Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

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Bildungsprozesse im und am explizit normierten Raum Über die emotional entlastende Funktion explizit normierter Räume und den Bildungswert von Raumtrennung Seminararbeiten zu: Dr. Henning Schluss: 190204 SE Standards-Kompetenzen-Evaluation - Neue Begriffe der Erziehungswissenschaft in bildungstheoretischer Perspektive Mag.a. Sabrina Schrammel: 190074 SE Bildung, Medien und gesellschaftliche Transformation - Pädagogik und Raum WS 2008 Institut für Bildungswissenschaft und Philosophie Universität Wien Mario Spassov a0309830 1

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Die Seminararbeit wirft die Frage auf, ob Bildungsstandards -verstanden als explizierte Handlungsaufforderungen - nicht abseits von anderen auch eine entlastende Funktion für SchülerInnen haben könnten.

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Bildungsprozesse im und am explizit normierten Raum

Über die emotional entlastende Funktion explizit normierter Räume und den Bildungswert von Raumtrennung

Seminararbeiten zu:

Dr. Henning Schluss: 190204 SE Standards-Kompetenzen-Evaluation - Neue Begriffe der

Erziehungswissenschaft in bildungstheoretischer Perspektive

Mag.a. Sabrina Schrammel: 190074 SE Bildung, Medien und gesellschaftliche Transformation -

Pädagogik und Raum

WS 2008

Institut für Bildungswissenschaft und Philosophie

Universität Wien

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Erklärung

Ich bestätige mit meiner Unterschrift, dass ich meine Matrikelnummer korrekt angegeben habe und dass ich im aktuellen Semester berechtigt bin, Prüfungen im Rahmen jener Studienrichtung abzulegen, deren Studienkennzahl ich korrekt und vollständig angegeben habe. Ich bin immatrikuliert, habe die angeführte Studienrichtung inskribiert und habe die Studiengebühr sowie den ÖH-Beitrag eingezahlt.

Überdies bestätige ich mit meiner Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit eigenständig verfasst habe und dass die dabei verwendeten Quellen im Literaturverzeichnis vollständig angeführt sind. Die vorliegende Arbeit wurde zudem nicht für den Zeugniserwerb im Rahmen einer anderen Lehrveranstaltung verwendet.

Wien, im März 2009

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Table of ContentsEinleitung.........................................................................................................................................5

I. Ein Fallbeispiel........................................................................................................................5II. Die Problemstellung...............................................................................................................6III. Die Fragestellungen und Ergebnisse.....................................................................................9Fragestellung I - “Inwiefern können explizierte normative Vorgaben Hemmungsgefühle in Lernsituationen entschärfen?”.....................................................................................................9Fagestellung II - “Inwiefern hat (virtuelle) Raumtrennung eine bildungsfördernde Funktion?”...................................................................................................................................................10IV. Methode...............................................................................................................................11

Teil I. Die enthemmende Funktion expliziter Normierung................................................................121. Die Legitimation von Bildungsstandards aus Sicht der PISA-Studie........................................12

I. Wozu Bildungsstandards?......................................................................................................12II. Kritik an der Forderung nach Bildungsstandards.................................................................13III. Der Sinn der Explikation von Standards aus Sicht der beteiligten LernerInnen................15

2. Standards als zur Erfüllung aufrufende Handlungsaufforderungen...........................................16I. Standards als explizierte Normen..........................................................................................16II. Der normative Gehalt von Deskriptionen............................................................................17III. Handlungsaufforderungen existieren nur vor einem “Background” anderer Handlungsaufforderungen.........................................................................................................18

3. Institutionalisierte Räume als immer schon vornormierte Räume.............................................19I. Insitutionlisierte Räume sind immer schon durch Institutionen vornormiert........................19II. Durch den Lehrveranstaltungsleiter vorgenommene Normierungen...................................20III. Durch die StudentInnen vorgenommene Normierungen....................................................21

4. Normen bieten sich zur Identitätskonsitution an.......................................................................24I. Die Bedeutsamkeitsbeziehung von Bewusstsein...................................................................24II. Die identitätskonstitutive Funktion von Kompetenz............................................................25III. Identität als der erschlossene moralische Raum von Bedeutsamkeitsbeziehungen............26IV. Die “Garantenstellung” von Bezugspersonen für gelungene Identitätskonstruktion.........27V. Hemmungssituationen bei Nichterfüllen von interiorisierten Handlungsaufrufen...............28VI. Subjektive Bedeutsamkeitsrelationen, nicht “objektive” Leistung sind identitätskonstitutiv...................................................................................................................................................29

5. Ausdeutung des Fallbeispiels.....................................................................................................30I. Die Garantenstellung der Institution......................................................................................30II. Die Garantenstellung des Lehrveranstaltungsleiters............................................................30III. Die Garantenstellung der StudentInnen untereinander.......................................................32IV. Die Unmöglichkeit der Gerechtwerdung von Handlungsaufrufen in normativ überladenen Räumen.....................................................................................................................................32

6. Explizite Normierung als Ermöglichungsbedingung von Commitment....................................34I. Die konstruktive Freiheit von Bewusstsein: das Commitment..............................................34II. Minimalnormen als Voraussetzung für Schutzräume...........................................................35III. Differenzierung von Commitments am Beispiel der besprochenen Lehrveranstaltung.....36

7. Resumée.....................................................................................................................................39I. Die hemmende Funktion von Normen..................................................................................39II. Der normativ “überladene” Lehrveranstaltungsraum...........................................................40III. Normative “Entladung” des Lehrveranstaltungsraums durch explizite Normierung.........41

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Teil II. Bildungsfördernde Aspekte bewusster Raumtrennung..........................................................431. Räume........................................................................................................................................43

I. Drittpersonaler vs. erstpersonaler Raum................................................................................43II. Raum als (An)Ordnung von Gegenständen..........................................................................44III. Relativer vs. absoluter Raum..............................................................................................46

2. Räume als Veräußerlichung von Bewusstsein...........................................................................49I. Raumstrukturen spiegeln Bewusstsein wieder......................................................................49II. Räume werden über Normen konstituiert............................................................................51III. Das Beispiel der Lads - einander nicht begegnende Bewusstseine.....................................53IV. Räume als erschlossene Handlungsaufrufe spiegeln die Erschlossenheit von Identität.....54

3. Vom Bildungswert explizit normierter und damit differenzierter Räume.................................57I. Bildung..................................................................................................................................57II. Ausdeutung des Fallbeispiels...............................................................................................58III. Bildungsfördernde Aspekte expliziter Normierung am Beispiel bewusster Raumtrennung...................................................................................................................................................59

4. Raumtrennung anhand expliziter Normierung – eine praktische Umsetzung...........................61I. Der persönliche Artikulations-Raum - Artikulation der individuellen Identitätskonzeption61II. Der Professions-Raum - Artikulation der Identitätskonzeption der Profession...................62III. Der Diskussions-Raum - wo Identitäten einander als noch-Fremdes verstehend begegnen...................................................................................................................................................63

