen Staat sowie der Sinn für Selbstverantwortung und Freiheit führen zu einer verhältnismässig tiefen Staatsquote (allerdings auch schon gegen 50 Prozent!), einer moderaten Steu-erbelastung für Unternehmen und tiefe und mittlere Einkommen sowie einer im Vergleich vernünftigen Regelungsdichte. Leider gibt es auch bei uns eine zunehmende Tendenz, die Bürger durch Regulierung zu bevormunden. Das Volk hat an der Urne aber im-mer wieder die Regulierungswut gedämpft. Einige jüngere Volks-entscheide und eine Häufung wirtschaftlich riskanter Volksinitia-tiven haben allerdings die Befürchtung geweckt, der Sinn für Frei-heit im Volk könnte ebenfalls einer gewissen Erosion unterworfen sein. Lange waren in der Binnenwirtschaft die Märkte durch Kar-telle verkrustet. In den letzten Jahren wurden aber diese Märkte grösstenteils aufgebrochen.

Auch wir haben natürlich zahlreiche Regulierungen mit Fehlanreizen, die nach dem zweiten Gebot eigentlich nicht zuläs-sig sind. Aber die generell noch tiefe Regulierungsdichte verhin-derte bisher Schlimmeres, und die direkte Demokratie mit ihren langwierigen und umständlichen Prozessen mag zwar hin und wieder geniale Lösungen erschweren. Aber viel wichtiger: sie ver-hindert auch geniale Fehler.

Das dritte Gebot, welches die kalte Enteignung der Leistungs-träger verhindern will, wurde durch die moderaten Steuern, die überdurchschnittliche Geldwertstabilität und die recht solide Ei-gentumsgarantie bisher zureichend eingehalten. Elemente wie eine gute Infrastruktur, hohe Rechtssicherheit, verlässliche Ver-waltung und wenig Korruption sind zusätzliche Erfolgsfaktoren.

Das vierte Gebot, die Nutzung des nationalen Talentpools, wurde in der Schweiz schon früh befolgt. Einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Wohlstandes im 19. Jahrhundert war die Einführung einer qualitativ hochwertigen Volksschule, die recht eigentlich die nationalen Begabtenreserven erschloss. Als Er-folgsmodell erweist sich das duale Bildungssystem, das nicht nur qualitativ gute Hochschulen umfasst, sondern auch eine hervorragende Berufsbildung. Dieses System produziert nicht wie in vielen Ländern durch übertriebene Akademisierung am Bedarf der Wirtschaft vorbei, und es ist so durchlässig, dass auch tüchtige Berufsleute über Weiterbildung grosse Karrieren ma-chen können.

Carlos Ruiz, Brille, Bart, weisses Hemd, bestellt seinen Kaffee in nahezu akzentfreiem Schweizerdeutsch. Das Gespräch führen wir allerdings auf Englisch. Das ist ganz im Sinne des jungen Mexikaners, der das internationale Umfeld in der Schweiz schätzt. «In Mexiko gibt es nicht genug

Ausländer! Daran leidet die Innovation», sagt er. In den frühen Nullerjahren freundete sich Ruiz während eines Sprachaufenthalts in Kanada mit einigen Schweizern an. Er entschied sich schliesslich, in Zürich Politikwissen-schaften zu studieren. Als er wegen der Finanzkrise seine Arbeit bei der Credit Suisse verlor, beschloss er, sich selbständig zu machen. Zusammen mit seinen Mitbewohnern, zwei Maschinen-bauingenieuren, gründete er Flatev. Die Firma stellt eine Kapselmaschine her, die in Sekundenschnelle frische Tortillas backt und mit der passenden Füllung versieht. «Ich habe mit den Leuten von Nespresso gesprochen. Sie haben gesagt, dass sie auf so etwas nie gekommen wären. Das liegt an ihrer zentraleuropäischen Perspekti-ve. Darum ist es gut, ein kosmopolitisches Arbeitsumfeld zu schaffen.» Carlos findet, dass die Schweizer zu sicherheitsbedürftig seien. «Die Leute hier verlassen ihre Komfortzone nur, wenn sie müssen.» Aber er betont, dass sich das in den letzten Jahren geändert habe. Mehr und mehr Menschen würden sich selbständig machen. Gefragt, was die Schweiz so erfolgreich mache, nennt er das duale Bildungssystem mit der Berufslehre und die direkte Demokratie. Er wünscht sich allerdings, dass die Stimmbürger sich vertiefter mit den Abstim-mungsunterlagen auseinandersetzen und an das grosse Ganze denken statt nur an sich selbst. «Überall heisst es, dass die Reichen nicht genug stark besteuert würden. Aber die Leute müssten sich einmal ansehen, wie viel Prozent die Reichen bereits zum Staatseinkommen beitragen!» Der Jungunternehmer bekennt sich zur Leistungsgesellschaft. Er sei gegen die Mindestlohninitia-tive gewesen. Die Schweiz müsse kompetitiv bleiben. Auch die Isolationstendenzen bereiten ihm Sorgen: «Wenn du dir die Schweizer Start-up-Nationalmann-schaft von Venturelab ansiehst, sind mindestens 60 Prozent der Gründer Ausländer. Wir brauchen ihren Unternehmergeist!»

Florian Oegerli

Carlos Ruiz CEO von Flatev, *1982

Leistungsträger im Gespräch

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Der relativ liberale Arbeitsmarkt und die gut ausgebaute Ar-beitslosenversicherung machen Restrukturierungen und Betriebs-schliessungen einfacher als anderswo. Von der Linken wird das zwar immer wieder scharf kritisiert. Aber dies ist ein enormer Standortvorteil, der die Erneuerung der Volkswirtschaft beschleu-nigt und der von Neuansiedlern als Pluspunkt verbucht wird.

Ich habe die im Vergleich zu anderen Ländern ausgewogene Einkommensverteilung in der Schweiz erwähnt. Unsere Einkom-menssteuern sind stark progressiv, und die Sozialwerke enthalten starke Umverteilungskomponenten. Trotzdem scheint ein insge-samt akzeptables Gleichgewicht ohne allzu störende Fehlanreize erreicht worden zu sein. Damit ist das sechste Gebot einigermas-sen erfüllt. Allerdings ist auch hierzulande das Gefühl einer ver-breiteten Ungerechtigkeit unverkennbar, losgelöst von den sta-tistischen Daten, die hierfür keinen Anlass bieten. Das führt dazu, dass die politische Verteidigung der Marktwirtschaft schwieriger geworden ist – es braucht besondere Anstrengungen, die ich im letzten Teil dieses Essays skizziere. Ein Kampf ist allerdings noch nicht ausgestanden: der Kampf der noch Ungeborenen und der Kinder, die keine wirksame politische Lobby haben, gegen die Be-sitzstandswahrer der Aktiven- und Rentnergeneration. Diese, man muss sagen, privilegierte Generation hat es bisher nicht fer-tiggebracht, die Sozialwerke angesichts der demographischen Veränderungen und des anhaltenden Tiefzinsumfeldes nachhal-tig zu sichern. Hier drohen Entwicklungen, die den Wohlstand – wie in anderen Ländern auch – gefährden, wenn nicht mutige Ent-scheide gefällt werden. Dass das bisher nicht geschah, hat mit den erwähnten Fehlanreizen der Demokratie zu tun.

Der Auftrag unserer Notenbank ist klar: Sie muss sich auf die Stabilität des Geldwertes fokussieren. Darin war sie sehr erfolg-reich. Damit ist das siebte Gebot erfüllt. Als ich zur Schule ging, kostete 1 US-Dollar 4.30 Franken, heute noch 90 Rappen. Im Durchschnitt wertete sich der Franken während Jahrzehnten pro Jahr um etwa 1 Prozent auf. Das hat die Wirtschaft gestärkt, weil die Exportwirtschaft stets gezwungen war, die Kostennachteile durch Innovation und Effizienz zu kompensieren. Zurzeit spielt der gesunde Mechanismus nicht, weil die Nationalbank den durch die Finanzkrise schockartig angestiegenen Aufwertungsdruck durch die Fixierung einer Frankenuntergrenze gegenüber dem Euro brechen musste. Das Problem wird sein, wie die Notenbank den Ausstieg aus dieser Fesselung wieder schaffen wird.

Das achte Gebot eines ökonomisch einigermassen effizient gestalteten Föderalismus ist bei uns gut erfüllt. Allerdings ist ein permanenter Druck zu mehr Zentralisierung mit all ihren schädli-chen Nebenwirkungen unverkennbar.

