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Semantik und Pragmatik (als Teil der Einführung in die Sprachwissenschaft) Thomas Ede Zimmermann, Uni Frankfurt, WS 2000/2001 1. Wörtliche Bedeutung 1 Verborgener Sinn 1 Ironie und Implikatur 3 Schwierige Sätze 4 Der Ton macht die Musik 6 Sprachliche Bilder 7 2. Lexikalische Semantik 9 Was ist eigentlich ein Wort? 9 Ambiguität 11 Sinnrelationen 14 3. Strukturelle Ambiguität 17 4. Extensionen 24 Psychologismus 24 Einfache Extensionen 25 Extensionen und Sinnrelationen*) 28 Wahrheitswerte 30 Junktoren 32 Extensionale Kompositionalität 35 Quantoren*) 36 5. Intensionen 39 Intensionale Kontexte 39 Propositionen 41 Von Propositionen zu Intensionen 44 Intensionen und Sinnrelationen*) 48 Von der Intension zur Extension – und zurück 50 6. Von der (wörtlichen) Bedeutung zum Gebrauch 52 Informationsfluss in Idealform 52 Einstellungberichte*) 56 Erfolgsbedingungen 57 Reflexion 63 7. Implikaturen 66 Präsuppositionen*) 67 Kommunikation als Kooperation 71 Maximen 77 Effekte 81 Rückzüge*) 88 Erklärung und Beschreibung 90 8. Sprechen als Handeln 91 Sprechakte 92 Erfolgreiche Versprechungen 95 Indirekte Sprechakte*) 99 Anhang Ergänzende Lektüre 102 *) nicht klausurrelevant

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Semantik und Pragmatik (als Teil der Einführung in die Sprachwissenschaft)Thomas Ede Zimmermann, Uni Frankfurt, WS 2000/2001

1. Wörtliche Bedeutung 1Verborgener Sinn 1Ironie und Implikatur 3Schwierige Sätze 4Der Ton macht die Musik 6Sprachliche Bilder 7

2. Lexikalische Semantik 9Was ist eigentlich ein Wort? 9Ambiguität 11Sinnrelationen 14

3. Strukturelle Ambiguität 17

4. Extensionen 24Psychologismus 24Einfache Extensionen 25Extensionen und Sinnrelationen*) 28Wahrheitswerte 30Junktoren 32Extensionale Kompositionalität 35Quantoren*) 36

5. Intensionen 39Intensionale Kontexte 39Propositionen 41Von Propositionen zu Intensionen 44Intensionen und Sinnrelationen*) 48Von der Intension zur Extension – und zurück 50

6. Von der (wörtlichen) Bedeutung zum Gebrauch 52Informationsfluss in Idealform 52Einstellungberichte*) 56Erfolgsbedingungen 57Reflexion 63

7. Implikaturen 66Präsuppositionen*) 67Kommunikation als Kooperation 71Maximen 77Effekte 81Rückzüge*) 88Erklärung und Beschreibung 90

8. Sprechen als Handeln 91Sprechakte 92Erfolgreiche Versprechungen 95Indirekte Sprechakte*) 99

Anhang Ergänzende Lektüre 102

*) nicht klausurrelevant

1. Wörtliche BedeutungDen Untersuchungsgegenstand der Semantik bilden die sprachlichen Inhalte oder, wiewir sagen werden: Sinn und Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, wobei wir diese bei-den Termini vollkommen austauschbar – also im selben Sinn, mit derselben Bedeutung– verwenden werden. Zunächst gilt es jedoch, diesen Untersuchungsgegenstand etwasnäher einzugrenzen. Denn nicht alles, was man inhaltlich mit einem Wort, einem Satz,einer Bemerkung oder einem Text assoziiert, gehört in die Semantik. Von semanti-schem Interesse ist nur das, was diese Ausdrücke allein aufgrund sprachlicher Kon-ventionen bedeuten – ihr wörtlicher Sinn (oder ihre wörtliche Bedeutung).

Verborgener SinnWenn es um die Erkundung sprachlicher Bedeutung gehen soll, mag man zunächst anso etwas wie Gedichtinterpretation denken:

Schwerer PäonienduftVon fern

Le TaGatte und Kind

VerlassenWenn der Schwan ruft

Tusche von MeisterhandIm SchneeMädchen

Deiner GeburtErinnern

Schriftzeichen im Sand

(Der Fettdruck soll dabei – wie immer in diesem Skript – andeuten, dass es sich um einsprachliches Beispiel handelt.) Die naheliegende Frage angesichts dieser Zeilen ist inder Tat: Was soll das bedeuten? Und die Art von Antwort, könnte in etwa so aussehen:

In der redundanzfeindlichen Dichte des mittelchinesischenDoppelstrophen-Ritonells (I Shing Min) mit dem klassischenReimschema A XXXX A gewinnt jenes archetypische Mythotop katexochenseine Lyrizität par excellence.

Interpretation in diesem Sinne besteht im Zutagefördern eines verborgenen Sinns. Obdas bei der obigen Interpretation gelingt, ist freilich fraglich. Der Kommentar ist jamindestens so schwer zu verstehen wie das Gedicht selbst – wenn auch aus unter-schiedlichen Gründen. Aber die beiden Texte sind ohnehin nicht ernst gemeint: es han-delt sich um Parodien – auf was, wird hier nicht verraten1.

Interpretation in diesem Sinne wird uns im folgenden nicht weiter interessieren. Dennwährend der Kritiker oder Literaturwissenschaftler hinter dem verborgenen Sinn ei-nes Textes her ist, interessiert sich die Semantikerin für seinen vordergründigen Sinn,also für das, was er wortwörtlich besagt. Bei dem zitierten Gedicht ist dieser wörtliche

1 Die Texte stammen aus dem viel zu wenig bekannten Band Leda & Variationen (Trier 1978) vonKlaus Döhmer.

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Sinn nicht ganz einfach auszumachen – wer oder was ist z.B. Le Ta? Aber zumindesteinzelne Teile des Textes sind halbwegs verständlich. Deiner Geburt erinnern Schrift-zeichen im Sand ist offenbar eine altertümelnde Variante von

Schriftzeichen im Sand erinnern an deine Geburt.

Den wörtlichen Sinn dieses Satzes kann jeder erfassen, sofern er nur des Deutschenmächtig ist. Der Satz berichtet von irgendwelchen Schriftzeichen, die sich im Sand be-finden und die Geburt der angesprochenen Person ins Gedächtnis rufen. Das und nichtmehr besagt der Satz wortwörtlich. Dabei lässt er vieles offen. Sind die Schriftzeichen inden Sand geritzt – oder handelt es sich vielleicht um Schatten? Bilden sie gemeinsamein Wort oder einen Satz, der auf die besagte Geburt hinweist – oder waren vielleichtdieselben Schriftzeichen auch bei dieser Geburt zu sehen – oder handelt es sich umHieroglyphen, die eine geburtsähnliche Szene darstellen, also um Bilder, die zugleichSchriftzeichen sind? All dies sind Möglichkeiten, die der Satz, sein wörtlicher Sinn,offenlässt. Vielleicht erscheint die eine oder andere dieser Möglichkeiten etwas weithergeholt. Doch wer den Satz versteht, muß zugeben, dass er keine von ihnen wirklichausschließt. Offen bleibt übrigens auch, an wen sich der Satz richtet, wer also die ange-sprochene Person ist, an deren Geburt die besagten Schriftzeichen gemahnen.

Der vordergründige, wörtliche Sinn des obigen Satzes – eben dass Schriftzeichen an dieGeburt der angesprochenen Person erinnern – scheint angesichts der Komplexität sei-nes verborgenen Sinns – was immer dieser auch sein mag – zu erblassen. Und vorallem die Frage, worin dieser verborgene Tief-Sinn besteht, scheint um einiges interes-santer zu sein als die nach dem wörtlichen Sinn des Satzes. Letzteren erfaßt ja mühelosjeder, der genug Deutsch kann, während der verborgene Sinn sich manchen vielleichtniemals erschließt.

Verglichen mit dem verborgenen Sinn eines Textes mutet das Erfassen seines wörtli-chen Sinns eher trivial an. Lohnt sich denn die Beschäftigung mit dem wörtlichen Sinnüberhaupt, wenn ihn jedermann ohnehin mühelos erfasst? Ist der wörtliche Sinnsprachlicher Ausdrücke nicht eher zu trivial, um von wissenschaftlichem oder auchnur alltäglichem Interesse zu sein?

Wer so fragt, verwechselt das Phänomen wörtlicher Sinn mit seiner Erklärung. EineAnalogie zur Wahrnehmung macht dies klar: Die meisten von uns können mühelos dieRichtung ausmachen, aus der sie ein Geräusch vernehmen. Doch wie sie dies ma-chen, ist ihnen nur den wenigsten klar.2 Zur genauen Erklärung der Stereoakustik –so heißt das genannte Phänomen – muss man mehrere wissenschaftliche Disziplinenund Theorien heranziehen: Akustik, Physiologie und (Wahrnehmungs-) Psychologie.Und wie so oft in der Wissenschaft stellt sich dabei heraus, dass längst nicht alle Fragenauf diesem Gebiet restlos geklärt sind. Mit dem Erfassen des wörtlichen Sinns sprachli-cher Ausdrücke verhält es sich ähnlich wie mit der Wahrnehmung: die meisten vonuns tun es mühelos, aber nur wenige können erklären, wie das passiert. Und für eine

2 Wer’s nicht weiß, aber wissen möchte, kann sich im Internet unterwww.uni-mannheim.de/fakul/psycho/irtel/lehre/seminararbeiten/w96/Hoeren1/Hoeren1.html informieren.

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genaue Erklärung des Phänomens müssen auch eine ganze Reihe wissenschaftlicherDisziplinen bemüht werden. Eine von ihnen ist die Semantik, die zwar das Phänomendes sprachlichen Verstehens nicht ganz allein erklären kann, aber doch einen entschei-denden Beitrag zu einer solchen Erklärung zu liefern vermag. Welcher Art dieser Bei-trag ist, lässt sich an dieser Stelle nur andeuten. Aber wir werden am Schluss desSkripts noch einmal auf diese Frage zurückkommen, nachdem wir uns mit Denk- undArbeitsweise der Semantik vertraut gemacht haben. Folgendes lässt sich allerdings jetztschon sagen: Die Semantik hat es nicht (oder allenfalls am Rande) mit dem subjektiven,psychologischen Aspekt des sprachlichen Verständnisses zu tun – also mit der Frage,was in den einzelnen Personen vorgeht, während sie etwas verstehen. Vielmehr geht esum die Frage, was diese Personen verstehen, was also dieser ominöse wörtliche Sinnist, den sie erfassen. Etwas überspitzt und provokativ könnte man sagen: die Semantikerklärt überhaupt erst, was (sprachlicher) Sinn ist.

Ironie und ImplikaturWörtlicher Sinn ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Sprachverstehens interes-sant. Auch wer sich nur dafür interessiert, was mit einem Text eigentlich gemeint ist,muss zunächst seinen wörtlichen Sinn erfassen. Ein Beispiel sollte das klar machen.Beim Verlassen der Mensa trifft Fritz, ein stadtbekannter Gourmet, seinen FreundUwe, der sich nach der Qualität des heutigen Wahlessens erkundigt. Fritzens Antwortlautet knapp:

Das Steak war wie immer zart und saftig.

Wörtlich genommen spricht Fritz damit dem Mensaessen eine hohe Qualität zu. Aberwörtlich meint er seine Äußerung nicht: vielmehr will Fritz mit seinem Kommentar zuverstehen geben, dass das Steak wie immer war, also weder zart noch saftig. Und Uweversteht seinen Freund nur allzu gut. Doch damit er ihn versteht, muss er zunächsteinmal verstehen, was Fritz wörtlich gesagt hat. Aber weil eben Uwe seinen Freund gutkennt, weiß er, dass Fritz das, was er da gerade gesagt hat, kaum in dieser wörtlichenForm gemeint haben kann: nichts spricht dafür, dass Fritz urplötzlich unter Ge-schmacksverirrung oder Gedächtnisschwund leidet und das Mensa-Steak als schon im-mer zart und saftig einstuft. Außerdem kann Uwe bei Fritz einen leicht schelmischenGesichtsausdruck ausmachen. Er schließt also zurecht – wie Fritz es nicht anders er-wartet – dass sein Freund ihm etwas anderes mitteilen will, nämlich das blankeGegenteil dessen, was er eigentlich – wörtlich – gesagt hat. Fritzens Äußerung warironisch gemeint und kommt bei Uwe genauso an.

Apropos Ironie: in der Rhetorik bezeichnet dieser Terminus die soeben beschriebene,unernste Verkehrung einer Behauptung in ihr Gegenteil. In der Umgangssprachewird der Begriff oft weiter gefasst. Fährt zum Beispiel Fritz seine Beschreibung derMenüfolge fort mit:

Der Nachtisch war nicht giftig.

so mag man auch diese Bemerkung als ironisch bezeichnen, wenn Fritz mit ihr an-deuten will, dass das Dessert wenig appetitlich war. Dabei sollte jedoch nicht übersehen

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werden, dass Fritz in diesem Fall – im Gegensatz zu seiner vorangehenden Äußerung– keineswegs das Gegenteil dessen zum Ausdruck bringen will, was der Satz wörtlichbesagt. Wörtlich besagt er nämlich einfach, dass das Dessert ohne gesundheitliche Ge-fahren verspeist werden kann. Aber Fritz behauptet ja nicht, dass der Nachtisch hoch-giftig war, was das Gegenteil dieser wörtlichen Bedeutung wäre. Vielmehr sagt er et-was aus, was über diese wörtliche Aussage hinausgeht – dass nämlich der Nachtischkeiner besseren Kategorie als ‘ungiftig’ zuzuordnen ist. Der Begriff Ironie – als Aus-druck des Gegenteils – ist hier also fehl am Platze. In der Sprachwissenschaft sprichtman in diesem Falle stattdessen von einer skalaren Implikatur. Eine Implikatur isteine mitverstandene Behauptung, die über den rein wörtlichen Gehalt hinausgeht; undskalar ist diese Implikatur deshalb, weil nach ihr das Mensa-Dessert in einer kulinari-schen Bewertungs-Skala von ‘tödlich’ bis ‘3 Sterne’ keinen höheren Wert einnimmt alsden explizit genannten: nicht giftig.

Dass die genannte Implikatur – also dass sich der Nachtisch nicht höher als mit ‘nichtgiftig’ bewerten lässt - nicht Teil der wörtlichen Bedeutung ist, macht man sich klar,wenn man andere Verwendungen des Satzes betrachtet. So könnte etwa ein Detektivwährend der Untersuchung eines Giftmords im Spitzenrestaurant denselben Satz äu-ßern, ohne sich dabei abfällig über die Qualität des Desserts zu äußern, Was der Detektivdann sagt, ist lediglich, dass das gesuchte Gift jedenfalls nicht in der – erstklassigen –Mousse au chocolat war. In diesem Falle gibt es also keine skalare Implikatur.

Wieso kann man denselben Satz einmal (wie Fritz) als vernichtende Bewertung und einanderes Mal (wie der Detektiv) als nüchterne Tatsachenfeststellung verwenden? Zeigtsich hier, dass sprachliche Bedeutung etwas Wildwüchsiges ist, das sich nicht an star-re Regeln hält? Nein. Aber es zeigt sich hier, dass die semantische, am wörtlichen Sinnorientierte Betrachtungsweise zu kurz greift; denn mit wörtlicher Bedeutung allein istFritzens Bewertung des Mensa-Desserts offenbar nicht beizukommen. Zum vollen Ver-ständnis dessen, was Fritz mit seiner Äußerung meint, muss ihr wörtlicher Sinn ir-gendwie angereichert werden. Wie man sich diese Anreicherung des Wortsinns – oderauch seine Verkehrung ins Gegenteil (Ironie) – genau vorzustellen hat, wird uns erstspäter, in der Pragmatik, beschäftigen, bis dahin begnügen (und vergnügen) wir unsmit dem wörtlichen Sinn.

Schwierige SätzeWir haben gesehen, dass der wörtliche – im Unterschied zum verborgenen – Sinn ähn-lich wie eine sinnliche Wahrnehmung in der Regel auf einmal und ganz ohne Mühe er-fasst wird. In der Regel, aber nicht immer. Denn so wie wir mit der Wahrnehmung be-stimmter Objekte Probleme haben können – manche Geräusche sind einfach zu leise,manche Aromen zu subtil – so gibt es auch Sätze, deren wörtlicher Sinn sich nur mitMühe erschließt - wie zum Beispiel Satzbandwürmer wie:

Die Frau, deren Schwester, deren Sohn, dessen Freundin in Frankreich stu-diert, nach Australien ausgewandert ist, in Italien lebt, wohnt nebenan.

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Kein schöner Satz, gewiss, aber ohne Zweifel ein Satz des Deutschen und ein Satz miteiner bestimmten wörtlichen Bedeutung. Nur welcher? Wer wohnt hier wo? Mit einbisschen Geduld kriegt man es heraus, aber der Sinn erschließt sich nicht so unmittel-bar wie bei ‘normalen’ Sätzen.

Es ist übrigens nicht nur seine Länge, die den obigen Satz schwer verständlich macht.Der folgende Satz enthält nämlich genauso viele Wörter und schildert in etwa denselbenSachverhalt, ist aber ohne weiteres zu verstehen:

Die in Italien lebende Schwester der Frau nebenan hat einen Sohn, dessenFreundin in Frankreich studiert und der selbst nach Australien ausgewandertist.

Was den anderen Satz so schwer verständlich macht, ist offenbar weniger seine Längeals seine verschachtelte grammatische Struktur.

Der wörtliche Sinn eines Satzes kann auch aus ganz anderen Gründen schwer zu er-mitteln sein. Der amerikanische Altphilologe Moses Hadas hat einmal eine Rezensionmit dem folgenden Satz begonnen:

This book fills a much-needed gap.

was man – einigermaßen frei – übersetzen könnte mit:

Dieses Buch füllt eine bitter benötigte Lücke.

Dieses auf den ersten Blick positive wirkende Urteil entpuppt sich bei näherem Hin-sehen als vernichtende Kritik: nicht das Buch, sondern die Lücke, die es füllt, wirdbitter benötigt! Warum versteht man den Satz zunächst genau umgekehrt? An seinergrammatische Struktur kann es kaum liegen, denn die ist ja ausgesprochen über-schaulich. Eher spielen hier wohl Erwartungen und Gewohnheiten eine Rolle. Dass einBuch eine Lücke füllt, wird normalerweise als Teil eines Lobes gesagt, und auch dasAttribut bitter benötigt wirkt im Zusammenhang einer Rezension zunächst positiv –denn es wird üblicherweise dem Buch zugesprochen.

Ein ähnlicher, aber noch verwirrenderer Fall von Schwerverständlichkeit ist das folgen-de Beispiel aus dem neurochirurgischen Bereich3:

Keine Hirnverletzung ist zu harmlos, um vernachlässigt zu werden.

Auf den ersten Blick scheint dieser Satz zu besagen, dass man mit Hirnverletzungennicht leichtfertig umgehen soll. Doch der Schein trügt. In Wahrheit handelt es sich umeine ausgesprochen zynische Aussage, nach der man jede Hirnverletzung getrost ver-nachlässigen darf!

Denn was ist eine Hirnverletzung, die zu harmlos ist, um vernachlässigt zu werden?Nun, ein Getränk das zu kalt ist, um getrunken zu werden, soll man nicht trinken.Dementsprechend besagt der Satz

Kein Getränk ist zu kalt, um getrunken zu werden.

dass man jedes Getränk getrost trinken kann. Ganz analog soll man eine Hirnverlet-

3 Dieses Beispiel stammt aus dem Aufsatz ‘A verbal illusion’ von P. C. Wason und S. S. Reich, der 1979im Quarterly Journal of Experimental Psychology erschien.

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zung, die zu harmlos ist, um vernachlässigt zu werden, nicht vernachlässigen. Unddementsprechend heißt Keine Hirnverletzung ist zu harmlos, um vernachlässigt zuwerden, dass man jede Gehirnverletzung getrost vernachlässigen kann!

Wieso bedarf es dieser langen Erläuterung? Warum versteht man den Satz nicht aufAnhieb richtig? Das hat wahrscheinlich mehrere Gründe, von denen einer ist, dass erzu viele ‘negative’ Ausdrücke – kein, harmlos, vernachlässigen – miteinander in Bezie-hung setzt. Aber noch etwas ist sehr seltsam an diesem Satz und steht einem glattenVerständnis entgegen: er scheint davon auszugehen, dass besonders harmlose Hirnver-letzungen besonders ernst genommen werden müssen.

Der Ton macht die MusikWas mit einer sprachlichen Äußerung oder einem Text gemeint ist und wie er verstan-den wird, geht oft weit über die wörtliche Bedeutung hinaus:

• Zahlreiche, zumal literarische Texte besitzen neben dem vordergrün-digen, wörtlichen Sinn noch eine verborgene Bedeutung, die oft nurgebildete Leser verstehen oder erahnen.

• Rhetorische Effekte wie Ironie, Übertreibung oder auch skalare Im-plikaturen können den wörtlichen Sinn verkehren, anreichern odersonstwie modifizieren.

• Durch Wortwahl und Stil können Sprecher-Einstellungen übermitteltwerden.

Für die ersten beiden Punkte haben wir bereits Beispiele kennengelernt. Der drittePunkt lässt sich durch den folgenden, drastischen Fall illustrieren: Die Leiterin des fürdas Mensaessen zuständigen Studentenwerks wird anlässlich der angekündigtenPreiserhöhung von der Studentenzeitschrift Campus-Courier interviewt. DerNachwuchsredakteur eröffnet das Interview mit den folgenden Worten:

Willst Du allen Ernstes für den Fraß noch mehr Kohle verlangen?

Der Mann hat noch einiges zu lernen. Denn seine Art zu fragen ist nicht gerade diplo-matisch und wenig dazu geeignet, eine entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen:

1. hat der Redakteur die Studentenwerksleiterin geduzt; soziale Konventionengebieten aber, dass er sie siezt;

2. hat er das Mensaessen als Fraß bezeichnet und damit seine grundsätzlich ne-gative Haltung ihm gegenüber zu verstehen gegeben;

3. wird die Verwendung des Hilfsverbs wollen von vielen Menschen als unhöflichempfunden, wenn es auf sie selbst bezogen wird;

4. erweckt die Verwendung der Modifikation allen Ernstes den Eindruck, alshandele es sich bei der Preiserhöhung um ein abwegiges Unterfangen;

5. entspringt die Bezeichnung Kohle für Geld der Umgangssprache (oder demsog. Slang) und sollte normalerweise nicht ohne Vorwarnung in einem for-mellen Rahmen, wie es das Interview darstellt, verwendet werden.

Die Formulierung war also gänzlich unangemessen. Kein Wunder, dass die Leiterindes Studentenwerks barsch reagiert. Doch das Anliegen des Redakteurs ist vollkommenlegitim. Nur vielleicht hätte er es besser mit der folgenden Formulierung versucht:

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Planen Sie tatsächlich eine Anhebung der Essenspreise?

Auf diese Weise hätte er im wesentlichen dieselbe auf angemessenere Weise Fragestellen können. Aber: So wichtig die Unterschiede zwischen den beiden Formulierungenfür das Wohl des Campus-Couriers auch sind – aus semantischer Sicht kann man siegetrost vernachlässigen. Denn wörtlich besagen die beiden Fragen mehr oder minderdasselbe. Das soll natürlich nicht heißen, dass Semantiker die Unterschiede zwischenihnen für unwichtig halten oder gar blind für sie sind. Aber bei der Bestimmung der Be-deutung im engeren Sinne, der wörtlichen Bedeutung, kann man sie vernachlässigen.

Sprachliche BilderEin weiterer Fall von nicht-wörtlichem Sinn ist die übertragene oder bildhafte Bedeu-tung. Wenn ein Fußballspieler als Terrier bezeichnet wird, so ist auch das natürlichnicht wörtlich zu nehmen. Ein Terrier ist ein Hund, und der Spieler verhält sich viel-leicht in gewisser Hinsicht wie typische Vertreter dieser Rasse – oder er sieht ihnen ingewisser Weise ähnlich - aber darum würde doch niemand, der den jugendlichen BertieVogts auf diese Weise charakterisiert, diesen zugleich als Hund bezeichnen. Vielmehrwird durch das Sprachbild des Terriers ein Vergleich zwischen Spieler und Hund an-gedeutet. Worin dieser Vergleich genau besteht - Laufstil, Aussehen, Charakter – bleibtdabei dem Verständnis der Zuhörerschaft überlassen.

Alltagssprache, Journalistik und Literatur wimmeln nur so von sprachlichen Bildern(was, nebenbei bemerkt, selbst wieder so ein Bild ist). In der Fachsprache werden dieseBilder als Metaphern bezeichnet; und die bildhafte Rede heißt dementsprechend meta-phorisch.4 Eine Metapher ist etwas anderes als ein Vergleich, obwohl jede Metaphereinen Vergleich beinhaltet. Aber dieser Vergleich – und das macht die Metapher aus –wird nicht direkt ausgesprochen. Wer sagt, dass ein bestimmtes Kühlschrankgeräuschwie ein Klagelied klingt, benutzt einen Vergleich. Wer dagegen einfach vom Klageliedseines Kühlschranks spricht, das ihn nicht schlafen lässt, spricht metaphorisch. DerUnterschied liegt darin, dass die Metapher stets offenlässt, worin der Vergleich genaubesteht. Im Falle des Kühlschranks könnte ja auch dessen leerer Zustand gemeint sein,der den Metaphoriker beunruhigt. Diese Möglichkeit wird durch den expliziten Ver-gleich ausgeschlossen: klingt wie ein Klagelied besagt, dass es um das Geräusch geht,das der Kühlschrank macht, nicht um seine Leere.

Ein Fußballprofi ist kein Hund, und ein Kühlschrank kann nicht singen: Metaphernsind nicht wörtlich zu nehmen. Liegen damit metaphorische Ausdrücke grundsätzlichaußerhalb der semantischen Betrachtung? Leider ist die Sache nicht so einfach. Dennviele Metaphern der Alltagssprache sind durch häufige Verwendung so stark erblasst –wieder so eine Metapher! – das sie gar nicht mehr als Bilder wahrgenommen werden.In diesem Falle ist die Metapher – wie man bildhaft (!) sagt – erstarrt und zur wörtli-chen Bedeutung geworden. Nehmen wir das Wort fadenscheinig. Ursprünglich be-zeichnet es eine Eigenschaft gewebter Stoffe. Ein fadenscheiniges Gewebe ist so alt oderso schlecht gewebt, dass der Faden durchscheint. Wer jedoch eine Ausrede als faden-

4 Von griech. metaphora ‘Übertragung’.

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scheinig bezeichnet, hat in der Regel dieses ursprüngliche Bild des Teppichs nicht imSinn. Ja, vielleicht ist es ihm nicht einmal klar. Fadenscheinigkeit wird heutzutage5

als Qualität von Selbstrechtfertigungen verstanden, die alte Metapher ist zur wörtlichenBedeutung erstarrt. Dabei hat sie die ursprüngliche wörtliche Bedeutung nicht ver-drängt; denn noch immer kann man alte Gewebe als fadenscheinig bezeichnen. Aber zudieser ursprünglich einzigen wörtlichen Bedeutung ist eine weitere getreten. Das Wortist mehrdeutig geworden, d.h. es hat mehr als einen wörtlichen Sinn.

Wie dem Wort fadenscheinig ist es im Laufe der Sprachgeschichte vielen Wörtern er-gangen. Was ursprünglich einmal eine gelungene und originelle Metapher war, wurdedurch häufige Benutzung abgegriffen und entwickelte sich allmählich zu einer weite-ren Wortbedeutung. (Der letzte Satz enthält übrigens ein weiteres solches Beispiel: wel-ches?) Aus semantischer Sicht bedeutet dies, dass es den ursprünglich metaphorischenSinn nun zu berücksichtigen gilt. Machen wir uns das am Beispiel klar. Worin bestehtwohl die wörtliche Bedeutung des folgenden Satzes?

Die Ausflüchte des Terriers waren fadenscheinig.

Besagt er wörtlich, dass die Ausreden eines gewissen Hundes sichtbare Fäden besaßen?Wohl kaum. Sein wörtlicher Sinn ist eher, dass ein gewisser Hund schlechte Ausredenvorgebracht hat. Während also die eine Metapher (fadenscheinig ) als Teil der wörtli-chen Bedeutung aufgelöst wird, wird die andere (Terrier) vom wörtlichen Sinn über-gangen. Denn nur erstere ist zum Wortsinn erstarrt.

Bei fadenscheinig und Terrier ist der Fall ziemlich klar: ersteres ist kaum noch als Bildzu erkennen, letzteres fällt geradezu auf. Aber wie ist das mit purzelnden Preisen,schreienden Farben, schlagenden Argumenten? Woher wissen SemantikerInnen, wel-che dieser Metaphern erstarrt sind? Die Antwort ist: Sie wissen es nicht, oder nicht sogenau. Es gibt kein eindeutiges Kriterium dafür, ob eine Metapher erstarrt ist odernicht. Denn die Erstarrung ist ein gradueller Prozess, der mit einem Stück sprachlicherKreativität beginnt und beim abgegriffenen Klischee endet. Würde man den Punkt die-ses Prozesses herausheben, an dem aus der übertragenen eine wörtliche Bedeutungwird – z.B. weil sich genügend Sprecher des Bildes bedient hätten – wäre dies etwa so,als deklarierte man Menschen genau dann als groß, wenn sie eine ganz bestimmte Kör-pergröße – sagen wir einmal: 1,90m – überschreiten. Solch eine genaue Festlegungmag für bestimmte Zwecke ihren Sinn haben. Wenn in einem Flugzeug nur großwüch-sige Personen Anrecht auf einen der wenigen Sitzplätze mit Beinfreiheit haben, könnteeine exakte Bestimmung darüber, was es heißt, groß zu sein, durchaus ihre Berechti-gung haben. Aber wo auch immer man die Grenze für diesen Zweck ziehen mag: derFestlegung wird immer etwas Willkürliches anhaften, denn der Übergang vom Langenzum Kurzen ist nun einmal fließend. Genauso ist es mit der Erstarrung der Metapherzur wörtlichen Bedeutung. Welche der vielen in der Umgangssprache gebräuchlichenBilder lebendige Metaphern sind und welche von ihnen tot und erstarrt sind, kann nie-mand sagen, denn eines geht ins andere über. Dennoch kann es für bestimmte Zwecke

5 Genauer: seit dem 19. Jahrhundert (lt. Kluges Etymologischem Wörterbuch der Deutschen Sprache).

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sinnvoll sein, eine scharfe Grenze zu ziehen. Ein solcher Zweck ist die semantischeTheoriebildung. Das weite Feld der sprachlichen Bedeutung wird überschaubarer,wenn man von vornherein eine klare Trennungslinie zwischen wörtlicher und über-tragener Bedeutung zieht, selbst wenn der genaue Verlauf dieser Grenze einigermaßenwillkürlich ist. Die scharfe Abgrenzung erlaubt es nämlich, die beiden Bereiche ge-trennt und mit verschiedenen Methoden zu beackern. In diesem Skript geht es zunächstum die eine Seite dieser Grenze, die wörtliche Bedeutung: was sie ist und wie man siesystematisch beschreibt. Sie allein bildet den Gegenstand der Semantik. Alles, was überden reinen Wortsinn hinausgeht, fällt in die Pragmatik. Auch die nicht-wörtliche Be-deutung lässt sich systematisch studieren – wie, das werden wir uns im siebten Kapiteletwas näher ansehen. Vorher empfiehlt es sich, ein klareres Bild von der wörtlichen Be-deutung zu gewinnen.

2. Lexikalische SemantikSprachliche Ausrücke, und mögen sie auch noch so lang und komplex sein, bestehenimmer aus einzelnen Wörtern. Es liegt von daher nahe, mit der Untersuchung dersprachlichen Bedeutung bei den Wörtern zu beginnen. In der Fachsprache bezeichnetman den Wortschatz, also die Gesamtheit der Wörter einer Sprache, als das Lexikon;und die Lehre von der Wortbedeutung heißt dementsprechend lexikalische Semantik.Um sie geht es in diesem Kapitel.

Wir beginnen mit einer einfachen, aber verwirrenden Frage:

Was ist eigentlich ein Wort? So allgemein lässt sich diese Frage nur schwer, wenn überhaupt, beantworten. Wennman z.B. versucht, ein Wort als das zu definieren, was in einem Wörterbuch erscheint,stößt man auf das Problem, dass Wörterbücher nie ganz vollständig sind. Auch bevor esin die meisten gängigen deutschen (und übrigens auch englischen) Wörterbücher auf-genommen wurde, war Waldsterben schon ein Wort. Wörterbücher können immer nurWörter auflisten, die es auch ohne sie schon gibt. Wie wäre es, wenn man ein Wort alsetwas definiert, das in einem Text zwischen zwei Leerzeichen erscheint? Schon besser.Aber diese Definition lässt sich nicht auf gesprochene Wörter anwenden, und sie schei-tert vollends, wenn man sie auf Sprachen anwendet, die gar nicht geschrieben werden.Und vor allem: ein Wort ist mehr als nur eine Folge von Buchstaben oder Lauten. Daswird deutlich, wenn man ähnliche, aber verschiedene Wörter vergleicht. Nehmen wirdie deutschen Wörter Rasen und rasen. Wären Wörter nur Lautfolgen, würde es sichum ein und dasselbe Wort handeln. Doch das ist absurd. Natürlich sind es zwei ver-schiedene Wörter. Zwar unterscheiden sie sich in gewisser Weise in der Buchstabenab-folge: das Substantiv Rasen schreibt man am Anfang groß, das Verb rasen dagegenklein. Aber ist das der Unterschied zwischen den beiden Wörtern? Wohl kaum, dennauch das Verb schreibt man manchmal mit einem großen R, wenn es nämlich am An-fang eines Satzes steht, wie in Rasen darf man hier nicht.

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Buchstaben und Laute allein machen also noch kein Wort aus. Im Falle der beidenRasen gibt es aber noch mindestens einen anderen gravierenden Unterschied, nämlichden in der grammatischen Kategorie: das eine ist ein Verb, das andere ein Substantiv.Einen ähnlichen, aber etwas subtileren Unterschied kann man zwischen zwei verschie-denen Verwendungen von Teil ausmachen. Während man z.B. im Englischen mit einund demselben Wort part Abschnitte von Büchern und Funktionselemente von Maschi-nen bezeichnen kann, unterscheidet man im Deutschen zwischen dem ersten Teil einerTrilogie und dem schwer zu besorgenden Teil eines Vergasers. Und wer nicht glaubt,dass es hier einen sprachlichen Unterschied gibt, setze die beiden Teile in den Nomina-tiv: der erste Teil ist langatmig, aber das Teil unter der Motorhaube findet man nir-gends. Ganz klar: es gibt im Deutschen zwei Wörter der äußeren Gestalt Teil, die sich inihrer gramatischen Fein-Kategorisierung – genauer: im grammatischen Geschlechtoder Genus – unterscheiden. Beide sind Substantive, aber das eine ist maskulin, dasandere ein Neutrum.

Doch auch dieses Unterscheidungskriterium hilft nicht immer. Es gibt nämlich Wörter,die sich weder in der Laut- oder Schriftgestalt noch in der grammatischen Kategorievoneinander unterscheiden. Bank ist so ein Fall: einmal kann man damit ein Geldinsti-tut bezeichnen, zum anderen eine Sitzgelegenheit. Dabei handelt es sich aber klar umzwei Wörter, selbst wenn beide feminine Substantive sind. Dass es sich nicht nur um eineinziges Wort handelt, wird deutlich, wenn man sie in den Plural setzt. Da heißt esnämlich einmal Banken und das andere Mal Bänke. Die beiden Wörter unterscheidensich zwar weder in der Laut- und Buchstabenfolge noch in der Kategorie, dafür aber inihren Formen.

Wörter sind eben mehr als nur Aneinanderreihungen von Lauten bzw. Buchstaben. Siehaben auch eine grammatische Identität, die sich in ihrer Kategorie und ihren Formenzeigt. Entgegen dem ersten Anschein erweisen sich Wörter damit als etwas einigerma-ßen Abstraktes.

Doch es kommt noch toller. Denn während sich Unterschiede in Aussprache, Schreib-weise und Grammatik noch konkret manifestieren – man sieht ja, dass Bänke undBanken verschiedene Formen sind –, gibt es Wörter, die sich in allen Äußerlichkeitengleichen und dennoch voneinander verschieden sind. Schloss (oder wie man früherschrieb: Schloß) lässt sich bekanntlich sowohl zur Bezeichnung von Schließvorrichtun-gen als auch als Bezeichnung herrschaftlicher Wohngebäude verwenden. In jedem Fallhandelt es sich dabei um ein Substantiv neutralen Geschlechts, und auch die Formenunterscheiden sich nicht voneinander. Der Unterschied liegt allein in der Bedeutung.

Das hört sich vielleicht ein bisschen seltsam an: Schloss soll nicht ein Wort sein, son-dern zwei Wörter auf einmal? Nun ja, man könnte ebensogut sagen: das eine WortSchloss hat zwei Bedeutungen. In dem Fall meint man mit Wort nur die äußere Ge-stalt. Ob ein oder zwei Wöter: Das ist eine rein terminologische Angelegenheit ohne wei-teren Tiefgang. Entweder man versteht unter einem Wort etwas, das die Bedeutung miteinschließt; dann gibt zwei Wörter der Gestalt Schloss. Oder man versteht unter einem

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Wort nur seine Gestalt, also seine verschiedenen Formen und seine grammatischen Ei-genschaften. Dann hätte ein und dasselbe Wort Schloss zwei Bedeutungen. Für welcheTerminologie man sich entscheidet, ist eigentlich ganz egal. Hauptsache, man ent-scheidet sich eindeutig. In der Semantik geht man davon aus, dass ein sprachlicherAusdruck, also auch ein Wort, immer nur eine (wörtliche) Bedeutung hat.

Das heißt: Schloss entspricht zwei verschiedenen Wörtern. Damit man weiß, über wel-ches der beiden man gerade spricht, unterscheidet sie der Semantiker bzw. die Semanti-kerin gern mit einem kleinen Index: Schloss

und Schloss

– oder einfach nur:

Schloss1 und Schloss2. Später werden wir noch andere Methoden kennenlernen, ver-

schiedene Lesarten mehrdeutiger Ausdrücke auseinanderzuhalten.

AmbiguitätOb Schloss, ob Bank oder Teil: gemeinsam ist den jeweiligen Wortformen, dass siemehrdeutig sind, also mehr als eine Bedeutung haben. Mehrdeutigkeit heißt in der lin-guistischen Fachsprache: Ambiguität, und mehrdeutige (Oberflächen-) Wörter wieSchloss und Formen (wie Band) bezeichnet man als ambig.

Was heißt es eigentlich, dass Schloss zwei Bedeutungen hat? Dass man verschiedenarti-ge Dinge mit diesem Oberflächenwort bezeichnen kann? Sicher, Schließvorrichtungenund Paläste haben wenig miteinander gemein. Aber das gilt auch für Rehpinscher undDinosaurier, für Dreiräder und Intercity-Züge, für Rembrandts Nachtwache und meinPassfoto. Und dennoch gibt es jeweils ein Wort, das beide bezeichnet: Tier, Fahrzeug,Bild. Die Tatsache, dass es kleine Schlösser aus Eisen und große Schlösser aus Steingibt, dass man mit anderen Worten die verschiedensten Dinge als Schlösser bezeichnenkann, spricht also an sich noch nicht dafür, dass Schloss ambig ist.

Doch es gibt andere Indizien. Man betrachte die folgende Bildchen und beantworte diedazugehörige Frage:

Abb. 1: Wie viele Tiere sind hier zu sehen?

Die einzig richtige Antwort lautet: zwei – und dies weil es sich um einen Rehpinscherund einen Dinosaurier handelt; und ein Tier und ein Tier ergeben insgesamt zwei Tie-re. Ähnliches gilt für die Anzahl der Fahrzeuge: ein Dreirad und ein Eisenbahnzugergeben zwei Fahrzeuge. Kommen wir nun zu den Schlössern:

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Abb. 2 : Wie viele Schlösser sind hier zu sehen?

Wer jetzt mit drei antwortet, kann entweder nicht zählen oder denkt, es handelt sich umeine Scherzfrage. Denn wie viele Schlösser das Bild zeigt, hängt davon ab, in welchemSinne, in welcher Lesart das Oberflächenwort Schloss (in seiner Plural-Form Schlös-ser) hier verwendet wird: zwei, wenn es sich um Schlösser als Schließvorrichtungenhandelt; eines, wenn Gebäude gemeint sind. Zuerst muss also klar sein, welches WortSchloss vorliegt, dann kann man die Frage überhaupt erst verstehen. Bei der vorherigenFrage lag der Fall ganz anders; denn es gab nur eine Möglichkeit, sie zu verstehen. DasWort Tier bezieht sich immer auf alle Tiere, ob Rehpinscher, Saurier oder Stachel-schwein. Und selbst wenn z.B. der Fragende an Säugetiere denkt und nur deren Anzahlwissen will, so würde das nichts daran ändern, dass er nach der Anzahl aller Tiere,also auch der Dinosaurier, gefragt hat. Die Tatsache, dass man die verschiedenenDinge, die man als Schloss bezeichnen kann, nicht einfach zusammenzählen darf, istein klares Indiz für die Ambiguität von Schloss. Denn so wie man die Rehpinscher nichtmitzählt, wenn nach der Anzahl der Fahrzeuge gefragt ist, zählt man die Vorhänge-schlösser nicht mit, wenn nach der Anzahl der Schlösser gefragt wird und Schloss da-bei im Sinne von palastähnlichem Gebäude gebraucht wird. Die Frage nach der Anzahlerweist sich so als Test zum Aufdecken für Ambiguitäten.

