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Schweizerische Ärztezeitung SÄZ – BMS Bulletin des médecins suisses – Bollettino dei medici svizzeri Offizielles Organ der FMH und der FMH Services www.saez.ch Organe officiel de la FMH et de FMH Services www.bullmed.ch Bollettino ufficiale della FMH e del FMH Services 25 17. 6. 2015 930 Tribüne Ein Eid für heutige Ärztinnen und Ärzte 899 Editorial Doctors’ health matters 900 FMH / SAMW Medizinisches Berufsgeheimnis und Meldepflichten: Medizin-ethische Aspekte 940 «Zu guter Letzt» von Erhard Taverna Fressmythen

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Schweizerische Ärztezeitung

SÄZ – BMS Bulletin des médecins suisses – Bollettino dei medici svizzeri

Offizielles Organ der FMH und der FMH Services www.saez.ch

Organe officiel de la FMH et de FMH Services www.bullmed.ch

Bollettino ufficiale della FMH e del FMH Services

25

17.

6. 2

015

930 TribüneEin Eid für heutige Ärztinnen und Ärzte

899 EditorialDoctors’ health matters

900 FMH / SAMW Medizinisches Berufs geheimnis und Melde pflichten: Medizin-ethische Aspekte

940 «Zu guter Letzt» von Erhard TavernaFressmythen

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INHALTSVERZEICHNIS 897

Redaktion

Dr. med. et lic. phil. Bruno Kesseli, Basel (Chefredaktor); Annette Eichholtz, M.A. (Managing Editor); Isabel Zwyssig, M.A. (koordinierende Redaktorin); Dr. med. Werner Bauer; Prof. Dr. med. Samia Hurst; Dr. med. Jean Martin; Anna Sax, lic. oec. publ., MHA; Dr. med. Jürg Schlup (FMH); Prof. Dr. med. Hans Stalder; Dr. med. Erhard Taverna; lic. phil. Jacqueline Wettstein (FMH)

Redaktion Ethik

PD Dr. theol. Christina Aus der Au; Prof. Dr. med. Lazare Benaroyo; PD Dr. phil., dipl. biol. Rouven PorzRedaktion Medizingeschichte

Prof. Dr. med. et lic. phil. Iris Ritzmann; PD Dr. rer. soc. Eberhard WolffRedaktion Ökonomie

Anna Sax, lic. oec. publ., MHARedaktion Recht

Fürsprecher Hanspeter Kuhn (FMH)

FMH

EDITORIAL: Barbara Weil

899 Doctors’ health matters

AKTUELL: FMH/SAMW

900 Berufsgeheimnis und Meldepflichten: Medizin-ethische Aspekte Eine gemeinsame Stellungnahme der FMH und der Zentralen Ethikkommission der SAMW.

TARIFFRAGEN: Beatrix Meyer, Bettina Holzer

902 Leistungsbezogenes Tarifsystem für die stationäre Psychiatrie Mit der Vorabversion des Tarifsystems TARPSY 0.2 werden verschiedene Varianten aufgezeigt, die Tages- und Fallpauschalen kombinieren. Die FMH befürwortet eine Tarifstruktur, die ausschliesslich auf leistungsbezogenen Tagespauschalen basiert. Ein Fallpauschalenelement lehnt sie hingegen ab.

RECHT: Valérie Rothhardt

905 Aussergerichtliche Gutachterstelle der FMH: Ein Überblick über das aktuelle Reglement Aufgabe der aussergerichtlichen Gutachterstelle der FMH ist die Begutachtung von Behandlungsfehlern, und dies ausserhalb eines Gerichts. Das Verfahren ist transparent, alle Parteien werden beteiligt.

ZENTRALVORSTAND

907 Nachrichten aus dem Zentralvorstand

908 Personalien

Organisationen der Ärzteschaft

SFCNS: Isabel Zwyssig

910 Im Dienste der klinischen Neurowissenschaften Interview mit Anton Valavanis und Claudio L.A. Bassetti über die Swiss Federation of Clinical Neuro-Societies. Was sind Anliegen, Ziele und Herausforderungen dieser Organisation?

Briefe / Mitteilungen

913 Briefe an die SÄZ 915 Facharztprüfungen / Mitteilungen

FMH Services

919 Stellen und Praxen

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BADOUX

INHALTSVERZEICHNIS 898

ImpressumSchweizerische ÄrztezeitungOffizielles Organ der FMH und der FMH ServicesRedaktionsadresse: Elisa Jaun, Redaktionsassistentin SÄZ, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 72, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.saez.ch

Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte-verlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch

Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected]

«Stellenmarkt/Immobilien/Diverses»: Matteo Domeniconi, Inserateannahme Stellenmarkt, Tel. +41 (0)61 467 86 08, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected]«Stellenvermittlung»: FMH Consulting Services, Stellenvermittlung, Postfach 246, 6208 Oberkirch, Tel. +41 (0)41 925 00 77, Fax +41 (0)41 921 05 86, [email protected], www.fmhjob.ch

Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected]

Andere Abonnemente: EMH Schweize-rischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected]

Abonnementspreise: Jahresabonne-ment CHF 320.– zzgl. Porto.

ISSN: Printversion: 0036-7486 / elektronische Ausgabe: 1424-4004Erscheint jeden Mittwoch

© EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG(EMH), 2015. Die Schweizerische Ärzte-zeitung ist eine Open- Access-Publika-tion von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der Creative-Commons-Lizenz «Namens-nennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedingungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke ver-wendet wird und (3) das Werk in keiner

Weise bearbeitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommer-zielle Nutzung ist nur mit ausdrück-licher vorgängiger Erlaubnis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig.

Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift pu-blizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die ange-gebenen Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit den Beipackzetteln der verwende-ten Medikamente verglichen werden.

Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch

Tribüne

THEMA: Max Giger

930 Ein Eid für heutige Ärztinnen und Ärzte Ist ein Eid für Ärztinnen und Ärzte in der Welt von heute noch aktuell? Auf jeden Fall, meint eine interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe der Stiftung Dialog Ethik – wenn ein solcher Eid zeitgemäss formuliert und für Ärztinnen und Ärzte verbindlich sei. Sie hat einen Vorschlag erarbeitet, der hier zur Diskussion gestellt wird.

THEMA: Bruno Kesseli

932 «Die Zeit ist reif für einen verpflichtenden Eid» Bernhard Egger und Max Giger haben als Vertreter der Ärzteschaft an der Ausarbeitung des vorgeschlagenen Eids für Ärztinnen und Ärzte mitgewirkt. Im Interview äus sern sie sich zur Entstehungs-geschichte sowie zum Sinn und Zweck des neuen Eids.

TAGUNGSBERICHT: Daniel Lüthi

935 «Ein Organ ist ein Geschenk» Bericht von einem internationalen Expertenforum, bei dem es um Transplantationen und Menschenrechte ging. Und um China. Dort sei bei allzu vielen transplantierten Organen die Herkunft unbekannt.

Horizonte

BUCHBESPRECHUNGEN: Christina Aus der Au

938 Mit Spiritualität Lebensräume für Kinder und Jugendliche öffnen

SCHAUFENSTER: Lilly Zimmerli-Staub

939 Der Gute-Nacht-Kuss

Zu guter Letzt

Erhard Taverna

940 Fressmythen «Milch macht müde Männer munter» hiess es in den 50er Jahren. Heute gilt sie vielen als Risikofaktor, nur als Notfallnahrung akzeptabel. Der eine lebt vegetarisch, die andere vegan, sie verträgt keine Laktose, er kein Gluten, jene kein Histamin, und Fruktose macht alle krank. Sind Lebensmittelallergien und -unverträg-lichkeiten der «Boom des Jahrhunderts»?

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Für Ärztinnen und Ärzte ist Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Wohlbefinden und der eigenen Gesundheit kein luxuriöser Selbstzweck. Sind sie überlastet und unzufrieden, wirkt sich dies auch auf die Patientenversorgung aus: Gestresste Ärzte machen eher Fehler und überzeugen auch nicht als Vorbilder, kranke Ärzte kommen zudem teuer zu stehen! Sich um die eigene Gesundheit zu kümmern ist für Ärz tinnen und Ärzte nicht nur ein Gebot der Selbst-fürsorge, es ist ebenso eine Investition in die Qualitätssicherung und die Ökonomie des Gesundheitswesens.

Dr. med. Christine Romann, Mitglied des Zentralvorstandes der FMH, Departementsverantwortliche Gesundheitsförderung und Prävention

Untersuchungen im In- und Ausland belegen, dass Ärz-tinnen und Ärzte in ihrer täglichen Arbeit erhöhtem psychosozialem Stress ausgesetzt sind. Der Wandel der Arbeitsbedingungen hat zur Folge, dass sie sich zuneh-mend ausgebrannt fühlen. Trotzdem identifizieren sich Ärzte nach wie vor sehr mit ihrer Tätigkeit und leisten gute Arbeit – was Öffentlichkeit und Patienten auch anerkennen. Gleichzeitig ist klar, dass sich etwas ändern muss, sonst wird die berufliche und private Lebensqualität vieler Ärztinnen noch stärker beein-trächtigt.

Auf Konferenzen zu Physicians’ Health suchen Exper-ten aus zahlreichen Ländern nach Wegen, die Gesund-heit von Medizinern zu erhalten oder zu verbessern. Insgesamt wird vielfältige Unterstützung vom Medi-zinstudium bis zur Pensionierung angeboten: So existieren beispielsweise edukative, konfrontative und auch qualitätssichernde Angebote. Und ebenso können Ärzte eine Therapievermittlung oder ein Coaching in Anspruch nehmen. Angehende Medi-ziner werden während des Studiums und der Assistenzarztzeit auf einen besseren Umgang mit beruflichem Stress vorbereitet. Als Reaktion auf die Not vieler nie dergelassener Ärzte gibt es Telefon-Hotlines, die schnelle und kompetente Hilfe vermit-teln. Präventionsmassnahmen werden mithilfe von Informationsbroschüren, Gesundheitsprogrammen für Mitarbeitende von Kliniken oder Seminaren für Ärzte zum Thema «Burnout» realisiert. Aufklärung findet statt über das erhöhte Suizidrisiko von Ärzten und insbesondere Ärztinnen sowie über verfügbare Hilfen gegen Depression und Suizid. Ärzte mit Abhän-gigkeitsproblemen werden auf ihre Probleme ange-

sprochen und in arztspezifische teilstationäre Thera-pien vermittelt.

Effektive und praxisnahe Hilfsangebote

Der Grad der Vertraulichkeit ist hoch. Manche Ange-bote via Internet, Telefon-Hotline oder Kurse können ohne Namensnennung genutzt, andere unter vier Augen wahrgenommen werden; denn die Schwelle bei Ärzten, sich Hilfe zu suchen, ist sehr hoch. Indiskre-tion, Rufschädigung und Blossstellung werden so sehr befürchtet, dass selbst schwer depressive und suizidale Ärzte oft so lange warten, bis es zu spät ist. Diese Fak-ten müssen Hilfssysteme berücksichtigen, die auf Ärzte zugeschnitten sind – andernfalls bleiben sie wirkungslos. Von einem solch vernetzten präventiven Hilfssystem ist man in der Schweiz noch weit entfernt, auch wenn es verschiedene positive Ansätze gibt, etwa ReMed oder das «bureau des médecins de demain» des CHUV, die Interventionen des VSAO zur Einhaltung des Arbeitsgesetzes oder für familienfreundliche Mass-

nahmen seitens Arbeitgeber (in Zusammenarbeit mit der Fachstelle UND), Kinderkrippenvermittlung, oder das Label «Friendly Workspace» der Stiftung Gesund-heitsförderung Schweiz. Prävention und Gesundheitsförderung für Ärzte sollte zudem auch Eingang in die ärztliche Weiter- und Fort-bildung finden. Die Gesundheit von Ärzten zu fördern und zu erhalten ist eine Notwendigkeit – sie dient der Behandlungsqualität und letztlich der Patienten-sicherheit. Die FMH will ihren Beitrag dazu leisten.

Doctors’ health mattersBarbara Weil

Leiterin Abteilung Gesundheitsförderung und Prävention

Stress und Druck kennzeichnen heute vielfach den Berufsalltag von Ärztinnen und Ärzten.

Gesunde berufliche Rahmenbedingungen sind für eine hohe Patientensicherheit ebenso notwendig wie entsprechende Hilfsangebote.

FMH Editorial 899

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):899

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Einschränkungen des Arztgeheimnisses werden längst nicht mehr ausschliesslich für die Behandlung potentiell gefährlicher Straftäter diskutiert: Auch Personen, deren Beruf Gelegenheit zum sogenannten erweiterten Suizid bietet oder Gewaltopfer sollen sich nicht mehr ihrem Arzt anvertrauen können, ohne die Weitergabe ihrer persön-lichsten Informationen fürchten zu müssen. Wo ein Melderecht sinnvoll und wichtig ist, unterlaufen Meldepflich-ten berufsethische Prinzipien. Die nachstehende Stellungnahme der Ethikkommission der SAMW und der FMH zeigt diese Problematik auf und erläutert, warum Einschränkungen des Berufsgeheimnisses weder notwendig noch sinnvoll, sondern sogar kontraproduktiv sind und die öffentliche Sicherheit in keiner Weise erhöhen.

Dr. med. Jürg Schlup, Präsident der FMH

Verschiedene Entwicklungen tragen dazu bei, dass das medizinische Berufsgeheimnis zunehmend unter Druck gerät. So hat der tragische Tod der Sozialthera-peutin Adeline M. im Kanton Genf dazu geführt, dass die Kantone Genf, Wallis und Waadt [1] Gesetzesbe-stimmungen diskutieren, welche Ärzte (und weitere Medizinalpersonen) verpflichten, den Behörden alle Informationen über eine potentielle Gefährlichkeit ihrer Patienten im Strafvollzug weiterzugeben. Immer wieder schrecken auch Fälle von häuslicher Gewalt die Öffentlichkeit auf und die Politik sucht nach Lösungen. Im Kanton Basel-Landschaft [2] wird eine Gesetzes-vorlage diskutiert, die Ärzte und weitere Personen, die einen Medizinal-, Psychologie- oder Gesundheitsberuf ausüben, dazu verpflichtet, bestimmte ärztliche Be-funde, u.a. schwere Körperverletzungen, der Strafver-folgungsbehörde zu melden, unabhängig davon, ob diese durch Unfall, Delikt oder in suizidaler Absicht er-folgt sind. Zuletzt führte auch der tragische Absturz des Germanwings-Airbusses dazu, dass über Melde-pflichten für dem Berufsgeheimnis unterstehende Per-sonen diskutiert wird.Das Anliegen, mit diesen Gesetzesänderungen die In-teressen der Gesellschaft und die Sicherheit der Bürge-rinnen und Bürger zu schützen und Risiken so weit wie möglich einzudämmen, ist nachvollziehbar. Zu prüfen ist aber, ob ärztliche Meldepflichten tatsächlich geeig-net sind, die öffentliche Sicherheit zu erhöhen. Ausser-dem sind mögliche langfristige Auswirkungen in die Abwägung einzubeziehen. Zu betonen ist, dass es eine «Null-Risiko-Gesellschaft» nicht gibt, auch wenn sol-che Ansprüche geäussert werden. Festzuhalten ist zudem, dass beim Tod von Adeline M. nicht das Arzt-geheimnis, sondern Probleme im Vollzug eine Rolle

gespielt haben. Der Untersuchungsbericht zum Fall [3] bedauert vielmehr den fehlenden Einbezug eines Arz-tes für die Risikoevaluation des Mörders von Adeline M. bei dessen Aufnahme in die Vollzugsanstalt.Zu den Meldepflichten im Gefängnisbereich hat die Nationale Ethikkommission NEK eine ausführliche Stellungnahme [4] verfasst. Sie empfiehlt einstimmig, das heutige System – das bereits eine Meldemöglich-keit, aber keine Meldepflicht vorsieht – beizubehalten. Als Gründe führt die Stellungnahme unter anderem an, dass– eine Meldepflicht die Beurteilung der Gefährlich-

keit nicht erleichtert und somit kein Instrument darstellt, um die Sicherheit der Bevölkerung zu ver-bessern;

– diese Meldepflicht im Gegenteil die Sicherheit ge-fährden kann, da inhaftierte Personen, die ihre Strafe verbüsst haben, in die Gesellschaft zurück-kehren, ohne eine – vor allem im psychischen Be-reich – angemessene Behandlung erhalten zu haben.

Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der Schweizeri-schen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) schliessen sich den Argumenten der NEK an und erinnern nachstehend an die aus ihrer Sicht zentralen Werte:

Medizinisches Berufsgeheimnis als berufsethischer Grundwert

Das medizinische Berufsgeheimnis ist ein hohes Gut; dies wird dem Gesundheitsfachpersonal in der Aus-, Fort- und Weiterbildung als zentraler, berufsethischer

Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission der SAMW und der Verbindung

Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH

Berufsgeheimnis und Meldepflich-ten: Medizin-ethische AspekteFMH, SAMW

FMH Aktuell 900

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):900–901

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Grundwert vermittelt. Das Berufsgeheimnis ist auch strafrechtlich geschützt, d.h., dessen Verletzung ist unter Strafe gestellt (Art. 321 StGB [5]). In Ausnahme-situationen ist die Offenbarung von Informationen durch Gesundheitsfachpersonen heute schon erlaubt. So besteht keine Strafbarkeit, wenn wichtige Infor-mationen mit einer auf Gesuch erteilten, schriftlichen Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder Aufsichts-behörde oder in einer Notstandssituation weiterge-geben werden [6].

