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SD 51 Sonderdrucke und Sonderveröffentlichungen SD51 Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899 – 1945 Peter Reinicke

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SD51

Sonderdrucke und Sonderveröffentlichungen

SD51

Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899 – 1945Peter Reinicke

Sonderdrucke und Sonderveröffentlichungen (SD 51)

Eigenverlag des Deutschen Vereinsfür öffentliche und private Fürsorge e.V.Michaelkirchstraße 17/18, 10179 Berlinwww.deutscher-verein.de

Druck: H. Heenemann GmbH, 12103 Berlin

Satz: Barbara SchmeißnerUmschlagfoto: Soziale Frauenschule Aachen (1930) (ADCV CA VIII 38 F)

Printed in Germany 2012ISBN 978-3-7841-2131-4

Veröffentlicht mit Förderung durch das Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

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Einführung

Vorwort

In der vorliegenden Arbeit werden alle in Deutschland von 1899 bis 1945 für die Ausbildung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wirkenden Einrich-tungen beschrieben. Die Darstellung der einzelnen Ausbildungsangebote, Se-minare oder Schulen ist abhängig vom nachweisbaren Material. Es wird die Angebotsvielfalt einzelner Ausbildungseinrichtungen, vor allem in der Anfangs-phase, gezeigt, um die verschiedenen Entwicklungsansätze zu kennzeichnen. Die Recherche des Materials gestaltete sich teilweise schwierig. Häufig standen keine Archive oder Ähnliches zur Verfügung. In Einzelfällen konnten ehemalige Studierende oder Lehrkräfte ausfindig gemacht werden, die zur Unterstützung des Vorhabens bereit waren.

Dank sagen möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschie-denen Archive in Deutschland, die häufig in mühsamer Kleinarbeit mir bei der Beschaffung der historischen Materialien geholfen haben. Sie alle einzeln zu nennen, würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Vertretungsweise genannt werden sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs des Deutschen Caritasverbandes Freiburg, des Archivs und der Bibliothek des Diakonischen Werkes Berlin, des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen Berlin und das Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin-Sammlung Rott, seit Sommerse-mester 2012 eingegliedert in das Archiv der Humboldt-Universität Berlin, für ihre umfangreiche und aufwendige Unterstützung. Dank gilt auch Dr. Sabine Schmitt und Ralf Mulot vom DV, die dem Verfasser mehrfach Mut machten, die umfang-reichen Forschungsarbeiten fortzuführen und dadurch zum Gelingen der Arbeit beitrugen. Besonderer Dank gilt meiner Frau Marianne, die mit großer Geduld und viel Interesse diese Arbeit unterstützt und durch ihre Anregungen und Kritik zum Gelingen des Buches beigetragen hat.

Peter ReinickeBerlin, im August 2012

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Jürgen Hartwig

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 3

A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde 11

B. Entwicklung der pro fessionellen Aus bildung von den Anfängen bis 1933 211. Die Gründung der Sozialen Frauenschulen 23

1.1 Die Anfänge in Berlin 231.2 Träger der Ausbildungsstätten 26

2. Berufsbezeichnung und staatliche Anerkennung 28

3. Die Regelung der Ausbildung 333.1 Die Konferenz der Sozialen Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen Deutschlands 333.2 Die staatliche Anerkennung der Wohlfahrtsschulen 403.3 Erlass von Prüfungsordnungen 41

4. Auswahl und Qualifikation der Lehrkräfte 42

5. Die Schülerinnen und Schüler der Ausbildungsstätten 445.1 Zulassungsbedingungen 445.2 Soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler in den Anfangsjahren 445.3 Einbeziehen von Frauen aus der Arbeiterklasse 465.4 Nachschulungskurse 505.5 Entstehen sozialer Ausbildungsstätten für Männer 515.6 Kosten der Ausbildung 565.7 Arbeitsplätze für Absolventinnen und Absolventen 57

6. Ausbildungsinhalte 586.1 Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 616.2 Sozialarbeiterausbildung und Universitäten 636.3 Abschlussprüfungen an den Schulen 656.4 Der praktische Teil der Ausbildung 666.5 Exkursionen im Rahmen der Ausbildung 686.6 Beratung und Anfänge von Supervision in der Ausbildung 68

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Inhaltsverzeichnis

C. Die Ausbildungsstätten im Nationalsozialismus 711. Auswirkungen der politischen Vorgaben auf die Schulen 76

2. Übernahme der Schulen in kommunale Trägerschaft 80

3. Neuordnung der Ausbildung im Nationalsozialismus 82

4. Lehrinhalte der Volkspflegeschulen 85

5. Die Ausbildungsstätten im Jahre 1945 91

D. Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit (1899–1945) 93Aachen

Soziale Frauenschule Aachen 96Caritas-Wohlfahrtsschule für männliche Berufe Aachen 103

AugsburgChristlich-soziales Frauenseminar des DEF Augsburg 106Soziale Frauenschule Augsburg 109

BerlinJahreskurse für soziale Hilfsarbeit/ Soziale FrauenschuleSchöneberg (ab 1908) 112Sozialpädagogisches Seminar des Jugendheims Charlottenburg 119Seminar für Jugendwohlfahrt Berlin 122Frauenschule des Paul Gerhardt-Stifts Berlin 134Frauenseminar des Diakonissenhauses Teltow bei Berlin 137Frauenschule der Inneren Mission Berlin 140Evangelisches Frauenseminar Berlin 146Städtische Wohlfahrtsschule für Fürsorgerinnen in Charlottenburg 150Soziale Frauenschule des KFD – Zweig verein Berlin 154Wohlfahrtsschule des Evangelischen Johannesstiftes Berlin-Spandau 158Wohlfahrtsschule des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt, Berlin 161Jugendpflegeschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost 166

BeuthenOberschlesische Fachschule für soziale Berufe in Beuthen 172

BielefeldEvangelische Wohlfahrtsschule der Evangelischen Frauenhülfein Bielefeld 174

Blumberg Reichsseminar der NS-Volkswohlfahrt Blumberg 178

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Inhaltsverzeichnis

BremenSoziale Frauenschule des Frauen-Erwerbs- und Ausbildungs vereinsBremen 182

BreslauSoziale Frauenschule der Stadt Breslau 186

DanzigSoziale Frauenschule, Wohlfahrtsschule Danzig 190

DarmstadtWohlfahrts- und Pfarrgehilfinnenschule des Hessischen Diakonievereins Darmstadt 196