In der Semantik kennt man eine ganze Reihe solcher Ambiguitätstests. Denn nicht im-mer lässt sich dieser Zähltest anwenden – z.B. dann nicht, wenn es um Verben statt umSubstantive geht. Nehmen wir z.B. das (Oberflächen-) Wort klagen. Wahrigs dtv-Wör-terbuch der Deutschen Sprache (von 1978) gibt unter anderem die folgenden beiden Um-schreibungen oder Paraphrasen:

• Trauer oder Schmerz äußern• einen Anspruch geltend machen (vor Gericht)

Handelt es sich hier um eine Ambiguität? Oder verhalten sich die beiden Verwendun-gen des Verbs klagen so wie verschiedene Gebräuche des Substantivs Tier? Schwer zusagen. Einerseits sind die beiden Verwendungen klar voneinander unterschieden, aberandererseits scheint es doch einen Zusammenhang zwischen den beiden zu geben.Denn wer gerichtlich klagt, beklagt sich ja in gewisser Weise über den Prozessgegner,und wer sich über jemanden oder etwas beklagt, äußert seinen Schmerz, klagt eben.

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Mit purer Intuition kommt man hier nicht weiter. Und der Zähltest versagt hier eben-falls, denn man kann ja schlecht nach der Anzahl von klagen fragen. (Natürlich könnteman nach der Anzahl von Klagen fragen – aber dann hat man es mit einem anderenWort zu tun, dem Substantiv Klage.) Hier hilft ein Koordinationstest. Angenommen,Fritz klagt über Kopfschmerzen, während Eike gerade einen Prozess gegen ihren Ver-mieter führt. Die Situation lässt sich dann fraglos mit folgenden Worten beschreiben:

Fritz klagt, und Eike klagt.

Natürlich verwendet man dabei das Oberflächenwort klagen in zweierlei Sinn. Soweit,so gut. Aber jetzt kommt der Test.: Kann man dieselbe Situation auch folgendermaßenbeschreiben?

Fritz und Eike klagen.

Wohl kaum – die beiden klagen ja nicht im selben Sinn des Wortes. Das spricht wiederfür eine echte Ambiguität. Denn im allgemeinen kann man von Aussagen der Form

Fritz VERBt und Eike VERBt .

auf die entsprechende koordinierte (= mit und gebildete) Aussage:

Fritz und Eike VERBen.

schließen – selbst wenn das Verb VERBen sehr verschiedene Aktivitäten bezeichnenkann. Die geneigte Leserin mag dies anhand selbstausgedachter Beispiele überprüfen.

Es gibt, wie gesagt, neben dem Zähltest und dem Koordinationstest noch eine ganzeReihe anderer Verfahren, um Ambiguitäten aufzudecken. Wir werden später noch deneinen oder anderen Test kennenlernen.6 Fürs erste halten wir nur einmal fest, dasszwei naheliegende Kriterien für Ambiguität äußerst unzuverlässig sind:

• Nach dem Ähnlichkeitskriterium liegt dann keine Ambiguität vor,wenn die fraglichen Wortverwendungen einander hinreichend ähn-lich sind. Wir haben soeben am Beispiel von klagen gesehen, dass dasKriterium dubios ist. Denn in gewisser Weise sind sich ja die beidenVerwendungen durchaus ähnlich. Aber der Koordinationstest –sowie andere Tests, die wir uns hier ersparen – spricht eine andere,im übrigen auch deutlichere, Sprache.

• Nach dem etymologischen Kriterium7 liegt dann keine Ambiguitätvor, wenn die eine der fraglichen Wortverwendungen historisch ausder anderen hervorgegangen ist. Das Beispiel Schloss erweist auchdieses Kriterium als unzureichend. Denn bei der Bezeichnung einerBurg handelt es sich um eine bis zur Unkenntlichkeit erstarrte Meta-pher. Uspünglich wurde das althochdeutsche Wort sloz nur als Be-zeichnung von Türverriegelungen verwendet. Ab dem 13. Jahrhun-dert begann man auch Burgen als Schlösser zu bezeichnen, weil sieTäler (oder andere Landschaften) abschließen. Den Rest der Wort-Ge-schichte kann man sich denken.8

6 Lektüretip: Jerrold M. Sadock & Arnold M. Zwicky:‘Ambiguity Tests and How to Fail Them’, in J.Kimball (ed.): Syntax and Semantics. Volume 4. New York 1975.

7 Etymologie = Wortgeschichte.8 Die Angaben sind wieder Kluges Etymologischem Wörterbuch entnommen.

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Ambiguitäten spielen eine wichtige Rolle in der Semantik. Denn viele Bedeutungs-Phä-nomene lassen sich – oft auf überraschende Weise – an ihnen demonstrieren. Aller-dings ist der Typ von Ambiguität, den wir bisher kennengelernt haben, die sog. lexika-lische Ambiguität, nicht sonderlich aufregend. Wortformen, die mehr als eine Bedeu-tung haben, lassen sich allenfalls amüsiert zur Kenntnis nehmen. Ganz anders siehtdas bei mehrdeutigen Sätzen aus: Fritz plant, ein Haus zu kaufen kann z.B. heißen,dass Fritz ein bestimmtes Haus im Auge hat, welches er demnächst kaufen will; oderaber, dass er irgendein Haus kaufen will, ohne sich bisher genau umgesehen zu haben.Auch hier handelt es sich um eine Ambiguität, obwohl die beteiligten Wörter jeweilseindeutig sind. Diese strukturellen Ambiguitäten werden uns im nächsten Kapitel be-schäftigen. Vorher schauen wir uns noch ein wenig im Lexikon um. Die Anfangsbei-spiele suggerieren, dass der wörtlichen Bedeutung etwas Triviales anhaftet. Das soll je-doch nicht zu dem Schluß verleiten, dass eine systematische Beschäftigung mit diesemPhänomen ebenso trivial ist. Im Gegenteil: wie sich die wörtliche Bedeutung komplexersprachlicher Ausdrücke im konkreten Fall genau ermittelt, scheint sogar zunächstvollkommen schleierhaft. Und eine Analyse nicht-wörtlicher Bedeutungen setzt – wiebereits erwähnt – dieses Problem als gelöst voraus. Wir kommen darauf zurück, wollenaber zunächst anhand einiger Beispiele sehen, welche konkreten Fragestellungen sichdenn für eine Theorie der wörtlichen Bedeutung stellen.

SinnrelationenEs wird manchmal gesagt, dass eine semantische Theorie dazu da ist, Aussagen überdie von Muttersprachlern gefällten semantischen Urteile zu machen – oder sogar Vor-hersagen über Versuchsanordnungen der folgenden Art zu machen: Legt man einerMuttersprachlerin die und die Wörter vor, so beurteilt sie als XYZ. Dabei steht XYZ fürein auf semantischen Intuitionen fußendes muttersprachliches Urteil. Um welche Artvon Urteilen und Intuitionen handelt es sich? Zunächst einmal könnte man hier an eineArt semantische Korrektheitsurteile denken – Urteile über die semantische Wohlge-formtheit. Die folgenden beiden Sätze etwa sind aus semantischen Gründen seltsam:

Der Koch singt ein Gewürz.Die Gabel bezweifelt das.

Im ersten Satz ist unklar, was es überhaupt heißen soll, dass ein konkreter Gegenstandgesungen wird: singen kann man Lieder oder Arien, allenfalls noch Gedichte. AberNahrungsmittel? Hier passen offenbar Objekt und Verb nicht zusammen, weswegen der– syntaktisch ansonsten wohlgeformte – Satz merkwürdig klingt. Der zweite Satz istähnlich, wenn auch zumindest in gewissen fiktiven Zusammenhängen noch interpre-tierbar. In beiden Fällen spricht man üblicherweise von einer Verletzung von Selek-tionsbeschränkungen, d.h. Regeln, die gerade die Stimmigkeit einzelner Satzteile un-tereinander betreffen. Wie solche Regeln genau formuliert werden, soll uns hier nichtweiter beschäftigen. Die beiden Beispiele verraten allerdings schon zweierlei: einmalkönnen unmöglich alle Selektionsbeschränkungen (etwa als Unterkategorisierungen)im Lexikon verzeichnet werden; andererseits ist mit einen fließenden Übergang von‘syntaktischer Salat’ über ‘semantisch unpassend’ bis ‘inhaltlich abwegig’ zu rechnen.

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So viel zur Wohlgeformtheit, der in der Semantik eine weniger zentrale Rolle zukommtals in der Syntax. Für die systematische Entwicklung semantischer Theorien habensich andere Typen von Sprecherurteilen als aufschlussreicher erwiesen:

Postwertzeichen bedeutet so viel wie Briefmarke.glauben heißt nicht wissen.Niederschlag ist eine allgemeinere Bezeichnung als Nieselregen.Hund und Katze sind miteinander unverträglich.

Hier werden Sinnrelationen konstatiert. Das erste Urteil besagt, dass die beiden ge-nannten Substantive dasselbe bedeuten, dass zwischen ihnen also die Relation der Sy-nonymie besteht. Wenn zwei Ausdrücke miteinander synonym sind, braucht man inder Semantik die beiden nicht voneinander zu unterscheiden: sie sind sozusagen untersemantischen Gesichtspunkten identisch. Im zweiten Urteil wird festgestellt, dass zwi-schen zwei deutschen Verben ein Bedeutungsunterschied besteht, dass sie also nichtmiteinander synonym sind; auch das ist eine – allerdings wenig aufregende – Sinnrela-tion. Das dritte Urteil ist interessanter. Hier wird ausgesagt, dass der erstgenannte Be-griff ein Oberbegriff des anderen ist. Man sagt auch, dass der Unterbegriff ein Hypo-nym des Oberbegriffs (= Hyperonyms) ist. Beim vierten Urteil handelt es sich nicht umeine verhaltensbiologische Aussage, sondern eine Aussage über die Bedeutungenzweier deutsche Wörter. Sie sind insofern miteinander unverträglich, als nichts unterbeide durch diese Wörter benannten Begriffe fallen kann; nichts kann zugleich Hundund Katze sein. Statt von ‘Unverträglichkeit’ spricht man hier auch von der Sinnrela-tion der Inkompatibilität. Daneben gibt es noch eine ganze Reihe weiterer semantischeinschlägiger Beziehungen zwischen Wörtern. Gemeinsam ergeben sie das (lexikali-sche) Begriffsnetz der Sprache. Wie dieses genau aussieht (i), wie man es möglichstgeschickt beschreibt (ii) und wie es sich von den Netzen anderer Sprachen unterscheidet(iii), sind typische Untersuchungsgegenstände der lexikalischen Semantik (oder Wort-semantik), auf die wir hier ganz kurz eingehen werden.

(i): Zu den Auffälligkeiten lexikalischer Begriffsnetze gehören lexikalischeLücken, die dort klaffen, wo ein Begriff durch kein Wort der Sprache ausge-drückt werden kann, obwohl man dies erwarten könnte. Der folgende Brief9liefert ein Beispiel:

9 Der Brief (samt Überschrift) stammt aus der Welt im Spiegel (Dezember 1975), einer im Zeitungsfor-mat gesetzten Rubrik der Satirezeitschrift Pardon; der Autor ist Robert Gernhardt.

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Schreiben, die bleibenHöhepunkte abendländischer Briefkultur, ausgewählt von KaplanKlappstuhl. Folge 27An die Dudenredaktion, Abt. Neue Worte.Betr. AnregungSehr geehrte Herren!Mir ist aufgefallen, daß die deutsche Sprache ein Wort zu wenighat. Wenn man nicht mehr "hungrig" ist, ist man "satt". Was istman jedoch, wenn man nicht mehr "durstig" ist? Na? Naa? Na bitte!Dann "hat man seinen Durst gestillt" oder "man ist nicht mehrdurstig" und was dergleichen unschöne Satzbandwürmer mehr sind.Ein knappes einsilbiges Wort für besagten Zustand fehlt jedoch,ich würde vorschlagen, dafür die Bezeichnung " schmöll " einzu-führen und in ihre Lexika aufzunehmen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Werner SchmöllMan beachte, dass die Lücke nicht einfach nur dadurch entsteht, dass es keinWort für einen bestimmten Begriff gibt: in diesem Sinne ist das Lexikon desDeutschen natürlich voller Lücken, weil es beispielsweise kein Wort fürMenschen gibt, die am Nikolaustag Geburtstag haben; aber es gibt auch fürkein anderes Geburtsdatum ein entsprechendes Wort, so dass man vom Restdes lexikalischen Systems her auch gar keine spezielle Bezeichnung fürNikolaus-Kinder (ein Neologismus?) vermißt. Weiter ist zu beachten, dass sichlexikalische Lücken nur auf die Nicht-Ausdrückbarkeit durch Wörter (im Ge-gensatz zu beliebigen Ausdrücken der betrachteten Sprache) beziehen. Wie inSchmölls Brief festgestellt wird, gibt es ja durchaus komplexe Ausdrücke fürschmöll; und Nikolaus-Kind haben wir selbst gerade über eine komplexe Be-schreibung definiert. Über (einzel-) sprachliche Nicht-Ausdrückbarkeit im all-gemeinen geben die lexikalischen Lücken allein keine Auskunft.

(ii): Eine ökonomische Darstellung eines Begriffsnetzes kann sich etwa dadurch er-geben, dass man sich bemüht, zumindest einige Sinnrelationen definitorischauf andere zurückzuführen. So läßt sich die Synonymie in vielen Fällen alswechselseitige Hyponymie (also: Hyponymie + Hyperonymie) auffassen. Einegrößere Straffung des Begriffsnetzes kann man erreichen, wenn man sichbemüht, komplexe Begriffe auf einfache zurückzuführen: Schwester bezeichnetein weibliches Geschwisterteil, während Bruder das männliche Pendant ist.Bedenkt man nun, dass man Geschwisterschaft noch weiter begrifflich redu-zieren kann – Geschwister sind Personen mit denselben Eltern – und dass dieGeschlechtsmerkmale wieder in die Bedeutung zahlreicher anderer Wörtereingehen (Henne und Hahn), so empfiehlt es sich, die Bedeutungen der ge-nannten Begriffswörter in einfachere Begriffsmerkmale (in diesem Falle‘männlich/weiblich’ und ‘Geschwisterteil’) zu zerlegen. Die atomaren Merk-male können dabei die Bedeutungen gewisser Wörter sein oder nicht-sprach-liche ‘Urbegriffe’. Man bezeichnet dieses Vorgehen als Komponential- oderMerkmalsanalyse. Die Nützlichkeit dieser Methode für die Darstellung vonSinnrelationen ergibt sich beispielsweise daraus, dass mit ihr Hyponymie undSynonymie leicht definierbar sind. Es ist auch denkbar, dass man auf dieseWeise das gesamte Lexikon einer Sprache auf wenige Grundbegriffe und ihre

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Kombinationen reduziert. Allerdings muß man dann mit mehr Kombinations-möglichkeiten als der bloßen Addition semantischer Merkmale rechnen.

(iii): Zu den offensichtlichen Kontrasten in den lexikalischen Strukturen von Spra-chen gehören vor allem die durch kulturelle, klimatische oder andere äußerli-che Faktoren bedingten Unterschiede in der Durchdringung einzelner inhalt-licher Bereiche: je besser die Braukunst, desto mehr Bierbenennungen, jemehr es schneit, desto subtiler sind die lexikalisierten Unterschiede zwischenSchneesorten und weißen Farbtönen, usw. Allerdings sind die Unterschiede indiesen Bereichen nicht annähernd so groß wie oft angenommen wird10. Ande-re Unterschiede kann man einfach nur zur Kenntnis nehmen – wie dieTatsache, dass im Französischen anstelle der von Herrn Schmöll beklagtenLücke ein Wort (désaltéré) zu finden ist.

Sinnrelationen lassen sich nicht nur zwischen Wörtern, sondern auch zwischen kom-plexen Ausdrücken feststellen. So sind etwa die nächsten drei Ausdrücke miteinandersynonym, während die darauffolgenden drei eine Kette von Oberbegriffen bilden:

weibliches PferdStutePferd weiblichen Geschlechtsschwarzes Turnierpferd männlichen Geschlechtsschwarzer HengstSäugetier

Während man im lexikalischen Bereich prinzipiell sämtliche bestehenden Sinnrelatio-nen durch Auflistung angeben kann, müssen wir zur systematischen Erfassung vonFällen wie den letzten grundsätzlich andere Wege beschreiten. Diese Beispiele lassensich zwar im Rahmen einer Merkmalsanalyse noch durch eine simple Addition von Be-deutungskomponenten beschreiben; doch reicht dieses Verfahren im allgemeinen nichtaus: was man braucht, ist eine Methode zur Beschreibung der Bedeutungskombina-tion. Allerdings findet man eine solche – das zeigt die Erfahrung – gerade nicht, wennman von lexikalischen Bedeutungen und Strukturen ausgeht, um dann schrittweise zukomplexen Ausdrücken zu gelangen. Das umgekehrte Vorgehen, das beim Satz beginntund sich nach unten vorarbeitet, ist erfolgreicher. Die Untersuchung der Prinzipien derBedeutungskombination heißt deshalb auch Satzsemantik (oder logische Semantik).

3. Strukturelle AmbiguitätAmbiguität gibt es nicht nur im Lexikon. Im Gegenteil: je komplexer ein sprachlicherAusdruck, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er mehrdeutig ist. Und dasInteressante dabei ist, dass ein solcher ambiger Ausdruck – sagen wir einmal: ein Satz– kein einziges ambiges Wort enthalten muss. Betrachten wir dazu ein Beispiel:11

(1) Die Studenten, die kein Geld haben, müssen nebenher jobben.

Überzeugen wir uns zunächst davon, dass keines der in (1) enthaltenen Wörter wirklich

10 Genaueres dazu findet man in Geoffrey Pullums The Great Eskimo Vocabulary Hoax (Chicago 1991).11 Ab jetzt werden wir, wie in der Linguistik üblich, Beispielssätze nummerieren, um leichter auf sie Be-

zug nehmen zu können.

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mehrdeutig ist. Das ist gar nicht so einfach, und die Erfahrung zeigt, dass Ambiguitä-ten gerne einmal übersehen werden. Aber selbst wenn sich bei näherem Hinsehen z. B.das Wort Geld in irgendeiner Weise als lexikalisch ambig erwiese, macht das eigentlichnichts. Denn die Mehrdeutigkeit, um die es uns hier geht, ist davon gänzlich unabhän-gig. Wir können sozusagen einfach eine Bedeutung von Geld “festhalten” und dennochbeobachten, dass (1) ambig ist. Zum einen kann der Satz nämlich besagen, dass einigeStudenten – nämlich diejenigen, die mittellos sind, gezwungen sind, Arbeit anzuneh-men. Vielleicht haben Sie ja diesen Satz genauso verstanden, als Sie ihn soeben zumersten Mal gelesen haben. Und vielleicht fragen Sie sich jetzt, was denn der Satz nochbedeuten kann. Vielleicht aber haben Sie den Satz von vornherein anders verstanden.Denn er könnte ebensogut besagen, dass alle Studenten Nebenbeschäftigungen nachzu-gehen haben – wobei die Studenten als im allgemeinen arm charakterisiert werden.Diese zweite Lesart des Satzes wird deutlicher – man sagt auch: forciert – wenn manden Satz laut liest und dabei nach dem Wort Studenten eine kleine Pause einlegt.

Der Satz (1) ist ein typisches Beispiel für eine strukturelle Ambiguität, also eine solcheMehrdeutigkeit, die nicht – oder nicht allein – auf eine lexikalische Ambiguität zurück-führbar ist. Stattdessen spielt – wie der Name schon sagt – die Struktur des betreffen-den Ausdrucks eine entscheidende Rolle. Wir werden noch sehen, was man sich in die-sem Zusammenhang unter der Struktur vorzustellen hat. Zunächst aber werden wirnoch ein paar allgemeine Bemerkungen einstreuen sowie ein paar andere Fälle struk-tureller Ambiguität betrachten.

Das Vorliegen einer strukturellen Ambiguität lässt sich – ähnlich wie im Falle der lexi-kalischen Ambiguität – durch spezielle Tests belegen. Wir werden das im folgendennicht jedesmal tun. Für die Ambiguität von (1) spricht jedenfalls, dass der Satz zu-gleich wahr und falsch sein kann – nämlich dann, wenn zwar alle Studenten, die keinGeld haben, arbeiten müssen, nicht aber alle anderen. Wie anders soll man sich dieseKuriosität – dass ein und derselbe Satz in ein und derselben Situation wahr und falschist – erklären, wenn nicht durch eine Mehrdeutigkeit dieses Satzes?

Apropos ‘ein und derselbe Satz’: Genau wie bei Wörtern muss man auch bei Sätzen zwi-schen Oberflächenform und zugrundeliegendem Ausdruck unterscheiden. Dass (1) am-big ist, heißt ja gerade, dass es sich in gewisser Weise um zwei zugrundeliegende Aus-drücke mit derselben Oberfläche handelt. Handelt es sich bei (1) also strenggenommenum zwei Sätze? Das hängt davon ab, ob man mit Satz die Oberflächenform oder den zu-grundeliegenden Ausdruck meint. Wie im Falle des Wortes wollen wir uns da nichtweiter festlegen. Aber es ist wichtig, dass man sich den Unterschied klarmacht.

Strukturelle Ambiguitäten sind oft nicht leicht zu erkennen. Wenn man einen Satz wie(1) liest, wird man ihn oft als vollkommen eindeutig empfinden. Beim Vorlesen kannman häufig, wie auch in (1), eine der Lesarten durch besondere Intonation, Pausen o.ä.nahelegen. Wenn diese Mittel nicht zur Verfügung stehen, man sich aber trotzdem überdie verschiedenen Lesarten verständigen will, kann man den einfach den Ausdruck soreformulieren, dass die Mehrdeutigkeit verschwindet:

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(1a) Diejenigen Studenten, die kein Geld haben, müssen nebenher jobben.(1b) Die Studenten haben kein Geld und müssen nebenher jobben.

Auch wenn (1a) und (1b) nicht genau dasselbe bedeuten mögen wie die entsprechendenLesarten von (1), sind diese beiden Paraphrasen (= Umschreibungen) doch gut genug,um die Mehrdeutigkeit von (1) zu verdeutlichen.

Auch die folgenden Sätze sind jeweils strukturell ambig, und auch für sie lassen sichentsprechende Paraphrasen angeben:

(2) Fritz weiß, was Gaby vermutet.(3) Trinken Sie Tee oder Kaffee?(4) Vor zwanzig Jahren waren die Professoren noch jünger.(5) Mein Schwager möchte eine Norwegerin heiraten.(6) Gaby sucht ein grünes Heft.(7) Wie viele Bücher hat jeder von euch gelesen?(8) Fritz kennt Gaby nicht, weil sie in Hamburg wohnt.

Die Angabe entsprechender Paraphrasen überlassen wir der Leserschaft. Nicht jedemdieser Fälle ist ohne weiteres anzusehen, dass es sich um eine strukturelle Ambiguitäthandelt: manchmal ist – wie im Falle von (3) – eine der beiden Lesarten etwas entlegen;manchmal könnte es sich auch ebensogut um eine lexikalische Ambiguität – wie etwaim Falle (5) eine ‘zufällige’ Mehrdeutigkeit des Wortes eine – handeln; oder es könnte –z.B. bei (3) – der Verdacht bestehen, dass es sich bei der angeblichen Mehrdeutigkeit derStrukturierung in Wirklichkeit um eine grammatisch eindeutige Struktur mit verschie-denen Verwendungen handelt. Ein vernünftiges Urteil darüber, ob und inwiefern einSatz strukturell (oder sonstwie) ambig ist, lässt sich oft nur auf dem Hintergrund einersemantischen Analyse fällen. Die Details solcher Analysen gehen weit über den Stoffdieses Einführungskurses hinaus. Aber die folgenden Absätze sollen wenigstens einenEindruck von der allgemeinen Vorgehensweise vermitteln.

Um zu sehen, wie strukturelle Ambiguität im Prinzip entsteht, betrachten wir einbesonders durchsichtiges Beispiel:

(9) alte Männer und Frauen

(9) ist in offensichtlicher Weise mehrdeutig. Zum einen kann eine durch diesen Aus-druck bezeichnete Gruppe aus alten Personen beiderlei Geschlechts bestehen; zumanderen kann eine Gruppe mit alten Männern und Frauen aller Altersgruppengemeint sein. Die folgenden Paraphrasen machen das deutlich:

(9a) alte Männer und alte Frauen(9b) Frauen und alte Männer

Intuitiv gesprochen liegt die Mehrdeutigkeit von (9) darin, dass sich das Adjektiv nurauf das Substantiv Männer oder aber auf den gesamten restlichen Ausdruck – Männerund Frauen – beziehen kann. Diese Art von Mehrdeutigkeit gibt es auch in mathemati-

schen Formeln, und für sie hat man die Klammerung erfunden: 232 kann entweder

als (23)2

disambiguiert werden und dann die Zahl 64 [= 82] bezeichnen; andernfalls ist

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die Klammerung 2(32) gemeint, und man hat es mit der Zahl 512 [= 29] zu tun.Klammerung disambiguiert auch (9):

(9a') alte [ Männer und Frauen ](9b') [ alte Männer ] und Frauen

Anstatt von Klammern benutzt man in der Linguistik eine – vollkommen äquivalente –graphische Darstellung mithilfe sog. Strukturbäume:

(9a")

alte Männer und Frauen

(9b")

Die Art von Struktur, die durch Klammerungen und Bäume angezeigt wird, ist die sog.Konstituentenstruktur, die wiederum Teil der syntaktischen Struktur komplexerAusdrücke ist. Näheres dazu erfährt man im Syntax-Teil der Vorlesung. Aber einigeEigenschaften der Strukturierung in Konstitenten werden für das folgende benötigt unddeshalb an dieser Stelle besprochen.

Die Konstitutentenstruktur unterteilt einen komplexen Ausdruck in seine Teile, dieTeile dieser Teile usw. bis zur Wortebene. Die Unterteilung reflektiert wiederumbestimmte (syntaktische) Regularitäten des Aufbaus sprachlicher Ausdrücke. Im Fallevon (9) spielen die folgenden Regularitäten eine Rolle:

(R1) Eine Nominalphrase (N P ) kann aus einem Adjektiv (Adj ) und einer(kleineren) Nominalphrase bestehen – in syntaktischer Notation:

NP –> Adj + NP.(R2) Eine Nominalphrase (kann) aus einer (kleineren) Nominalphrase, einer Kon-

junktion (Konj) und einer (weiteren kleineren) Nominalphrase bestehen:NP –> NP + Konj + NP.

Diese Grammatikregeln dienen zur Illustration. Die tatsächlichen Verhältnisse in derdeutschen Nominalphrase sind ungleich komplizierter. Unter anderem wären Eigen-schaften wie Numerus (Singular oder Plural), Kasus (Nominativ,…) usw. zuberücksichtigen.

Gehen wir einmal davon aus, dass es sich bei Männer und Frauen jeweils um Nomi-nalphrasen und bei und um eine Konjunktion handelt, dann besagt (R2), dass auchMänner und Frauen eine Nominalphrase ist, auf die wir nun die Regel (R1) anwendenkönnen, nach der auch alte Männer und Frauen eine Nominalphrase ist (denn alte istbekanntlich ein Adjektiv). Schematisch sieht diese Herleitung wie folgt aus:

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Ausdruck Kategorie Wieso?

Männer NP steht im Lexikon

Frauen NP steht im Lexikon

und Konj steht im Lexikon

Männer und Frauen NP nach (R2)

alte Adj steht im Lexikon

alte Männer und Frauen NP nach (R1)

Aber das ist offensichtlich nicht die einzige Möglichkeit, aus den Regeln (R1) und (R2)zu schließen, dass es sich bei (9) um eine Nominalphrase handelt. Zu demselbenErgebnis kommt man auch auf diesem Weg:

Ausdruck Kategorie Wieso?

Männer NP steht im Lexikon

alte Adj steht im Lexikon

alte Männer NP nach (R1)

und Konj steht im Lexikon

Frauen NP steht im Lexikon

alte Männer und Frauen NP nach (R2)

In der ersten dieser beiden Herleitungen wird zunächst die NP Männer und Frauengebildet, auf die anschließend das Adjektiv alte bezogen wird. Die Klammerung ist alsowie in (9a') bzw. (9a"). Im zweiten Fall wird das Adjektiv lediglich auf die NP Männerbezogen, und wir erhalten die der Lesart (9b) entsprechende Struktur.

Durch verschiedene Vorgehensweisen beim Anwenden bestimmter Grammatikregelnkönnen somit unterschiedliche Konstituentenstrukturen für denselben oberflächlichenAusdruck entstehen. Wenn dem so ist, lassen sich strukturelle Ambiguitäten wie in (9)dadurch erklären, dass jeder Grammatikregel eine Bedeutungskombination entsprichtund dass die Reihenfolge der Anwendung dieser Kombinationen einen Einfluss auf dasErgebnis hat – ganz wie in der Mathematik. Bei dem ambigen mathematischen Term

232 kommt es ja auch darauf an, in welcher Reihenfolge man die beteiligten Zahlen po-

tenziert: entweder man setzt zuerst 2 hoch 3 und dann das Ergebnis ins Quadrat, oderman quadriert die 3 und berechnet 2 hoch dem Ergebnis dieses Quadrats. Im Falle von(9) verbindet man entweder zuerst die Bedeutung von Männer und Frauen mit der vonund und modifiziert dann das Ergebnis mit der Bedeutung von alte. In diesem Falle er-hält man zuerst eine NP, die eine gemischte Gruppe von Personen verschiedenen Altersbezeichnet, von denen dann – als Ergebnis der genannten Modifikation – die jüngerenausgenommen werden. So kommt die Lesart (9a) aufgrund der Klammerung (9a') zu-stande. Umgekehrt hätte man durch Modifikation der NP Männer durch das Adjektiv

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alte eine NP erhalten, die eine Gruppe von reiferen männlichen Personen bezeichnetetc. pp. Die Details dieser Vorgehensweise mögen unklar sein – sie sollten es sogar zudieser frühen Stunde – aber die Strategie ist hoffentlich klar geworden. In der Semantikbezeichnet man diese Vorgehensweise als kompositionell. Genauer gesagt nimmt mandas folgende Prinzip an:

Allgemeines KompositionalitätsprinzipDie Bedeutung eines zusammengesetzten Ausdrucks ergibt sich aus den Bedeutungenseiner unmittelbaren Teile und der Art ihrer Kombination.

Man beachte, dass in diesem Prinzip von den unmittelbaren Teilen eines Ausdrucksdie Rede ist, also solche, die selbst nicht wieder Teile größerer Teile sind. Was die un-mittelbaren Teile eines Ausdrucks sind, kann von seiner syntaktischen Struktur abhän-gen: Nimmt man die Klammerung (9a') an, besteht der (Oberflächen-) Ausdruck alteMänner und Frauen aus zwei unmittelbaren Teilen, nämlich dem Adjektiv alte undder Nominalphrase Männer und Frauen. Bei der Strukturierung (9b') dagegen zerfälltder (Oberflächen-) Ausdruck alte Männer und Frauen in drei Teile. Nach dem allge-meinen Kompositionalitätsprinzip hängt nun die Bedeutung des Gesamtausdrucks je-weils von seiner Zerlegung in seine unmittelbaren Teile – also von seiner Konstituen-tenstruktur – ab. Wie man sich diese Abhängigkeit ungefähr vorzustellen hat, habenwir vorher gesehen. Das allgemeine Kompositionalitätsprinzip sagt jetzt nur noch, dassman sich den Zusammenhang zwischen Konstituentenstruktur und Bedeutung immerso vorzustellen hat – dass sich also die Konstituentenstruktur bestimmt, wie die Bedeu-tung eines komplexen Ausdrucks zustande kommt.

Ferner ist im allgemeinen Kompositionalitätsprinzip von der Art der Kombination derunmittelbaren Teile eines Ausdrucks die Rede. Der Grund dafür ist, dass man nichtimmer allein anhand der Bedeutungen der Teile eines Ausdrucks die Bedeutung desGesamtausdrucks bestimmen kann. Hier ist ein (vereinfachtes) Beispiel:

(10) Fritz kommt.(11) Kommt Fritz?

(10) und (11) bestehen aus denselben (unmittelbaren) Teilen, nämlich den Wörtern Fritzund kommt, haben aber verschiedene Bedeutungen. Das liegt offenbar daran, dass in(10) diese beiden Bedeutungen zu einer Aussage kombiniert werden, in (11) dagegen zueiner Frage. Den verschiedenen Arten der Bedeutungskombination liegen also ver-schiedene syntaktische Konstruktionen zugrunde.12

Mit dem Kompositionalität kann man im Prinzip jede strukturelle Ambiguität erklären– vorausgesetzt, man weiß, wie die betreffenden Konstituentenstrukturen aussehen,d.h. in welche Teile sich die ambigen Ausdrücke zerlegen lassen und welche syntakti-schen Konstruktionen diese Teile eingehen. Das ist leider nicht immer so offensichtlich,wie in (9). So mag es z.B. überraschen, dass sich die Ambiguität (1) durch die folgenden

12 In diesem Falle führen die verschiedenen Konstruktionen zu einer unterschiedlichen Abfolge derTeile. Das ist nicht immer so. Der ambige Satz (2) z.B. hat zwei verschiedene Strukturen, in denen je-weils dieselben (unmittelbaren) Teile – nämlich Fritz weiß und was Gaby vermutet – auf verschie-dene Weisen kombiniert werden, ohne dass dies an der Oberfläche sichtbar ist.

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Klammerungen erklären lässt:

(1a') [die [ Studenten [ die kein Geld haben ] ] ](1b') [ [die Studenten ] [ die kein Geld haben ] ]

Nach der Klammerung (1a') modifiziert der Relativsatz die kein Geld haben nur dasSubstantiv Studenten. Semantisch bewirkt diese Modifikation, dass die durch das Sub-stantiv ausgedrückte Eigenschaft (Student zu sein) weiter eingeschränkt wird (mittel-loser Student zu sein). (1a) heißt deshalb die restriktive (= einschränkende) Lesart. DieFunktion des Artikels die besteht darin, die Gruppe aller Personen mit der so einge-schränkten Eigenschaft herauszugreifen. Ein Unterschied zwischen dem modifiziertenartikellosen Substantiv Studenten die kein Geld haben und der vollen Nominalphrase(1a') ist demnach, dass ersteres eine Eigenschaft ausdrückt, während letzteres eineGruppe (mit dieser Eigenschaft) herausgreift.

Dieser Unterschied wird wichtig, wenn man sich an die kompositionelle Deutung von(1b') macht. Denn in (1b') hat der Artikel dieselbe Funktion, aber er bezieht sich (wegender Klammerung) nur auf das Substantiv Studenten: die Studenten greift dement-sprechend die Gruppe aller Personen heraus, die die Eigenschaft, Student zu sein,haben. Der Relativsatz kann nun nicht mehr die Funktion haben, eine Eigenschaft ein-zuschränken; denn im Unterschied zum einfachen Substantiv Studenten drückt die Stu-denten keine Eigenschaft aus, sondern greift eine Gruppe, die aller Studenten, heraus.Was macht der Relativsatz mit dieser Gruppe? Offenbar sagt er über sie aus, dass alleihre Mitglieder der Einschränkung genügen, kein Geld zu haben.

Während also der Relativsatz in (1a') die Funktion hat, eine Eigenschaft festzulegen, diedann wiederum dazu dient, eine bestimmte Gruppe herauszugreifen – nämlich dieGruppe derjenigen, die diese Eigenschaft besitzen – wird in (1b') zuerst eine Gruppeherausgegriffen, über die der Relativsatz dann eine Aussage macht. Diese zweite Lesartwird in der Semantik als appositiv (= beifügend) oder einfach als nicht-restriktiv be-zeichnet. Die Details dieser Erklärung der Ambiguität von (1) gehen über diese Einfüh-rung hinaus, gehören aber zum Standardstoff eines Semantik-Proseminars. Die ande-ren Ambiguitäten sind komplizierter. Bei einigen von ihnen muss man auf wesentlichraffiniertere Strukturierungsmöglichkeiten zurückgreifen. So muss man für eine derbeiden Lesarten von (5) den Satz in die unmittelbaren Teile eine Norwegerin und MeinSchwager möchte ____ heiraten zerlegen (wobei ‘____’ nur andeuten soll, dass derAusdruck lückenhaft ist). Diese aus semantischen Gründen vorgenommene Zerlegunglässt sich nicht per Klammerung darstellen und wirkt auf den ersten Blick vielleicht be-fremdlich. Sie wird etwas plausibler, wenn man die umständliche Paraphrase EineNorwegerin ist so, dass mein Schwager sie heiraten möchte betrachtet. Auf eine de-taillierte Erklärung des Zustandekommens dieser und der anderen Lesart – die man inder Fachliteratur als de re und de dicto bezeichnet13 – muss man allerdings noch biszum Hauptstudium warten. Das gleiche gilt für die anderen Beispiele der obigen Liste.

13 Wörtlich über die Sache und über das Gesagte. Diese Terminologie stammt aus der mittelalterlichenSemantik. Andere Termini sind: transparent (= durchsichtig) oder spezifisch (für de re) und opak(= undurchsichtig) oder unspezifisch (statt de dicto).

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4. ExtensionenUm zu einem genaueren Bild zu gelangen, wie sich Wortbedeutungen allmählichanhand der syntaktischen Struktur zu Satzbedeutungen kombinieren, müssen wir unsdarüber Gedanken machen, was Wort- und Satzbedeutungen eigentlich sind. Dabeiwerden wir der Tradition der logischen Semantik folgen, die ursprünglich (Ende des19. Jahrhunderts) für die Formelsprache der Mathematik entwickelt wurde, sich aberauch als flexibel genug für die linguistische Semantik erwiesen hat.

Psychologismus Wenn jemand ein neues Wort lernt, lernt er dabei die Wortform(en) mit einer Bedeutungzu verbinden. Die vorher sinnlose Lautverbindung schmöll füllt sich fortan für diesenSprecher mit Leben, und so denkt er jetzt, sobald er das Wort hört, an Leute, die ihrenDurst gestillt haben. Von daher liegt es nahe, die Frage, was sprachliche Bedeutungenim allgemeinen sind, wie folgt zu beantworten: Die Bedeutung eines Ausdrucks ist dieVorstellung, die ein Sprecher mit diesem Ausdruck assoziiert. Gegen einen solchenpsychologistischen Bedeutungsbegriff sprechen allerdings zahlreiche Gründe. Hiersind die wichtigsten:

Anti-psychologistische EinwändeAssoziierte Vorstellungen sind …

… subjektiv: Verschiedene Sprecher assozieren mit einzelnen Ausdrücken zuverschiedenen Gelegenheiten verschiedene Dinge, ohne dass sich die Bedeu-tung dieser Ausdrücke dadurch ändert.… eingeschränkt: Bei Konkreta wie Tisch oder Pferd könnte man sich assozi-ierte ‘mentale Bilder’ als Bedeutungen vorstellen, aber was assoziiert man mitWörtern wie und, meistens, nur, …?… irrelevant: Sprecher können aufgrund persönlicher Erlebnisse alles Mögli-che beim Nennen eines Wortes assoziieren, ohne dass dies Einfluss auf seineBedeutung hätte.… privat: Die Vorstellungen und Assoziationen des Einzelnen sind anderenSprechern prinzipiell unzugänglich, wie können sie da zur Kommunikationzwischen den Sprechern dienen?

Angesichts dieser Einwände empfiehlt es sich, nach einem geeigneteren Bedeutungs-begriff Ausschau zu halten. Wenn eine Sprecherin ein neues Wort wie schmöll lernt,weckt diese Lautfolge nicht nur neue Assoziationen in ihr. Sie hat damit – und das istoffenbar das für das Erlernen der Bedeutung enscheidende – die Fähigkeit erworben,dieses Wort in der sprachlichen Kommunikation einzusetzen: ein ihr angebotenes GlasOrangensaft kann sie jetzt z.B. ablehnen, indem sie sich selbst als schmöll bezeichnet –immer vorausgesetzt, dass sich dieses Wort auch unter ihren Gesprächspartnerndurchgesetzt hat. Der Ausgangspunkt der logischen Semantik besteht nun darin,sprachliche Bedeutung wesentlich über diese kommunikativen Funktionen zu bestim-men. Zwei Aspekte der der kommunikativen Funktion stehen dabei im Vordergrund:

• der Aspekt des Sachbezugs: Sprache wird verwendet, um über Dinge, Perso-nen, Ereignisse etc. zu sprechen;

• der Aspekt der Information: Sprache wird verwendet, um Informationenauszutauschen.

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Sachbezug und Information sind natürlich nicht die einzigen Funktionen der Kommu-nikation, und sie sind auch nicht voneinander unabhängig. Aber sie basieren zweifellosdarauf, dass sprachliche Ausdrücke nicht nur sinnlose Laut- oder Buchstabenfolgensind, sondern dass sie Bedeutungen haben. Was auch immer Bedeutungen sind, siemüssen so geartet sein, dass sie diese beiden Aspekte der Kommunikation erklärenhelfen.