Medizinisches Berufsgeheimnis als notwendige Grundvoraussetzung einer therapeutischen Beziehung

Die medizinische Behandlung erstreckt sich oft über längere Zeiträume. Insbesondere bei psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen, die eine Veränderung von Denken, Fühlen und Handeln an-streben, sind langfristige Erfolge nur in einem vertrau-ensvollen, geschützten Rahmen möglich. Patienten müssen die Möglichkeit haben, ihrem Therapeuten Dinge anzuvertrauen, die sie mit anderen Personen nicht besprechen können. Gleichzeitig sind diese Infor-mationen auch Grundlage für die (psycho)therapeuti-sche Arbeit. Werden solche Informationen zum even-tuellen Schutz Dritter, aber auch zur Minimierung eigener Rechtsrisiken weitergegeben, besteht die Ge-fahr, dass sich Patienten nicht mehr öffnen und dem Therapeuten weniger oder verfälschte Einblicke in ihr Innenleben geben. Tritt dies ein, ist weder eine sinn-volle Therapie möglich, noch können in Notfallsitua-tionen wichtige Hinweise weitergegeben werden, weil diese Informationen dem behandelnden Therapeuten fehlen.

Medizinisches Berufsgeheimnis als Schutzraum für Opfer von Verbrechen oder Vergehen

Opfer von Verbrechen oder Vergehen gegen Leib und Leben oder gegen die sexuelle Integrität benötigen einen therapeutischen Schutzraum und die Gewiss-heit, dass sie nicht aufgrund der Weitergabe von Infor-mationen über ihren Kopf hinweg nochmals zum «Opfer» werden. Vielmehr müssen sie gemeinsam mit dem Arzt abwägen können, ob eine Meldung in ihrem Interesse ist und zu welchem Zeitpunkt sie erfolgen soll. Meldungen können kontraproduktiv sein und zu einer Retraumatisierung des Opfers führen, wenn sie z.B. ein Strafverfahren auslösen, in welchem der Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird. Analoge

Überlegungen gelten im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen [7]. Eine Meldepflicht entspricht nicht immer dem Kindeswohl. Deshalb setzt sich auch die Stiftung Kinderschutz Schweiz für ein Melderecht des Arztes ein und spricht sich gegen eine Meldepflicht aus [8].Zusammenfassend halten wir fest, dass die zuneh-mende Aufweichung des Berufsgeheimnisses weder notwendig noch sinnvoll ist und im Widerspruch zu den berufsethischen Prinzipien steht. Die bisher gelten-den gesetzlichen Regelungen erlauben es den medizi-nisch und therapeutisch tätigen Berufspersonen heute schon, in Ausnahmesituationen den notwendigen Bei-trag zur Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu leis-ten, ohne ihren therapeutischen Auftrag zu gefährden. Die angestrebten Meldepflichten entsprechen keines-wegs einem rationalen Umgang mit unvermeidlichen Risiken und tragen nichts zum Schutz der Gesellschaft bei. Eine Meldepflicht kann im Gegenteil kontrapro-duktiv wirken und verhindern, dass eine Gefahr für Drittpersonen rechtzeitig erkannt wird, weil sich diese Patienten gegenüber ihrer Ärztin oder ihrem Arzt aus Angst vor der Meldepflicht nicht mehr öffnen. Zudem verhindert sie dadurch eine optimale Therapie.

Referenzen1 Projet de loi genevoise PL 11404 modifiant la loi d’application du

code pénal et d’autres lois fédérales en matière pénale (LaCP) (E 4 10) du 27 août 2009; Projet de loi modifiant la loi du 4 juillet 2006 sur l’éxecution des condamnations pénales (LEP), Projet de loi valaisanne modifiant la loi d’application du code pénal suisse du 11 février 2009 (LACPP).

2 Änderung des Gesundheitsgesetzes (GesG): Schweigepflicht und Meldepflicht. Bericht an den Landrat des Kantons Basel-Land-schaft vom 23. Februar 2015.

3 Ziegler Bernard, Avocat, Ancien Président du Conseil d’Etat: Rap-port final dans l’enquête administrative ordonnée par le Conseil d’Etat à la suite du décès de Mme Adeline X lors d’une sortie accompagnée de M. Fabrice Anthamatten; 31 janvier 2014.

4 Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (2014) Über die Meldepflicht im Gefängnisbereich für Informationen, die dem medizinischen Berufsgeheimnis unterstehen. Stellung-nahme Nr. 23/2014. www.nek-cne.ch/de/themen/stellungnahmen/index.html

5 Art. 321 StGB, Verletzung des Berufsgeheimnisses: Ärzte, Zahn-ärzte, Apotheker, Hebammen sowie ihre Hilfspersonen, die ein Geheimnis offenbaren, das ihnen infolge ihres Berufes anvertraut worden ist oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen ha-ben, werden, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

6 Art. 17 StGB, Rechtfertigender Notstand: Wer eine mit Strafe be-drohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer ande-ren Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höher-wertige Interessen wahrt.

7 Vgl. Stellungnahme gegen eine Meldepflicht und für ein Melde-recht an die Erwachsenenschutzbehörden (KESB) der Stiftung Kin-desschutz Schweiz im Rahmen der Vernehmlassung zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, http://kinderschutz.ch/cmsn/de

8 Stiftung Kindesschutz Schweiz, Vernehmlassungsantwort vom 10. März 2014 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. http://kinderschutz.ch/cmsn/de

Korrespondenz: FMH Elfenstrasse 18 CH-3000 Bern 15 Tel. 031 359 11 11 Fax 031 359 11 12

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):900–901

FMH Aktuell 901

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Leistungsbezogenes Tarifsystem für die stationäre PsychiatrieBeatrix Meyera, Bettina Holzerb

a Leiterin Abteilung Tarife und Gesundheitsökonomie Spitalärzteb Dr. med., Abteilung Tarife und Gesundheitsökonomie Spitalärzte

Mit der Vorabversion des Tarifsystems TARPSY 0.2 werden verschiedene Varianten aufgezeigt, die Tages- und Fallpauschalen kombinieren. Die FMH befürwortet eine Tarifstruktur, die ausschliesslich auf leistungsbezogenen Tagespauschalen basiert. Ein Fallpauschalenelement lehnt die FMH hingegen klar ab.

Aktuell werden die Behandlungen in der stationären Psychiatrie mit Tagespauschalen vergütet, wobei deren Ausgestaltung je nach Kanton und Vertragspartner unterschiedlich ist. Der Gesetzgeber verlangt jedoch für die stationäre Psychiatrie ein national einheit-liches, leistungsbezogenes Vergütungssystem. Dieses wird zurzeit unter dem Dach der SwissDRG AG erarbei-tet. Ziel ist es, dass die neue Tarifstruktur einfach und praktikabel ist sowie möglichst wenige Fehlanreize aufweist. Die mit der Tarifstrukturentwicklung be-traute Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-schaften (ZHAW) legte inzwischen die Vorabversion TARPSY 0.2 vor. Dabei konzentrierte sich die ZHAW vorwiegend auf die Erwachsenenpsychiatrie. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Arbeiten auf-grund der ungenügenden Datenlage deutlich weniger weit fortgeschritten. Die Einführung von TARPSY ist für 2018 geplant.

Drei-Phasen-Modell mit Tagespauschalen und Fallpauschalenelement

Der stationäre Aufenthalt für die Erwachsenenpsych-iatrie soll in drei Phasen aufgeteilt werden (Abb. 1). Die erste Phase dauert sieben Tage und wird mit Tages-pauschalen vergütet. Ab dem achten Tag beginnt die zweite Phase, für welche eine Kombination von Tages- und Fallpauschalen vorgesehen ist. Für Langzeit-patienten folgt die dritte Phase wiederum mit Tages-pauschalen. Es wird datengestützt geprüft, ob diese ab dem 61., 91., oder 121. Tag beginnen soll.Die psychiatrischen stationären Aufenthalte werden anhand der Hauptdiagnose sowie der Leistungsinten-sität in möglichst kostenhomogene psychiatrische Kostengruppen (PCG – psychiatric cost groups) unter-teilt. Die Zuordnung zu einer der neun [1] psychiatri-schen Hauptdiagnosegruppen erfolgt mit ICD 10 GM [2]. Für die Messung der Leistungsintensität schlägt die ZHAW für die Erwachsenenpsychiatrie HoNOS [3] vor. Bei den Tagespauschalen in der Phase 1 und 2 wird innerhalb jeder psychiatrischen Diagnosegruppe an-hand von HoNOS zwischen der Regel- und der Intensiv-behandlung unterschieden. Bei einer Fallpauschale in Phase 2 werden zusätzlich mittels HoNOS Patienten-gruppen mit einer höheren bzw. tieferen prognosti-zierten Aufenthaltsdauer gebildet. In Phase 1 und 2 ergeben sich somit je 18 PCG für die Ta-gespauschale [4]. Für die Fallpauschale in Phase 2 kom-men 36 PCG hinzu [5]. Die Phase 3 berücksichtigt keine Leistungsintensität mehr und bildet nur drei PCG. An-hand der entsprechenden Kostengewichte pro PCG, der Aufenthaltstage sowie des von den Tarifpartnern ver-handelten Basistarifs wird der Tarif für den stationä-ren Aufenthalt berechnet [6].

Tagespauschale ab 61. Tag

«erste Phase»

Tagespauschale ab 8. TagTagespauschale bis 7. Tag

«zweite Phase»

durchschnittliche Dauer Phase 2

Subgruppe «kurz»

«dritte Phase»

60 Tage (Alternativen: 90, 120)

durchschnittliche Dauer Phase 2

Subgruppe «lang»

Fallpauschale (ausbezahlt sofern Aufenthaltsdauer mind. 8 Tage)

Quelle: zhaw

Abbildung 1: 3-Phasen-Tarifmodell für die stationäre Erwachsenenpsychiatrie.

FMH Tarif fragen 902

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):902–904

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Fallpauschalen in der Psychiatrie ungeeignet

Für die Phase 2 hat die ZHAW verschiedene Modellvari-anten vorgestellt mit jeweils unterschiedlich hohen Fallpauschalenanteilen von 0%, 25%, 50%, 75% und 100%. Dabei ist die Prognosegüte [7] umso besser, je ge-ringer der Fallpauschalenanteil ist; am besten schnei-det die Variante mit 0% Fallpauschale bzw. 100% Tages-pauschale ab. Die ZHAW verweist darauf, dass durch einen Fallpauschalenanteil ein Anreiz entsteht, die Aufenthaltsdauer zu verkürzen. Die Höhe des Fallpau-schalenanteils kann nicht datengestützt festgelegt werden, sondern ist durch die Partner der SwissDRG AG zu definieren. Durch die Ausschüttung eines Fallpauschalenanteils nach Abschluss der 1. Phase würden sich Erlössprünge ergeben. Die SwissDRG AG möchte deshalb prüfen, wie Elemente des Modells TARPSY mit denjenigen des Modells SwissDRG kombiniert werden können, um Erlössprünge zu vermeiden.

Die FMH unterstützt eine Tarifstruktur, die zu 100% aus Tagespauschalen besteht. Die Varianten mit einem Fallpauschalenanteil lehnt die FMH hingegen klar ab. Dies insbesondere deshalb, weil die Aufenthaltsdauer bei gleicher Diagnose nicht nur vom Arzt bzw. von der psychiatrischen Einrichtung abhängt, sondern auch vom Patienten und seinem sozialen Umfeld. Zudem sind Aufenthalte der fürsorgerischen Unterbringung (FU) oft nicht steuerbar. Die FU wird kantonal unter-schiedlich gehandhabt, und so ist auch ihr Anteil je nach Kanton und Klinik verschieden hoch. Im Durch-schnitt machen die Zwangseinweisungen in der Schweiz rund einen Viertel aller Einweisungen aus [8]. Mit dem Fallpauschalenelement befürchtet die FMH ausser-dem, dass ein ökonomischer Druck für eine medizi-nisch nicht gerechtfertigte, zu frühe Entlassung der Patienten entsteht und entsprechend mehr Wieder-eintritte erfolgen.

Alternativen zu HoNOS werden geprüft

Aus Sicht der FMH eignet sich HoNOS nicht, um die Leistungsintensität in der Erwachsenenpsychiatrie zu ermitteln. HoNOS wurde bisher für die Qualitäts-messung verwendet und getestet, nicht jedoch für die Tarifstrukturentwicklung. Zudem ist HoNOS nicht ma-nipulationsresistent. Der BSCL [9] als Kontrollinstru-

ment erwies sich gemäss der ZHAW als ungeeignet und wird nicht weiter verwendet; eine Alternative liegt jedoch nicht vor. Die Ärzteschaft befürchtet schliess-lich einen höheren administrativen Aufwand, da die Erhebung von HoNOS für TARPSY aufwendiger ist als diejenige für den ANQ [10]. Die gleiche Problematik be-steht mit HoNOSCA [11], welches die Leistungsintensi-tät in der Kinder- und Jugendpsychiatrie abbilden soll. Die FMH forderte deshalb, dass andere Unterschei-dungsmerkmale zur Ermittlung der Leistungsinten-sität wie etwa die fürsorgerische Unterbringung (FU) weiter geprüft werden. Inzwischen hat die ZHAW ange-kündigt, für TARPSY 0.3 abgesehen von HoNOS alter-native Variablen wie die FU oder das Alter zu prüfen. Positiv ist zudem, dass die Forderung der FMH aus dem Positionspapier [12] zu TARPSY aufgenommen wurde, das multiaxiale Klassifikationsschema (MAS) als Unter-scheidungsmerkmal für Kinder und Jugendliche zu evaluieren.

Bessere Datenqualität ist entscheidend

Grundlage für die Entwicklung von TARPSY 0.2 in der Erwachsenenpsychiatrie sind die Daten aus dem Jahr 2013 von 17 psychiatrischen Kliniken. Insgesamt konnte mangels Datenqualität nur ein Drittel der gelieferten Fälle genutzt werden, was knapp einem Fünftel der jährlich stationär behandelten Fälle entspricht. Um die Datenqualität bezüglich der FU zu verbessern, ist eine eindeutige Abgrenzung der statistischen Variablen «Freiwilligkeit» und «Fürsorgerischer Freiheitsentzug» (die frühere Bezeichnung der FU) notwendig, da die Erfassung dieser Variablen aktuell sehr uneinheitlich gehandhabt wird. In der Kinder- und Jugendpsych-iatrie lieferten nur vier psychiatrische Kliniken Daten, zwei davon haben MAS erfasst. Für die Weiterentwick-lung von TARPSY ist es daher wichtig, dass in Zukunft alle psychiatrischen Kliniken Daten in guter Qualität zur Verfügung stellen.

Einbezug von Tages- und Nachtkliniken zentral

Bedauerlicherweise wurden die Tages- und Nachtkli-niken in TARPSY 0.2 nicht berücksichtigt. Aus Sicht der FMH sind diese jedoch in das Tarifsystem TARPSY einzubeziehen. Denn durch die aktuelle Unterver-gütung der Tages- und Nachtkliniken besteht der An-reiz, Patienten medizinisch unbegründet bzw. nur aus finanziellen Überlegungen stationär zu behandeln. Dies widerspricht dem Patientenwohl und verteuert das Gesundheitswesen unnötig. Es ist wichtig, dass die Patienten die für sie jeweils optimale Behandlung er-

FMH lehnt Fallpauschalenelement klar ab und befürwortet leistungsbezogene Tages-pauschalen.

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FMH Tarif fragen 903

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halten, unabhängig davon, ob diese stationär, in einer Tages- bzw. Nachtklinik, aufsuchend oder ambulant erbracht wird.

Übergangsregelung und Begleitforschung notwendig

Da es sich bei TARPSY um eine komplett neue Tarif-struktur handelt, ist aus Sicht der FMH eine mehr-jährige Übergangsregelung erforderlich, um negative finanzielle Auswirkungen in der Einführungsphase zu vermeiden. Zudem ist bereits vor der TARPSY-Einfüh-rung eine Begleitforschung aufzugleisen. Nur durch

eine frühzeitige Begleitforschung können mögliche Fehlentwicklungen der neuen Tarifstruktur rechtzei-tig erkannt und entsprechende Gegenmassnahmen eingeleitet werden.

Fazit und Ausblick

Die FMH empfiehlt, das Tarifsystem TARPSY ausschliess-lich auf leistungsbezogenen Tagespauschalen abzu-stützen und auf Fallpauschalen gänzlich zu verzichten. HoNOS und HoNOSCA sind nicht manipulationsresis-tent und aus Sicht der FMH damit ungeeignet, um die Leistungsintensität zu ermitteln. Deshalb begrüsst es die FMH ausdrücklich, dass die ZHAW für TARPSY 0.3 Alternativen prüft: beispielsweise die fürsorgerische Unterbringung in der Erwachsenenpsychiatrie und

das multiaxiale Klassifikationsschema in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Für die weitere Tarifstruktur-entwicklung ist es wichtig, dass die Kliniken Daten in guter Qualität zur Verfügung stellen. Die FMH steht zu-sammen mit ihren Fachgesellschaften weiterhin aktiv für die Erarbeitung einer leistungsbezogenen Tarif-struktur zur Verfügung.