Das neunte Gebot der überschaubaren Verschuldung ist gut erfüllt – mit Ausnahme der Sozialwerke. Die Schweiz hat während der ganzen Finanzkrise Überschüsse erwirtschaftet und Schulden abgebaut. Das ist allerdings das Resultat einer gewaltigen politi-schen Anstrengung um die Jahrhundertwende, als die Schweiz in eine Verschuldungsspirale geriet. Mit einer Verfassungsvor-

schrift, der sogenannten Schuldenbremse, die den Rechnungs-ausgleich über einen Konjunkturzyklus fordert, und mit drei sub-stanziellen Sparpaketen gelang die Wende. Die Schuldenbremse gewann deshalb viel Autorität, weil sie gegen den Widerstand der Linken mit 84,5 Prozent Ja-Stimmen vom Schweizer Volk ange-nommen worden war. Es ist eine alte Schweizer Erfahrung, dass häufig das einfache Volk klüger als seine Politiker ist. Leider hat die gute Finanzlage der Schweiz den Effekt, dass die Finanzdiszi-plin wieder nachzulassen beginnt.

Drei institutionelle Faktoren bändigen gemäss dem zehnten Gebot in der Schweiz die Fehlanreize der Demokratie: erstens die erwähnte Schuldenbremse, zweitens der institutionelle Druck zur Selbstverantwortung auf die Kantone und Gemeinden durch den Föderalismus und drittens die direkte Demokratie. Der Zwang, wichtige Probleme dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, bei-spielsweise auch Steuererhöhungen, wirkt in hohem Masse diszi-plinierend.

Ich glaube also, dass der Erfolg der Schweiz kein Zufall ist. Das ist die gute Nachricht. Es gibt leider auch eine schlechte: Erfolg macht verwöhnt. Man beginnt Fehler zu machen, und die Diszi-plin lässt nach. Es wird politisch immer schwieriger, die Einhal-tung der zehn Gebote durchzusetzen, und dies trotz des Anschau-ungsunterrichts in der EU, wohin deren Verletzung führt.

Wie halten es unsere Nachbarn mit der Sünde?Die hohen Staatsquoten und die sprunghaft zunehmende Re-

gulierungsdichte früher wohlhabender europäischer Industrie-staaten verdrängen die marktwirtschaftlichen Freiräume zuse-hends. Der Harmonisierungswahn der EU hebt die Systemkon-kurrenz Schritt für Schritt auf. Nach dem Prinzip «Raise your ri-vals’ cost» versuchen die überregulierten grossen Länder durch Harmonisierung den agileren Konkurrenten ihre Wettbewerbs-vorteile zu reduzieren, eine Strategie, die auch einen grossen Teil des Druckes der EU auf die Schweiz erklärt. Im Steuerbereich ste-hen die Zeichen auf Steuerkartelle und nicht auf Steuerwettbe-werb. Zu hohe Steuern und Bestrafung der Sparer durch negative Realzinsen, aber auch der Bruch der Maastricht-Kriterien und die Nichteinhaltung des Bail-out-Verbotes im Vertrag von Lissabon befeuern die Angst vor Enteignung unter dem Vorwand der Kri-senbewältigung.

Die meisten Länder haben die guten Zeiten vor der Krise nicht zur Konsolidierung ihrer Finanzen genutzt und sind schon über-schuldet in die Krise geschlittert. Wohl haben einige Länder aner-kennenswerte Anstrengungen zur Konsolidierung der Haushalte und zur Behebung von Strukturschwächen unternommen, aber die Resultate sind ungenügend. Die durch die Notenbanken künstlich verbilligten Zinsen haben den Reformdruck gedämpft. Dabei haben Länder wie Schweden, Polen, die Türkei oder Estland gezeigt, dass nur mutige, tiefgreifende und rasche Reformen er-folgreich sind. Die Politik der Notenbanken, die in der Krise zur Verhinderung des Zusammenbruchs des Finanzsystems richtig

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«Weil praktisch jeder Schweizer irgendeiner Minderheit angehört, sei es einer sprachlichen, konfessionellen, regionalen oder kulturellen, gibt es einen verwurzelten Respekt Minderheiten gegenüber.»kaspar Villiger

war, verliert an Wirkung, verzerrt die Lenkungswirkung der Zin-sen und stellt die Unabhängigkeit der Notenbanken in Frage.

Die Arbeitsmärkte sind nicht wirklich entschlackt worden, und in vielen Ländern werden Restrukturierungen immer noch grosse Widerstände entgegengesetzt. Die Wohlstandsunter-schiede und die Arbeitslosigkeit sind in den Ländern mit den rigi-desten Arbeitsmärkten am grössten, aber den Regierungen gelingt es nicht, sich gegen die Interessengruppen durchzusetzen, welche Strukturreformen sabotieren. Im bisher erfolgreichen Deutsch-land wird gar der Rückwärtsgang geschaltet, obwohl sich gerade dort die nicht einmal so spektakulären Schröder-Reformen so se-gensreich ausgewirkt hatten. Die Selbstverantwortung der EU-Staaten wird durch die fortschreitende Harmonisierung und die Hilfszusagen der verschiedenen Rettungsschirme geschwächt und nicht gestärkt. Ich befürchte, dass die momentane Beruhi-gung der Märkte das Resultat der Drogen der Zentralbanken ist. Kein einziges der fundamentalen Probleme ist wirklich gelöst.

Ein PlanDas kann es nicht sein, was die Schweiz anstrebt. Sie befindet

sich in einer gleichsam prekären Lage: Es geht ihr noch gut, aber das scheint eine weitsichtige Politik zu erschweren. Die Linken wittern Morgenluft und blasen zum Angriff auf die helvetischen Errungenschaften. Sie tun dies konsequent und erfolgreich, keine Frage. Die veröffentlichte Meinung strotzt vor linken Gemeinplät-zen. Grundsätzlich wäre darum jetzt eine mediale liberale Konter-revolution angezeigt. Schaffen es die bürgerlichen Parteien, sich auf eine wirtschaftsfreundliche Agenda zu einigen? Ich würde es mir wünschen. Die Wirtschaft macht ihre Hausaufgaben mit Er-folg. Bei der Politik beschleichen einen Zweifel.

Es ist jedenfalls höchste Zeit, dass führende Unternehmer und Wirtschaftsvertreter den direkten Kontakt zu den Bürgern suchen und zu aktuellen Fragen in der Öffentlichkeit wieder kla-rer Stellung beziehen. Es braucht in der politischen Diskussion

gewiss auch die bezahlten Verbandsfunktionäre, die in der Sache und in der Argumentation versiert sind. Viel wichtiger ist aber, dass die Unternehmer selber wieder Flagge zeigen. Sie sind viel glaubwürdiger als ihre bezahlten Stellvertreter. Die Klartextargu-mentation darf nicht mit Arroganz und Überheblichkeit verbun-den sein, wie man das leider bisweilen spürt, sonst fühlt sich der Büezer zu Recht an der Nase herumgeführt.

Die Unternehmen müssen sich bewusst sein, dass ihr Verhal-ten auch die politische Stimmung beeinflusst und dass diese Stim-mung darüber entscheidet, wie viel Freiheit das Volk der Wirt-schaft gewährt. Die verstärkte kommunikative Tätigkeit darf da-rum nicht zur Selbstglorifikation der Topmanager degenerieren. Es geht um das Interesse an der Sache und um einen kreativen Dialog mit dem Volk. Und gute Kommunikation ist auf Dauer nur glaubwürdig, wenn die Substanz dahinter stimmt.

In das gleiche Kapitel geht die Frage, wie sehr sich ausländi-sche Führungskräfte in die schweizerische Mentalität einfühlen können. Ich bin der Meinung, die Verbände müssten sich um die «Helvetisierung» auch der ausländischen Kader kümmern. Man könnte sich sogar vorstellen, dass pensionierte gute Manager und Unternehmer in der Anfangszeit für ausländische Führungskräfte eine gewisse freiwillige Coach-Funktion übernehmen.

