Schweres Erbe der Vergangenheit – Muslime in Bulgarien · zerstört, viele historische Bauwerke...

23
1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 27. August 2011 – 11.05 – 12.00 Uhr Schweres Erbe der Vergangenheit – Muslime in Bulgarien mit Reportagen von Simone Böcker und Dirk Auer am Mikrofon: Britta Fecke Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Trailer MOD:: ... eine junge Muslima über ihren Alltag in Bulgarien: O-Ton: Mir fehlt das Gefühl, dass das hier unserer Heimat ist. Aber die Gesellschaft, die Regierung lässt uns keine Ruhe. Viele Muslime emigrieren deswegen. Mir fehlt das Gefühl, hier willkommen zu sein. Denn wir sind hier zu Hause und hier wollen wir bleiben. MOD: ...und ein Vertreter der bulgarischen Muslime in Sofia: O-Ton: Die bulgarischen Muslime könnten ein wunderbares Modell sein für einen europäischen Islam. Wir sind keine Migranten oder Gastarbeiter. Wir leben hier seit sechs, sieben Jahrhunderten. Wir k nten unsere Erfahrung in die EU einbringen. Aber leider haben wir im Moment nicht die vollen M lichkeiten uns zu entwickeln.

Transcript of Schweres Erbe der Vergangenheit – Muslime in Bulgarien · zerstört, viele historische Bauwerke...

1

Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 27. August 2011 – 11.05 – 12.00 Uhr

Schweres Erbe der Vergangenheit –

Muslime in Bulgarien

mit Reportagen von Simone Böcker und Dirk Auer am Mikrofon: Britta Fecke

Musikauswahl: Babette Michel

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar –

Trailer MOD:: ... eine junge Muslima über ihren Alltag in Bulgarien: O-Ton: Mir fehlt das Gefühl, dass das hier unserer Heimat ist. Aber die Gesellschaft, die Regierung lässt uns keine Ruhe. Viele Muslime emigrieren deswegen. Mir fehlt das Gefühl, hier willkommen zu sein. Denn wir sind hier zu Hause und hier wollen wir bleiben.

MOD: ...und ein Vertreter der bulgarischen Muslime in Sofia: O-Ton: Die bulgarischen Muslime könnten ein wunderbares Modell sein für einen europäischen Islam. Wir sind keine Migranten oder Gastarbeiter. Wir leben hier seit sechs, sieben Jahrhunderten. Wir k�nten unsere Erfahrung in die EU einbringen. Aber leider haben wir im Moment nicht die vollen M�lichkeiten uns zu entwickeln.

2

MOD: Gesichter Europas: Schweres Erbe – Muslime in Bulga rien Mit Reportagen von Dirk Auer und Simone Böcker Am Mikrophon begrüßt sie Britta Fecke. 1 MOD: Mit der Akzeptanz ihrer muslimischen Minderheiten tun sich viele Länder

Südosteuropas schwer, welcher Ethnie die Muslime angehören ist dabei

einerlei. Seien es die Türken in Griechenland oder die Türken und

bulgarischsprachigen Pomaken in Bulgarien, sie alle werden aufgrund ihrer

religiösen Zugehörigkeit diskriminiert, und sei es nur, weil ihnen - wie in

Bulgarien - das Erbe der osmanisch-türkischen Vergangenheit angelastet

wird, denn noch immer gilt díe 500 Jahre währende Fremdherrschaft durch

die Osmanen als Ära der brutalen Unterdrückung.

Von dieser Zeit der Besatzung, in der Bulgarien auch muslimisch geprägt

wurde, ist heute fast nichts mehr zu sehen, die meisten Moscheen wurden

zerstört, viele historische Bauwerke der osmanischen Zeit abgerissen.

Die Steine wurden abgetragen, die Menschen sind geblieben! Bis heute sind

über 10 Prozent der bulgarischen Bevölkerung Muslime: dazu zählen

Türken, Pomaken und Roma.

Atmo: Pferdekarren In einigen Dörfern im Rhodopengebirge im Süden Bulgariens, leben die

verschiedenen Bevölkerungsgruppen noch immer Tür an Tür und tolerant

miteinander, Christen und Muslime, Bulgaren, Türkischstämmige Bulgaren

und Pomaken. Pomaken sind bulgarischsprachige Muslime, die während der

Osmanischen Besatzung zum Islam konvertiert sind. Bis heute halten sie an

ihren Traditionen fest, an ihren Hochzeits- und Beschneidungsfesten, an

vielen kleinen Ritualen des Alltags und an ihrer Arbeit, dem traditionellen

Tabakanbau - wegen der stetig fallenden Preise können sie von der

Tabakernte aber kaum noch leben:

3

Reportage 1

Autorin

Als Fatme und Osman Isljamov ihr Pferd angespannt haben, war es noch

stockfinster. Nun, um vier Uhr morgens, lenken sie im Rhodopen-Örtchen

Debren ihren Holzkarren auf einer ungeteerten Dorfstraße Richtung Tal.

Überall in der Dunkelheit erscheinen weitere Pferdekarren, auf den

Vorderbänken sitzt immer ein älteres Paar: der Mann in Arbeitskleidung, die

Frau in langärmligem Kittel, Pluderhose und mit buntem Kopftuch.

O-Ton 1: Fatme Autorin

"Das Dorf ist sehr lebendig um diese Uhrzeit", lacht Fatme. "Alle sind sie

schon auf den Beinen." Tabak muss in der Früh gepflückt werden, wenn die

Blätter vom Tau noch weich sind. Seit Kindesbeinen ist für Fatme und Osman

kein Jahr vergangen, in dem sie nicht aufs Feld gefahren sind. Sie sind

"tjutjundjii" - Tabakbauern. Tjutjun, das ist Tabak auf bulgarisch. Und

Tjutjundjii sind alle in ihrem Dorf.

O-Ton 2: Osman Manche pflücken erst und gehen dann zur Arbeit. Solche gibt es auch. Bis halb acht zum Beispiel pflücken sie. Und nach 5 Uhr werden die Blätter zum Trocknen aufgehängt. Autorin

Osman hält den Karren am Feldrand an und springt vom Kutschbock. Mit

flinken Bewegungen beginnen sie, die untersten Blätter von den Pflanzen zu

pflücken. Fatme ist Ende 50, Osman schon Ende 60. Doch ein Rentnerdasein

können sie sich nicht erlauben.