1 Geprüft wurde eine zusätzliche zehnte Hauptdiagnosegruppe für nicht-psychiatrische Hauptdiagnosen.

2 ICD 10 GM: Internationale statistische Klassifikation der Krankhei-ten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision, German Modification, Grundlage der Diagnoseverschlüsselung in der med. Statistik der Schweiz.

3 HoNOS: Health of the Nation Outcome Scales, Fremdbewertungs-instrument.

4 Bei Verwendung der zusätzlichen zehnten Hauptdiagnosegruppe für nicht-psychiatrische Hauptdiagnosen kommt hier eine zusätz-liche PCG dazu.

5 Bei Verwendung der zusätzlichen zehnten Hauptdiagnosegruppe für nicht-psychiatrische Hauptdiagnosen kommt hier eine zusätz-liche PCG dazu.

6 Der Tarif in CHF wird dabei im Detail wie folgt berechnet: Basis-tarif in CHF × [(Tagespauschale1 × Aufenthaltsdauer1) + Fallpau-schale + (Tagespauschale2 × Aufenthaltsdauer2)] + (Tagespauschale3 × Aufenthaltsdauer3)].

7 Die Prognosegüte der Modelle wurde ermittelt durch die Berech-nung der durchschnittlichen Abweichung der Kosten eines Falls von den tatsächlichen Kosten.

8 Auswertung 2011 des Psychiatrie-Zusatzdatensatzes 2009 durch Obsan, vgl. Gassmann, Jürg, 2011. Wirksamkeit des Rechtsschutzes bei psychiatrischen Zwangseinweisungen in der Schweiz. Studie erstellt im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit. www.bag.admin.ch

9 BSCL: Brief Symptom Checklist, Selbstbewertungsinstrument.10 ANQ: Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und

Kliniken.11 HoNOSCA: Health of the Nation Outcome Scales for Children and

Adolescents.12 Positionspapier der FMH zum Tarifsystem Psychiatrie (TARPSY),

2013, www.fmh.ch → Stationäre Tarife → Positionen → Positions-papiere.

Korrespondenz: FMH Frohburgstrasse 15 CH-4600 Olten Tel. 031 359 11 11 Fax 031 359 11 12 tarife.spital[at]fmh.ch

In der Psychiatrie hängt die Behandlungsdauer stark vom sozialen Umfeld ab.

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FMH Tarif fragen 904

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Aussergerichtliche Gutachterstelle der FMH

Ein Überblick über das aktuelle ReglementValérie Rothhardt

Rechtsanwältin, Leiterin der Gutachterstelle

Einleitung

Aufgabe der aussergerichtlichen Gutachterstelle der FMH ist die Begutachtung von Behandlungsfehlern, und dies ausserhalb eines Gerichts. An diesem trans­parenten Verfahren werden alle Parteien beteiligt – Patient, behandelnder Arzt resp. Ärzte und/oder Spital und Haftpflichtversicherung(en). Neben dem Reglement (Regl.) als wichtigstem Regel­werk sind für die Arbeit der Gutachterstelle auch einige Bestimmungen aus der Standesordnung der FMH (StaO) relevant. 2014 wurden das Reglement und die Standes­ordnung durch den Zentralvorstand und die Ärztekam­mer abgeändert und ergänzt. In diesem Beitrag sollen einige wichtige Artikel (neu und alt) vorgestellt und kommentiert werden.

Bestimmungen bezüglich der Gutachterinnen und Gutachter

Zusammenarbeit, Sorgfalt und rasche Bearbeitung (Art. 35a StaO)Mit Beschluss vom 8. Mai 2014 hat die Ärztekammer Artikel 35a der Standesordnung angenommen, der am 1. September 2014 in Kraft getreten ist. Dieser legt fest, dass der Gutachter oder die Gutachterin das Gutachten sorgfältig und möglichst rasch zu verfassen und kon­struktiv mit der Gutachterstelle und dem für das juris­tische Lesen zuständigen Juristen oder der Juristin zu­sammenzuarbeiten hat.

Fristen (Art. 13 und 14 Regl.)Zur Abfassung des Gutachtens hat der Gutachter oder die Gutachterin drei Monate Zeit; diese Frist kann ein­malig um einen Monat verlängert werden. Zur Vornahme von Änderungen nach dem juristischen Lesen stehen dem Gutachter oder der Gutachterin 14 Tage zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um eine neue Frist, die im März 2014 durch den Zentralvor­stand eingeführt wurde.

Bestimmungen bezüglich der behandelnden Ärztinnen und Ärzte

Einlassungspflicht (Art. 2 Regl. und 35 StaO)Die Mitglieder der FMH sind verpflichtet, sich auf eine vom Patienten verlangte Begutachtung durch die Gut­achterstelle der FMH einzulassen. Spitäler unterliegen dieser Verpflichtung nicht; sie geben ihr Einverständ­nis zur Teilnahme am Gutachterverfahren von Fall zu Fall.Die Einlassungspflicht beinhaltet die Verpflichtung des behandelnden Arztes oder der Ärztin, am Verfahren mitzuwirken. Konkret muss er oder sie den Haftpflicht­versicherer nennen und die Krankengeschichte zur Verfügung stellen. Im Rahmen des Verfahrens muss er oder sie den vorgeschlagenen Gutachter akzeptieren oder gegebenenfalls Gründe für die Ablehnung vor­legen. Er oder sie wird ebenfalls vom Gutachter ange­hört, sofern er oder sie nicht ausdrücklich auf eine solche Anhörung verzichtet.

Sonstige Bestimmungen

Juristisches Lesen (Art. 16 Regl.)Bis März 2014 konnte der Patient wählen, ob der Gutach­tensentwurf durch einen Juristen des Rechtsdienstes der FMH gegengelesen werden sollte oder nicht. Da das juristische Lesen zur Qualitätssicherung der Gutachten beiträgt, indem sichergestellt wird, dass diese klar ver­ständlich, umfassend und schlüssig sind und somit eine effektive Beilegung der Streitigkeit ermöglichen, hat der Zentralvorstand im März 2014 beschlossen, das juristische Lesen zu einem obligatorischen Verfahrensbestandteil zu machen. Dabei geht es nicht darum, das medizinische Ergebnis des Gutachtens zu beeinflussen, sondern darum, es aus dem Blickwinkel eines Nichtmediziners zu be­trachten. Da der gute Ruf der FMH auf dem Spiel steht, ist es legitim, dass diese positiv auf die Qualität der Gut­achten einwirken möchte.

Aussergerichtliches Gutachten (Art. 5 Regl.)Eine Begutachtung ist nicht möglich, wenn ein Gericht bereits rechtskräftig über den vermuteten Diagnose­

Weitere Informationen zur Gutachterstelle finden Sie auf der

diesbezüglichen Webseite www.fmh.ch → Services → Gut­

achterstelle.

FMH Recht 905

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):905–906

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oder Behandlungsfehler entschieden hat oder wenn deswegen ein gerichtliches Verfahren hängig ist. Ziel unserer Gutachterstelle ist es, den Parteien zu ermöglichen, ihre Streitigkeit aussergerichtlich beizu­legen. Somit entscheidet der Patient im Voraus, ob er versuchen möchte, den Konflikt gütlich beizulegen, oder ob er eine gerichtliche Klärung bevorzugt. Erzielen die Parteien jedoch infolge einer Begutachtung keine Einigung, so kann das Gutachten bei einer durch eine der Parteien veranlassten gerichtlichen Prüfung als Beweismittel vorgelegt werden.

Arbeit der Gutachterinnen und Gutachter: zentrales Element des Verfahrens

Wichtigste Neuerung ist die Einführung von Artikel 35a der Standesordnung, der sich auf die Arbeit der Gutachte­rinnen und Gutachter bezieht. Ihre Tätigkeit steht natür­lich im Mittelpunkt des Verfahrens. Daher müssen sie für die Bedeutung ihrer Arbeit, die Erwartungen der Parteien und die Folgen einer erheblichen Verzögerung der Vor­lage des Gutachtensentwurfs sensibilisiert werden. Das Verfahren vor der Gutachterstelle dauert durch­schnittlich zwischen einem und eineinhalb Jahren von der Einreichung des vollständigen Antrags auf Begut­achtung bis zur Zustellung des endgültigen Gutachtens an die Parteien. Für diese Dauer sind mehrere Faktoren mitverantwortlich, insbesondere die grosse Anzahl an Beteiligten (Patient, Anwalt, betroffene Ärzte und Spitä­ler, Versicherungen, Delegierter der medizinischen Fach­gesellschaften usw.). Einer der wichtigsten «Zeitfaktoren» ist der Aufwand für die Abfassung des Gutachtensentwurfs. Die Gutach­terinnen und Gutachter haben aufgrund ihrer beruf­lichen Tätigkeit ein sehr hohes tägliches Arbeitspensum zu bewältigen. Daher neigen sie verständlicherweise dazu, die Abfassung des Entwurfs hinauszögern. Leider müssen wir uns hierdurch häufig monate­, wenn nicht gar jahrelang gedulden, bis uns der Gutachtensentwurf vorgelegt wird. Nach dem juristischen Lesen des Ent­wurfs dauert es häufig erneut mehrere Monate bis zum Erhalt des abgeänderten Gutachtens.Solche Verzögerungen sind gegenüber dem Patienten und dem betroffenen Arzt nur schwer zu rechtfertigen. Tatsächlich sind beide auf das Gutachten angewiesen, und zwar nicht nur, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie sie juristisch weiter verfahren können, sondern sehr häufig auch, um das Geschehene zu begreifen und mit einem schmerzhaften Kapitel ihres Lebens abzuschlies­sen [1]. Daher stellen zu starke Verzögerungen die Nütz­lichkeit und Glaubwürdigkeit der Gutachterstelle in Frage. Indirekt schaden sie auch dem Ruf der Ärzte­schaft insgesamt, da die Patienten diese Untätigkeit als

Versuch seitens der Ärztinnen und Ärzte wahrnehmen, sich gegenseitig zu decken, oder als Unwillen, zur Klä­rung von Situationen beizutragen, in denen möglicher­weise ein Fehler unterlaufen ist.Angesichts der für die ordnungsgemässe Arbeit der Gut­achterstelle wesentlichen Bedeutung der Gutachtertätig­keit ist die Verankerung eines Artikels zu diesem Thema in der Standesordnung eindeutig gerechtfertigt.

Zusammenarbeit der Parteien: unverzichtbar für den reibungslosen Ablauf des Verfahrens

Alle Parteien, vor allem der Patient und der behandelnde Arzt oder die Ärztin, können dazu beitragen, dass das Verfahren bestmöglich und in angemessener Zeit ab­geschlossen wird.Der Patient muss zunächst einmal Recherche­ und Syn­thesearbeit leisten, um seine Krankengeschichte zu­sammenzustellen und die erforderlichen Unterlagen bereitzustellen. Im Verfahren muss er anschliessend die Bearbeitungsgebühr bezahlen und Stellung zum vorge­schlagenen Gutachter beziehen. Der behandelnde Arzt oder die Ärztin wiederum muss zunächst dem Patien­ten eine Kopie der Krankengeschichte und alle erforder­lichen Informationen vorlegen und den Fall seiner Haft­pflichtversicherung melden. In einem zweiten Schritt muss er dann ebenfalls den vorgeschlagenen Gutachter akzeptieren oder ablehnen, von diesem angehört wer­den – sofern hierauf nicht ausdrücklich verzichtet wird –, allfällige Fragen beantworten und dem Gutachter auf Anfrage zusätzliche Unterlagen zur Verfügung stellen.Zudem darf man nicht vergessen, wie wichtig nach einem medizinischen Zwischenfall eine offene Kom­munikation zwischen Arzt und Patient ist, da diese wesentlich dazu beitragen kann, den Konflikt zu ent­schärfen und Enttäuschungen und Missverständnisse zu vermeiden [2]..

Auch in dieser Hinsicht stellen wir fest, dass es manch­mal schwierig ist, den betroffenen Arzt zur Zusammen­arbeit zu bewegen, sei es, weil er sich weigert, dem Pa­tienten Informationen und Dokumente zukommen zu lassen, oder weil er nicht an den verschiedenen Schrit­ten des Verfahrens mitwirkt. Dies erzeugt beim Patien­ten das Gefühl, der Arzt sei unnahbar und stehe dem Schicksal des Patienten gleichgültig gegenüber, was wiederum der Kritik an der gesamten Ärzteschaft Tür und Tor öffnet.Deshalb hat die seit zehn Jahren im Reglement veran­kerte Pflicht zur Einlassung auf das aussergerichtliche Gutachterverfahren, die die Verpflichtung zur Zusam­menarbeit beinhaltet, nichts an ihrer Aktualität einge­büsst und verdient, dass an sie erinnert wird.

1 Mehr Informationen zu den Folgen eines Fehlers für den verantwort ­ lichen Arzt finden Sie in Publikation Nr. 3 der Stiftung für Patienten­sicherheit mit dem Titel Täter als Opfer – Kon­struktiver Umgang mit Feh­lern in Gesundheits­organisationen unter www.patientensicher heit.ch → Publikationen.

2 Zu diesem Thema haben die FMH, der Schweize­rische Versicherungs­verband, die fmCh, die SPO Patientenschutz und der Dachverband Schweizerischer Patienten­stellen eine Broschüre mit dem Titel Kommuni­kation zwischen Ärztin und Patientin – Empfeh­lung bei medizinischen Zwischenfällen verfasst, die Sie auf der Webseite der Gutachterstelle finden.

Korrespondenz: Valérie Rothhardt FMH Elfenstrasse 18 CH­3000 Bern 15 lex[at]fmh.ch

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):905–906

FMH Recht 906

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Sitzung vom 16. April 2015

Nachrichten aus dem Zentralvorstand

Peer-Review-Verfahren – In Peer-Review-Verfahren analysieren Spitäler und Kliniken gemeinsam mit ex-ternen Peers (Fachkollegen) bei statistischen Auffällig-keiten Patientenakten, um Verbesserungspotentiale in den Behandlungsabläufen zu finden. Zusammen mit der FMH und der Schweizerischen Vereinigung der Pflegedienstleiterinnen und Pflegedienstleiter (SVPL) hat H+ das Detailkonzept «Helvetisierung des IQM stan-dardisierten Peer-Review-Verfahrens» erstellt. Neben einem national koordinierten Vorgehen ist es das Ziel, die medi zinischen Leistungen zu verbessern und die Patien tensicherheit zu erhöhen. Der Zentralvorstand (ZV) unterstützt die Verankerung des nationalen Peer-Review-Verfahrens und genehmigt das Detailkonzept.Aktionswoche Patientensicherheit – Gemeinsam mit der FMH und anderen Partnerorganisationen will die Stiftung für Patientensicherheit mit der Aktionswoche (14. bis 18. September 2015) das Thema Patientensicher-heit durch verschiedene Aktionen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Das von der Abteilung DDQ konzipierte Projekt beinhaltet unter anderem einen auf der Basis von Crowdfunding finanzierten Spendenlauf. Der ZV ist mit der Durchführung des Spendenlaufs einverstanden, sofern durch das Crowdfunding bis am 30. Juni 2015 30 000 CHF zusammenkommen.TARPSY 0.2 – Bis 2018 soll im Auftrag der SwissDRG AG eine gesamtschweizerische Tarifstruktur für die statio-näre Psychiatrie erarbeitet werden. Basierend auf den Empfehlungen der erweiterten FMH-Begleitgruppe TARPSY wurde eine Stellungnahme zu TARPSY 0.2 aus-gearbeitet und der SwissDRG AG termingerecht zuge-stellt. Der ZV unterstützt die Stellungnahme und ist einverstanden, diese der Delegiertenversammlung zu unterbreiten. Er empfiehlt, auf die Problematik des Daten schutzes hinzuweisen. Tarifstruktur TARMED – Neben der laufenden Revision der Tarifstruktur TARMED ist der Abschluss der nötigen vertraglichen Regelungen die Voraussetzung für die praktische Anwendung des Tarifs im Alltag. Auf natio-naler Ebene muss die FMH einen nationalen Rahmen-vertrag mit den Kranken- und Unfallversicherern sowie einen Normierungsvertrag mit den Tarifpartnern ab-schliessen. Beide Vereinbarungen sollte wenn möglich die Ärztekammer im Herbst 2015 verabschieden. Auf kantonaler Ebene müssen der kantonale Muster- Anschlussvertrag sowie die kantonalen Vereinbarun-gen zu den neuen Starttaxpunktwerten geklärt werden.