Der Bedeutungsbegriff der logischen Semantik14 basiert auf den beiden obigen Aspekteder kommunikativen Funktion sprachlicher Ausdrücke. Leicht vereinfacht kann mansagen, dass sprachliche Bedeutung danach aus zwei Komponenten besteht, von denendie erste – die Extension – den Sachbezug sichert, während die zweite – die Intension– die Informativität betrifft. In diesem Kapitel geht es um die erste Komponente.

Einfache ExtensionenViele sprachliche Ausdrücke beziehen sich klar auf irgendwelche Gegenstände oderPersonen, für andere lässt sich mit ein bisschen Nachdenken ein Sachbezug angeben,bei wieder anderen scheint es, als bezögen sie sich nicht direkt auf Gegenstände. DerName Frankfurt bezieht sich z.B. auf eine Stadt15; worauf sich ein Wort wie nichtsbeziehen soll, ist mysteriös, und irgendwo dazwischen liegt ein Substantiv wie Tisch,das sich natürlich nicht auf einen bestimmten Gegenstand bezieht, aber bei demdennoch ein gewisser Sachbezug erkennbar ist. Im folgenden werden wir versuchen,für beliebige Ausdrücke Objekte (im einem sehr weiten Sinn) zu finden, auf die sie sichbeziehen. Diese Objekte werden wir die Extensionen der jeweiligen Ausdrücke nennen.

Eigennamen sind die einfachsten Fälle: Jeder Name bezeichnet offenkundig einen Ge-genstand, seinen Namensträger, und diesen werden wir als die Extension des Namensansehen. Ein ähnlich klarer Fall scheinen Kennzeichnungen zu sein, also Nominal-phrasen der Gestalt der/die/das N, wobei N ein – möglicherweise um Adjektive, Rela-tivsätze oder sonstwie erweitertes – Substantiv im Singular ist: das Schloss; der Präsi-dent der Vereinigten Staaten; die viertgrößte Stadt Frankreichs; … Auch bei ihnen istklar, was ihre Extension ist: ein Gebäude bzw. (je nach Lesart) eine Schließvorrichtung;eine Person (George Bush Jr.); ein Ort (Nizza); … Trotz dieser semantischen Gemein-samkeit – beide Ausdrücke haben offenkundig Gegenstände, Orte, Personen oder allge-mein: Individuen als Extensionen – funktionieren Kennzeichnungen allerdings ganzanders als Eigennamen. Denn erstens ist das Verhältnis zwischen Name und Namens-träger ein rein konventionelles, d.h. was die Extension eines Namens ist, hängt nur vongewissen sprachlichen Konventionen ab. Bei Kennzeichnungen ist das anders: wer dieExtension von der Präsident der Vereinigten Staaten ist, hängt zwar zum Teil auch vonsprachlichen Konventionen ab – was Präsident genau bedeutet usw. – aber eben nur

14 Dieser Bedeutungsbegriff geht zurück auf den Aufsatz ‘Über Sinn und Bedeutung’ (1892) von GottlobFrege (1848-1925; -> home.t-online.de/home/wstelzner/), dem Begründer der mathematischen Logik.

15 In gewisser Weise bezieht sich der Name auf mehr als eine Stadt, aber das gilt nur für das Ober-flächenwort Frankfurt, dem Tiefenformen wie FrankfurtMain, FrankfurtOder etc. zugrundeliegen. Entsprechendes nehmen wir auch für Personennamen wie Hans Meier an.

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zum Teil; zum anderen Teil entscheiden dies die amerikanischen Wählerinnen undWähler, und diese Entscheidung hat mit den sprachlichen Konventionen des Deutschennichts zu tun. Und nach den nächsten US-Wahlen wird sich unweigerlich auch die Ex-tension der Kennzeichnung ändern, denn die Wahlen schaffen neue Fakten. Im allge-meinen lässt sich sagen, dass die Extension einer Kennzeichnung tatsachenabhängigist; das ist der erste Unterschied zwischen Kennzeichnungen und Eigennamen. Derzweite Unterschied besteht darin, dass Kennzeichnungen im Gegensatz zu Eigennamennicht immer Extensionen besitzen. Das in der Semantik beliebteste Beispiel für eineKennzeichnung ohne Extension ist der König von Frankreich. Die französischen Revo-lution hat diese Kennzeichnung extensionslos gemacht; und auch in diesem Falle hatdas nichts mit den sprachlichen Konventionen des Deutschen zu tun.16 Eigennamendagegen haben eine Extension, die ihnen in aller Regel per Taufe zugesprochen wird. Esgibt zwar auch hier ein paar Ausnahmen von dieser Regel, aber zumeist handelt es sichdann um Fälle, in denen irrtümlicherweise das Vorhandensein eines Namensträgersangenommen wurde und damit um einen irregeleiteten Sprachgebrauch. Ein berühm-ter Fall ist der Name Vulcan, mit dem im 19. Jahrhundert einige Astronomen einenangeblichen Planeten bezeichnen wollten, um damit Unregelmäßigkeiten der Umlauf-bahn des Merkur zu erklären. Einen solchen Planeten gibt es nicht, die Unregelmäßig-keiten haben eine andere (kompliziertere) Erklärung. Der Name Vulcan ist damit ex-tensionslos, aber es handelt sich, wie gesagt, um eine Ausnahme, die bei näherem Hin-sehen auch ganz anders gelagert ist als der Fall einer leeren Kennzeichnung.17

Abgesehen von den beiden genannten – wichtigen – Unterschieden sind Eigennamenund Kennzeichnungen insofern einander ähnlich, als bei ihnen vollkommen offensicht-lich ist, dass sie sich auf einzelne Gegenstände beziehen. Aber auch für bestimmte Sub-stantive lassen sich einigermaßen leicht Extensionen finden. Ein Wort wie Stadt beziehtsich im Gegensatz zum Eigennamen Frankfurt offensichtlich nicht auf einen bestimm-ten Ort, sondern unbestimmt auf mehrere Orte. Anstatt daraus zu schließen, dass dasSubstantiv mehrere Extensionen hat, legt man fest, dass es eine einzige Extension hat,die aus allen Städten besteht. Diese Extension ist die Menge aller Städte.

Mengen spielen in der logischen Semantik eine wichtige Rolle. Der Begriff stammt ausder Mathematik (Mengenlehre). Für die Zwecke dieser Einführung genügt es, sich mitden grundlegendsten Eigenschaften von Mengen vertraut zu machen. Eine Mengebestimmt sich danach, was ihre Elemente sind. Wenn wir also von der Menge allerStädte sprechen, sind die Elemente dieser Menge die Städte. Um eine Menge zubenennen, kann man alle Elemente auflisten und eine Nasenklammer um sie machen:{Madrid, Lissabon, Rom} ist z.B. eine Menge mit drei Elementen, wobei jedes derElemente eine Stadt ist. (Natürlich geht das nur bei einigermaßen kleinen Mengen.) Beider Auflistung kommt es weder auf die Reihenfolge noch auf die Häufigkeit der

16 Kennzeichnungen wären damit Ausnahmen zu der Annahme, dass jeder sprachliche Ausdruck eineExtension besitzt. Wir kommen darauf in Kapitel 7 zurück.

17 Der Name ist extensionslos, weil bei der Festlegung der entsprechenden sprachlichen Konventionenetwas schiefgelaufen ist; bei leeren Kennzeichnungen dagegen funktionieren diese Konventionenimmer noch, nur die Fakten spielen nicht mit.

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Listenmitglieder an – noch darauf, wie man sie benennt. Die soeben betrachtete drei-elementige Menge ist also dieselbe Menge wie: {Rom, Madrid, Rom, die HauptstadtPortugals}. Die Elemente einer Menge können selbst wieder Mengen sein. Zum Beispielist {Madrid, {Madrid, Lissabon, Rom}} eine Menge mit zwei Elementen, von denen einesdie Hauptstadt Spaniens ist und das andere eine Menge von Städten. Eine ganzbesondere Menge hat gar keine Elemente: die leere Menge Ø (alias { }); sie wird unsgleich wieder begegnen. Um auszudrücken, dass ein Objekt x Element einer Menge Mist, schreibt man: ‘x∈ M ’; ‘x∉ M ‘ besagt das Gegenteil. Es gilt also: Rom∈ {Madrid,Lissabon, Rom}, aber Rom∉ {Madrid, {Madrid, Lissabon, Rom}}! (Warum nicht?) So vielMengenlehre reicht fürs erste.

Nicht alle Substantive haben Mengen als Extensionen, aber die meisten. Ein Gegen-beispiel ist ein sog. Massenomen (engl. mass noun) wie Milch. Offenbar kann mannicht sagen, dass sich Milch (analog zu Stadt) auf mehrere Dinge auf einmal beziehtund dann die Menge dieser Dinge als seine Extension ansehen. Es scheint eher so, alsbezöge sich Milch auf eine Substanz. Wie dem auch sei: Massenomina, die wir hiernicht weiter beachten werden, verhalten sich anders als ‘normale’ Substantive wieStadt, Land, Fluss, etc. Letztere bezeichnet man auch als Gemeinnamen.

Mengen eignen sich auch als Extensionen intransitiver Verben. So wie sich derGemeinname Stadt auf alle Städte bezieht, bezieht sich das Verb schlafen auf alleIndividuen, die schlafen, also die Menge aller Schläfer. (Das Substantiv Schläfer hatdamit dieselbe Extension wie das Verb schlafen!) Bei transitiven Verben dagegen nimmtman etwas kompliziertere Extensionen an. Ein Verb wie küssen bezieht sich ja ingewisser Weise gleichzeitig auf jeweils zwei Personen. Allerdings bezieht es sich aufjede der beiden Personen auf eine andere Weise: auf den einen als Küsser, auf denanderen als Geküssten. Um diesen kleinen Unterschied darzustellen, benötigt man denBegriff des Paares: die Extension von küssen besteht aus allen Paaren (x,y), bei deneny von x geküsst wird. Wenn also Fritz seine Frau Eike küsst, ist das Paar (Fritz, Eike)in der Extension von küssen; wenn Eike ihren Mann nicht küsst, ist das Paar (Eike,Fritz) nicht in dieser Extension. Man sieht daran, dass bei Paaren – im Unterschied zuMengen – die Reihenfolge der Komponenten eine Rolle spielt – ebenso wie dieHäufigkeit: das Paar (Fritz, Fritz) taucht nur in der Extension auf, wenn Fritz sichselbst küsst (z.B. auf die Hand). Die Benennung der Komponenten spielt dagegen auchbei Paaren keine Rolle: (Fritz, Fritzens Frau) = (Eikes Mann, Eike).

Hat man erst einmal Paare, ist es nicht schwer, auch Tripel, Quadrupel, Quintupel, etc.anzunehmen, also ‘Listen’, die aus drei, vier, fünf etc. Komponenten bestehen. Im all-gemeinen spricht man von n-Tupeln. Ein Paar ist also ein 2-Tupel, ein Tripel ein 3-Tu-pel usw. Für sog. ditransitive Verben wie geben, die neben einem direkten (Akkusativ-)Objekt noch ein indirektes (Dativ-) Objekt nehmen, lassen sich dann Mengen von Tri-peln als Extensionen annehmen. Verlangt das Verb noch eine weitere Ergänzung, be-steht seine Extension aus Quadrupeln.

Wir haben damit die folgenden relativ klaren Fälle von Sachbezug kennen gelernt:

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Ausdruckstyp(Kategorie)

Extensionstyp Beispiel Extension des Beispiels

Eigenname Individuum(Namensträger)

Fritz Fritz Hamm

Kennzeichnung Individuum(gekennzeichnetes

Objekt)

die viertgrößteStadt

Frankreichs

Nizza

Gemeinname Menge (vonIndividuen)

Tisch Menge der Tische

intransitivesVerb

Menge (vonIndividuen)

pennen Menge der Schläfer

transitives Verb Menge von Paaren(von Individuen)

essen Menge der Paare(Esser,Essen)

ditransitivesVerb

Menge von Tripeln(von Individuen)

schenken Menge der Tripel(Schenker,Beschenkter,

Geschenk)

Extensionen und Sinnrelationen18

Bevor zu den weniger offensichtlichen Fällen kommen, werfen wir noch einen kurzenBlick auf einen Zusammenhang zwischen den am Ende des zweiten Kapitels angespro-chenen Sinnrelationen und den Extensionen von Substantiven. Denn viele dieser Sinn-relationen lassen sich auf einfache Weise anhand ihrer Auswirkungen auf die Exten-sionen graphisch darstellen. Nehmen wir zum Beispiel die Hyponymie, die Beziehungzwischen Unter- und Oberbegriff, wie sie zwischen Pudel und Hund besteht. Diese Hy-ponymie wirkt sich in dem Sinne auf die Extensionen der beiden Substantive aus, als je-des Element der Extension des Unterbegriffs auch Element des Oberbegriffs sein muss:die Pudel bilden eine Teilmenge der Hunde. Die Situation lässt sich am besten gra-phisch veranschaulichen:

Pudel

Hunde

Das Diagramm sollte sich eigentlich von selbst verstehen: der große Kasten stellt dieMenge aller Individuen dar, die durch unsichtbare Punkte vertreten sind; die Mengeder Hund und die der Pudel – also die Extensionen von Hund und Pudel – sind jeweils18 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!

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durch einen Kreis dargestellt. Die Teilmengenbeziehung kommt dadurch zum Aus-druck, dass der eine Kreis vollständig in dem anderen enthalten ist.Stehen zwei Ausdrücke in der Hyponymie-Beziehung zueinander, ist die Extension deseinen ganz offensichtlich eine Teilmenge der Extension des anderen. In ähnlicher Wei-se schlagen sich auch andere Sinnrelationen in Beziehungen zwischen Extensionennieder. Die weiter oben erwähnte Inkompatibilität zwischen Hund und Katze zum Bei-spiel wirkt sich dahingehend aus, dass den beiden Extensionen kein Element gemein-sam ist, dass die Mengen disjunkt sind, wie man in der Mengenlehre sagt. Graphisch:

Hunde

Katzen

Der Sinnrelation der Inkompatibilität entspricht also im Bereich der Extensionen diemengentheoretische Beziehung der Disjunktheit, so wie der Hyponymie die Teilmen-gen-Beziehung entspricht. Diese Entsprechungen sind allerdings einseitig: nicht im-mer, wenn die Extensionen zweier Ausdrücke in einer der beiden dargestellten Bezie-hung stehen, besteht auch die entsprechende Sinnrelation zwischen ihnen. Die Exten-sionen können ja auch rein zufällig in einer Teilmengen- oder Disjunktheits-Beziehungstehen, also ohne dass dies aus dem Sinn der betreffenden Ausdrücke hervorgeht. Bei-spielsweise ist (wohl) jeder Hochschullehrer volljährig, aber die Substantive Professorund Erwachsener stehen deshalb nicht in der Hyponymie-Beziehung; die Teilmengen-Beziehung zwischen den beiden Extensionen ist etwas rein faktisches und lässt sichnicht aus der Bedeutung der beiden Wörter herleiten. Zwölfjährige Professoren sind jadurchaus im Bereich des Vorstellbaren – was zeigt, dass die beiden Wortsinne begriff-lich unabhängig voneinander sind, dass also insbesondere keiner ein Unterbegriff desanderen ist. Bei Hund und Pudel verhält sich die Sache anders: dass man sich unter ei-nem Pudel, der kein Hund ist – wörtlich – nichts vorstellen kann, ist ein klares Indizdafür, dass es zur Bedeutung des Wortes Pudel gehört, sich auf bestimmte Hunde zu be-ziehen. Die LeserInnen sind dazu eingeladen, sich ein entsprechendes Beispiel für einezufällige, nicht auf Inkompatibilität basierende Disjunktheit zweier Extensionen zuüberlegen.Nicht immer lässt sich also von einer Beziehung zwischen den Extensionen zweier Aus-drücke auf die entsprechende Sinnrelation zurückschließen. Die Entsprechung zwi-schen Sinnrelationen und mengentheoretischen Beziehungen mag deshalb als ein Ku-riosum erscheinen, das nicht weiter von größerem theoretischen Interesse ist. Wir wer-den jedoch im nächsten Kapitel sehen, dass dem keineswegs so ist. Der Zusammenhangzwischen Sinnrelationen und ihren extensionalen Entsprechungen ist weitaus enger,als es an dieser Stelle den Anschein haben mag. Doch bevor wir dazu kommen, schauenwir uns zunächst ein paar weniger offensichtliche Extensionen an.

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WahrheitswerteDie Verben in der obigen Tabelle sind nach ihrer Wertigkeit (oder Valenz) geordnet,d.h. nach der Anzahl der Ergänzungen, die sie verlangen: ein intransitives Verb ist ein-wertig, denn es braucht nur ein Subjekt, ein transitives Verb ist zweiwertig, denn esbraucht ein Subjekt und ein Objekt, ein ditransitives Verb ist dreiwertig, denn esbraucht ein Subjekt und zwei Objekte. Wie man sieht, gibt es einen einfachen Zusam-menhang zwischen der Valenz eines Verbs und seinem Extensionstyp: je größer dieWertigkeit, desto länger die n-Tupel in seiner Extension. Wenn wir einmal die in denExtensionen intransitiver Verben vorkommenden Individuen x mit ihren eigenen 1-Tupeln (x) identifizieren – das ist nur eine Sache der Definition – dann können wirkonstatieren:

Parallelismus zwischen Valenz und ExtensionstypDie Extension eines n-wertigen Verbs ist stets eine Menge von n-Tupeln.

Besonders bemerkenswert an diesem Parallelismus ist die Tatsache, dass er nicht nurfür lexikalische Verben gilt. Denn es gibt auch komplexe Verben. Dazu gehören einer-seits Ausdrücke wie schnell gehen oder gerne sehen, in denen ein lexikalisches Verbdurch ein Adverb modifiziert wird, wobei sich die Wertigkeit vom lexikalischen Verb aufden Gesamtausdruck überträgt: gehen ist einwertig, weil es nur ein Subjekt verlangt,schnell gehen ebenso; sehen und gerne sehen sind zweiwertig, denn sie nehmen außerdem Subjekt noch ein Akkusativ-Objekt zu sich. Andererseits entstehen auch durch dieHinzunahme von Verbergänzungen (Subjekt, Objekte) wieder neue komplexe Verben:einen Film sehen ist ein Verb, dem kein Objekt mehr fehlt, wohl aber noch das Subjekt –es ist also einwertig; ein Buch schenken ist ein Verb, dem kein Akkusativ-Objekt mehrfehlt, wohl aber noch ein Dativ-Objekt sowie das Subjekt – es ist also zweiwertig. Imallgemeinen verringert sich die Wertigkeit eines Verbs um 1, wenn eine Objektstellegefüllt wird. Und offensichtlich gilt der obige Zusammenhang zwischen Wertigkeit undExtension auch für solche komplexen Verben: die Extension von einen Film sehen istdie Menge der Personen (= 1-Tupel), die einen Film sehen; die Extension von ein Buchschenken ist die Menge der Paare (Schenker, Beschenkter), so dass der Schenker demBeschenkten ein Buch schenkt etc.

So allgemein verstanden hilft der obige Zusammenhang bei der Aufklärung eineransonsten recht mysteriösen Frage: Was sind eigentlich die Extensionen von (Aussage-)Sätzen? Denn durch Auffüllung aller Verbergänzungen reduziert sich die Wertigkeitauf 0, und es entsteht ein Satz. Sätze sind also in diesem Sinne nichts anderes als 0-stellige Verben.19 Wenn dem so ist – und davon gehen wir aus, sollte sich der obigeZusammenhang wie folgt auf Sätze übertragen:

19 Das mag man als terminologische Härte empfinden. Ebensogut hätten wir aber statt von n-stelligenVerben von Sätzen mit n Lücken sprechen können. Ein transitives Verb wäre dann ein Satz mit 2Lücken (weil Subjekt + Objekt fehlen), ein intransitives Verb wäre ein Satz mit 1 Lücke, und ein Satzwäre ein Satz mit 0 Lücken. Der Zusammenhang wäre dann der folgende: Die Extension eines Satzesmit n Lücken ist stets eine Menge von n-Tupeln. Die gleich zu ziehende Folgerung für die Satz-extensionen (Freges Beobachtung) wäre dieselbe.

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Freges BeobachtungDie Extension eines Satzes ist eine Menge von 0-Tupeln.

Um zu sehen, was das heißt, schauen wir uns etwas genauer an, was mit den Extensio-nen passiert, wenn ein Verb nach und nach zum Satz vervollständigt wird. Betrachtenwir dazu das Verb zeigen in seiner finiten Form zeigt. (Wir tun dabei so, als gäbe es kei-nen semantisch relevanten Unterschied zwischen den beiden.) Von Haus aus, also lexi-kalisch, ist dieses Verb dreiwertig (ditransitiv). Seine Extension besteht dementspre-chend aus Tripeln (a,b,c), wobei a jemand ist, der dem c den b zeigt.20 Wenn alsoetwa der Papst George Bush Jr. durch den Vatikan führt, ist das Tripel (Johannes PaulII, Vatikan, Bush) in dieser Extension. Ergänzt man das Verb um ein Dativ-Objekt wiedem US-Präsidenten, entsteht ein zweiwertiges Verb: zeigt dem US-Präsidenten. Wasist die Extension dieses komplexen Verbs? In diesem Falle offenbar die Menge der Paareder Gestalt (a,b), wobei a dem US-Präsidenten b zeigt. Unter den genannten Umstän-den ist das Paar (Johannes Paul II, Vatikan) in dieser Extension. Ergänzt man nun dasAkkusativ-Objekt den Vatikan, erhält man das komplexe einwertige Verb zeigt dem US-Präsidenten den Vatikan, dessen Extension aus allen Individuen (bzw. 1-Tupeln) be-steht, die dem US-Präsidenten den Vatikan zeigen; eines von ihnen, vielleicht das einzi-ge, ist der Papst. Fassen wir diese Beobachtungen in übersichtlicher Form zusammen:

Verb Wertig-keit

Extension

zeigt 3 alle Tripel (a,b,c), so dass gilt:a zeigt dem c den b

zeigt dem US-Präsidenten

2 alle Paare (a,b), so dass gilt:a zeigt dem US-Präsidenten den b

zeigt dem US-Präsi-denten den Vatikan

1 alle 1-Tupel (a), so dass gilt: a zeigt dem US-Präsidenten den Vatikan

Und wieder können wir diese Tabelle analog nach unten verlängern. Wenn wir nämlichjetzt noch das Subjekt hinzufügen, erhalten wir einen Satz:

Der Papst zeigt dem US-Präsidenten denVatikan

0 alle 0-Tupel ( ), so dass gilt: der Papst zeigt dem US-Präsidenten den

Vatikan

Was ist nun ein 0-Tupel? Die Frage beantwortet man wieder per Analogie zu größerenZahlen: ein 3-Tupel (oder Tripel) war eine Liste (a,b,c) der Länge 3, ein Zweitupel(Paar) war eine Liste (a,b) der Länge 2, ein Eintupel (Individuum) war eine Liste (a)der Länge 1 – also müsste ein 0-Tupel eine Liste ( ) der Länge 0 sein, d.h. eine Liste, inder nichts steht. Und genau so ist es. Natürlich gibt es nur eine solche Liste. Der Ein-

20 Oder umgekehrt: a zeigt dem b den c. Die Reihenfolge der Komponenten im Tripel ist rein konven-tionell – aber sie muss innerhalb der Extension immer dieselbe sein.

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fachheit halber und in Anlehnung an die Tradition identifizieren wir diese leere Liste ( )mit der leeren Menge. Wir setzte also fest: Ein 0-Tupel ist eine leere Liste, es gibt nureine leere Liste, und diese leere Liste ist die leere Menge Ø.

Die Extension des oben betrachteten Satzes ist also eine Menge von 0-Tupeln, d.h. eineMenge, deren Elemente allesamt 0-Tupel sind. Wie sieht so eine Menge aus? Ganz ein-fach: Wenn der Papst dem US-Präsidenten den Vatikan zeigt, enthält die besagte Men-ge alle 0-Tupel überhaupt (und sonst nichts). Denn für alle 0-Tupel gilt dann, dass derPapst dem US-Präsidenten den Vatikan zeigt. Die Extension des Satzes ist in dem Fallealso die Menge, deren einziges Element das 0-Tupel ist. Wenn wir wie oben die Elementeder Menge auflisten und die Liste in Nasenklammern setzen, sieht die Extension desSatzes also so aus: {Ø}.21 Jetzt kennen wir also die Extension des genannten Satzes un-ter der Voraussetzung, dass der Papst dem US-Präsidenten den Vatikan zeigt, der Satzalso wahr ist. Was aber passiert, wenn der Satz nicht wahr ist? In diesem Falle giltoffenbar für kein 0-Tupel, dass der Papst dem US-Präsidenten den Vatikan zeigt. DieExtension wird somit leer, d.h.: Ø. Damit hängt die Extension dieses Satzes einzig undallein davon ab, ob er wahr ist. Wenn ja, ist seine Extension {0}; wenn nein, ist sie Ø.

Unser Beispiel ist kein Einzelfall. Das Argument, dass Satzextensionen Mengen von 0-Tupeln sind, ist vollkommen unabhängig von diesem Beispiel. Dasselbe gilt auch fürden Zusammenhang zwischen Wahrheit und Extension von Sätzen. Alle wahren Sätzehaben dieselbe Extension, nämlich {Ø}; und alle falschen Sätze haben die leere Menge Øals Extension. Man bezeichnet diese beiden Mengen daher als die Wahrheitswerte. Undstatt {Ø} und Ø sagt man kurz: W und F.22

Spätestens jetzt erkennt man, dass Sachbezug allein nicht die Bedeutung ausmachenkann. Wäre die Extension die Bedeutung, wären nach diesen Betrachtungen allewahren Sätze miteinander synonym – denn sie haben denselben Sachbezug, dieselbeExtension W. Aber wir haben ja bereits angekündigt, dass neben dem Sachbezug dieInformativität noch eine Rolle für die Bedeutung spielen wird.

JunktorenWahrheitswerte spielen in der Logik eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe kann man z.B.das logische Verhalten bestimmter Konjunktionen wie und und oder beschreiben. Ver-bindet man nämlich zwei (Aussage-) Sätze mit und, so bestimmt sich der Wahrheits-wert dieser Verbindung allein aufgrund der Wahrheitswerte der verbundenen Sätze:Wenn beide Teilsätze wahr sind, also den Wahrheitswert W haben, dann auch der Ge-samtsatz; andernfalls ist der Gesamtsatz falsch, hat also den Wahrheitswert F. Mankann diese simple Beobachtung in Form einer Tabelle, einer sog. Wahrheitstafel, dar-stellen:

21 Man beachte, dass diese Extension keineswegs die leere Menge ist; denn im Gegensatz zu letztererenthält sie ja ein Element. Es gilt also: {Ø} ≠ Ø.

22 Im angelsächsischen Raum schreibt man auch T (für true) und ⊥ (für das Gegenteil). In der Logikverwendet man stattdessen meistens die Zahlen 1 (für W) und 0 (für F).

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A B A und B

W W W

W F F

F W F

F F F

In der Wahrheitstafel stehen ‘A’ und ‘B’ für beliebige (Aussage-) Sätze. Die ersten bei-den Spalten decken je Zeile die vier Möglichkeiten ab, welche Wahrheitswerte diese bei-den Aussagen haben können. Die dritte Spalte sagt dann, welcher Wahrheitswertherauskommt, wenn man unter diesen Umständen die Sätze mit und verknüpft. Zeile 3der Tabelle besagt also: Wenn ein falscher Satz A und ein wahrer Satz B mit und ver-bunden werden, ist das Ergebnis dieser Verbindung ein falscher Satz.

Hier ist noch eine Wahrheitstafel:

A B A oder B

W W W

W F W

F W W

F F F

Nach dieser Wahrheitstafel ist also die Verknüpfung zweier Sätze durch oder nur dannfalsch, wenn beide verknüpfte Teil-Aussagen falsch sind. Man mag einwenden, dassdies nicht dem alltäglichen Verständnis von oder entspricht, nachdem auch in der ers-ten Zeile der Wahrheitswert F herauskommen sollte. Denn wer z.B. sagt, dass Fritz zuHause ist oder dass er noch unterwegs ist, schließt damit normalerweise aus, dass Fritzsowohl zu Hause als auch unterwegs ist. Wir werden auf diese Frage im Rahmen derPragmatik kurz zurückkommen. Fürs erste halten wir nur fest, dass das in der Logikvorherrschende Verständnis von oder zulässt, dass die beiden verbundenen Sätze wahrsind.23

Satzverknüpfungen, die sich durch Wahrheitstafeln darstellen lassen, nennt man inder Logik Junktoren. Insgesamt gibt es – aus kombinatorischen Gründen – 16 Junkto-ren, die jeweils zwei Aussagen zu einer neuen verschmelzen. Den meisten von ihnenentsprechen freilich keine Wörter des Deutschen. Umgekehrt entsprechen den meistenKonjunktionen des Deutschen keine Junktoren; und und oder sind also echte Ausnah-men. So lässt sich z.B. die Konjunktion weil nicht durch eine Wahrheitstafel erfassen.Denn ob ein Satz wie Fritz hustet, weil Eike das Fenster aufgemacht hat wahr ist, hängtnicht nur davon ab, ob Fritz hustet und ob Eike das Fenster aufgemacht hat; man sagt,dass die Konjunktion weil nicht wahrheitsfunktional ist.

23 Für das andere, ausschließende Verständnis von oder ließe sich natürlich auch eine Wahrheitstafelangeben!

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Ein anderer Typ von Junktor, der für die Logik besonders wichtig ist, ist die Negation,die dem deutschen Wort nicht entspricht. In der Logik geht man davon aus, dass derSatz Fritz hustet nicht durch Kombination des Satzes Fritz hustet mit der Negation nichtentsteht. Da der eine der beiden gerade dann wahr ist, wenn der andere falsch ist, lässtsich auch für diese Kombination eine Wahrheitstafel angeben:24

A A nicht

W F

F W

Die Wahrheitstafeln sind ein wesentlicher Teil der semantischen Analyse von und, oderund nicht . Etwas überspitzt könnte man sagen: viel mehr als was in denWahrheitstafeln steht, ist an der wörtlichen Bedeutung dieser Wörter nicht dran. EinPhänomen, das die Wahrheitstafeln allerdings nicht direkt abdecken ist die Tatsache,dass diese Wörter nicht immer nur Sätze verbinden bzw. modifizieren:

(12) In diesem Zoo leben ein Pinguin und zwei Eisbären.(13) Sie lacht oder weint.(14) Eines der Mädchen schläft nicht.

Das und in (12) steht zwischen zwei Nominalphrasen, das oder in (13) verbindet zweiVerben, und auch bei dem nicht in (14) handelt es sich nicht um die Negation des Satzesohne nicht. (Wieso nicht?) Dennoch kann man in diesen Fällen per Paraphrase einensystematischen Zusammenhang zu den jeweiligen satzverbindenden Junktorenherstellen, wie die folgenden umständlichen Varianten von (12) – (14) zeigen:

(12') In diesem Zoo lebt ein Pinguin, und in diesem Zoo leben zwei Eisbären.(13') Sie lacht oder sie weint.(14') Für eines der Mädchen gilt: es schläft nicht.

In (12') – (14') funktionieren die drei Wörter als aussagenlogische Junktoren. Und derZusammenhang zu (12) – (14) ist systematisch genug, um die Behauptung, es handelesich auch dort im wesentlichen um Junktoren, zu rechtfertigen. In den folgenden dreiFällen ist der Zusammenhang zu den Junktoren allerdings weniger klar:

(15) In diesem Zoo leben ein Pinguin und zwei Eisbären zusammen. (16) Sie weiß nicht. ob sie lachen oder weinen soll.(17) Eines der Mädchen schläft nicht hier.

Diese Verwendung von und, oder und nicht lassen sich nicht ohne weiteres auf Satzver-knüpfungen zurückführen. (Versuchen Sie es mal!) Möglicherweise zeigt sich daran,dass in der Bedeutung dieser Wörter mehr steckt, als die Wahrheitstafeln erahnenlassen. Wir können dieser Frage hier nicht weiter nachgehen.

24 Diese Wahrheitstafel ist kleiner als die beiden vorhergenden, weil die Negation nicht zwei Sätzemiteinander verknüpft, sondern nur einen Satz modifiziert. – In der Logik verwendet man übrigenssymbolische Abkürzungen für die Junktoren: ‘&’ für ‘und’, ‘∨ ’ für oder, und ‘¬A’ statt ‘A nicht’.

34

Es wurde bereits angedeutet, dass man einige Bedeutungsaspekte des Wortes oder –insbesondere den ‘Ausschließlichkeitseffekt’ – in der Pragmatik abhandelt. Ähnlichesgilt für gewisse mit und einhergehende Effekte. So sollte die Reihenfolge derverknüpften Sätze für Wahrheitstafel dieses Wortes keinen Unterschied machen.Dennoch empfindet man einen klaren Bedeutungsunterschied zwischen den folgendenbeiden Aussagen:

(18) Sie heiratete und [sie] wurde schwanger.(19) Sie wurde schwanger und [sie] heiratete.

(Das zweite Subjekt haben wir in Klammern gesetzt, weil wir wieder davon ausgehen,dass seine Weglassung eine systematische Variante ist; mehr darüber in der Syntax.)Auch dieser Unterschied lässt sich pragmatisch erklären. Und auch darauf kommenwir zurück.

Extensionale KompositionalitätDie Wahrheitswerte der mit Junktoren gebildeten Sätze – also ihre Extensionen – be-rechnen sich mit Hilfe entsprechender Wahrheitstafeln aus den Wahrheitswerten –also den Extensionen – der verknüpften Sätze. Wenn wir nun die Wahrheitstafeln selbstals die Extensionen der Junktoren ansehen, können wir feststellen, dass Sätze mitJunktoren einer Variante des Kompositionalitätsprinzips genügen:

Extensionales KompositionalitätsprinzipDie Extension eines zusammengesetzten Ausdrucks ergibt sich ausden Extensionen seiner unmittelbaren Teile und der Art ihrer Kombi-nation.

Der Unterschied zum allgemeinen Kompositionalitätsprinzip besteht darin, dass stattvon der Bedeutung im allgemeinen hier nur vom Sachbezugs-Aspekt der Bedeutung,eben von der Extension, die Rede ist. Machen wir uns an einem Beispiel klar, wie diesesPrinzip im Falle der Junktoren funktioniert. Satz (20) hat drei unmittelbare Teile: 1.Fritz arbeitet nicht; 2. und; 3. Eike schläft.

(20) Fritz arbeitet nicht, und Eike schläft.

Nach dem extensionalen Kompositionalitätsprinzip müsste sich die Extension diesesSatzes, also sein Wahrheitswert, aus den Extensionen dieser drei Teile, also der Wahr-heitswerte von 1. und 2. sowie der und entsprechenden Wahrheitstafel ergeben. Das istoffensichtlich der Fall, denn um den Wahrheitswert von (20) zu bestimmen, muss mannur nachschauen, was die Tafel 3. zu den Wahrheitswerten von 1. und 3. sagt.

Auch die Extension des ersten Teilsatzes ergibt sich aus den Extensionen seinerunmittelbaren Teile Fritz arbeitet und nicht; denn auch hier muss man nur die Wahr-heitstafel der Negation – also die Extension von nicht – auf den Wahrheitswert desSatzes Fritz arbeitet – also seine Extension – anwenden.

Lässt sich das extensionale Kompositionalitätsprinzip auch in anderen Fällen anwen-den, wenn keine Junktoren im Spiel sind? Wie steht es z.B. mit dem Teilsatz Fritz arbei-

35

tet? Seine unmittelbaren Teile sind der Name Fritz, dessen Extension der NamensträgerFritz Hamm ist, und das Verb arbeitet, dessen Extension die Menge der arbeitenden In-dividuen ist. Lässt sich der Wahrheitswert von Fritz arbeitet allein aufgrund der Exten-sionen dieser beiden Teile bestimmen? Natürlich ist keine dieser beiden Extensionen ei-ne Tabelle, in der man einfach nachschlagen kann. Dennoch gibt es einen systemati-schen Weg, den Wahrheitswert aus den beiden Extensionen – also aus Fritz und der ar-beitenden Bevölkerung – zu ermitteln. Denn der Satz ist wahr, wenn Fritz sich in derMenge der der arbeitenden Individuen befindet; sonst ist er falsch. Entsprechend ergibtsich der Wahrheitswert des Teilsatzes Eike schläft aus der Extension des Subjekts Eikeund der des Prädikats schläft. Wir können also die folgende allgemeine Regel an-nehmen:

Die Extension eines Satzes der Gestalt ‘Eigenname + Verb’ ist derWahrheitswert W, wenn die Extension des Eigennamens Elementder Extension des Verbs ist; sonst ist die Extension dieses Satzes F.

Auch in diesem Falle gilt also das extensionale Kompositionalitätsprinzip. In ähn-licher, aber etwas komplizierterer Weise lässt es sich auch auf komplexe Verben derGestalt ‘Verb + Objekt’ anwenden, wenn es sich bei dem Objekt um einen Namen odereine Kennzeichnung handelt. Wir überlassen die Nachprüfung dieser Behauptung derLeserschaft und wenden uns stattdessen einem noch komplizierteren Fall zu.

Quantoren25

Das Subjekt des folgenden Satzes ist weder ein Eigenname noch eine Kennzeichnung:(21) Niemand schläft.Was ist seine Extension? Offensichtlich bezieht sich niemand nicht auf ein bestimmtesIndividuum. Es sieht sogar so aus, als bezöge es sich auf überhaupt nichts, als hätte esalso keine Extension. Das ist jedoch nur scheinbar so. Es gibt nämlich durchaus einen(abstrakten) Gegenstand, der sich zum Wort niemand ganz analog verhält wie einNamensträger zu seinem Eigennamen. Um ihn zu finden, unterstellen wir dasextensionale Kompositionalitätsprinzip. Danach müsste sich also die Extension von (21)aus den Extensionen von niemand und schläft ergeben. Die Extension von schläft isteine Menge von Individuen. Um welche Menge es sich genau handelt, hängt von dennäheren Umständen ab. In der Nacht etwa hat diese Menge in der Regel viele Elemente,während der Vorlesung ist sie hoffentlich leer. Die Extension des Satzes (21) ist einWahrheitswert. Um welchen Wahrheitswert es sich handelt, hängt wieder von denUmständen ab. In der Nacht ist er in der Regel F (weil es falsch ist, dass niemandschläft), während der Vorlesung ist er hoffentlich W. Offenbar besteht ein einfacher,systematischer Zusammenhang zwischen der Extension des Prädikats schläft und derdes Gesamtsatzes (21): wenn erstere keine Person als Element enthält, ist letztere gleichnull – und umgekehrt. Der Zusammenhang lässt sich in einer Tabelle festhalten:

25 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!

36

Prädikatsextension Satzextension

{b,v,c} F

{v,=} F

{v} F

{Ÿ,= } W

Ø W

… …

Die linke Spalte der Tabelle zeigt jeweils die Extension von schläft zu verschiedenenGelegenheiten, die rechte gibt den Wahrheitswert von (21) zu derselben jeweiligenGelegenheit. In der ersten Zeile schlafen z.B. nur drei Personen, was reicht, um (21)falsch zu machen. In der zweiten Zeile schläft eine Frau und ihr Hund – (21) wirdwieder falsch. In der dritten Zeile ist der Hund wach, die Frau schläft aber immer noch– und folglich ist (21) falsch. In der vierten Zeile schlafen nur Hase und Hund; (21) wirddeshalb wahr – denn niemand, d.h. keine Person, schläft hier. In der fünften Zeileschläft weder eine Person noch ein Tier, und (21) ist insbesondere wahr. Den Rest derTabelle kann man zwar schwer hinschreiben (Platzgründe), sich aber umso leichterausmalen: sobald in der linken Liste eine Person erscheint, kommt rechts ein Fheraus; ist die linke Liste dagegen personenfrei, bekommt man rechts denWahrheitswert W.Was hat nun diese Tabelle und der durch sie dargestellte Zusammenhang zwischen derExtension von schläft und der von (21) mit der gesuchten Extension von niemand zu tun?Um das zu sehen, vergleichen wir (21) mit einem beliebigen anderen Satz mit demselbenSubjekt:(22) Niemand isst Nüsse.Auch für (22) lässt sich ein einfacher Zusammenhang zwischen der Extension des(komplexen) Prädikats isst Nüsse und der des Satzes herstellen. Denn auch in diesemFalle hängt die Prädikatsextension von den näheren Umständen ab. Und wenn diese sosind, dass z.B. nur drei Personen Nüsse essen, wird (22) falsch. Wenn dagegen nur einHund und ein Kaninchen Nüsse essen, wird (22) wahr. M.a.W.: der Zusammenhangzwischen Prädikatsextension und Satzextension ist genau derselbe wie im Falle von (21).Wollten wir ihn wie oben darstellen, könnten wir genau dieselbe Tabelle nehmen.Die Beispiele (21) und (22) waren vollkommen beliebig gewählt. Was für sie gilt, gilt fürbeliebige Sätze mit niemand als Subjekt. Sobald die Prädikatsextension eine Person (alsElement) enthält, wird der Satz falsch und hat somit als Extension den WahrheitswertF ; andernfalls ist seine Extension W . Warum ist das so? Woher kommt dieserZusammenhang? Das muss wohl am Wort niemand liegen, genauer: an seinerBedeutung, die einen Zusammenhang zwischen dem Sachbezug des Prädikats herstellt,als dessen Subjekt es fungiert, und dem Wahrheitswert des so entstehenden Satzes. Hältman sich nun vor Augen, dass sich nach dem Kompositionalitätsprinzip die – nochimmer gesuchte – Extension von niemand mit der Extension des Prädikats zurSatzextension verbinden soll, so liegt der Verdacht nahe, dass der in der obigen Tabellefestgehaltene Zusammenhang einzig und allein von der gesuchten Extension desWortes niemand gestiftet wird. Was aber ist diese Extension?