5. Resumée.....................................................................................................................................64I. Räume als Ausdruck von Identität.........................................................................................64II. Artikulation von Identität als Voraussetzung für Bildung....................................................65III. Umsetzung von Raumtrennung mittels explizierter Normierung im Fallbeispiel..............66

Nachwort........................................................................................................................................67Bibliographie......................................................................................................................................70

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Einleitung

I. Ein Fallbeispiel

An der Universität Wien wurde im Wintersemester 2008 im Rahmen einer Vorlesung zum

Thema “Bildungsprozesse an Bildungsinstitutionen aus Sicht der psychoanalytischen Pädagogik”1

das folgende didaktische “Experiment” durchgeführt: die “orthodoxe” Rollenverteilung innerhalb

des universitären Rahmens, die vorsieht, dass Lehrpersonen LernerInnen gegenübergestellt werden,

wurde teilweise aufgehoben. Stattdessen waren alle an der Lehrveranstaltung beteiligten

StudentInnen dazu aufgerufen, den Inhalt der Lehrveranstaltung kollaborativ mitzugestalten. Sie

konnten sich dabei mit Ideen und Einwänden zum Thema, entweder während der Präsenzzeit, in der

sehr viel Raum für Diskussionen eingeräumt wurde, oder über eine virtuelle Lernplattform

einbringen. Der Lehrveranstalter ging zu Beginn jeder Vorlesung auf theoretische Grundbegriffe

und Modelle aus dem Professions-Diskurs der psychoanalytischen Pädagogik ein. Diese wurden

jedoch nicht einfach vorgetragen, sondern StudentInnen dazu aufgerufen, ihre Assoziationen zu den

genannten Begriffen und Modellen diskursiv einzubringen, sowie nach Verknüpfungen des

jeweiligen Begriffs mit dem Thema der Lehrveranstaltung zu suchen.

Im Forum war zudem mehr Freiraum, als in den Präsenzdiskussionen eingeräumt. Die

StudentInnen wurden eingeladen, sich frei zu allen Themen zu artikulieren, sofern diese in einem

herstellbaren Zusammenhang mit den in der Lehrveranstaltung aufgeworfenen Grundproblemen

standen.

Der unorthodoxe Aufbau der Lehrveranstaltung wurde durch ihr Thema, “Bildungsprozesse

an Bildungsinstitutionen”, legitimiert. Die Lehrveranstaltung selbst, als an einer Bildungsinstitution

stattfindende, sollte ihr eigener Gegenstand werden. Und die Aufforderung an StudentInnen, sich

theoretische Modelle in diskursiver Form kollaborativ zu erschließen, sollte den zweiten

Gegenstand der Lehrveranstaltung, Bildungsprozesse an Bildungsinstitutionen, anregen. Die im

Forum geführten Diskussionen wurden vom Lehrveranstaltungsleiter teilweise in der Präsenzzeit

aufgegriffen und als Beispiel für Bildungsprozesse an der Bildungsinstitution “Universität Wien”

herangezogen. Die StudentInnen generierten den Gegenstand der Lehrveranstaltung durch ihre

eigenen Reflexionsprozesse, zum zuvor abstrakt gefassten Gegenstand2. Zudem wandten sie 1 Der genaue Titel der Lehrveranstaltung lautete „Individuum und Entwicklung –

Entwicklung und Bildung 3. Schule, Familie und andere Bildungsinstitutionen als Themen der Entwicklungspädagogik“.

2 In der Lehrveranstaltung selbst wurde der kollaborative Aufbau wie geschildert legitimiert.

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zugleich die - über den Lehrveranstaltungsleiter in die gemeinsame Diskussion eingeführten -

Grundmodelle der Profession “Psychoanalytische Entwicklungspädagogik” auf ihre eigenen

Reflexionsbemühungen an.

II. Die Problemstellung

Die Lehrveranstaltung war der dritte Teil eines auf vier Semester angelegten Zyklus. Im

genannten Semester war sie kollaborativer gestaltet, als in den zwei Semestern davor, doch begann

die TeilnehmerInnenzahl nach der dritten Lehrveranstaltungseinheit rapide abzunehmen, was in den

Semestern davor nicht in diesem Maße beobachtbar war. Von ca. 120 Anmeldungen in der

Lernplattform und geschätzten 80-100 StudentInnen, die an den ersten Präsenzterminen teilnahmen,

begannen nur mehr geschätzte 40-50 regelmäßig in die Lehrveranstaltung zu kommen - und auch

diese Zahl nahm bis zum Ende des Semesters noch ab. Während in den ersten drei Wochen die

Diskurse im Forum aufblühten, nahmen auch sie nach dieser regen Aktivität signifikant ab. Gegen

Ende des Semesters gab es im letzten Monat praktisch keine Diskussionsbeiträge mehr. Lediglich

eine relativ kleine Gruppe von ca. einem Dutzend StudentInnen, beteiligte sich regelmäßig an den

Forumsdiskussionen. Sie wurde vom Lehrveranstaltungsleiter - teils provokativ, um

Diskussionsprozesse im Forum anzuregen - als “Elite” bezeichnet und im Forum ein Thread mit der

Frage eröffnet, wie die “Elitebildung” verhindert und bessere Rahmenbedingungen geschaffen

werden könnten, um mehr StudentInnen zu Kollaborationsprozessen zu motivieren.

Dieser Rückgang wurde zunächst darauf zurückgeführt, dass in diesem Semester -zum ersten

mal seit Beginn des Zyklus - regelmäßig nach jeder Sitzung Lehrveranstaltungsprotokolle auf der

Lernplattform allen zur Verfügung gestellt wurden. Zudem gab es Tonmitschnitte jeder

Lehrveranstaltung und die Ankündigung eines Skriptums, welches zu Ende der Semesters folgen

sollte. Neben diesen Hilfmitteln, die ein Absolvieren der Lehrveranstaltung ohne aktive Teilnahme

erleichterten, wurden von StudentInnen auch folgende mögliche Ursachen für die Elitebildung -

einerseits dem Verfasser dieser Arbeit, der sich als “Klassensprecher” zur Verfügung gestellt hatte,

ebenso wie im Forum - artikuliert:

- Einige KollegInnen fühlten sich von den Diskursen im Forum und der Präsenzzeit

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“eingeschüchtert” und hatten das Gefühl, sich nicht so „wortgewandt“ wie andere ausdrücken zu

können, oder Gedanken nicht so klar fassen zu können.

- Der vom Lehrveranstaltungsleiter eingeführte “Elitebegriff” wurde von vielen als “erst recht

abschreckend” empfunden. StudentInnen berichtetem von dem Gefühl, in der Lehrveranstaltung nur

willkommen zu sein, wenn sie bereit wären, sich aktiv im Forum zu beteiligen; “bloßes” Zuhören

wurde dagegen, wie der wertende Elitebegriff implizierte, als abgewertet empfunden.

- Auch die Diskurskultur im Forum wurde kritisiert. Einige fühlten sich - weil im Forum nicht

auf jeden Beitrag geantwortet wurde - nicht ernst genommen. Und auch der

Lehrveranstaltungsleiter griff jeweils bestimmte Beiträge in der Präsenzzeit auf, die meisten jedoch

blieben unberücksichtigt und unbeantwortet.