O-Ton 3: Osman Eine aufwändige Arbeit ist das. Jetzt sind wir beim dritten Erntedurchgang. Dann kommt noch der vierte und fünfte. Fünf Mal muss man übers Feld zum Blätter pflücken. Man muss den Tabak säen, man muss ihn spritzen, man muss ihn auffädeln, man muss ihn trocknen, ihn dann oben auf den Dachboden hängen und zum Schluss in Ballen packen und den Abnehmern zeigen, die dich dann in 20 bis 30 Minuten übers Ohr hauen. Und das war es. (lacht).

4

Autorin

Die Tabakblätter sind klebrig, innerhalb kürzester Zeit sind Fatmes Hände von

einem braunen Film überzogen. Unter dem Kopftuch schauen blaue Augen

aus einem freundlichen, gegerbten Gesicht. Es ist eine schmutzige Arbeit, die

das Leben des Ehepaars fast das ganze Jahr vollständig in Anspruch nimmt.

O-Ton 4: Fatme Unsere Mutter sagte immer, Tabak ist wie ein kleines Baby, du musst dich ständig darum kümmern (lacht). Wir sind daran gewöhnt. Wenn wir aber zumindest ein bisschen mehr Geld dafür bekämen! Es hieß, wir kommen in die EU. Aber wir sind nur mit den Preisen für die Lebensmittel eingetreten. Und nicht mit dem Preis für unseren Tabak. 1 bis 2 Euro gibt es für das Kilo. Wenn man davon die Unkosten abzieht, dann bleiben davon 15 bis 25 Euro pro Person im Monat übrig. Macht es Sinn, sich für dieses Geld so abzumühen? Autorin

Tief gebückt zwischen den Tabakreihen legen die beiden die Blätter

ordentlich zu Stapeln zusammen. Früher waren alle Tabakbauern in

Produktionsgenossenschaften organisiert, erzählt Fatme. Die Arbeit auf den

Feldern war Frauensache, die Männer kamen dann nach der Arbeit in den

Fabriken dazu. Auch wenn die Arbeit nicht leichter war, so war doch für alle

gesorgt.

O-Ton 5: Fatme Und es wurde anständig bezahlt. Wenn es auch nicht viel Geld war, so war doch alles billig. Für einen Lev bekam man fünf Brote. Und jetzt nur noch eins. Alles ist jetzt sehr teuer. Deswegen reicht das Geld nicht. Wir kaufen Brot, Zucker, Mehl, Öl. Aber wieviel das schon kostet! Damals hat man dem Volk sehr geholfen. Jetzt denkt niemand an die Bauern. Überhaupt niemand. Egal ob für Christen, Pomaken, Türken, Zigeuner - das Leben der Bauern ist hart. Atmo: an der Straße, reden, Autos, Bündel auf den Rücken „Eins, zwei, drei!“, Fatme: auf den Rücken und los!

Autorin

Inzwischen ist es 12 Uhr Mittags. Osman und Fatme laden die schweren

Ballen auf den Wagen. Dann geht es zurück durchs Dorf. Doch es gibt nicht

nur schöne Erinnerungen an die alten Zeiten. Unter dem Kommunismus war

die Religion verboten, auch das Tragen der typischen bunten Kopftücher und

5

Pluderhosen war den Frauen nicht erlaubt. Erst nach der politischen Wende

durfte Fatme die europäische Kleidung wieder ablegen.

O-Ton 6: Fatme Nach 1989 haben die älteren und alten Frauen wieder angefangen, die traditionelle Kleidung zu tragen. Die hatten wir noch in den Kleiderschränken. (lacht). Wir haben sie wieder rausgeholt. Und wir haben alles wieder aufleben lassen: die Hochzeiten wurden wieder nach altem Brauch gefeiert. Die Beschneidungsfeiern, die hier im Dorf drei Tage dauern. Wir haben uns wie befreit gefühlt. Und wir hatten das Gefühl, dass uns eine sehr gute Zukunft erwartet. Es war auch wirklich eine gute Zukunft, aber eine arme Zukunft. (lacht). Autorin

Heute können sie ihre Religion zwar frei ausüben, doch in die Moschee gehen

sie nur zum Freitagsgebet. Für mehr bleibt keine Zeit.

Atmo

Zu Hause bringen sie die Bündel zum Trockenplatz hinter ihrem Haus. Mit

einer ellenlangen Metallnadel fädeln sie die frisch gepflückten Blätter auf eine

Schnur, um sie dann als lange Ketten zum Trocknen aufzuhängen. Am Abend

werden sie sich um die Tomaten und Kartoffeln kümmern, und um die eine

Kuh, für die auch noch das Gras gemäht werden muss. Spätestens um 10

Uhr werden sie sich schlafen legen. Ein hartes Leben, das Fatme und Osman

geduldig schultern wie einen Sack Tabak. Sie sind in einer Zwickmühle: Es

geht nicht mehr mit dem Tabak, aber ohne ihn geht es auch nicht.

O-Ton 7: Osman Der Pomake ist mit dem Tabak verbunden. Und er will arbeiten, wir sind sehr fleißige Menschen. Seit eh und je ist der Tabak unser Lebensunterhalt, da ist man rein geboren, das ist unser Erbe. Und es gibt so etwas wie eine Liebe zu dieser Pflanze. Wenn man sie uns wegnimmt, dann weiß ich nicht, was passiert mit unserer Gegend. Die Dörfer werden dann wohl wie die anderen sein, wo die Leute verschwinden. Musik MOD Literatur: Ein Künstler kauft sich von der Sehnsucht nach Ruhe und Einsamkeit getrieben ein altes Steinhäuschen in einem abgelegen Bergdorf. Es ist die Zeit des Sozialismus, und fernab der Hauptstadt ticken die Uhren noch anders, manchmal auch langsamer. Schnell dagegen ist der Erzähler dem Zauber der Bergwelt und des Landlebens erlegen und auch den zum Teil

6

skurielen Dorfbewohnern. Ein Haus jenseits der Welt von Georgi Danailov ist 2007 im Wieser Verlag erschienen: Literatur 1: Nach einer Biegung tauchte vor uns ein großes Dorf mit einer weißen

Moschee auf. Die Häuser waren aus Stein, abgesägte Würfel, unverputzt,

grob, stabil und roh. Von überall stürzten scharenweise Kinder herbei. Sie

versammelten sich um unser Auto, schrien und bewarfen uns mit Steinchen

und Stöcken. Plötzlich stöhnte meine Frau überrascht auf. IM Damensattel

auf einem weißen Pferd sitzend, kam eine Jungfrau in einer wunderschönen

Tracht auf uns zugeritten. Sie trug ein weißes Tuch um den Kopf,

Pluderhosen und gestrickte weiße Strümpfe, die verblüffend schöne

Ornamente zierten. Ihr Kleid und die Schürze schimmerten in so wunderbaren

bunten Farben und sie selbst saß so schmuck und mit solch einer Würde im

Sattel, dass es überhaupt keinen Zweifel gab - sie war eine Erscheinung,

umso mehr, da sich ihre einzigartige Anmut zwischen schlammigen Pfützen,

Kuhfladen und überall herumkullernden Ziegenkötteln bewegte.