Validierung von MPA-Bildungsleistungen – Die schweizerische Kommission für Berufsentwicklung und Qualität der Medizinischen Praxisassistentin (Kommission B & Q) hat beschlossen, in der Deutsch-schweiz ein Verfahren zur Validierung von Bildungsleis-tungen für die MPA entwickeln zu lassen. Sie hat hierzu einen Antrag an die Trägerschaft des Bildungsplans gestellt, die Schweizerische Berufsbildungsämter-Kon-ferenz (SBBK) mit einem «Letter of Intent» zu entspre-chenden Schritten aufzufordern. Hierfür soll der von der SBBK als Verfahrenskanton bestimmte Kanton Zürich von der Trägerschaft beim Aufbau und bei der Umsetzung unterstützt werden. Um die Bereitschaft zur Mitarbeit zu signalisieren, beschliesst der ZV die Erstel-lung einer Stellungnahme mit Unterzeichnung der Trä-gerschaft. Ausserdem beauftragt er die Kommission B & Q, die für die Projektgruppe notwendigen zwei Mitglie-der gemeinsam mit den MPA-Verbänden zu nominieren.Jahresbericht Gutachterstelle – Die aussergerichtliche Gutachterstelle der FMH kann eine medizinische aus-sergerichtliche Begutachtung von Fällen organisieren, in welchen ein in der Schweiz behandelter Patient oder eine Patientin einen ärztlichen Diagnose- oder Behand-lungsfehler vermutet. Im Jahr 2014 hat die Gutachter-stelle insgesamt 43 Gutachten erstellt; davon wurde in 19 Fällen ein Behandlungsfehler festgestellt wurde.SÄZ-Titelseite – Der Bündner Ärzteverein hat dem ZV den Antrag gestellt, neben Deutsch, Französisch und Ita-lienisch die SÄZ auf der Titelseite künftig auch in räto-romanischer Sprache mit «Gasetta dals medis svizzers» anzuschreiben. Der ZV ist einverstanden, den Verwal-tungsrat der EMH mit dieser Änderung auf der Titelseite zu beauftragen.Umsetzung Masseneinwanderungsinitiative – Der Bundesrat hat Vorschläge für die Umsetzung der Massen einwanderungsinitiative in Vernehmlassung gegeben. Die FMH warnt in ihrer Stellungnahme vor der vorgeschlagenen Kontingentsregelung, die sich voraus-sichtlich sowohl für die ambulante und stationäre Patienten betreuung als auch für die medizinische For-schung und Lehre negativ auswirken wird. Dies gilt be-sonders aufgrund des sich künftig noch verstärkenden Ärztemangels; die Schweiz ist auf ausländische Medizinal personen und Pflegepersonal angewiesen. Der ZV beschliesst, die erste Lesung der Stellungnahme zu verabschieden und den in der Ärztekammer vertre-tenen Organisationen zur Verfügung zu stellen.

FMH Zentralvorstand 907

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):907

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Todesfälle / Décès / DecessiKonrad Saameli (1928), † 9.4.2015, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, 4103 Bottmingen

Anne-Catherine Martenet (1930), † 23.5.2015, Fachärztin für Ophthalmologie, 8032 Zürich

Benjamin Schwarz (1938), † 28.5.2015, Facharzt für Ophthalmologie, 8008 Zürich

Beat Zimmermann (1954), † 21.5.2015, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, 6026 Rain

Luc Jeanneret (1976), † 16.5.2015, Spécialiste en médecine interne générale, 2400 Le Locle

Adolf Ernst Leuenberger (1924), † 12.3.2015, Facharzt für Ophthalmologie, 4125 Riehen

Praxiseröffnung / Nouveaux cabinets médicaux / Nuovi studi mediciBE

Patrice Hounnou, Médecin praticien, Centre Médical Lovières, 2, chemin des Lovières, 2720 Tramelan

BL

Ernesto Fidel Gerardi, Spécialiste en psychiatrie et psychothérapie d’enfants et d’adolescents, Bahnhofstrasse 28, 4242 Laufen

GE

Roxane Fabienne Danièle Yvernay, Spécialiste en anesthésiologie, 81, avenue de Champel, 1206 Genève

TG

Dimitrios Chatsiproios, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Hauptstrasse 70, 8280 Kreuzlingen

TI

Michel Oberson, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Piazzetta cav. Pellanda 1, 6710 Biasca

VD

François Pierre Thioly, Spécialiste en psychiatrie et psychothérapie, 5, chemin des Prairies, 1114 Colombier VD

VS

Alexander Martin Diederichs, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, 18B, rue du Léman, 1920 Martigny

Ärztegesellschaft des Kantons BernÄrztlicher Bezirksverein Bern RegioZur Aufnahme als ordentliches Mitglied haben sich angemeldet:

Beatrice Diallo, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin FMH, Spitalackerstrasse 65, 3013 Bern

Ulrich Matthias Schiele, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Guten-bergstrasse 31, 3011 Bern

Sarah Bürki, Fachärztin für Nephrologie und Allgemeine Innere Medizin FMH, Salem-Spital, Schänzlistrasse 39, 3013 Bern

Jens Vollmar, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie FMH, Neubrückstrasse 96, 3012 Bern

Einsprachen gegen diese Vorhaben müssen innerhalb 14 Tagen seit der Veröffentlichung schriftlich und begründet beim Präsidenten des Ärztlichen Bezirksvereins Bern Regio eingereicht werden. Nach Ablauf der Frist entscheidet der Vorstand über die Aufnahme der Gesuche und über die allfälligen Einsprachen.

FMH Personalien 908

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Personalien

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Preise / Prix / PremiSchweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGIM-Foundation-Preis 2014/2015Der SGIM-Foundation-Preis 2014/2015 zum Thema «OVERDIAGNOSIS», der mit je 50 000 Franken dotiert ist, wurde an folgende drei Preisträger verliehen: Dr. med. Sabrina Jegerlehner, Inselspital Bern, für ihr Projekt «Overdiagnosis of common cancers: a population-based Swiss study», Prof. Dr. med. Peter Jüni, Berner Institut für Hausarzt-medizin, für sein Projekt «Risk-stratified prostate cancer screening: Development of a risk score for informed decision-making and preventing overdiagnosis in primary health care» sowie Dr. med. Marie Méan Pascual, CHUV Lausanne, für ihr Projekt «Current practice of testing for Factor V Leiden and Prothrombin G20210A mutation in a university hospital».

SGIM-Preis 2015 für die beste wissenschaft-liche Originalarbeit Der SGIM-Preis 2015 für die beste wissen-schaftliche Originalarbeit, dotiert mit 10 000 Franken, geht an Claudine Blum, Nicole Nigro, Matthias Briel, Philipp Schuetz, Elke Ullmer, Isabelle Suter-Widmer, Bettina Winzeler, Roland Bingisser, Hanno Elsässer, Daniel Drozdov, Birsen Arici, Sandrine Urwyler, Julie Refardt, Philip Tarr, Sebastian Wirz, Robert Thomann, Christine Baumgartner, Hervé Duplain, Dieter Burki, Werner Zimmerli, Nicolas Rodondi, Beat Mueller und Mirjam Christ-Crain für ihre Arbeit: «Adjunct prednisone therapy for patients with community-acquired pneumonia – a randomized, placebo-controlled multi-center trial».

Viollier Förderpreis 2015 für die beste OriginalarbeitDen Viollier Förderpreis 2015 für die beste Originalarbeit, dotiert mit 10 000 Franken, hat Prof. Dr. med. Daiana Stolz für ihre Arbeit «Mortality risk prediction in COPD by a prognostic biomarker panel» erhalten. SGIM-Preise für die besten freien Mitteilun-gen: 1. Preis, 3000 Franken: «Predicting recurrence in elderly patients with unprovoked venous thromboembolism: prospective validation of the updated Vienna Prediction Model» von Tobias Tritschler, Marie Méan, Andreas Limacher, Nicolas Rodondi, Drahomir Aujesky2. Preis, 2000 Franken: «Impact of Case Management on Frequent Users’ Quality of Life: A Randomized, Controlled Trial» von Katia Iglesias, Karine Moschetti, Stéphanie Baggio, Venetia Velonaki, Ornella Ruggeri, Olivier Hugli, Bernard Burnand, Jean-Blaise Wasserfallen, Jean-Bernard Daeppen, Patrick Bodenmann3. Preis, 1000 Franken: «Is Thyroid Dysfunction Associated with Anaemia?» von Khadija M’Rabet-Bensalah, Michael Coslovsky, Christine Baumgartner, Tinh-Hai Collet, Wendy P. J. den Elzen, Robert Luben, Anne Angelillo-Scherrer, Drahomir Aujesky, Kay-Tee Khaw, Nicolas Rodondi

Novartis-Preis für die besten PosterAnlässlich der SGIM-Jahresversammlung 2015 wurden zwei 3. Preise für beste Poster vergeben. 1. Preis, 3000 Franken: «‹HOSPITAL› score predicts patients at high risk of potentially avoidable readmission: multicenter validation study in Switzerland» von Jacques Donzé, Jérôme Stirnemann, Pedro Marques-Vidal, Drahomir Aujesky2. Preis, 2000 Franken: «NEDD4 promotes cell growth and migration through PTEN/PI3K/AKT signaling pathway in hepatocellular carcinoma» von Ewelina Biskup, Xiao Yu Yang, Zhi Jun Huang, Jun Jun Zhi3. Preis, 1000 Franken: «Physical activity and energy expenditure across occupational categories» von Stefanie Zogg, Jonas Mund-wiler, Ulla Maarit Schüpbach-Siira, Thomas Dieterle, David Miedinger, Jörg Leuppi3. Preis, 1000 Franken: «Prescription of hypnotics during hospital stay: An epidemio-logical study in a Swiss hospital» von Laurence Schumacher, Anne-Laure Blanc, Damien Tagan, Annelore Sautebin, Nicolas Widmer

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Interview mit Prof. Dr. Anton Valavanis und Prof. Dr. Claudio L.A. Bassetti, SFCNS

Im Dienste der klinischen NeurowissenschaftenInterview: Isabel Zwyssig

M.A., koordinierende Redaktorin

Nicht nur möchte die Swiss Federation of Clinical Neuro-Societies (SFCNS) die öf-fentliche Wahrnehmung der Neurowissenschaften und deren Bedeutung für das Gesundheitswesen stärken, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen einzel-nen neurologischen Fachgesellschaften verbessern. Prof. Dr. med. Anton Valavanis und Prof. Dr. med. Claudio L.A. Bassetti stellen die Organisation vor.

Die SFCNS sieht sich als Verein zur Förderung der klinischen Neurowissenschaften. Warum wurde der Verein gegründet?Anton Valavanis: Die Idee zur Gründung einer Dachor-ganisation für die Fachgesellschaften, welche die klini-schen Neurodisziplinen vertreten, ist anlässlich eines «Brainstorming»-Meetings, das am 30. August 2006 auf Initiative von Prof. Claudio L.A. Bassetti am Bahn-hofbuffet Zürich stattfand, nach einer mehrstündigen Beratung entstanden. Am Treffen teilgenommen ha-ben auch die damaligen Präsidenten der Schweizeri-schen Neurologischen Gesellschaft, Prof. Christian Hess, der Schweizerischen Gesellschaft für Neurochir-urgie, Prof. Gerhard Hildebrandt und der Schweizeri-schen Gesellschaft für Neuroradiologie, Prof. Anton Valavanis. Die Teilnehmer waren der Überzeugung, dass der Superspezialisierung und der damit verbun-denen wachsenden Fragmentierung der Neurofächer entgegengewirkt werden sollte, indem man Kommu-nikation und Kooperation zwischen Spezialisten stärkt. Dies einerseits um eine synthesefähige (holisti-sche) Betrachtung der Neuromedizin auch in der Zu-kunft zu sichern, anderseits auch um übergeordnete interdisziplinäre, gemeinsame Ziele besser erreichen zu können.

Wie reagierte die neurowissenschaftliche Gemein-schaft auf die Idee der Vereinsgründung?Anton Valavanis: Die Idee wurde von der klinisch- neurowissenschaftlichen Gemeinschaft positiv aufge-nommen. Mit administrativer und organisatorischer Unterstützung durch das Institut für Medizin und Kommunikation AG wurden in der Folge unter den Vertretern der Schweizerischen Gesellschaften für Neurologie, Klinische Neurophysiologie, Neurochirur-gie, Neuroradiologie, Neuropädiatrie und Neuropatho-logie die Statuten erarbeitet. Am 27. Januar 2009 wurde der Verein gegründet. Mittlerweile haben sich der SFCNS 14 Gesellschaften aus den klinischen Neurowis-senschaften angeschlossen.

Können Sie die wichtigsten Ziele des Vereins nennen?Claudio L.A. Bassetti: Die SFCNS verfolgt als Hauptziele, die klinischen Neurowissenschaften in der Schweiz zu fördern, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit neurowissenschaftlichen Organisationen, Standes-organisationen, politischen Instanzen und Kostenträ-gern zu stärken, die Weiter- und Fortbildung auf dem Gesamtgebiet der klinischen Neurowissenschaften zu unterstützen und Weiter- und Fortbildungsveranstal-tungen auf hohem Niveau zu organisieren.

Prof. Dr. med. Anton Valavanis,

aktueller Präsident der SFCNS seit

2013, Direktor des Instituts

für Neuroradiologie, Leiter des

Klinischen Neurozentrums,

UniversitätsSpital Zürich

Prof. Dr. med. Claudio L.A.

Bassetti, erster Präsident

der SFCNS von 2009 bis 2013,

Klinik direktor und Chefarzt,

Universitätsklinik für Neurologie,

Inselspital Bern Leiter und Mit-

gründer des Neurozentrums, Insel-

spital Bern, Gründer und erster

Leiter (2009–2012) des Neurocentro

della Svizzera Italiana.

ORGANISATIONEN DER ÄRZTESCHAFT SFCNS 910

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Welche Hauptanliegen vertritt die SFCNS gegen aussen?Anton Valavanis: Die Fortschritte, welche in den letz- ten Jahrzehnten auf den Gebieten der Hirnforschung und der klinisch-neurologischen Wissenschaften er-zielt wurden, erklären das grosse, öffentliche Interesse, welches diese in der Gesellschaft und der Politik fin-den. Die Neurowissenschaft mit ihren grundlagenwis-senschaftlichen und klinischen Komponenten ist eine neue Leitdisziplin an der Schnittstelle zwischen Medi-zin und Naturwissenschaft geworden. Es ist ein Haupt-anliegen der SFCNS einerseits durch angemessene Öffentlichkeitsarbeit die Wahrnehmung der Neuro-wissenschaften und deren Bedeutung für das Gesund-heitswesen zu stärken und andererseits die Zusam-menarbeit mit der Swiss Society for Neuroscience, welche die grundlegenden neurowissenschaftlichen Disziplinen vertritt, an den klinisch und translational relevanten Schnittstellen auszubauen.

Werden diese Anliegen von den einzelnen Fachgesell-schaften denn nicht mit genügend Gewicht vertreten?Anton Valavanis: Diese Anliegen werden natürlich von den einzelnen Fachgesellschaften auch vertreten, aber verständlicherweise primär aus der Perspektive der Fachrichtung jeder einzelnen Gesellschaft. Die SFCNS bündelt diese Anliegen, berücksichtigt dabei deren In-teraktion und sucht die Unterstützung bei allen in ihr vereinten Gesellschaften, was schliesslich dem jeweili-gen Anliegen oder Vorstoss mehr Gewicht bzw. Wirk-samkeit verleiht.

Welches waren die grössten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Gründung und Etablierung der SFCNS?Claudio L.A. Bassetti: Erfreulicherweise waren sowohl die Gründung wie auch die anschliessende Etablie-rung, die noch im Gang ist, nicht von Schwierigkeiten oder Konflikten innerhalb der beteiligten Gesellschaf-ten gekennzeichnet. Dies bestätigt, dass die damalige Entscheidung, die SFCNS zu gründen, sinnvoll war, weil sie einem gemeinsamen Bedürfnis entsprach.

Wo liegen – abgesehen von der Repräsentation der klinischen Neurowissenschaften gegen aussen – weitere Schwerpunkte der Vereinstätigkeit?Claudio L.A. Bassetti: Ein wichtiger Schwerpunkt und zugleich eine Herausforderung der SFCNS ist die Orga-nisation des alle drei Jahre stattfindenden Kongresses. Er bildet eine Plattform für den Wissensaustausch und ermöglicht die Anbahnung oder Vertiefung von inter-disziplinären Kooperationen zwischen Kollegen oder Institutionen der klinischen Neurodisziplinen aus dem

In- und Ausland. Am SFCNS-Kongress nehmen jeweils etwa 1000 Ärztinnen und Ärzte teil. Der erste Kongress fand 2010 in Basel, der zweite 2013 in Mon treux statt und der dritte wird 2016 in Basel abgehalten werden.