- Viele berichteten, dass die anfängliche Flut an Beiträgen im Forum für sie nicht zu

bewältigen war. Fehlte man an einer oder zwei Sitzungen, war die Anzahl von Diskursen, die v.a. in

den ersten Wochen entstanden, nicht mehr zu bewältigen.

- Andere äußerten das Bedenken, die Lehrveranstaltung sei wie eine therapeutische Situation

gestaltet, in der der Therapeut (in diesem Fall der Lehrveranstaltungsleiter) von sich aus wenig

einbringt sondern primär Fragen stellt und Antworten kommentiert. Sie empfanden diese

Interaktionsform als für den Rahmen einer Vorlesung inadäquat.

- Auch die “doppelte Nähe” wurde als dem Setting einer Vorlesung nicht angebracht

empfunden. Die Diskurse sollten eine “Begeisterung” und “Nähe” zu den besprochenen

Grundthemen eröffnen, ebenso wie die persönliche Stellungnahme im Forum - mit eigenem Foto

und echtem Namen im Profil - eine “Nähe” zwischen den StudentInnen generieren sollte. Diese

doppelte Nähe empfanden einige als “hemmend”. Und zudem auch das Gefühl schlechtes Gewissen

zu haben, wenn man sich nicht so sehr für die Sache engagiert, wie der Lehrveranstaltungsleiter es

sich wünscht3.

Ausgehend von den im Forum artikulierten Bedenken, wurde zu Semesterende nach den

Prüfungen vom Autor dieser Arbeit eine Evaluation durchgeführt, die erheben sollte, inwiefern

diese Bedenken von den StudentInnen geteilt wurden. Dabei gab es zwei positive Überraschungen.

Einerseits wurde bei der Prüfung der beste Notendurchschnitt erreicht, seit Bestehen des Zyklus.

Andererseits war trotz der Abnahme der “aktiven” und “kollaborativen” TeilnehmerInnenzahl, das

3 Die Diskussionen um die möglichen Ursachen für den sich leerenden Hörsaal fanden in einem geschlossenen Forum statt und sind nicht öffentlich zugänglich.

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allgemeine Feedback sehr positiv. Die meisten StudentInnen (42 von 54)4 gaben an, in der

Lehrveranstaltung viel mitgenommen zu haben. Herausstechende Kritikpunkte jedoch waren, dass

die Grundthemen zu wenig vom Lehrveranstatlungsleiter in der Präsenzzeit erklärt wurden

(stattdessen gab es einen Background-Bereich im Forum, in dem StudenInnen selbständig

Grundthemen nachlesen mussten), und andererseits, dass zu wenig Struktur für kooperative

Teilnahme vorgegeben wurde. Der Großteil der StudentInnen war generell zu Kooperation bereit

(35 von 54), jedoch unter geklärten Aufgabenstellungen sowie unter der Bedingung, dass die

kooperativen Bemühungen auch positiven Einfluss auf die Note haben sollten.

Ein Bedenken wurde von den StudentInnen besonders häufig bestätigt und soll in dieser

Arbeit aufgegriffen werden. Die meisten der befragten gaben an (23 von 54), sich nicht am Forum

beteiligt zu haben, weil sie sich eingeschüchtert fühlten. Und dies, obwohl der

Lehrveranstaltungsleiter - wann immer die Teilnahme im Forum Thema in der Präsenzzeit war -

betonte, dass jeder Beitrag, sei er auch noch so rhapsodisch, sei es eine bloße Frage, willkommen

sei. Kein einziger Beitrag im Forum wurde vom Lehrveranstaltungsleiter oder von den

StudentInnen als “falsch” oder “undurchdacht” beurteilt. Weder bestand die Gefahr, über

“unqualifizierte” Beiträge die eigene Note herabzusetzen, noch wurde die Formulierung

“unqualifiziert” vom Lehrveranstaltungsleiter überhaupt toleriert. Jeder Beitrag, so wurde von ihm

betont, sofern er Artikulationsbemühung des eigenen Problembewusstseins darstellt, war

willkommen und nach dem die Lehrveranstaltung begleitenden Bildungsbegriff5 Ausdruck von

Bildungsprozessen, unabhängig von seinem propositionalen Gehalt.

Trotz allem gab es in der Lehrveranstaltung scheinbar nichtsdestotrotz Hemmungsgefühle,

sich im Forum zu beteiligen. Von diesem Problem geht diese Arbeit aus, und nicht von der

Tatsache, dass die StudentInnenanzahl im Laufe des Semesters abnahm. Dies, wie die Evaluation

und die guten Notenergebnisse nahe legen, war aus Sicht der StudentInnen nicht notwendiger Weise

ein Problem. Im Gegenteil, ein Großteil der StudentInnen gab an, sich an der Lehrveranstaltung

“passiv” beteiligen zu wollen und wollte diesen Modus auch offiziell “anerkannt” sehen (29 von

54).

4 Der Fragebogen ist dieser Arbeit beigelegt. 5 Bildung wurde hierbei verstanden als “In Sprache heben des Gewahrseins”.

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III. Die Fragestellungen und Ergebnisse

Fragestellung I - “Inwiefern können explizierte normative Vorgaben Hemmungsgefühle in

Lernsituationen entschärfen?”

Ausgehend vom Problem der Hemmungen in der oben geschilderten Lernsituation, soll die

Frage aufgegriffen werden, wie diese Hemmungsgefühle vor dem Hintergrund des relativ

schwachen normativen Rahmens der Lehrveranstaltung verstanden werden können. “Schwache

Normierung” meint hierbei, dass die Teilnahme am Forum an fast keine normativen Vorgaben - wie

Stil, Reflexionsniveau, zu Rate gezogene Primärliteratur, gelernter Unterrichtsstoff etc. - gebunden

war. Es wurden m.a.W. keine Minimalnormen oder Standards formuliert, an welche die Teilnahme

im Forum gebunden war - die einzige Minimalnorm schien Fragebereitschaft.

Und Dennoch gab es scheinbar Hemmungsgefühle. Teil I dieser Arbeit soll

bildungsphilosophisch zu klären versuchen, wie es zu Hemmungssituationen trotz mangelnder

Normierungen kommen kann und ob nicht gerade klarere normative Vorgaben - anhand von

Minimalnormen als Bedingung der Teilnahme im Forum - „enthemmend“ sein könnten. Dafür wird

zunächst ein Blick in die Debatte um die Sinnhaftigkeit der Einführung von Bildungsstandards

geworfen. Diese geht nicht von Hemmungsproblemen, sondern schlechtem Abschneiden der Länder

im PISA-Vergleich aus. Dennoch könnte sich der Lösungsvorschlag der PISA-Studie,

Mindeststandards einzuführen, auch von Hemmung entlastende Funktion für LernerInnen haben -

unabhängig davon, ob hiermit tatsächlich auch die Erwartungshaltung gegenüber gesteigerter

Kernkompetenzen erfüllt werden kann oder nicht. Quasi unbeabsichtigte Folge der Einführung von

Bildungsstandards könnte sein, so die Argumentation in Teil I der vorliegenden Arbeit, dass

Hemmungen in Lernsituationen über die Artikulation von Erwartungshaltungen anhand von

Standards entschärft werden könnten.