Aber das Problem liegt noch tiefer: Wir erleben eine Zeitgeist-transformation grundsätzlicher Art. Die allmähliche Drift von der Selbstverantwortung zum Wunsch nach Betreutwerden, von der Freiheit zur Gleichheit, von der Risikobereitschaft zum Sicher-heitswahn, von Verzicht und Disziplin zu Partystress und Kon-sumrausch. Gegen den Zeitgeist anzukämpfen, ist eine Herkules-aufgabe. Aber unmöglich ist diese Aufgabe nicht: Wenn sich die letzten freiheitlichen Bannerträger nur ein wenig von Motivation, Diskussionsfreude und Kampfgeist der Jungsozialisten (Juso) an-stecken liessen, wäre schon viel gewonnen!

Wenn nicht, ist vielleicht meine Generation die mit dem his-torisch höchsten Wohlstand gewesen. �

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5 Der luxus, sich arm zu fühlenDie Kluft zwischen realem Wohlstand und gefühltem Unwohlsein wird auch in der Schweiz immer tiefer. Warum nur?

René Scheu

Der mittellose Bürger in einem mitteleuropäischen Wohlfahrts-staat der Gegenwart wie der Schweiz lebt mit grösster Wahr-

scheinlichkeit besser als der durchschnittliche Adlige im Ancien Régime. Dies ist ein Satz, der, obwohl er auf eine einzigartige zivili-satorische Errungenschaft hinweist, in ebendiesen Wohlfahrtsstaa-ten unter Zynismusverdacht steht. Ich frage mich – ist es angesichts real existierender Armut ausserhalb der modernen Wohlstand-streibhäuser nicht vielmehr zynisch, den Satz nicht zu äussern? Wie immer man dazu steht, die Diskussion deutet auf die tiefen Wider-sprüche einer avancierten Verwöhnungskultur hin.

So viel materielles Wohlbefinden, so viel Gesundheit, so lan-ges Leben, so viel Partizipation, so viel Schutz durch Recht, so viel Versicherung und Vorsorge, so viele Lebenschancen wie heute waren noch nie in der Geschichte der Menschheit; zugleich war aber auch noch nie so viel Jammern, so allgegenwärtige Abstiegs-ängste, ein solches ständiges Sichzurückgesetztfühlen, kurz, so viel Unzufriedenheit. Die Schere zwischen statistischem Wohl-stand und gefühltem Unwohlsein öffnet sich immer weiter. Und die grosse Frage ist: Warum fühlen sich in einer beispiellos chan-cenreichen Gesellschaft die Menschen so arm an Dingen und Möglichkeiten?

1. Grund: PerspektivenwechselEin erster Grund liegt auf der Hand: Man gewöhnt sich an die

allgegenwärtige Verwöhnungskultur, die der Philosoph Peter Sloterdijk treffend als «Amalgam aus kampfloser Freiheit, stressfreier Sicherheit und leistungsunabhängigem Einkom-men»1 beschreibt. Mit der Wirklichkeit hat sich auch unser Blick auf sie radikal verändert. Es ist ein Merkmal wohlhabender Ge-sellschaften wie der helvetischen, dass sie ständig neue Mangel-optiken entwickeln, um ihren Reichtum in Armut umzudeuten. Diese Wahrnehmungsverzerrung gehört auch längst zur be-währten Methodik staatlicher Studien: Armut, erläutert das Bundesamt für Statistik, lasse sich kaum objektiv bestimmen. Darum gilt bei uns ein relativer Armutsbegriff: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, ist armutsge-fährdet. So lässt sich per Definition beliebig Armut produzieren, und dieselbe Sozialindustrie, die über die Deutungshoheit in so-

zialen Fragen verfügt, lebt erfolgreich von deren politischer Bewirtschaftung. Arm ist nicht, wer zu wenig zum Leben hat; arm ist, wer sich arm fühlt. Aber die Mangeloptik hat längst eine viel umfassendere Dynamik angenommen: Der gesellschaftliche Diskurs dreht sich unaufhörlich um Benachteiligungen und Dis-kriminierungen, obwohl die modernen Grossgesellschaften nie reicher, fairer und – ja! – egalitärer waren als heute. Nicht nur die Staatseinnahmen, auch die Umverteilungsströme haben er-staunliche Ausmasse erreicht.

Peter Sloterdijk spricht aus, was sich selbst Unternehmer kaum mehr zuzuflüstern wagen: Wir leben in Mitteleuropa im «steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus auf eigentums-wirtschaftlicher Grundlage». An dieser Formulierung kann ver-nünftigerweise kein Zweifel bestehen: 50 Prozent und mehr be-trägt die Zwangsabgabenquote in den Wohlfahrtsstaaten dies- und jenseits des Atlantiks, auch in der Schweiz.2 Während Vertre-ter der Linken über den eindeutigen Befund vornehm schweigen, weil sie die Sozialisierung des Volkseinkommens weiter voran-treiben möchten, erschöpfen sich die Exponenten nominell bür-gerlicher Politik in einer schrillen Verteidigung des Status quo. Damit kaschieren sie nur den Umstand, dass auch sie im Denken längst zu Sozialdemokraten geworden sind.

Der neue Semisozialismus funktioniert nicht nach dem mar-xistischen Prinzip der gewaltsamen «Expropriation der Expropri-ateure». Das ist auch nicht mehr nötig, wenn die Hälfte des erwirt-schafteten Bruttoinlandsprodukts durch staatliche Hände fliesst. Beamte, Bürokraten, gewählte und nichtgewählte Politiker, in der Schweiz zuweilen auch die Mehrheit der stimmenden Mitbürger entscheiden durch gelenkte Konsum- und Investitionstätigkeit, was produziert wird. An die Stelle der Vergemeinschaftung (sprich: Abschaffung) des Eigentums tritt eine Kollektivierung der

rené scheuwurde in Philosophie promoviert. Er ist Herausgeber und Chefredaktor des liberalen Autoren- und Debattenmagazins «Schweizer Monat».

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2. Grund: DirektvergleichWir leben nicht nur in historisch beispiellosen Wohlfahrts-

staaten, sondern auch in bisher nie dagewesenen Grossgesell-schaften. In modernen Demokratien tummeln sich Millionen von Individuen – und seit sie die Privilegierungen des Ancien Régime abgeschafft haben, dulden sie keine selbsternannte Autorität mehr über sich. Die beschriebene Diskrepanz zwischen realem und gefühltem Wohlstand ist typisch für Gesellschaften der Ge-genwart mit einem hohen Grad an Individualisierung. Das voraus-setzungslose Leben gilt als neues Ideal, das aber leider nur rheto-risch alle teilen. Denn sind die physischen Schlachten geschlagen, werden nun die emotionalen Kriege ausgefochten: Jeder ver-gleicht sich plötzlich mit jedem, auch und gerade nach oben, wo-bei es längst nicht alle aushalten, mit dem Resultat des Vergleichs zu leben. «Die moderne Welt», so hat Sloterdijk mir gegenüber einmal in einem Interview zu Protokoll gegeben, «ist die Welt des entfesselten Direktvergleichs.»4

Wer im Vergleich schlecht wegkommt, ist geneigt, die Schuld am Zurückbleiben hinter den eigenen Ambitionen den anderen in die Schuhe zu schieben – sie waren es, die mich an meiner Selbst-verwirklichung gehindert haben. Auf Ambition folgt Reklama-tion. Der Hyperindividualist fragt sich: Wenn der andere es zu mehr Einkommen, Kompetenz oder Status bringt als ich, hat er dann diesen Erfolg letztlich nicht einem unverdienten Vorteil zu verdanken? Und sollte er einfach Glück gehabt haben – ist die For-tuna nicht unfair, da sie Leute unbesehen ihrer echten Verdienste belohnt? Der Egalitarismus ist die Obsession demokratischer Grossgesellschaften. Sie hält sich an die Gedankenkette: Indivi-duum = Unterscheidung = Ungleichheit = Ungerechtigkeit = Her-stellung von Gerechtigkeit durch den Staat = Gleichheit = Benach-teiligung der anderen. Was unseren egalitären Gesellschaften fehlt, ist ein positiver Begriff von Ungleichheit. Hier schlägt der Hyperindividualismus in gleichmacherischen Egalitarismus um, der Stolz in Neid. Die anonyme Grossgesellschaft soll gefälligst die Privilegierungen beseitigen, denn Auszeichnungen der ande-ren sind Raub an meinen eigenen Lebenschancen. Und so kommt es, dass in den im Schnitt reichsten und egalitärsten Grossgesell-schaften aller Zeiten viele Menschen sich so fühlen, als wären sie unterdrückte Bauern im Ancien Régime. Obwohl sie es nicht sind. Und auch nicht sein müssten. �

Entscheidungen durch anonyme Dritte – also eine sanfte Soziali-sierung des Eigentums, über das der einzelne nur mehr in be-schränktem Masse verfügt. Wilhelm Röpke nannte dies einst den modernen «Fiskalsozialismus».