- Hast du sie gesehen? fragte meine Frau begeistert.

- Ich habe sie gesehen! erwiderte ich, und während ich mich umdrehte, um

noch einen Blick auf diese Schönheit zu werfen, rumpelte der Renault

dermaßen durch eine Schlagloch, dass wir uns alle an seinem Dach die

Köpfe stießen.

2 MOD: Jeder zehnte Bulgare ist türksicher Abstammung, Nachfahre der osmanischen

Besatzungsmacht, die erst vor rund hundert Jahren Bulgarien wieder frei gab.

Die Zeit der Fremdherrschaft wird noch heute als das "Türkische Joch"

bezeichnet. Dabei wird gerne vergessen, dass Bulgarien während der

türkischen Besatzung, wenn auch fremdbestimmt so doch recht friedliche

Zeiten erlebte, in der Handelswege ausgebaut wurden und das Land zu

Wohlstand kam. Die Osmanen folgten auch beim religiösen Zusammenleben

dem Modell einer „repressiver Toleranz“: Christen und Juden durften ihren

7

Glauben weiter ausüben, mussten allerdings höhere Steuern als Muslime

zahlen.

Diese Toleranz hat das Zusammenleben auch noch zu Beginn des letzten

Jahrhunderts geprägt. Bis die kommunistische Parteiführung in den 70ger

Jahren anfing, die Bevölkerungsgruppen kulturell und religiös gleich zu

schalten und das Land -wie sie sagten - von den „Überresten der türkischen

Sklaverei“ zu befreien.

Atmo: Dorf draußen, Auto fährt Mitte der 80er Jahre leitete die Parteiführung den sogenannten bulgarischen

Wiedergeburtsprozess ein. Er ging einher mit einem ganzen Bündel von

Repressalien: Die Türken wurden gezwungen neue Namen anzunehmen, ihre

Toten durften sie nicht mehr nach islamischem Ritual bestatten, sondern nur

noch nach der sozialistischen Begräbnisordnung. Alle Bräuche waren bei

hohen Strafen verboten von der Beschneidung bis hin zum Kopftuch. Diese

Repression gipfelte im Sommer 1989 in der größten Fluchtwelle, die Europa

seit dem zweiten Weltkrieg erlebt hat: Rund 350 000 bulgarische Türken

flohen vor Gewalt und Diskriminierung in ihrer bulgarische Heimat über die

Grenze in die Türkei.

Etwa 100.000 bulgarische Türken sind nach der politischen Wende wieder in

ihre Döfer im Rhodopengebirge zurückgekehrt. Doch auch jetzt 20 Jahre nach

dieser Vertreibung einer ganzen Volksgruppe werden die

Menschenrechtsverletzungen noch immer nicht aufgearbeitet und die

muslimische Minderheit wird nach wie vor nicht als Teil der bulgarischen

Gesellschaft akzeptiert:

Reportage 2 Autor

Ein holpriger Weg führt zum Haus von Familie Mehmed. Vorsichtig lenkt

Nurten Remzi das Auto an den Schlaglöchern vorbei. Hikmet Mehmed wartet

bereits an der Gartenpforte.

Im Wohnzimmer wird türkischer Kaffee serviert, Hikmets Frau Hatice bringt

frisch gepflückte Pfirsiche aus dem Garten. Geredet wird auf türkisch – was

8

hier nicht immer eine Selbstverständlichkeit war: Während des

Kommunismus, zu Zeiten des sogenannten Wiedergeburtsprozesses war das

Sprechen der türkischen Sprache verboten. Sogar ihre muslimischen Namen

mussten die bulgarischen Türken ablegen und dafür christliche, bulgarische

Namen annehmen, erzählt Hikmet.

O-Ton 1: Hikmet Es war irgendwann im Januar 1985, es hatte geschneit und es war sehr kalt, die Donau war zugefroren. Jeeps mit Soldaten fuhren in unser Dorf. Sie hatten große Hunde dabei und sagten: „Nehmt Eure Pässe und geht zum Rathaus, damit Ihr einen neuen Namen bekommt.“ Regie: O-Ton hochziehen Ich ging ins Rathaus, da stand schon ein Typ mit Maschinenpistole. Sie haben die bulgarischen Lehrerinnen mobilisiert, und die zeigten mir ein Büchlein mit bulgarischen Namen. Angel, Assen usw. Und sie fragten mich: welchen Namen willst du? Ich sagte, ich will den Namen David, der gegen Goliath gekämpft hat. (lacht). Autor

Pass, Geburtsurkunde, Führerschein - alle Dokumente des 60-Jährigen

wurden an Ort und Stelle geändert. Innerhalb von knapp zwei Monaten hatten

alle der rund 800 000 bulgarischen Türken einen neuen Namen.

O-Ton 2: Hikmet In Bulgarien gab es danach offiziell keine Türken mehr. Auf Hochzeiten wurde jemand vom Rathaus vorbei geschickt, um zu prüfen, ob man auch auf bulgarische Weise feierte. Wenn jemand gestorben war, haben sie geschaut, nach welchem Ritus er beerdigt wurde. Etwa nach türkischem Brauch? Mit türkischer Musik? Autor

Im Sommer 1989 folgte schließlich die so genannte "Große Exkursion". Zum

Teil ausgewiesen, zum Teil vertrieben, zum Teil einfach nur aus Angst vor

dem, was da noch kommen möge, verließen ca. 350 000 bulgarische Türken

ihre Heimat Richtung Türkei.

O-Ton 3: Hikmet Als wir an die türkische Grenze kamen, war die Autoschlange unendlich lang, sie reichte bis in den Wald. Die Grenze füllte sich mit Menschen und sie konnten gar nicht so viele durchlassen. Sechs Tage standen wir an der Grenze und warteten.

9

Autor

Der hagere Mann schaut bei der Erinnerung starr auf den Tisch. Hikmet ging

damals mit seiner Familie nach Istanbul. Nach der Wende kehrte er wie viele

seiner Landsleute zurück in seine Heimat. Hikmet ist Maler. Überall an den

Wände des kleinen Hauses hängen seine Aquarelle und Kohlezeichnungen.