Die Begründung der Empfehlung, Normen zu explizieren um Hemmungssituationen zu

mildern, soll über den Umweg der Identitätsbildungsphilosophie Eriksons gesucht werden. Normen,

verstanden als Handlungsaufforderungen, die neben der Handlungsaufforderung zugleich auch das

Interesse der Auffordernden, dass diesen entsprochen werden solle vermitteln, haben teils

identitätskonstitutive Funktion. Bewusstseine nehmen Normen m.a.W. nicht nur zur Kenntnis,

sondern wo diese “verinnerlicht” wurden, werden sie zu einem integrativen Bestandteil des eigenen

Selbstempfindens, werden “bedeutsam”. Sobald eine Norm jedoch auf diesen Weg zum Wert wird,

entstehen potenzielle Hemmungssituationen. In der genannten Lehrveranstaltung gibt es mindestens

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drei Quellen für Normierungen: die Bildungsinstitution, der Lehrveranstaltungsleiter sowie die

StudenInnen selbst. Diese Normierungen aber haben, wie gezeigt werden soll, nicht die Gestalt

expliziter Handlungsvorgaben, sondern vielmehr implizierter Handlungserwartungen. Gerade diese

implizite Normativität der oben geschilderten Unterrichtssituation, könnte zur einer normativen

Überladung des Unterrichtsraums geführt haben, der man prinzipiell als endliches Bewusstsein

nicht gerecht werden kann. Eine Explizierung bestimmter Normen als offizielle

Teilnahmebedingungen an den Foren, könnte dagegen von vereinnahmenden Hemmungen

entlastende und zu Commitment anleitende Funktion haben.

Fagestellung II - “Inwiefern hat (virtuelle) Raumtrennung eine bildungsfördernde

Funktion?”

Ob explizite Normierung auch zudem eine bildungsfördernde Funktion haben könnte, soll in

Teil II der Arbeit untersucht werden. Hierfür wird der Frage nachgegangen, inwiefern

Raumtrennung im genannten Fallbeispiel bildungsfördernde Funktion haben könnte. Raumtrennung

kann jedoch gerade anhand explizierter Normen vollzogen werden. Normierungen, das wird zu

zeigen sein, schaffen Räume. Raum wird dabei in Anlehnung an Löw über Syntheseleistung und

Spacing verstanden, d.h. (An)Ordung von Symbolen an einem Ort. Wie in Anlehnung an Bollnow,

Gebser und Foucault gezeigt werden soll, sind Räume wiederum Wiederspiegelungen von Identität.

Nimmt m.a.W. der oben genannte Lehrveranstaltungsleiter eine explizite Normierung der

Teilnahmebedingungen am Forum vor, schafft er einen Raum, ordnet er Handlungen, Güter und

Symbole auf bestimmte Weise vor. Diese Anordnung jedoch ist zugleich eine Artikulation seiner

eigenen Identität sowie der Professions-Identität, welche er als Lehrperson vertritt. Um Identität

jedoch in ihrer Erschlossenheit für andere verstehbar zu machen, sind erschlossene

Handlungsaufforderungen notwendig. Und gerade diesem Moment der Erschlossenheit von

Handlungsaufforderungen kann über (virtuelle) Raumtrennung Rechnung getragen werden. Fallen

dagegen mehrere Räume aufgrund mangelnder Explizierung von Normierungen an einem Ort

zusammen, werden die Normierungen - indem sie aus ihrer Erschlossenheit gerissen werden - miss-

oder gar unverständlich.

Wenn eine Identität sich m.a.W. verstehbar machen will, so kann sie es nur über die

Erschlossenheit eines von ihr normierten Raumes, der von anderen Räumen klar differenziert wird.

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Raumtrennung und Normierung sind hierbei Voraussetzung für Verstehensprozesse. Dieses Prinzip

der Raumtrennung über explizierte Normierung fördert jedoch nicht nur Verstehensprozesse,

sondern bildet zugleich Bewusstseinsstruktur oder Prinzipien der Weltaufordnung ab, wie etwa die

Erschlossenheit von Identität. Sofern diese explizierten Normierungen selbst zum Gegenstand von

Reflexion gemacht werden, d.h. die Weltaufordnung abbildende Raumstruktur selbst zum

Gegenstand von Reflexionsprozessen wird, können Bildungsprozesse - im Sinne der

Bewusstwerdung eigener Weltaufordnung - angeregt werden. Die Differenzierung des im

Fallbeispiel geschilderten Lehrveranstaltungsraumes in mindestens drei Artikulationsräume, durch

innerhalb dieser Räume geltende explizite Normierungen, soll als notwendige - wenn auch nicht

hinreichende - Bedingung für Bildungsprozesse, auf Seiten der Lehrperson als auch der

LernerInnen, plausibilisiert werden.

Derartige Raumtrennung lässt sich z.B. anhand eines Artikulationsbereiches für die

Profession, den Lehrveranstaltungsleiter sowie der beteiligten StudentInnen, virtuell realisieren.

Damit soll ein möglicher medienpädagogischer Bezug von Teil II der Arbeit zumindest angedeutet

und eine Möglichkeit praktischer Umsetzung des bildungsphilosophisch Diskutierten vorgeschlagen

werden.

IV. Methode

Beide Teile der Arbeit versuchen eine heuristische Kontextualisierung bisher etablierter

Identitätskonzeptionen mit der geschilderten Problemsituation. Die im jeweiligen letzten Kapitel

jedes Teiles ausgeführten praktischen Differenzierungsvorschläge könnten erprobt und

Hemmungsgefühl empirisch erhoben werden. Eine empirische “Plausiblisierung”, wie sie für die

Annahme von Hemmungsgefühlen anhand eines Fragebogens erbracht wurde, konnte für die

Differenzierungsvorschläge selbst nicht geleistet werden, weil diese im Rahmen der genannten

Lehrveranstaltung nicht durchgeführt werden konnten, ohne zu gravierende Einschnitte in den

didaktischen Aufbau der Lehrveranstaltung zu fordern.

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Teil I. Die enthemmende Funktion expliziter Normierung

1. Die Legitimation von Bildungsstandards aus Sicht der PISA-Studie

I. Wozu Bildungsstandards?

Die Ergebnisse von PISA 2000 deuteten den Autoren der Studie zufolge auf gravierende

Mängel im deutschen Bildungssystem. Die Studie wurde von der OECD in Auftrag gegeben und

hatte zum Ziel, den Regierungen der getesteten Länder Indikatoren für die Erleichterung politischer

Entscheidungen, zur Verbesserung des Bildungssystems zur Verfügung zu stellen6. Dabei wurde von

einem funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnis ausgegangen und vier

Kompetenzbereiche differenziert: Lesekompetenz, mathematische, naturwissenschaftliche

Grundbildung sowie fächerübergreifende Kompetenzen7. Die Studie erhob explizit nicht den

Anspruch, anhand dieser vier Kompetenzmodelle Allgemeinbildung zu erheben. Vielmehr, so die

Autoren, stellen diese Kompetenzen erlernbare, handlungsorientierte Problemlösefähigkeiten dar8,

die im Interesse aller BürgerInnen stehen, sowie Voraussetzung für gelungene Lebensführung sind9.