37

Die Antwort der logischen Semantik ist ebenso verblüffend wie einfach: Wenn wir nichtsweiter über die Extension von niemand wissen, als dass sie den in der obigen Tabelledargestellten Zusammenhang (zwischen Prädikats- und Satzextension) herstellt, danngehen wir davon aus, dass die Extension von niemand gerade in diesem Zusammen-hang besteht, dass die Tabelle also diese Extension selbst darstellt. Was genau stelltaber so eine Tabelle dar? In der linken Spalte stehen, wie gesagt, jeweils Prädikats-extensionen, also Mengen von Individuen, rechts davon stehen entsprechende Wahr-heitswerte. Entscheidend ist nun, dass jede Individuenmenge auf der linken Seite nureinmal erscheint, so dass die Entsprechung zwischen Prädikatsextension undWahrheitswert des Gesamtsatzes eindeutig ist. In der Mathematik nennt man einesolche eindeutige Entsprechung, wie sie sich in ‘idealisierten’ (= möglicherweiseunendlich langen) Tabellen darstellen lässt, eine Funktion. Die Objekte in der linkenSpalte, denen die in der rechten zugeordnet werden, heißen dann die Argumente dieserFunktion, die zugeordneten Objekte ihre Werte. In dieser Terminologie lässt sich dieFrage nach der Extension von niemand wie folgt beantworten:

Die Extension von niemand ist eine Funktion, deren ArgumenteMengen von Individuen und deren Werte Wahrheitswerte sind. Sieweist jeder Menge, die keine Personen als Elemente enthält, denWert W zu, und jeder anderen Menge den Wert F.

Es ist jetzt nicht schwer zu sehen, dass sich die Extensionen von Sätzen wie (21) und(22), also ihre Wahrheitswerte, kompositionell – nach dem extensionalen Kompositiona-litätsprinzip – bestimmen; denn der Wahrheitswert des Satzes ergibt sich ja gerade ausder Zuordnung, die die Extension des Subjekts niemand mit der des jeweiligen Prä-dikats vornimmt. Und mit ein wenig Nachdenken erkennt man, dass sich auch fürandere Subjekte als niemand entsprechende Tabellen finden lassen, die ihre Exten-sionen darstellen. Ein Satz mit jedes Tier als Subjekt wird z.B. wahr, wenn das Prädikatauf alle Tiere zutrifft, wenn also die Prädikatsextension alle Tiere (als Elemente)enthält. Daraus ergibt sich dann:

Die Extension von jedes Tier ist eine Funktion, deren ArgumenteMengen von Individuen und deren Werte Wahrheitswerte sind. Sieweist jeder Menge, die alle Tiere als Elemente enthält, den Wert Wzu, und jeder anderen Menge den Wert F.

Extensionen wie die von niemand und jedes Tier, die Mengen von Individuen Wahr-heitswerte zuordnen, bezeichnet man in der logischen Semantik als Quantoren. Quan-toren gehören zu den am besten untersuchten Gegenständen der logischen Semantik.Die semantische Analyse macht dabei keineswegs an der Subjektstelle halt, sondernwird ebenso auf die Interaktion von Verb und Objekt wie auf die interne Strukturkomplexer Subjekte und Objekte angewandt. So lässt sich die Extension des Artikelworts(oder Determinators) jedes auf ähnliche Weise wie die der gesamten Nominalphrasejedes Tier als Zusammenhang auffassen, den dieses Wort zwischen der Extension desSubstantivs Tier und dem durch die Nominalphrase ausgedrückten Quantor herstellt.Die dem Wort jedes entsprechende Tabelle ordnet danach jeder Substantiv-Extension (=Menge von Individuen) einen Quantor zu, der wiederum jeder Prädikatsextension (=Menge von Individuen) den Wahrheitswert W zuordnet, wenn diese die Substantiv-Extension umfasst. Die genaue Vorgehensweise ist Gegenstand einer jeden seriösenSemantik-Einführung. Wir verlassen aber jetzt das Gebiet der Extension und wendenuns dem zweiten Aspekt der sprachlichen Bedeutung zu.

38

5. IntensionenWir hatten bereits gesehen, dass die Bedeutung eines Ausdrucks im allgemeinen nichtmit seinem Sachbezug gleichgesetzt werden sollte; sonst würden nämlich alle wahrenSätze dasselbe bedeuten. In der logischen Semantik macht die Extension auch nur einTeil der wörtlichen Bedeutung aus, eben den Teil, der sicherstellt, dass sich sprachlicheAusdrücke überhaupt auf die Welt beziehen. Der andere, in gewisser Weise umfassen-dere Teil der Bedeutung ist dafür verantwortlich, dass man mit Sprache Informationenaustauschen kann. Diesem Aspekt der Bedeutung wenden wir uns jetzt zu.

Intensionale Kontexte Das extensionale Kompositionalitätsprinzip stand Pate bei der Ermittlung so abstrakterExtensionen wie Wahrheitstafeln und Quantoren. Es hat sich also insofern als ausge-sprochen nützlich erwiesen, denn gerade bei Wörtern wie und und niemand war ja keinoffenkundiger Sachbezug auszumachen. Trotz seiner Nützlichkeit ist das extensionaleKompositionalitätsprinzip im allgemeinen aber nicht richtig. Um das einzusehen,betrachten wir zunächst zwei Beispiele, in denen das Prinzip durchaus funktioniert:

(23) Hamburg ist größer als Köln.(24) Pfäffingen ist größer als Breitenholz.26

(23) und (24) sind Sätze, deren Extensionen sich systematisch aus denen ihrer Teile er-mitteln lassen. (23) ist z.B. wahr, weil die Extension des Subjekts, die Hansestadt Ham-burg, in der Extension des Prädikats liegt, der Menge aller Orte, die größer sind alsKöln. Aus einem parallelen Grund ist auch (24) wahr. Beide Sätze haben also dieselbeExtension, den Wahrheitswert W, und er lässt sich auf dieselbe, kompositionelle Weiseaus den Extensionen ihrer jeweiligen Teile ermitteln. Beobachten wir nun, waspassiert, wenn diese beiden Sätze selbst zu Teilen komplexer Ausdrücke werden. Aussyntaktischen Gründen müssen sie dann leicht umgestellt werden. Statt (23) und (24)betrachten wir also ihre Nebensatz-Stellungen:

(23') Hamburg größer ist als Köln(24') Pfäffingen größer ist als Breitenholz

Wir gehen davon aus, dass es sich bei (23') und (24') um rein syntaktische Varianten von(23) und (24) handelt, die dieselben Extensionen wie die entsprechenden Hauptsätzehaben. Eine typische Verwendung dieser Nebensatzstellungen liegt in sog. Ein-stellungsberichten vor; das sind Sätze, in denen etwas über den Informationsstandeiner Person ausgesagt wird:

(25) Fritz weiß, dass Hamburg größer ist als Köln.(26) Fritz weiß, dass Pfäffingen größer ist als Breitenholz.

Wollte man nun die Extension, also den Wahrheitswert, solcher Einstellungsberichtenach dem extensionalen Kompositionalitätsprinzip bestimmen, müsste man sie zu-

26 Pfäffingen und Breitenholz sind Ortsteile der Gemeinde Ammerbuch im Kreis Tübingen, Baden-Württemberg. Pfäffingen hat ca. 1600 Einwohner, Breitenholz knapp halb so viele. Näheres erfährtman im Netz unter: www.cityinfonetz.de/tagblatt/gemeinde/ammerbuch/index.html.

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nächst in ihre Teile zerlegen. Die folgenden Klammerungen liegen nahe:

(25') [ Fritz [ weiß, [dass [ Hamburg größer ist als Köln ] ] ] ](26') [ Fritz [ weiß, [dass [ Pfäffingen größer ist als Breitenholz ] ] ] ]

(Die Klammern innerhalb der eingebetteten Nebensätze haben wir weggelassen, weil siefür das folgende keine Rolle spielen.) Die Extension von (25) ergibt sich also durch Kom-bination der Extension des Subjekts Fritz mit der des Prädikats weiß, dass Hamburggrößer ist als Köln; letztere wiederum ergibt sich durch Kombination der Extension desVerbs weiß mit der des dass-Satzes, die sich wiederum aus der Extension von dass undder des eingebetteten Satzes (23') ergibt. Bei (26) läuft die Sache ganz analog. Uns inte-ressiert hier vor allem der letztgenannte Schritt, also die Ermittlung der Extension derbeiden dass-Sätze:

(27) dass Hamburg größer ist als Köln(28) dass Pfäffingen größer ist als Breitenholz

Was die Extension der Konjunktion dass ist, wissen wir nicht. Aber die des Satzes (23')ist – das haben wir weiter oben (von Frege) gelernt – sein Wahrheitswert. Die Extensionvon (27) müsste sich also durch Kombination der (unbekannten) Extension von dass mitdem Wahrheitswert von (23') ergeben – also W, da Hamburg tatsächlich größer ist alsKöln. Wenn wir, einer allgemeinen Konvention folgend, die Extension eines AusdrucksA als ›Afi schreiben, lässt sich diese einfache Anwendung des extensionalen Kompo-sitionalitätsprinzips auf folgende Formel bringen:

›(27)fi = ›dassfi ⊕ ›(23')fi = ›dassfi ⊕ W

Dabei soll ‘⊕ ’ die Art und Weise bezeichnen, in der die Extension von dass mit der Ex-tension des eingebetteten Nebensatzes kombiniert werden soll. Wir wissen nicht, wasdas für eine Kombination ist, aber das wird für die folgenden Betrachtungen auch keineRolle spielen; ebenso wird es ganz egal sein, was genau die Extension von dass ist. Unsinteressiert nämlich nur der Vergleich mit (28). Auch hier müsste sich – immer nachdem extensionalen Kompositionalitätsprinzip – die Extension von (28) aus der mysteriö-sen Extension von dass und dem Wahrheitswert von (24') ergeben. Die Art und Weiseder Kombination ist natürlich wieder dieselbe, denn in beiden Fällen wurde ein (Neben-)Satz unter dass eingebettet. Aber auch der Wahrheitswert des eingebetteten Satzes istwieder W. Und das heißt, wir erhalten:

›(28)fi = ›dassfi ⊕ ›(24')fi = ›dassfi ⊕ W

Im Klartext heißt das, dass sich die Extensionen von (27) und (28) auf dieselbe (uns un-bekannte) Weise aus der von dass und dem Wahrheitswert W ergeben – und dass des-halb (27) und (28) dieselbe Extension haben: ›(27)fi = ›dassfi ⊕ W = ›(28)fi (was immerdas Ergebnis dieser Kombination sein mag). Das mag wenig überraschen, denn schondie eingebetteten Sätze (23') und (24') hatten ja dieselbe Extension. Aber wir haben jetztein Problem. Wenn nämlich (27) und (28) dieselbe Extension haben, muss das auch fürdie Prädikate gelten:

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(29) weiß, dass Hamburg größer ist als Köln(30) weiß, dass Pfäffingen größer ist als Breitenholz

Denn die Extension von (29) ergibt sich aus der von weiß und der von (27) – so wie sichdie Extension von (30) aus ›weißfi und ›(28)fi ergibt. Aber wenn (27) und (28) dieselbe Ex-tension haben (›(27)fi = ›(28)fi), dann ergibt sich durch Kombination mit dass auch je-weils dasselbe für (29) und (30). Doch das kann nicht sein; denn die Extensionen dieserbeiden Prädikate sind sicherlich nicht gleich. Die Kenntnis der Größenverhältnisse derdeutschen Metropolen gehört zur deutschen Allgemeinbildung, aber nur sehr wenigehaben je von Ammerbuchs Ortsteilen gehört. M.a.W.: viele Elemente der Extension von(29) tauchen nicht in der Extension von (30) auf, womit diese beiden Mengen insbesonde-re voneinander verschieden sind. Mit Hilfe des extensionalen Kompositionalitäts-prinzips haben wir aber geschlossen, dass (29) und (30) dieselbe Extension habenmüssten. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Die Einbettung von Sätzen in Einstellungsberichten ist nur ein Gegenbeispiel zum ex-tensionalen Kompositionalitätsprinzip. Ein weiteres werden wir weiter unten kennen-lernen. Wann immer sich Extensionen nicht nach diesem Prinzip zu richten scheinen,spricht man in der Semantik von einem intensionalen Kontext. Damit ist die sprachli-che Umgebung gemeint, in der die extensionale Kompositionalität versagt, in unseremFall also die Lücke in weiß, dass _____. Bettet man einen Ausdruck – in unserem Falleinen Nebensatz – in einen intensionalen Kontext ein, kann der Beitrag, den er zur Be-stimmung der Extension des Gesamtausdrucks leistet, nicht nur in seiner Extensionbestehen. Um die Extension von (29) zu bestimmen, genügt es also nicht, von (23) nurden Wahrheitswert zu berücksichtigen; denn dieser ist ja derselbe wie der von (24) undunzähligen anderen (wahren) Sätzen. Der eingebettete Satz trägt also mehr zur Exten-sion bei als seinen Wahrheitswert. Aber was trägt er bei?

PropositionenUm diese Frage zu beantworten, vergleichen wir die Einstellungsberichte (25) und (26),die sich nur im eingebetteten Satz unterscheiden. In beiden Fällen ist dieser eingebetteteSatz wahr. Im Fall von (25) – so wollen wir annehmen – ist aber der Einstellungsberichtwahr, in (26) ist er falsch. Dieser Unterschied im Wahrheitswert scheint nichts mit demWahrheitswert der eingebetteten Sätze zu tun zu haben.27 Vielmehr hängt der Wahr-heitswert des Einstellungsberichts ganz wesentlich von Fritz’ Informationsstand ab,den die beiden eingebetteten Sätze auf unterschiedliche Weise charakterisieren. Ge-nauer gesagt, wird Fritz’ Wissen jeweils so dargestellt, als umfasse es die im Nebensatzenthaltene Information. Es liegt von daher nahe, diese Information als den Beitrag desNebensatzes zum Wahrheitswert der Gesamtaussage zu betrachten. In der Semantikbezeichnet man die in einem (Haupt- oder Neben-) Satz enthaltene Information als die

27 Es kann bei (25) und (26) gar keinen Unterschied im Wahrheitswert der eingebettteten Sätze geben,weil das Verb wissen ein sog. faktives Verb ist, dessen Verwendung sowieso die Wahrheit des einge-betteten Satzes voraussetzt – wie die Merkwürdigkeit von Sätzen wie diesem zeigt: Fritz weiß, dassHamburg kleiner ist als Tübingen. Auf die Faktivität kommen wir in Kapitel 7 noch einmal zurück.

41

von ihm ausgedrückte Proposition.28 Die Proposition, die ein Satz ausdrückt, ist alsoder Teil seiner Bedeutung, der für den Austausch von Informationen benutzt wird.

Was ist eine Proposition? Was ist die in einem Satz enthaltene Information? Was istüberhaupt Information? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, vergleichen wir diefolgenden Beispiele:

(31) Vier Münzen wurden geworfen.(32) Mindestens eine der vier geworfenen Münzen fiel auf Kopf.(33) Mindestens eine der vier geworfenen Münzen fiel auf Zahl.(34) Genau zwei der vier geworfenen Münzen fielen auf Kopf.(35) Genau zwei der vier geworfenen Münzen fielen auf Zahl.

(31) ist der uninformativste dieser fünf Sätze, die anderen besagen jeweils mehr. (32) istwiederum weniger informativ als (34), (35) ist informativer als (33), und zumindest un-ter der Voraussetzung, dass jede der vier geworfenen Münzen auf Kopf oder Zahl gefal-len ist, sind (34) und (35) gleich informativ. Ob man (32) und (33) auch als gleich infor-mativ einschätzt, hängt davon ab, was man unter ‘Informativität’ genau verstehen will:in einem gewissen Sinne enthalten (32) und (33) in etwa das gleiche Maß an Informa-tion, d.h. sie sind quantitativ gleich informativ. Doch qualitativ sind sie verschiedeninformativ – sie besagen ja nicht dasselbe.

Das Werfen von Münzen erinnert an Wahrscheinlichkeiten, und das ist hier kein Zu-fall. Wie man nämlich wieder anhand der obigen Beispiele leicht nachprüft, stimmt diequantitative Informativität eines Satzes mit der Wahrscheinlichkeit des durch ihn be-schriebenen Ereignisses überein. Diese Wahrscheinlichkeit läßt sich durch die Anzahldieser günstigen Fälle (relativ zur Anzahl aller möglichen Fälle) messen. Insbeson-dere ist also ein Satz quantitativ informativer als ein anderer, wenn die Anzahl der fürihn günstigen Fälle geringer ist. Was nun die qualitative von der quantitativen Informa-tivität abhebt, ist ihre Sensibilität für die Art der günstigen Fälle: obwohl es zwar gleichviele mögliche Ausgänge der Münzwerferei gibt, in denen (mindestens) einmal Zahlgeworfen wird, wie solche, in denen (mindestens) einmal Kopf herauskommt – obwohlalso (32) und (33) quantitativ gleich informativ sind – ist es doch keineswegs so, dass dieFälle, in denen einmal Kopf herauskommt zugleich auch die Fälle sind, in denen ein-mal Zahl geworfen wird: wenn etwa alle vier Münzen mit dem Kopf nach oben landen,wird nämlich gar keine Zahl geworfen. Der qualitative Unterschied im Informationsge-halt zwischen (32) und (33) besteht also darin, dass die jeweiligen Mengen der günstigenFälle nicht identisch sind, auch wenn sie gleichmächtig sind (= genauso viele Ele-mente besitzen). Die quantitative Informativität vergleicht also die Mächtigkeit von Men-gen günstiger Fälle, während die qualitative diese Mengen direkt miteinander in Bezie-hung setzt. Insbesondere entspricht dem Mehr oder Weniger an qualitativer Informati-vität die Teilmengen-Beziehung: (35) ist qualitativ informativer als (33), weil in jedemFall, in dem genau zwei der geworfenen Münzen auf dem Kopf landen, zugleich auchmindestens eine der vier Münzen auf dem Kopf landet – weil also die Menge der für (35)günstigen Falle eine Teilmenge der für (32) günstigen Fälle ist.29

28 Von engl. proposition ‘Behauptung’.29 Eine Menge A ist Teilmenge einer Menge B, wenn jedes Element von A auch ein Element von B

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Es sollte inzwischen klar sein, welche Informativität die für eine Präzisierung desPropositionsbegriffs einschlägig ist: zwei Sätze, die qualitativ gleich informativ sind,besagen offensichtlich in dem Sinne dasselbe, als sie auf dieselben Fälle zutreffen. Ihrjeweiliger Informationsgehalt läßt sich also mit diesen Mengen von (günstigen) Fällenerfassen oder sogar identifizieren. Wir gelangen auf diese Weise zu folgender Definition:

Carnaps Idee30

Die durch einen Satz ausgedrückte Proposition ist die Menge derFälle, auf die er zutrifft.

Was hat man sich nun unter Fällen vorzustellen? Schauen wir uns dazu noch einmalunser Münzbeispiel an! Der Satz (31) ist am wenigsten informativ, weil er auf alle Fällezutrifft, auf die die anderen Sätze zutreffen. Es liegt demnach nahe, die einzelnen Fälleeinfach danach zu unterscheiden, welche Münzen wie gelandet sind. Ein Fall wäredann KKKK (= 4mal Kopf), ein anderer wäre KKKZ etc. Die durch (31) ausgedrückteProposition würde dann alle Fälle von KKKK bis ZZZZ enthalten, während gerade derletztgenannte Fall nicht in von (32) ausgedrückten Proposition auftaucht. Doch einesolche Bestimmung von Fällen greift im allgemeinen zu kurz:

(36) Vier Münzen wurden geworfen, während jemand hustete.(37) Vier Münzen wurden geworfen, während niemand hustete.

Wie (32) – (35) enthalten auch (36) und (37) mehr Information als (31). Wenn sich diesesMehr an Information wieder in den Fällen niederschlagen soll, auf die die Sätze zutref-fen, müsste (31) auf jeden Fall zutreffen, auf den (36) oder (37) zutrifft. Aber diese Fällemüssten dann auch danach unterschieden werden, ob jemand hustet (H) oder nicht(N): KKKKH, ZZZZN etc. pp. Und damit nicht genug: (36) kann man ja beliebig verfei-nern, womit die Fälle immer differenzierter würden. Und wohlgemerkt: all diese diffe-renzierten Fälle müssten schon in der durch (31) ausgedrückten Proposition stecken.

Wo ist die Grenze dieser Differenzierungsmöglichkeiten? So seltsam es klingen mag:Die Grenze ist die Welt. Denn erst wenn man jedes einzelne Detail ausbuchstabiert hätte– vom Urknall bis in alle Ewigkeit, von der Anzahl meiner Haare bis zum Tod von OlafPalme – erst dann könnte man sicher sein, dass sich der so spezifizierte Fall nicht wei-ter differenzieren lässt. Der spezifischste Fall umfasst demnach die gesamte Welt – vo-rausgesetzt der Fall tritt ein. Denn sollte sich irgendein Detail als irrig erweisen, hatman es immer noch mit einem maximal spezifischen Fall zu tun, aber eben nur mit ei-nem hypothetischen.

Aus diesen Betrachtungen schließen wir, dass Fälle, wie sie in Propositionen benötigtwerden – im allgemeinen hochgradig spezifisch sind. In der Semantik spricht mandeswegen statt von Fällen von möglichen Welten. Die Menge aller möglichen Welten istder Logische Raum. Er enthält jeden auch noch so abwegigen Fall – vorausgesetzt, die-

ist. Die Menge aller Menschen ist z.B. Teilmenge der Menge aller Individuen.30 Die Modellierung von Information durch Mengen günstiger Fälle geht auf das Buch Meaning and

Necessity (Chicago 1947) des deutsch-amerikanischen Philosophen Rudolf Carnap (–>www.utm.edu/research/iep/c/carnap.htm) zurück, der sich dabei von der Philosophie des frühen Wittgen-stein (Tractatus logico-philosophicus, 1921) inspirieren ließ.

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ser Fall ist bis in jede Einzelheit ausbuchstabiert. Die einzelnen Punkte im LogischenRaum, die möglichen Welten, unterscheiden sich voneinander in irgendwelchen De-tails: im Zeitpunkt des Entstehens unseres Universums, in der Anzahl von Sandkör-nern in der Sahara, usw. Nur eine dieser vielen Möglichkeiten tritt wirklich ein, das istdie wirkliche Welt. Da wir über die Details dieser Wirklichkeit nicht in allen Einzelheitunterrichtet sind wissen wir nicht, welchem Punkt im Logischen Raum sie genau ent-spricht. Wir können die Wirklichkeit nicht bis ins letzte Detail lokalisieren. Davon wirdspäter noch die Rede sein.

Propositionen sind also Mengen von möglichen Welten, und mögliche Welten sind hoch-gradig spezifische Fälle – so spezifisch, wie es nur geht.31 In diesem Aspekt unter-scheiden sich die möglichen Welten der Semantik von denen unseres Alltagsverständ-nisses. So spricht man gelegentlich von der Welt des Sherlock Holmes, die man sichdann als außerhalb der Wirklichkeit vorstellt. Doch dabei handelt es sich nicht um einemögliche Welt des Logischen Raums. Denn Conan Doyles’ Geschichten lassen sehr vie-le Details offen – ob Holmes ein Muttermal auf dem Rücken hatte zum Beispiel. In einermöglichen Welt des Logischen Raums muss jedes dieser Details ausgefüllt sein. Mansieht daran, dass der ‘Welt des Sherlock Holmes’ ganz viele mögliche Welten des Logi-schen Raums entsprechen, nämlich alle Welten, in denen es wie in Conan Doyles’ Ge-schichten zugeht. In manchen dieser Welten hat Holmes ein Muttermal auf demRücken, das dann – je nach Welt – verschiedene Formen und Größen haben kann; inanderen hat er kein Muttermal. Aber in allen dieser Welten kleidet er sich exzentrisch,konsumiert Kokain und lebt in Londons Baker Street. Die Gesamtheit dieser Welten ma-chen ‘die Welt des Sherlock Holmes’ aus. ‘Die Welt des Sherlock Holmes’ ist demnachaus Sicht der logischen Semantik eine Menge von möglichen Welten – eine Proposition.

Von Propositionen zu IntensionenDie durch einen Satz ausgedrückte Proposition besteht aus allen Fällen, auf die er zu-trifft, also aus allen Welten, die er richtig beschreibt. Damit legt eine Proposition gewis-sermaßen einen Schnitt durch den Logischen Raum. Die durch den Satz (38) ausge-drückte Proposition legt ihn z.B. zwischen solche Welten, in denen Barschel ermordetwurde – die für (38) günstigen Fälle – und solche, in denen er nicht ermordet wurde,sondern noch lebt, durch Unfall oder Krankheit starb, Selbstmord begangen hat oder niegeboren wurde32:

31 Hat man sich die möglichen Welten eigentlich eher als abstrakte Informationseinheiten vorzustellenoder als konkrete Gebilde aus Atomen? Diese Frage lässt sich unterschiedlich beanworten. Den aus-führlichsten (und zugleich provokantesten) Beitrag zu diesem Thema hat der US-amerikanische Phi-losoph David Lewis (–> www.archiv.zeit.de//zeit-archiv///daten/pages/199944.lewis1_.html) mit seinemBuch On the Plurality of Worlds (Oxford 1986) geleistet, in dem er die These des Modalen Realismusvertritt, nach der der Logische Raum aus unzähligen, einander unzugänglichen konkreten Weltenbesteht, von denen eine unsere Realität ist.

32 Für die Jüngeren und Gedächtnis-Schwachen: Uwe Barschel (1944-1987) war 1982-87 Ministerpräsi-dent von Schleswig-Holstein, ist unter skandalösen Umständen – vergleichbar mit der Watergate-Affäre – zurück getreten und wurde wenige Tage später unter mysteriösen Umständen in einer Gen-fer Hotelbadewanne tot aufgefunden. Die offizielle, gerichtlich festgestellte Todesursache war Selbst-

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(38) Barschel wurde ermordet.

ogischer Raum

Welten, indenenBarscheler mo rdetwur de

Welten, indenenBarschelnic hter mo rdetwur de

w1

w2wn

Die durch (38) ausgedrückte Proposition lässt sich also statt als Menge auch als eine ArtSpaltung des Logischen Raums verstehen. Das Kriterium, nach dem diese Spaltungvorgenommen wird, hängt dabei eng mit der Extension des Satzes zusammen. Denndiese Extension ist – wie Extensionen im allgemeinen – faktenabhängig. Wenn die Fak-ten so sind wie in den rechten Welten, ist der Satz wahr, seine Extension also der Wahr-heitswert W. Andernfalls ist F seine Extension. Diese Spaltung des Logischen Raumskönnte man auch in Form einer Tabelle darstellen, bei der jeder Welt des LogischenRaums ein entsprechender Wahrheitswert zugeordnet wird:

Welt Wahrheitswert

w1 W

w2 W

… …

wn F

Diese Tabelle ist eigentlich nur eine andere Art, die durch den Satz (38) ausgedrückteProposition darzustellen. Aber sie macht deutlich, dass es zwischen dieser Propositionund der (faktenabhängigen) Extension des Satzes einen direkten Zusammenhang gibt.Wegen dieses Zusammenhangs werden wir – statt die Proposition selbst zu nehmen –die Tabelle bzw. die durch diese Tabelle dargestellte Funktion als die Intension desSatzes betrachten, also als den Teil der Bedeutung, der den Austausch von Infor-mationen mit Hilfe dieses Satzes ermöglicht. Wir halten also fest:

Die Intension von (38) ist eine Funktion, deren Argumente möglicheWelten und deren Werte Wahrheitswerte sind. Sie weist jeder Welt,in der Barschel ermordet wurde, den Wert W zu, und jeder anderenWelt den Wert F.

Die Intension eines Satzes zeigt also an, wie der Wahrheitswert, seine Extension, inner-halb des Logischen Raums variiert. Man kann sagen: die Intension ist die Extension in

mord, aber Gerüchte über ein Fremdverschulden sind bis heute nicht verstummt:http://archiv.bz-berlin.de/bz/archiv/980602_pdf/BZ003001.htm.

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Abhängigkeit von der möglichen Welt. Das Interessante an dieser Charakterisierungist, dass sie nicht nur für Sätze funktioniert, sondern für beliebige Ausdrücke. Betrach-ten wir ein paar Beispiele:

• Die Extension der Kennzeichnung der Kanzler der BRD ist ein Indivi-duum. Um welches Individuum es sich dabei handelt, hängt vomletzten Wahlausgang ab: in der Wirklichkeit ist es Schröder, in eineranderen möglichen Welt Kohl, usw. Die Intension dieser Kennzeich-nung lässt sich demnach als eine Tabelle darstellen, in der jedermöglichen Welt (links) eine Person (rechts) zugeordnet wird, nämlichdie Person, die in der Welt gerade Kanzler der BRD ist:

Welt Individuum

w1 b

w2 c

w3 m

… …

• Die Extension des Gattungsnamens Minister ist eine Menge von Indi-viduen. Um welche Menge es sich dabei handelt, hängt von der letz-ten Kabinettsbildung ab. Die Intension dieses Gattungsnamens lässtsich demnach als eine Tabelle darstellen, in der jeder möglichen Welt(links) eine Menge von Individuen (rechts) zugeordnet wird, nämlichdie Menge der Minister in der Welt:

Welt Menge

w1 {b ,c,c,m,…}

w2 {b ,c,m,…}

w3 Ø

… …

• Die Extension der Nominalphrase keine SPD-Wählerin ist ein Quan-tor. Um welchen Quantor es sich dabei handelt, hängt von der be-trachteten Wahl33 ab. Die Intension dieses Quantors lässt sich dem-nach als eine Tabelle darstellen, in der jeder möglichen Welt (links)ein Quantor (rechts) zugeordnet wird, nämlich der Quantor, der jederMenge von Individuen den Wahrheitswert W zuordnet, wenn dieseMenge frei von SPD-Wählerinnen ist. Das Hinschreiben einer ent-sprechend kompliziert verschachtelten Tabelle ist Sache der Leserin.

33 Die Extension hängt also auch davon ab, welche Wahl man betrachtet, was wiederum davon abhängt,wann und wo der Ausdruck SPD-Wähler verwendet wird. Diese Art Abhängigkeit von Extensionenvernachlässigen wir hier. Sie betrifft auch die Zeitabhängigkeit von Kennzeichnungen wie der Kanz-ler der BRD. Mehr darüber steht in meinem Artikel ‘Kontextabhängigkeit’ in den von A. von Stechowund D. Wunderlich herausgegebenen Handbuch Semantik (Berlin 1991).

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Die Beispiele zeigen, wie sich der Intensionsbegriff für beliebige Ausdrücke verstehenlässt – vorausgesetzt, man weiß, was die Extensionen dieser Ausdrücke sind. DieIntensionen lassen sich dann wieder kompositionell kombinieren, d.h. es gilt ein:

Intensionales KompositionalitätsprinzipDie Intension eines zusammengesetzten Ausdrucks ergibt sich ausden Intensionen seiner unmittelbaren Teile und der Art ihrer Kombi-nation.

Wir illustrieren das Prinzip an einem Beispiel:

(39) Fritz pennt.

Die Intension von (39) ist eine Funktion, die jeder Welt, in der Fritz schläft, denWahrheitswert W zuordnet und allen anderen Welten den Wert F. Wie ergibt sich nundiese Intension aus denen der Teile des Satzes, also aus der Intension von Fritz und dervon pennt? Was sind diese Intensionen? Die Intension des Prädikats pennt funktioniertähnlich wie die des Gattungsnamens Minister oben: in jeder Welt ist die Extension vonpennt die Menge der in dieser Welt schlafenden Individuen, und die Intension ordnetjeder Welt diese Menge zu. Und die Intension von Fritz? In der Wirklichkeit bezieht sichder Name auf eine bestimmte Person, Fritz. Wie aber ist das in anderen Welten? Hätteda nicht jemand anders Fritz sein können? Wohl kaum. Natürlich hätten anderePersonen Fritz heißen können. Aber sie wären dann noch lange nicht Fritz. Auch Fritzhätte ja anders heißen können und wäre immer noch Fritz. Wenn wir z.B. dieMöglichkeit erörtern, dass Fritz’ Eltern ihren Sohn beinahe Jakob genannt hätten,müssten wir sagen, dass Fritz (und nicht Jakob) unter diesen Umständen einenanderen Namen gehabt hätte als in Wirklichkeit; wir beziehen und also mit dem NamenFritz immer auf dieselbe Person – egal, über welche Möglichkeit wir reden, und egalwie die Person unter diesen Umständen heißt.34 Wir schließen daraus, dass dieIntension von Fritz so aussieht:

Welt Individuum

w1 c

w2 c

w3 c

… …

Diese Tabelle hat natürlich etwas Redundantes; denn die Extension des Namens hängteigentlich gar nicht von der jeweiligen Welt ab. Aber aus systematischen Gründennimmt man an, dass Namen, wie alle sprachlichen Ausdrücke, eine Intension haben,die für jede Welt sagt, was dort die jeweilige Extension ist.

34 Dieser an sich einfache Sachverhalt ist interessanterweise vor allem in der Frühzeit der logischen Se-mantik gern übersehen worden. Ein berühmtes Buch zu diesem Thema ist Saul Kripkes Naming andNecessity (Oxford 1980; dt. Name und Notwendigkeit, Frankfurt 1993).

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Wie kombinieren sich nun die Intensionen von Subjekt und Prädikat zu der des Satzes(39)? Das ist ganz einfach. Die Satzintension ergibt sich, indem man für jede Welt nach-schaut, ob die Extension des Subjekts in dieser Welt Element der Extension des Prädi-kats in der Welt ist. Wenn ja, steht auf der entsprechenden Zeile ein W , wenn nichtsteht dort ein F. Auf diese Weise ergibt sich offenkundig die erwünschte Intension. Unddieses Verfahren ist ganz allgemein, d.h. es funktioniert nicht nur in Fällen wie (39),sondern z.B. auch dann, wenn an der Subjektstelle eine Kennzeichnung steht, wie mansich leicht anhand eines selbstgewählten Beispiels überlegen kann.

Intensionen und Sinnrelationen35

Wir hatten im vorangehenden Kapitel gesehen, dass sich Sinnrelationen – speziell zwi-schen Substantiven – in einfachen mengentheoretischen Beziehungen zwischen Exten-sionen niederschlagen können. So entspricht der Sinnrelation der Hyponymie die Teil-mengen-Beziehung zwischen den Extensionen. Allerdings ist dieser Zusammenhangzwischen Sinn und Extension nicht immer umkehrbar, denn die Extension eines Aus-drucks kann Teilmenge der Extension eines anderen sein, ohne dass eine Hyponymie-Beziehung vorliegt, ohne dass also der eine Ausdruck einen Unterbegriff des anderenbezeichnet. Wir hatten dies am Beispiel Professor/Erwachsener illustriert. Die Tat-sache, dass hier keine Hyponymie vorlag, zeigte sich dabei darin, dass minderjährigeProfessoren nichts Unvorstellbares sind, womit die beiden Begriffe sich nicht prin-zipiell ausschließen. Das wiederum schlägt sich in der Intension der Wörter wieder.Denn wenn man sich minderjährige Professoren vorstellen kann, gibt es sie auch imLogischen Raum. Selbst wenn also die tatsächliche Extension von Professor eine Teil-menge der tatsächlichen Extension von Erwachsener ist, gibt es mögliche Welten, in de-nen es anders zugeht:

Welt Extension von Professor Extension vonErwachsener

w1 { ,c,m,…} { ,c,c,m,…}

w2 { , ,c,m,…} { ,c,m,…}

w3 Ø { ,c,m,…}

… … …

In w2 ist Professor für Formale Semantik – und das im zarten Alter von 11 Jahren.So abwegig das ist, ist dennoch klar, dass es Welten wie w2 als reine Denkmöglichkei-ten gibt. Und eben gerade weil es solche Welten gibt, können Professor und Erwachsenernicht in der Hyponymie-Beziehung zueinander stehen. Läge nämlich diese Beziehungvor, wäre es ganz unmöglich, dass die Extensionen nicht auch in der Teilmengen-Bezie-hung zueinander stehen. Das sieht man an dem folgenden Beispiel:

35 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!

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Welt Extension von Bus Extension von Fahrzeug

w1 { , , ,…} { , , , , ,…}

w2 Ø { , u,…}

w3 { , , ,…} { , , , ,…}

… … …

In w2 gibt es keine Busse – angesichts der Tatsache, dass es in dieser Welt offenbar Ei-senbahnen gibt, auch ziemlich abwegig, aber immerhin eine Denkmöglichkeit. Ande-rerseits gibt es in keiner der Welten einen Bus, der nicht gleichzeitig auch ein Fahrzeugwäre: sobald etwas in irgendeiner Welt in der Extension von Bus, also in der mittlerenSpalte, auftaucht, gehört es auch in die Menge rechts daneben, also die Extension vonFahrzeug. Sonst könnte die Menge in der rechten Spalte unmöglich die Extension vonFahrzeug in der betreffenden Welt sein; denn die Extension von Fahrzeug umfasst alleFahrzeuge und somit insbesondere alle Busse.Der Unterschied zwischen der zufälligen Teilmengenbeziehung zwischen den (tatsäch-lichen) Extensionen von Professor und Erwachsener auf der einen Seite und der Hypo-nymie zwischen Bus und Fahrzeug auf der anderen besteht also darin, dass sich beiletzteren die Teilmengenbeziehung durch den Logischen Raum fortsetzt, während sieim anderen Fall nicht überall im Logischen Raum besteht. Wir sprechen in diesem Fallvon einer strikten Teilmengen-Beziehung.Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen Sinnrelationen und mengen-theoretischen Beziehungen war der zwischen Inkompatibilität und Disjunktheit, denwir im vorangehenden Kapitel an Hund und Katze illustriert hatten. Bei diesen Wörternliegt eine echte Inkompatibilität in dem Sinne vor, dass nichts zugleich ein Tier beiderArten sein kann. Diese Inkompatibilität schlägt sich nun – ähnlich wie die Hyponymiein der Teilmengenbeziehung – in einer strikten Disjunktheit nieder, was heißt, dassdie jeweiligen Extensionen der beiden Wörter quer durch den Logischen Raum disjunktsind:

Welt Extension von Hund Extension von Katze

w1{ , , ,…} {+, , ,…}

w2{ , , ,…} {C, , , …}

w3 { , , ,…} {C, , , …}

… … …

Der Zusammenhang zwischen Sinnrelationen und mengentheoretischen Beziehungenwird also enger, wenn man statt der tatsächlichen Extensionen die möglichen Extensio-nen im den Logischen Raum – also die Intensionen – betrachtet. Der Verdacht liegt so-gar nahe, dass eine Sinnrelation gerade dann besteht, wenn die entsprechende strikte

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mengentheoretische Beziehung besteht. Dies ist eine in der Semantik verbreitete Sicht-weise – man sagt auch: Rekonstruktion36 – der Sinnrelationen, aber sie ist nichtganz unumstritten. Wir werden der Frage, inwieweit strikte mengentheoretische Bezie-hungen und Sinnrelationen einander entsprechen, hier nicht weiter nachgehen.Bisher haben wir immer nur Sinnrelationen zwischen Substantiven betrachtet. Aberder Begriff ist allgemeiner, und der Zusammenhang zur Mengenlehre und zum Logi-schem Raum ebenfalls. Das wird besonders dann deutlich, wenn man Ausdrücke be-trachtet, deren Intensionen Mengen sind – also insbesondere Sätze; denn Propositio-nen sind ja Mengen von möglichen Welten37, und die Intensionen zweier Sätze könnenin denselben mengentheoretischen Beziehungen zueinander stehen, wie wir sie bei denExtensionen von Substantiven betrachtet haben:☞ Die Teilmengenbeziehung besteht zwischen den Intensionen zweier

Sätze, wenn der erste auf jede Welt zutrifft, auf die auch der zweitezutrifft, wenn also aus der Wahrheit des ersten (in einer Welt) dieWahrheit des zweiten (in derselben Welt) folgt. Die Teilmengenbezie-hung zwischen Propositionen entspricht der Folgerung zwischenSätzen, die sie ausdrücken.

☞ Die Disjunktheitsbeziehung besteht zwischen den Intensionenzweier Sätze, wenn es keine Welt gibt, auf die beide zutreffen, wennalso die Wahrheit des ersten (in einer Welt) die Wahrheit des zweiten(in derselben Welt) widerspricht. Die Teilmengenbeziehung zwischenPropositionen entspricht somit dem gegenseitigen Widerspruch zwi-schen Sätzen, die sie ausdrücken.