Nurten und Hikmet kennen sich über die Kulturarbeit in der nahen Stadt

Schumen, wo Nurten in einem türkischen Kulturverein arbeitet.

O-Ton 4: Nurten Wir singen türkische Lieder und beschäftigen uns mit der ursprünglichen Folklore der Türken, die hier leben. Schritt für Schritt schauen wir, dass wir einige unserer alten Traditionen wieder beleben. Aber noch immer existiert dieses Trauma! Die Leute in den Dörfern haben noch immer Angst, sie schauen sich noch immer um und denken, dass ihnen etwas passieren könnte, wenn sie etwas Falsches sagen. Und selbst heute sprechen die Leute in den Dörfern nicht über diese Periode. Weil sie ihre Angst noch nicht überwunden haben. Autor

Auch unter Bulgaren ist das Thema bis heute weitgehend ein Tabu. Es hat

keine Entschuldigung gegeben, keine Geste der Versöhnung gegenüber den

türkischstämmigen Mitbürgern. Stattdessen wirkt die antitürkische

Propaganda der kommunistischen Zeit weiter fort. Hikmet schaltet den

Fernseher ein. Und wie zum Beweis:

O-Ton 5: Hikmet (Wiehern…) Das ist der Film Kapitan Petko. Diesen Film haben sie zu kommunistischen Zeiten gemacht, es geht um einen bulgarischen Helden, der gegen die Türken kämpft. Oder der Film "Geteilte Zeiten" - das sind nationalistische Filme, die immer wieder gezeigt werden. O-Ton 6: Nurten In ihnen werden die Türken als die Dreckigsten, die Gröbsten, die Schlimmsten von Allen dargestellt. Und sie zeigen die Filme immer noch. O-Ton 7: Hikmet Muss man solche Filme noch zeigen, nach 20 Jahren Demokratie? Autor

Der Kaffee ist getrunken, die Pfirsiche sind aufgegessen. Langsam macht

sich Nurten auf den Heimweg. Da holt Hikmet ein Bild hervor, das er gemalt

10

hat, als sie aus der Türkei wieder zurück in ihr Dorf gekehrt sind. Es zeigt ein

einsames Dorf bei Nacht, gespenstisch und verlassen. Nur in einem Fenster

brennt Licht. Er hat es "Schwere Zeiten" genannt. Die schweren Zeiten,

erklärt Hikmet, dauern bis heute leider an.

3 MOD: Die politische Vertretung der bulgarischen Türken ist die „Partei für Rechte

und Freiheiten“ kurz DPS. Ihrem Selbstverständnis nach ist sie eine liberale

Partei, die sich insbesondere für die Rechte der ethnischen Minderheiten in

Bulgarien einsetzt. Seit Beginn der 90ger Jahre ist sie im Parlament in Sofia

vertreten und erhält bei den Wahlen meist über 10% der Stimmen, dadurch ist

die DPS zu einer wichtigen politischen Kraft geworden, zu einer

Königsmacherin, ohne die lange Zeit kaum eine Regierung gebildet werden

konnte.

Bei den Bulgaren seht die Partei in dem schlechten Ruf besonders korrupt zu

sein. Vor allem Parteigründer Ahmed Dogan, der seit über 20 Jahren

ununterbrochen als Vorsitzender, Parlamentsabgeordneter und Fraktionschef

fungiert, steht im Verdacht ausschließlich seine eigenen Wirtschaftsinteressen

durchzusetzten. Zahlreiche Skandale, in Verbindung mit seiner Position,

haben ihm aber bisher nichts anhaben können.

Atmo: Dorf Dass viele Türken „ihre“ Partei selber äußerst kritisch sehen, sie aber

dennoch wählen, entspricht einer kollektive Schizophrenie, die auch in der

Alternativlosigkeit begründet liegt. Besonders in den türkisch dominierten

Gebieten rund um die Stadt Kardzhali in den Zentral-Rhodopen hält die Partei

die Zügel noch streng in der Hand. Doch die Unzufriedenheit wächst und mit

ihr der Widerstand:

11

Reportage 3

Autor

Gluchovo ist eines dieser Dörfer, wie es sie viele gibt rund um Kardzhali. Im

Ortskern, ein kleines Geschäft und eine Kneipe. Von dort aus gehen

schlampig asphaltierte Straßen schon bald in Schotterpisten über. Kühe

werden durchs Dorf getrieben, und auch hier sitzen die Alten in den Vorgärten

und fädeln die frisch geernteten Tabakblätter auf. Rechts der Hauptstraße:

Ein dreistöckiger Neubau, mit einem nagelneuen Mercedes davor. Wer es in

Bulgarien zu etwas gebracht hat, zeigt es gerne. Der Besitzer Adem Mehmed

ist bulgarischer Türke, wie auch alle anderen Bewohner des Dorfes. Und das

heißt:

O-Ton 1: Mehmed 96 Prozent der Leute hier wählen DPS

Autorin

Als er das sagt, verfinstert sich die Miene des ansonsten gut aufgelegten

Busunternehmers. Dabei war er selbst lange Mitglied der Partei, hat acht

Jahre für sie im Gemeinderat der Kreisstadt Kardschali gesessen.

O-Ton 2: Mehmed Und immer habe ich soviel wie ging geholfen. Ich habe Busse zur Verfügung gestellt, um Leute zu den Parteiveranstaltungen zu bringen. Ich habe insgesamt gut 200.000 Euro gespendet. Ich habe das gemacht, weil ich wirklich dachte, dass diese Partei etwas macht, um das Leben der Menschen hier zu verbessern. Dass wir irgendwann gleichberechtigt sind, weil wir waren immer irgendwie zweite, dritte Klasse. Autorin

Aber man brauche sich ja nur umsehen: Fast jedes zweite Haus steht leer,

die Bewohner sind in die Türkei gegangen oder nach Frankreich, nach

Deutschland, nach Belgien – in alle Richtungen haben sie sich aufgemacht,

weil es hier keine Arbeit gibt. Und auch sonst, so klagt Adem Mehmed, werde

das Leben im Dorf eigentlich immer schlechter.

O-Ton 3: Mehmed

12

Es gibt keine Kanalisation, die Straßen sind nicht asphaltiert, der Müll wird nur unregelmäßig abgeholt. Im Sommer stinkt es deshalb überall. Riecht mal, wie es stinkt. Die Müllcontainer sind kaputt und niemand macht etwas. Obwohl alle für die Müllabfuhr bezahlen.

Autorin

Woran das liegt? Adem Mehmed schnaubt verächtlich. An der Korruption

natürlich.