Den Schulen sollen dabei weder curriculare Vorgaben gemacht, noch ein Bildungsbegriff im Sinne

Humboldts - als eine Verinnerlicherung diverser Daseins- oder Rationalitätsmodi - abgedeckt

werden10. Vielmehr wurden die in PISA erhobenen Basiskompetenzen als Vorraussetzung derartiger

Bildungsprozesse verstanden.

Die Erhebungen der Studie wiesen dabei darauf hin, dass ein Viertel der getesteten

Fünfzehnjährigen die Mindestkompetenz in Mathematik und Lesekompetenz, die ihrem Alter

entsprechen würde, nicht erreichen konnte11. Im Fall der Lesekompetenz erreichte ein Viertel die

zweite von insgesamt fünf aufbauenden Kompetenzstufen nicht12. Dabei trauten die Lehrpersonen

den SchülerInnen schwierigere Aufgaben zu, als sie letztlich lösen konnten13. Zudem fiel

Deutschland in den unteren Leistungsbereichen deutlich gegenüber anderen Ländern ab14. Dieses

schlechte Abschneiden bei Grundkompetenzen, die didaktisch leicht einlösbar sein sollten, wurde

6 Baumert 2001, 157 Baumert 2001, 15f.8 Baumert 2001, 229 Baumert 2001, 2910 Baumert 2001, 2111 Klieme 2003, 1312 Baumert 2001, 11313 Klieme 2003, 3014 Klieme 2003, 13

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von den Autoren der Studie auf fehlende Mindeststandards zurückgeführt15.

Bildungsstandards sollen - den Autoren der PISA-Studie zufolge - die Aufgaben der

öffentlichen Einrichtung Schule nach außen hin, d.h. für Eltern als auch SchülerInnen, transparent

machen und die Ziele pädagogischen Handelns explizieren16. Bildungsstandards würden dabei von

einer Input- zu einer Output-Orientierung führen und somit das Recht von SchülerInnen auf gleiche

Bildungs- und Verwirklichungschacen realisiert werden, indem der Staat durch

Leistungsüberprüfung für Qualität sorgt17. Die Idealvorstellung ist dabei, dass die Output-

Orientierung die Schulen nicht in ihrer Autonomie beschränkt, sondern lediglich einen allgemeinen

Kompetenzkanon vorgibt, innerhalb dessen die Schulen freie Hand haben, Curricula selbst zu

gestalten. So sollen lediglich allgemeine Kernkompetenzen formuliert werden und den Schulen die

Methoden ihrer Realisieriung frei überlassen werden18. Durch Bildungsstandards sollen

SchülerInnen sowie das Elternhaus relativ klare Orientierung darüber bekommen, welche

Entwicklungsmöglichkeiten an Schulen gefördert werden19 und auch Lehrpersonen sowie Schulen

Orientierungspunkte und Leitfäden für professionelles Handeln erhalten20.

Neben der Transparenz über die offiziellen Aufgaben des Schulsystems, erhoffen sich die

Autoren auch eine Entlastung für SchülerInnen. Im Gegensatz zum bisherigen, defizit-orientierten

Notensystem, streichen Mindeststandards positiv hervor, was bereits gekonnt wird21.

II. Kritik an der Forderung nach Bildungsstandards

An dieser Konzeption von Bildungsstandards wurde von mehreren Seiten Kritik geübt.

Einerseits wurde z.B. in Frage gestellt, ob der Begriff der Basiskompetenzen noch etwas

gemeinsam habe, mit dem bisher v.a. in der deutschen Tradition prägenden Begriff der

Allgemeinbildung. Koch z.B. kommt zu dem Schluss, dass die rein funktionale Definition von

Kompetenzen wie sie PISA vorsieht, rein “vorwärtsorientiert” auf das Erlernen von

Werkzeuggebrauch aus sei, der nur ökonomischen Nutzen habe. Der Bildungsbegriff dagegen sei

15 Klieme 2003, 1316 Klieme 2003, 1917 Klieme 2003, 1218 Klieme 2003, 5019 Klieme 2003, 4820 Klieme 2003, 51; 5421 Klieme 2003, 28

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“rückwärtsorientiert”, betone das Moment der Reflexion von Werkzeuggebrauch, es ginge hierbei

um Selbsterfahrung und nicht Problemlösen, Profit oder Karriere22. Allgemeinbildung, welche am

Maximum und nicht am Minimum des Geleisteten abgelesen wurde, sei im Rahmen von PISA auf

einen Qualifikationsbegriff reduziert. Hierbei spielen die Unterrichtsinhalte selbst keine Rolle mehr,

wie an der Pluralität von Inhalten ersichtlich wird, an denen z.B. Lesekompetenz erfragt wird.

Solange bestimmte Kompetenzen erfüllt werden, spielt es keine Rolle, mit welchen Inhalten man

sich beschäftigt23. Doch bei Beschäftigung mit gleichgültigen Inhalten, so Koch, nicht jenes

entstehen, das Herbart “Interesse” nannte24. In keiner der von PISA vorgeschlagenen

Basiskompetenzen wird ein derartiges Selbstverhältnis denkbar, höchstens noch beim Begriff der

Lesekompetenz, bei dem davon die Rede ist, eigene Erfahrung mit einem Gelesenen Text zu

verknüpfen. Doch auch hier nur unter dem “höheren” Ziel, den Textinhalt dadurch “besser”

rekonstruieren zu können25.

Aus anderer Perspektive kritisiert z.B. Bellmann die Praktikabilität der Umsetzung von

Kernkompetenzen und der Output-Steuerung. Ihm zufolge gäbe es die Gefahr, dass aller

bildungsphilosophischen Überlegungen zum Trotz, in der entsprechenden pädagogischen Praxis

“perverse Effekte” das Ergebnis sein könnten26. Nach ihm ist durchaus vorstellbar, dass die Output-

Steuerung statt mehr Freiheiten für die Gestaltung von Lehrplänen und die Umsetzung von

Lernzielen letzlich gerade das Gegenteil, zu freier Schulwahl und Wettbewerb zwischen Schulen

führen könnte, ebenso wie zu einem “teaching to the test”27. Hierbei würde die Qualität des

Unterrichts von der Qualität des Tests abhängig, auf den hin unterrichtet wird. Und am Beispiel der

“charter schools” zeigt er auf, dass freier Wettbewerb zwischen Schulen eine Homogenisierung von

Unterrichtsmethoden hin auf Bewährtes zur Folge haben könnte28.