Beispiele für diese Beziehungen zwischen Sätzen lassen sich sehr leicht finden. Wennman nämlich zwei Substantive nimmt, die in der Hyponymie-Beziehung oder in der In-kompatibilitäts-Beziehung zueinander stehen, lassen sich aus ihnen ganz leicht Sätzebilden, die auseinander folgen bzw. einander widersprechen: aus Fido ist ein Pudel folgtFido ist eine Hund, weil Pudel ein Hyponym zu Hund ist; und Fido ist ein Hund undFido ist eine Katze widersprechen einander, weil Hund und Katze inkompatibel sind.Das Auffinden weiterer, anders gelagerter Beispiele bleibt der Leserschaft überlassen.

Von der Intension zur Extension – und zurückEin Grund, aus dem Wahrheitswerte als Satzbedeutungen nichts taugen war der, dasses offensichtlich viel mehr Satzbedeutungen als Satzextensionen gibt. Intensionen sindda schon besser. Denn es gibt sehr viele Möglichkeiten, die Wahrheitswerte auf die mög-lichen Welten des Logischen Raums zu verteilen. Aber Wahrheitswerte sind auch auseinem anderen Grund schlechte Kandidaten für Satzbedeutungen. Denn was ein Aus-druck bedeutet, lernt man, wenn man die Sprache lernt, der der Ausdruck angehört.Aber auch wer perfekt deutsch spricht, kennt deswegen noch lange nicht die Wahr-heitswerte aller Sätze. Man denke nur an solch interessante Sätze wie (38): natürlichwissen wir, was der Satz bedeutet, aber Extension kennen nur sehr wenige (und die ha-ben allen Grund, ihr Wissen für sich zu behalten).

Wie ist das bei der Intension? Ist diese nicht mit demselben Makel behaftet? Kennt nicht,

36 Von einer Rekonstruktion spricht man ganz allgemein, wenn ein exakter theoretischer Begirff – indiesem Fall der einer generalisierten mengentheoretischen Beziehung – einen intuitiv ("naiv")gegebenen Begriff – in diesem Fall der der Sinnrelation – genauer fasst.

37 … oder entsprechende Tabellen (Funktionen). Für die folgenden Betrachtungen ist die – äquivalente– Darstellung von Propositionen als Mengen zweckmäßiger.

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wer die Intension eines von (38) kennt, damit auch seine Extension? Denn hat man ein-mal die Intensionstabelle, muss man doch nur unter der der wirklichen Welt nach-schlagen! Das ist zwar richtig, aber woher weiß man, welche der möglichen Welten diewirkliche ist? Die Welten sind, wie wir gesehen haben, maximal spezifische Fälle. Undselbst wenn ich weiß, dass ein Fall, in dem sich Barschel das Leben genommen hat, kei-ner ist, in dem er ermordet wurde, weiß ich damit noch lange nicht, ob dieser Fall ein-getreten ist. In der Tat: ich kann von keinem einzigen maximal spezifischen Fall mitSicherheit sagen, dass er eingetreten ist; denn wenn ich das könnte, wäre ich all-wissend. In diesem Sinne weiß zwar jeder, dass der tatsächliche Wahrheitswert von (38)der Wert ist, den die Extension von (38) der wirklichen Welt zuordnet; aber welche dervielen Möglichkeiten des Logischen Raums diese wirkliche Welt ist (oder realisiert),weiß niemand. Natürlich können wir einige der abwegigeren Welten ausschließen:Welten, in denen es keine Menschen gibt; Welten, in denen Kohl noch immer Kanzlerist usw. Aber es bleiben noch unzählige andere übrig, die jede für sich genommen mitder Wirklichkeit übereinstimmen könnten – obwohl es nur eine tut.

Um die Intension eines Satzes zu kennen, braucht man also nicht zu wissen, ob er wahrist. Man muss nur wissen, unter welchen beliebigen hypothetischen Umständen erwahr wäre. Und das ist kein schlechtes Kriterium für das Verständnis des Satzes: “Ei-nen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist”, hat schon LudwigWittgenstein (Tractatus, 4.024) gesagt, und wir schließen uns dieser Sichtweise an, diewiederum nahelegt, dass die Bedeutung seines Satzes sich in seiner Intension er-schöpft. Informativität wird damit zum zentralen Aspekt der Bedeutung. Aber derSachbezug geht damit natürlich nicht verloren; denn er ergibt sich aus der Intension,als Wert für die wirkliche Welt. Wer die Extension eines Ausdrucks kennen will, mussallerdings genug über die Wirklichkeit wissen, um sie (die Extension) eindeutig zu iden-tifizieren. Nehmen wir ein Beispiel. Wer weiß, wer die letzte Bundestagswahl gewonnenhat, weiß, dass Schröder der gegenwärtige Kanzler ist, kennt also die Extension derKennzeichnung der Kanzler der BRD. Er weiß also, dass es Schröder ist, der rechtsneben der Wirklichkeit in der Intensionstabelle dieser Kennzeichnung steht. Dafürmuss er allerdings nicht wissen, welche der vielen Möglichkeiten des Logischen Raumsunsere Wirklichkeit ist. Es genügt, dass er all jene ausschließen kann, in denen Schrö-der nicht der Kanzler ist. Es bleiben dann noch sehr viele übrig, die sich z.B. in der An-zahl der Haare auf Schröders Kopf voneinander unterscheiden. Aber die Welten, unterdenen nach den Informationen dieser Person sich die Wirklichkeit befindet, stimmenalle darin überein, dass Schröder in ihnen Kanzler ist. Und das genügt, um die Exten-sion dieses Ausdrucks eindeutig festzulegen.

Von der Intension führt also ein Weg zur Extension, und wer genug über die Welt weiß,weiß auch, wohin genau dieser Weg führt. Gibt es auch einen Weg zurück? Kann manauch von der Extension auf die Intension zurückschließen? Die Antwort lautet: Jein.Denn einerseits legt ja die Gesamtheit der möglichen Extensionen eines Ausdrucksdessen Intension fest. So war ja der Begriff der Intension definiert worden. Aber ande-rerseits kann man im allgemeinen von der tatsächlichen Intension keineswegs auf die

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Extension zurückschließen; denn in der Extension stimmen z.B. alle wahren Sätzeüberein, aber auch die Nominalphrasen der Kanzler der BRD, der Vorsitzende der SPDund Schröder – aber sie haben verschiedene Intensionen.

6. Von der (wörtlichen) Bedeutung zum GebrauchIntensionen waren eingeführt worden, um den Informativitätsaspekt der Bedeutung zuerklären: wie ist es möglich, dass wir uns mit Hilfe sprachlicher Ausdrücke verständi-gen und insbesondere informieren? Wir haben zwar gesehen, dass Propositionen – unddamit Satz-Intensionen – irgendetwas mit dem Informationsgehalt zu tun haben, aberwie man sich den Austausch von Informationen vorzustellen hat, bleibt noch zu erläu-tern. Wir wollen dies nun anhand eines stark idealisierten (= für die wissenschaftlicheAnalyse vereinfachten) Szenarios tun.

Informationsfluss in IdealformDie Art von Kommunikation, für deren Beschreibung sich das hier eingeführteAnalyse-Instrumentarium der logischen Semantik besonders gut eignet, ist der (ein-seitige) Informationsfluss. Damit sind Situationen gemeint, in denen eine Person eineandere Person erfolgreich über etwas informiert. Eine solche Situation liegt z.B. vor,wenn Walter seinem Sohn Paul die Frage beantwortet, was es denn heute zum Abend-essen gäbe. Walters Antwort lautet kurz und knapp:

Lasagne

[© Regine Eckardt]

Im Kontext von Pauls Frage kann man Walters Ein-Wort-Äußerung offensichtlich alsAbkürzung für einen ganzen Satz verstehen:

(40) Heute gibt es Lasagne zum Abendessen.

In der beschriebenen Situation hat Walter mit seiner Äußerung des (Aussage-) Satzes(40) seinen Gesprächspartner Paul offenkundig informiert. Die Situation weist insbe-sondere die folgenden drei Eigenschaften auf:

• Pauls Informationen vor Walters Äußerung reichen nicht aus, um über Wahrheit oder Falschheit von (40) zu entscheiden.

• Walter weiß dagegen, dass (40) wahr ist.• Nach Walters Äußerung weiß auch Paul, dass (40) wahr ist.

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Alle drei Punkte, die zusammengenommen im wesentlichen den idealen Informations-fluss ausmachen, lassen sich mit Hilfe des im vorangehenden Kapitel eingeführtenIntensions-Begriffs fassen. Da es um die Veränderung eines Informationsstands geht,empfiehlt es sich zunächst, diesen unter die Lupe zu nehmen. Was ist derInformationsstand einer Person, in diesem Falle Paul? Paul weiß eine ganze Menge,z.B. dass es am Abend auf keinen Fall Himbeereis oder Regenwürmer zu essen gebenwird. Aber genau weiß er nicht, was auf den Tisch kommt: vielleicht gibt es Spinat,vielleicht P izza, vielleicht auch Lasagne. Beschränken wir uns einmal auf dieerwähnten fünf Möglichkeiten. Zwei von ihnen (H und R) kann er ausschließen, dieanderen sind für ihn noch offen. Sein Informationsstand bezüglich Abendessen lässtsich dann so darstellen:

R

H

SP

L

Kann nichtsein

Kann sein

Das ist natürlich nicht Pauls gesamter Informationsstand vor Beantwortung seinerFrage. Paul weiß ja noch eine Menge anderer Sachen, die mit dem Abendessen nichtszu tun haben – zum Beispiel, dass seine Klassenlehrerin heute Krank ist (was seinVater Walter nicht weiß). Die Möglichkeit, dass Frau Weber Gesund ist, kann Paul alsogenauso ausschließen wie die, dass es heute Abend Regenwürmer gibt. Genauer gesagtkann er jede Möglichkeit ausschließen, nach der Frau Weber gesund ist – also sowohldie Möglichkeit GR, dass Frau Weber gesund ist und es am Abend Regenwürmer gibt(beides schließt er ja aus) als auch die Möglichkeit GL, dass Frau gesund ist und es amAbend Lasagne gibt (ersteres schließt er ja aus). Ebenso schließt er jede Möglichkeitaus, dass es Himbeereis gibt – also sowohl die Möglichkeit GH , dass Frau Webergesund ist und es am Abend Himbeereis gibt als auch die Möglichkeit KH, dass FrauWeber krank ist und es am Abend Himbeereis gibt. Eine genauere Darstellung vonPauls Informationsstand wäre demnach:

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KH

KSKP

KL

Kann nichtsein

Kann sein

GL

KR

GH

GP

GSGR

Es ist klar, dass sich die genannten Möglichkeiten G S , K H usw. noch weiterverfeinern lassen. Ja, sie müssen sogar verfeinert werden, will man Pauls gesamtenInformationsstand darstellen und nicht nur, was er über das Abendessen und denGesundheitszustand seiner Lehrerin weiß. Wie fein müssen die Möglichkeiten werden?Die Antwort lautet wieder: nur die Welt ist die Grenze. Letztlich ist PaulsInformationsstand eine Spaltung des Logischen Raums aller möglichen Welten. Erlässt sich demnach als Proposition oder, was auf dasselbe hinausläuft, als Satz-Intension (Funktion, die Welten Wahrheitswerte zuordnet) auffassen.

Wir sind nun in der Lage, das erste Charakteristikum unseres kleinen Szenariosdarzustellen, nämlich die Tatsache, dass Pauls Informationen vor Walters Äußerungnicht ausreichen, um über Wahrheit oder Falschheit von (40) zu entscheiden. Dasbedeutet ganz einfach, dass unter den Möglichkeiten – also den möglichen Welten – aufder rechten (KANN-SEIN)-Seite seines Informationszustandes sowohl solche sind, nachdenen (40) wahr wäre als auch solche, nach denen (40) falsch wäre:

KH…

KS…KP…

KL…

Kann nichtsein

Kann sein

GL…

KR…

GH…

GP…

GS…GR…

(40)

In dieser Darstellung ist (40) die durch den Satz (40) ausgedrückte Proposition – alsodie Menge der Welten, in denen es bei Walter und Paul am Abend Lasagne gibt.Einzelne mögliche Welten haben wir hier nur angedeutet. Wichtig ist in diesemZusammenhang, dass es nach Pauls Informationsstand im rechten, nicht ausge-schlossenen Bereich sowohl Welten wie KP… gibt, auf die (40) nicht zutrifft (weil es dortPizza gibt statt Lasagne) als auch Welten wie KL…, in denen es Lasagne gibt. (Was

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sonst noch in dieser Welt der Fall ist, verbirgt sich hinter den drei Punkten.) Genau dasheißt, dass Pauls Informationsstand die Wahrheit oder Falschheit von (40) nicht ent-scheiden kann. Man beachte übrigens, dass Paul durchaus in der Lage ist, einige derFälle auszuschließen, in denen (40) wahr ist. GL… ist so eine Welt: in ihr gibt es zwarLasagne (weshalb (40) auf sie zutrifft), aber Paul schließt sie aus, weil seine Lehrerin inihr gesund ist.

Kommen wir nun zum zweiten Charakteristikum unseres Szenarios. Damit WalterPaul überhaupt über das Abendessen informieren kann, muss er selbst Bescheidwissen; und wenn er dafür den Satz (40) benutzen will, muss er wissen, dass er wahrist. Walters Informationsstand muss also alle Fälle ausschließen, nach denen (40)falsch wäre, in denen es also keine Lasagne gäbe:

KH…

KS…KP…

KL…

Kann nichtsein

Kann sein

GL…

KR…

GH…

GP…

GS…GR…

(40)

Der Schnitt durch den Logischen Raum verläuft bei Walter ganz woanders als bei Paul.Manches, was der eine für möglich hält, schließt der andere aus. Entscheidend für denreibungslosen Informationsfluss ist in unserem Szenario nur, dass er so verläuft, dassalle Welten, auf die (40) nicht zutrifft, ausgeschlossen sind.

Damit kommen wir zum kommunikativen Effekt von (40). Wenn Paul – was wir an-nehmen wollen – seinem Vater vertraut, wird er dessen Worten Glauben schenken. Indiesem Falle verändert sich sein Informationsstand: während er vorher nicht wusste,ob (40) wahr ist, kann er jetzt ausschließen, dass (40) falsch ist. Ansonsten bleibt für ihnalles beim Alten; denn sein Vater hat ihn über nichts als die abendliche Lasagne infor-miert.38 Nach Aufnahme von Walters Antwort hat sich demnach Pauls Informations-stand wie folgt entwickelt:

38 Darin liegt eine gewisse Vereinfachung. Denn strenggenommen ändert sich Pauls Informations-stand auch in anderer Hinsicht: z.B. kann er jetzt ausschließen, dass Walter seine Frage nichtbeantwortet hat etc.

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KH…

KS…KP…

KL…

Kann nichtsein

Kann sein

GL…

KR…

GH…

GP…

GS…GR…

(40)

Damit haben wir am Beispiel gesehen, wie sich die wesentlichen Aspekte des Informa-tionsflusses mit den Methoden der logischen Semantik modellieren lassen. BeimInformationsaustausch zwischen zwei (oder mehr) Personen wechseln im einfachstenFall Sprecher und Hörer immer wieder die Rollen. Tatsächliche Gesprächsabläufe,selbst wenn sie nur dem Austausch von Informationen dienen, sind aber ungleich kom-plizierter. Denn einerseits bestehen sie nicht nur aus einer Abfolge von Behauptungen,sondern z.B. aus Fragen, Antworten, Rückfragen, Erläuterungen usw. Die Untersu-chung solcher Gesprächsstrukturen macht einen Großteil der Pragmatik aus, der wiruns nach einem kleinen Exkurs zuwenden werden.

Einstellungberichte39

Ein Motiv für die Einführung von Intensionen war das Scheitern des extensionalenKompositionalitätsprinzips. Die Semantik der Einstellungsberichte geht offenbar überdas rein Extensionale hinaus. Allerdings haben wir noch nicht gesehen, wie die Heran-ziehung von Intensionen hier weiterhilft. Das wollen wir nun nachholen.Welche Rolle spielen Intensionen in der Deutung von Einstellungsberichten? Schauenwir uns dazu noch einmal die weiter oben betrachteten Beispiele (in neuer Nummerie-rung) an:(41) Fritz weiß, dass Hamburg größer ist als Köln.(42) Fritz weiß, dass Pfäffingen größer ist als Breitenholz.Wir hatten zunächst beobachtet, dass die (unterstrichenen) eingebetteten Sätze zur Ex-tension des Gesamtberichts mehr beitragen als nur ihren Wahrheitswert, und dannspekuliert, dass dieses Mehr vielleicht ihr Informationsgehalt sein könnte. Diesen In-formationsgehalt haben wir inzwischen mit der Intension der Sätze oder (was wiederauf dasselbe hinausläuft) mit der von ihnen ausgedrückten Proposition gleichgesetzt.Wie leistet nun diese Proposition einen Beitrag zum Wahrheitswert des Einstellungs-berichts? Wir werden diese Frage am Beispiel des Verbs wissen beantworten.Das Verb wissen unterscheidet sich von den betrachteten zweistelligen Verben, indemes an der Objektstelle einen dass-Satz nimmt.40 Die Extensionen normaler transitiverVerben sind Mengen von Paaren von Individuen, den Extensionen ihrer Subjekte undObjekte. Wenn nun der Extensions-Beitrag des eingebetteten Satzes im Einstellungsbe-39 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!40 Es kann auch eine indirekte Frage nehmen (Fritz weiß, wo man einen gepflegten Riesling kriegt),

aber diese Verwendung interessiert uns hier nicht.

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richt die durch ihn ausgedrückte Proposition ist, liegt es nahe, als Extension des Ein-stellungsverbs eine Menge von Paaren (x,p) anzusetzen: das Individuum x ist die Ex-tension des Subjekts und p die durch den dass-Satz ausgedrückte Proposition. DerWahrheitswert eines Berichts der Form NN weiß, dass S hängt dann davon ab, ob dasdurch den Namen NN benannte Individuum über die im Satz S enthaltene Informa-tion verfügt. An dem gerade diskutierten Szenario haben wir gesehen, was es heißt,dass ein Individuum über eine bestimmte, durch einen Satz ausgedrückte Informationverfügt: um Pauls Frage korrekt zu beantworten, musste Walter wissen, dass die seineAntwort (40) wahr ist. Das wiederum hieß, dass die durch (40) ausgedrückte Propositionden KANN-SEIN-Bereich seines Informationsstandes abdeckt, wie man an der Abbil-dung auf S. 52 sieht. Wir erhalten damit folgende Festlegung:

Die Extension von wissen ist eine Menge von Paaren (x ,p ), sodass gilt: der Informationsstand von x schließt alle Welten aus, dienicht in p liegen.

Wenn man statt vom Informationsstand des jeweiligen Individuums von dessen Mei-nungsbild, seinen Bedürfnissen, Plänen etc. ausgeht, bekommt man eine analoge Deu-tung anderer Einstellungsverben wie meinen oder wollen. Das setzt natürlich voraus,dass sich auch Meinungen und Bedürfnisse als Propositionen darstellen lassen, waswir hier nicht weiter ausführen werden. Nicht alle Einstellungsverben betten übrigensdass-Sätze ein. Sog. Kontrollverben wie versuchen nehmen stattdessen einen Infinitivzu sich. Will man sie ebenfalls nach dem obigen Muster deuten, muss man den Infinitivsemantisch zu einem Satz ergänzen, also NN versucht zu VERBen im Sinne des (na-türlich ungrammatischen) NN versucht, dass NN VERBt zu interpretieren. Die se-mantische Analyse muss sich noch weiter von der sprachlichen Oberfläche entfernen,wenn sie auch intensionale Kontexte wie den folgenden erklären will:(43) Fritz sucht einen spannenden deutschen Krimi.Dass der unterstrichene sprachliche Kontext intensional ist, sieht man daran, dassman in ihm nicht unbedingt extensionsgleiche Ausdrücke füreinander ersetzen kann,ohne dass sich die Extension des Gesamtausdrucks ändert. Wenn es z.B. weder span-nende deutsche Krimis noch billige Bordeauxweine gibt, hätten die beiden Nominalespannender deutscher Krimi und billiger Bordeauxwein dieselbe Extension, nämlich Ø.Dennoch kann man aus (43) nicht schließen, dass Fritz einen billigen Bordeaux sucht.Wenn man nun (43) für die semantische Analyse durch (44) paraphrasiert, lässt sichdie obige Deutung der Einstellungsverben (nach dem Vorbild von wissen) auf diesen Fallübertragen:(44) Fritz versucht, dass Fritz einen spannenden deutschen Krimi findet.Die Paraphrase hat – neben der einheitlichen Erklärung intensionaler Kontexte – denVorzug, dass man mit ihr auch die im dritten Kapitel vorgeführte, von suchen verur-sachte Ambiguität erklären kann, nämlich nach dem Vorbild des ebenfalls dort ange-sprochenen Beispiels Mein Schwager möchte eine Norwegerin heiraten.41

ErfolgsbedingungenWer Walter kennt, weiß, dass er seinen Sohn Paul über das Abendessen korrekt unter-richtet hat. Es gibt wirklich Pizza, und Paul hatte keine Ahnung davon. Bei dem obigenSzenario handelte es sich also um einen Fall von erfolgreichem Informationsfluss, derdie weiter oben genannten Bedingungen – die Erfolgsbedingungen – erfüllte:

41 Diese Erklärung der Ambiguität bei suchen stammt aus W. V.O. Quines Word and Object(Cambridge, Mass. 1960; dt.: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980) einem der Klassiker der logi-schen Sprachanalyse.

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• Hörervoraussetzung HVor der Äußerung reichen die Informationen des Hörers nicht aus, umüber Wahrheit und Falschheit der Aussage des Sprechers zu entscheiden.

• Sprechervoraussetzung SDer Sprecher weiß dagegen, dass seine Aussage wahr ist.

• Effekt ENach der Äußerung weiß dies auch der Hörer.

Wir haben gesehen, wie sich diese drei Bedingungen mit Hilfe des Logischen Raumsdarstellen lassen, der durch die jeweiligen Informationszustände von Sprecher undHörer geteilt wird:

H Der Informationsstand des Hörers vor der Äußerung enthält auf der KANN-SEIN-Seite sowohl Welten, auf die die Aussage zutrifft, als auch Welten, aufdie sie nicht zutrifft – graphisch:

Informationsstanddes Hörers

KANNSEIN

Aussage

WAHR

FALSCH KANNNICHTSEIN

S Der Informationsstand des Sprechers vor (wie nach) der Äußerung schließtalle Welten aus, auf die seine Aussage nicht zutrifft:

Informationsstanddes Sprechers

Aussage

KANN SEIN

KANN NICHTSEIN

WAHR

FALSCH

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E Auf der KANN-SEIN-Seite des Informationsstands des Hörers bleiben nachder Äußerung nur noch Welten übrig, auf die die Aussage zutrifft:

Informationsstanddes Sprechers

Informationsstanddes Hörers

KANNSEIN

Aussage

KANN SEIN

KANN NICHTSEIN

WAHR

FALSCH KANNNICHTSEIN

VORHER

NACHHER

Wir haben diesen Effekt so dargestellt, dass der Informationsstand des Hörers nach derÄußerung gerade die Welten ausschließt, die er schon vorher ausgeschlossen hat sowiediejenigen, auf die die Aussage nicht zutrifft. Das ist – wie schon erwähnt (in Fußnote38) – insofern eine Vereinfachung, als der Hörer nach erfolgter Belehrung normaler-weise auch andere Welten ausschließen kann, nämlich zum Beispiel gerade solche, indenen der Sprecher ihn nicht informiert hat. Abgesehen davon, dass er jetzt weiß, wases zum Abendessen gibt, erfährt Paul ja durch Walters Äußerung auch, dass sein Vaterbereit und in der Lage war, ihm die verlangte Information zu geben, dass er sie ihmnicht erst kurz vorm Essen, sondern jetzt gegeben hat und dass er sich dabei etwas ein-silbig – genauer: zweisilbig (Piz-za) – ausgedrückt hat anstatt im ganzen Satz zu re-den, etc. pp. Die Quelle dieser zusätzlichen Informationen ist allerdings nicht der In-halt der väterlichen Antwort – also dessen, was Walter gesagt hat – sondern vielmehrdie Tatsache, dass er diese Antwort gegeben hat und wie er sie gegeben hat. Diese Artvon zusätzlicher Information, die wir hier bei der Beschreibung des Informationsflus-ses vernachlässigen, bezeichnet man als kontextuell – im Gegensatz zur inhaltlichenInformation.

Wann immer Sprache benutzt wird, um Informationen zu übermitteln, sollten zumin-dest die drei genannten Erfolgsbedingungen erfüllt sein; ist, mit anderen Worten, eineder drei Bedingungen nicht erfüllt, liegt kein idealer Informationsfluss vor:

• Ist die Sprecherbedingung S nicht erfüllt, verbreitet der Sprecher Informatio-nen, die von seinem eigenen Informationsstand nicht gedeckt sind. Hier kannman zwei Fälle unterscheiden:

59

☞ Der Sprecher sagt etwas, dessen Gegenteil er weiß. In diesem Fall kannman den Sprecher zu Recht der Lüge bezichtigen. Modelliert man wieoben Informationen durch Schnitte im Logischen Raum, schließt derInformationsstand des Sprechers in dem Fall alle Welten aus, auf dieseine Aussage zutrifft:

LÜGE:

KANN NICHTSEIN

KANN SEIN

F A L S C H

W A H R

Informationsstand des Sprechers Aussage

☞ Der Sprecher sagt etwas, dessen Wahrheit oder Falschheit er nicht be-urteilen kann; in diesem Falle liegt eine Anmaßung vor – er hält, waser behauptet, durchaus für möglich – aber er weiß es auch nicht, d.h. erhält auch das Gegenteil für möglich. In diesem Fall unterscheidet sichder Informationsstand des Sprechers hinsichtlich seiner Aussage nichtvon dem des Hörers vor der Äußerung.

ANMASSUNG:

KANN NICHTSEIN

KANN SEIN

F A L S C H

W A H R

Informationsstand des Sprechers Aussage

Lüge und Anmaßung ist gemeinsam, dass der Sprecher etwas behauptet, waser nicht weiß. Von einem erfolgreichen Informationsfluss kann deshalb nichtdie Rede sein, weil der Sprecher ja gar nicht über die Information verfügt, dieer dem Hörer unterzuschieben versucht.

Damit erweist sich die Sprecherbedingung S als eine notwendige Bedingung für dengeordneten Informationsfluss. Ebenso die Hörerbedingung:

• Ist H nicht erfüllt, ist der Hörer bereits vor der Äußerung in der Lage, dieAussage zu beurteilen. Hier kann man wieder zwei Fälle unterscheiden:☞ Die in der Aussage enthaltene Information war dem Hörer bereits vor

der Äußerung bekannt; die Äußerung ist in diesem Falle uninformativoder redundant. Der Informationsstand des Hörers schließt dann be-reits vorher alle Welten aus, auf die die Aussage nicht zutrifft:

60

REDUNDANZ:

Informationsstand des HörersAussage

F A L S C H

W A H R

KANN SEIN

KANN NICHTSEIN

Die Aussage kann in diesem Fall den Informationen des Hörers nichts hinzu-fügen, weswegen kein Informationsfluss stattfindet: die Information ist schonvor der Äußerung da, wo sie hin soll.☞ Die Aussage ist nach dem Informationsstand des Hörers falsch; mit

seiner Äußerung widerspricht in diesem Falle der Sprecher den Infor-mationen des Höeres. Der Informationsstand des Hörers muss dannbereits alle Möglichkeiten, nach der die in der Aussage enthaltene In-formation stimmt, ausschließen:

WIDERSPRUCH:

Informationsstand des HörersAussage

F A L S C H

W A H R

KANN SEIN

KANN NICHTSEIN

Würde der Hörer jetzt seinen Informationen die Aussage hinzufügen, müssteer auch noch alle Welten ausschließen, auf die diese zutrifft. Aber dann blie-ben keine Welten mehr übrig – es gäbe keine Möglichkeit, wie die Wirklichkeitbeschaffen sein könnte. Der Hörer weiß aber – ein Minimum an Rationalitätvorausgesetzt –, dass die die Welt irgendwie beschaffen sein muss und wirdsich davor hüten, alle Möglichkeiten auszuschließen.42

Sprecher- und Hörerbedingung sind also notwendige Voraussetzungen für einen erfolg-reichen Informationsfluss. Aber natürlich muss auch der Effekt selbst, die Verände-rung des Informationsstands des Hörers durch die Aussage des Sprechers eintreten,damit von einem Informationsfluss die Rede sein kann:

42 Wenn ihm die Information des Sprechers plausibel und verlässlich genug scheint, könnte der Hörerin so einem Fall seinen ursprünglichen Informationsstand revidieren. Wie er dies tun kann, ist ei-ne in der Künstlichen Intelligenz (der Modellierung kognitiver Fähigkeiten) heiß debattierte Frage.

61

• Ist E nicht erfüllt, schließt der Informationsstand des Hörers die Falschheitder Aussage auch nach der Äußerung des Sprechers nicht aus. Dies kannselbst dann geschehen, wenn die anderen beiden Bedingungen erfüllt sind.Diesmal empfiehlt es sich, drei Fälle auseinanderzuhalten:43

☞ Der Informationsstand des Hörers verändert sich gar nicht:

NULLEFFEKT:

KANN NICHTSEIN

KANN SEIN

KANNNICHTSEINKANN

SEIN

VORHER

NACHHER

FALSCH

WAHR

Informationsstand des Sprechers Informationsstand des HörersAussage

Für das Ausbleiben jeglichen Effekts kann es verschiedene Gründe geben: derHörer war vielleicht unaufmerksam und hat gar nicht mitbekommen, dassder Sprecher etwas gesagt hat; oder vielleicht hat er Gründe, den Informatio-nen des Sprechers grundsätzlich zu misstrauen. Wie auch immer: Klar ist,dass in so einem Fall kein Informationsfluss vorliegt.

☞ Der Informationsstand des Hörers verändert sich, ohne dass die Aus-sage akzeptiert würde. Hier handelt es sich im Normalfall um einMissverständnis, weil der Hörer die Äußerung des Sprechers nichtkorrekt identifiziert: vielleicht hat er sich verhört, vielleicht handelt essich um eine ambige Oberflächenform, und der Hörer greift die falscheLesart heraus. In jedem Falle tritt ein ungewollter Effekt ein:

MISSVERSTÄNDNIS:

KANN NICHTSEIN

KANN SEIN

KANNNICHTSEINKANN

SEIN

VORHER

NACHHER

FALSCH

WAHR

Informationsstand des Sprechers Informationsstand des HörersAussage

43 Fälle von Wissensrevision (im Sinne der vorangehenden Fußnote) lassen wir wieder außer Acht –ebenso wie das kontextuelle Wissen des Hörers.

62

☞ Nach der Äußerung des Sprechers weiß der Hörer mehr, als die eigent-liche Aussage – also deren wörtliche Bedeutung (Intension) der Äuße-rung – besagt. Dies könnte durchaus in der Absicht des Sprechersliegen; es läge dann also kein Missverständnis vor, sondern einesogenannte Implikatur:

IMPLIKATUR:

Informationsstand des Sprechers Informationsstand des HörersAussage

VORHER

NACHHER

KANN SEIN

KANN NICHTSEIN

FALSCH

WAHR

KANNNICHTSEIN

Einen Fall von Implikatur haben wir schon im ersten Kapitel kennengelernt,als Fritz den Nachtisch als nicht giftig klassifizierte. Es war dabei durchausin Fritzens Sinne, dass Uwe aufgrund dieses Urteils nicht nur ausgeschlossenhat, dass der Nachtisch giftig war, sondern darüberhinaus jegliche Möglich-keit eliminiert hat, nach der er überhaupt genießbar war. Auf die Implikatu-ren kommen wir in Kapitel 7 zurück. Fürs erste halten wir nur fest, dass eineImplikatur ein vom Sprecher beabsichtigter kommunikativer Effekt ist, derüber die wörtliche Bedeutung hinausgeht.

Liegt eine Implikatur vor, fließt natürlich insbesondere Information, selbst wenn derEffekt E nicht eintritt. Man könnte also einwenden, dass E offenbar doch keine notwen-dige Bedingung für den Informationsfluss ist. Das ist in gewisser Weise richtig; aller-dings handelt es sich dabei um ein rein terminologisches Problem: Informationsflussliegt zwar vor, aber kein idealer Informationsfluss. Die beiden sollten aus guten Grün-den unterschieden werden; denn letzterer lässt sich allein aufgrund der wörtlichen Be-deutung des geäußerten Satzes – also semantisch – bestimmen, bei der Implikaturkommt noch etwas Pragmatisches hinzu. Auch dazu mehr im nächsten Kapitel.

ReflexionDie Vermutung liegt nahe, dass S, H und E nicht nur notwendige, sondern zusam-men genommen auch hinreichende Bedingungen für den idealen Informationsflusssind, dass also m. a. W. die Aussage – die Proposition, die den wörtlichen Sinn der Äu-ßerung ausmacht – als Information vom Sprecher zum Hörer fließt, sobald diese dreiBedingungen erfüllt sind. Doch dem ist nicht so. Die Bedingungen schließen nämlichnicht aus, dass der Informationszuwachs beim Hörer sozusagen zufällig, also unab-hängig von der Äußerung des Sprechers, geschieht. Das kann zum Beispiel folgenden-dermaßen passieren:

Arminias SiegFritz und Walter sind Arminia-Fans. Fritz verfolgt das Aufstiegsspiel imStadion, Walter liegt krank im Bett. Nach dem Spiel ruft Fritz seinen Freundan, um ihm das Ergebnis mitzuteilen:

(45) 11:0 für Arminia.

Walter kann den Worten seines Freundes keinen Glauben schenken; zuhoch scheint ihm der Sieg, er kann sich eigentlich nur verhört haben. Dochzeitgleich mit Fritzens Äußerung wird auf dem Bildschirm im Rahmen derNachrichten eines seriösen Privatsenders ebendasselbe unfassliche Resultateingeblendet – und Walter nimmt es glücklich zur Kenntnis.

Der Fall ist so konstruiert, dass alle drei oben genannten Erfolgsbedingungen erfülltsind: Fritz weiß etwas (S), was Walter nicht weiß (H), und teilt ihm dies mit, worauf-hin sich Walters Wissensstand entsprechend ändert (E). Doch das woraufhin ist einrein zeitliches, kein kausales; denn die Information fließt zwar, aber nicht von Fritz zuWalter, sondern vom Fernseher aus.

Die Geschichte mag weit hergeholt erscheinen: normalerweise liegt bei einem Eintretenvon Sprecher- und Hörerbedingung ein Informationsfluss vor – insbesondere wennauch der Effekt E eingetreten ist. Doch das ist nicht der Punkt. Denn was die Geschich-te zeigt, ist, dass die drei genannten Bedingungen nicht den (idealen) Informationsflussausmachen. Der Informationsfluss besteht also nicht nur darin, dass die drei Bedin-gungen erfüllt sind. Es muss noch etwas hinzukommen. Die Geschichte von Fritz undWalter ist ein reines Gedankenexperiment, das helfen soll, dieses Etwas zu finden, dasüber die drei Bedingungen hinaus den Informationsfluss ausmacht.

Wäre Walter klar gewesen, dass Fritz tatsächlich (45) geäußert hat und dabei weder ge-scherzt noch einen Irrtum begangen hat, dann hätte er seines Freundes Worten getrostGlauben schenken und sich den Umweg über den Fernseher ersparen können. Mit an-deren Worten: Hätte Walter gewusst, dass die Sprecherbedingung S erfüllt war, wäredie Information von Fritz zu ihm geflossen.

Die kursiv gesetzte Bedingung entpuppt sich damit als Kandidat für eine weitere not-wendige Voraussetzung des erfolgreichen Informationsflusses. In etwas allgemeinererForm lautet sie:

• Reflexionsbedingung RSprecher und Hörer wissen, dass die Bedingungen S und H erfüllt sind.

Die Reflexionsbedingung bringt zum Ausdruck, dass sich Sprecher und Hörer darüberim Klaren sind, dass die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Informationsflusserfüllt sind. Dies war zum Beispiel in unserem Pizza-Szenario der Fall: Walter hat nichtnur gewusst, dass es Pizza geben wird (= Sprecherbedingung S), sondern auch, dassPaul dies noch nicht wusste (H) – Paul hat ihn ja gefragt, was es zum Essen gibt; undihm war ebenso klar, dass sich Pauls Informationsstand durch seine, Walters, Äuße-rung in dieser Hinsicht vervollständigt (E). Umgekehrt war natürlich Paul sein unzu-reichender Kenntnisstand vor Walters Äußerung (H) ebenso bewusst wie der Wissens-

zuwachs (E), den er der Aussage seines Vaters verdankt; und er wusste natürlichauch, dass diese Aussage nicht aus dem hohlen Bauch kam, sondern Walters fundier-tem Wissen um den abendlichen Menüplan entsprang (S). Mit anderen Worten: beideGesprächsteilnehmer wussten, dass die drei obigen Bedingungen erfüllt waren.

In der obigen Form ist die Reflexionsbedingung zugleich etwas ungenau und sehr allge-mein. Ungenau ist die Formulierung vor allem insofern, als sie offen lässt, inwieweitdas Wissen um Sprecher- und Hörerbedingung die Aussage selbst betrifft. Muss bei-spielsweise der Hörer nur wissen, dass der Sprecher überhaupt eine Aussage macht,die seinem eigenen Kenntnisstand entspricht (wie es die Sprecherbedingung verlangt) –oder muss er auch wissen, um welche Aussage es sich handelt? Das obige Beispielschafft hier weitgehend Klarheit. Walters Unsicherheit darüber, ob Fritz überhaupt (45)geäußert hat, sollte belegen, dass er nicht wusste, dass die Sprecherbedingung erfülltwar. Zur Kenntnis der Sprecherbedingung im Sinne von R gehört also insbesondere dieIdentifikation der Aussage. Und das betrifft nicht nur Fälle von schlechter Akustik,sondern vor allem auch Ambiguitäten: der Hörer muss wissen, welchen Satz der Spre-cher geäußert hat; denn nur so kann er überhaupt die Aussage, die ja die Intension desgeäußerten Satzes ist, bestimmen. Im Falle einer Ambiguität heißt das aber gerade,dass der Hörer erkennen muss, welche Lesart der Sprecher gemeint hat; er muss alsodie Äußerung disambiguieren, um die Aussage zu identifizieren. Diese Disambiguie-rung kann man als Teil der Reflexionsbedingung verstehen. In der pragmatischen Lite-ratur wird die Reflexionsbedingung in der Regel wesentlich genauer gefasst. Dazu spal-tet man sie in mehrere Teilbedingungen auf: der Hörer muss wissen, was der Sprechergesagt hat; dass er dies ernsthaft und aufrichtig gesagt hat; der Sprecher muss wissen,dass der Hörer das, was er ihm mitteilt nicht schon weiß; etc. pp. Wir verzichten hierauf eine solche Ausbuchstabierung, weil sie eine eigene Modellierung des kontextuellenWissens – also des Wissens der Gesprächsteilnehmer über die Äußerungssituationselbst – verlangt, auf die wir hier nicht weiter eingehen können.

Überraschend allgemein ist die Reflexionsbedingung insofern, als sie nicht nur vomHörer, sondern auch vom Sprecher etwas verlangt. Denn der Hörer muss nicht nur dieAussage identifizieren und wissen, dass diese dem Kenntnisstand des Sprechers ent-spricht (weil sonst die Sprecherbedingung S nicht erfüllt wäre). Ebenso muss auch derSprecher wissen, dass die in seiner Aussage enthaltene Information dem Hörer wederbekannt ist noch dessen Informationen widerspricht (weil sonst die Hörerbedingung Hnicht erfüllt wäre). Wäre etwa Fritz unsicher gewesen, ob Walter das Spielergebnisnicht schon längst bekannt war, hätte danach kein Fall von idealem Informationsflussvorgelegen. Das mag befremden, aber in der Pragmatik ist es üblich, idealisierte Er-folgsbedingungen in dieser starken Form anzugeben. Dahinter steht – neben einer ge-wissen Symmetrie in der Verteilung von Sprecher- und Hörerrolle – die (hier nicht wei-ter zu kommentierende) Idee, dass die Verbreitung von Informationen zumindest imIdealfall mit dem Ziel geschieht, den Wissensstand der Hörerschaft zu aktualisieren.

Nimmt man R zu den definierenden Bedingungen des idealen Informationsflusseshinzu, stellt sich die Frage, ob damit die anderen Bedingungen nicht schon abgedeckt

sind. Was S und H betrifft, ist diese Frage in gewisser Weise müßig. Das Wissen umdas Zutreffen von Sprecher- und Hörerbedingung setzt ja dieses Zutreffen voraus, undinsofern kann R nicht erfüllt sein, wenn nicht auch S und H zutreffen. Allerdingskommt es hier wieder darauf an, wie man die Reflexionsbedingung verstehen bzw.präzisieren will.