DortmundFürsorgerinnen-Schule der Zentrale des Katholischen FürsorgevereinsDortmund 199Westfälische Provinzialschule für Volkspflege in Dortmund 204

DresdenSoziale Frauenschule zu Dresden 207Staatliche Wohlfahrtsschule Hellerau, Dresden-Hellerau 210Soziale Frauenschule Dresden 213

DüsseldorfNiederrheinische Frauen-Akademie Düsseldorf 220

EisenachNeuland-Wohlfahrtsschule Eisenach 226

ElberfeldEvangelisch soziales Frauenseminar Elberfeld 229

Frankfurt (Main)Frauenseminar für soziale Berufsarbeit Frankfurt a.M. 232

Frankfurt (Oder)Städtische Frauenschule für Volkspflege Stadt Frankfurt (Oder) 238

FreiburgSoziale Frauenschule (Caritasschule) Freiburg 239Berufsschule für männliche Wohlfahrtspfleger Freiburg 245Evangelische Frauenschule für kirchliche und soziale Arbeit Freiburg 251

GehlsdorfEvangelische Wohlfahrtsschule Gehlsdorf 255

GelsenkirchenSoziale Frauenschule der NS-Volkswohlfahrt Gelsenkirchen 260

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Inhaltsverzeichnis

Hamburg Christlich-soziales Frauenseminar Hamburg 262Soziale Frauenschule und Sozialpädagogisches Institut Hamburg 264Wohlfahrtsschule der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses Hamburg 272

HannoverChristlich-Soziale Frauenschule des DEF Hannover 275Wohlfahrtsschule des Stephansstifts, Hannover-Kleefeld 279

HeidelbergKatholische Soziale Frauenschule Heidelberg 283

JenaWohlfahrtsschule der Universitätsstadt Jena 286

KaiserswerthEvangelisches Frauenseminar Kaiserswerth 291

KarlsruheSoziale Frauenschule des Badischen Frauenvereins Karlsruhe 295

KasselFrauenschule des Hessischen Diakonissenhauses zu Kassel 298

KielWohlfahrtsschule für Schleswig-Holstein, Kiel 300

KölnSchule für Kommunale Wohlfahrtspflegerinnen 305

Königsberg in Pr.Soziale Frauenfachschule zu Königsberg in Pr. 311

LeipzigSozialpädagogisches Frauenseminar der Stadt Leipzig 316

LudwigsburgWohlfahrtspflegerschule Karlshöhe in Ludwigsburg 322

MannheimSoziale Frauenschule Mannheim 326

MünchenSoziale und caritative Frauenschule München 330Soziale Frauenschule der Stadt München 335

MünsterWohlfahrtsschule Münster 340NSV.-Seminar für Volkspflegerinnen Münster 346

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Inhaltsverzeichnis

NürnbergSoziale Frauenschule der Stadt Nürnberg 347Evangelisch soziale Frauenschule Nürnberg 351

OlpeNSV.-Seminar für soziale und sozialpädagogische Berufe Olpe 355

OppelnProvinzial-Bildungsanstalt für Frauenberufe Oppeln 357

PosenBildungsanstalt für sozialpädagogische Frauenberufe Posen 360

ReichenbergBildungsanstalt für sozial-pädagogische Frauenberufe Reichenberg(Sudetengau) 364

RheinsbergReichsseminar der NS-Volkswohlfahrt Rheinsberg 366

StettinSoziale Frauenschule für ländliche Wohlfahrtspflege in Pommern, Stettin 369

StuttgartSoziale Frauenschule des Schwäbischen Frauenvereins Stuttgart 375

ThaleWohlfahrtsschule und Allgemeine Frauenschule Thale am Harz 382

WeimarWohlfahrtsschule des Sophienhauses zu Weimar 387

E. Fazit 391

Quellen- und Literaturverzeichnis 3971. Archivalische Quellen 3972. Gedruckte Quellen und Literatur 402

Abkürzungsverzeichnis 420

Personenregister 423

Der Autor 427

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Inhaltsverzeichnis

A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

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Jürgen Hartwig

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

Die professionelle Sozialarbeit in Deutschland blickt heute auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Dieser Beruf hat einen beeindruckenden und interessanten Weg genommen. Er ist, dank seiner Pionierinnen und Pioniere, nicht mehr aus dem gesellschaftlichen und sozialen Leben der Bundesrepublik Deutschland wegzudenken. Die Geschichte der Sozialarbeiterausbildung und ihrer Ausbildungsstätten wurde bisher noch nicht geschrieben. Es gibt Darstel-lungen einzelner Schulen, aber einen Gesamtüberblick aller Einrichtungen, die in Deutschland Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ausbildeten, gibt es nicht. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Rekonstruktion der Geschichte von 69 Aus-bildungsstätten der sozialen Arbeit von 1899 bis 1945 anhand von Dokumenten und Lebensbildern.

Die seit 1899, dem Beginn der professionellen Ausbildung der Sozialarbeiterin-nen, später auch der Sozialarbeiter, entstandenen Ausbildungsstätten bieten ein sehr interessantes und vielfältiges Bild der Erwachsenenbildung in Deutschland. Viele der Schulen existieren nicht mehr. Einige von ihnen wurden nach der Ver-abschiedung einer staatlichen Prüfungsordnung im Jahre 1920 geschlossen, an-dere im Zusammenhang mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg. Teilweise lagen die Schulen in Gebieten, die heute zu Polen oder Russland gehören, oder auf dem Gebiet der DDR. Dort fand die Ausbildung aufgrund des anderen politischen Verständnisses keine Fortführung.

Bevor die einzelnen Schulen vorgestellt werden, sollen die Anfänge des neuen Berufes beschrieben werden, der aus den Mädchen- und Frauengruppen für so-ziale Hilfsarbeit und ihrem Wirken hervorging. Ralf Christian Amthor beschäftigt sich in seiner Publikation „Die Geschichte der Berufsausbildung in der sozia-len Arbeit“ mit den „historischen Wurzeln der Berufsausbildung“ und verweist darauf, dass nach seiner Einschätzung „Uneinigkeit“ bestehe, „wann und wo eine Ausbildung für soziale Berufe […] für Schüler oder Studenten angeboten wurde“.1 Die von Amthor angedeutete Unsicherheit ist durchaus berechtigt, wenn er von dem übergreifenden Begriff „Soziale Arbeit“ ausgeht. Bezogen auf den in der vorliegenden Studie behandelten Komplex „Sozialarbeiterausbildung und ihre Ausbildungsstätten“ sind die „historischen Wurzeln“ nach Erkenntnis des Verfassers eindeutig belegbar.