Eine weitere kritische Perspektive wirft Heid mit der Frage auf, ob aus dem bloßen

empirischen Fakt, dass ein Standard erfüllt wird, unmittelbar auf die dahinter stehende Qualität des

Unterrichts geschlossen werden kann29. Umgekehrt ist jedoch denkbar, dass Leistungen die ein

Schulsystem tatsächlich erbringt, jedoch nicht den Leistungsvorstellungen der TesterstellerInnen

korrelieren, nicht erhoben werden30. Heid betont, dass die Vorstellung der Sicherung von

22 Koch 2004, 18823 Koch 2004, 18924 Koch 2004, 18925 Koch 2004, 187f26 Bellmann 2005, 1527 Bellmann 2005, 20f.28 Bellmann 2005, 2229 Heid 2007, 3430 Heid 2007,44

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Page 15: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Unterrichtsqualität durch Bildungsstandards mehr Legitimation braucht sowie eine nähere Analyse

der Relation zwischen LerherInnenausbildung und Output der SchülerInnen31.

Ruhloff dagegen zieht generell in Zweifel, ob Lernprozesse operationalisiert werden können

oder nicht notwendig partikulär bleiben32. Er akzeptiert zwar einen Zusammenhang zwischen

Standardisierung und Qualität, doch ließe sich nur ein Durchschnitt standardisieren33.

III. Der Sinn der Explikation von Standards aus Sicht der beteiligten LernerInnen

Die genannten Kritiken greifen das Konzept der Bildungsstandards hinsichtlich der

Operationalisierbarkeit von Lernprozessen, dem Unterlaufen des klassischen Bildungsbegriffes

durch einen qualifikationsbezogenen Kompetenzbegriff sowie der Möglichkeit paradoxer, d.h.

unerwarteter Folgen, an. Sie werfen nicht die Frage auf, ob aus der Perspektive der LernerInnen

selbst die Formulierung von Standards nicht “enthemmende” Funktion haben könnte. Genau diese

Perspektive auf Bildungsstandards soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen werden.

Hierbei wird zunächst zu klären sein, was unter Standard genau zu versehen ist.

Während aus dieser Perspektive auf den Standardbegriff die oben genannten kritischen

Einwände keine Beantwortung finden können, gilt umgekehrt, dass die Einwände gegen diesen

Frageansatz nicht greifen. Hierbei wird nicht das Potenzial der Leistungssteigerung durch Standards

betont, wie etwa in der PISA-Studie, sondern inwiefern Standards im Sinne explizierter Normen

nicht emotionale Entlastung in Lernprozessen fördern könnten. Aus einer anderen Fragestellung

kommend, soll im Folgenden - auf anderem Argumentationswege als die PISA-Studie - die

Empfehlung von Standards im Sinne von explizierten Normen legitimiert werden.

31 Heid 2007, 3932 Ruhloff 2007, 5333 Ruhloff 2007, 50

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Page 16: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

2. Standards als zur Erfüllung aufrufende Handlungsaufforderungen

I. Standards als explizierte Normen

Standards gelten in dieser Arbeit als mit Normen34. Jeder Standard ist eine Norm, nicht jedoch

jede Norm ist ein Standard. Standards meinen hierbei explizierte Normen und weniger

vereinheitlichte Normen. Normen sind Handlungsaufforderungen – etwa der Form “tue dies” -, die

mittels Symbolen an andere Bewusstseine gerichtet werden35. Eine Handlungsaufforderung kann

hierbei anhand eines Satzes, ebenso aber auch anhand eines singulären Zeichens vermittelt werden.

Normen können auch durch ein Kollektiv formuliert werden und Handlungsaufforderungen für die

Erfüllung bestimmter sozialer Rollen oder Praktiken artikulieren. Solange die innerhalb des

Rahmens einer sozialen Praxis geltenden Normen oder Handlungsaufforderungen befolgt werden,

gewinnt das handelnde Individuum innerhalb dieser Praxis geltende Rechte. Die geltenden Normen

sind hierbei für die handelnden Individuen kein kategorisches “Muss”, im Sinne eines

kategorischen Imperativs, sondern hypothetisch: sofern ein Individuum anerkanntes Mitglied einer

sozialen Praxis bleiben, sowie bestimmte Rechte haben will, “muss” es die geltenden Normen

befolgen. Sofern StudentInnen z.B. ein Zeugnis wollen, welches ihnen bestimmte Rechte verleiht,

“müssen” sie bestimmte Lerninhalte wiedergeben können. Sofern man das Recht will, ein Auto zu

fahren zu dürfen, “muss” man die Straßenverkehrsordnung befolgen.

Die Befolgung von Handlungsaufforderungen entspringt somit bestimmten Interessen.

Straßenschilder sind Handlungsaufforderungen, die innerhalb der sozialen Praxis “Autofahren”

Geltung haben. Sich hinter ein Lenkrad zu setzen und loszufahren, wird erst dann zur Praxis des

“Autofahrens”, wenn man sich der Einzuhaltenden Straßenverkehrsordnung bewusst ist, diese

befolgt und zudem ein Interesse damit abdeckt. Ein bewusstloses Bewusstsein am Steuer “fährt”

nicht Auto, sondern vielmehr “fährt” das Auto mit ihm. Dem Bewusstlosen fehlt das Interesse am

Autofahren - wie etwa irgendwo besonders schnell ankommen zu wollen. Damit fehlt ihm das

Interesse am Erfüllen der die Straßenverkehrsordnung definierenden Handlungsaufforderungen.

Ebenso jedoch fehlt dem Bewusstlosen die Fähigkeit die geltenden Normen anzuerkennen und

bewusst einzuhalten. Wo dieses Bewusstsein fehlt, kann nicht von Regelbefolgung die Rede sein36.

Würde dessen Körper aus Zufall die Bremse aktivieren und das Fahrzeug vor einem Stoppschild

zum Halten bringen, wäre dies nicht ein Akt der bewussten Anerkennung und Einhaltung einer

34 Klieme 2003, 3135 Dux 2000, 31336 Searle 1995, 146

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Page 17: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Norm aus Interesse.

II. Der normative Gehalt von Deskriptionen

Hierbei wird Handlungsaufforderung sehr weit gefasst und umfasst neben offensichtlichen

Präskriptionen, die Sanktionen androhen, auch deskriptive Äußerungen - sofern diese auch an

andere Bewusstseine gerichtet sind. Selbst eine bloß deskriptive Äußerung wie “heute regnet es den

ganzen Tag.” hat normativen oder handlungsauffordernden Charakter in mindestens zweierlei

Sinne. Sie beschreibt nicht nur das Wetter, sondern - sofern sie an ein anderes Bewusstsein gerichtet

ist - artikuliert auch die implizite Aufforderung über das Wetter, und nicht über etwas anderes zu

sprechen. Zudem jedoch stellt sie den Anspruch, und dies ist ihr zweiter normativer Gehalt, dass so

über das Wetter nachzudenken sei, wie vorgemacht wurde. M.a.W. wird impliziert, dass dies eine

richtige und legitime Form des Nachdenkens über das Wetter sei. Die Deskription lässt sich in

folgende Präskriptionen aufbrechen: “denke mit mir gemeinsam über das Wetter nach!” sowie

“denke auf die von mir vorgemachte Weise über das Wetter nach!”.