Beim Effekt E liegt der Fall anders. Dieser scheint sich zunächst nicht logisch zwin-gend aus den anderen Bedingungen zu ergeben. Es ist immerhin vorstellbar, dass Spre-cher- und Hörerbedingung erfüllt sind, Sprecher und Hörer sich dessen auch bewusstsind, dass aber der erwartete Effekt nicht eintritt. Allerdings kann man sich keinen gu-ten Grund vorstellen, warum er nicht eintreten sollte. Stellen wir uns zum Beispiel vor– wieder so ein abwegiges Gedankenexperiment – dass Walter das Fußballergebnis imFernsehen zur Kenntnis genommen hätte, ohne es zu glauben, aber auch ohne zu zwei-feln, dass es sich dabei um eine seriöse Berichterstattung handelt. Es scheint, als müsseman in so einem Falle sagen, dass die betreffende Information allen guten Gründenzum Trotz nicht beim Hörer ankommt. Das Verhalten des Hörers ist unter diesen Um-ständen nicht nachvollziehbar; es ist irrational. Setzt man dagegen voraus, dass es sichbei den Kommunikationspartnern um rationale Wesen handelt, sollte sich der Effekt Ebei Vorliegen der Bedingungen S, H und R quasi von selbst einstellen.

Rationalität als Mindestvoraussetzung für erfolgreiche Kommunikation ist uns schoneinmal begegnet, im Zusammenhang mit der Hörerbedingung: widerspricht die Aus-sage des Sprechers dem Informationszustand des Hörers, so wird letzterer sie nichtakzeptieren, weil er sonst sozusagen die Welt nicht mehr verstünde – d. h. es gäbe keineMöglichkeit mehr, wie die Welt seinen Informationen nach beschaffen sein könnte.Sprachliche Kommunikation unterstellt immer ein Minimum an Rationalität seitensdes Sprechers und des Hörers. Denn sprachliche Kommunikation ist kein zufälliges,planloses oder instinktives Verhalten; sie lässt sich im Gegenteil als Ausdruck einerauf Bedürfnisse und Erwartungen der Teilnehmer basierende interaktive Tätigkeit auf-fassen. Diese Auffassung von sprachlicher Kommunikation bildet den Ausgangspunktder Pragmatik – und wir sind schon mitten drin.

7. ImplikaturenWährend es in der Semantik darum geht, die aufgrund grammatischer Konventionengegebenen Verknüpfungen zwischen Ausdruck und Inhalt zu beschreiben, ist der Ge-genstand der Pragmatik die Verwendung sinnvoller Wörter und Sätze im kommunika-tiven Zusammenhang. Und soweit Sprachverwendung vernunftgeleitetes Handeln ist,lässt sie sich systematisch nach allgemeinenVernunftprinzipien beschreiben. DieGrundidee ist dabei, dass alle Bedeutungsphänomene, die über die reinen Sprachkon-ventionen hinausgehen, sich aus den Erfordernissen – oder um ein ungeliebtes Wort zubenutzen: aus den Sachzwängen – einer zielgerichteten Kommunikation ergeben. Mitanderen Worten: Die wörtliche Bedeutung ergibt sich aus der Grammatik, für dienicht-wörtliche Bedeutung sorgt der gesunde Menschenverstand. Das ist, wie gesagt,

die Grundidee der Pragmatik. Wie sie im einzelnen umzusetzen ist, darüber herrschtallerdings weitgehend Unklarheit. Aber immerhin gibt es ein paar Ideen. Um den ein-flussreichsten Ansatz, die auf den britischen Philosophen Paul Grice (1913–1988)44 zu-rückgehende Implikaturtheorie, geht es in diesem Kapitel.

Präsuppositionen45

Implikaturen sind Informationen, die der Sprecher über die wörtliche Bedeutung seinerÄußerung hinaus übermittelt. Das ist zunächst eine grobe Charakterisierung, die imLaufe des Kapitels immer mehr Gestalt annehmen wird. Zunächst müssen wir dafürnoch einmal den Begriff der wörtlichen Bedeutung unter die Lupe nehmen. Im Fall vonSätzen – und nur um die wird es im folgenden gehen – haben wir bisher die ausge-drückte Proposition – die Aussage – als wörtliche Bedeutung angesehen. Hierin lag ei-ne gewisse Vereinfachung, die es nun teilweise46 zu revidieren gilt. Denn nach der Im-plikaturtheorie besteht die wörtliche Bedeutung eines Satzes in der Regel aus mehr alsnur seiner Intension. Sehen wir uns dazu ein klassisches Beispiel des britischen Uni-versalgelehrten Bertrand Russell47 an:(46) Der König von Frankreich hat eine Glatze.Rekapitulieren wir, was wir (in Kapitel 5) zur Semantik von Sätzen wie (46) gesagt ha-ben, an deren Subjektstelle eine Kennzeichnung steht: Die Satzintension ergibt sich, in-dem man für jede Welt nachschaut, ob die Extension des Subjekts in dieser Welt Ele-ment der Extension des Prädikats in derselben Welt ist. Da das Subjekt eine Kennzeich-nung ist, ermittelt sich seine Extension jeweils aus der entsprechenden Intensionstabel-le, in der für jede Welt das Individuum eingetragen wird, das die Kennzeichnung er-füllt:

Welt Individuum

w1

w2

w3

… …

44 –> www.artsci.wustl.edu/~philos/MindDict/grice.html. Grices sprachphilosophische Schriften sind in demBuch Studies in the Way of Words (Cambridge, Mass./London 1989) gesammelt. Eine lesbare Ein-führung ist A. Kemmerlings Aufsatz ‘Implikatur’ in dem von A. von Stechow und D. Wunderlichherausgegebenen Handbuch Semantik (Berlin 1991).

45 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!46 Die Revision ist insofern nicht vollständig, als wir nach wie vor die in Fußnote 33 erwähnte Kontext-

abhängigkeit außer Acht lassen.47 Das Beispiel stammt aus einem epochemachenden Werk der analytischen Philosophie, dem 1905 in

der Zeitschrift Mind erschienen Aufsatz ‘On Denoting’. Russell wendet sich in seinem Aufsatz ge-gen die sogleich einzuführende Unterscheidung von Intension und Präsupposition.

Danach wird also Frankreich in w2 von regiert. Doch wie steht es mit Welten wieder gegenwärtigen Realität w*, in denen Frankreich gar keine Monarchie ist? Was sollhier die Extension der Kennzeichnung sein? Offenbar weist die Intensionstabelle an die-ser (grau markierten) Stelle eine Lücke auf:

Welt Individuum

w1

… …

w* –

… …

Der Strich ‘–’ steht natürlich nicht für die tatsächliche Extension von der König vonFrankreich, sondern deutet an, dass diese Kennzeichnung in der heutigen Realität w*gar keine Extension hat. Intensionen müssen demnach nicht für jeden Punkt im Logi-schen Raum eine Extension bereit stellen; hier und da mag es Extensionslücken geben.Die Lückenhaftigkeit überträgt sich nun vom Subjekt auf den gesamten Satz, dessen In-tension nach der weiter oben zitierten Festlegung eine Tabelle ist, in der bei jeder Weltw der Wahrheitswert WAHR steht, wenn die Person, die in w König von Frankreichist, eine Glatze hat, während Welten, in denen der dortige König von Frankreich keineGlatze hat, werden dagegen mit FALSCH bewertet werden:

Welt Wahrheitswert

w1 W

w2 F

w3 F

… …

w* –

… …

Die (grau markierte) Wahrheitswertlücke bei w* entsteht, weil es weder so ist, dass dieExtension des Subjekts eine Glatze hat, noch so, dass die Extension des Subjekts keineGlatze hat; vielmehr hat das Subjekt gar keine Extension. Die Intension von (46) legt alsonur für solche Welten Wahrheitswerte fest, in denen Frankreich einen König hat. Sienimmt damit keine Zweiteilung, sondern eine Dreiteilung des Logischen Raums vor:

w1

w2

w3

w*

……

W F–

In der rechten Abteilung des Logischen Raums sind die Welten, in denen Frankreichmehr als einen König hat oder gar keinen – sondern z.B. eine Königin oder eben einenPräsidenten. In den anderen beiden Abteilungen hat Frankreich einen König – aberauch nicht mehr als einen, denn sonst könnte man ja nicht von dem König von Frank-reich sprechen. Die linke Abteilung beherbergt dabei die Welten, in denen dieser Königeine Glatze hat; in den Welten der mittleren Abteilung dagegen hat der (dortige) Königkeine Glatze. Zusammengenommen machen die linke und die mittlere Abteilung gera-de diejenigen Welten aus, von denen der folgende (zugegebenermaßen etwas pedantischformulierte) Satz wahr ist:(47) Es gibt genau einen König von Frankreich.Die Intension dieses Satzes wiederum ist eine simple Zweiteilung:

w1

w2

w3

w*

……

W F

(47) drückt damit gerade die Voraussetzung aus, der eine Welt genügen muss, damit(46) überhaupt eine Aussage über sie machen kann. Eine solche Voraussetzung nenntman in der Semantik eine Präsupposition.48 Im allgemeinen ist eine Präsuppositioneines Satzes S eine Proposition, die von allen Welten wahr ist, in denen (die Intensionvon) S überhaupt einen Wahrheitswert hat.Präsuppositionen kommen immer durch die Anwesenheit eines bestimmten Wortesoder einer bestimmten grammatischen Konstruktion zustande. Solche präsuppositions-auslösende Momente bezeichnet man als Trigger (englisch für Auslöser). In unserem48 Die Geschichte dieses Fachbegriffs ist kurios: es handelt sich um eine Rückübersetzung der engli-

schen Übersetzung presupposition des Fregeschen TerminusVoraussetzung.

Fall ist der Trigger der bestimmte Artikel der, der die Kennzeichnung an der Subjekt-stelle von (46) einleitet. Seine Anwesenheit bewirkt, dass der Satz (46) die durch (47) aus-gedrückte Präsupposition mit sich führt. Weitere Trigger sind:• sogenannte faktive Verben wie wissen und bedauern, die die Präsupposition

auslösen, dass der durch sie eingeleitete Nebensatz wahr ist: Fritz bedauert,dass er gelogen hat sagt nur dann etwas aus, wenn Fritz gelogen hat;

• bestimmte Adverbien wie wieder, das eine Präsupposition auslöst, nach derder Inhalt des Satzes ohne wieder zu einem früheren Zeitpunkt wahr war: Mitdem Satz Hans hat wieder seine Hausaufgaben vergessen wird vorausgesetzt,dass Hans mindestens einmal vorher seine Hausaufgaben vergessen hat;

• der Konjunktiv im Konditionalsatz, der die Präsupposition auslöst, dass derKonditionalsatz falsch ist: Wäre ich reich, würde ich mich zur Ruhe setzenpräsupponiert, dass ich nicht reich bin.

Präsuppositionen ergeben sich per Definitionen aus der wörtlichen Bedeutung einesSatzes. Sie fallen damit klar in den Bereich der Semantik. Wir haben sie bisher ignoriert– und werden dies auch im folgenden tun – weil sie das Gesamtbild der kompositionel-len Semantik erheblich komplizieren. Die genannten Beispiele sind in dieser Hinsichtirreführend simpel. Denn nicht immer löst ein Trigger die erwartete Präsuppositionaus:(48) Wenn wir noch immer lauter Monarchien in Europa hätten, wäre der König

von Frankreich der Liebling der Regenbogenpresse.Obwohl dieser Satz dieselbe Kennzeichnung enthält wie (46), präsupponiert er keines-wegs, dass es einen König von Frankreich gibt – sondern allenfalls, dass es einen sol-chen gäbe, wenn die europäischen Staaten allesamt Monarchien wären. Die Präsuppo-sition wird in diesem Falle also modifiziert. In manchen Fällen kann sie sogar ganzverschwinden oder, wie man sagt, gelöscht werden:(49) Der König von Frankreich hat keine Glatze.Dieser Satz scheint zwar zunächst dieselbe Präsupposition zu haben wie (46), und damitnur auf die Welten zuzutreffen, in denen Frankreich einen König hat, der Haare aufdem Kopf hat. Andererseits kann man aber (48) fortführen mit …denn Frankreich istkeine Monarchie, wäre der Satz durchaus wahr wäre – ja, wahr ist – obwohl es keinenKönig von Frankreich gibt.49 Und schließlich ist nicht immer klar, worin die Präsup-position eines Satzes, der einen Trigger enthält, genau besteht:(50) Kaum ein Student weiß, dass er vom Verfassungsschutz abgehört wird.Wird hier unterstellt, dass alle Studenten abgehört werden, oder wenigstens eine ganzeReihe von ihnen? Die Frage, wie man systematisch erklärt, welche Sätze unter welchenUmständen welche Präsuppositionen haben, läuft in der Semantik unter dem NamenProjektionsproblem und gilt als äußerst trickreich. Wir werden ihr im Rahmen dieserEinführung nicht weiter nachgehen.Fassen wir zusammen. Entgegen der vereinfachten Darstellung der vorangehendenKapitel kann die wörtliche Bedeutung eines Satzes statt einer Zwei- eine Dreiteilung desLogischen Raums vornehmen. Neben den Welten, die nach WAHR und FALSCH klas-sifiziert werden, gibt es dann auch solche, die gar keinen Wahrheitswert erhalten, weilsie eine für das Vorhandensein einer Extension wesentliche Voraussetzung, eine Prä-supposition, nicht erfüllen. Präsuppositionen ergeben sich aus der wörtlichen Bedeu-tung und lassen sich selbst wieder als Zweiteilungen des Logischen Raums auffassen.Sie werden durch spezielle Wörter oder Konstruktionen, die Trigger, hervorgerufen. 49 Diese Überlegung war einer der Gründe für Russells Skepsis gegenüber dem Präsuppositionsbegriff.

Im Gegensatz zu Implikaturen sind also Präsuppositionen Bestandteile der wörtlichenBedeutung50: während erstere das Sprachsystem, die Grammatik, festlegt, ergebensich letztere aus der Sprachverwendung und dem Umstand, dass diese nicht im luftlee-ren Raum stattfindet, sondern menschlichen Bedürfnissen und Interessen dient. Denn– so die obigen Devise zur Trennung von Semantik und Pragmatik – die wörtliche Be-deutung ergibt sich aus der Grammatik, die nicht-wörtliche Bedeutung aus dem gesun-den Menschenverstand. In der Theorie klafft damit ein himmelweiter Unterschied zwi-schen den beiden. Denn eine wird Präsupposition im Rahmen einer grammatischenAnalyse beschrieben – wobei vor allem ihre genaue Gestalt spezifiziert und ihr Triggergenannt wird. Eine Implikatur lässt sich dagegen als kommunikativer Nebeneffekt er-klären – aus dem Zusammenspiel von wörtlicher Bedeutung und den Motiven, Zielenund Absichten der Gesprächsteilnehmer. Dieser theoretische Unterschied ist in derPraxis allerdings oft gar nicht so leicht zu erkennen. Das liegt daran, dass die Erklä-rung für das Zustandekommen einer Implikatur nicht immer auf der Hand liegt. Ofthat es den Anschein, als sei die Quelle für eine bestimmte Voraussetzung oder Unter-stellung, die ein Sprecher mit seiner Aussage macht, im Bereich der Grammatik anzu-siedeln; und erst die detaillierte pragmatisch-semantische Analyse zeigt, dass es sichbei der vermeintlichen Präsupposition um einen kommunikativen Nebeneffekt handelt,der zustande kommt, weil der Sprecher eine bestimmte Aussage macht, die sich ausSicht des Hörers nur erklären lässt, wenn die genannte Voraussetzung erfüllt ist.51

Ein einschlägiges Beispiel werden wir noch kennen lernen.

Kommunikation als KooperationUm zu erklären, wie ein Sprecher über die wörtliche Bedeutung seiner Äußerunghinaus etwas zu verstehen geben kann, bezieht sich die Implikaturtheorie auf allgemei-ne Prinzipien sprachlichen Handelns. Eine wichtige Voraussetzung für diese Prinzi-pien ist die Annahme, dass Kommunikation – zumindest in der Regel – Kooperationist, dass Sprecher und Hörer ein gemeinsames Ziel verfolgen. Das soll nicht heißen,dass die Interessen der beiden in allen Belangen konvergieren, sondern lediglich, dassdie Kommunikation selbst einem gemeinsamen Interesse dient. Bei dem im letzten Ka-pitel betrachteten Informationsfluss bestand zum Beispiel dieses Interesse darin, dieInformationen, über die Sprecher und Hörer verfügen, auf einen gemeinsamen Standzu bringen. Um dieses Ziel gemeinsam zu erreichen, ist es unter anderem wichtig, dassder Sprecher sicher stellt, dass die von ihm gegebenen Informationen auch beim Hörerankommen; hier spielt, wie wir noch sehen werden, die Ausdrucksweise eine großeRolle. Ebenso wichtig ist, dass auch wirklich die dem Hörer fehlenden (und ihninteressierenden) Informationen übertragen werden – und nicht irgendwelcheHirngespinste oder Fehlinformationen.

Kooperativität wird in der Implikaturtheorie als ein wesentliches, nicht nur zufälligesMerkmal von Kommunikation angesehen. Ohne ein Mindestmaß an Kooperativitätwäre demnach im allgemeinen eine funktionierende Kommunikation nicht vorstellbar.Die Idee dahinter kann man sich am Fall des Lügens klar machen: der Sprecher hat

50 Der Terminus Implikatur wird in diesem Skript (und nicht nur da) enger verwendet als bei Grice,der ihn auch auf (zumindest einige) Präsuppositionen angewandt hat. Unsere Implikaturen entspre-chen den conversational implicatures bei Grice, die er von den conventional implicatures abgrenzt.

51 Es hat sogar – wenn auch fragwürdige – Versuche gegeben, die Präsuppositionen von Sätzen wie (46)auf rein pragmatischer Basis zu erklären.

nur deshalb eine Chance, den Hörer in Irre zu führen, weil letzterer normalerweisedavon ausgeht, dass er nicht belogen wird; die Lüge ist also die Ausnahme, dieVerletzung der Regel. Eine wirkliche Begründung dafür, dass erfolgreiche Kommuni-kation im allgemeinen Kooperation voraussetzt, steht allerdings noch aus.52

Will der Sprecher kooperativ sein, heißt das insbesondere, dass er sich so ausdrückensollte, dass er verstanden wird, dass der Hörer das, was er mit seiner Äußerung beab-sichtigt, erkennt. In Grice’scher Manier lässt sich diese simple Erkenntnis als allge-meine Verhaltensmaßregel formulieren:

Sei kooperativ: Wähle deine Worte so, dass deine Äußerung möglichst gut dem gemein-samen Ziel der Kommunikation dient.

Dieser Imperativ ist eine Version des so genannten Kooperationsprinzips. Dieses Prin-zip ist keine grammatische Regel, Sitte oder Konvention, sondern dient lediglich der nä-heren Bestimmung dessen, was es heißt, sich als Sprecher kooperativ zu verhalten: ko-operative Sprecher sind solche, die sich in der Kommunikation so verhalten, als folgtensie dabei dem Kooperationsprinzip. Das heißt natürlich nicht, dass sich ein kooperativerGesprächspartner dieses Prinzip stets bewusst vor Augen hält, nicht einmal, dass soein Prinzip in seinem Unbewussten herumgeistert – wohl aber, dass alle Beteiligten da-von ausgehen und sich darauf verlassen, dass sich der Sprecher tatsächlich so verhält,als hielte er sich an die Kooperationsprinzip. Das dies normalerweise der Fall ist, zeigtdie folgende Geschichte, an der wir auch demonstrieren lässt, wie Kooperativität zurÜbertragung von Informationen beiträgt, die über den reinen Wortsinn hinaus gehen:

Engel contra TeufelPetra Engel, Studentin der Philosophie im 6. Semester, ist krank. Sie hat dasHauptseminar zur Modallogik53 verpasst und ruft am nächsten Tag beiProfessor Teufel an, um zu fragen, was sie versäumt hat:

[Engel:]Tut mir leid, dass ich störe, aber ich wollte mich für mein Fernbleiben vomSeminar entschuldigen.[Teufel:]Ist mir nicht entgangen, dass Sie gefehlt haben. Na ja:

(51) Gestern sind mehrere Studenten nicht erschienen.Ach so. Ich wäre eigentlich gerne gekommen. Ich interessiere mich näm-lich besonders für die Semantik der Modalität in der natürlichen Sprache.Oha. Da muss ich Sie wohl enttäuschen:

52 Interessante Bemühungen, Kooperativität aus Effizienz herzuleiten gibt es beispielsweise seitens derSpieltheorie, einer mathematischen Modellierung sozialen Verhaltens – z.B. in Robert AxelrodsThe Evolution of Cooperation (New York 1984; dt.: Die Evolution der Kooperation, München 1987). –Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die zentrale Stellung der Kooperativität in der Pragmatik nichtunumstritten ist. Nach dem deutschen Sprachphilosophen Arthur Merin zum Beispiel spielen Interes-senskonflikte zwischen Sprecher und Hörer für die sprachliche Verständigung eine mindestensebenso große Rolle.

53 Die Modallogik widmet sich den Begriffen der Möglichkeit und der Notwendigkeit sowie der Logikder Bedingungen (oder Konditionalsätze). Ihr entstammt ein Großteil des im fünften Kapitel darge-stellten Instrumentariums zur Analyse von Intensionen.

(52) Zu den linguistischen Anwendungen der Modallogik werden wir in diesemSemester wohl nicht mehr kommen.Das fände ich sehr schade, aber können Sie mir stattdessen einen einschlä-gigen Text empfehlen?

(53) Die Lektüre von Löfflers Notwendigkeit, S5 und Gott kann nichts schaden.Danke für den Tip. Kann ich darüber vielleicht eine Hausarbeit schreiben?

(54) Für den Schein sollten Sie eine Arbeit über Lewis’ Theorie der Konditionaleabgeben.Das ist mir sogar noch lieber, weil ich davon schon im Semantikkurs gehörthabe.

Die Studentin verabschiedet sich und bestellt sogleich Löfflers Werk undDavid Lewis' Counterfactuals übers Internet54. In der nächsten Woche er-scheint sie wieder im Seminar, wo zu ihrem Erstaunen erfährt, dass in derVorwoche im Rahmen der Protestaktionen gegen das neue Hochschulgesetzdas Seminar bestreikt wurde; die Studierenden sind allesamt dem Unter-richt ferngeblieben. Doch damit nicht genug: das Thema des Referats in derlaufenden Woche ist die semantische Analyse der deutschen Modalverbenmit modallogischen Mitteln! Leider verschwindet Herr Teufel nach demSeminar, bevor Petra ihn zur Rede stellen kann. Stattdessen geht sie nachHause, wo sie ein Päckchen vorfindet, in dem sich die von ihr bestellten Bü-cher befinden. Sie macht sich sofort an die Lektüre von Löfflers Buch, stelltaber enttäuscht fest, dass es für die Semantik der natürlichen Sprachenichts bringt. Jetzt reicht’s ihr, und sie ruft wieder ihren Professor an:

[…] Ich habe erfahren, dass das Seminar letzte Woche gar nicht stattgefun-den hat. Wieso haben Sie mir davon bei meinem letzten Anruf nichts ge-sagt?Sie haben mich nicht danach gefragt.Na ja, aber Sie haben gesagt, dass es stattgefunden hat.Nein, ich habe lediglich gesagt, dass einige Studenten nicht erschienen sind.Genau, aber in Wirklichkeit ist gar keiner erschienen. Sie haben mir alsonicht die Wahrheit gesagt.Wie bitte? Selbstverständlich habe ich die Wahrheit gesagt: einige StudentenTat nicht erschienen. Es waren sogar alle![…] Sie haben gesagt, dass wir gar nicht mehr zur Semantik kommen,dabei ging es diese Woche schon um das Thema.Na ja, so genau habe ich mir das eben nicht überlegt.[…] Außerdem ist das Buch, das Sie mir empfohlen haben, überhaupt nichteinschlägig für die semantische Analyse.Natürlich nicht, ich kenne das Werk.Aber Sie haben es mir doch empfohlen, als ich Sie nach einem Buch überdie Semantik der Modalität in der natürlichen Sprache gefragt habe.Ja genau, und ich lege es ihnen immer noch ans Herz.Aber es hat doch nichts mit dem Thema zu tun, das mich interessiert.Aber deswegen kann ich es Ihnen doch trotzdem empfehlen.

54 http://www.lit-verlag.de/cgi-local/suchbuch?isbn=3-8258-4817-5 bzw.http://www.blackwellpublishers.co.uk/asp/book.asp?ref=0631224254.

[…] Ich habe inzwischen angefangen, Lewis’ ‘Counterfactuals’ zu lesen.Ich glaube schon, dass ich da innerhalb von 3 Wochen eine Hausarbeitdrüber schreiben könnte.Das Buch halte ich aber für sehr ungeeignet; es ist viel zu esoterisch undaußerdem überholt.Aber Sie hatten doch gesagt, dass ich mich mit Lewis’ Konditionaltheoriebeschäftigen soll.Ja schon, aber doch nicht David Lewis, sondern C. I. Lewis, der mit denstrikten Konditionalen55 – die sind wieder hochaktuell. […]

In dem Telefongespräch mit der Studentin hat sich der Professor, gelinde gesagt, unko-operativ verhalten, und zwar mindestens auf vier Weisen. Denn zum einen hat er in sei-ner Äußerung (51) etwas für die Studentin Wichtiges verschwiegen, nämlich dass dieSitzung, nach der sie ihn gefragt hat, gar nicht stattfand. Zweitens hat er ihr mit (52)etwas gesagt, wovon er selbst nicht überzeugt sein konnte, nämlich dass sie zu demStoff, der in Wirklichkeit als nächstes an der Reihe war, nicht mehr kämen. Drittenshat er ihr, als nach bestimmten Büchern gefragt war, in (53) einen vollkommen irrele-vanten Lektüretip gegeben. Und schließlich hat er sich bei der Stellung (54) des Haus-arbeitsthemas missverständlich ausgedrückt.

Die Studentin war dagegen von der Kooperativität des Professors ausgegangen. So hatsie aufgrund der Äußerung von (51) angenommen, dass das Seminar stattgefunden hat;denn sonst hätte Professor Teufel ja eigentlich erwähnen müssen, dass niemand er-schienen ist. Dadurch, dass er aber nur von einigen Studenten sprach, die nicht ge-kommen sind, konnte sie also davon ausgehen, dass nicht gleich alle gefehlt haben.Auch im Falle von (52) hat sich die Studentin auf die Kooperativität des Professorsverlassen: wenn sich dieser über den weiteren Seminarverlauf äußert, dann kann maneigentlich annehmen, dass seine Bedenken auf seinem Kenntnisstand basieren, der jazumindest das Thema der kommenden Woche umfassen sollte. Frau Engel war weiterdavon ausgegangen, dass Herr Teufel mit (53) ihrer unmittelbar zuvor geäußerten Bittenach einem Lektüretip nachkommt und hat daher das Buch für einschlägig gehalten.Und auch mit ihrer Auffassung von (54) ist die Studentin dem Professor insofern aufden Leim gegangen, als sie ihn auf eine besonders naheliegende Weise verstand: DavidLewis gilt (mit Robert Stalnaker) in Fachkreisen als Klassiker der Konditionaltheorie.Hätte der Professor den anderen Lewis gemeint, hätte er dies ja eigentlich signalisierenmüssen.

Die Geschichte illustriert zweierlei. Zum einen sieht man an ihr, wie selbstverständlichdie Annahme ist, dass sich der Sprecher ein Mindestmaß an Kooperativität an den Taglegt; zum anderen zeigt sie, wie diese Annahme für zusätzliche komunikative Effekte –die Implikaturen – sorgt. Sie kommen dadurch zustande, dass die Gesprächspartnerauf die Kooperativität des Sprechers bauen und davon ausgehen, dass dieser mehrgemeint haben muss, mehr mitteilen wollte, als er wörtlich gesagt hat, weil er sichsonst – als kooperativer Sprecher – anders ausgedrückt hätte. So bestand die Impli-

55 Herr Teufel bezieht sich offenbar auf den 1912 in der Zeitschrift Mind erschienenen Aufsatz ‘Impli-cation and the algebra of logic’, der manchmal als der Beginn der Modallogik bezeichnet wird.

katur der Äußerung von (51) darin, dass nicht alle Seminarteilnehmer nicht erschienensind. Das folgt nicht aus der wörtlichen Bedeutung des geäußerten Satzes; man mussdem Professor wohl zugestehen, dass er mit dem, was er wörtlich gesagt hat, nichtausgeschlossen hat, dass das Seminar mangels Teilnehmern ausgefallen ist. Aberunter den gegebenen Umständen hätte er sich informativer ausdrücken können, wenner wörtlich gesagt hätte, dass kein Student erschienen ist, wenn er sich also zum Bei-spiel der Ausdrucksalternative (51a) bedient hätte:

(51a) Gestern ist überhaupt kein Student erschienen.

Die Tatsache, dass er sich nicht so geäußert hat, gab so der Hörerin Anlass zu derAnnahme, dass der Sprecher ihr die in (51a) enthaltene Information nicht gebenkonnte. Setzt man wie sie voraus, dass er sich kooperativ verhält, kann die Weigerung,(51a) zu sagen, wohl nur darauf basieren, dass er über die in diesem Satz ausgedrückteInformation nicht verfügt; denn interessant genug, um erwähnt zu werden, ist sie jaohne Zweifel. Da die Hörerin außerdem davon ausgeht, dass der Professor wüsste, wenn(51a) wahr wäre, kann sie aus der Annahme, er habe die Alternative nicht geäußert,weil er sie nicht für richtig hielt, schließen, dass er sie für falsch hielt. Die Annahme,dass sich der Sprecher kooperativ verhält, hätte also in diesem Falle die folgendeImplikatur hervor gebracht:

(51i) Der Sprecher gibt zu verstehen, dass (51a) falsch ist.

(51i) soll nicht nur heißen, dass die Hörerin unter den gegebenen Umständen und aufdie Kooperativität des Sprechers vertrauend darauf schließen konnte, dass dieser dieAusdrucksalternative (51a) für falsch hielt. (51i) besagt darüber hinaus, dass der –kooperative – Sprecher seine Äußerung auch genau so verstanden haben wollte, geradeweil er davon ausgeht, dass die Hörerin seine Kooperativität unterstellt und so auf dieFalschheit von (51a) schließt. In dem obigen Szenario ist die Implikatur an derUnkooperativität des Sprechers gescheitert. Die Hörerin hat zwar auf die genannteWeise auf die Falschheit von (51i) geschlossen, aber offenbar zu Unrecht; denn der –unkooperative – Sprecher hat dies nicht beabsichtigt.

In ähnlicher Weise basieren auch die mit (52) – (54) einhergehenden Implikaturen (52i)– (54i) auf Ausdrucksalternativen (52a) – (54a), die dem Sprecher prinzipiell zur Ver-fügung standen (weil er ja des Deutschen mächtig ist), die er aber vermieden hat:

(52a) Ich habe keine Ahnung, ob wir noch zu den linguistischen Anwendungender Modallogik kommen werden.

(52i) Der Sprecher gibt zu verstehen, dass (52a) falsch ist.

(53a) Eine guten Überblick gibt Angelika Kratzers Handbuchartikel.56

(53i) Der Sprecher gibt zu verstehen, dass er mit (53) der Bitte des Hörers nach-kommt, einen Text über linguistische Anwendungen der Modallogik zunennen.

56 Herr Teufel hätte mit dieser Ausdrucksalternative den Aufsatz ‘Modality’ (S. 639 – 650) in dem von A.v. Stechow und D. Wunderlich herausgegebenen Handbuch Semantik (Berlin 1991) empfohlen.

(54a) Für den Schein sollten Sie eine Arbeit über C. I. Lewis’ Theorie der striktenKonditionale abgeben.

(54i) Der Sprecher gibt zu verstehen, dass (54a) falsch ist.

Man sieht an diesen Beispielen, dass das Verhältnis zwischen Ausdrucksalternative(n)und Implikatur ist nicht immer dasselbe ist. In vielen Fällen kann man aus der Tat-sache, dass der Sprecher etwas nicht gesagt hat, schließen, dass er es nicht für richtighielt. Manchmal kann man daraus weiter schließen, dass er es dann für falsch haltenmuss. So ein Fall lag mit Professor Teufels Äußerung von (51) vor. Das lag nicht an demgeäußerten Satz, sondern an den Umständen der Äußerung. Zum Beispiel hätte jemandden selben Satz (51) äußern können, weil er mehrere Seminarteilnehmer zum fragli-chen Zeitpunkt auf einer studentischen Versammlung getroffen hat. In diesem Fallewäre der Schluss auf die Falschheit von (51a) vermessen, stattdessen hätte man nur diefolgende Implikatur bekommen:

(51i–) Der Sprecher gibt zu verstehen, dass er (51a) nicht für richtig hält.

Welche Implikatur eine Äußerung mit sich bringt, hängt also im allgemeinen von denUmständen der Äußerung ab.

Das Verhältnis zwischen (53) und der Implikatur (53i) ist komplizierter. Das liegt da-ran, dass der Sprecher nur gebeten wurde, irgendeinen geeigneten Text zu empfehlen.Aus der Tatsache, dass er einen bestimmten Text – also zum Beispiel Kratzers Hand-buchartikel – nicht empfohlen hat, lässt sich natürlich nicht schließen, dass er diesenText nicht für empfehlenswert und damit die Ausdrucksalternative (53a) nicht fürrichtig hielt. Aber er hatte eine Ausdrucksalternative (die freilich der Hörerin unbe-kannt war) und hat mit seiner tatsächlichen Äußerung (53) zu verstehen gegeben, dassletztere genauso geeignet war wie die Alternative (53a).

Im allgemeinen kommen Implikaturen – also über das Wortwörtliche hinausgehendekommunikative Effekte – zustande, weil Sprecher und Hörer zum einen (a) in einer ge-eigneten Kommunikationssituation sind, zum anderen (b) sich dessen bewusst sind,weiterhin (c) wissen, was wörtlich ausgesagt wird und schließlich (d) vernünftig ge-nug sind, dass (e) – für beide erkennbar – der genannte Implikatur-Effekt eintritt.

Die Bedingung (a) verallgemeinert die Sprecher- und Hörerbedingung aus dem voran-gehenden Kapitel, und soll darüber hinaus die Kooperativität der Situation garantieren.Geeignet im Sinne von (a) sind nur solche Situationen, in denen der Sprecher verstan-den werden will, der Hörer den Sprecher verstehen will, und beide den mit der Äuße-rung einhergehenden Effekt wünschen oder zumindest in Kauf nehmen. Ungeeignetwäre demnach eine Situation, in der der Sprecher den Hörer hinters Licht führt, d.h.belügt oder in irgendeiner Weise – z.B. über seine eigene Identität – irreleitet. Ungeeig-net wäre aber auch eine Situation, in der der Hörer dem Sprecher Gutgläubigkeit vor-gaukelt, in Wahrheit aber seinen Worten mit großem Misstrauen begegnet. Natürlichist nicht jede Kommunikationssituation im Sinne der Bedingung (a) geeignet; das teuf-lische Telefongespräch war ein drastisches Gegenbeispiel. Aber im Regelfall gehen die

Gesprächsteilnehmer von einem Minimum an Kooperativität aus. Und die Implikatur-theorie betrifft zumindest in erster Linie den Regelfall, also die kooperative Kommuni-kation.

(b) ist wieder eine Reflexionsbedingung. Für den Informationsfluss wurde sie unteranderem benötigt, um "Zufallseffekte" auszuschließen: Information kann nur fließen,wenn Sprecher und Hörer wissen, dass sie fließt. Dieses Wissen über die Kommunika-tionssituation ist für das Zustandekommen von Implikaturen ebenfalls zentral. Impli-katuren werden nämlich im allgemeinen dadurch erzeugt, dass der Hörer davonausgeht, dass sich der Sprecher kooperativ verhält, und dass der Sprecher weiß, dassder Hörer davon ausgeht; beide sind sich, mit anderen Worten, bewusst, sich in einerim Sinne von (a) geeigneten Situation zu befinden. Die Studentin ging zum Beispiel da-von aus, dass ihr der Professor durch die Vermeidung bestimmter Ausdrucksalternati-ven einiges zu verstehen geben wollte, was wiederum voraussetzt, dass er davon aus-geht, dass sie ihn für einen kooperativen Sprecher hält.

Bedingung (c) ist die Identifikation der Aussage. Wir haben bereits gesehen, dass mansie als Teil der Reflexionsbedingung verstehen kann. Wir haben die Bedingung (c) hieraber deshalb eigens aufgeführt, weil sie für das Zustandekommen von Implikaturenunerlässlich ist. Denn wie schon im ersten Kapitel gesagt wurde, entsteht nicht-wört-liche Bedeutung überhaupt erst auf dem Hintergrund von wörtlicher Bedeutung. Nurwenn der Hörer den wörtlichen Sinn der Äußerung erfasst und der Sprecher dies weiß,kann ein zusätzlicher kommunikativer Effekt zustandekommen.

Dass diese Implikatureffekte überhaupt erst eintreten, soll nun Bedingung (d) garan-tieren. Die Implikaturtheorie ist zum Großteil eine Ausbuchstabierung dieser Bedin-gung.

Die über die wörtliche Bedeutung hinausgehenden kommunikativen Effekte (e) – dieImplikaturen – sind sehr vielfältig. Einige von ihnen haben wir schon kennengelernt.Im folgenden werden noch ein paar andere dazu kommen.

MaximenIn der obigen Form ist das Kooperationsprinzip zu schwammig, um auf konkrete Bei-spiele anwendbar zu sein. Die Konsequenzen, die sich aus ihm für die nicht-wörtlicheBedeutung von Äußerungen ergeben, werden leichter fassbar, wenn man es in spezifi-schere Anweisungen zerlegt, die zusammen genommen auf ein Gebot zur Kooperativi-tät hinauslaufen. Eine solche Aufteilung des Kooperationsprinzips sind die so genann-ten Grice’schen Maximen. Jede dieser Maximen ist eine Verhaltensregel, die sich ausdem Kooperationsprinzip ergibt; und jede betrifft einen anderen Aspekt der Äußerung,eine Eigenschaft, die sie haben muss, damit sich der Sprecher mit ihr unmissverständ-lich und zweckmäßig ausdrückt. Diese Maximen lassen sich nach Grice in vier Haupt-gruppen anordnen57:

57 In seiner Kategorisierung der Maximen folgt Grice der Einteilung der Urteile in I. Kants Kritik derreinen Vernunft (Riga 1781) – augenzwinkernd, denn Kants Urteilslehre gilt aus Sicht der moder-nen Logik als finster, wie man z.B. auf den Seiten 354–358 des Standardwerks The Development of

Maximen der Quantität• Gebe so viel Informationen wie nötig.• Gebe nicht mehr Informationen als nötig. Maximen der Qualität• Sage nichts, was du für falsch hälst.• Sage nichts, wofür dir die Gründe fehlen.Maxime der Relation• Sprich zum Thema.Maximen der Modalität• Sei klar im Ausdruck.• Vermeide Ambiguitäten.• Fasse dich kurz.• Drücke dich geordnet aus.

Die Maximen der Qualität haben wir bereits im Zusammenhang mit dem Informa-tionsaustausch kennengelernt – als Sprecherbedingung. Hält sich der Sprecher nichtan die erste Maxime, kann man ihn der Lüge bezichtigen; ein Verstoß gegen die zweiteMaxime hatten wir als Anmaßung bezeichnet. Die Maximen ergeben sich aus dem Ko-operationsprinzip, weil es dem gemeinsamen Ziel nicht dienlich sein kann, wenn derHörer unzuverlässige oder gar falsche Informationen aufgetischt bekommt.

Die Maximen der Quantität und der Relation betreffen den Zweck der Kommunika-tion, den wir bisher weitgehend vernachlässigt gelassen hatten. Worum es dabei geht,kann man sich wieder am Pizza-Szenario klar machen. Walter gab seinem Sohn Paulüber das Abendessen Auskunft, weil letzterer ihn darum gebeten hatte. Damit hat Paulerstens zu erkennen gegeben, dass sein Informationsstand bezüglich des Abendessenslückenhaft ist (sonst müsste er nicht fragen); zweitens, dass er diese Lücke gerne gefülltsähe (sonst würde er sich nicht die Mühe geben zu fragen); und drittens, dass er davonausgeht, dass sein Vater ihm dabei behilflich sein kann (sonst würde er nicht Walterfragen). Walter ist mit seiner Antwort Pauls Bitte um Aufklärung nachgekommen, in-dem er gerade die von Paul verlangte Information geliefert hat. Insofern hat sich Walteran die Maxime der Relevanz gehalten; denn er hat über das Abendessen (und nichtzum Beispiel über das Fernsehprogramm gesprochen). Und er hat sich auch den Quan-titätsmaximen gemäß verhalten; denn er hat genügend Informationen geliefert, umPauls Wissenslücke zu schließen (anstatt etwa nur zu sagen, dass es etwas Warmesgibt), aber auch nichts Überflüssiges gesagt (wie zum Beispiel, dass der Teig für die Piz-za noch gehen muss).

Die Maximen der Modalität grenzen die Wortwahl ein. Wer sich im Sinne des Koopera-tionsprinzips verhalten will, muss sicherstellen, dass er richtig verstanden wird. Un-klare Ausdrücke, Mehrdeutigkeiten, Weitschweifigkeit und konfuse Darstellung sinddiesem Ziel nicht dienlich und sollten deshalb vermieden werden.