Bleibt jenseits der allgemeinen Erläuterung die Frage: Wer zahlt wie viel in den grossen anonymen Topf? Ich möchte eine einfache Überlegung anstellen und mit Zahlen unterfüttern, die den Bund betreffen und in vielerlei Hinsicht exemplarisch sind.3 Von den rund 8 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, gehen rund 60 Prozent einer Einkünfte erbringenden Berufstätig-keit nach – rund 5 Millionen; 20 Prozent, also rund 1 Million der Steuerpflichtigen, bezahlt keine direkte Bundessteuer; so bleiben 4 Millionen aktive Steuerzahler, von denen die oberen 10 Prozent der Top-Einkommensbezüger für 80 Prozent der Steuereinnah-men des Bundes aufkommen, während sich 90 Prozent der Steu-erzahler die restlichen 20 Prozent teilen; das mittlerweile noto-risch angeschwärzte oberste Prozent leistet gar stolze 40 Prozent der Erträge an die Bundeskasse, und dies bei einem Anteil des steuerbaren Einkommens von bloss 12 Prozent. Dank ambitio-nierter progressiver Wirkung in der Besteuerung zeigen sich hier Umverteilungsströme von beachtlichem Umfang.

Dieser Befund akzentuiert sich weiter, wenn wir in Betracht ziehen, dass die Einkommens- und Unternehmenssteuern fast die Hälfte (47 Prozent) der Steuereinnahmen des Staates ausmachen (OECD-Durchschnitt: 34 Prozent). 22 Prozent der Erträge des Staates entfallen auf die Besteuerung von Gütern und Dienstleis-tungen, 24 Prozent auf die Sozialversicherungsbeiträge von Ar-beitgebern und Arbeitnehmern, 7 Prozent auf die Besteuerung von Vermögen. Analog dazu lässt sich festhalten: Jene, die mehr verdienen, konsumieren mehr; wer mehr verdient, bezahlt auch mehr Sozialabgaben und hat – hoffentlich – mehr Vermögen. Kurz, auch die anderen Steuern werden überproportional stark von der immer gleichenGruppe der Bezüger höherer Einkommen aufgebracht.

Wo bleibt die Freude über so viel – allerdings staatlich er-zwungene – «Solidarität»? Sie wird zweifellos getrübt durch die Bezüger «leistungsunabhängiger Einkommen» in den Chefetagen managementgeführter Grossunternehmen. Über sie dürften sich alle ärgern, die für sich den Willen zum beruflichen Leisten in An-spruch nehmen – doch darf der Ärger nicht den Blick dafür trü-ben, dass jene, die nicht nur überdurchschnittlich viel leisten, sondern auch überdurchschnittlich viel verdienen, den Staat am Laufen halten. Es wäre höchste Zeit, ihnen ein Kränzchen zu win-den, zumal die Staatsausgaben in den letzten Jahren und Jahr-zehnten keineswegs gekappt wurden, sondern ständig angestie-gen sind, ebenso wie die Einnahmen. Der Anteil der «sozialen Wohlfahrt» am helvetischen Staatsbudget ist jener Posten, der mit mittlerweile über einem Drittel (!) am meisten ins Gewicht fällt (nicht etwa die Armee oder Subventionen an die Bauern, wie einige Nostalgiker glauben mögen), und dies notabene bei stei-genden Staatseinnahmen.

5 Der luxus, sich arm zu fühlenDie Kluft zwischen realem Wohlstand und gefühltem Unwohlsein wird auch in der Schweiz immer tiefer. Warum nur?

René Scheu

1 Peter Sloterdijk (2004). Sphären III: Schäume. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 805.

2 Vgl: Marco Salvi. Mythos: Steuerbelastung. In: Schweizer Monat 1014, März 2014: 58–60. 3 Vgl. Economiesuisse. Einkommensverteilung und Steuerreformen in der Schweiz. In: Dossierpolitik 7, April 2012. Und: Avenir Suisse (Hrsg.). Verteilung. In: Avenir Spezial, Juli 2013. 4 René Scheu trifft Peter Sloterdijk: Die verborgene Grosszügigkeit. In: Schweizer Monat Sonderthema 7, November 2012. Vgl. dazu weiterführend: René Scheu. Als wären wir alle Unterdrückte. In: Die Weltwoche Nr. 29/2014: 56 ff.

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6 Der Preis des engagementsWirtschaftlicher Wohlstand, private Freiräume, sozialer Friede: Das Zusammenspiel von freiheitlicher und genossenschaftlicher Tradition hat die Schweiz stark gemacht. Dann kam der radikale Ausbau des Staates. Und die Eigenverantwortung schwand. Wie geht die Geschichte weiter?

von Silvio Borner

1. Die Erfolgsfaktoren der VergangenheitErstens. Der weltrekordverdächtige hohe Wohlstand der ge-

genwärtigen Schweiz hat seine Wurzeln in der Mitte des 19. Jahr-hunderts, als eine freisinnige Elite aus Wirtschaft und Politik in der weit und breit einzigen Republik Europas einer halbwegs freien Marktwirtschaft zum Durchbruch verhalf. Vorausgegangen war die-ser demokratisch legitimierten und friedlich inszenierten Wende ein kurzer Konflikt zwischen katholisch-konservativen und liberal-protestantischen Kantonen. Aus der Rückschau war dies weniger ein Religionskrieg als – ähnlich wie in den USA – eine Konfrontation zwischen agrarisch-konservativen und industriell-fortschrittlichen Landesteilen. Die Confoederatio Helvetica war wirtschaftlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Pendant zu Hongkong in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Treiber waren unter-nehmerisch denkende Politiker und Industrielle mit radikalen Ideen und globaler Welt- und Weitsicht. Diese industrielle Dynamik be-eindruckte. Sie schreckte sogar die führenden Engländer auf, für die das ehemalige Alpen- und Käseland aus dem Nichts zum ernsthaf-ten Konkurrenten auf den Weltmärkten mutierte.

Zweitens. Trotz dieser industriell-technischen Revolution und den Erfolgen auf den Weltmärkten blieb die genossenschaftlich-korporatistische Tradition am Leben und gesellschaftspolitisch prägend, auch wenn heute vieles davon nur noch in der Folklore sichtbar wird. Insbesondere der stark ausgeprägte Föderalismus und die direkte Mitbeteiligung des Stimmvolks an den politischen Entscheidungen gehen auf diese Elemente zurück. Sie wirken auch heute noch, wenngleich in eher zugespitzten Formen oder symbolischen Handlungen. Die Schweiz ist somit nicht nur eine Marktwirtschaft, sondern auch eine bürgerliche Zivilgesellschaft, in der freiwillige Solidarität und der Milizgedanke eine wichtige Rolle spielen. Eine sozialistische Revolution hatte deshalb auch nie den Hauch einer Chance – auch 1918 nicht. Dasselbe gilt je-doch für eine libertäre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit einem Minimalstaat.

Drittens. Das 20. Jahrhundert war geprägt von der Überwin-dung fundamentalistischer Konflikte und gewaltsamer Konfron-tation durch die Entstehung einer freiwilligen Sozialpartnerschaft ausserhalb des staatlichen Korsetts, einer den Konsens fördern-

den Weiterentwicklung der direkten Demokratie und dem Ver-schontbleiben von zwei Weltkriegen. All das ermöglichte eine un-unterbrochene Akkumulation von Real-, Finanz- und Sozialkapi-tal. Dies wiederum machte die Schweiz für mehrere Generationen zu einem Aufsteigerparadies, Einwanderer eingeschlossen. Es herrschte eine partei- und gesellschaftsübergreifende Grund-stimmung: Leistungsbasiertes Aufsteigen dank eigenen Anstren-gungen in einem freiheitlichen Marktumfeld war über Jahrzehnte effektiver und populärer als angeblich «soziales» Umverteilen durch den Staat. Noch im Jahre 1960 lag die Staatsausgabenquote unter 20 Prozent und nur wenig höher als 1870 (heute sind es, richtig gerechnet, an die 50 Prozent). Meine bald 100jährige Mut-ter hat diese vier Generationen umspannenden Fortschritte an ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln direkt mitverfolgen können. Paradox ist hier nur, dass diese historisch einmaligen Verbesse-rungen der Lebensumstände, von denen wir alle profitieren, in ihrer Bedeutung durch angebliche Ungleichheiten, Diskriminie-rungen, Benachteiligungen in der heutigen Generation über-strahlt werden.