Wie positioniert sich die SFCNS in Bezug auf hochspezialisierte Medizin?Anton Valavanis: Die Umsetzung der Beschlüsse der GDK im Rahmen der interkantonalen Vereinbarung zur hochspezialisierten Medizin (IV-HSM), welche die klinischen Neurowissenschaften betreffen, ist ein wei-terer, sehr anspruchsvoller Schwerpunkt der SFCNS. Es sind dies die Entscheide zur Planung der hochspeziali-sierten Medizin (HSM) im Bereich der hochspezialisier-ten Behandlung von Hirnschlägen (im Rahmen von sog. Stroke Centers und Stroke Units), der chirurgischen Behandlung der refraktären Epilepsie beim Erwachse-nen, der stereotaktischen Chirurgie der anormalen, ungewollten Bewegungen und tiefen Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation) beim Erwachsenen, der neu-ro chirurgischen Behandlung von vaskulären Erkran-kungen des zentralen Nervensystems (ZNS) ohne die komplexen vaskulären Anomalien, der neurochirurgi-schen Behandlung von komplexen vaskulären Anoma-lien des zentralen Nervensystems (ZNS) und die Be-handlung der seltenen Rückenmarkstumoren.Ein wichtiger Erfolg für die SFCNS war die Übertragung der Mandate durch die GDK zur Zertifizierung bzw. An-erkennung der zugeteilten Zentren. Damit wurde die SFCNS auch von gesundheitspolitischer Seite als Reprä-sentantin der klinischen Neurodisziplinen anerkannt.

Was haben Sie in diesen Bereichen bisher erreicht?Anton Valavanis: Die bisherigen SFCNS-Kongresse wa-ren dank der Auswahl interdisziplinärer Themen, der Beteiligung herausragender Referenten, einer ausge-wogenen Balance zwischen neurowissenschaftlicher Ausrichtung und Praxisorientierung, der Zurverfü-gungstellung von Plattformen für die aktive Teil-nahme des Nachwuchses und mit einer Teilnahme von jeweils über 1000 Ärzten und Neurowissenschaftlern sehr erfolgreich. Damit hat sich der SFCNS-Kongress als eine zentrale Institution der klinischen Neurowis-senschaften etabliert.Claudio L.A. Bassetti: Der aufwendige Prozess der Zer-tifizierung bzw. Anerkennung der im Rahmen der GDK-Entscheide zur IV-HSM zugeteilten Zentren sind für alle sechs Mandate angelaufen. Bereits wurden alle neun Schlaganfallzentren der Schweiz und neun Stroke Units durch die SFCNS erfolgreich zertifiziert. Die übrigen Mandate befinden sich in unterschied-lichen Umsetzungsphasen. Bereits jetzt kann man sagen, dass die SFCNS eine geeignete Plattform zur

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ORGANISATIONEN DER ÄRZTESCHAFT SFCNS 911

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Umsetzung dieser fachlich und politisch ehrgeizigen Vorhaben im Bereich der klinischen Neurodisziplinen ist. Im Rahmen zahlreicher Sitzungen und bilateraler Gespräche konnte disziplinenübergreifend ein breites Bewusstsein und Akzeptanz für die Zentrumsbildung und Qualitätssicherung geschaffen werden. Dennoch bleiben bei Fachkollegen Fragen offen; eine kontinuier-liche auch öffentliche Diskussion wird weiterhin wich-tig und notwendig sein.

Was bedeuten diese Erfolge für Ihre zukünftige Arbeit?Anton Valavanis: Diese ersten Erfolge stärken die Posi-tion der SFCNS im medizinischen, standes- und ge-sundheitspolitischen Umfeld und bilden eine solide Basis für die weitere Arbeit zur Erreichung der ange-strebten Ziele.

Wo sehen Sie die wichtigsten Herausforderungen für Ihre Organisation?Claudio L.A. Bassetti: Wir erkennen mehrere Bereiche, in welchen die SFCNS als Organisation für die Zukunft der Neurofächer eine wichtige Funktion wahrnehmen könnte:1) Die Positionierung der Neurofächer zwischen klini-scher Versorgung und Neurowissenschaft. Die SFCNS fördert u.a. mit ihren grossen Kongressen die Interak-tion in Lehre und Forschung unter den Neuroklini-kern, aber speziell auch zwischen den klinischen und Grundlagefächern.2) Die Betreuung von Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems, von der Notfallaufnahme bis zur Spi-talentlassung bzw. Neurorehabilitation, verlangt eine multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den ver-schiedenen Neurospezialisten. Allerdings werden da-durch die traditionellen Grenzen der Fächer «ge-sprengt». Deshalb braucht es eine (neue) Kultur und eine (gemeinsame) Sprache der Zusammenarbeit, wo-für sich die SFCNS seit Jahren stark einsetzt. Die Schaf-fung von sog. Neurozentren in der Schweiz (in Lau-sanne und im Tessin, neuerdings auch in Bern und Zürich) wurde mit der gleichen Zielsetzung initiiert.3) Die weitere Entwicklung der Neurofächer, von der Grundversorgung bis zu den Bereichen der hochspezia-lisierten Medizin, vom Kindes- bis zum Greisenalter, inkl. der Neurorehabilitation und der Palliativmedizin, wird ebenfalls von der Präsenz der SFCNS und durch ihre Unterstützung profitieren – sowohl auf fachlicher als auch auf politischer Ebene.

Inwiefern profitiert die Schweizer Ärzteschaft vom Engagement der SFCNS?Anton Valavanis: Die Schweiz hat eine lange Tra dition auf dem Gebiet der klinischen Neurowissenschaften. Schweizer Ärzte haben wegweisende und heraus-ragende Beiträge zur Entwicklung der Neuro-wissenschaften geleistet. Die Entwicklung der klini-schen Neurowissenschaften hat zur Schaffung diverser Fachrichtungen, die sich in Fachgesellschaften organi-siert haben, geführt. Allen gemeinsam ist die Beschäf-tigung mit einem besonderen Aspekt der Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen oder Dysfunktio-nen des Zentralnervensystems. Sie wirken auf der Grundlage des hippokratischen neurozentrischen Konzeptes der Medizin. Claudio L.A. Bassetti: Als Dachorganisation der kli-nisch-neurowissenschaftlichen Gesellschaften mit En-gagement in der Vertretung der übergeordneten stan-des- und gesundheits politischen Interessen ihrer Mitgliedgesellschaften, in der Unterstützung der An-liegen ihrer Mitgliedgesellschaften in den Belangen der Weiter- und Fortbildung sowie mit ihrer Öffent-lichkeitsarbeit stellt sie einen zuverlässigen Ansprech-partner für die Schweizer Ärzteschaft dar. Darüber hinaus trägt sie zur Steigerung der Attraktivität der klinischen Neurodisziplinen für den ärztlichen Nach-wuchs in der Schweiz bei.

Welche langfristigen Ziele möchten Sie realisieren?Claudio L.A. Bassetti: Wichtige langfristige Ziele der SFCNS sind 1) die Attraktivität der Neurofächer für Mediziner und Neurowissenschaftler und speziell für den Nachwuchs durch eine konsequente Förderung der Inter- und Multidisziplinarität in der Lehre sowie durch ein klares «Commitment» zur klinischen und translationalen Forschung nachhaltig zu erhöhen, 2) die gemeinsame Standespolitik für die klinischen Neu-rowissenschaften weiterzuentwickeln, um damit ihre Positionierung zu stärken, 3) die Qualitätssicherung u.a. durch Zertifizierungen der Neurozentren auszu-bauen. In diesem Sinne könnte die SFCNS auch ein Vor-bild darstellen für andere multidisziplinär zusammen-gesetzte medizinische Bereiche.

BildnachweisPorträt Bassetti: photo by rémy steinegger / copyright by www.steineggerpix.com

izwyssig[at]emh.ch

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ORGANISATIONEN DER ÄRZTESCHAFT SFCNS 912

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Christliche Ethik ist aus philoso­phischer Sicht unhaltbar Zum Artikel «Die Reproduktionsmedizin in der Schweiz» [1]Die beiden Verfasser dieses Artikels outen sich klar als Angehörige der VKAS, der Ver­einigung Katholischer Ärzte der Schweiz. Ihre Stellungnahme zur Ethik des vor­embryona­len und embryonalen Menschen basiert ein­deutig auf der christlich­katholischen Ethik und diese wiederum auf der Fiktion einer real existierenden und aktiven, Leben­wollenden, Menschen­wollenden und Menschen­schaf­fenden Gottheit. Insofern ist es verwirrend, wenn sich die Autoren ausdrücklich auf den Philosophen Kant abzustützen und sich mit diesem abzu­sichern versuchen, denn auch dessen philo­sophisch­ethisches Postulat wäre unhaltbar, sofern es sich philosophisch noch immer auf christliche Vorstellungen beziehen sollte, was durchaus denkbar ist. Immanuel Kant hat sich bekanntlich mit Gott und der Gottesidee schwer getan, nachdem er ihn weder beweisen noch ausschliessen konnte. Gerade deshalb ist die Kant’sche Ethik meines Erachtens mit gebührender Vorsicht zu geniessen, jedenfalls im Bereich der Em­bryo­Ethik. Für eine jede sich wissenschaftlich (das heisst hier: unreligiös) verstehende Philosophie muss religiöse Ethik heute automatisch unhaltbar sein, selbst wenn sie noch so schön und glaub­würdig, noch so humanitär und noch so christlich daherkommt, wie gerade im zitier­ten Beitrag. Sie krankt und fällt unvermeidbar an ihrer Grundlage.

Dr. med. Niklaus Gaschen, Bern

1 Gürber R, Zwicky­Aberhard N. Die Reproduktions­medizin in der Schweiz. Schweiz Ärztezeitung. 2015;96(23):827–8.

Kritische Stimmen gerechtfertigtReplik zum Leserbrief von M. Ryffel [1] Ihren Leserbrief habe ich gerne zur Kenntnis genommen. Ich habe selbst während meiner Ausbildungszeit und Karriere als Psychiater zahlreiche Insuffizienzen in der Theorie und Praxis meines Faches angetroffen, so dass mir kritische Stimmen, wie jene der Scientology, als gerechtfertigt, um nicht zu sagen willkom­men erschienen sind. Nach und nach wird man sich bewusst, dass die Psychopharmaka neben ihren wegbereitenden und positiven Qualitäten auch gefährliche andere Aspekte

haben. Der grosse Verdienst der pharmazeu­tischen Industrie wird häufig durch kommer­ziellen Missbrauch wettgemacht. Dass auch die Psychotherapie häufig nicht selektiv und mit genügendem therapeutischem Weitblick angewendet wird, besteht kein Zweifel. Eine Anpassung der psychotherapeutischen Zu­gänge zu den seelischen Störungen der moder­nen Zeit hat ebenfalls noch kaum stattge­funden. Natürlich hat man die grausamen psychiatrischen Heilmethoden der Vergan­genheit hinter sich gelassen, was die Sciento­logy nicht zur Kenntnis nehmen will zwecks Propagandazwecken. Für den Fall, dass sich Scientology auch in Zukunft gegen den Missbrauch von Methoden einsetzen will, die zur Manipulation der Men­schen dienen könnten, sollte sie dazu nur ermutigt werden. Dagegen habe ich in mei­nem Leserbrief deutlich gemacht, dass der Hass von Scientology gegen die Psychiatrie fallen gelassen werden sollte, ebenso wie eine Öffnung gegenüber der modernen Psycho­logie im Allgemeinen wünschenswert wäre. Mindestens sollte der uneingeschränkte Gültigkeitsanspruch der Scientology für die Technik des Auditing relativiert werden. In meinem Buch Die Psychagogische Psycho­therapie versuche ich wie schon 1988 bei Walter gewisse Probleme ins richtige Licht zu rücken, ausgehend von einem ideologisch unabhängigen Standpunkt.

Dr. med. René Bloch, Therwil

1 Ryffel M. Scientology: Theorie und Praxis. Schweiz Ärztezeitung. 2015;96(23):829.

Unvergessene ZeitenZum Brief von Roland Scholer in der SÄZ Nr. 23 [1]Ich habe Deinen Leserbrief gesehen und kann mir eine Replik nicht verklemmen. Unver­gessen ist unsere gemeinsame Zeit als «Uhu’s» im Kantonsspital Chur, eine verschworene Gruppe Studenten in einem Raum mit 3 Schreib­maschinen zusammengepfercht mit einem Liegestuhl mitten drin, um den Stress besser verarbeiten zu können. Letzteres zum Miss­fallen unserer vorgesetzten Assistenzärzte, wohlverstanden per «Sie», denn ob man den Weg bis in diese leuchtende Position je schaf­fen würde, war ja noch lange nicht sicher …Das Stethoskop hat – wie Du ja schon erkannt hast – einen erheblichen Wandel erfahren und dient heute hauptsächlich dazu, den Arzt, der ja in seiner keimübersäten Strassenklei­dung kaum mehr vom Patienten zu unter­

scheiden ist, kenntlich zu machen. Ein Hoch auf den in der SÄZ Nr. 14/15 angebotenen Fähigkeitsausweis Stethoskopie (SAAM) [2], dem allerdings bedingt durch das Publika­tionsdatum kaum ein grosser Erfolg beschie­den war.Lieber Kamerad, wir sind alt geworden und uns will keiner mehr hören, das ist nicht neu. Wie haben wir die praktischen Ratschläge unseres – damals gegenüber uns heute – we­sentlich jüngeren Chirurgieordinarius bezeich­net? Lenggenhagers gesammelte Fürze. Und später haben sie uns eine ganze Hausarztzeit als äusserst nützliche Hilfen begleitet und hie und da auch aus der Patsche gerettet … Wir müssen uns bewusst werden, dass die Technik uns überholt hat. Mein Vater musste noch lernen, wie man Penicillin anwendet und verschrieb gegen Fieber Madribon (Schwei­zer Chemotherapeutikum). Wenn man die SAMW hört, wird teilweise schon auf das Belastungs­EKG vor der Koronarographie ver­zichtet, die 3.­Semester­Studenten stellen mit dem Ultraschall Diagnosen, die die Auskul­tation alter Chläuse wie uns ad absurdum führen, und haben dabei erst noch recht. Zu­gegeben, ich habe mir auch noch ein elektro­nisches Littmann 3020 mit Bluetooth und Aufzeichnung geleistet, und es macht viel Freude.So stellen wir uns am besten darauf ein, dass man mit den Werkzeugen, die man kennt, ar­beitet, und haben wenigstens die Gewissheit, dass wir dereinst, wenn uns im noch höheren Alter eine Pneumonie heimsucht, die Dia­gnose selber stellen können, weil sowieso kein Hausarzt mehr verfügbar ist. Und gege­benenfalls können wir sogar unseren Toten­schein im Voraus ausstellen. Ist doch auch ein Trost, oder nicht? Mit herzlichem Gruss Dein alter, alter Mitstreiter

Dr. med. Ueli Castelberg, Aarberg

1 Scholer R. Generationenkonflikt in der Hausarzt­medizin. Schweiz Ärztezeitung. 2015;96(23):830.

2 Tandjung R, Koelz HR, Bauer W. Fähigkeitsausweis Stethoskopie. 2015;96(14–15):517.

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Briefe an die SÄZ

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Rezept­Guillotine für «Pensionierte»Ausgangspunkt ist das schlichte Ansinnen, einige Tabletten Zolpidem zu kaufen. Nur, wer gemäss seiner Swiss Health Professional Card als Arzt/Ärztin mit dem Vermerk «pensio­niert» figuriert, wird in der Apotheke ganz un­vermutet diskriminiert. Der Ausweis befuge zwar weiterhin zu Verordnung und Bezug von Medikamenten, jedoch unter Ausschluss von «Betäubungsmitteln», sowie von «psychotro­pen Substanzen» (gem. Verordnung über die Betäubungsmittelkontrolle vom 25. Mai 2011). Dieses Novum kommt erst beim Präsentieren der Karte in der Apotheke zum Vorschein. Faktisch entspricht es dem Entzug der fach­lichen Eigenverantwortung, im gegebenen Fall betreffend eine «einfache» (!) Rezeptierung aus Liste b. So geht es um die Frage nach Herkunft (Ur­heberschaft) und Sinn (cui bono) dieser Ver­fügung. Analog müssten unter dem Aspekt der Gleichbehandlung ja auch die «pensio­

nierten» Apotheker, als Wächter der Wächter, in die Ecke gestellt werden. Ob dies so geregelt ist, bedarf der Nachforschung. Die nachvollziehbare Begründbarkeit und dem­zufolge auch Rechtmässigkeit dieser Beschrän­kung der Rezeptierung über das Kriterium des Pensioniertenstatus werden hier bestrit­ten: Der Finanzierungsmodus des Lebens­unterhalts bietet keinen rechtlichen Anhalts­punkt zur beruflichen Disqualifikation, noch kennen wir bisher eine Altersgrenze zur Aus­übung des Arztberufes. Wird etwa fahrlässig unterstellt, dass sich das numerische Alter umgekehrt proportional zur fachlichen Kom­petenz und ethischen Dignität verhält? Weder Demenz noch Kriminalität sind selektiv alters­spezifische Phänomene und eignen sich nicht als zwingend rechtfertigender Generalver­dacht. Eine diesbezügliche Prävention zielt in die falsche Richtung. Vielmehr ist eine klandestine Demontage der «Ermächtigung zur freien Ausübung des Berufes» (Arztdiplom) zu befürchten. Früh­

pensionierte, wie im höheren Alter weiterhin Tätige, sollen wegen des Prädikats «pensio­niert» als in ihrer Berufsausübung punktuell eingeschränkt gelten, sofern sie über keine aktuelle Praxisbewilligung verfügen? Oder geht es, erleichternd gedacht, lediglich um eine unreflektierte, und einzig aus diesem Grund unsinnige, weil soziale Kategorisie­rung? Nein, nein – kein unnötiger Sturm im Wasser­glas. Die Angelegenheit ist ernster Natur und zusätzlich von allgemein gesellschaftlicher Relevanz, wohlgemerkt mit Auswirkung auf das gesamte Spektrum Berufstätiger. Kaum vorstellbar, dass wegen Eintreffen der ersten Rentenzahlung Handwerker, Künstler, Politiker, Anwälte, oder Ärzte und Ärztinnen, usw. von allen guten Geistern verlassen sein sollten. Entledige man sich solcher Ausgeburt wahnwitziger Diskriminierung, bevor sie zum gesellschaftlichen Monster wächst.