O-Ton 4: Mehmed Der Bürgermeister von Kardzhali nimmt wie immer eine Art Kommission von der Firma, die den Auftrag bekommen hat. Er streicht illegal Geld ein, und deshalb kann er nicht sagen, los macht sauber. Und hier diese Bänke, die schon wieder kaputt sind: Die kommen direkt von seiner eigenen Firma. 60, 70 Euro kostet so eine Bank normalerweise. Er hat sie für 180 Euro gekauft, und innerhalb eines Jahres hat er im ganzen Kreis für 500.000 Euro Bänke aufstellen lassen. Ich habe ihn dann gefragt nach diesen goldenen Bänken.

Autorin

Adem Mehmed geht weiter die Straße hinunter. Irgendwann, so meint er, hat

er dann wohl ein paar Fragen zu viel gestellt.

O-Ton 5: Mehmed Ich hatte den Mut, ihnen einige negative Dinge zu sagen. Und dann haben sie mich ausgeschlossen aus der Partei. Denn das mögen sie nicht. Sie können es einfach nicht ertragen, wenn sie jemand kritisiert. Autorin

Seitdem sitzt er als einziger unabhängiger Abgeordneter im Gemeinderat. Als

er dann auch noch angekündigt hatte, mit einer eigenen Liste bei den

nächsten Kommunalwahlen zu kandidieren, kam die Antwort postwendend.

Von einem Tag auf den anderen wurde ihm seine Lizenz für die Buslinien

zwischen Kardschali und den umliegenden Dörfern entzogen.

O-Ton 6: Mehmed Ahmed Dogan, der Führer der DPS, hat persönlich gesagt, dass er mich fertig machen wird. Im Mai wurde ich aus der Partei ausgeschlossen, und am 1. Juni ist der Vertrag mit der Gemeinde gekündigt worden. Seitdem sind 16 Dörfer ohne öffentliche Verkehrsverbindung. Aber das interessiert sie nicht. Sie wollen einfach nur zeigen, seht, wer sich gegen uns stellt, den zertreten wir. Atmo: Aufzug

13

Autorin

Sein Büro hat Adem Mehmed in Kardzhali, im obersten Stock eines

mehretagigen Blocks. Von hier aus betreibt er seinen Handel mit

Reisebussen in ganz Europa, Russland, und sogar in einigen arabischen

Ländern hat er Kunden. Die Sitze in der Besucherecke stammen aus einem

seiner Omnibusse, genauso wie das Tischchen, auf dem er nun die

Unterschriftenliste ausbreitet, die er zusammen mit einem seiner Mitstreiter

durchsieht.

O-Ton 7: Mehmed Das ist für die Registrierung der Partei. 7000 Unterschriften brauchen wir. Bislang haben wir etwa 1500 gesammelt. Vor allem junge Leute unterschreiben, sehen Sie, Jahrgang 1986, 1981, 1983. Weil die älteren Leute haben Angst. Sie haben im Kommunismus gelebt und sie haben immer noch Angst vor der Partei – nur jetzt eben vor der DPS. Autorin

Mustafa Ismail nickt. Er war als unabhängiger Politiker stellvertretender

Bürgermeister von Momchilgrad – und vor kurzem auch noch Inhaber einer

Möbelfabrik. Bis auch er ins Fadenkreuz der DPS-Bosse geriet.

O-Ton 8: Mustafa Ismail Jede Woche gab es Überprüfungen von der Feuerwehr. Sie haben sich immer wieder neue Gründe ausgedacht und mir ständig Bußgelder auferlegt. Und eines Tage war da ein Absperrband: Das Betreten des Geländes ist verboten. Einfach nur, weil ich politisch unabhängig war. Sie sind schlicht Diktatoren. Schon wenn jemand nur fragt, warum macht ihr das so, dann heißt es sofort: Los, wir machen ihn fertig. Genauso üben sie im Moment ihre Macht aus. Autorin

Mustafa Ismail nimmt sich ein paar neue Listen. Bis zur Abgabefrist ist nicht

mehr viel Zeit. Die 7000 Unterschriften werden sie zusammenkriegen. Aber

ob sich dann bei den Wahlen tatsächlich etwas was ändern wird? Für Adem

Mehmed ist es der letzte Versuch. Er sei müde geworden von dieser Politik,

sagt er. Aber er würde doch noch zu gerne erleben, dass sich das Leben der

Menschen hier verbessert.

O-Ton 9: Mehmed

14

Ich selbst kann für mich sagen: Ich habe Geld, ich bin durchaus reich. Meine Kinder studieren alle auf angesehen Universitäten. Aber mir tut weh, dass viele unserer Leute im Ausland sind, ihre Kinder hier zurücklassen und sie dann von den Großeltern aufgezogen werden. Es ist doch etwas anderes bei Vater und Mutter aufzuwachsen als bei Oma und Opa. Das tut mir weh mit anzusehen, und deshalb kämpfe ich noch einmal.

Musik Literatur MOD: „Ein Haus jenseits der Welt“, so heißt der Roman von Georgi Danailov und es steht in einem abgelegenen Dorf im Rhodopengebirge. Es wird seit Jahrhunderten von christlichen und muslimischen Bulgaren bewohnt. Danailov beschreibt mit den Augen des Fremden ihr Mit- und Nebeneinander: Literatur 2: Ehrlich gesagt hatten wir die Unterschiede zwischen den muslimischen und

christlichen Bulgaren zu Beginn unserer Übersiedlung weder beachtet noch

begriffen. Wir kamen aus der Hauptstadt. Dort hatten wir weder

Mohammedaner noch andere Glaubensrichtungen kennen gelernt. Nicht

wahr, wir alle lebten in einem aufgezwungenen Atheismus,die meisten von

uns besuchten die Kirche ein-, zweimal im Jahr, nicht um am Gottesdienst

teilzunehmen, sondern bei Trauerfällen oder zu Ostern, um sich auf

vergleichsweise wenig kränkende Art der Staatsmacht zu widersetzen. (..) Wir

hatten überhaupt kein Verhältnis zu den Mohammedanern, zu den Pomaken.

Wie wussten nicht einmal, dass sie sich durch dieses Wort beleidigt fühlten,

und wir ahnten nichts von der leisen Feindschaft, die zwischen den

Bewohnern dieser Gegend schwelte.

- Hör mal, Baj Goscho - so sprach einer dieser Leute, er war wenigstens zehn

Jahre älter als ich, zu mir, - weißt du, wir wissen selbst nicht mehr, was wir

sind, sind wir nun Bulgaren, oder sind wir Türken oder Makedonier oder

Afrikaner? Oder sind wir Menschlein? So weit haben wir es gebracht.