Viertens. Das wirtschaftliche Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg war die Folge von (1) unternehmens- und innovations-freundlichen Rahmenbedingungen (institutionelle Sicherheit dank Mitsprache durch das Volk und in der Verfassung garan-tierte unternehmerische Freiheit), (2) einer vorsichtigen Geld- und Finanzpolitik dank der Finanzautonomie von Kantonen und Gemeinden und (3) einer frühen und aktiven internationalen Öff-nung der Wirtschaft. Alle drei Faktoren zusammen machten die schweizerische Volkswirtschaft zur Top-Globalisierungsgewin-nerin dieser Welt. Und dies erst noch mit hohen Wachstumsdivi-denden für fast alle Einwohner, deren Wohlstand über mehrere Generationen stark anstieg.

silvio Bornerist emeritierter Professor für Wirtschaft und Politik und Direktor der WWZ Summer School for Law, Economics and Public Policy an der Universität Basel. Er ist Autor u.a. von «Über Schulden und Überschuldung: Warum die Politik versagt» (NZZ Libro, 2014) und «Ungesunder Menschenverstand: Einsichten eines liberalen Ökonomen» (NZZ Libro, 2011).

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Wenn man all dies vor dem geistigen Auge vorbeiziehen lässt, kommen sofort Bedenken oder Zweifel auf, inwieweit diese Er-folgskomponenten auch heute noch wirksam sind. Das Vertrauen vieler Bürger in die Marktkräfte ist schwächer geworden, die Zivil-gesellschaft hat Risse bekommen, die direkte Demokratie scheint mehr Konflikte zu schüren als zu lösen. Und die Wirtschaftseliten haben ihre gesellschaftliche Vorbildfunktion weitgehend verlo-ren, während die Wirtschaftspolitik mehr und mehr punktuell in-terventionistisch und gleichzeitig weniger offen nach aussen wird. Die Selbstverantwortung ist auf dem Rückzug, die An-spruchsmentalität gegenüber dem Staat auf dem Vormarsch. Und schliesslich ist die staatliche Verhaltenssteuerung durch Gebote, Verbote, aber auch ziemlich fieses «Nudging» in alle Lebensberei-che vorgedrungen.

2. Die freie Marktwirtschaft als LeistungsgesellschaftFür einen überzeugten und hoffentlich auch überzeugenden

Anhänger der freien Marktwirtschaft gibt es ein paar analytische und politische Ankerpunkte, die auch in einer direktdemokrati-schen Zivilgesellschaft unverrückbar sind. Dazu zählen die per-sönliche Freiheit als oberstes Ziel, das rationale Eigeninteresse als wichtigster individueller Anreiz und der freiwillige Tausch zu Marktpreisen als zentraler Mechanismus der effizienten Verwen-dung knapper Ressourcen. Die gewinngetriebene Preiskonkur-renz lenkt so die Produktion nach den Präferenzen der Konsu-menten und minimiert gleichzeitig die Kosten. Konkret heisst das, dass die einzelnen Menschen in politischer und ökonomischer Freiheit und Eigenverantwortung ihre Entscheidungen bei gege-benen Marktpreisen treffen, allerdings im Rahmen einer für alle gültigen abstrakten und konkret durchgesetzten Rechtsordnung, welche die Freiheiten der anderen schützt.

Das Obligationenrecht ordnet so die formellen Anforderun-gen an gültige Verträge, deren Inhalte jedoch der Freiheit der Ver-tragsparteien überlassen bleiben. Das Arbeitsrecht regelt vieles, aber die zentralen Punkte über die Art und den Umfang der Leis-tung des Arbeitnehmers und die Entschädigung durch den Arbeit-geber regeln die Betroffenen in wechselseitiger Souveränität ganz allein. Bis zur 1:12-Initiative oder Mindestlohninitiative war das zumindest so. Beide wurden bekanntlich abgelehnt, aber dass sie auch nur schon ernsthafte Diskussionen auslösten, ist ein Symp-tom abnehmenden Vertrauens in die Marktkräfte sowie schwin-denden Respekts vor den Wirtschaftsverbänden, aber auch vor der Autonomie der privaten Sozialpartnerschaft. Im Rahmen der gesetzlichen Marktfreiheit lässt sich jeder Vertragspartner von seinen ureigenen Interessen leiten, wobei dieses nicht eng als selbstsüchtig oder gar gierig-geizig gesehen werden darf. Im Ge-genteil geht das Eigeninteresse weit über den blossen Egoismus hinaus und schliesst ethische Prinzipien wie Empathie oder Ver-antwortung für andere Menschen ein. Ehrlich oder kooperativ oder gar (gezielt) altruistisch zu denken und zu handeln liegt durchaus im eigenen langfristigen Interesse. Ehrliche oder sozial

Die Russin Olga Steidl ist das Parade-beispiel einer digitalen Nomadin. In einer Kleinstadt aufgewachsen, stieg die inzwischen 29jährige bald zur Vizepräsidentin der russischen Suchmaschinenfirma Yandex, des grössten Internetkonzerns in Europa, auf. Daraufhin lebte sie einige Zeit

in Singapur, Österreich und der Schweiz und gründete verschiedene Start-ups. Vor zwei Jahren schaffte es die umtriebige Unternehmerin gar in die Top Ten russi-scher Internetunternehmer der «Moscow Times». Inzwischen lebt sie in Berlin. Dort generiert sie für die App Linko Kunden. In Zürich möchte sie nicht mehr arbeiten. Sie findet, dass die Schweiz ein ungünstiges Biotop für Start-ups darstelle. Wir wollten wissen, weshalb.«In der Schweiz herrscht die Haltung vor, dass es besser sei, für eine Bank zu arbeiten, als sich mit einer eigenen Firma selbständig zu machen», erklärt sie am Telephon. Zusätzlich erschwerten bürokratische Hürden es den Menschen, eigene Ideen zu lancieren. «Eine Firma zu gründen, ist zwar machbar. Aber es dauert etwa eineinhalb Jahre, sie wieder aufzulösen, was äusserst kostspielig ist.» Schlimmer noch: «In den USA ist es kein Problem, wenn dein Start-up scheitert. Du fängst einfach wieder von vorne an. In der Schweiz wirst du gleich schief angesehen.» Die meisten Leute aus der hiesigen Gründerszene kämen frisch von der Uni und seien nicht auf die Realwirtschaft vorbereitet. Selbst die Suche nach Investoren gestalte sich hier schwieriger als im «grossen Kanton».In der Schweiz sei es zudem kompliziert, ein Visum zu bekommen. Während Steidl in Berlin problemlos Talente aus der ganzen EU anstellen kann, musste sie sich in Zürich erst einmal durch Papierberge kämpfen. Es gibt aber auch Dinge, die der Russin an der Schweiz gefallen: «Es ist schön, wie sehr sich die Schweizer um ihr Land kümmern. Die Infrastruk-turen sind in einem phantastischen Zustand. Dazu kommt noch, dass ihr verantwortungsbewusst abstimmt! Ich war erstaunt, als sich 2012 die Mehrheit gegen eine sechste Ferienwoche aussprach. In Russland hätte das Resultat ganz anders gelautet.»