Auch in diesem deskriptiven Beispiel werden Interessen ausgedrückt. Die bloße Deskription

des Wetters drückt das Interesse über das Wetter zu sprechen aus, ebenso wie das Interesse, das

Wetter richtig beschrieben zu haben. Diese Verbindung von Handlungsaufforderung und

Erwartungshaltung, dass dieser entsprochen werden solle, um bestimmte Interessen zu decken,

interessiert am Begriff der Norm in dieser Arbeit. Die Deskription selbst drückt das Interesse aus,

dass das angesprochene Bewusstsein die vermittelte Information und das Thema für sich relevant

oder bedeutsam werden lassen solle37. Wie Dux treffend feststellt, wird nicht nur gesagt, was getan

werden solle - über das Wetter nachzudenken - sondern zudem auch, dass es getan werden solle38.

In dieser impliziten Aufforderung, dass die eigenen Interessen respektiert werden, liegt das Sollen

der bisher behandelten Normen39.

Wenn das mit dieser - zum Mithandeln auffordernden - Deskription angesprochene

Bewusstsein nicht auf die Aufforderung eingeht - indem es weder widerspricht, noch bejaht oder in

irgend einem Sinne zum Ausdruckt bringt, verstanden zu haben, was gesagt wurde -, droht ihm

zwar im Gegensatz zu einer institutionalisierten sozialen Praxis keine Sanktionsmaßnahme, ist

37 Dux 2000, 31338 Dux 2004, 23539 Dux 2004, 85

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Page 18: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

jedoch auf Seiten des sprechenden Bewusstseins ein Zeichen dafür, nicht verstanden oder mit

Absicht ignoriert worden zu sein. Dieses Nichtnachkommen der Handlungsaufforderung wird

jedoch nicht bloß faktisch zur Kenntnis genommen, sondern hat - wie im nächsten Kapitel zu zeigen

sein wird - auch Konsequenzen für das Selbstgefühl der Handlungsaufforderungen missachtenden

Personen.

III. Handlungsaufforderungen existieren nur vor einem “Background” anderer

Handlungsaufforderungen

Die Zeichen, welche die innerhalb der sozialen Praxis gültigen Normen repräsentieren,

können von ihrer normativen Funktion auch aufgehoben werden: zu Großereignissen gelten an

bestimmten Stellen Stoppschilder nicht mehr, weil innerhalb eines bestimmten Bereichs die soziale

Praxis des Autofahrens “aufgehoben” wurde. Diese Beobachtung plausibilisiert, dass Normen nicht

unabhängig von einer sozialen Praxis Geltung haben. Ebenso ist die Aussage, dass es regne, nur vor

dem “Background”40 anderer, gemeinsam geteilter Fähigkeiten, Wissensbestände, Interessen und

Praktiken verständlich.

Umgekehrt gilt aber, und hier liegt die Relevanz des Gesagten für die weitere Diskussion,

dass es keine soziale Praxis ohne Normen - im Sinne der Handlungsaufforderung - geben kann.

Handlungsaufforderungen definieren soziale Praxis. Sie drücken einerseits Interessen aus;

andererseits, wie etwas “richtig” getan wird, sodass diesen Interessen entsprochen wird. Auch die

im Fallbeispiel thematisierte institutionalisierte soziale Praxis des Studierens wird m.a.W. über

Normen - in dem hier verwendeten Sinne - konstituiert. Normen drücken dabei einerseits aus, was

bedeutsame Themen der inneruniversitären Auseinandersetzung sind, andererseits aber auch, wie

diese Themen im universitären Rahmen methodisch richtig erforscht werden sollten. Daneben

werden diese Normen – sofern es sich um offizielle Normierungen der sozialen Praxis des

Studierens handelt - von Sanktionsmaßnahmen als auch Statusfunktionen41 begleitet.

40 Searle 1992, 17941 Searle 2004a, 74

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Page 19: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

3. Institutionalisierte Räume als immer schon vornormierte Räume

I. Insitutionlisierte Räume sind immer schon durch Institutionen vornormiert

Für jede soziale Praxis gilt, dass sie durch Normierungen oder zu erfüllende

Handlungsauffoderungen erst konstituiert wird. Das sind all jene “Aufforderungen”, die den an der

sozialen Praxis teilnehmen wollenden Individuen nahe legen, was innerhalb der Praxis tunswert ist,

sowie, wie es getan werden “soll”. Das “Soll” ist hierbei, wie bereits dargelegt wurde, ein

hypothetischer Imperativ. Erst über derartige Handlungsaufforderungen entsteht soziale Praxis und

ein gemeinsamer Gegenstand, an den aus einer gemeinsamen methodischen Perspektive heraus

Annäherung stattfindet. Die Annäherung an den gemeinsamen Gegenstand gilt als innerhalb der

Paxis “Sinnvolles”. Werden diese Normen zudem versprachlicht sowie deren Erfüllung zur

offiziellen Bedingung der Teilnahme an dieser Praxis gemacht, wird die Praxis institutionalisiert.

Ein Bruch gegen das “Was” und “Wie” hätte Sanktionen zur Folge.

Im Falle institutionalisierter Räume, wie dem universitären Unterrichtsraum, der im

Fallbeispiel der Einführung skizziert wurde, müsste es sich nach dem Dargelegten um einen durch

die Institution immer schon vornormierten Raum handeln, obwohl betont wurde, dass in der

Lehrveranstaltung sehr schwache offizielle normative Vorgaben gemacht wurden. Im Folgenden

sollen einige implizit geltende durch die Institution eingesetzte Normen expliziert werden.

Eine derartige Norm war etwa die Rollenverteilung im Unterrichtsraum - dass Lehrpersonen

unterrichten und StudentInnen währenddessen zuhören “sollten”. Hierbei gab es Normen, die an die

Lehrpersonen selbst gerichtet waren, und andererseits auch Normen, die - vermittelt über die

Lehrperson - an die StudentInnen gerichtet waren. Hätten sowohl Lehrperson als auch StudentInnen

gegen diese in jeder Lehrveranstaltung implizit geltenden, dennoch offensichtlichen Grundnormen

verstoßen, hätten sie mit Sanktionsmaßnahmen rechnen müssen. Auch wenn dies nicht in jeder

Lehrveranstaltung ausdrücklich explizit gemacht wird, ist der Hörsaal nicht der soziale Ort, an dem

gemeinsam musiziert wird. Hätten StudentInnen oder der Lehrveranstaltungsleiter gegen diese

unausgesprochene Norm verstoßen, wäre den Beteiligten ohne lange Legitimation aufgefallen, dass

hier von den jeweiligen - gegen die Normen verstoßenden - Personen etwas grundsätzlich nicht

verstanden wurde und “falsch” gemacht wird.