Dr. med. Gerhard Jenzer, Feldbrunnen

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Dr. med. Josef E. Brandenberg, Luzern

SpezialuntersuchungenBraucht es immer ein MRI?

Prof. Dr. med. Jean-Bernard Daeppen, Abteilung für Suchterkrankungen, CHUV, Lausanne

SuchtmedizinSuchtmedizin – eine isolierte Disziplin

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FacharztprüfungenFacharztprüfung zur Erlangung Schwerpunkt Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zum Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Ort: Arztpraxis von Dr. med. Michael Renk, Faubourg du Lac 31, CH-2000 Neuchâtel

Datum: Donnerstag, 12. November 2015

Anmeldefrist: 31. Juli 2015

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des SIWF unter www.siwf.ch → Fachgebiete → Facharzttitel und Schwer-punkte (Weiterbildung) → Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Facharztprüfung zur Erlangung des Facharzttitels für Medizinische Genetik

Ort: Lausanne

Datum: Freitag, 4. Dezember 2015

Anmeldefrist: 1.10.2015

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des SIWF unter www.siwf.ch → Fachgebiete → Facharzttitel und Schwer-punkte (Weiterbildung) → Medizinische Genetik

Union Schweizerischer Gesellschaften für Gefässkrankheiten USGGFörderungspreis 2015

Die USGG vergibt auch 2015 einen Förde-rungspreis Forschung im Betrag von 10 000 Franken. Es soll dadurch die Forschung im Bereich der Gefässerkrankungen unterstützt werden. Berücksichtigt werden Projekte, die bereits begonnen wurden und in der Schweiz durchgeführt werden. Ausgeschlossen sind Projekte, die bereits ausgezeichnet wurden oder durch den SNF unterstützt werden.

Teilnahmeberechtigt sind Forscherinnen und Forscher max. 45-jährig, die in der Schweiz tätig sind. Die Wahl der Preisträgerin oder des Preisträgers erfolgt durch den wissenschaftlichen Ausschuss der USGG und wird anlässlich der USGG Jahrestagung am 29. Oktober 2015 vergeben.

Der Preisträger / die Preisträgerin verpflich-tet sich, das Projekt an der Jahrestagung der USGG vorzustellen.

Bewerbungen in Deutsch, Französisch oder Englisch sind einzureichen bis 1.9.2015 per E-Mail mit folgenden Unterlagen: Projekt-beschreibung und erste Ergebnisse (maximal 5 Seiten), Literaturverzeichnis, Curriculum vitae (max. 1 Seite A4), unterschriebener Begleitbrief des Antragstellers.

Die Bewerbung ist per E-Mail zu senden an: Frau Prof. B. Amann-Vesti, Direktorin Klinik für Angiologie, UniversitätsSpital Zürich, beatrice.amann[at]usz.ch

Schweizerische Gesellschaft für AngiologieSchweizerischer Angiologiepreis 2015

Die Schweizerische Gesellschaft für Angiolo-gie verleiht jährlich einen Preis von 10 000 Franken für eine wissenschaftliche Arbeit im Bereich Gefässkrankheiten. Es können Arbeiten, die im Jahr 2013–2015 publiziert wurden, oder zur Publikation akzeptierte Arbeiten eingereicht werden. Antragsteller kann der Erst- oder Letztautor sein.

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Laparo- und Thorakoskopische Chirurgie (SALTC) / Association Suisse pour la Chirurgie Laparoscopique et Thoracoscopique (ASCLT)Vorstand/Comité 2015

Präsident/Président

Dr. med. Diego De Lorenzi, Grabs

Past-Präsident / Past Président

Prof. Dr. med. Guido Beldi, Bern

Sekretär/Sécretaire

Dr. med. Diana Vetter, Zürich

Vorstandsmitglieder / Membres du Comité

PD Dr. med. Michel Adamina, St.Gallen

Dr. med. Nicolas Buchs, Genf

Dr. med. Dimitri Christoforidis, Lugano

Dr. med. Andreas Keerl, Baden

Dr. med. Heidi Misteli, Basel

PD Dr. med. Markus Müller, Frauenfeld

Dr. med. Marc-Olivier Sauvain, Lausanne

Dr. med. Andreas Zerz, Bruderholz

SALTC Sekretariat / ASCLT Secrétariat

c/o Meister ConCeptGmbH, Bahnhofstrasse 55, 5001 Aarau, Tel. 062 836 20 90, Fax 062 836 20 97. SALTC[at]meister-concept.ch

Die Publikation muss zusammen mit dem Curriculum Vitae und einem Begleitbrief bis zum 4. September 2015 per E-Mail an den Präsidenten der Preiskommission Prof. Daniel Hayoz, Service de Médecine, HFR Fribourg – Hôpital cantonal, Ch. des Pension-nats 2–6, 1708 Fribourg, daniel.hayoz[at] h-fr.ch) eingereicht werden.

Der Preis wird anlässlich der 16. Jahrestagung der Union der Schweizerischen Gesellschaf-ten für Gefässkrankheiten vom 28.10.–30.10.2015 in Bern verliehen.

MITTEILUNGEN 915

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Mitteilungen

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Ist ein Eid für Ärztinnen und Ärzte in der Welt von heute noch aktuell? Auf jeden Fall, meint eine interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe der Stiftung Dialog Ethik – wenn ein solcher Eid zeitgemäss formuliert und für Ärztinnen und Ärzte verbindlich sei. In den folgenden Beiträgen – einem kurzen Einführungstext, dem Eid­vorschlag im Wortlaut und einem Interview dazu – wird der neue Eid vorgestellt. Damit soll der Vorschlag bekannt­gemacht und die Diskussion darüber angestossen werden. Die Redaktion

Im Zentrum der ärztlichen Berufstätigkeit stehen die Patientinnen und Patienten. Unverändert setzen sich heute Ärztinnen und Ärzte für die Heilung und die Lin­derung von Krankheiten und Beschwerden ihrer Pa­tienten ein. Sie begleiten sie im Leiden und Sterben. Dabei richtet sich die Ärzteschaft nach den Regeln und den moralischen Vorgaben des Berufes. Das Berufs­ethos soll hochgehalten werden. Doch welches Ver­ständnis zeichnet heute dieses ärztliche Berufsethos aus? Der Eid des Hippokrates und das Genfer Ärzte­gelöbnis sind vielen einzig als Schlagwörter bekannt. Die Moral der Ärztinnen und Ärzte verändert sich wie diejenige der Gesellschaft: Innovation und Effizienz bestimmen heute oft einseitig das ärztliche Handeln im Alltag. Gesellschaftlicher Wandel, Beschleunigung des All­tags, Ansprüche der Patientinnen und Patienten, rechtliche Ansprüche und Forderungen nach effizien­ter Ressourcenallokation und Statusverlust setzen Ärzte zunehmend unter Druck. Immer grössere Berei­che der Medizin, der Gesundheit und somit der Be­handlung von kranken Menschen werden Normen der Marktwirtschaft unterstellt. Es sind oft nicht mehr nur Ärzte, die über medizinische Leistungen bestimmen. Die gerechte Erbringung von Gesundheitsleistungen ist zum Problem geworden. Das ärztliche Handeln wird zunehmend durch patientenfremde Interessen korrumpiert. Ärzte lassen sich vertraglich vermehrt auf wirtschaftliche Leistungssteigerung fixieren, ja, sie nehmen gar Kickbacks an für Überweisung von Patien­ten. Verantwortlichkeiten werden verwischt. Wer trägt die Verantwortung? Oft ist es das Team, die Gesell­schaft, selten aber ist es bewusst der Einzelne.

Mit einem Vorschlag zu einem verpflichtenden Eid für heutige Ärztinnen und Ärzte möchten die Autorinnen und Autoren* die Diskussion über den Wandel der Gesundheit zu einem Handelsgut, die Entprofessiona­lisierung der Ärzteschaft sowie über die abnehmende Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung an­stossen. Der verpflichtende Eid soll Ärztinnen und Ärzten helfen, ihre Berufsidentität zu stärken und das Berufsethos zu befolgen.

* Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe, die den neuen Eid erarbeitet hat, findet sich am Schluss des Eidtextes auf der folgenden Seite.

Der griechische Arzt Hippokrates von Kos lebte um 460 bis

370 v. Chr. Die Urfassung des Genfer Gelöbnisses entstand

im Jahr 1948. Ist es Zeit für einen aktualisierten Ärzteeid?

Vorschlag einer interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppe*

Ein Eid für heutige Ärztinnen und ÄrzteMax Giger

Dr. med., Mitglied der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines neuen Eids für Ärztinnen und Ärzte

TRIBÜNE Thema 930

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– Ich übe meinen Beruf stets nach bestem Wis­sen und Gewissen aus und nehme Verantwor­tung wahr;

– ich stelle die Sorge um die Behandlung meiner Patienten und deren Interessen immer voran, wende jeden vermeidbaren Schaden von ihnen ab und füge ihnen auch keinen solchen zu;

– ich betrachte das Wohl meiner Patienten als vorrangig, respektiere ihre Rechte und helfe ihnen, informierte Entscheidungen zu treffen;

– ich behandle meine Patienten ohne Ansehen der Person, d.h. ohne Diskriminierung wegen allfälliger Behinderung, Religion, Parteizuge­hörigkeit, Rasse, Sozialstatus, Versicherungs­status und Herkunft, gemäss den aktuellen Standards der ärztlichen Tätigkeit und den Möglichkeiten meines beruflichen Könnens;

– ich betreibe eine Medizin mit Augenmass und empfehle oder ergreife keine Massnahmen, die nicht medizinisch indiziert sind;

– ich instrumentalisiere meine Patienten weder zu Karriere­ noch zu anderen Zwecken und sehe von allen Massnahmen ab, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Linderung ihrer Beschwerden, der Heilung ihrer Krankheit oder der Verhütung einer Erkrankung stehen;

– ich mute meinen Patienten nichts zu, was ich auch meinen liebsten Nächsten oder mir selbst nicht zumuten würde;

– ich begegne meinen Patienten ebenso wie meinen Kolleginnen und Kollegen immer mit Freundlichkeit und Respekt. Ich bin zu ihnen ehrlich und wahrhaftig;

– ich respektiere die Entscheidungen und Hand­lungen meiner Kolleginnen und Kollegen, in­sofern sie mit den Regeln der ärztlichen Kunst und den ethischen Standards des Berufs ver­einbar sind;

– ich teile meine Kenntnisse und Erfahrungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen und beteilige mich an deren Aus­, Weiter­ und Fort­bildung;

– ich bemühe mich durch Fortbildung stets um den Erhalt und um die Erweiterung meiner beruflichen Kompetenzen;

– ich fördere die Gesundheitskompetenz meiner Patientinnen und Patienten;

– ich nehme mir für das Gespräch und für die menschliche Begegnung mit den Patienten (und mit ihren Angehörigen) die erforderliche Zeit und spreche mit ihnen auf eine verständ­liche und angemessene Weise;

– ich respektiere und wahre grundsätzlich die Willensäusserungen meiner Patienten;

– ich halte mich an das Arztgeheimnis;

– ich setze die mir zur Verfügung stehenden Ressourcen wirtschaftlich, transparent und gerecht ein;

– ich nehme für die Zuweisung und Überwei­sung von Patienten keine geldwerten Leistun­gen entgegen;

– ich gehe keinen Vertrag ein, der mich zu Leis­tungsmengen, zu nichtindizierten Leistungen oder zu Leistungsunterlassungen nötigt.»

Der Eid*«Ich gelobe, während der Ausübung meiner ärztlichen Tätigkeit folgende Berufspflichten nach meiner Kraft und Fähigkeit zu respektieren und ihnen gemäss zu handeln:

* Folgende Personen waren im Rahmen einer Arbeitsgruppe («Eidkommission») der Stiftung Dialog Ethik an der Ausarbeitung des Eids beteiligt: Prof. Dr. Jean­Pierre Wils, Ordinarius für Praktische Philosophie (Radboud Universität Nijmegen, NL) und Wissenschaftlicher Beirat Stiftung Dialog Ethik; Prof. Dr. med. Bernhard Egger, Chefarzt und Klinikleiter, Chirurgische Klinik HFR Hôpital Fribourgeois; Dr. med. Max Giger, Präsident FMH Services, Winterthur; Lic. oec. publ. Claudia Käch, Generaldirektorin HFR Hôpital Fribourgeois; Lic. phil., Psychologin FSP Anja Huber, Stabsstelle der Geschäftsleitung, Leiterin Kommunikation Institut Dialog Ethik, Zürich; Dr. theol. Ruth Baumann­Hölzle, Geschäftsleitung Institut Dialog Ethik, Zürich.

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Bernhard Egger und Max Giger haben als Vertreter der Ärzteschaft an der Ausarbei­tung des vorgeschlagenen Eids für Ärztinnen und Ärzte mitgewirkt. Im Interview äus­sern sie sich zur Entstehungsgeschichte sowie zum Sinn und Zweck des neuen Eids.

Wie ist die Idee entstanden, einen neuen Eid für Ärztinnen und Ärzte zu erarbeiten?Max Giger: Bei den Arbeiten am Manifest des Interdis­ziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik «Anerkennung unserer Grenzen» im Jahr 2014 wurde uns bewusst, dass die Medizin und somit die Gesundheit zunehmend durch die Normen der Marktwirtschaft vereinnahmt werden. Die Ärzte­schaft läuft dabei Gefahr, ihre berufliche Identität und ihr Ethos zu verlieren. Dieser Ökonomisierung der Gesundheit und der schleichenden De­Professiona­lisierung der Ärzteschaft soll ein aktualisierter und verpflichtender Eid entgegenwirken.

Warum ist ein solcher Eid aus Ihrer Sicht gerade heute aktuell?Bernhard Egger: Ein Eid ist das richtige Mittel, um sich auf den Kern und die Aufgaben des ärztlichen Handelns zu besinnen. Er wird Ärztinnen und Ärzte auch dazu auffordern, sich wieder bewusst zu werden, was gutes ärztliches Handeln ausmacht respektive ihm widerspricht. Vielleicht ermutigt der Eid die einen oder anderen Ärzte auch dazu, den öko­nomischen Vorgaben einer Gesundheitsinstitution zu widersprechen.

Max Giger: Die medizinisch­wissenschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung stossen an der Men­schenwürde an. Das menschliche Leben selbst wird zunehmend zum Handelsgut, sei dies am Lebens­anfang oder auch am Lebensende.

Wenn ein neuer Eid als sinnvoll und nötig erachtet wird, heisst dies, dass die bisher verbreiteten Eide –

der Eid des Hippokrates und das Genfer Gelöbnis – den Anforderungen der Zeit nicht mehr genügen. Wo liegen deren Schwachpunkte aus heutiger Sicht?Bernhard Egger: Den hippokratischen Eid bzw. die Gen­fer­Deklaration kennen wahrscheinlich die meisten heutigen Ärztinnen und Ärzte gar nicht mehr. Beide sind trotz wichtiger Elemente, die auch heute noch Gültigkeit haben, als Ganzes nicht mehr zeit gemäss. Die Medizin hat eine Entwicklung durch gemacht, die technisch vieles möglich macht, aber auf das ärztliche Ethos bezogen sicher nicht bei allen Pa tienten sinnvoll ist. Zudem tragen beide Gelöbnisse den heutigen marktwirtschaftlichen Anforderungen, die oft dem ethischen ärztlichen Handeln diametral entgegen­laufen, kaum Rechnung.

Max Giger: Diese Eide sind den meisten Ärztinnen und Ärzten einzig als Worthülsen bekannt und für nie­mand verpflichtend. Der so genannt hippokratische Eid bezieht sich auf die Medizin der ersten nachchrist­lichen Jahrhunderte. Die Deklaration von Genf des Weltärztebundes vom September 1948 entspricht der Moral und der Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Inhalt bedarf einer Anpassung an die gesellschaft­lichen und moralischen Veränderungen der vergan­genen 70 Jahre, aber auch an die völlig andersartigen Bedingungen der ärztlichen Tätigkeit in heutigen wissenschaftlichen und industriellen Kontexten. Auch sind Ärztinnen und Ärzte Mitglieder der Gesellschaft und keine Brüder oder Schwestern. Der Vereinnah­mung des ärztlichen Ethos durch marktwirtschaftliche Normen trägt die Deklaration des Weltärztebundes heute nicht Rechnung.

Interview mit Bernhard Egger und Max Giger zum Vorschlag eines neuen Ärzteeids

«Die Zeit ist reif für einen verpflichtenden Eid»Interview: Bruno Kesseli

Dr. med. et lic. phil., Chefredaktor

«Die Ärzteschaft läuft Gefahr, ihre berufliche Identität und ihr Ethos zu verlieren.»