Susanne Zeller schrieb 1994 in ihrer Veröffentlichung „Geschichte der Sozialar-beit als Beruf“:

1 Amthor 2003, 17.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

„Die Pioniereinrichtungen zur Ausbildung sozialer Berufsarbeiterin-nen haben sich in Deutschland im Gegensatz zur Ausbildung in den angelsächsischen Ländern außerhalb akademischer Institute entwickelt. […] Für die Begründerin des Berliner Jahreskursus der Mädchen- und Frauengruppen Jeanette Schwerin und ihrer späteren Mitarbeiterin Alice Salomon wurde eine fachliche Ausbildung für soziale Arbeit zentrales Anliegen.“2

Christoph Sachße wies 2003 in seiner Arbeit „Mütterlichkeit als Beruf“ darauf hin, dass es die bürgerliche Frauenbewegung war, die ein spezifisches weibli-ches Emanzipationsideal entwarf, „auf dessen Grundlage Sozialarbeit als Frauen-beruf konzipiert und realisiert wurde“.3 Die Mädchen- und Frauengruppen boten mit ihrem Konzept eine neue Organisationsform an:

„In der Tat: ein systematisches Nebeneinander von praktischer Tätigkeit und theoretischer Ausbildung, die beanspruchte, nicht ‚einen neuen ge-lehrten Ballast der Frauenbildung’, sondern ‚Mittel zu dem Zwecke zu sein, die Frauen und jungen Mädchen zu einer umsichtigen und planmä-ßigen praktischen Tätigkeit anzuregen’.“4

Eine professionelle Berufsausbildung gab es vor den seit 1899 in Berlin stattfin-denden Jahreskursen der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ nicht; sie waren der Ausgangspunkt für den neuen und eigenständigen Beruf der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Sie bereiteten auf ehrenamtliche und be-soldete Tätigkeiten vor. Beratung und Betreuung im Bereich sozialer Arbeit durfte nach ihrem Verständnis und dem ihrer Partner nur mit einer vorher erworbenen Qualifikation geleistet werden, und die vorbereitenden Kurse mussten theoreti-sche und praktische Teile umfassen. Alle danach entstandenen Ausbildungsinitia-tiven für den künftigen Beruf der Sozialarbeiter/innen orientierten sich an diesem Modell. Alice Salomon schrieb 1927 rückblickend:

„Der Beginn einer Schulung zur sozialen Arbeit, zur Wohlfahrtspfle-ge im Sinne eines festumrissenen bürgerlichen Berufes, der bestimmte Kenntnisse, ein fachliches Können voraussetzt und die Möglichkeit des Lebensunterhaltes bietet, setzt aber unabhängig und ohne unmittelbare Anknüpfung an jene Vorgänger ein, im Zusammenhang mit den Um-

2 Zeller 1994, 36.3 Sachße 2003, 108 f.4 Sachße 2003, 118.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

wandlungen der Wohlfahrtspflege und dem Erwachen der Frauen zum Bewusstsein ihrer sozialen Mission.“5

Albert Mühlum weist in seinen Untersuchungen zum Themenkomplex „Sozialar-beit und Sozialpädagogik“ darauf hin, dass „die Wohltätigkeitsbewegung des 19. Jh. vor der Jahrhundertmitte noch weithin Armenpflege und Almosenwesen“ war. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte sich endgültig die Erkenntnis durch, dass auch Erziehung, Arbeitsvermittlung und soziale Reformen mit dem Fürsorgegedanken zu verbinden seien. Die zunehmende Veränderung der Hilfe-möglichkeiten für Betroffene, der „Wandel von der privaten und ehrenamtlichen Wohltätigkeit […] zur vollberuflichen sozialen Arbeit“ verlangte dringend das Aufgreifen der „Frage der beruflichen Ausbildung“.6

Bereits vor den Berliner „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ hatte es Ausbildungsbemühungen für Tätigkeiten im sozialen Bereich gegeben. Ein Beispiel dafür ist Amalie Sieveking, die in Hamburg 1832 gemeinsam mit zwölf anderen Frauen den „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ gründete. Nach Alice Salomon sei sie „die eigentliche Begründerin der weibli-chen Vereinstätigkeit“ gewesen, so Manfred Berger.7 Als weiteres Beispiel kann die Hamburger Frauenhochschule genannt werden, die von 1850 bis 1852 be-stand. Sie war u.a. von Emilie Wüstenfeld und Bertha Traun zusammen mit Karl Fröbel gegründet worden. Diese Einrichtung bemühte sich auf wissenschaftli-chem Niveau, Frauen, die dem Schulalter entwachsen waren, Allgemeinbildung zu vermitteln. Ein Schwerpunkt bildete die Erziehungslehre.8

Theodor Fliedner schuf 1836 im evangelischen Bereich Diakonissenhäuser, in dem künftige Diakonissen, analog zur katholischen Ordensschwester, für ihre Betreuungsarbeit angeleitet und ausgebildet wurden. Johann Hinrich Wichern begann 1845 mit der Ausbildung von „männlichen Kräften“ (Diakone), die er im Rahmen seines Wirkens im „Rauhen Haus“ in Hamburg anfangs bei der Be-treuung von Kindern und Jugendlichen einsetzte. Der Centralausschuß für die IM erweitere die Angebote und nahm 1878 in seine Satzung als eine „weitere Auf-gabe die Gründung von Bildungsanstalten für Arbeiter der Inneren Mission auf“.9

Die Kindergärtnerinnenausbildung hat in Deutschland eine längere Tradition. Einrichtungen für diese Ausbildung, unter Einbeziehung von Erziehungsvorstel-

5 Salomon 1927, 4.6 Mühlum 1981, 75 f.7 Berger 1998 a, 551 f.8 Amthor 2003, 179.9 Salomon 1927, 4.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

lungen Johann Heinrich Pestalozzis und Friedrich Fröbels, sind eng mit dem Na-men Henriette Schrader-Breymann und ihren Einrichtungen in Watzum, später Wolfenbüttel (Neu-Watzum) und nach ihrer Heirat mit Karl Schrader mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin verbunden. Henriette Goldschmidt beschäftig-te sich in Leipzig intensiv mit Fragen der Kindererziehung. Im Dezember 1871 gründete sie den „Verein für Familien- und Volkserziehung“ in Leipzig und schuf dort 1872 eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen. 1911 gründete sie in Leipzig die „Hochschule für Frauen“, das spätere Sozialpädagogische Seminar.