Auch wenn sich die Maximen aus dem Kooperationsprinzip ergeben, kann man seineZweifel anmelden, dass sich der Sprecher – selbst wenn er die besten kooperativen Ab-

Logic (Oxford 1962) von William und Martha Kneale nachlesen kann. – Wer die Grice’schenMaximen im englischen Original nachlesen will, findet sie in dem in Fußnote 44 genannten Band(Studies …) oder als Slide 18 unter den Kursmaterialien von Prof. Gybbon (Bielefeld):http://coral.lili.uni-bielefeld.de/Classes/Summer96/Textdesc/funslides/funslides.html.

sichten hegt – auch wirklich immer an sie hält. Vielleicht ist er gerade abgelenkt, viel-leicht fällt ihm das passende Wort nicht ein. Doch für die Erklärung der meisten Impli-katur-Effekte genügt die Annahme, dass sich der Sprecher weitgehend an die Ma-ximen hält und nicht in offensichtlicher Weise oder gar absichtlich gegen sie verstößt.

Um auf Grundlage des Kooperationsprinzips nicht-wörtliche Bedeutungen herzuleiten,genügt nicht allein die Annahme, dass sich der Sprecher an dieses Prinzip hält. Viel-mehr muss man auch davon ausgehen, dass der Hörer dies weiß, was wiederum derSprecher weiß, was der Hörer weiß – usw. bis in alle Ewigkeit. Man spricht hier vomgegenseitigen gemeinsamen Wissen von Sprecher und Hörer. Wir werden es im fol-genden stillschweigend voraussetzen.

Professor Teufel hat im Telefongespräch mit Frau Engel massiv gegen die Grice’schenMaximen verstoßen. Zur Erinnerung listen wir noch einmal die entscheidenden Äuße-rungen auf:

(51) Gestern sind mehrere Studenten nicht erschienen.(52) Zu den linguistischen Anwendungen der Modallogik werden wir in diesem

Semester wohl nicht mehr kommen.(53) Die Lektüre von Löfflers Notwendigkeit, S5 und Gott kann nichts schaden.(54) Für den Schein sollten Sie eine Arbeit über Lewis’ Theorie der Konditionale

abgeben.

Mit (51) hat Teufel weniger Informationen geliefert als nötig – und sich insofern nichtan die erste Maxime der Quantität gehalten. Frau Engel ging dagegen davon aus, dassder Professor kooperativ ist, sich also insbesondere an diese Maxime hält und daher diein (51) enthaltene Information alles ist, was er über die Teilnehmerzahl in der Seminar-sitzung wusste – woraus sie geschlossen hat, dass wenigstens einige ihrer Kommili-ton(inn)en zum Seminar erschienen waren. Mit (52) hat der Professor eine aus seinerSicht unsichere Information verbreitet – womit er gegen die zweite Maxime der Quali-tät verstoßen hat. Die Studentin unterstellte wieder Kooperativität, ging also davon aus,dass Teufel sich an diese Maxime hielt und dass das, was er in (51) sagt, seinen Kennt-nisstand des Seminarverlaufs widerspiegelt – und hat daher angenommen, dass ihrLieblingsthema nicht gerade beim nächsten Mal an die Reihe käme. Teufels Äußerungvon (53) war im Zusammenhang mit Frau Engels Bitte um einen einschlägigen Lektü-retip vollkommen irrelevant – und damit ein klarer Verstoß gegen die Maxime der Re-lation. Immer noch auf des Professors Kooperativität bauend, konnte Frau Engel dasbeim besten Willen nicht wissen – und fasste (53) als den erwünschten Tip auf. (54)schließlich enthielt einen in diesem Zusammenhang irreführend mehrdeutigen Namen– und zeigt, dass sich Teufel nicht an die zweite Maxime der Modalität gehalten hat.Frau Engel wiederum ging davon aus, dass sich Herr Teufel auf den in diesem Zusam-menhang prominentesten Namensträger bezog – und interpretierte (54) als Aufforde-rung das Buch Counterfactuals zu bearbeiten.

In der geschilderten Situation sind die Schlussfolgerungen, die Frau Engel aufgrundder Kooperativitäts-Unterstellung zieht, allesamt falsch. Es handelt sich um – mögli-

cherweise vom unkooperativen Sprecher in Kauf genommene oder sogar intendierte –Missverständnisse. Dass diese Missverständnisse möglich waren, ist nun offenkundignicht Frau Engels Schuld. Im Gegenteil: sie war davon ausgegangen, dass sich HerrTeufel wie ein normaler kooperativer Sprecher benimmt, der davon ausgehen muss undwill, dass ein ebenso kooperationsbereiter Hörer ihn genau so versteht, wie ihn Frau En-gel verstanden hat. In einer geeigneten Situation wären also statt der Missverständnis-se entsprechende Implikaturen zustande gekommen, also Informationen, die der Spre-cher dem Hörer über die jeweilige Aussage hinaus gewollt übermittelt. Und die Art undWeise, wie Frau Engel ihren Professor missversteht, zeigt zugleich, wie in so einer Si-tuation diese Implikaturen aus der – dort korrekten – Unterstellung von Kooperativitätentstehen. Wir haben damit am Beispiel die Herleitung nicht-wörtlicher Bedeutung imRahmen der Implikaturtheorie kennengelernt.

Ähnlich wie die vier in Teufels Telefonat verletzten Maximen können auch die verblei-benden fünf Maximen zur Entstehung von Implikaturen beitragen. Das Muster ist dabeiimmer dasselbe. Eine bestimmte Information wird zu Recht mitverstanden, weil ohnedie Annahme, dass der Sprecher über diese Information verfügt und sie mitteilenmöchte, sich dieser unkooperativ verhalten hätte. Wir gelangen damit zu der folgendenallgemeinen Begriffsbestimmung58:

Eine (konversationelle) Implikatur aus einer Äußerung ist eine Proposition p, für diegilt:• p folgt nicht aus der wörtlichen Bedeutung.• Die Äußerung verstieße gegen das Kooperationsprinzip, wenn der Sprecher

mit ihr nicht auch p gemeint hätte.• Der Sprecher meint tatsächlich p, geht davon aus, dass der Hörer ihn so

versteht, der wiederum weiß, dass der Sprecher dies erwartet und ihn auch indiesem Sinne versteht.

Der erste Punkt dient nur der Abgrenzung: eine Implikatur ist etwas, das über denwörtlichen Gehalt hinaus geht und also nicht aus diesem gefolgert werden kann. DieFolgerungsbeziehung entspricht dabei der im fünften Kapitel erwähnten Teilmengen-Beziehung zwischen Mengen von möglichen Welten.59 Das ist selbst dann so, wenn dergeäußerte Satz eine Präsupposition einführt, seine Intension also eine Dreiteilung desLogischen Raums vornimmt. In diesem Fall folgt eine Proposition dann, wenn sie alleWelten enthält, von denen der Satz wahr ist; insbesondere folgt in diesem Sinne die Prä-supposition selbst.

Für die Herleitung der Implikaturen ist vor allem der zweite Punkt wichtig; denn ernimmt Bezug auf das Kooperationsprinzip und damit implizit auf die Grice’schen Ma-ximen. Um im Einzelfall zu zeigen, dass es sich bei einer Proposition p um eine Impli-

58 Die Definition orientiert sich an dem in Fußnote 44 genannten Überblicks-Artikel von A. Kemmer-ling (S. 326), wo allerdings die dritte Bedingung schwächer formuliert wird. Wie dort bemerkt wird,findet man bei Grice selbst keine genauere Bestimmung des Begriffs (konversationelle) Implikatur.

59 Dort hatten wir allerdings die Folgerungs-Beziehung als Sinnrelation zwischen Sätzen verstanden,während sie in der obigen Festlegung eine Beziehung zwischen den durch diese Sätze ausgedrücktenPropositionen ist.

katur handelt, bezieht man sich in der Regel auf eine bestimmte Maxime und zeigt,dass der Sprecher gegen diese Maxime verstoßen hätte, wenn er nicht p gemeint hätte,d.h. wenn er nicht gewollt hätte, dass der Hörer neben der wörtlichen Bedeutung auchp versteht. Wie das im Prinzip geht, haben wir an des Teufels Telefonat gesehen.

Der dritte Punkt ist wieder eine Reflexionsbedingung. Nur wenn Sprecher und Hörerauch wirklich wollen bzw. merken, dass die zweite Bedingung erfüllt ist, liegt auch eineImplikatur vor. Die Implikatur muss also wie die Aussage den Weg vom Sprecher zumHörer gehen. In diesem Sinne handelte es sich bei Frau Engels Missverständnissennicht um Implikaturen.

EffekteWir gehen jetzt die Maximen der Reihe nach durch und führen dabei typische Beispielefür Implikatureffekte vor, die sich ergeben, wenn man davon ausgeht, dass sich derSprecher an die jeweilige Maxime hält. Beginnen wir bei den Quantitäsmaximen:

Erste Maxime der Quantität• Gebe so viel Informationen wie nötig.

Wir haben schon zwei sehr typische Anwendungsfälle dieser Maxime gesehen. Der einehatte mit Professor Teufels Äußerung des Satzes (51) zu tun, den wir hier zum drittenund letzten Male wiederholen:

(51) Gestern sind mehrere Studenten nicht erschienen.

Frau Engel hatte aus dieser Äußerung (freilich zu Unrecht) geschlossen, dass zumin-dest einige Studenten doch erschienen sind; denn sonst hätte es der Professor ja sagenkönnen und sollen. Der Fall ist ähnlich gelagert wie Fritzens im ersten Kapitel disku-tierte Äußerung von:

(56) Der Nachtisch war nicht giftig.

Auch hier hat Uwe messerscharf geschlossen, dass Fritz nicht nur sagen wollte, dassder Verzehr des Mensa-Desserts keine akuten Gesundheitsrisiken birgt, sondern dassseine kulinarische Qualität zu deutlich zu wünschen übrig lässt. Die Erklärung für dasZustandekommen dieser Implikatur läuft ganz ähnlich wie im vorherigen Fall. HätteFritz die Qualität höher eingestuft als kurz oberhalb der Giftgrenze, so hätte er dies sei-nem Freund Uwe sicher mitgeteilt – denn diese Information ist für beide von höchsterRelevanz. Aus der Tatsache, dass also Fritz nicht (57) geäußert hat, kann Uwe schlie-ßen, dass sein Freund diesen Satz offenbar nicht für richtig hielt:

(57) Der Nachtisch war einigermaßen genießbar.

Und da Fritz gerade das besagte Dessert verzehrt (oder zumindest probiert) hat, weiß er,wie selbiges schmeckt; wenn also Fritz sich nicht zu der Behauptung von (57) durchrin-gen konnte, dann wohl deswegen, weil er diesem Urteil nicht zustimmen kann. (56)war, mit anderen Worten das beste, was Fritz über das Dessert sagen konnte. So schließtUwe, und da Fritz weitsichtig und kooperativ ist, weiß er, dass sein Freund so schließt,und will dies auch, was wiederum Uwe selbst klar ist. Wir haben es also mit einem kla-

ren Fall von Implikatur zu tun. Und diese Implikatur kam im wesentlichen aufgrundder ersten Maxime der Quantität zustande.

Im ersten Kapitel hatten wir die entsprechende Implikatur – dass Fritz nicht in derLage ist, ein günstigeres Urteil abzugeben als (56) – als skalar bezeichnet, weil sich derSprecher implizit auf eine Skala, eben eine Bewertungsskala für Mensadesserts, be-zieht. Genauer gesagt kommt eine skalare Implikatur dann zustande, wenn die Äuße-rung einen Ausdruck A (wie nicht giftig) enthält, der einer in der Äußerungssituationwohlbekannten und offensichtlichen Skala (von tödlich bis exzellent) angehört, auf die-ser aber nicht den obersten Rang einnimmt. Grob gesprochen60 besagt dann die skalareImplikatur, dass der tatsächlich genannte Wert der höchste ist, für den der Sprecherdie entsprechende Behauptung aufstellen kann, dass also alle Ausdrucksalternativen(wie (57)), in denen A durch einen höheren Wert (einigermaßen genießbar) ersetztwird, vom Sprecher nicht gedeckt werden können. In vielen Fällen – so auch bei Fritzund Uwe – läuft das darauf hinaus, dass diese Alternativen allesamt falsch sind undsomit der tatsächlich genannte Wert (nicht giftig) der höchste ist, für den die Behaup-tung gilt.

Auch der bei (51) beobachtete Effekt lässt sich als skalare Implikatur auffassen, wennman als Ausdrucksalternativen für einige eine Skala von alle bis keine betrachtet, aufder alle einen höheren Rang einnimmt als einige. So wie Uwe aufgrund von FritzensÄußerung von (56) auf die Falschheit von (57) geschlossen hat, so hat auch Frau Engelaus der Tatsache, dass Herr Teufel (51) und nicht (58) gesagt hat, auf die Falschheit von(58) geschlossen:

(58) Gestern sind alle Studenten nicht erschienen.

In ähnlicher Weise kann man auch die im vierten Kapitel betrachteten Junktoren undund oder als skalierte Ausdrucksalternativen betrachten. Das Ergebnis ist, dass eineÄußerung eines Satzes wie (59) normalerweise so verstanden wird, dass der Sprechernicht in der Lage ist, die stärkere Behauptung (60) aufzustellen, was wiederum in vielenFällen darauf hinausläuft, dass diese stärkere Behauptung falsch sein muss:

(59) Fritz hat angerufen oder Uwe hat angerufen.(60) Fritz hat angerufen, und Uwe hat angerufen.

In diesen Fällen – aber nur in diesen – lässt sich die weiter oben Kapitel erwähnte aus-schließende Deutung von oder als pragmatischer Nebeneffekt, als skalare Implikatur,verstehen. Ob auf diese Weise wirklich alle Fälle abgedeckt werden, in denen er auftritt,wollen wir hier dahin gestellt sein lassen.61

60 Vieles an dieser Darstellung der skalaren Implikaturen ist stark vereinfacht. Ausführliches zudiesem Begriff findet man im vierten Kapitel von Stephen Levinsons Pragmatics (Cambridge 1983;dt. Pragmatik, Tübingen 1994).

61 In vielen Fällen tritt der Effekt nur scheinbar ein, weil für Sprecher und Hörer klar ist, dass nichtbeide durch oder verbundene Sätze wahr sein können – so z.B. in (!) Fritz ist in Rom oder [Fritz ist] inAthen: natürlich kann Fritz – so er nicht einer enorme Körpergröße besitzt – nicht gleichzeitig anzwei Orten sein; aber eine einschließende Deutung von oder impliziert dies auch nicht, wie man leichtanhand der Wahrheitstafel überprüft: ein Satz ist in der einschließenden Lesart erst recht wahr, wenn

Nicht alle Implikaturen, die sich mit Hilfe der ersten Quantitätsmaxime herleiten las-sen, sind skalar, aber die typischen schon. Anstatt weitere Beispiele zu betrachten, kom-men wir auf den nächsten Typ von Implikatur zu sprechen:

Zweite Maxime der Quantität• Gebe nicht mehr Informationen als nötig.

Diese Maxime ist schon deshalb zu befolgen, weil sie verhindert, dass der Sprecher sichin Details verliert, die vom eigentlichen Punkt ablenken könnten. Wenn also der Spre-cher mehr Informationen liefert als eigentlich verlangt schien, dann kann das nur hei-ßen, dass ihm diese Informationen im Gesprächszusammenhang wichtig erscheinen,dass ihr Weglassen zu Missverständnissen oder anderen Fehlhandlungen Anlass ge-ben könnte. Typische Fälle sind mit aber eingeleitete Zusätze wie in der folgenden Ant-wort auf die Frage einer Passantin, ob es in der Adalbertstraße einen Copyshop gäbe:

(61) Ja, aber die sind jetzt alle zu.

Der Antwortende geht davon aus, dass die Fragende weitergehende Interessen verfolgt,als die Verhältnisse in der Bockenheimer Geschäftswelt kennen zu lernen – und zumBeispiel das Manuskript, welches sie in Händen hält, kopieren möchte. Dies erkennendliefert der Sprecher zusätzliche Informationen – also solche, die über die explizit erbete-ne Information hinausgehen – eben weil der sieht, dass diese Informationen in der Si-tuation für die Gesprächspartnerin unverzichtbar sind. Diese zusätzliche Informationist allerdings keine Implikatur: dass die genannten Läden geschlossen haben, ist ja ge-rade die wörtliche Bedeutung des Zusatzes. Aber eine Implikatur kommt dennoch zu-stande: sie besteht in der Einschätzung der Situation durch den Sprecher – dass diePassantin nur an geöffneten Geschäften interessiert ist.

Kommen wir nun zu den Qualitätsmaximen, für deren Anwendung wir auch schonBeispiele gesehen haben. Zunächst die:

Erste Maxime der Qualität• Sage nichts, was du für falsch hälst.

Diese Maxime spielt oft eine Rolle, wenn es um den Ausschluss von Ausdrucksalterna-tiven geht. Herr Teufel hat es zum Beispiel vermieden, (58) zu äußern – und Frau Engelhat aus dieser Tatsache geschlossen, dass er es deshalb vermieden hat, weil er (58) fürfalsch hielt; sie hat ihm damit – fälschlicherweise, wie sich später herausstellte – un-terstellt, dass er sich an die erste Qualitätsmaxime gehalten hat. Man sieht daran übri-gens auch, dass beim Zustandekommen von Implikaturen in der Regel mehrereGrice’sche Maximen Hand in Hand arbeiten.

Ein ganz anderer Fall, bei dem die erste Qualitätsmaxime für das Zustandekommen ei-ner nicht-wörtlichen Bedeutung sorgt, ist der der Ironie. Blicken wir dazu noch einmalauf die beiden Gourmets des ersten Kapitels zurück. Fritzen ironische Äußerung laute-te:

er in der ausschließenden wahr ist. In so einem Fall laufen also einschließendes und ausschließen-des oder auf dasselbe hinaus. Und solche Fälle scheinen sehr häufig zu sein.

(62) Das Steak war wie immer zart und saftig.

Uwe hat diese Äußerung nicht wörtlich genommen, weil er wusste, dass Fritz unmög-lich der Meinung sein kann, dass das Mensasteak bisher immer zart und saftig war –wie in (62) ausgesagt wird.62 Da Uwe außerdem davon ausgeht, dass Fritz ihn nichtbelügt, sieht er sich gezwungen, dessen Äußerung von (62) so umzuinterpretieren,dass er mit seinen Vor-Informationen in Einklang zu bringen ist. Der hervorgehobeneNebensatz beschreibt dabei gewissermaßen eine Anwendung der ersten Qualitätsmaxi-me – dass Fritz ihn belügt, heißt ja, dass er ihm bewusst die Unwahrheit sagt. Wieallerdings Uwe von der Weigerung, (62) wörtlich zu interpretieren, auf die von Fritzintendierte ironische Interpretation kommt, ist alles andere als durchsichtig; wirwerden dieser Frage hier nicht weiter nachgehen.

Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Ironie und allen anderen hierbetrachteten Effekten. Während nämlich Implikaturen die aus der wörtlichen Bedeu-tung stammende Information ergänzen oder weiter spezifizieren, wird im Falle der Iro-nie die wörtliche Bedeutung durch ihr Gegenteil ersetzt. Denn Uwe versteht ja Fritznicht in dem Sinne, dass das Steak sowohl (a) zart und saftig als auch (b) dasGegenteil, also weder zart noch saftig, war. Uwe versteht nur (b), und genau so willFritz auch verstanden werden. Die wörtliche Bedeutung wird also durch den ironischenEffekt überblendet. Stark vereinfacht kann man diesen Vorgang wieder im Stil der Gra-phiken aus dem vorangehenden Kapitel darstellen: IRONIE:

Informationsstanddes Hörers

AussageInformationsstanddes Sprechers

WAHR

FALSCHKANN SEIN

KANN NICHTSEIN

Gegenteil

WAHR

FALSCH

VORHER

NACHHERKANN SEIN

KANN NICHTSEIN

Die Vereinfachung besteht vor allem darin, dass hier das Gegenteil der Aussage durchUmkehrung der Wahrheitswerte – also Negation – gewonnen wird. Das istnormalerweise nicht so: das Gegenteil von (62) ist die obige Aussage (b), während dieNegation lediglich besagt, dass das Steak entweder zart, aber nicht saftig, oder saftig,aber nicht zart, oder eben weder zart noch saftig war. Aber wir geben uns hier mit derersten Näherung des Gegenteils durch Negation zufrieden – und wenden uns kurz dernächsten Maxime zu:

62 Genauer gesagt handelt es sich dabei um eine Präsupposition von (62), aber den Unterschied zwischenAussage und Präsupposition werden wir hier vernachlässigen. Wichtig ist nur, dass es sich um einenTeil der wörtlichen Bedeutung handelt.

Zweite Maxime der Qualität• Sage nichts, wofür dir die Gründe fehlen.

Bei dieser Maxime handelt es sich in gewisser Weise um eine Verallgemeinerung dervorhergehenden. Denn wenn der Sprecher weiß, dass etwas, also eine Proposition,falsch ist, fehlen ihm insbesondere gute Gründe für die Annahme, sie sei wahr. Wiedem auch sei: einen typischen Fall von Verletzung dieser Maxime haben wir bereits mitdes Professors Fehlprognose über den Seminarverlauf kennen gelernt. An dieserVerletzung zeigt sich auch, dass die zweite Qualitätsmaxime in ihrer Wirkung von derersten kaum zu unterscheiden ist: beide sorgen für die Verlässlichkeit des Sprechers.Aber einen Unterschied gibt es wohl schon: Ironie setzt immer voraus, dass Sprecherund Hörer wissen, dass die wörtliche Aussage falsch ist, dass also der Sprecher gegendie erste Maxime verstoßen würde. Eine reine Unsicherheit seitens des Sprechers reichthier nicht aus.

Auch zur nächsten Maxime müssen wir hier nicht viel sagen:

Maxime der Relation• Sprich zum Thema.

Wenn jemand auf eine Frage oder etwas entgegnet, kann man davon ausgehen, dass erdamit die Frage beantwortet bzw. der Bitte nachkommt; wenn nicht, muss er dies ir-gendwie signalisieren; tut er auch das nicht, kann es zu Missverständnissen kommen –wie geschehen im Falle von Teufels Lektüreempfehlung. Umgekehrt kann ein koopera-tiver Sprecher durch eine ganz offenkundig nicht oder nur marginal zum Thema gehö-rige Äußerung per Implikatur eine Mitteilung machen, wie in dem Grice’schen Bei-spiel eines Empfehlungsschreibens, in dem lediglich von der schönen Handschrift desBewerbers (um eine akademische Position) die Rede ist: die Adressatin soll dadurch er-kennen, dass der Verfasser des Schreibens nichts besseres über den Kandidaten zu be-richten wusste, als dessen Schönschrift zu loben. In diesem Fall wird übrigens die Im-plikatur – dass der Bewerber gänzlich ungeeignet ist – durch eine scheinbare Verlet-zung der Maxime der Relation erreicht: wörtlich enthält der Brief nichts Relevantes,aber gerade diese Umstand deutet massiv darauf hin, dass die eigentliche Nachricht da-rin besteht, dass es nichts Relevantes zu berichten gibt – und das ist im Zusammenhangmit der Bewerbung natürlich höchst relevant. Grice selbst war an dieser Art Ausbeu-tung seiner Maximen besonders interessiert. Im nächsten Kapitel werden wir weitere,weniger weit her geholte Fälle von Ausbeutung der Maxime der Relation kennen ler-nen, die so genannten indirekten Sprechakte. Doch zunächst kommt die:

Erste Maxime der Modalität• Sei klar im Ausdruck.

Gemeint ist hier, dass man keine Wörter oder Redewendungen benutzen soll, die manselbst oder der Gesprächspartner nicht oder nur ungenügend versteht. Eine Möglichkeitunter Rückgriff auf diese Maxime Implikaturen zu erzeugen ist die Anführung vonAusdrücken, und zwar besonders dann, wenn sie in die indirekte Rede integriert ist:

(63) In der Sprachwissenschaft spricht man in diesem Falle stattdessen von einerskalaren Implikatur.

(64) Sind das Ihr berühmter Schümli?(65) Gottlob hielt es mit der Logik, Karl bevorzugte die Dialektik.

In diesen drei Sätzen werden die kursiv gedruckten Ausdrücke nicht nur benutzt, umsich auf irgendwas (also ihre Extension) zu beziehen, sondern sie werden zugleich auchselbst thematisiert. In (63) – ein Satz aus dem ersten Kapitel – geschieht dies in derAnnahme, dass die Leserschaft den betreffenden Ausdruck nicht kennt; in (64) – einSatz über Schweizer Kaffee – ist sich der Sprecher unsicher, ob er den Ausdruck aus derSprache des Hörers korrekt verwendet; in (65) – ein Satz über die Philosophie des 19.Jahrhunderts – soll womöglich angedeutet werden, dass der betreffende Ausdruck voneiner dritten Person unklar verwendet wird. In allen drei Fällen signalisiert damit dieAnführung, dass der betreffende Ausdruck nicht hundertprozentig klar ist. Hätte derSprecher ihn einfach nur verwendet – also ohne kursiv zu schreiben63 – hätte erdamit die erste Maxime der Modalität verletzt. In den obigen Sätzen kann der Sprecherdiese Verletzung der Maximen durch Anführung vermeiden. Denn indem er den Aus-druck anführt, verwendet er ihn gerade nicht als Ausdruck, sondern gewissermaßenals Namen für sich selbst: Dialektik bezeichnet das Substantiv Dialektik, etc. Und dieseBeziehung zwischen Anführung und angeführtem Ausdruck ist sonnenklar und stehtnicht im Widerspruch zur ersten Modalitätsmaxime.

Die nächste Maxime haben wir schon an der Arbeit gesehen:

Zweite Maxime der Modalität• Vermeide Ambiguitäten.

Wie das Beispiel mit den beiden modallogischen Namensvettern zeigt, kann es nichtdarum gehen, gar keine mehrdeutigen Ausdrücke zu benutzen. Der FamiliennameLewis ist im angelsächsischen Sprachraum weit verbreitet, und nicht immer, wenn erohne Vornamen verwendet wird, verhält sich der Sprecher damit unkooperativ.Vielfach stellt der Gesprächszusammenhang sicher, welche der Personen gemeint ist.In dem obigen Telefonat wäre das nach Ansicht der Studentin offenbar David Lewisgewesen. Vielleicht lag sie damit schief, aber in jedem Fall hätte der Professor dieseVerwechslungsmöglichkeit sehen müssen und sich eindeutig ausdrücken müssen.Aber Kooperativität ist bekanntlich nicht seine Stärke, und so verwundert es auch nicht,dass er nicht einmal die zweite Maxime der Modalität beherrscht.

Was für mehrdeutige Namen gilt, gilt ebenso für andere Ambiguiäten, ob lexikalischoder strukturell. In vielen Zusammenhängen ist eine der möglichen Lesarten eines(Oberflächen-) Ausdrucks so prominent, dass sich der Sprecher getrost daraufverlassen kann, dass die Hörerin ihn richtig versteht. Wenn mich die Bank nach derHöhe meiner Bezüge fragt, denke ich nicht an Bettwäsche, und wenn mir Fritz erzählt,

63 Natürlich kann man die Sätze, insbesondere (64), auch sprechen, wodurch der Anführungscharakterder kursiv gesetzten Ausdrücke verloren zu gehen scheint. Aber dann sollte entweder die Sprechsitua-tion Klarheit schaffen oder notfalls der Sprecher gestisch nachhelfen.

dass sein Schwester einen Mann heiraten will, den sie letztes Jahr auf Gran Canariakennen gelernt hat, gehe ich davon aus, dass es sich um eine bestimmte Urlaubsbe-kanntschaft handelt. Warum in einem gegebenen Zusammenhang eine der Lesarteneines mehrdeutigen Ausdrucks so prominent erscheint, dass die anderen weder Spre-cher noch Hörer auch nur in den Sinn kommen, ist oft vollkommen unklar; eine allge-meine Theorie der Disambiguierung gibt es nicht. Aber klar ist, dass es solche bevor-zugten Lesarten in der Regel gibt, und dass ein Sprecher nur diese meinen sollte, wenner einen mehrdeutigen Ausdruck verwendet; genau dies sichert die zweite Modalitäts-maxime.

Auch die nächste Maxime bedarf einer gewissen Auslegung:

Dritte Maxime der Modalität• Fasse dich kurz.

Gemeint ist hier lediglich, dass von zwei ansonsten gleichen Ausdrucksalternativen diekürzere zu bevorzugen ist. Oft versteht sich das von selbst – so im Fall von logischäquivalenten Umformulierungen:

(66) Martin ist reich oder großzügig.(67) Es ist nicht so, dass Martin weder reich noch großzügig ist.

(66) unterscheidet sich von (67) dadurch, dass das einschließende oder durch eine Kom-bination von nicht und weder…noch ersetzt wurde, was auf dieselbe Gesamtaussagehinaus läuft. Aber die Ausdrucksalternative (67) erscheint nur umständlicher undschwerer verständlich als (66), so dass es kaum einer Modalitätsmaxime bedarf, um sieauszuschließen. Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht immer. Nehmen wir diedoppelte Negation:

(68) Ich habe Hunger.(69) Es ist nicht so, dass ich keinen Hunger habe.

Auch hier handelt es sich um eine mithilfe von Wahrheitstafeln (wie wir sie in Kapitel 4kennen gelernt haben) nachvollziehbare Äquivalenz, d.h. beide Aussagen laufen aufdasselbe hinaus. Allerdings klingt (69) etwas höflicher als (68). Wie kann das sein?Auch hier weiß Grice Rat: durch die Verwendung eines komplizierteren Ausdruckskann der Sprecher signalisieren, dass er das, was er meint, auch nicht so direkt, son-dern eben: zurückhaltender, meint. Mit anderen Worten: Je länger und umständlicherdie gewählte Ausdrucksalternative, desto länger und umständlicher das, was dahintersteckt, was gemeint ist. Dies ist ein so genanntes Ikonizitätsprinzip (Abbildungs-prinzip), wonach die Struktur der Darstellungsweise ein Abbild der Struktur des Darge-stellten ist. Ob es sich ohne weiteres aus den Grice’schen Maximen ableiten lässt, oderob es sich nicht vielmehr um ein unabhängiges – und nicht begründbares, also reinkonventionelles – Prinzip handelt, ist freilich umstritten. Dass es ein solches Prinzipgibt, scheint dagegen klar zu sein. Hier ist ein ganz anderes Beispiel:

(70) Der Reiter hat das Pferd getötet.(71) Der Reiter hat den Tod des Pferds verursacht.

Obwohl eine Tötung in nichts anderem als einer Todesverursachung besteht, würdeman (71) wohl eher dann anwenden, wenn diese Verursachung irgendwie ungewöhn-lich (z.B. sehr indirekt, unbemerkt, ungewollt, etc.) war. Die kürzere Ausdrucksweise(70) dagegen drückt den einfachen Fall aus – ganz wie es Ikonizitätsprinzip und dritteModalitätsmaxime (angeblich) vorhersagen.

Die letzte Maxime lässt sich ebenfalls als ein Ikonizitätsprinzip auffassen, wenn mandie Ordnung, um die es in ihm geht, als Ordnung der dargestellten Dinge und Sachver-halte versteht:

Vierte Maxime der Modalität• Drücke dich geordnet aus.

Ein einschlägiges Beispiel haben wir schon im vierten Kapitel gesehen. Das [satzverbin-dende] und wird gern im Sinne von und dann verstanden:

(72) Sie heiratete und [sie] wurde schwanger.

Nach der letzten Maxime lässt sich dies allein aufgrund der Kooperativität des Spre-chers erklären – wenn man geordnet im Sinne von entsprechend der Reihenfolge derbeschriebenen Ereignisse versteht. Denn wäre diese anders gewesen, hätte der Spre-cher lt. vierter Modalitätsmaxime (73) äußern müssen; und selbst wenn ihm die Rei-henfolge dieser Ereignisse nicht bekannt gewesen wäre, hätte er eine Ergänzung wie(74) anbringen müssen – um den Eindruck zu vermeiden, die von ihm gewählte Dar-stellung folge der letzten Maxime:

(73) Sie wurde schwanger und [sie] heiratete.(74) … aber nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.

Mit (74) nimmt der Sprecher den Implikatur-Effekt zurück. Verstünde man die vierteMaxime der Modalität dahingehend, dass sie den Sprecher im vorliegenden Fall auf ei-ne dem tatsächlichen Ereignisablauf getreue Darstellung festlegt, würde er mit (74) zei-gen, dass er diese Maxime verletzt und sich insofern unkooperativ verhalten hat – wasseltsam wäre, wo doch dieser Zusatz offenkundig der besseren Verständigung dient.Aber die Maxime ist nicht so gemeint. Vielmehr besagt sie, dass der Sprecher keine Rei-henfolge der Darstellung wählen sollte, die seinen Kenntnissen widerspricht oder dieaus irgendwelchen Gründen schwer nachvollziehbar ist. Übrigens muss diese Reihen-folge nicht immer eine zeitliche sein: die Beschreibung des Inneren eines Hauses ist inder Regel leichter zu verstehen, wenn sie stockwerkweise vorgeht.

Rückzüge64

Wenn man also das und im Sinne eines und dann auffasst, handelt es sich nicht umreines Sprachverständnis, sondern um eine Implikatur. Ein Beleg dafür ist die Tatsa-che, dass man solche Erläuterungen wie (74) anbringen kann, ohne sich dabei zu wider-sprechen. Das wäre wohl kaum zu erklären, wenn der und-dann-Effekt aufgrund derwörtlichen Bedeutung von und zustande käme.65 Denn eine Folgerung aus der wörtli-64 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!65 Vielleicht gibt es ja zwei unds – eines im Sinne der Wahrheitstafel, eines im Sinne von und dann?

Dagegen spricht erstens, dass diese Mehrdeutigkeit i n sehr vielen (wenn nicht sogar allen) Sprachen

chen Bedeutung kann man nicht so ohne weiteres zurücknehmen, weswegen (75) alsFortführung von (72) oder (73) seltsam ist:(75) … aber schwanger wurde sie nicht.(75) widerspricht ganz offenkundig einer gemeinsamen Schlussfolgerung von (72) und(73), nämlich (76): (76) Sie wurde schwanger.(76) folgt in dem Sinne aus (72) [bzw. (73)], als (76) von jeder Welt wahr ist, von der (72)[bzw. (73)] wahr ist; d.h. zwischen den Sätzen besteht die in Kapitel 5 rekonstruierteSinnrelation der Folgerung. (75) dagegen steht zu (72) [bzw. (73)] in der Sinnrelation desWiderspruchs, d.h. die durch (75) und (72) [bzw. (73)] ausgedrückten Propositionenüberlappen sich nicht. Die Seltsamkeit von (75) als Fortführung von (72) [bzw. (73)] illus-triert ein ganz allgemeines Phänomen: Sätze, die einer Schlussfolgerung aus einem zu-vor geäußerten Satz widerspricht, wirken seltsam irrational, wenn sie geäußert wer-den. Diese Erkenntnis lässt sich wieder im Grice-Stil formulieren:66

Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch• Sage nichts, was einer Schlussfolgerung aus einem zuvor geäußerten Satz wi-

derspricht.Dieses Gesetz ist wieder keine grammatische Regel, sondern begründet sich einzig undallein aus dem Kooperationsprinzip. Denn wenn ein Sprecher mit einer Äußerung ei-nem vorher geäußerten Satz widerspricht, lässt er dem Hörer keine Chance mehr, dieWelt zu verstehen: da keine mögliche Welt so sein kann, dass zwei einander widerspre-chende Sätze von ihr wahr sind, führt die Hinzufügung der durch die beiden Sätze aus-gedrückten Propositionen67 zum Informationsstand des Hörers unweigerlich zu einerleeren Menge von Möglichkeiten; und diesen absurden Informationszustand gilt es zuvermeiden, wie wir bereits im sechsten Kapitel festgestellt haben.Implikaturen verhalten sich in puncto Zurücknehmbarkeit anders als Schlussfolgerun-gen: man darf ihnen – unter geeigneten Umständen – widersprechen. Das haben wiran der möglichen Fortführung (74) von (72) [bzw. (73)] gesehen, die einer Implikatur wi-dersprach, die sich durch (77) [bzw. (78)] explizit ausdrücken lässt:(77) Sie heiratete und [sie] wurde dann schwanger.(78) Sie wurde schwanger und [sie] heiratete dann.Mit anderen Worten: obwohl (77) eine Implikatur aus der vorangehenden Äußerung von(72) ist, kann der Sprecher dieser Implikatur z.B. mit (74) widersprechen. Für Implika-turen gibt es also kein Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch, wie wir es oben fürSchlussfolgerungen formuliert haben. Warum nicht?Die besagte und-dann-Implikatur kommt überhaupt erst zustande, weil sich der Spre-cher kooperativ verhält und der Hörer dies weiß. Insbesondere können beide davon aus-gehen, dass sich der Sprecher an die vierte Maxime der Modalität hält, also alles schön

bestehen müsste, während lexikalische Ambiguitäten normalerweise eher sporadisch und zufälligauftreten. Zweitens entsteht der und-dann-Effekt auch, wenn man das und weglässt und einfach zweiBehauptungen hintereinander stellt – womit man ihn auch beim anderen und erwarten würde…

66 Wie man sich leicht überlegen kann, besteht ein Widerspruch zu (irgend)einer Schlussfolgerung auseinem Satz gerade dann, wenn der Widerspruch zu dem Satz selbst besteht. Eine einfachere Formulie-rung des Gesetzes vom ausgeschlossenen Widerspruch wäre dementsprechend: Sage nichts, was ei-ner Schlussfolgerung aus einem zuvor geäußerten Satz widerspricht. Wie aber gleich klar wird,bringt die umständlichere Formulierung den Bezug zu den Implikaturen klarer heraus.

67 Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gilt also nicht, wenn die ausgedrückte Proposition garnicht erst dem Informationsstand hinzugefügt werden soll – wie im Falle der Ironie.

der Reihenfolge nach erzählt. Andererseits ist der Sprecher aufgrund der Qualitätsma-ximen gehalten, nur Dinge mitzuteilen, die er auch weiß. Wenn er also weiß, dass dieEheschließung der Empfängnis voranging [oder umgekehrt], könnte er dies durch seineÄußerung von (72) [bzw. (73)] implizit mitteilen; denn der Hörer könnte davon ausgehen,dass die Ordnung der Erzählung die Ordnung der Ereignisse widerspiegelt. Da dem soist, muss der Sprecher für den Fall, dass ihm die Reihenfolge der Ereignisse unbekanntist, Vorkehrungen treffen; er muss den Hörer warnen, hier nicht auf die letzte Maximezu bauen. Und genau diese Warnung gibt er aus, indem er sich eines erläuternden Zu-satzes wie (74) bedient und dadurch einem möglichen und naheliegendem Missver-ständnis vorbaut.Das Beispiel zeigt, dass Implikaturen im Prinzip zurückgezogen werden können, wenndies der besseren Verständigung dient. Liegt dagegen kein triftiger Grund für einen sol-chen Rückzug vor, empfindet man denselben als seltsam. Wenn beispielsweise derSprecher über die Abfolge der berichteten Ereignisse unterrichtet ist und dies auch zuverstehen gibt, kann er die und-dann-Implikatur normalerweise nicht zurücknehmen.Daher die Merkwürdigkeit des Zusatzes:(79) … aber in der umgekehrten Reihenfolge.

Erklärung und BeschreibungDer Unterschied zwischen Implikaturen und Schlussfolgerungen verweist letztlich wie-der auf den zu Beginn des Kapitels genannten Wesensunterschied zwischen Semantikund Pragmatik: Die wörtliche Bedeutung ergibt sich aus der Grammatik, für die nicht-wörtliche Bedeutung sorgt der gesunde Menschenverstand. Schlussfolgerungen beste-hen aufgrund der grammatisch bestimmten wörtlichen Bedeutung des geäußerten Sat-zes; und sie lassen sich nicht zurücknehmen, solange diese wörtliche Bedeutung Teilder Information ist, die der Sprecher dem Hörer übermittelt. Implikaturen dagegen be-treffen nicht – oder zumindest nicht nur – den Inhalt der Äußerung, also das, was wirals Aussage bezeichnet haben; vielmehr ergeben sich Implikaturen aus Erwägungenüber die Umstände der Äußerung und insbesondere den kooperativen Sprecher undseine kommunikativen Absichten. Eine Schlussfolgerung beantwortet die semantischeFrage

(S) Was folgt aus dem, was der Sprecher gesagt hat?

Hat der Sprecher (80) geäußert, dann folgt aus dem, was er gesagt hat, dass es über-haupt mehrere Zweitsemester gibt:

(80) Mehrere Zweitsemester waren da.

Eine Implikatur dagegen beantwortet die pragmatische Frage

(P) Was folgt daraus, dass es der Sprecher gesagt hat?

Daraus, dass der Sprecher (80) geäußert hat, folgt unter geeigneten Umständen (undKooperativität vorausgesetzt), dass nicht alle Zweitsemester da waren – obwohl dieseFolgerung sich nicht aus der wörtlichen Bedeutung ergibt, sondern im wesentlichen da-raus, dass der Sprecher andernfalls etwas anderes gesagt hätte.