«Ein neuer und zeitgemässer Eid verweist auf den ursprünglichen Grundgedanken unseres Berufs.»

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Sind diese Schwachpunkte so gewichtig, dass es einen neuen Eid braucht?Max Giger: Ja, die Zeit ist reif für einen verpflichtenden Eid, der unter anderem keine Wiederholung der Ge­schichte der Psychiatrie ermöglicht, wie sie im Buch Krieg und Psychiatrie 1914–1950* aufgezeichnet wurde. Auch schädliche Unsitten wie Kickbacks für Über­weisungen von Patienten und biologischem Unter­suchungsmaterial, wie dies gemäss Sonntagspresse sogar von honorablen universitären Lehrern prak­tiziert wurde, sollten verhindert werden.Bernhard Egger: Ein neuer und zeitgemässer Eid verweist auf den ursprünglichen Grundgedanken unseres Berufs, nämlich auf unser Berufsethos. Er lässt uns wieder über die ursprünglichen Aufgaben und das Wesen unseres Berufes nachdenken. Ich hoffe schon, dass ein neuer Eid mit der Zeit wieder ein Um­denken bewirkt und dazu führt, sich an klare zeitge­mässe ethische Grundsätze zu halten, statt gedanken­los ökonomische Vorgaben – auch selbstauferlegte – oder Ziel setzungen zu erfüllen.

Sollte ein Eid nicht «überzeitlich» formuliert werden, d.h. mit möglichst universeller Gültigkeit, ohne sich in epochenspezifischen Details zu verlieren?Max Giger: Um universelle Gültigkeit zu besitzen, muss ein Eid die moralischen und ethischen Entwicklungen der Gesellschaft thematisieren.Bernhard Egger: Ein Eid muss zeitgemäss sein und kann aus diesem Grund nicht für die Ewigkeit formuliert werden.

Nach welchen Kriterien wurde der neue Eid erarbeitet?Max Giger: Stärken, Schwächen, Gefahren und Ziele der heutigen Medizin, deren Offenheit gegenüber gesell­schaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen sowie die Ausrichtung auf die Patienten wurden einbe­zogen. Im Zentrum stand die Menschenwürde. Daraus sollten hohe berufliche Identität und hochstehendes Ethos für die Ärzteschaft frei von fremden Normen resultieren.

Bernhard Egger: Der vorliegende Eid ist zeitgemäss, fokussiert und stellt den Patienten und sein Wohl­befinden beziehungsweise seine Anliegen in den abso­luten Mittelpunkt. Die Gebote wurden so erarbeitet, dass sie auf den Kern des Arztseins verweisen. Das wichtigste Gebot ist jenes, welches Ärztinnen und Ärz­ten gebietet, ihre Patienten nicht anders zu behandeln, als sie auch ihre Liebsten behandeln würden. Das heisst nichts anderes, als dass sie sich am Wohle des Patienten auszurichten haben und dass weder Kar­rierepläne, ökonomische Interessen noch die Ange­hörigen diese Zuwendung beeinträchtigen dürfen.

Wer war an der Erarbeitung des Eids beteiligt?Bernhard Egger: Die Arbeitsgruppe bestand aus Philo­sophen, Ethikern, Ökonomen und Medizinern, alles Persönlichkeiten, die in der jeweiligen Fachrichtung in leitender Position tätig sind. Die Zusammenkünfte fanden jeweils im Rahmen eines Arbeitskreises der Stiftung Dialog Ethik statt.

Kann ein solcher Eid tatsächlich Positives für die ärztliche Tätigkeit und die Patientinnen und Patien-ten bewirken?Max Giger: Ja, der Eid kann die Diskussion und Refle­xion über Menschenwürde, Sinnhaftigkeit des Innova­tionsglaubens, Masshalten und das Eindringen markt­wirtschaftlicher Normen in die Medizin vorantreiben und er kann die Identität der Ärzte und das Selbstver­trauen in ihre Grundwerte stärken. Durch die ange­strebte Verbindlichkeit könnte er zumindest in der Schweiz rund 40 000 Ärztinnen und Ärzte auf ein ein­heitliches Berufsverständnis und Berufsethos ver­pflichten. Dies wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer patientenzentrierten, gerechten und transparen­ten Medizin.Bernhard Egger: Der Eid kann tatsächlich dazu führen, dass sich Ärzte und Arztinnen wieder ausschliesslich

Die InterviewpartnerBernhard Egger

Prof. Dr. med. Bernhard Egger, geb. 1959 in Bern, ist Facharzt

für Chirurgie FMH, spez. Viszeralchirurgie, und seit 2007 Chef­

arzt am Kantonsspital Freiburg und Klinikleiter der Klinik für

Chirurgie des Spitalnetzes Freiburg (HFR). Habilitation an der

Universität Bern 2001 und Titularprofessur an den Universitä­

ten Bern (2008) und Freiburg (2012). Aktuell Vorstandsmitglied

der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie und Mitglied

des Vorstandes und erweiterten Führungsgremiums der fmCh.

Max Giger

Geboren 1946 in Zürich. Dr. med., Facharzt für Allgemeine

Innere Medizin und Gastroenterologie. Einzelpraxis in Winter­

thur 1984–2006. Mitglied Zentralvorstand FMH 1987–2010,

Leitung der Ressorts Heilmittel und Medical Education, zuletzt

als Präsident SIWF. Mitglied Eidgenössische Arzneimittel­

kommission 1997–2013, zuletzt als Präsident. Präsident FMH

Services Genossenschaft. Träger des Ehrenzeichens der Deut­

schen Ärzteschaft.

Mitherausgeber und Autor u.a. des Buches Erfolgreich in die Zukunft: Schlüsselkompetenzen in Gesundheitsberufen.

* Quinkert B, Rauh P, Winkler U (Hrsg.). Krieg und Psychiatrie 1914–1950. Göttingen: Wallstein Verlag; 2010.

«Das wichtigste Gebot ist jenes, welches Ärztin-nen und Ärzten gebietet, ihre Patienten nicht anders zu behandeln, als sie auch ihre Liebsten behandeln würden.»

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auf ihre Grundaufgabe besinnen, sich zu eindeutigen Werten bekennen, die in erster Linie da sind, um ihren erkrankten Patienten bei der Heilung oder Linderung ihrer Erkrankungen zu helfen. Er kann weiter dazu beitragen, dass ökonomische Zielsetzungen bzw. Vor­gaben sowie unsinnige Fallzahlen eher in den Hinter­grund treten und das ethische ärztliche Denken nicht negativ beeinflussen.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein solcher Eid zu einem Marketinginstrument für die Ärzteschaft wird, das keine praktische Bedeutung erlangt?Bernhard Egger: Nein, im Gegenteil. Er hilft dem einzelnen Vertreter der Ärzteschaft, seinen Beruf unbeeinflusst und mit viel Passion auszuüben.Max Giger: Ein verpflichtender Eid entfernt die Schweizer Ärzteschaft vom inhärenten und zum Teil schon überbordenden marktwirtschaftlichen Denken und Handeln.

Wurden schon Überlegungen zur Implementierung eines solchen Eids angestellt?Max Giger: Der Eid soll von jedem in der Schweiz täti­gen Arzt abgelegt werden: Am Ende des Studiums von neudiplomierten Ärztinnen und Ärzten, aber er soll auch vor Stellenantritt beziehungsweise Ausstellung der Bewilligung zur Berufsausübung in ambulanten und stationären Einrichtungen des Gesundheits­wesens wiederholt bekräftigt werden. Im Prinzip sollte das Ablegen des Eids zu den Berufspflichten gemäss Medizinalberufegesetz gehören. Auch sollte der Eid in die Standesordnung der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte als verpflichtend für deren Mit­glieder aufgenommen werden.Bernhard Egger: Die Grundidee ist, dass sich die Ärztin­nen und Ärzte, wenn sie in einer Organisation eine

Stelle antreten, diese ethischen Leitsätze ärztlichen Handelns erhalten und sich zu ihnen bekennen. Der Ärzteeid wäre dann gleichsam ein Bestandteil des An­stellungsvertrags, ein explizit ausgedrücktes Bekennt­nis von Organisation und Arzt zu diesen Geboten. Es ist nun an uns, den Mitgliedern dieses Arbeitskreises, als Botschafter des neuen Eids aufzutreten und sich dafür stark zu machen, dass er auch wirklich Eingang in die fachspezifischen Organisationen findet. Einige von uns sind Mitglieder in Vorstandsgremien von sol­chen Fachgesellschaften und sind dementsprechend besonders gefordert.

Welche nächsten Schritte sind geplant?Max Giger: Die Mitglieder der Eidkommission planen, den Eid in kantonalen Ärzte­ und Fachgesellschaften sowie Vereinigungen der Pflege­ und Therapieberufe vorzustellen. Geplant ist auch, Patienten­ und Kon­sumentenkreise miteinzubeziehen. Die Fachgremien sollen zur Unterstützung und Umsetzung gewonnen werden. Zudem können Organisationen aus dem Ge­sundheits­ und Sozialwesen über Veranstaltungen von «Dialog Ethik» dazu eingeladen werden, sich an der Diskussion des Themas zu beteiligen. Eine begleitende erklärende Publikation in Buchform ist in Arbeit.Bernhard Egger: Das primäre Ziel ist es, eine breit­flächige Diskussion auszulösen mit der Folge, dass der Eid allmählich auch in Standesordnungen sowie Insti­tutionsverträgen Eingang findet. Dabei sind wir natür­lich auf die Unterstützung verschiedenster Fach­ und Laiengremien angewiesen.

Korrespondenz: Dr. med. Max Giger Rosenrain 9 CH­8400 Winterthur giger.max[at]bluewin.ch

Prof. Dr. med. Bernhard Egger HFR Fribourg – Kantonsspital Chemin des Pensionnats 2–6 CH­1708 Fribourg bernhard.egger[at]h­fr.ch

bkesseli[at]emh.ch

«Im Prinzip sollte das Ablegen des Eids zu den Berufspflichten gemäss Medizinalberufegesetz gehören.»

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1. Internationales Expertenforum «Transplantation und Menschenrechte», 16. April, Bern

«Ein Organ ist ein Geschenk»Daniel Lüthi

Freier Journalist, Fotograf, Medientrainer, Bern

Um Transplantationen und Menschenrechte ging es an diesem internationalen Expertenforum in Bern, um Medizin und Moral, Recht und Ethik. Vor allem aber ging es um China. Dort sei bei Zehntausenden von transplantierten Organen die Herkunft unbekannt, schickte die Gesellschaft für Menschenrechte voraus, die den Anlass organisiert hatte. Politische Gefangene würden ihrer Organe beraubt und dadurch umgebracht.

Die 43-jährige Liu Wei aus der chinesischen Provinz Liaoning kam 2004 nach Deutschland, um dort zu stu-dieren. Als aktives Mitglied der Bewegung Falun Gong, die in China verboten ist, sei sie zwischen 2001 und 2003 in verschiedenen chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern eingesperrt gewesen, erzählte sie in Bern. Zum Teil unter Tränen berichtete sie von schwe-ren körperlichen und seelischen Misshandlungen, die sie erlebt habe. Fünfmal sei sie in ihrer Gefangenschaft – zusammen mit anderen Falun-Gong-Anhängern – von Kopf bis Fuss medizinisch untersucht worden, ohne dass sie je über die Resultate unterrichtet worden wäre. «Es war klar», sagte sie, «das waren Vorbereitungen für einen Organ-Raub.» Auf die Frage der SÄZ, ob das eine Vermutung sei oder ob sie Beweise habe, antworte Liu Wei: «Der Polizist sagte nichts von Organ-Entnahmen.» Das Muster wie-derhole sich immer und immer wieder, die Indizien für

einen massiven kriminellen Handel mit Organen in China seien erdrückend, ergänzten Menschenrechts-vertreter.

Nicht nur in China

Franz Immer, Herzchirurg und Geschäftsführer von Swisstransplant, bestätigte die Wahrnehmung, dass es viele und starke Indizien gibt, der direkte Bezug zwi-schen den systematischen Blut- und Gesundheitstests und späterem Organraub jedoch nicht hundertprozen-tig festzumachen ist (vgl. auch untenstehendes Inter-view). Weiter sagte er: «Dass Hingerichteten Organe entnommen werden, geschieht nicht nur in China. In den USA, im Staat Utah, ist ein Gesetz angenommen worden, das dies erlaubt. Organ- und Gewebehandel geschehen oft auf Kosten armer Menschen und des-halb vor allem in Entwicklungsländern.» Gegen jeg-liche Art von Handel mit Gewebe und Organen sei entschieden vorzugehen. «Zentral sind Respekt und Würde eines Verstorbenen und der freie Wille. Eine Or-gan- oder Gewebespende ist ein Geschenk an einen Menschen, der auf der Warteliste steht.»

«Un organe est un don»Le premier forum international d’experts sur la transplantation et les droits humains qui s’est tenu le 16 avril à Berne, s’est penché sur les questions de la médecine et de la morale ainsi que du droit et de l’éthique, en se concentrant principalement sur la Chine. Selon la société pour les droits humains qui a organisé la manifestation, des dizaines de milliers d’organes transplantés en Chine seraient d’origine inconnue, et des prisonniers politiques seraient tués pour leurs organes.

Franz Immer, Herzchirurg und CEO Swisstransplant.

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Und die Schweiz?

«Ein Organ ist ein Geschenk», sagte an der Tagung auch Prof. Gerhard Dannecker, Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Heidelberg. Organhandel sei Teil der internationalen organisierten Kriminalität wie zum Beispiel auch der Drogenhandel. Bei den Medizinern sei dieses Un-rechtsbewusstsein noch zu wenig vorhanden. «Den Pa-tienten helfen: ja», sagte er, «aber nur auf legale Weise.» Die Not des einen dürfe nicht einen anderen in Not bringen. Hierzulande bestehe diese Gefahr allerdings kaum, das Schweizer Strafrecht garantiere genügend Schutz: «In der Schweiz leben Sie im Land der Glück-seligen.»David Kilgour und David Matas aus Kanada, Co-Auto-ren des Buches Blutige Ernte, sagten in ihren ausufern-den und zum Teil ziemlich verwirrenden Beiträgen inhaltlich praktisch dasselbe wie ihre Vorredner. Die Fragerunde förderte dann noch zwei andere As-pekte zutage: Patientenvertreterin und Nationalrätin Margrit Kessler erwähnte als dominierendes Element die massiven wirtschaftlichen Interessen, die Teil die-ser Thematik sind, symbolisiert beispielsweise durch das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China. Diese Interessen würden es verunmöglichen,

Interview mit PD Dr. med. Franz Immer, Geschäftsführer von Swisstransplant

Transparenz und klare RegelnInterview: Daniel Lüthi

Es gibt offensichtlich eine Dringlichkeit, beim Thema «Transplantationen und Menschenrechte» den Fokus auf China zu richten. Bitte führen Sie kurz und möglichst konkret aus, warum.Franz Immer: Es gibt in China viel Rauch, so dass man annehmen muss, dass dort auch ein Feuer ist. Sicher ist, dass chinesische Spitäler Organtransplantationen auf ihren Internetseiten angeboten haben, dass Falun-Gong-Anhänger systematisch verfolgt und inhaftiert wurden, und dass Organe von Exekutierten zur Organ-spende verwendet wurden, wie dies auch offizielle Quellen bestätigen.

Haben Sie Beweise? Klare Evidenzen, dass die Exekutionen in China vor dem Hintergrund der Organspende vollzogen wurden, habe ich keine.

Haben Sie Kenntnis davon, dass auch die Schweiz von Organhandel betroffen ist? Dass hier Menschen gegen ihren Willen Organe entnommen oder anderen Menschen illegal erworbene Organe eingepflanzt werden? Oder können Sie dies ausschliessen?In der Schweiz kann eine illegale Organentnahme und/oder eine illegale Transplantation von Organen ver-storbener Spender ausgeschlossen werden. Das System ist sehr eng kontrolliert – es bestehen Meldepflichten und der Spenderprozess, wie auch die Zuteilung von Organen, sind klar geregelt.

Sind Sie als Herzchirurg schon mal konkret mit dem Thema Organhandel konfrontiert worden? Ja. Anfang 2000 nahm ich in Peking an einem herzchir-urgischen Kongress teil. Damals wurde ich auch einge-laden, ein herzchirurgisches Zentrum zu besuchen.

Liu Wei, Folteropfer aus China.

gegen die Verletzung von Menschenrechten in China mit der nötigen Härte zu opponieren.Und Danielle Costelli, Vertreterin von Amnesty Inter-national, erwähnte Pharmafirmen, die Medikamente gegen die Abstossung von transplantierten Organen produzieren. Für ihre Tests bräuchten diese Firmen Or-gane, und diese würden sie auch aus illegalen Quellen beziehen – beispielsweise von Hingerichteten in China.