Anlässe für die Entwicklung des Sozialarbeiterberufs waren u.a. die sich mit der Industrialisierung verändernden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Im Vordergrund standen die zunehmende soziale Not, die entstehenden Slums in den Großstädten, die sich verändernden Bedingungen für Gesundheit und Krankheit. Die immer stärker werdende Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung bewirkte in den bürgerlichen Kreisen Diskussionen um die Frage, wie diesen Bedrohungen für das bestehende Gesellschaftssystem begegnet werden konnte.

Die im Ausgang des 19. Jahrhunderts entstehenden sozialen Bewegungen sind ein Indiz für die sich anbahnenden Veränderungen im gesellschaftlichen Mitei-nander. Sie „entwickelten in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts neue und alternative Verfahren zu einem anderen, ‚sozialpädagogischen’ Umgang mit Armut, Hilflosigkeit und Erziehungsbedürftigkeit“.10 Vertreter dieser sozialen Ideen bemühten sich, die von der neuen Gesellschaftsordnung Profitierenden in die Hilfe für die Armen und Schwachen einzubeziehen.

Für die Sozialarbeit wurde die 1892 in Berlin ins Leben gerufene „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ ein wichtiger Ideengeber. Deren Mitglieder re-krutierten sich weitgehend aus dem aufgeklärten Bürgertum. Die Idee war, ein unabhängiges, über den unterschiedlichen sozialen Schichten und Weltanschau-ungen stehendes Forum zu schaffen, um „die Entwicklung ethischer Kultur zu pflegen“. Die Vertreter dieser Position verstanden darunter „einen Zustand, in welchem Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitige Achtung walten“. Eine Beteiligung an der Verbesserung „der Lebenslage der un-teren Volksschichten“ sei ein Ziel der Mitglieder, hieß es im Gründungsprotokoll der Abteilung Berlin am 6. November 1892.11

10 Müller 1988, 20.11 Von der Armenpflege zum Sozialstaat, 1993, 17.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

Ausgehend von dieser Gesellschaft kam es am 5. Dezember 1893 auf Anre-gung von Minna Cauer in Berlin zur Gründung der „Mädchen- und Frauen-gruppen für soziale Hilfsarbeit“. Vorsitzende der Berliner Gruppen war bis zu ihrem Tode 1899 Jeanette Schwerin, ihre Nachfolgerin wurde Alice Salomon. Weitere Gruppen entstanden u.a. in Bremen, Frankfurt/Main, Halle/Saale, Ham-burg, Königsberg, Leipzig, Mannheim und Wien. Ein wichtiges Motiv für die Gruppenaktivitäten war, „Hilfen für sozial Schwächere“ zu leisten, um dadurch „jener Verbitterung“ entgegenzuwirken, die durch den Mangel an Interesse und Verständnis für die Anschauungen und Empfindungen der unbemittelten Klas-sen und durch den Mangel jeden persönlichen Verkehrs mit diesen Volkskreisen entstanden war. Das Entstehen der Mädchen- und Frauengruppen war auch ein wichtiger Schritt für Veränderungen der Lebensbedingungen von Frauen aus bür-gerlichen Kreisen. Für die Betroffenen bot sich die Möglichkeit, bisherige Struk-turen zu verlassen und neue Wege der Lebensgestaltung zu gehen. Frauen konn-ten zu dieser Zeit in Preußen noch kein Abitur ablegen, nicht studieren, kein politisches Amt übernehmen und hatten im gesamten Deutschen Reich noch kein aktives und passives Wahlrecht. Möglichkeiten einer Berufsausbildung für Frauen waren kaum vorhanden.

In Alice Salomons Biografie heißt es dazu: „Es handelt sich um keinerlei ‚Eman-zipationsbestrebungen’, es handelt sich lediglich darum, junge Mädchen und Frauen zu ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit heranzuziehen.“ Geplant war der Aufbau einer Organisation auf breiter Grundlage unter Mit-wirkung der Leiter von bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen: „Beabsichtigt ist eine theoretische Ausbildung durch Vorträge sowie eine praktische Tätigkeit der Frauen und jungen Mädchen.“12 Ein Förderer wurde Emil Münsterberg, seit 1897 Vorsitzender der Armenkommission der Stadt Berlin sowie langjähriger Mitwir-kender in Gremien des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ (DV)13 und 1911 dessen Vorsitzender. Nach Münsterberg „sollten die Frauen über den gefährlichen Dilettantismus in der sozialen Arbeit hinauswachsen, eine Idee, mit der er sich mit Frau Schwerin in vollem Einklang befand. Schon früh war es sein Ideal, eine Schule zu gründen, in der die Mädchen der wohlhaben-den Schichten sich in berufsmäßiger Weise für die Soziale Hilfsarbeit vorbereiten sollten.“14

Die Arbeit in den Gruppen für soziale Hilfsarbeit bedeutete auch ein Mitwirken im Interesse der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Bezieht man es

12 Peyser 1958, 20.13 Seit 1919 lautet der Name: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge.14 Peyser 1958, 34.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

auf die Ausbildung, war es die Auseinandersetzung um das gleiche Recht für Frauen, z.B. zur Ausbildung an höheren Schulen und an Universitäten zugelas-sen zu werden. Rückblickend lässt sich feststellen, dass hier der Ausgangspunkt für die Entwicklung moderner Frauenberufe war.