Ich saß ihm gegenüber und betrachtete ihn. Ein ganzer Kerl, gesund, kräftig,

mit großen blauen Augen, ein Spaßvogel, in Pension... ein Mensch - ein

Mensch, wie ich einer war, und all die anderen, einer, der meine Sprache

sprach, meine Lieder sang, der so deftig fluchte wie ich, uns er wusste nicht,

was er war. Er war nicht schuld daran. Man hätte ihn aller möglichen irdischen

15

und himmlischen Vergehen bezichtigen können, aber mit Sicherheit trug er

keine Schuld an diesem Fehlen seiner Identität.

4 MOD:

Immer wieder schüren in Bulgarien rechtspopulistische und rechtsextreme

Politiker die alten anti-muslimische Ängste. Sie warnen vor der drohenden

Islamisierung ganzer Regionen, und behaupten, dass viele Moscheen schon

jetzt unter dem Einfluss ausländischer islamistischer Organisationen stehen.

Bei vielen Bulgaren nährt das alte Vorurteile, und so kommt auch der Staat

nicht umhin, Präsenz zu zeigen. Im letzten Sommer wurden zahlreiche

Moscheen und Wohnhäusern auf den Kopf gestellt: Bücher, Computer,

Handys und Geld wurden kistenweise beschlagnahmt. Erst fünf Monate

wurde das Ergebnis der Untersuchung veröffentlicht: Ermittelt wurde lediglich

gegen drei Personen, die unter Verdacht standen, Propaganda für eine

ausländische islamistischen Organisation zu betreiben.

Atmo Angesichts dieses bescheidenen Ergebnisses kritisierte der jüngste

Jahresbericht des Bulgarischen Helsinki Komitees, dass die Aktionen der

Staatspolizei entscheidend zur Einschränkung der Religionsfreiheit

beigetragen hätten.

Um ins Visier der staatlichen Ermittler zu geraten, reichte es tatsächlich schon

aus, in Saudi Arabien studiert zu haben, wie der junge Imam im Pomakendorf

Lashnitsa, im Südwesten des Landes erfahren musste:

Beitrag 4 Autor

Im Hof der Moschee, es ist kurz vor Mittag, gleich werden die Kinder zum

Koran-Lesekreis kommen. Mohamed Kamber sitzt auf einer Holzbank und

wartet. Seit drei Jahren ist er Imam von Lashnitsa. Er ist hier geboren – so

wie sein Vater, sein Großvater und Ururgroßvater. Mohamed Kamber ist 35

Jahre alt und trägt einen langen, dunkelblonden Bart. Seine religiöse

Ausbildung hat er an einer Islamischen Universität in Saudi Arabien erhalten –

16

und das allein, so vermutet er, machte ihn wohl schon verdächtig für die

bulgarischen Sicherheitsbehörden.

O-Ton 1: Mohamed Die Razzia war am 6. Oktober 2010. Ich glaube, es war ein Mittwoch Morgen, um sechs Uhr. Damals kamen sie mit dem Vorwurf, dass wir hier einen radikalen Islam verbreiten würden. Und auf der Grundlage dieses Verdachts haben sie alles mögliche mitgenommen: Bücher, Computer und Telefone. Autor

Monatelang hat er dann nichts mehr gehört: Keine weiteren Forderungen,

keine Nachricht, und auch kein Ergebnis der Ermittlung. Irgendwann haben

die Beamten dann die Computer und Bücher zurückgegeben – auf sein

Telefon wartet er heute noch.

O-Ton 2: Mohamed Das Interessanteste war, dass sie schon am selben Morgen gegenüber den Medien erklärten, dass sie hier eine Terrorzelle gefunden haben - noch bevor sie die Literatur und die beschlagnahmten Gegenstände ausgewertet hatten! Das heißt, sie hatten ihr Urteil eigentlich schon gefällt, bevor sie überhaupt mein Haus betreten hatten. Atmo: Tür aus (der Ferne) … "Salamaeikum"; im Eingangsbereich der Moschee: Leute ziehen sich Schuhe aus Autor

Nach und nach füllt sich der Hof mit Kindern. Auch einige Erwachsene

kommen, denn vor dem Lesekreis findet das normale Mittagsgebet statt. Die

Gläubigen waschen sich wie immer zuerst am Brunnen die Füße, bevor sie

die Moschee betreten.

O-Ton 3: Mohamed Hier im Dorf sind alle Muslime. Während des Kommunismus war diese Moschee geschlossen. Wenn man hörte, dass einer reinging oder jemand etwas über den Islam gesagt hat, hat die Polizei ihn ins Gefängnis gesteckt. 50 Jahre lange wusste man nichts über Religion und so suchen die Menschen jetzt nach Möglichkeiten, etwas darüber zu erfahren. Und wenn wir ihnen das nun erklären – islamisieren wir sie dann? Wenn ihr in die Kirche geht und der Pastor euch vom Christentum erzählt - christianisiert er euch dann? Nein, er klärt euch auf. Atmo: In der Moschee, Junge fängt an zu singen Autor

17

Etwa 20 Kinder sind gekommen. Die Mädchen tragen die traditionellen bunten

Pluderhosen, ihre kleinen Köpfe stecken unter ebenso farbenfrohen

Kopftüchern. Die Jungen und die Männer versammeln sich im Betsaal, die

Mädchen sitzen auf der Empore.

Atmo: Gesang

Der Sohn des Imam – er ist mit seinen Eltern in Saudi Arabien aufgewachsen

und kann deshalb schon die Koranverse auf Arabisch rezitieren.

Atmo: Gesang

Nach dem Gebet verlassen die Erwachsenen die Moschee, die Kinder setzen

sich im Kreis auf den Boden.

O-Ton 4: Mohamed In der Grundschule im Dorf gibt es etwa 150 Kinder, hierhin kommen zwischen 20 und 25. Sie lernen den Koran auf Arabisch zu lesen, weil das für bestimmte Gebete wichtig ist. Wir betonen gegenüber den Kleinen auch die Wichtigkeit von Moral, Ehrlichkeit und das Verhältnis gegenüber den Älteren. Und ganz Allgemein die Dinge, die jede Religion verlangt: Toleranz, Ehrfurcht usw. Atmo: singt vor, die Schüler wiederholen Atmo

Dann ist die Stunde zu Ende. Draußen sitzen einige Männer noch ein wenig

zusammen. Jetzt im Sommer gibt es viele, die für ein paar Wochen ins Dorf

zurückkehren. Arbeitsemigranten, aber auch junge Studenten wie Veli

Razman. Er studiert Islamische Theologie in Jordanien – und erst dort, sagt

er, habe er gelernt, was es überhaupt heißt, ein richtiger Muslim zu sein:

keinen Alkohol zu trinken, fünf Mal am Tag zu beten, den Fastenmonat

einzuhalten.