Florian Oegerli

Olga Steidl Growth bei Linko, *1985

Leistungsträger im Gespräch

argumente

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schen»? Weder noch. Alle Menschen sind nicht nur fordernde oder tauschende, sondern immer auch gebende Wesen. Erstere in der obigen Aufzählung wären beispielsweise freiwillige Helfer, mittlere die Spender von Geld für die «gute Sache» und letztere die Spender von Organen oder Blut. All diese Leistungen erschei-nen nicht im Bruttoinlandsprodukt (BIP), das eben nur den Markt-wert von Wertschöpfung monetär erfasst und somit in der Tat eine viel zu enge Sicht der gesamten gesellschaftlichen Wohlfahrt darstellt. Diese guten Taten sind aber auch verhaltensökonomisch relevant, weil sie denen, die sie vollbringen, Opportunitätskosten aufbürden, aber keinen (materiellen) Gegenwert bescheren. An-ders gesagt: die Helfer, Spender und Schenker verzichten – ab-sichtlich und bewusst – auf eine mögliche monetäre Kompensa-tion für ihren Einsatz. Fast 40 Prozent der aktiven Bevölkerung der Schweiz leisten unbezahlte Arbeit, 380 000 Blutkonserven werden pro Jahr gespendet, und die Geldspendeneinnahmen der Zewo-zertifizierten Organisationen erreichen pro Jahr etwa eine Milliarde Franken. Dazu kommen zahlreiche freiwillige Beiträge oder Milizdienstleistungen für öffentliche Aufgaben im Bereich von Bildung, Kultur, Wissenschaft, freiwillige Spenden für Not-fälle oder Hilfsbedürftige sowie Beiträge im Bereich der weiteren Familienunterstützung und Nachbarschaftshilfe. Ein riesiges Feld von unbezahlter Arbeit findet sich im Umkreis der engsten Fami-lie, wo insbesondere Hausfrauen (manchmal auch Hausmänner) diverse Arbeiten leisten, für die es durchaus auch Märkte gäbe. So kann man seine Kinder gegen Bezahlung fremd betreuen lassen, das Essen im Restaurant einnehmen, das Putzen und Waschen outsourcen, ja sogar – zumindest gewisse – Liebesdienste im ent-sprechenden Milieu einkaufen. Kurzum, die freiwillig erbrachten und nicht monetär entgoltenen Arbeiten sind Ausdruck einer le-bendigen Zivilgesellschaft, der Ergänzung einer funktionierenden Marktwirtschaft.

4. Ethische und demokratische Grenzen von MärktenEs gibt sehr gute Gründe, nicht alles, was knapp ist, der Zutei-

lung durch Märkte über entsprechende Preise zu überlassen. Ge-rade beim schon erwähnten Blutspenden stellt sich die Frage, ob eine Marktlösung mit bezahlten Spendern besser ist als ein rein freiwilliges System, dem man durch ein paar ökonomische An-reize noch ein bisschen nachhelfen kann. Es ist nicht unbedingt im Interesse der Empfänger, wenn Alkoholiker, Drogensüchtige oder sonst in Not geratene Spender in Extremsituationen ihr Blut verkaufen. Auch innerhalb einer Ehe oder Familie erfolgt die Ko-ordination und Kooperation nicht über Preise.

Machen wir dazu ein krasses Beispiel, entlang der Linie klassi-scher Rollenteilung: Den Abfallkübel entsorgen habe den Wert von x, eine Einheit Geschlechtsverkehr (für den Mann) von 10x. Also muss der Mann zehnmal den Kübel runtertragen und be-kommt dafür einmal Sex! So funktioniert eine Beziehung nicht. Andersherum funktioniert eine Familie jedoch auch nicht, wenn beispielsweise ein Kind nur auf Kosten der anderen Trittbrett zu

gesinnte, gut gelittene und beleumdete Menschen entwickeln wertvollere Netzwerke mit nachhaltig besseren persönlichen und geschäftlichen Beziehungen als Lügner, Betrüger und auch bloss Geizhälse oder Opportunisten.

Die Marktbeziehungen sind auf gesellschaftlicher Ebene ent-scheidend, funktionieren aber nur auf dem Fundament von Ver-trauen und Recht oder anders gesagt auf einer Zivilgesellschaft mit «Rule of Law». Ein marktwirtschaftlicher Tausch von Leistung und Gegenleistung dominiert das wirtschaftliche Geschehen, wo-bei jede Transaktion freiwillig und für beide Seiten vorteilhaft sein muss. Sonst würde ja der Benachteiligte einem Deal nicht zu-stimmen, ausser das Angebot käme von der Mafia oder eine Leis-tung würde durch Waffengewalt erzwungen. Nach jeder freiwilli-gen Transaktion sind beide oder alle am Markt Beteiligten besser-gestellt als vorher. Diese Bedingungen der Freiheit und Freiwillig-keit schliessen Erpressung, Bedrohung oder Sklaverei aus und setzen Knappheit der Güter und Ressourcen voraus. Nur im Para-dies bekommen alle so viel, wie sie gerne hätten.

Die Marktwirtschaft macht die Menschen sicher nicht per se glücklich, aber sie erlaubt – wie es in der amerikanischen Verfas-sung so wunderschön formuliert ist – «the pursuit of happiness», also das individuelle Streben nach Glück in einer politisch-gesell-schaftlichen Ordnung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Man muss heute schon fast eher von der «happiness of pursuit» spre-chen, also der Wertschätzung für die überhaupt noch verbliebe-nen individuellen Spielräume. Das Gewicht liegt jedoch klar auf dem individuellen Glücksstreben und eben nicht auf dem messba-ren individuellen oder gar kollektiven Glückszustand. Die frei-heitliche Suche nach dem eigenen Glück beschert uns kein Para-dies auf Erden, aber gibt den Menschen immerhin die berechtigte Hoffnung auf ein besseres Diesseits.

Dieses Bild einer freien und effizienten Wettbewerbsgesell-schaft hat natürlich seine leisen Zweifler und lauten Kritiker. Diese wollen entweder das im ureigenen Interesse handelnde In-dividuum durch den edlen sozialverantwortlichen Gutmenschen ersetzen oder den zweiseitigen freiwilligen Tausch in offenen Märkten durch zentrale staatliche Zuteilung nach den Prinzipien der Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit mit staatlichem Zwang überwinden. Beides endet leider bei der politischen Umsetzung in einer totalitären Diktatur, gepaart mit ökonomischem Niedergang und Verelendung der Bevölkerung. Der erste Fünfjahresplan von Stalin oder der grosse Sprung von Mao haben Millionen von Men-schen das Leben gekostet – durch selbstverursachte Mangelwirt-schaft, also durch Hunger und Terror.

3. Zivilgesellschaft als Ergänzung der MarktwirtschaftWas ist nun mit jenen, die ihren Eigennutz überwinden und

unbezahlt arbeiten (1), die als sozial Gesinnte bewusst mehr ge-ben, als sie im Sinne einer Gegenleistung verlangen (2), oder die einfach Opfer für das Wohl anderer erbringen (3)? Sind sie nicht in der Realität angekommen? Oder sind sie die «besseren Men-

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«Wenn nun plötzlich all diese freiwillig erbrachten Leistungen monetär bewertet werden, pervertiert man gerade dadurch ihren intrinsischen Wert.»silvio Borner

fahren versucht. In der Theorie spricht man in diesem Zusam-menhang vom «rotten kid» («faules Kind»). Warum Familienmit-glieder unentgeltlich Leistungen füreinander und in extremis so-gar für ein «rotten kid» erbringen, sofern dieses sich nicht völlig ausklinkt –, wird durch die unmittelbare Überschaubarkeit und persönlichen Bande erklärt. Diese Situation ermöglicht eine enge und strenge soziale Kontrolle durch Prinzipien wie Fairness, Ge-genseitigkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauen. Was in kleinen Gemein-schaften bestens funktioniert, muss in grossen Gruppen indes kläglich scheitern, weil dort eben Trittbrettfahren viel leichter möglich und viel schwieriger zu sanktionieren ist.

Die Grenzmoral sinkt mit zunehmender Grösse der Gruppe schnell und unwiderruflich. Fast niemand schmeisst seinen Abfall auf den eigenen Fussboden, aber viele verhalten sich ganz anders auf öffentlichem Grund, wenn sie davon ausgehen, dass sie nicht gesehen werden. Dass die jüngste Generation, die mit Appellen für Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung nun weiss Gott nicht vernachlässigt wird, Hunderte von Tonnen Abfall nach Open-Air-Festivals liegen lässt, widerspiegelt die Realität leider besser als billiges Ökologiegeschwafel.

Wenn nun plötzlich all diese freiwillig erbrachten Leistungen monetär bewertet werden, pervertiert man gerade dadurch ihren intrinsischen Wert. Wenn ich als gut verdienender Grossvater die Enkel hüte, ist das nicht mehr wert, als wenn die nichterwerbstä-tige Grossmutter diese Aufgabe erfüllt. Und dies, obwohl die Op-portunitätskosten von mir natürlich grösser sind. Die Leistung ei-

ner Ehefrau und Mutter kann man nicht als Multidienstleister zum Tarif von Marktleistungen für Putzen, Kochen, Erziehen, Sex beziffern. Menschen wollen eben hier a priori keine Marktpreise und deshalb auch keine Marktbewertungen. Es ist daher paradox, wenn ausgerechnet die schärfsten Kritiker der Marktwirtschaft im-mer wieder solche Berechnungen für den angeblichen «Service pu-blic» ins Feld führen. Es gibt in der Tat sehr viele gesellschaftliche, aber auch ökonomisch relevante Beziehungen, die wir absichtlich und mit guten Gründen nicht über Märkte laufen lassen wollen.