Frauen mussten sich ihr Recht, an den Veränderungen mitzuwirken, auch für den Bereich der sozialen Arbeit erkämpfen. Interessant sind dazu zwei Positionen, die Alice Salomon aufzeigte. Sie weisen auf die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Männern und Frauen der damaligen Zeit hin. Ein deutscher Gelehrter formulierte zusammenfassend: „Wenn ich an meinem geistigen Auge die Wun-derwerke der Kultur vorüberziehen lasse, so komme ich zu dem Ergebnis: dies alles ist Männerwerk.“ Alice Salomon stellte die Gedanken von Frauen dagegen:

„Uns Frauen pflegen sich andere Bilder andere Schlussfolgerungen auf-zunötigen. Wenn wir auf der Straße einen Trupp Soldaten an uns vo-rüberschreiten sehen, oder wenn sich die Tore einer Fabrik öffnen und eine Schar von Männern herausströmt, so drängt sich uns unwillkürlich der Gedanke auf: jeder einzelne von ihnen einer Mutter Sohn! Unter Schmerzen geboren, mit Sorgen und Mühen auferzogen; so teuer erkauft und doch im sozialen Leben so gering gewertet. Hat da die Frau wirk-lich keine Aufgabe im Gemeinschaftsleben, keine Bedeutung für unsere Kultur.“15

Die professionelle Sozialarbeit wurde nach Alice Salomon notwendig, „weil bei der Ausdehnung der Wohlfahrtspflege auf immer neue Arbeitszweige die Ge-winnung genügend freiwilliger, unbezahlter Kräfte Schwierigkeiten machte, weil die Wohlfahrtspflege zu einer Wissenschaft und Kunst wurde, die ohne fachliche Kenntnisse nicht geübt werden kann“.16 Mit ihren Aussagen verwies Salomon auch auf den schwierigen Weg, den die Frauen gehen mussten, um zu eigenstän-digem und selbstbewusstem Handeln zu gelangen.

Unterstützung für ihre Ausbildungsbemühungen fanden die Frauen u.a. bei Al-bert Levy.17 Aufgrund langjähriger Erfahrungen als Leiter der „Zentrale für private Fürsorge“, einer Berliner privaten Einrichtung für Hilfesuchende und -gebende, hielt Albert Levy eine Ausbildung für Tätigkeiten in diesem Bereich für zwin-gend erforderlich. Für ihn waren in diesem Zusammenhang zwei Grundsätze für die Ausbildung künftiger Sozialarbeiter/innen beachtenswert: Wenn sich die

15 Salomon 1917, 10 f.16 Salomon 1928, 175.17 Reinicke 2007 a.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

Ausbildung auf das ganze große Gesamtgebiet der sozialen Fürsorge erstrecke, „umso gründlicher werde jeder nachher auf sein Spezialgebiet sich vorbereitet fühlen“. Und die Ausbildung könne sich „nur in einer organischen Verbindung von Theorie und Praxis vollziehen“.18 Dies sind zwei Grundsätze, die heute noch Bedeutung haben.

Auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins im Jahre 1894, die sich mit „ehrenamtlicher und berufsamtlicher Thätigkeit in der städtischen Armenpflege“ beschäftigte, äußerte Friedrich Eberty, Stadtältester von Berlin:

„Für Ärzte fordert man mit Recht den strengen Nachweis ihrer Befähi-gung für ihren Beruf. Der Wohltätigkeit übende Bürger ist ein sozialer Arzt; die schwere Kunst des Wohltuns sollte Dilettanten oder gar Pfu-schern lieber nicht überlassen bleiben.“19

Der DV hatte sich schon 1880, 1881 und 1885 dafür ausgesprochen, Frauen für die Arbeit in der „öffentlichen Armenpflege“ heranzuziehen, und diese Forde-rung 1896 auf seiner Jahresversammlung in Straßburg erneut aufgegriffen.20 1907 machte Albert Levy auf der Eisenacher Jahresversammlung des DV, die sich u.a. mit dem Thema „Fachliche und berufliche Bildung in der Armenpflege“ beschäf-tigte, deutlich, dass die Armenpflege „früherer Zeit gegenüber ihren Grundcha-rakter verändert hat, indem sie ihre rein caritative Basis verließ und sich zu einer Arbeit entwickelte, einer Arbeit, die an Stelle der mehr instinktartigen Regung des guten Herzens die Forderung eines planmäßigen und systematischen Vorge-hens setzte“.21

Alice Salomon wies auf dieser Tagung in einem Diskussionsbeitrag darauf hin, „dass, soweit überhaupt in Deutschland von einer beruflichen und fachlichen Ausbildung in der Armenpflege im weiteren und im engeren Sinne etwas ge-schieht, dies ganz vorwiegend in der Hand von Frauen liegt, die weit mehr als ein Jahrzehnt auf diesem Gebiete ganz verzweifelte und opferwillige Versuche gemacht haben“. Sie hatten anfangs mit ganz erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, ehe es ihnen gelang, diesen Versuch auf eine feste Grundlage zu stel-len. Sie lobt in ihrem Beitrag den DV:

18 Levy 1907, 31.19 Stenographischer Bericht, 1894, 101.20 Stenographischer Bericht, 1896, 87 und 90.21 Stenographischer Bericht, 1907, 70.

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A. Einführung: Warum Sozialarbeit als Beruf notwendig wurde

„Die Tatsache, dass Sie dieses Thema auf ihre Tagesordnung gestellt ha-ben, beweist, dass Ihr Ausschuss der Ansicht war, dass eine solche Aus-bildung nötig und wünschenswert ist.“22

Rückblickend äußerte Alice Salomon 1927:

„Ein wesentlicher Schritt vorwärts geschah in der ganzen Sache, als der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit die Frage: ‚Die fach-liche und berufliche Ausbildung in der Armenpflege’ auf die Tagesord-nung seiner Generalversammlung im Jahre 1907 setzte. […] Als Ergebnis dieser Tagung wurde die fachliche Ausbildung für berufliche und ehren-amtliche Arbeit in der Armenpflege gefordert.“23

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit werden die einzelnen Schritte der Entwick-lung, das Entstehen von Ausbildungsstätten unterschiedlicher, d.h. interkonfessi-oneller, konfessioneller und staatlicher Träger einführend dargestellt. Behandelt werden die Wege, die zur staatlichen Anerkennung des Berufes führten. Es wird auf das Engagement und die Bemühungen der Berufsvertreterinnen um eine qua-lifizierte Ausbildung eingegangen und die Rolle der Männer in diesem Beruf an-gesprochen. Der Nationalsozialismus, sein Einfluss und seine Auswirkungen auf die Ausbildung werden vertieft behandelt. Im zweiten Teil werden die einzelnen Schulen dargestellt, ihre Träger, Lehrangebote, Prüfungen, Ziel der Ausbildung und Biografien der Leitungen. Wichtige Quellen waren u.a. Prospekte (Werbe-schriften) der einzelnen Ausbildungsstätten, Jahresberichte, Dokumente und Tex-te der Dozent/innen und Absolvent/innen.