O-Ton 5: Veli Als wir anfingen zu studieren, sahen wir, dass der Islam, wie wir ihn hier praktizieren, gar nicht korrekt ist. Es waren einfach nur irgendwelche Traditionen. Wir haben das angesprochen, und da kam es zunächst zu Spannungen mit den Älteren. Aber das hat sich schnell gelegt. Weil immer mehr junge Menschen kamen und sich unserer Meinung anschlossen, die wir direkt von den Quellen des Islam mitgebracht haben. Autor

Die chaotische Wendezeit in Bulgarien hat Veli als Kind miterlebt. Den

18

völligen Zusammenbruch, die darauf folgende Anarchie und

Orientierungslosigkeit. Und wie allein in seinem Dorf 30 Männer am Alkohol

zu Grunde gingen. Die eigentliche Wende fand für ihn deshalb eigentlich erst

Ende der 1990er Jahre statt: als die Menschen begannen, die Religion neu zu

entdecken und ihr Leben zu ändern.

O-Ton 6: Veli Viele junge Menschen kamen in die Moschee, sie gaben den Alkohol auf, sie gaben das Glücksspiel auf und fingen an zu arbeiten und sich um ihre Familie zu kümmern. Und jetzt gibt es hier im Dorf Entwicklung: Kinder werden geboren, die Leute arbeiten. Es gibt hier kein Diebstahl, keine Drogensucht. Weil der Islam die geistigen Werte der Menschen bewahrt. Das ist auch der Einfluss von dem, was man hier in der Moschee lernt. Autor

Insofern versteht Veli Razman auch nicht, warum viele Bulgaren den Islam als

Bedrohung wahrnehmen. Jeder sollte doch in Freiheit leben können und das

Beste aus seiner Kultur und seinen Ideen einbringen.

Atmo

„Ist es nicht so?“ fragt er in die Runde. Alle nicken. Auch Mohamed Kamber,

der junge Imam, der nun seine Sachen packt.

O-Ton 7: Mohamed Tatsache ist doch, dass es seit 20 Jahren überhaupt keine Probleme gibt zwischen Muslimen und Christen. Das ist der Beweis, dass wir, anders als es immer dargestellt wird, den Menschen Toleranz beibringen. Nur vor den Wahlen, da gibt es immer Spannungen. Denn immer, wenn ein Politiker sagt "radikaler Islam" horchen alle auf. Und dann steigen die Umfragewerte. Auf dem Rücken der normalen Leute. Musik Literatur 3 Ja, solche Geschichten werden in unserer Gegend erzählt. (..) Es war

während der Zeit des Krieges, ob nun während des Befreiungskrieges oder

eines anderen, entzieht sich meiner Kenntnis, aber das ist auch nicht von

Bedeutung, jedenfalls hatten die Türken eine Niederlage erlitten, und die

Rajah (die nichtislamischen Untertanen des Sultans) machten sich daran, an

den Mohammedanern Rache zu nehmen. Besser gesagt – sie

19

abzuschlachten. (..) Die Christen des Gebietes schärften also die Äxte, Säbel

und Sensen, um sich darauf zu stürzen. Doch in unserem Dorf dachten die

Leute anders. Wir hatten bisher mit diesen Menschen gelebt, morgen werden

wir wieder mit ihnen zusammenkommen. Das geht so nicht, wir werden es

nicht zulassen, dass man sie auslöscht. Und so sind die Unseren losgezogen,

das Dorf zu umzingeln, nicht mal ein Huhn haben sie hinüberflattern lassen,

weder rein noch raus. - Lasst sie uns schlachten! - riefen im Namen Christi

die Nachbarn aus den anderen Dörfern.- Lasst uns das auf nachbar-

schaftliche Art erledigen – entgegneten die Unseren.

So wurde das Dorf gerettet.

5 MOD: Die Furcht vor Islamisten ist dort besonders groß, wo sich Muslime und

Christen kaum begegnen. Wo keine persönlichen Kontakte bestehen, halten

sich die Vorurteile hartnäckig. Das ist besonders in den großen Städten der

Fall, wie in Sofia, wo alle ohnehin nicht viele Muslime leben.

Atmo

Im Zentrum der Hauptstadt stehen eine Synagoge, eine orthodoxe Kirche und

eine Moschee nur wenige hundert Meter voneinander entfernt und bilden das

so genannte "religiöse Dreieck" auf das Bulgaren gerne hinweisen , wenn sie

das "bulgarische Modell der ethnischen Toleranz" heraufbeschwören wollen.

Und tatsächlich ist es in Bulgarien anders als in Jugoslawien nicht zu blutigen

Auseinandersetzungen gekommen.

Atmo: draußen Straße vor Moschee

Doch trotzdem kommt es auch in Bulgarien immer wieder zu Konflikten, wie

zuletzt im Mai vor der Moschee in Sofia. Nationalisten und Anhänger der

rechtsextremen Partei Ataka hatten beim Freitagsgebet gegen die

Lautsprecher vor der Moschee protestiert. Es begann mit Handgreiflichkeiten,

dann flogen Steine und Blut floss. Seitdem warnt die Behörde des Obersten

Mufti vor zunehmenden antiislamischen Tendenzen in der Gesellschaft.

20

Reportage 5 Autorin

Hussein Hafasov, Generalsekretär des Obersten Muftis in Bulgarien, betritt

mit seiner Frau und Tochter die Banja Baschi Moschee. Es ist der

Fastenmonat Ramadam und Zeit für das Abendgebet. Das historische

Ziegelsteingebäude mit dem aufragenden Minarett ist die einzige Moschee für

die ca. 30 000 Muslime in Sofia.

O-Ton 1: Hafasov Es passen 700 Menschen in die Moschee. Mit großer Mühe schaffen wir es auch, 900 Menschen unterzubringen. Die Übrigen beten entweder draußen im Hof oder auf dem Bürgersteig. Das ist im Sommer und Winter ziemlich hart, weil es zu heiß oder zu kalt ist. Damit man draußen zumindest das Gebet hören kann, benutzen wir auch Lautsprecher. Autorin

Lautsprecher und betende Muslime auf dem Bürgersteig - viele Bürger fühlen

sich dadurch gestört, weshalb die Moschee immer wieder zum Gegenstand

von Auseinandersetzungen wird. Hussein Hafasov schaut sich im Inneren der

Moschee um und zeigt auf die wenigen Teppichreihen, die sich langsam mit

Menschen füllen.