In politisch-rechtlich wichtigen Bereichen rangieren nicht in-dividuelle Freiheit und Effizienz zuoberst, sondern die Gleichheit vor dem Gesetz. Wenn eine allgemeine Wehrpflicht gültig sein soll, kann sich der Rekrutierte nicht mit Geld- oder Realersatz auskau-fen. Oder wer stimm- und wahlberechtigt ist, kann seine eigene Stimme abgeben oder nicht, aber verkaufen darf er sie – im Gegen-satz etwa zu einem Eintrittsbillett für ein Konzert oder einen Match – unter keinen Umständen. Dies sind klare und berechtigte Gren-zen des Marktes, die durch die Prinzipien der Demokratie legiti-miert sind. Aber wie steht es um den Handel mit menschlichen Or-ganen? Sicher ist es kriminell, zum Tode Verurteilten oder Mordop-fern Organe zu entnehmen und auf dem Markt zu verkaufen. Aber ist es unter allen Umständen unethisch, Blut- oder Organspender im Bedarfsfall bevorzugt zu behandeln? Dies ist vor allem dann nicht a priori der Fall, wenn diese individuellen Anreize das Spen-deverhalten so positiv beeinflussen, dass weit mehr Organe zur Verfügung stehen, wovon auch Nichtspender profitieren.

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5. Intrinsische Motivation, monetäre Anreize und staatlicher Zwang

Ökonomen wissen aus vielen Experimenten (und alle anderen aus eigener Erfahrung), dass monetäre Anreize die intrinsische Motivation verdrängen können. Die Bezahlung entwertet die ehe-dem freiwillige Leistung. Man muss hier nicht nur an Situationen wie eine Liebesnacht denken, sondern an alltäglichere Dinge wie Freude an der Arbeit oder Einhaltung von Normen um ihrer selbst willen. Bezahlung kann eine intrinsisch motivierte Leistung ent-werten oder eine Trotzreaktion hervorrufen. Wenn schon Bezah-lung, dann aber bitte richtig! Wenn ich ein Referat halte, dann entweder gratis als «Service public» oder dann gegen ein echtes, marktgerechtes Honorar. Aber ein Couvert mit 100 Franken wäre entwürdigend und demotivierend. Ein kleines symbolisches Ge-schenk wie eine Flasche Wein (oder zwei) ist das nie. Möglich ist auch, dass sich die Verdrängung von intrinsischer Motivation in einem Bereich auf andere Lebenssituationen ausdehnt. Also wenn das Blutspenden von Lebenden bezahlt wird, warum dann nicht auch das Spenden von Organen nach dem Tod?

Hier geht es wohl weniger um ein Entweder-oder, sondern darum, wie wir intrinsische Motivationen mit ökonomischen An-reizen stärken statt schwächen können. Die Schwächung des ei-genverantwortlichen Helfens in Familie, Nachbarschaft und Ge-sellschaft ist nämlich viel weniger die Folge der schrankenlosen Kommerzialisierung als vielmehr der staatlichen Zwangsumver-teilung via sogenannter «Entitlements» (Recht auf Existenzmini-mum oder gar Grundeinkommen, Recht auf Arbeit etc.) für die Empfänger und die erzwungene Solidarität der guten Steuerzah-ler. Wer mit Steuern und Sozialabgaben rund die Hälfte seines Markteinkommens verliert, stellt das freiwillige Spenden oder Gratisarbeiten schnell mal ganz ein. Wenn junge gesunde Erwach-sene einfach bei der Sozialhilfe Geld für das Nichtstun abholen können, sinkt die Bereitschaft oder Fähigkeit von Eltern und Grosseltern, junge Menschen zu fördern und zur Eigenverantwor-tung anzuhalten. Ich könnte mir vorstellen, dass man ähnlich wie bei den Verdingkindern ein halbes Jahrhundert später dannzumal alte Leute dafür entschädigen wird, dass ihnen die Sozialhilfe eine eigenverantwortliche Zukunft verbaut hat – als «Verdingkinder des Sozialstaates» sozusagen.

Die vielbeschworene Solidarität kann nicht durch staatlichen Zwang erreicht werden, sondern muss weitestgehend freiwillig bleiben oder zumindest auf Versicherungsprinzipen abgestützt werden. Deshalb ist es in meiner Beurteilung eine krasse Fehlein-schätzung, den Rückgang von freiwilligen Leistungen aller Art auf den Vormarsch von marktwirtschaftlich geschürter Gier und Ego-ismus zurückzuführen. Es verhält sich gerade umgekehrt: Grund ist die durch die Mehrheit an der Urne oder im Parlament erzwun-gene Umverteilung, die insofern mit dem Stehlen verwandt ist, als die Leistenden eben nicht freiwillig handeln, sondern unter Zwang. Wo liegt letztlich der Unterschied zwischen dem Räuber, der mir ein Messer an die Gurgel setzt, und dem Sozial- und Um-

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verteilungsstaat, der mir unter Strafandrohung Solidaritätsbei-träge abpresst?

6. Die Gefahren von Egalitarismus, Kommunitarismus und Ökologismus

Es ist somit nicht der Vormarsch der marktwirtschaftlichen Kommerzialisierung von immer mehr Lebensbereichen, welche freiwillige Solidarität in Form freiwilliger Gratisarbeit, des Miliz-gedankens oder des Spendens zurückdrängt, sondern die Politik der staatlich erzwungenen Umverteilung und Verhaltensände-rung. Wenn ich schon mit hohen Steuern den Lebenswandel von anderen finanzieren muss, dann schwächt das meine Bereitschaft zur persönlichen und freiwilligen Hilfe- oder Unterstützungsleis-tung. Die sich ungebremst ausdehnende Sozial- und Umvertei-lungsdemokratie ist der wahre Zerstörer freiwilliger Solidarität und unbezahlter Hilfsbereitschaft – und eben nicht die schran-kenlose oder gar barbarische Marktwirtschaft mit dem Wettbe-werb im Zentrum.

Der ausufernde Sozialstaat stösst somit nicht nur an Grenzen der Finanzierbarkeit, sondern unterminiert sein sozialethisches Fundament. Dies ist höchst bedauerlich, weil freiwillige Leistun-gen über den finanziellen Nutzen hinaus Werte schaffen wie An-teilnahme, Pflichtgefühl oder Dankbarkeit und so den gesell-schaftlichen Zusammenhalt stärken.

Aber was steckt hinter diesem Vormarsch des staatlichen Zwangs zu Solidarität, Umverteilung und Bevormundung?

I. Der EgalitarismusDie marxistischen Formen des Sozialismus (Verstaatlichung

des privaten Eigentums und zentrale Planwirtschaft) sind passé, aber durch einen «Sozialdemokratismus» ersetzt worden. Dieser orientiert sich am gleichmacherischen Egalitarismus und will durch radikale Umverteilung und erzwingbare Rechtsansprüche an den Staat die «soziale Gerechtigkeit» = materielle Gleichheit verwirkli-chen. Chancengleichheit weicht der Gleichheit im Ergebnis. Die Be-kämpfung von Ungleichheiten aller Art rückt ins Zentrum der Poli-tik. Gleichverteilung erscheint wichtiger als Wachstum. Wenn alle Einkommen sich in jeder Generation verdoppeln, geht es definitiv allen besser, aber die absolute Verteilung wird ungleicher, was ge-mäss der Ideologie der Egalitaristen in jedem Fall zu bekämpfen ist. Lieber alle gleich arm, aber gleich. Viele Aspekte dieser Politik fin-den immer mehr auch bei bürgerlichen Politikern und Wählern An-klang. Momentan ist dies bei der geradezu krankhaft obsessiven Gleichstellung von Mann und Frau bzw. schon von Bub und Mäd-chen besonders krass beobachtbar, ja absurd.