22 Stenographischer Bericht, 1907, 94.23 Salomon 1927, 4.

B. Entwicklung der pro fessionellen Aus-bildung von den Anfängen bis 1933

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Jürgen Hartwig

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1. Die Gründung der Sozialen Frauenschulen

1. Die Gründung der Sozialen Frauenschulen

1.1 Die Anfänge in Berlin

Die Gründung der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Ber-lin durch Minna Cauer kann als Beginn der professionellen Aktivitäten für den künftigen Beruf der Sozialarbeiterin bezeichnet werden. Die Mitglieder sollten „einerseits für praktische soziale Arbeit gewonnen und bei der Arbeit angeleitet werden, andererseits durch sozialwissenschaftliche Kurse theoretisch in die so-zialen Probleme eingeführt werden“.1 Die Mädchen- und Frauengruppen für so-ziale Hilfsarbeit stellten praktisches Tun und die Vorbereitung für diese Aufgaben in den Vordergrund ihres Handelns.2 Die wesentlichen Vereinszwecke waren:

„1. Mädchen und Frauen zur thatkräftigen Unterstützung aller Wohl-fahrtsunternehmungen heranzuziehen, zur Unterstützung nicht durch Geld, sondern durch persönliche Fürsorge;

2. den Mädchen und Frauen, die Wunsch und Willen haben zu helfen, Gelegenheit zu bieten, sich die zu einer wirksamen Hilfeleistung notwendigen Kenntnisse anzueignen.“3

Eine Vielfalt möglicher Bereiche kamen als Einsatzfelder infrage: Betreuungsein-richtungen für Kinder, wie Krippen, Kindergärten und Horte; Blindenanstalten, Volksküchen, Armenpflegevereine, Krankenhäuser usw.4 Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, boten die Mädchen- und Frauengruppen bereits 1893 Vorträge an, in denen sich Mädchen und Frauen auf ihre Tätigkeit vorbereiten konnten. Die in Vorlesungsform angebotenen Kurse hatten folgende Schwer-punkte:

„1. Grundzüge der modernen sozialen Entwicklung,2. Wohlfahrtseinrichtungen für die arbeitenden Klassen,3. Soziale Hilfstätigkeit in England und Amerika,4. Organisationen der öffentlichen und privaten Armenpflege,5. Grundzüge der Hygiene,6. Gesundheitspflege bei Kindern.“5

1 Salomon 1914, 176.2 Salomon 1902, 30 f.3 Lange/Bäumer 1901, 36.4 Ebd.5 Salomon 1917.

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B. Entwicklung der professionellen Ausbildung von den Anfängen bis 1933

Alice Salomon beschrieb Anfangsschwierigkeiten: „Man kann sich heute kaum vergegenwärtigen, wie schwer damals das Interesse der Mitglieder für die theo-retischen Veranstaltungen zu gewinnen war.“6

Eine intensivere Vorbereitung ermöglichten ab 1899 in Berlin die von Jeannette Schwerin und Alice Salomon entwickelten Jahreskurse der Mädchen- und Frau-engruppen. Es ist der Beginn der Ausbildung für eine professionelle Sozialarbeit und beinhaltet das erste theoretische Konzept. Dieses Modell, die Vermittlung theoretischer Kenntnisse aus verschiedenen Wissensbereichen und die Verknüp-fung von Theorie und Praxis, ist heute noch in wesentlichen Kernbereichen Grundlage der Ausbildung für den Beruf der Sozialarbeiter/innen und Sozialpä-dagog/innen.

Die Jahreskurse für soziale Hilfsarbeit hatten zum Zweck, Mädchen und Frauen der besitzenden Stände theoretisch und praktisch auf den verschiedenen Gebie-ten der Wohlfahrtspflege anzuleiten. Inhalte der Ausbildung waren:

„Einführung in die soziale Hilfsarbeit durch Thätigkeit in Krippe, Volks-kindergarten und Kinderhort, und durch theoretische Unterweisung in die Erziehungslehre unter besonderer Berücksichtigung sozialer Ge-sichtspunkte.Einführung in die Armenpflege durch Fürsorgethätigkeit und durch Teil-nahme an Vorlesungen über Armenpflege.Einführung in Fragen der Hygiene, Gesundheitslehre.Einführung in Wohlfahrtspflege durch praktische Arbeit und durch Teil-nahme an Kursen über ‚Ausgewählte Kapitel aus dem Wirtschaftsleben’.“7

Ziel der Ausbildung war, „Mädchen und Frauen durch systematische Ausgestal-tung eines praktischen und theoretischen Arbeitsplans, der für jede Schülerin individuell nach ihren Absichten ausgearbeitet werden soll, eine berufsmäßige Ausbildung zu gewährleisten“. Die Veranstalterinnen formulierten ihre Motive wie folgt:

„Wir glauben, durch derartige Versuche zu einer planmäßigen Ausbil-dung das Niveau der Frauenarbeit auf sozialem Gebiet zu heben, und dem Bedürfnis nach geschulten Kräften, das sich sowohl für ehrenamtli-che wie für besoldete Stellen fühlbar macht, dadurch zu entsprechen.“8

6 Ebd.7 Die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit in Berlin, 1899, 319.8 Ebd., 319 f.

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1. Die Gründung der Sozialen Frauenschulen

1908 eröffnete Alice Salomon, ausgehend von den Jahreskursen, in Berlin die erste Soziale Frauenschule Deutschlands mit einem umfangreichen Ausbildungs-angebot. Andere Städte folgten. Der Schwerpunkt lag in Berlin, wo zwölf Aus-bildungsstätten entstanden.9 1929 standen die deutschen Ausbildungsstätten „hinsichtlich ihrer Zahl und ihrer Durchbildung an der Spitze der Welt. Unter 109 Schulen des Erdkreises zählt Deutschland 36, die Vereinigten Staaten 23, England 10 Schulen; die übrigen Länder haben eine erheblich geringere Anzahl sozialer Ausbildungsstätten.“10