O-Ton 2: Hafasov Warum reizt das die Christen? Die einzige Antwort, die ich darauf finde, ist, dass sie den Islam ablehnen. Es geht ihnen nicht um den Lärm, sondern darum, dass der Islam nicht frei ausgeübt werden soll. Das ist sehr beunruhigend. Denn dass die Menschen auf dem Bürgersteig beten, ist keine Provokation. Es bedeutet einfach nur, dass es keinen Platz in der Moschee gibt. Autorin

Genau deswegen fordert die muslimische Gemeinde schon seit Jahren den

Bau einer zweiten Moschee in Sofia, kombiniert mit einem Kulturzentrum.

O-Ton 3: Hafasov Wir reichen Dokumente beim Rathaus ein, aber die geben uns überhaupt keine Antwort. Sie sagen weder, ob wir die Bedingungen erfüllt haben oder nicht. Wir bekommen einfach keine Antwort. Weder positiv noch negativ. Das ist beunruhigend, weil das die Haltung insgesamt dem Islam und Muslimen

21

gegenüber zeigt.

Autorin

Hussein Hafasov setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. Der große,

stattliche Mann redet schnell und eindringlich. Seine Position macht ihn zum

Sprachrohr und Vermittler zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Doch ein

wirklicher Dialog zwischen den Religionen, wie ihn der 35-Jährige führen

möchte, scheint immer weniger möglich zu sein. In letzter Zeit haben

antimuslimische Straftaten zugenommen: eingeschlagene Fensterscheiben,

Schmierereien an den Wänden, Muslime werden auf der Straße beleidigt oder

geschlagen. Hafasov hat deswegen einen Aufruf an die Regierung geschickt,

um vor antiislamischen Tendenzen zu warnen. Doch weder die Polizei noch

die zuständigen Behörden nehmen die Vorfälle ernst.

O-Ton 4: Hafasov Der Staat und die Gesellschaft behaupten, dass sie tolerant seien. Das sind nur Worte. Man muss auch Taten folgen lassen, die zeigen, dass die Gesellschaft wirklich tolerant ist. Statt uns zu sagen, dass wir kein Recht haben auf eine zweite Moschee, ein Kulturzentrum, auf das Kopftuch, auf Minarette. Wir achten die Gesetze, wir wollen ein Teil der bulgarischen Gesellschaft sein. //Und wir sind für Integration. Aber man muss klar sagen, dass es nicht um eine kulturelle Integration gehen kann. Weil kulturelle Integration bedeutet Assimilation. Autorin

Heute ist die Moschee nur mäßig besucht. Husseins Frau Nesibe und die 13-

jährige Tochter haben sich auf die Ballustrade der Frauen begeben, von hier

aus sehen sie durch ein Holzgitter hinunter in den Gebetsraum der Männer.

O-Ton 5: Nesibe Heute gibt es ein Gebet, das charakteristisch ist für den Monat Ramadan. Es dauert länger. Mit dem Abendgebet wird dann auch das Fasten gebrochen. Man trinkt Wasser oder etwas anderes, und danach isst man zu Abend.

Autorin

Das Gebet beginnt, Nesibe steht aufrecht in einer Reihe mit zehn anderen

Frauen, sie gehen auf die Knie, berühren den Boden mit der Stirn. Seit vier

Uhr morgens hat sie nichts gegessen und getrunken, wie es die Religion

verlangt. Die schmale, zarte Frau trägt das Kopftuch eng und kunstvoll

22

gewickelt, sie trägt es nicht nur zum Gebet. Doch auf der Straße bekommt sie

deswegen oft Ärger.

O-Ton 6: Nesibe Die Leute fragen: Warum trägst du Kopftuch? Nimm es ab, oder wir werden es dir abnehmen. so was. Dass wir hier in Bulgarien keinen Platz haben, wenn wir so aussehen. Deswegen habe ich eigentlich jeden Tag Angst, wenn ich rausgehe. Vielleicht wollen sie, dass wir so sind wie sie. Aber wir tragen das Kopftuch nicht aus Zwang, und mit Zwang werden sie uns nicht dazu bringen, es abzunehmen. Autorin

Nach dem Gebet werden Essenstüten verteilt, darin sind Brot, Reis, ein

bisschen Fleisch und das Joghurtgetränk Ayran. Die Frauen breiten eine

Plastikplane auf dem Boden aus, sie nehmen Platz und packen das Essen

aus. Nesibe und Hussein kommen aus einem Dorf an der Schwarzmeerküste,

wo viele Muslime wohnen. Da war das Leben für Muslime einfacher, erzählt

Nesibe. Eine junge Frau hört aufmerksam zu und mischt sich in das

Gespräch.

O-Ton 7: junge Frau Mir fehlt das Gefühl, dass das hier unserer Heimat ist. Weil wir hier leben und uns entwickeln wollen. Aber die Gesellschaft, die Regierung läßt uns keine Ruhe. Viele Muslime emigrieren deswegen. Mir fehlt das Gefühl, hier willkommen zu sein. Denn wir sind hier zu Hause und hier wollen wir bleiben.

Autorin

Nach dem Essen packen die Frauen die Plane zusammen und fegen die

Krümel vom Teppich. Nesibe und ihre Tochter steigen die Treppe hinab,

unten wartet bereits Hussein Hafasov. Sie sind es leid, ihren christlichen

Mitmenschen zu erklären, dass sie sich als Bulgaren fühlen. Dass nur ihre

Religion eine andere ist. Die Familie wendet sich zum Gehen. Bis zum

Morgengebet um vier Uhr am nächsten morgen können sie nun essen und

trinken, dann wird wieder gefastet. Ein bisschen traurig zuckt Hussein mit den

Schultern, als er am Ende noch etwas loswerden will.

O-Ton 8: Hafasov Die bulgarischen Muslime könnten ein wunderbares Modell sein für einen

23

europäischen Islam. Wir sind keine Migranten oder Gastarbeiter. Wir leben hier seit sechs, sieben Jahrhunderten. Wir könnten unsere Erfahrung in die EU einbringen. Aber leider haben wir im Moment nicht die vollen Möglichkeiten uns zu entwickeln.

ABMODERATION: Gesichter Europas. Schweres Erbe – Muslime in Bulg arien Mit Reportagen von Dirk Auer und Simone Böcker Die Musikauswahl traf Babette Michel

Die Literaturauszüge las Bruno Winzen

Moderation: Britta Fecke.