II. Der KommunitarismusDie zweite Komponente dieses Sozialdemokratismus ist der

Kommunitarismus, der eine Demokratisierung der Wirtschaft anstrebt und die individuellen Entscheidungen durch erzwun-gene Solidarität und politischen Diskurs ersetzen will. Das Ver-

halten am Markt wird durch «Exit» dominiert. Wenn mir ein Pro-dukt nicht gefällt, ein Preis zu hoch erscheint oder die Qualität nicht überzeugt, trete ich aus dieser Beziehung aus. Ebenso wenn mir die Strategie oder Politik eines Unternehmens miss-fällt, verkaufe ich einfach meine Aktien. In der Politik jedoch steht «Voice» im Vordergrund. Wir debattieren unter Weglei-tung der Kommunitaristen so lange und so uneigennützig, bis wir eine einvernehmliche sozialverträgliche Lösung gefunden haben. Der Kommunitarismus will «Exit» durch «Voice» erset-zen, und zwar gerade auch in wirtschaftlichen Belangen. Pro-dukte müssen «fair» sein, Löhne «nichtdiskriminierend» und Esswaren «nachhaltig». Im Vordergrund stehen nicht mehr die geltend gemachten Bedürfnisse der Konsumenten, sondern die Verkleinerung des menschlichen Fussabdrucks, die Schaffung einer gerechten Gesellschaft oder die Rettung vor dem Weltun-tergang. Ordnungspolitische Grenzen zwischen Markt und Staat werden so nicht (direkt) durch Kollektivierung des Eigentums angestrebt, sondern durch Demokratisierung der Entschei-dungsprozesse, zum Beispiel über Lohnhöhen oder -strukturen, Wandel zu einer «grünen Wirtschaft» oder Verhaltensbevor-mundungen im öffentlichen Interesse (vergleiche den Lehrplan 21 oder den «Znüni-Terror» in Kindergärten). Diese Forderun-gen sind auch in bürgerlichen Kreisen weit verbreitet und veran-kert. Marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen sind zu absolu-ten Aussenseitern geworden und stossen bei Gutmenschen auf ein mitleidiges Lächeln oder mehr noch auf eine unreflektierte Ablehnung.

III. Der ÖkologismusDer sich am Weltuntergang orientierende Ökologismus pre-

digt Nachhaltigkeit und Selbstbeschränkung (Suffizienz) und operiert primär mit der Verbreitung von Angst und Schrecken zum einen und deckt harte Fakten und freie Forschung mit einer absoluten Moralisierung zu. Der Klimawandel ist zum religiösen Ersatz für die Hölle verkommen. Der in der International Cli-mate Change Partnership (ICPP) massgebliche James Hansen hat die amerikanischen Bahntransporte von Kohle mit den nazi-deutschen Vernichtungszügen nach Auschwitz verglichen. Wis-senschaftlich unhaltbare Leitlinien wie ehedem «die Grenzen des Wachstums» und neuerdings der 2000-Watt-Gesellschaft, des ökologischen Fussabdrucks oder die geradezu absurde För-derung erneuerbarer Energien sind zu staatlichen Heilsbot-schaften verkommen, die sich rational nicht mehr in Frage stel-len lassen. Wer es dennoch tut, gilt als «schlechter» Mensch. Die «Energiewende» in der Schweiz ist getrieben von einer kleinen Minderheit von sektiererischen und opportunistischen Eliten und scheint getragen von einer fehlinformierten, gutgläubigen und hoffnungsvollen breiten Masse, die (vorderhand) ihre Illusi-onen nicht verlieren möchte. Und die Wissenschaft erweist sich leider als wenig standfest beim Einsatz sowohl von Zuckerbrot wie auch von Peitsche.

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impressum «Schweizer Monat», Sonderthema 17, September 2014ISSN 0036-7400

VERLAGSMH Verlag AG

HERAUSGEBER & CHEFREDAKTORRené Scheu (RS)[email protected]

REDAKTION Serena Jung (SJ/Projektleiterin & persönliche Mitarbeiterin des Herausgebers)[email protected] Oegerli (FO/Praktikant)[email protected]

DANKWir danken der Swiss Re, dem Verein Zivilgesellschaft und der Stiftung FUP für ihren Beitrag zur Realisierung dieser Sonderpublikation.

KORREKTORATRoger Gaston SutterDer «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch.

GESTALTUNG & PRODUKTIONPascal [email protected]

MARKETING & VERKAUFUrs [email protected]

ADMINISTRATION/LESERSERVICEAnneliese Klingler (Leitung)[email protected] Schä[email protected]

ADRESSE«Schweizer Monat»SMH Verlag AGRotbuchstrasse 468037 Zürich+41 (0)44 361 26 06www.schweizermonat.ch

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PREISEJahresabo Fr. 195.– / Euro 143,–2-Jahres-Abo Fr. 350.– / Euro 260,–Abo auf Lebenszeit / auf AnfrageEinzelheft Fr. 22.– / Euro 18,–Studenten und Auszubildende erhalten 50% Ermässigung auf das Jahresabonnement.

DRUCKpmc Print Media Corporation, Oetwil am Seewww.pmcoetwil.ch

BESTELLUNGENwww.schweizermonat.ch

7. FazitEs ist nicht der Neoliberalismus, der die Zivilgesellschaft un-

terminiert, sondern es ist der ungebremste Vormarsch von staatli-chen Regulierungen und Zwangsumverteilungen, der sowohl der freien Marktwirtschaft wie der freiwilligen Solidarität den Boden unter den Füssen wegzieht. Wir verlieren so gleichzeitig an per-sönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität. Die dafür massgeblichen Kräfte sind die Ideologien des Egalitarismus, des Kommunitarismus und des Ökologismus. Es sind dies die neuen Ersatzreligionen, die den Anspruch erheben, die Welt nicht nur zu verbessern, sondern zu retten. In Tat und Wahrheit gefährden sie oder – falls wirklich umgesetzt – vernichten sie Freiheit und Wohlstand. Aber nebenbei eben auch echte Solidarität und die ei-genverantwortliche Zivilgesellschaft.

Wir stehen in der Schweiz heute und morgen vor entschei-denden Weichenstellungen, angefangen von der Energiewende über unser Verhältnis zu Europa bis zur Alters- und Gesundheits-politik und zur staatlichen Reglementierung und Regulierung. Man kann es so oder so sehen: Kommen die fortgeschrittene Ent-mündigung der freien Bürger und die Zerstörung der Zivilgesell-schaft durch allgegenwärtige Anspruchs- und Schutzmechanis-men vor jeglichen Veränderungen? Oder erleben wir bald die Um-kehr im Sinne eines Revivals von Eigenverantwortung, Bürger-stolz und freiwilligem zivilgesellschaftlichem Engagement?

Klar ist nur eins: je später das Revival erfolgt, desto schwieri-ger wird es, wie wir in unseren Nachbarländern beobachten könn-ten. Wenn wir denn wollten. Oder wollen. �

einladung zur Debatte – Wer ist «wir»? Wie fühlt und fiebert die Schweiz im Jahr 2014? Welches Selbstbild pflegen Ihre helvetischen Zeitgenossen? Und wirken sich diese mentalen Prägungen auf die Zukunft des Landes aus? Georg kohler, Philipp Gut, thomas zaugg und Michael stauffer führen die Debatte am 17. September in Zürich öffentlich und live. Moderation: Olivia Kühni und René Scheu. Seien Sie dabei!

Die Eintrittskosten müssen an der Abendkasse beglichen werden. Die Platzzahl ist begrenzt, Anmeldung erforderlich. Sichern Sie sich jetzt per E-Mail unter debatte@ schweizermonat.ch oder per Telefon +41 44 361 26 06 Ihr Ticket. Zum Steh-Apéro im Anschluss sind alle Teilnehmer herzlich eingeladen. Wir hoffen auf zahlreiche interessierte Gäste und freuen uns auf ein Wiedersehen!

Ihr «Monat»-Team

Wann: Mittwoch, 17. September 2014Zeit: Beginn des Podiums: 19 Uhr; Türöffnung: 18.30 UhrWo: Karl der Grosse (Saal im Erdgeschoss), Kirchgasse 14, 8001 ZürichKosten: für Nichtabonnenten CHF 20.– und für Abonnenten des «Monats» CHF 10.–.

«Eine unkomplizierte Bank, die das Wachstum von KMU unterstützt.»Bettina Walser-Meier und Erwin Meier-Honegger, Ernst Meier AG

Für das Garten-Center Ernst Meier AG ist die Zürcher Kantonalbank eine Partnerin, die gute Geschäfts- ideen zum Blühen bringt. Mit regionalem Know-how, Kundennähe und Blick fürs Wesentliche unterstützen wir die langfristigen Wachstumspläne.

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