Einladung zur Festsitzung anlässlich des 30-jährigen Bestehens sozialer Berufsausbildung (1929) (ADCV 142 F – 31)

Alice Salomon schrieb 1929, die Schulen bereiteten ihre Schülerinnen auf einen Beruf vor, „der noch nicht in eine so feste Form gefügt ist, wie etwa der Lehrberuf oder die Verwaltungstätigkeit. Die Wohlfahrtspflege ist in ständiger Entwicklung begriffen.“ Sie definierte die Tätigkeit der Sozialarbeiterin folgendermaßen:

9 Reinicke 1984 a; Reinicke 1985.10 Offenberg 1929 a, 603 f.

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B. Entwicklung der professionellen Ausbildung von den Anfängen bis 1933

„Soziale Berufsarbeit ist die Fürsorgearbeit, die im Dienst öffentlicher Körperschaften, der Kirche, der Vereine den Kampf gegen gesellschaft-liche Missstände führt, die die Förderung der kulturell weniger entwi-ckelten Klassen in gesundheitlicher, wirtschaftlicher, geistiger und sittli-cher Beziehung bezweckt. Die Aufgaben, um die es sich dabei handelt, teilt man im Allgemeinen in sozialhygienische, sozialpädagogische, all-gemeine Wohlfahrtspflege und in sozialpolitische Arbeit; auch ist eine scharfe Abgrenzung zwischen den einzelnen Gebieten nicht möglich.“11

Mit dem Angebot einer professionellen Ausbildung für die Wahrnehmung von Aufgaben im sozialen Bereich wurde Frauen die Möglichkeit eröffnet, eine quali-fizierte, eigenständige Berufsarbeit wahrzunehmen. Frauen erhielten damit auch die Chance einer wirtschaftlich unabhängigen Lebensführung. Es waren erste Angebote der Erwachsenenbildung in Deutschland und ein bedeutsamer Schritt für die Emanzipation der Frau. Ein wichtiger Aspekt in den Anfangsjahren war es, sich für eine Berufstätigkeit zu entscheiden und nicht für eine ehrenamtliche Tätigkeit. Damit rechneten nicht alle, beispielsweise in Heidelberg, wo diese Entscheidung der Absolventinnen Erstaunen bei der Geistlichkeit hervorrief. Die dortige Ausbildungsstätte verlängerte die „Studienzeit“, um die Frauen durch eine vermehrte Wissensvermittlung besser für diese Aufgaben vorzubereiten.

1.2 Träger der Ausbildungsstätten

Die Schulträger der Sozialen Frauenschulen boten in den deutschen Städten ein vielfältiges Bild. Anfangs waren es Vereine, Kuratorien oder Einzelpersonen, die sie gründeten. In einigen Orten bauten auch Stadtverwaltungen oder öffentliche Körperschaften eine Schule auf. Helene Weber schrieb 1924:

„Die ersten Ausbildungsstätten sind von solchen Frauen und Männern entstanden, die im praktischen Leben selbst geschaffen hatten und Ziel und Methoden langsam erarbeiteten. Das Leben öffnete den Blick für das Bedürfnis, um wiederum das Leben zu befruchten.“12

Im evangelischen Bereich war es 1905 der Deutsch-Evangelische Frauenbund (DEF), der in Hannover nach dem Vorbild der Berliner Jahreskurse eine christ-lich-soziale Frauenschule gründete und eine „Ausbildungsgelegenheit für soziale Berufsarbeiterinnen und für Mädchen aus gebildeten Familien, die den Wunsch hatten, sich ein Jahr hindurch in der christlichen Liebestätigkeit und sozialen

11 Salomon 1923, 395.12 Weber 1924, 359.

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1. Die Gründung der Sozialen Frauenschulen

Hilfsarbeit zu beschäftigen und fortzubilden,“ schuf. 1904 hatte der „Kapellen-verein“ in Berlin unter der Leitung von Bertha von Kröcher und etwas später der „Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend“ unter Johannes Burckhardt be-gonnen, Berufsarbeiterinnen für die Innere Mission (IM) auszubilden. Aus diesen Anfängen entstand 1909 die Frauenschule der IM.

Im katholischen Bereich gab es 1906 in München ein vom Katholischen Deut-schen Frauenbund (KDF) geschaffenes Ausbildungsangebot unter dem Namen „Seminar für soziale Praxis“. Es stand unter der Leitung von Präses Walterbach, Vertreter der katholischen Kirche und gleichzeitig Vorsitzender des Verbandes süddeutscher Arbeiterinnenvereine. Dort trafen sich „einmal in der Woche eine Reihe von ‚Damen’ […], die sich der sozialen Arbeit widmen wollen und dort Gelegenheit zum Studium der sozialen Frage und der sozialen Praxis“ beka-men.13

Anfangs waren Konkurrenzgedanken im Spiel, die die Gründung von Ausbil-dungsangeboten motivierten, aber nach kurzer Zeit zu einer intensiven Zusam-menarbeit führten. Die Gründung der Konferenz der Sozialen Frauenschulen (Wohlfahrtsschulen) Deutschlands 1917 und die Verankerung der staatlichen Prüfungsordnung und der Ordnung für die staatliche Anerkennung 1917/1920 sind dafür Belege (siehe dazu unten).

Nach Maria Offenberg gab es 1929 folgende Träger:

Öffentliche Körperschaften:Berlin (Deutsche Hochschule für Politik), Breslau, Dresden (Hellerau), Hamburg, Jena, Köln, Leipzig, München, Nürnberg, Stettin.

Interkonfessionelle Vereine:Berlin (Alice Salomon-Schule), Berlin-Charlottenburg (Jugendheim), Berlin (Schule der Arbeiterwohlfahrt), Bremen, Düsseldorf, Frankfurt (Main), Mann-heim, Stuttgart, Thale, Weimar.

Konfessionelle Vereine (katholische):Aachen, Berlin, Beuthen, Freiburg (Frauen und Männer), München, Münster/Dortmund.