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TRIBÜNE Tagungsbericht 936

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Mein Interesse war gross, da dort die Zahl der Eingriffe deutlich höher liegt als die Gesamtzahl der Eingriffe schweizweit. Es wurde mir ein Datum vorgeschlagen und als Eingriff wollte man mir eine Herztransplanta-tion zeigen. Weil ich weiss, dass Organspenden und so-mit Transplantationen nicht planbar sind, habe ich da-mals diesen Besuch abgelehnt. Ein israelischer Kollege aber berichtete, dass einer seiner Patienten ihm mitge-teilt habe, dass er ein Datum habe für eine Herztrans-plantation in China. Auch dies überrascht aus obigem Grund und zeigt auf, dass dort ausländische Patienten gegen Entgelt Organe kaufen können.

Bedeutet Ihr Kampf gegen den Organhandel gleich-zeitig auch einen verstärkten Einsatz für legale, freiwillige Organspenden?Absolut. Die Illegalität kann nur ein Ende finden, wenn wir uns selber als Menschen Gedanken machen, ob man Organe und Gewebe spenden würde – und im Gegen zug sich vielleicht auch überlegt, ob man eine Organ- oder Gewebespende annehmen würde. Kann man die zweite Frage mit «Ja» beantworten, so ist die Organ- und Gewebespende eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit.

Was sind Ihre Hauptargumente für eine Organ-spende?Menschen in Not – im Angesicht des Todes oder in An-betracht langjähriger Dialysebehandlungen – suchen

nach Lösungen. Dies öffnet die Türe zu kriminellen Machenschaften. Hier kann nur ein legales, ethisch korrektes und transparentes Spenderwesen und eine klare Regelung über die Organzuteilung Abhilfe schaf-fen. Der Entscheid jedes Einzelnen zählt und muss den nächsten Angehörigen kommuniziert werden. Organ-spende ist bis ins hohe Alter möglich und es gibt kaum medizinische Ausschlussgründe. Es kann uns somit fast alle betreffen, Spender zu werden. Oder noch viel wahrscheinlicher: auf der Organwarteliste zu sein und selber auf das Geschenk einer Organspende zu hoffen.

Und wenn es in der Schweiz kaum Hoffnung auf ein Organ gibt?Der hohe medizinische Standard hierzulande hält die Schweizer Patienten davon ab, Alternativen in Ländern wie China zu suchen. Es ist wichtig, dass die Schweiz die Konvention von Istanbul ratifiziert, um auch extra-territoriale Machenschaften auf dem Gebiet des Or-gan- und Gewebehandels sanktionieren zu können.

Wie viele Menschen sterben in der Schweiz, weil sie nicht rechtzeitig ein Organ erhalten, das ihnen das Überleben mit grosser Wahrscheinlichkeit gesichert hätte?Wir gehen in der Schweiz von rund 2 Todesfällen pro Woche aus.

Bei welchen Gelegenheiten thematisieren Sie die Problematik «Organspende und Organhandel» in Ihrem medizinischen Umfeld, in Ihrem beruflichen Alltag als Arzt?Bei meinen Präsentationen ist die Zusammenarbeit mit anderen nationalen Organisationen, allen voran der Agence de la biomédecine in Frankreich, immer Be-standteil. Ich erwähne dort am Rande jeweils auch den illegalen Organhandel, indem ich aufzeige, wie in der Schweiz die Kontrolle ausgeübt wird.In der Diskussion mit politischen Instanzen und den Versicherern weise ich immer wieder darauf hin, dass nur eine gute, offene und transparente Spenderarbeit, die auch finanzielle und personelle Ressourcen benö-tigt, den illegalen Handel unterbinden kann. Die Schweizer Bevölkerung ist über die Sprach- und Kon-fessionsgrenzen hinweg in einer überwiegenden Mehrheit bereit zur Organ- und Gewebspende. Bei den Jugendlichen wissen wir heute, dass über 85% eine Organspende bejahen. dl[at]dlkommunikation.ch

Franz Immer

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TRIBÜNE Tagungsbericht 937

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Mit Spiritualität Lebensräume für Kinder und Jugendliche öffnenChristina Aus der Au

PD Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik

Wenn ein Psychiater ein Buch schreibt, in dem der Be-griff «Spiritualität» im Titel vorkommt, dann beginnen Theologinnen und Theologen meist sehr skeptisch mit der Lektüre – wenn sie denn das Buch überhaupt zur Hand nehmen. Der Begriff meint oft genug alles und nichts, und das möglichst nicht zu christlich.Aber Hans-Rudolf Stucki ist nicht nur Arzt mit einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psy-chotherapie, sondern auch Theologe. Und er defi-niert Spiritualität schon im ersten Kapitel als «den Bezug zu etwas, was der Mensch hier auf Erden als ihm übergeordnet erfährt, beispielsweise zu etwas Grösserem, Ganzheit lichem», wobei es sich aber «um eine Leben fördernde Grösse handeln» muss.Diese sehr weitgefasste, aber trotzdem konkret vorge-stellte Spiritualität versucht Stucki in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nachzuverfolgen, und er macht dies an drei Kriterien fest: Spiritualität zeigt sich in existenziellen Fragen, in einem Bezogensein auf eine grössere Wirklichkeit und in einer Selbsttran-szendenz bzw. Selbstvergessenheit, in der man sich dieser Wirklichkeit nähert. Stucki macht keinen Hehl daraus, dass er das Christentum als einen in unserem Kulturkreis naheliegenden spirituellen Weg sieht, aber letztlich ist für ihn diese Spiritualität in jeder Religion zu finden. Dies macht es auch kirchendistanzierteren Leserinnen und Lesern leicht, Zugang zu diesem Buch zu finden. Stucki illustriert seine Thesen mit vielen Beispielen aus der Praxis, die viele Mütter und Väter immer wie-der an eigene Erlebnisse mit ihren Kindern erinnern

mögen. Wenn er dann Anzeichen von Spiritualität schon bei Zweijährigen findet, so kann man natürlich solche Momente von Selbstvergessenheit oder gros-sem Staunen auch anders deuten. Stucki versteht die frühkindliche Vorstellung von einem grösseren Zu-sammenhang auch als Teil des Entdeckens der wirk-lichen Welt, und so ist für ihn Spiritualität und Wissen kein Gegensatz, sondern geeint im Schritt vom Ich zum Anderen.Hilfreich ist Stuckis Gedanke, dass weniger die Spiritu-alität selber sich entwickelt, sondern vielmehr deren Ausdruck als religiöse Sozialisierung. Stucki appelliert an die Eltern, diese Sozialisierung selbstkritisch zu re-flektieren und – sei es nun allgemein ethisch oder reli-giös – aktiv zu unterstützen. Sie eröffnen so den Kin-dern und Jugendlichen einen Deutungshorizont, in dem diese sich und ihr Verhältnis zu den anderen einbetten können.

Es ist deswegen nachvollziehbar, dass Stucki Spiritua-lität und den bewussten Umgang damit als wichtige Ressource betrachtet, auch wenn ich selber dann die gesundheitsfördernde Rolle von Religion wesentlich kritischer sehe.Dass aber der in der Entwicklung des Kindes angelegte Bewegung «weg vom Ich» eine spirituelle und heil-same Dimension innewohnt, die in vielen Religionen begegnet und zu «Lebenswerten und zu Lebenswer-tem» führt, das zeichnet Stucki praxisnah und diffe-renziert nach. Es ist eine Freude, eine so behutsame Studie zu lesen, die – in der Fülle erschreckender und desillusionierender Nachrichten über Religion – ge-rade deren Weite und Lebensoffenheit betont. Spiritua-lität, auch und gerade in ihrer christlichen Ausdrucks-form, eröffnet Lebensräume für Kinder und Jugendliche, die auch die Welt der Erwachsenen weiter werden lassen. Stuckis Buch macht nachdenklich und motiviert Eltern und Lehrer/innen, ihre Kinder auch in dieser Beziehung ernst zu nehmen und zu fördern.christina.ausderau[at]saez.ch

Stucki illustriert seine Thesen mit vielen Beispielen aus der Praxis.

Hans-Rudolf Stucki

Spiritualität wiederentdeckenKindern und Jugendlichen Lebensräume öffnen.Luzern: rex verlag; 2014.208 Seiten. 24.80 CHF.ISBN 978-3-7252-0963-7

HORIZONTE Buchbesprechungen 938

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Der Gute-Nacht-KussLilly Zimmerli-Staub

Ärztin, 90 Jahre

Zuerst will ich mich im Brockhaus orientieren, was sie über den Kuss im Allgemeinen melden. Ich weiss, Google würde mir sicher noch mehr bieten, doch ge-höre ich halt noch zur alten Generation, die sich lieber im Brockhaus informiert.Dort heisst es: «Kuss ist das Berühren eines Menschen oder Gegenstandes mit den Lippen, Bezeugung von Zuneigung und Verehrung, Begrüssung oder Verab-schiedung; (Wangenkuss). Erotisch-sexuelle Bedeu-tung hat der Zungenkuss und symbolisch der Kuss bei Verlöbnis oder Eheschliessung.» Das genügt mir für den Moment.In den Sinn kommt mir die wunderbare Skulptur von Rodin oder das Bild des Malers Klimt. Aber was weiss man über den Gute-Nacht-Kuss eines alten Ehepaares?Man hat den Tag glücklich zusammen beendet, liegt friedlich nebeneinander im gemeinsamen Ehebett. Jedes liest im beleuchteten «Kindle», die Nachttisch-lämpchen sind gelöscht. Bald legt jeder sein e-Book zur Seite, eines nach rechts, das andere nach links. Und

nun ist der Gute-Nacht-Kuss an der Reihe zum Ab-schluss des Tages. Ein Kopf dreht sich nach rechts, demjenigen zu, der sich nach links gedreht hat, und beide warten auf den Kuss. Der ist aber in dieser Situa-tion sozusagen noch meilenweit entfernt. Es kommt nun darauf an, welche Hüfte weniger schmerzhaft, sondern noch einigermassen beweglich und fähig ist, sich in die gewünschte Stellung zu bringen. Auch die-ses Problem wird nach einigem Hin und Her gelöst, und dem Kuss folgen noch einige liebevolle Streichel-einheiten. Früher war das jeweils eine zarte Aufforde-rung nach noch mehr Zärtlichkeit, was das Einschlafen

jeweils noch etwas verzögerte. Nun, nach 60 Jahren, sagt der Kuss – ohne wirklich Worte zu benötigen: Schlaf gut, Liebes, schlaf gut, Lieber. Und jeder begibt sich in die gewohnte Schlaflage, und schon bald ertönt von der einen oder anderen Seite her ein heimeliges Schnärcherln oder ein wohliger Atemzug.Da muss ich gleich ein kleines Gedicht anfügen, das ich meinem Liebsten einmal gewidmet habe:

Die Leidenschaft ist seltsam weit.Es kam die Zeit der Zärtlichkeit.

Doch diese wird mit uns auch älter.Und langsam, langsam etwas kälter.Humor jedoch hat stets noch Platz.

Wir hüten ihn wie einen Schatz.Und dankbar spüren wir was blieb:

Wir haben beide uns noch lieb.

* Vorgetragen anlässlich der ASEM-Lesung in der

Pro Senectute in Biel am 7. 2. 2015.

Korrespondenz: Lilly Zimmerli-Staub Bolgengasse 29 CH-3770 Zweisimmen

In diesem Alter ist man eben noch biegsam ...

Es kommt nun darauf an, welche Hüfte weniger schmerzhaft, sondern noch einigermassen beweglich ist.

HORIZONTE Schaufenster 939

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(25):939

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FressmythenErhard Taverna

Dr. med., Mitglied der Redaktion

Kulinarische Empfindlichkeiten gelten als Zeichen von individueller Lebenskunst. Wer Gäste zum Essen ein­lädt, muss sein Menü umfassend planen. Der eine lebt vegetarisch, der andere vegan, sie verträgt keine Lak­tose, er kein Gluten, jene kein Histamin, und Fruktose macht alle krank. Einer hat sich wegen einer Ent­schlackungskur abgemeldet, eine andere isst nach der Lektüre von Christian Krachts Roman Imperium nur noch Kokosnüsse.In den 1950er Jahren hiess es: «Milch macht müde Männer munter», heute gilt sie vielen als Risikofaktor, höchstens als Notfallnahrung akzeptabel. Milch macht müde, fördert Krebs, Knochenbrüche und Asthma. Nur die angeblich laktoseintoleranten Chinesen impor­tieren immer mehr davon. Wer beim täglichen Brot Weizengluten zu sich nimmt, riskiert Depressionen, Demenz und Übergewicht, da Gliadine über Opiat­rezeptoren den Appetit anregen. Wer nicht den Volks­drogen Milch und Brot verfallen will, trinkt Soja­ und Hafermilch oder hält sich an die Lebensmittelpyra­mide der Paleo­Ernährung. Die Käuferzahl teurer Spezialnahrungsmittel entspricht bei weitem nicht der Anzahl tatsächlich Erkrankter. Warum dem so ist, hat viele Gründe. Die Werbung hat es geschafft, laktose­ und glutenfreies Essen zu modernen Lifestyleproduk­ten aufzuwerten. «Frei von …» ist ein Gütelabel, das die Kassen der Hersteller füllt. Ganzheitliche Ernährungs­berater schüren die Angst vor versteckten Giften, Internetportale und Foren fördern die Diagnosen nebulöser Intoleranzen. Die ZEIT spricht vom wachsen­den Boom der Innerlichkeit, vom neuen Trend des In­sich­Lau schens, der aus jedem Verdauungsgeräusch einen warnenden Fingerzeig mache.Es war Ludwig Feuerbach (1804–1872), der unter dem Eindruck der aktuellen Lebensmittelchemie und ­phy­siologie von Justus v. Liebig und Jakob Moleschott den berühmten gastrosophischen Satz verfasste: «Die Speise wird zu Blut, das Blut zu Herz und Hirn, zu Ge­danken und Gesinnungsstoff. […] Wollt ihr das Volk bes­sern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er isst.» Aus der Ästhetik des guten Essens entwickelte er eine Moral­theorie des Glücks. Die richtige Diät sei die Basis der Weisheit und Tugend, der männlichen, muskelkräf­tigen, nervenstarken Tugend, Menschwerdung und Inkarnation der Natur. Als erklärter Kartoffelgegner

führte er das Scheitern der Märzrevolution von 1848 auf den übermässigen Verzehr dieser Knollenfrucht zurück und pries den phosphat­ und eiweissreichen Erbsenstoff als Garant für einen gesellschaftlichen Wandel. Seither ist ein voller Magen selbstverständlich, das individuelle Essen aber viel komplizierter gewor­den. Da sind Produkte aus ökologischem Anbau zu berücksichtigen, Massentierhaltung und Arbeitsbedin­gungen in Entwicklungsländern, Schönheitsideale, Körperpflege, Fitness und gesundheitliche Vorgaben aus medizinischen und esoterischen Kreisen. Zur kuli­narischen Selbsterfüllung gesellen sich die Sorgen um Fairtrade und Landgrabbing, Lebensmittelskandale und BSE verunsichern die Konsumenten. Slow­ und Fastfood­Anhänger bekriegen sich. Die Auswahl reicht von staatlich subventionierten Grillexzessen bis zu extravaganten Sternekoch­Kreationen. Trotzdem oder gerade deswegen will eine BAG­Analyse von 2006 die «Mangelernährung im Spital» als gravierendes Pro­blem von 20–40% der Patienten erkannt haben. Die Ärzte sollen mehr Ernährungsthemen büffeln, noch mehr Kommissionen und weitere Beratung verspre­chen durch eine Senkung der mangelbedingten Verlän­gerung des Spitalaufenthaltes Kosteneinsparungen in Millionenhöhe. Wer sich im Dschungel der Weg weiser zurechtfinden möchte, kann die Schweizerische Gesell­schaft für Ernährung konsultieren, die zum Boom­thema der Lebensmittelallergien am 27. August 2015 einen Kongress durchführt [1]. Und er kann sich Karen Duves Selbstversuch zu Gemüte führen. In ihrem Sachbuch Anständig essen [2] testet die Autorin infor­mativ und humorvoll die Szenen der Bio­ Industrie, der Vegetarier, Veganer und Frutarier. Die Recherche endet mit fünf Empfehlungen: im Bio­Laden einkaufen, kein Fleisch aus Tierfabriken, Fleisch, Fisch und Milch redu­zieren.«Das Sein ist eins mit dem Essen; Sein heisst Essen», so Feuerbach in seinen Grundsätzen einer Philosophie für die Zukunft. Damals hungerten auch in Europa viele Menschen. Dass ein Drittel der produzierten Nahrung dereinst im Kehricht landen und der grösste Fleisch anteil zu Tierfutter oder Dünger verarbeitet würde, konnte sich der Philosoph nicht vorstellen. Nicht nur die Liebe geht durch den Magen. «Nose to Tail» heisst eine neue Gegenbewegung aus London. «All of it» heisst die Kampagne hierzulande [3].

1 SGR­Fachtagung am 27. August 2015 in Bern

«Boom des Jahrhun­derts? Lebensmittel­allergien und ­unver­träglichkeiten.»

2 Duve K. Anständig essen. Berlin: Galiani; 2010.

3 www.allofit.ch

erhard.taverna[at]saez.ch

Giuseppe Arcimboldo,

Porträt von Kaiser

Rudolf II.

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