Was hat jetzt der gesunde Menschenverstand damit zu tun? Ganz einfach: die Beant-wortung der pragmatischen Frage (P) erfordert Erwägungen über das Verhalten des

kooperativen Sprechers (und Hörers68), und diese Erwägungen gehorchen nicht denRegeln der Grammatik, sondern den Gesetzen der Vernunft. Zur Herleitung der skala-ren Implikatur – dass nicht alle Studenten da waren – aus einer Äußerung von (80)muss man abwägen, wie sich der Sprecher vernünftigerweise kooperativ verhaltenhätte, wenn er gewusst hätte, dass alle Zweitsemester da waren; für das Zustandekom-men von und-dann-Implikaturen kommt es darauf an, was der Sprecher vernünftiger-weise gesagt hätte, wenn ihm die umgekehrte Reihenfolge der Ereignisse bekannt ge-wesen wäre; usw. Die Implikatur kommt jeweils zustande, weil die beste Erklärungdafür, was der Sprecher gesagt hat, darin besteht, dass er neben der wörtlichen Bedeu-tung noch etwas anderes mitverstanden wissen wollte. Die pragmatische Frage (P)wird somit in der Grice’schen Implikaturtheorie zurückgeführt auf die Frage nach denMotiven des kooperativen Sprechers:

(G) Warum hat es der Sprecher gesagt?

Die Beantwortung dieser Frage verlangt nach einer Erklärung. Hier besteht ein we-sentlicher Unterschied zur Semantik, wo man sich oft mit einer systematischen Be-schreibung der Phänomene zufrieden geben muss: die Tatsache, dass ein Wort die-und-die Intension hat, dass eine grammatische Konstruktion so-und-so verstandenwird, lässt sich in der Regel nur feststellen, nicht auf die Bedürfnisse oder Motive derSprecher zurückführen.69

Mit dem Erklärungsanspruch der Implikaturtheorie geht allerdings auch ein erhebli-cher Verlust an Präzision einher. Denn eine lückenlose, detaillierte Zurückführungnicht-wörtlicher Bedeutung setzt nach ihr eine umfassende Theorie menschlichen Han-delns voraus, die es – jedenfalls in einer logisch-semantischen Theorien vergleichbarenExplizitheit – bislang nicht gibt. So bleibt die Grice’sche Pragmatik eine – freilich plau-sible – Skizze, bis es gelingt, sie in eine allgemeine Handlungstheorie zu integrieren.

8. Sprechen als HandelnBisher haben wir uns sowohl in Semantik als auch in der Pragmatik im wesentlichenauf Aussagesätze und ihre Verwendung im Informationsaustausch konzentriert. Aberes gibt auch andere Satztypen und andere Arten, Sätze zu verwenden. Die Vielfalt dieserVerwendungsmöglichkeiten und ihre Analyse steht im Mittelpunkt der Sprechakt-theorie. Um sie geht es in diesem letzten Kapitel gehen.

68 Die Kooperativität des Hörers ist in den Herleitungen der Implikaturen weniger augenfällig, aberebenso unerlässlich wie die des Sprechers. Denn letzterer verlässt sich darauf, dass der Hörer ihn soversteht, wie er verstanden werden will – was insbesondere die Implikaturen einschließt.

69 Allerings gibt es auch im Bereich der Semantik Erklärungen. Bedeutungen sind einerseits historischbedingt und lassen sich aus der Sprachgeschichte erklären – das gilt vor allem im lexikalischen Be-reich (Etymologie). Zum anderen scheinen sie teilweise sehr speziellen kognitiven Beschränkungenzu unterliegen, die ihrerseits erklären, welche Typen von Bedeutungen es überhaupt gibt; letzteresgibt Anlass zu verschiedenen Forschungsprogrammen innerhalb der logischen Semantik.

SprechakteWir hatten bereits mehrfach gesagt, dass Sprechen eine Form menschlichen Handelnsist. Jede Handlung, die durch Sprache – sprechend, schreibend oder gebärdend – voll-zogen wird, wird als Sprechakt bezeichnet.70 Hier sind ein paar Beispiele:

(A) Regine und Willi sehen Manfred von weitem mit einem großen Gegenstandrumhantieren. Willi fragt sich, was Manfred da macht. Regine äußert:

(81) Manfred führt seinem Sohn einen Drachen vor.

(B) Regine und Willi unterhalten sich über das bevorstehende Weihnachtsfest.Willi sucht noch ein Geschenk für seinen Neffen. In der Hoffnung auf Inspira-tion äußert er:

(82) Was schenkt Manfred seinem Sohn?

(C) Manfred fragt Willi, ob er eine Idee hat, die Stimmung seines Sohnes zu heben.Willi äußert:

(83) Bastel doch deinem Sohn einen Drachen.

In (A) liegt ein typischer Fall von Informationsfluss vor, wie wir ihn schon die ganzeZeit betrachtet haben: Regine sagt mit (81) etwas über die von ihr und ihrem Ge-sprächspartner beobachtete Szene aus – und vollzieht damit einen Sprechakt. In (B)dient die Äußerung nicht der Übermittlung von Informationen, sondern um eine solcheInformationsübermittlung in Gang zu setzen: Willi fragt seine Kollegin etwas – undvollzieht damit einen Sprechakt. In (C)kommt Willi mit seiner Äußerung ManfredsBitte nach: er rät seinem Gesprächspartner zu einer bestimmten Handlung – und voll-zieht damit einen Sprechakt.

Diese Verwendungsmöglichkeiten von Sprache sind insofern wenig überraschend, alssie im wesentlichen der von der Syntax vorgegebenen Einteilung der der Sätze in die drei(Haupt-) Satzarten – Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz – entsprechen. DenBeispielen nach zu urteilen hängt der Sprechakttyp – Aussage, Frage, Ratschlag (alsabgemilderte Variante der Aufforderung) – von der Satzart ab. Doch ganz so einfachverhält sich die Sache nicht. Denn einerseits ist die Korrelation zwischen der syntakti-schen Kategoriesierung der Sätze und ihren Verwendungsmöglichkeiten nicht perfekt:

(D) Manfred fragt Willi, ob er eine Idee hat, die Stimmung seines Sohnes zu heben.Willi äußert:

(84) Warum bastelst du deinem Sohn nicht einen Drachen?

Willi erteilt in diesem Fall seinem Freund Manfred denselben Ratschlag wie im vorher-gehenden Szenario – verwendet dafür aber einen Fragesatz. Andererseits kann manmit sprachlichen Äußerungen eine ganze Reihe anderer Dinge tun, als Informationenzu übermitteln, Fragen zu stellen oder andere zum Handeln zu bewegen – zum Beispiel

70 Sprechakt ist die wenig idiomatische, aber verbreitete Übersetzung des Terminus speech act[Sprechhandlung], den der englische Philosoph John L. Austin (1911–1960) benutzte. Austin gilt mitseinem posthumen Band How to Do Things with Words [Oxford 1962; dt.: Zur Theorie der Sprech-akte, Stuttgart 1972] als Begründer der Sprechakttheorie; ein weiterer Hauptvertreter ist der US-Ame-rikaner John Searle (*1932) mit seinem sprechakttheoretischen Hauptwerk Speech Acts [Cambridge1969; dt. Sprechakte, Frankfurt 1971].

Besitzverhältnisse ändern:

(E) Manfred hat gerade einen Drachen fertig gebastelt, als sein Sohn Pirmin dazukommt und sich sehr interessiert zeigt. Manfred äußert:

(85) Ich schenke dir diesen Drachen.

Bis zu Manfreds Äußerung war er selbst der stolze Besitzer des Drachens. Jetzt veräu-ßert er den Drachen – und vollzieht damit einen Sprechakt. Das Beispiel zeigt, dassman mit Sprache nicht nur Informationen, sondern auch Waren austauschen kann.Jenseits der grammatisch erwartbaren – man sagt auch grammatikalisierten –Sprechakttypen lauert eine Unzahl weiterer Verwendungsmöglichkeiten. Hier ist nochein Beispiel:

(F) Pirmin freut sich riesig über den Drachen, den ihm sein Vater geschenkt hatund äußert:

(86) Den nenne ich Yogi.

Pirmin tauft seinen Drachen auf den Namen Yogi – und vollzieht damit einen Sprech-akt.

Die Sprechakte (E) und (F) wurden jeweils mit Hilfe eines Aussagesatzes vollzogen.Trotzdem handelt es sich nicht, oder zumindest nicht nur, um Aussagen. Das wirdklar, wenn man die soeben betrachteten Szenarien mit anderen Verwendungen dersel-ben Sätze vergleicht:

(G) Manfred sitzt am Schreibtisch und unterschreibt ein Dokument. Auf dem Bo-den liegt ein Drachen. Pirmin kommt herein und fragt seinen Vater, was erda gerade treibt. Der weist mit der linken, nicht unterschreibenden Handschräg nach unten und äußert:

(85) Ich schenke dir diesen Drachen.

(H) Pirmin zeigt seiner Schwester seinen neuen Drachen, und sie fragt, ob derdenn auch schon einen Namen hat. Pirmin äußert:

(86) Den nenne ich Yogi.

In diesen beiden Fällen werden mit den Sätzen tatsächlich Aussagen gemacht. In (G)beschreibt Manfred was er gerade tut, nämlich per Unterschrift einen Drachenverschenken; aber – anders als bei der Verwendung (E) desselben Satzes – verschenkter nichts, indem er den Satz (85) ausspricht, nur während er dies tut. Der Fall (H)liegt ähnlich: im Gegensatz zu der Verwendung (F) von (86) erhält der Drachen hiernicht seinen Namen, sondern Pirmin informiert lediglich seine Schwester darüber,wie der Drachen heißt.

Der Unterschied zwischen den Verwendungen (E) und (F) auf der einen und (G) und(H) auf der anderen Seite zeigt sich auch darin, dass man bei letzteren, nicht aber beiersteren, den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Äußerung sinnvoll anzweifeln könnte: in(G) könnte sich z.B. Manfred irren und in Wirklichkeit Pirmins Schulzeugnis unter-schreiben, womit seine Äußerung von (85) falsch wäre; und Pirmin will in (H) viel-leicht seinen Namen für den Drachen geheim halten und belügt mit (86) seine Schwes-ter. Aber weder in (E) noch in (F) kann man sich vorstellen, dass der jeweilige Spre-cher etwas Falsches sagt – die Schenkung in (E) besteht ja gerade in Manfreds Äuße-

rung von (85), ebenso wie die Namensgebung, gerade in Pirmins Äußerung von (86) be-steht. Falsch können die in (E) und (F) geäußerten Sätze also schlecht sein. Heißt das,dass sie wahr sind? Auf diese Frage gibt es keine theorieunabhängige Antwort. Die tra-ditionelle Antwort der Sprechakttheorie lautet: nein. Zur Begründung wird vor allemangeführt, dass es in der Tat merkwürdig ist, eine Schenkung oder einen Taufakt mitden Worten Wohl wahr! oder Stimmt genau! zu kommentieren.71 Andererseits könnteder Grund für die Unangemessenheit solcher Kommentare ganz einfach darin liegen,dass die Wahrheit der geäußerten Sätze nicht zur Debatte steht, weil sie durch dieÄußerung selbst garantiert wird: Saying so makes it so, wie die Vertreter dieser Sicht-weise gerne sagen.72 In Situationen wie (E) und (F) verhalten sich danach die Äuße-rungen ähnlich wie trivial wahre Sätze à la Ich spreche gerade. Andererseits – so dieEntgegnung der traditionellen Sprechakttheorie – kann man der Wahrheit solcherÄußerungen sehr wohl zustimmen. Wir kommen noch einmal auf diese Debatte zu-rück.

Sprechakte, in denen etwas anderes getan wird, als über die Welt zu berichten oder Be-hauptungen aufzustellen, heißen auch performativ (also in etwa:"ausführend") – imGegensatz zu den konstativen ("feststellenden") Sprechakten, in denen es darum geht,etwas Wahres oder Falsches auszusagen. Die Schenkung (E), die Taufe (F), aber auchdie Frage (B) und die Ratschläge (C) und (D) sind in diesem Sinne performativ73; dieSprechakte (A), (G) und (H) sind dagegen konstativ. Diese Unterscheidung ist aller-dings mit Vorsicht zu genießen; denn sie suggeriert, dass nur mit performativenSprechakten Handlungen vollzogen werden, wo doch auch das Aufstellen einer Behaup-tung und das Weitergeben von Informationen sprachliche Handlungen sind.

Statt mit (86) hätte Pirmin seinen Drachen auch mit folgenden Worten taufen können:

(87) Ich taufe den Drachen auf den Namen Yogi.

Das Interessante an dieser Formulierung ist, dass sie den Sprechakttyp gewissermaßenbeim Namen nennt: indem er sagt, dass er einen Taufakt vollführt, vollführt Pirmin tat-sächlich einen Taufakt. Man nennt diese Art von Sprechakt deshalb explizit performa-tiv. Auch Manfreds Verschenken des Drachens war so ein explizit performativerSprechakt; denn auch in (85) wird das Schenken beim Namen genannt. Allgemein ge-sprochen weisen explizite performative Sprechakte die folgenden Eigenschaften auf:

☞ Geäußert wird ein Satz, dessen Hauptverb Indikativ Präsens steht.☞ Dieses Verb beschreibt den Sprechakttyp, den der Sprecher mit der Äußerung

vollzieht.

71 Man kann allerdings unter Umständen eine Taufe oder eine Schenkung als richtig bezeichnen.Allerdings scheint man sich dann nicht auf den Wahrheitsgehalt des geäußerten Satzes, sondern aufdie Angemessenheit der Äußerung zu beziehen. Richtig heißt hier also richtig gehandelt, nichtwahr gesprochen.

72 Die Formulierung ist eine stehende Redewendung im Englischen und geistert als Motto seit einigenJahrzehnten durch einen Teil der sprechakttheoretischen Literatur.

73 Die sprechakttheoretische Terminologie ist an dieseer Stelle nicht ganz einheitlich. Der Begriffperformativ wird gelegntlich auch enger – im Sinne von explizit performativ (s.u.) – verwendet.

In der Regel steht das Hauptverb in der Ersten Person Singular, aber gelegentlich – z.B.bei behördlichen Anordnungen findet man auch die erste Person Plural (Wir bitten Sie,sich am um 17.20 Uhr bei uns einzufinden) oder die dritte Person (Das Finanzamt stelltSie von der Hundesteuer frei). Verben, die in dieser Funktion gebraucht werden können,heißen performative Verben. Beispiele sind, neben den bereits genannten: ernennen,eröffnen (z.B. bei Sitzungen), (be)grüßen, bekanntgeben. Man beachte, dass ein perfor-matives Verb, selbst wenn es in der Ersten Person Singular Indikativ Präsens steht,nicht immer explizit performativ verwendet wird, wie die Sprechakte (E) und (F) wei-ter oben belegen. Das Adverb hiermit kann den explizit performativen Charakter desSprechakts zum Ausdruck zu bringen, muss es aber nicht: von stilistischen Feinheiteneinmal abgesehen, hätte zum Beispiel Manfred seiner Äußerung in (E) durchaus auchein hiermit hinzufügen können, um sich auf seine Unterschrift zu beziehen und ohnedurch einen explizit performativen Sprechakt zu vollziehen. Eindeutige formale, amsprachlichen Ausdruck festzumachende Kriterien für das Vorliegen eines explizit per-formativen Sprechaktes gibt es nicht.

Nicht nur (E), auch die anderen oben betrachteten Sprechakte hätten im Prinzip auchin explizit performativer Form vollzogen werden können, was im Einzelfall allerdingszum Stilbruch geführt hätte. Wenn etwa statt (81) – (83) in den Beispielen (A) – (C) dieSätze (81') – (83') geäußert worden wären, wäre jeweils derselbe Sprechakt vollzogenworden:

(81') Ich teile dir [hiermit] mit, dass Manfred seinem Sohn einen Drachen vorführt.(82') Ich frage dich [hiermit], was Manfred seinem Sohn schenkt.(83') Ich schlage dir [hiermit] vor, deinem Sohn einen Drachen zu basteln.

Umgekehrt hätte Manfred die Drachenveräußerung (E) auch mit Hilfe eines implizitperformativen Sprechakts vornehmen können, indem er statt (85) zum Beispiel folgen-des geäußert hätte:

(85') Dieser Drachen gehört jetzt dir.

Es ist davon auszugehen, dass prinzipiell jeder Sprechakt in explizit oder implizit per-formativer Form vollzogen werden kann. Diese Tatsache wird sich für die Analyse derSprechakte als bedeutsam erweisen.

Erfolgreiche VersprechungenNach dem Vorbild des Informationsflusses lassen sich Sprechakte beliebigen Typsdurch Erfolgsbedingungen charakterisieren, die beschreiben, was Sprecher und Höreridealerweise tun müssen, damit der Sprechakt vollzogen werden kann. Wir illustrierendiese Vorgehensweise, die einen Großteil der Sprechakttheorie ausmacht, anhand derAnalyse des Sprechakttyps Versprechen (nicht Versprecher!). Zunächst ein Beispiel:

(I) Es ist Montagmorgen, mein Sohn Alain möchte am Mittwochabend ein paarFreunde einladen und braucht dafür eine sturmfreie Bude, was er mir un-missverständlich mitteilt. Der Rest der Familie ist verreist, nur ich bin nochda, aber nicht mehr lange. Ich erbarme mich und äußere:

(88) Ich verreise morgen für drei Tage.

Mit (88) gebe ich in der genannten Situation ein Versprechen ab. Das hat vor allemdamit etwas zu tun, dass ich mich auf eine (a) zukünftige Handlung beziehe, derenAusführung (b) durch mich (c) in Alains Interesse liegt. Mit anderen Worten: keinerder folgenden drei Sätze wäre in der gleichen Situation dazu geeignet gewesen, ein Ver-sprechen abzugeben:

(89a) Ich war letzte Woche verreist.(b) Tom verreist morgen für drei Tage.(c) Ich bleibe die ganze Woche zu Hause.(c ') Ich treffe mich nachher mit Manfred.

In (89a) beziehe ich mich auf eine vergangene Handlung, und selbst wenn ich dieseHandlung ausgeführt habe und sie im Interesse meines Sohnes gelegen haben mag,hätte ich mit der Äußerung von (89a) kein Versprechen abgeben können; denn verspre-chen kann man nur etwas, das man noch tun wird. In (89b) beziehe ich mich auf eineHandlung meines Sohnes Tom, und selbst wenn er diese Handlung plant und sie inAlains Interesse liegen mag, hätte ich mit der Äußerung von (89b) kein Versprechenabgeben können; denn versprechen kann man nur etwas, das man selbst tut. In (89c)und (89c') beziehe ich mich auf eine Handlung, deren Ausführung Alain unangenehmbzw. gleichgültig ist, und selbst wenn ich diese Handlung selbst auszuführen plane,hätte ich mit der Äußerung von (89c) oder (89c') kein Versprechen abgeben können;denn versprechen kann man nur etwas, an dem dem Gesprächspartner gelegen ist.

(a) – (c) sind offenbar notwendige Bedingungen für Versprechen, aber sie sind nichthinreichend, wie die folgenden Varianten von (I) zeigen:

(J) Es ist Montagmorgen, Alain möchte am Mittwochabend ein paar Freunde ein-laden und braucht dafür eine sturmfreie Bude, was er mir unmissverständlichmitteilt. Der Rest der Familie ist verreist, nur ich bin noch da, und zwar fürden Rest der Woche. Damit Alain mich in Ruhe lässt, äußere ich:

(88) Ich verreise morgen für drei Tage.

(K) Es ist Montagmorgen, Alain möchte am Mittwochabend ein paar Freunde ein-laden und braucht dafür eine sturmfreie Bude. Der Rest der Familie ist ver-reist, ich bin noch da, habe aber seit langem eine Reise geplant. Ich äußere:

(88) Ich verreise morgen für drei Tage.

Im Fall (J) mache ich eine leere Versprechung, da ich gar nicht vorhabe zu verreisen.So eine leere Versprechung verhält sich zu einem richtigen, aufrichtigen Versprechenwie die Lüge zur Mitteilung. Und so, wie bei den Erfolgsbedingungen für den idealenInformationsfluss Lügen ausgeschlossen werden, erfüllen auch leere Versprechungennicht die Erfolgsbedingungen für den Sprechakttyp des Versprechens. Denn es gehörtzum Wesen des Versprechens, dass es (d) aufrichtig gemeint ist, selbst wenn manch-mal mit dieser Aufrichtigkeit Schindluder getrieben wird.

Der Fall (K) ist etwas subtiler. Hier ist meine Ankündigung zwar aufrichtig, die Reiseliegt auch nach wie vor in Alains Interesse, aber er weiß, dass ich sie sowieso unterneh-men werde. Ich brauche ihm das nicht mehr zu versprechen, ich kann es ihm gar

nicht mehr versprechen, denn ich habe es bereits unabhängig von unserem Gesprächbeschlossen. Ein richtiges Versprechen hingegen besteht in der Ankündigung einerTat, die (e) nicht schon vorher geplant war.

Wir erhalten damit die Erfolgsbedingungen für den Sprechakt des Versprechens:74

• Inhaltsbedingung [= (a) + (b) + (e)]Die Aussage beschreibt eine zukünftige Handlung des Sprechers, derenAusführung nicht schon feststeht.

• Sprecherbedingung [= (d)]Der Sprecher beabsichtigt, die in der Aussage beschriebene Handlung aus-zuführen.

• Hörerbedingung [= (c)]Der Hörer hat ein Interesse an der Ausführung der in der Aussage be-schriebenen Handlung des Sprechers.

• ReflexionsbedingungSprecher und Hörer wissen, dass die obigen drei Bedingungen gelten.

• EffektDer Sprecher ist verpflichtet, die in der Aussage beschriebene Handlungauszuführen.

Die Aussage ist dabei wie schon vorher die durch den geäußerten Satz ausgedrückteProposition. Dass diese Aussage eine zukünftige Handlung des Sprechers beschreibt,heißt damit, dass sie auf genau die Welten zutrifft, in denen der Sprecher in der Zukunftdiese eine Handlung ausführt. Für das Szenario (I) setzt das also voraus, dass der Satz(88) als ganz gewöhnlicher Aussagesatz interpretiert wird, dessen Intension alle mögli-chen Welten umfasst, in denen ich morgen für drei Tage verreise. Diese Interpretationfolgt den üblichen semantischen Regeln, wie wir sie in der ersten Hälfte dieses Skriptsansatzweise kennen gelernt haben.

Mit Aussagesätzen wie (88) werden nicht nur Aussagen gemacht, Tatsachen fest-gestellt, Behauptungen aufgestellt, Informationen übermittelt etc., sondern ebenso Ver-sprechen abgegeben [(88)], Drachen getauft [(86)] und verschenkt [(85')]. Ihre wörtlicheBedeutungen, die durch sie ausgedrückten Propositionen, können dann wie im Fall desVersprechens die Erfolgsbedingungen für andere Sprechakttypen erfüllen. Die Erfolgs-bedingungen für Versprechen zeigen, wie Propositionen in nicht konstativen Sprechak-ten Verwendung finden können. Obwohl also der Propositionsbegriff der logischen Se-mantik zunächst (wie in Kapitel 5) anhand der Übermittlung von Information motiviertwar, ist er flexibel genug, um auch für andere Arten der Sprachverwendung eingesetztzu werden. Die Verwendung anderer Satzarten dagegen bedarf zunächst einiger se-mantischer Vorarbeit; denn weder Fragesätze noch Aufforderungssätze drücken Propo-sitionen aus.75 Im Rahmen dieses Skripts werden wir nicht weiter auf sie eingehen.

74 Diese Erfolgsbedingungen folgen im wesentlichen der Analyse in Searles Speech Acts (–> Fußnote70). Die Originalformulierung findet man auch wieder in Gybbons Skript (–> Fußnote 57).

75 Bei Fragesätzen ist das nicht ganz klar; es gibt hier keine Standard-Semantik. Man unterscheidetsyntaktisch zwischen Ergänzungsfragen (wie Wann verreist du?) und Entscheidungsfragen (wieVerreist du?). Zumindest für letztere wird gelegentlich angenommen, dass sie Propositionen aus-drücken, die dann nur eingeschränkt verwendbar sind, also insbesondere nicht in Behauptungen.

Dieses an sich einfache Bild über den Zusammenhang zwischen wörtlicher (Aussage-satz-) Bedeutung und Sprechakt wird nun empfindlich gestört durch die Existenzexplizit performativer Sprechakte. So hätte ich das mit (88) gemachte Versprechen auchdurch die Äußerung von (90) abgeben können:

(90) Ich verspreche dir [hiermit], morgen für drei Tage zu verreisen.

Doch dieser Fall ist in den obigen Erfolgsbedingungen für Versprechen nicht vorgese-hen. Denn (88) erfüllt ganz offensichtlich nicht die Inhaltsbedingung: die durch denSatz ausgedrückte Proposition beschreibt eine gegenwärtige Handlung des Sprechers,nämlich gerade die, die er mit seiner Äußerung ausführt.

Um explizite Performative abzudecken, müssen wir offenbar die Erfolgsbedingungenfür Versprechen anders fassen. Die einfachste Revision besteht darin, den dort verwen-deten Begriff der Aussage neu zu bestimmen und ihn nicht notwendigerweise auf dievon dem geäußerten Satz ausgedrückte Proposition zu beziehen. Stattdessen sollte ersich – je nach dem, ob es sich um einen Satz wie (88) oder einen Satz wie (90) handelt –einmal auf die durch den Satz ausgedrückte Proposition, ein anderes Mal auf eine ande-re Proposition beziehen. Diese andere Proposition ist im vorliegenden Fall die Menge al-ler Welten, in denen der Sprecher (= ich) die durch den Infinitiv (= morgen für drei Tagezu verreisen) ausgedrückte Handlung ausführt. Die Frage ist, wie man sie im allgemei-nen bestimmen kann. Hier gibt es prinzipiell mehrere Strategien:

• FallunterscheidungExplizit performative Sprechakte werden strukturell (zum Beispiel durcheinen eigenen Satztyp) von anderen Sprechakten unterschieden.

• PerformativhypotheseAlle Sätze werden syntaktisch analysiert, als würden sie explizit performativgebraucht.

• Saying so makes it soAlle Sätze werden syntaktisch analysiert, als würden sie konstativ ge-braucht.

Die Unterschiede zwischen diesen Strategien macht man sich am besten am Beispielklar:

• Nach der Fallunterscheidungs-Strategie hat (90) eine spezielle Struktur, inder das Verb versprechen als explizit performativ und damit für die Bestim-mung der Aussage unerheblich – also sozusagen: für die Semantik unsicht-bar – markiert wird; die Rolle des Verbs besteht in dieser Lesart lediglich da-rin, des Sprechakttyp anzuzeigen. Die Unterscheidung zwischen explizitenund impliziten Performativen wird auf diese Weise von der Pragmatik in dieSyntax verschoben, oder von der Syntax reflektiert.

• Nach der Performativhypothese besitzt auch (88) eine solche Struktur, aberder semantisch unsichtbare Teil ist in diesem Fall auch an der Oberflächeunsichtbar. Danach hätte (88) im wesentlichen dieselbe (zugrundeliegende)Stuktur wie (90).

• Nach dem Motto Saying so makes it so drückt (90) die Proposition aus, dassder Sprecher ein gewisses Versprechen ablegt. Die Tatsache, dass der Satzselbst als Versprechen verwendet werden kann, lässt sich dann als eine ArtImplikatur-Effekt – genauer: als indirekter Sprechakt (s.u.) – erklären.

Nach den ersten beiden Strategien wird im explizit performativen Sprechakt – nach derzweiten sogar in jedem Sprechakt – der geäußerte Satz in zwei Teile zerlegt: zum einenden Teil, der das performative Verb und das Subjekt (und eventuell auch ein indirektesObjekt der zweiten Person) enthält, zum anderen in den Teil, aus dem sich die eigentli-che Aussage ergibt. Diese Zweiteilung hat viele Namen: den ersten Teil bezeichnet manz. B. als Modus oder illokutionäre Rolle; den zweiten als propositionalen Anteil oderSatzradikal. Ein Problem mit dieser Aufspaltung ist, dass sie sich nicht immer ohneweiteres anwenden lässt: Wie sieht zum Beispiel der propositionale Anteil in dem wei-ter oben betrachteten Fall (E) einer explizit performativen Schenkung aus? Ein weiteresProblem tritt auf, wenn explizit performative Sprechakte durch komplexe Sätze ausge-führt werden, etwa wenn zwei explizite Performative durch und verbunden werden, wiein Ich bitte dich, morgen zu kommen, und ich verspreche dir, dass du es nicht bereuenwirst. Denn wenn der Modus semantisch unsichtbar ist, kann auch die Konjunktionund nicht ihre übliche Bedeutung haben. Aber welche Bedeutung hat sie dann? Überdiese Fragen herrscht in der sprechakttheoretischen Literatur keine Einigkeit.76

Die Formulierung von Erfolgsbedingungen für verschiedene Sprechakttypen sowie dieKlassifikation dieser Typen anhand dieser Erfolgsbedingungen macht einen Großteilder Sprechakttheorie aus. So lässt sich zum Beispiel der Sprechakttyp des Versprechensmit anderen Typen wie dem Gelöbnis zur Klasse der Kommissive (von engl. commit –sich verpflichten) zusammenfassen, denen gemeinsam ist, dass sich der Sprecher je-weils verpflichtet, für die Wahrheit der Aussage Sorge zu tragen. Der Sprechakttheoriehaftet damit etwas Beschreibendes an, so wie der biologischen Systematik. Aber sie hatauch theoretische Aspekte – vor allem dort, wo sie sich mit der Implikaturtheorie be-rührt. Von einem dieser Berührungspunkte handelt der abschließende Abschnitt.

Indirekte Sprechakte77

Der Unterschied zwischen den beiden Szenarien (E) und (G), in denen Manfred sei-nem Sohn einen Drachen schenkte, bestand darin, dass er ihn einmal verschenkte, in-dem er etwas sagte, und im anderen Falle, als er etwas sagte. Im zweiten Fall hat ereinfach nur zwei Dinge gleichzeitig getan – so wie manche Leute zugleich spazieren ge-hen und Kaugummi kauen. Im ersten Fall hat er nur eine Sache getan; er hat etwas ge-äußert, und diese Äußerung war zugleich ein Akt des Schenkens. Dass ein und dieselbeHandlung zugleich ein Sprechen und ein Schenken sein kann, ist an sich nichts Merk-würdiges. Das ist so, wie ein und dieselbe Person zugleich Semantiker und Deutschersein kann oder ein und dasselbe Druckerzeugnis zugleich ein Krimi und ein Taschen-76 Die erste Frage lässt sich umgehen, indem man explizite Schenkungen nicht als explizite Performati-

ve, sondern als indirekte Sprechakte (s.u.) deutet und für diese Fälle ein Saying so makes it so an-nimmt. Eine Antwort auf die zweite Frage findet man in neueren Arbeiten des deutschenSemantikers Manfred Krifka, nach dem und eine handlungsorientierte Lesart hat.

77 Dieser Abschnitt ist nicht klausurrelevant!

buch. Jeder Gegenstand, jede Person und jede Handlung hat unzählige Eigenschaften,lässt sich vielfach charakterisieren. Jede sprachliche Handlung, jeder Sprechakt, istimmer zugleich mindestens zweierlei:• Sie ist die Äußerung eines sprachlichen Ausdrucks, in der Regel eines

Satzes.• Sie ist die Ausführung eines bestimmten Sprechakttyps.In der Sprechakttheorie unterscheidet man diese beiden Charakterisierungen vonSprechakten als lokutionäre und illokutionäre Aspekte.78 Ein lokutionärer Aspekt vonManfreds Sprechakt im Beispiel (E) besteht darin, dass er einen bestimmten deutschenSatz äußert; ein illokutionärer Aspekt ist, dass er etwas verschenkt. Unter lokutionäremAspekt ist Manfreds Sprechakt im Szenario (G) dem in (E) sehr ähnlich – es handeltsich ja um dieselbe Oberflächenform. Ob es wirklich eine Äußerung desselben Satzes istund sich die beiden Sprechakte unter lokutionärem Aspekt gleichen, hängt allerdingsvon der Analyse von (85) ab. Denn nach der Fallunterscheidungs-Strategie (und erstrecht nach der Performativanalyse) handelt es sich ja um verschiedene (zugrundelie-gende) Ausdrücke; nach der Saying so makes it so-Strategie ist es dagegen beide Malederselbe lokutionäre Akt. In jedem Fall aber unterscheiden sich die beiden Sprechakteunter illokutionärem Aspekt; denn der eine ist eine Schenkung, der andere eineMitteilung.Die verschiedenen Aspekten eines Sprechakts sind nicht beliebig kombinierbar, es be-stehen gewisse Abhängigkeiten. Insbesondere hängen illokutionäre Aspekt im allge-meinen von lokutionären Aspekten ab, denn nicht jeder Sprechakttyp kann mit der Äu-ßerung eines beliebigen Ausdrucks realisiert werden: wer jemanden grüßen will, kanndies mit einer Grußformel (Guten Tag, Grüß Gott etc.) tun, aber in der Regel nicht miteinem beliebigen Satz. Diese Abhängigkeit zwischen Aspekten oder Eigenschaften einerHandlung sind nichts spezifisch Sprachliches. Wenn ich Licht machen will, kann ichauf einen der dafür vorgesehenen Schalter drücken. Das Drücken des Schalters verhältsich zum Lichtmachen so wie das Äußern eines sprachlichen Ausdrucks zum Sprech-akttyp. Man macht das Licht an, indem man den Schalter drückt; man grüßt, indemman Grüß Gott sagt.Die lokutionären Aspekte einer Handlung sind vielschichtig. Zum einen handelt es sichum rein lautliche Aspekte – welche Oberflächenform ausgesprochen wird (phonologi-scher Aspekt), wie sie ausgesprochen wird (phonetischer Aspekt), um welche zugrun-deliegende Form es sich handelt (syntaktischer Aspekt) etc. Aber auch die illokutionä-ren Aspekte können vielseitig sein. Insbesondere kann ein und dieselbe sprachlicheHandlung verschiedenen Sprechakttypen zuzuordnen sein. Hier ist ein Beispiel(L) Mein Sohn Tom setzt sich zum Abendessen, überblickt kurz den Tisch und

äußert:(91) Zu diesem Essen passt ein 90er Bordeaux.

Ich springe sofort auf und renne in den Weinkeller.

Tom stellt mit seiner Äußerung zunächst einmal eine Behauptung auf, vollzieht also ei-nen konstativen Sprechakt. Das ist ein illokutionärer Aspekt seiner, aber nicht der ein-zige. Denn wie meine überstürzte Reaktion nur allzu deutlich macht, geht es Tom weni-ger darum, seine kulinarischen Kenntnisse zu vermitteln, als das richtige Getränk aufdie Tafel bekommen. Seine Äußerung ist als Aufforderung gemeint (und wird auch soverstanden). Dies ist ein weiterer illokutionärer Aspekt der Handlung.

78 Lokutionär kommt von lateinisch loqui (sprechen); illoutionär aus der (latinisierenden) Kon-traktion von in + lokutionär, wobei das in ein indem ausdrückt. Die Terminologie geht auf Austinzurück, der allerdings verwirrenderweise vom lokutionärem und illokutionärem Akt spricht.

Das Beispiel soll zeigen, dass derselbe Sprechakt zugleich Behauptung und Aufforde-rung sein kann. Zwischen den beiden Sprechakttypen scheint allerdings eine ähnlicheAbhängigkeit zu bestehen wie zwischen lokutionären und illokutionären Aspekten. Tomfordert mich auf, Wein zu holen, indem er eine bestimmte Behauptung aufstellt. In derSprechakttheorie beschreibt man dieses Abhängigkeitsverhältnis wie folgt: Der pri-märe illokutionäre Aspekt von Toms Äußerung ist, dass es sich um eine Behauptunghandelt; ein sekundärer Aspekt ist, dass es sich um eine Aufforderung handelt. Undwenn, wie im vorliegenden Fall der sekundäre Aspekt im Mittelpunkt des Interessessteht, wenn es also in erster Linie darum geht, eine Handlung dieses sekundären Typszu vollziehen, nennt man dies einen indirekten Sprechakt: indem Tom (primär) eineBehauptung aufstellt, vollzieht er (sekundär) den indirekten Sprechakt einer Aufforde-rung.So viel zur Terminologie. Die interessante Frage ist natürlich: Wie kommt es, dass mandurch die Ausführung eines primären Sprechakts zugleich einen Sprechakt eines ganzanderen Typs vollziehen kann? Wie kommen indirekte Sprechakte zustande? Eine viel-leicht naheliegende, aber dennoch fragwürdige Antwort besteht in der Erweiterung derErfolgsbedingungen für den sekundären Sprechakttyp. Im vorliegenden Fall hieße das,die Bedingungen für Aufforderungen so zu gestalten, dass auch (91) unter den genann-ten Umständen diese Bedingungen erfüllt. Abgesehen davon, dass vollkommen unklarist, wie eine solche allgemeine Formulierung der Erfolgsbedingungen für Aufforderun-gen aussehen sollte, ginge dabei etwas verloren, nämlich die Abhängigkeit des indirek-ten Sprechakts (Toms Aufforderung an mich) vom primären (seine Auslassung überden Wein). Denn die Aufforderung kommt offenbar zustande, weil Tom eine bestimmteAussage macht.Diese Abhängigkeit zwischen primärem und indirektem Sprechakt wird besser fassbar,wenn man sich auf die Grice’schen Maximen der kooperativen Kommunikation zurückbesinnt. Vergleichen wir dazu die soeben beschriebene Situation mit der folgenden Va-riante:(M) Mein Sohn Tom und ich planen das Weihnachtsmenü und wälzen dazu Koch-

bücher. Ich mache einen Vorschlag, woraufhin Tom äußert:(91) Zu diesem Essen passt ein 90er Bordeaux.

Toms Bemerkung ist in diesem Falle nicht als Aufforderung zu verstehen; im Gegen-satz zu seiner Äußerung in (L) handelt sich in (M) um einen Beitrag zur Planung desFestschmauses. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden (übrigens rein fikti-ven) Äußerungen besteht darin, dass die zweite sich auf das Gesprächsthema bezieht,während die erste auf den ersten Blick vollkommen unvermittelt kommt. Um diesenscheinbaren Verstoß gegen die Maxime der Relation mit der Toms Kooperativität in Ein-klang zu bringen, muss man seine Äußerung so uminterpretieren, dass sie an Rele-vanz gewinnt. Eine Möglichkeit wäre vielleicht, sie als Eröffnung eines Tischgesprächsinclusive Themenvorschlag zu verstehen, eine andere die intendierte Deutung als Auf-forderung. Wie genau die Auswahl zwischen diesen (und anderen) Möglichkeiten dernicht-wörtlichen Deutung von Toms Äußerung getroffen wird, hängt schätzungsweisevon vielen Faktoren ab und ist im Detail mindestens so schlecht verstanden wie der imletzten Kapitel angesprochene Effekt der Ironie. Aber die Auffassung des indirektenSprechakts als Implikatur ist sicherlich nicht hoffnungslos und allemal plausibler alsder Versuch, ihn mit Hilfe von erweiterten Erfolgsbedingungen zu erfassen. Diese – inder Sprechakttheorie weitgehende akzeptierte – Ausnutzung der Implikaturtheoriewirft ein interessantes Licht auf die weiter oben diskutierten impliziten Performative,die sich nach demselben Muster anhand Grice’scher Prinzipien herleiten lassen müss-ten: Manfreds impliziter Geschenkakt (Dieser Drachen gehört jetzt dir) ließe sich dann

als Behauptung auffassen, die in dem betrachteten Zusammenhang nur wahr seinkann, weil Manfred mit ihr und durch sie den Drachen verschenkt. Und wenn er daskann, dann sollte es ihm eigentlich auch möglich sein, dasselbe Geschenk mit einer ex-plizit performativen Behauptung zu machen: Saying so makes it so. Im Geiste einersolchen Analyse sind alle Verwendungen von Aussagesätzen primär – wahrheitswert-fähige – Behauptungen. Ob sie sich immer durchführen lässt, soll hier nicht entschie-den werden.

Anhang: Weiterführende LektüreDieses Skript deckt nur die grundlegendsten Probleme und Lösungsansätze der moder-nen Semantik und Pragamatik ab. Wer mehr wissen möchte, sollte sich in der Fachlite-ratur umschauen. Hier sind ein paar Tips.

LehrbücherGrewendorf, Günther; Hamm, Fritz; Sternefeld, Wolfgang: Sprachliches Wissen.Frankfurt/Main 1998.Die Semantik- und Pragmatikkapitel sind ausführlicher und detailgenauer als dieses Skript.

Heim, Irene; Kratzer, Angelika: Semantics in Generative Grammar. Oxford 1998.Die beste mir bekannte Semantik-Einführung, verfasst von zwei führenden Expertinnen; setzt aller-dings Englischkenntnisse, ein Minimum an Syntax und (wie alle Semantiklehrbücher) die Bereitschaftzum Umgang mit logischen Formeln voraus, ohne die es in der Semantik nicht geht

Levinson, Stephen C.: Pragmatics. Cambridge 1983. [dt.: Pragmatik, Tübingen 1994]Nach wie vor das Standardwerk, wenn auch in vielen Teilen überholt.

Nachschlagewerke und Handbücher:Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart, 2. Aufl. 1990.Zuverlässig bei terminologischen Unklarheiten, brauchbar zum Auffinden von Literaturhinweisen.

Stechow, Arnim; Wunderlich, Dieter (Hgg.): Semantik. Berlin 1991.Für Fortgeschrittene; enthält viele, teilweise englischsprachige Orientierungs- und Überblicksartikel zuden wichtigsten Themen der Semantik (und z.T. auch Pragmatik).