13 Peters 1984, 274.

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B. Entwicklung der professionellen Ausbildung von den Anfängen bis 1933

Konfessionelle Vereine (evangelische):Berlin (Innere Mission), Berlin (Ev. Frauenseminar), Berlin (Johannesstift), Bie-lefeld, Danzig, Darmstadt, Dresden, Elberfeld, Freiburg (Frauen), Gehlsdorf, Hannover (Christlich-soziales Frauenseminar), Hannover (Stephansstift), Kaisers-werth, Kassel, Kiel, Königsberg, Nürnberg.

Einzelpersonen als Gründer:Dresden, Heidelberg.14

Vielfach blieben diese Trägerschaften, mit Unterbrechung in der Zeit des Natio-nalsozialismus, auch nach 1945 bestehen. Betrachtet man heute die Hochschul-landschaft im Bereich der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, so bietet die Trägerschaft gegenüber anderen Hochschulbereichen immer noch eine größere Vielfalt. Ne-ben den öffentlichen Trägern sind auch die evangelische und die katholische Kirche immer noch vertreten.

2. Berufsbezeichnung und staatliche Anerkennung

Nach über hundert Jahren professioneller Sozialarbeit ist die Berufsbezeichnung „Sozialarbeiterin/Sozialarbeiter“ immer noch ein Begriff, der nicht selbstver-ständlich benutzt wird und der in der Praxis oft mit Unsicherheiten verbunden ist. Er wird im sozialen Bereich auch von Berufstätigen verwandt, die weder eine adäquate Berufsausbildung erworben noch ein Studium für die Qualifikation So-zialarbeiter/in bzw. Sozialpädagog/in absolviert haben.

Abgeleitet aus dem Namen der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfs-arbeit und ihrem Handlungsauftrag entstand die Bezeichnung „Sozialarbeiterin“. Der Begriff wurde in Anlehnung an andere Berufe, die einer „Arbeit“ nachgin-gen, gewählt. Diese Berufsbezeichnung verwandten die Vertreterinnen des neu-en Berufes auch in ihren Publikationen. So schrieb Gertrud Israel im Jahre 1917:

„Der Begriff der ‚sozialen Arbeit’ überhaupt, wie wir ihn heute verstehen und wie er sicherlich noch manchen Wandlungen unterworfen ist, hat sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt. ‚Soziale Arbeit’ ist die den veränderten Verhältnissen angepasste Form der Liebesarbeit, der Hil-feleistung am bedürftigen Menschen.“15

14 Offenberg 1929 a, 604.15 Israel 1917, 83.

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2. Berufsbezeichnung und staatliche Anerkennung

Sie ging dann näher auf Rolle und Funktion der Sozialarbeiter/innen ein:

„Als Sozialarbeiter stehen sie in Reih und Glied mit den ehrenamtlich tätigen Kräften – gleichgültig, ob sie als ihre Kollegen oder als ihre Ar-beitgeber wirksam sind. Als Beamte, als Angestellte bilden sie einen Er-werbsstand, eine besondere wirtschaftliche Gruppe, und als solche ei-nen Teil der Arbeitnehmerschaft, deren Lebensbedingungen damit auch für sie Geltung bekommen.“16

Israel betonte die Bedeutung professioneller Sozialarbeit:

„Wie die Dinge in der Praxis liegen, kommt heute den beamteten, be-rufsmäßig tätigen Sozialarbeiterinnen eine ganz besondere Stellung in-nerhalb der Volksgemeinschaft zu. Sie bilden den Unterbau der ganzen sozialen Arbeit.“17

Es gab immer wieder Diskussionen über den Namen:

„Das kam auch zum Ausdruck, als bei Beratung der staatlichen Vorschrif-ten dem Kind ein Name gegeben werden sollte. Während die Leiter der Schulen ‚Sozialarbeiterin’ oder ‚Sozialbeamtin’ wünschten, dachte der Vertreter des Ministeriums des Innern an ‚Kreisfürsorgerin’ oder ‚Für-sorgerin’, und dieser Ausdruck wurde dann auch im ersten Erlass 1917 gewählt.“18

Fortan wurde die staatliche Anerkennung also zunächst als „Fürsorgerin“ ausge-sprochen.19 1919 verwandte Alice Salomon in ihrem Vortrag „Wie stellt sich der einzelne Sozialarbeiter oder die einzelne Organisation der privaten Fürsorge auf die neuen Verhältnisse ein?“ beim Deutschen Verein den Begriff Sozialarbeiter.20 Die Ganzheitlichkeit des sozialarbeiterischen Ansatzes stellte Salomon in ihrem Werk „Soziale Diagnose“ 1926 heraus:

„Die soziale Arbeit hat nicht einen besonderen Gesichtswinkel, sondern ist auf den gesamten Menschen eingestellt, und das kann der soziale Arbeiter den Ärzten nahe bringen, die durch ihre Ausbildung oft dazu geführt werden, das Blickfeld zu verengen. Die Ärzte können das nur

16 Israel 1917, 84.17 Israel 1917, 87.18 Salomon 1927, 28.19 Vorschriften über die staatliche Prüfung von Fürsorgerinnen,1918, 622–633.20 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 1919.

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B. Entwicklung der professionellen Ausbildung von den Anfängen bis 1933

dann gefahrlos weiter tun, wenn sie, wie es sein sollte, soziale Arbeiter zur Seite haben. Jeder von uns hat sein eigenes Gebiet – aber wir sollten nicht getrennt arbeiten. Denn die Menschen, für die wir zu sorgen ha-ben, sind unteilbare Wesen.“21

1920 wurde im Rahmen der Neufassung der Prüfungsordnung die Bezeichnung „Wohlfahrtspflegerin“ eingeführt. Der Name Wohlfahrtspflegerin, der allen so-zialen Berufsarbeiterinnen gleichermaßen gegeben wurde, kennzeichnete nach Meinung des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, Adam Stegerwald, nicht scharf die gemeinsame Eigenart ihrer Arbeit, umfasste aber doch das „Wesen der meisten Gruppen von Sozialarbeitenden“.22

Merkblatt des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen (1920) (Archiv ASH, Slg. Reinicke)

Frieda Duensing, Leiterin der Sozialen Frauenschule der Stadt München, vertrat 1920 die Auffassung,

„dass es bislang noch an eigentlichen Fachleuten der sozialen Arbeit mangelt, dass der Jurist zwar die rechtsgemäße Form, der Arzt ihren hygi-

21 Salomon 1926, 5.22 Stegerwald 1920, 355–359.