Neben dieser Norm der Rollenverteilung gab es auch subtilere, von der Institution

vorgegebene, Handlungsaufforderungen. Im Vorlesungssaal z.B. war die höchste implizite und

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Page 20: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

zudem u.U. auch unbewusste42 Norm das Wissen. Während der unterrichtete Inhalt selbst, wie beim

obigen Beispiel der bloßen Deskription des Wetters, normfrei scheinen und bloße physikalische

Abläufe zum Thema haben kann, ist er dennoch normierend. Der Inhalt beschreibt nicht nur

sondern macht zugleich vor, wie etwas “Bedeutsames” auch “richtig” erschlossen wird. Im

“bloßen” Unterricht findet die Handlungsaufforderung statt, was in den Blick genommen werden

und wie dies geschehen “soll”, sodass hierbei Wissen produziert wird. Wissen ist an der

Bildungsinstitution Universität unhintergehbares “Soll” oder Interesse, welches über das Erfüllen

bestimmter Handlungsaufforderungen realisiert wird. Wenn die Normen dabei von StudentInnen

eingehalten werden, ist dies Indikator dafür, dass sie “verstanden” haben und selbst in der Lage

sind, Wissensinhalte zu generieren. Der Vorgang des Wissenschaftens selbst unterliegt - ebenso wie

die Lehre des Wissenschaftens - bestimmten Normen oder Handlungsaufforderungen, wie etwas

getan werden soll, sodass Wissen dabei entsteht oder Wissenschaft betrieben wird.

II. Durch den Lehrveranstaltungsleiter vorgenommene Normierungen

Die in der Einführung geschilderte Lehrveranstaltung unterlag einerseits der

institutionalisierten Norm, dass Wissen über einen bestimmten Gegenstand auf bestimmte Weise zu

generieren sei und zugleich der Vorgang des Wissenschaftens vermittelt werden solle. Neben dieser

institutionellen Normierung, fanden aber noch weitere Normierungsprozesse statt. Eine derartige

Norm wurde vom Lehrveranstaltungsleiter in den Raum gebracht. Lehrpersonen, welche einerseits

die Einhaltung der von der Profession vorgegebenen Minimalnormen zu überprüfen haben, haben

gegenüber den StudentInnen - dank ihrer Statusfunktion - den Freiraum, eine offizielle normative

Ausgestaltung ihres Unterrichts vornehmen zu dürfen, sofern diese nicht gegen die von der

Institution vorgegebenen Normen verstoßen. Sie können Normen formulieren, welche nicht im

Studienplan unmittelbar vorzufinden sind. Eine derartige Norm war in der genannten

Lehrveranstaltung die Handlungsaufforderung, sich Wissensbestände selbst zu erschließen.

Norm war diese Handlungsaufforderung insofern, als sie als implizit sinnvolle und

befolgenswerte oder bedeutsame galt, wenn auch keine offiziellen Sanktionsmaßnahmen bei deren

Nichtbefolgung angekündigt waren. Diese Sinnhaftigkeit der Handlugsaufforderung fand im

“Elitebegriff” Ausdruck. Nicht umsonst - diese Vermutung wurde auch im Forum geäußert - wurde

42 Die Unterscheidung unbewusst/implizit wurde in der genannten Lehrveranstlatung vom Lehrveranstaltungsleiter eingeführt.

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Page 21: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

der explizit wertende Begriff “Elite” auf diejenigen StudentInnen angewandt, welche der

Handlungsaufforderung der aktiven Teilnahme über Diskursbeteiligung im Forum Folge leisteten.

Es stand zumindest im Interesse des Lehrveranstaltungsleiters, dass sich StudentInnen

Wissensbestände selbst erschlossen. Diese Norm wurde als Handlungsanweisung expliziert, nicht

jedoch als Norm gekennzeichnet und stand gleichzeitig in Konflikt mit der von der

Bildungsinstitution vorgeschriebenen Minimalnorm der Vermittlung von Wissensbeständen. In

diesem gegenseitigen Ausschluss von institutionalisierter und vom Lehrveranstaltungsleiter

eingeführter Norm, könnten bereits Hemmungsgefühle keimen, wie im nächsten Kapitel gezeigt

werden soll.

III. Durch die StudentInnen vorgenommene Normierungen

Dies waren aber nicht die einzigen einander ausschließendem Normen im Unterrichtsraum.

Neben dieser vom Lehrveranstaltungsleiter eingeführten Norm des selbsterschlossenen Wissens,

entstanden innerhalb des sozialen Handlungsraums der Vorlesung eigendynamisch Normierungen

aus den Interaktionsprozessen der StudentInnen selbst. Im Forum entstanden relativ schnell

“Diskursnormen”. Ohne dass hierbei etwas bewusst als Norm ausgegeben wurde, entstanden durch

bloßes Vormachen einer möglichen Denkbewegung im Forum “Vorgaben” und Aufrufe, wie über

welche Themen nachgedacht werden kann - und soll. Indem alle diese Handlungsaufforderungen,

d.h. Aufforderungen über etwas Bestimmtes auf eine bestimmte vorgegebene Weise nachzudenken,

jedoch zugleich auch den impliziten Anspruch erhoben, etwas richtig zu tun, und dieses Tun von

anderen auch ernst genommen werden solle, wurden sie zugleich auch zu Normen. In Parallele zum

Beispiel der Deskription des Wetters, die zugleich eine Präskription ist, weil die über das Wetter

nachdenkende Person ein Interesse daran hat, dass das Gegenüber ihre Meinungsäußerung

nachvollzieht und für sich bedeutsam werden lasse, fanden im Forum nicht nur deskriptive, sondern

zugleich auch präskriptive Prozesse statt. Jede Äußerung im Forum beschrieb nicht nur

Sachverhalte, sondern war zugleich auch Ausdruck eines Interesses, dass diese Beschreibung von

anderen StudentInnen zur Kenntnis genommen werden sollte. Stellungnahmen in einem Forum

ereignen sich nicht einfach, vergleichbar einem Naturereignis, sondern werden bestimmten

Interessen folgend getan.

Indem im Forum bloß deskriptiv Stellung genommen wurde, dies war der Kerngehalt des

bisherigen Überlegungen, wurde bereits präskriptiv vorgemacht, was von anderen zur Kenntnis

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Page 22: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

genommen werden und wie über einen Gegenstand “richtig” nachgedacht werden solle. Dieses

doppelte “Soll” - das “du sollst mich ernst nehmen” sowie das “du sollst zeigen, dass du so über den

Gegenstand nachdenken kannst, wie ich es vorgemacht habe, auch wenn du letztlich anders über

den Gegenstand denkst” - wurde zwar nie offiziell als Soll deklariert und schon gar nicht dessen

Nichtbefolgung sanktioniert - niemand im Forum wurde ausgeschlossen, weil er/sie einer KollegIn

nicht geantwortet oder einen Beitrag nicht gelesen hatte. Dennoch, so die Vermutung, waren die

Stellungnahmen als Präskriptionen wirksam und ihr Nichtbefolgen ging - wie im nächsten Kapitel

zu zeigen ist - vielleicht teilweise mit Unbehagen und gar Hemmungsgefühlen Hand in Hand.

Obwohl vom Lehrveranstaltungsleiter immer wieder betont wurde, dass keine

Stellungnahmen im Forum bewertet würden und jedes Posting eine Prüfungsvorbereitung darstelle,

ja sogar damit zu rechnen sei, dass in Postings aufgegriffene Themen letztlich auch zur Prüfung

kommen könnten und damit die PosterInnen die eigentliche Prüfungssituation selbst mitgestalten

könnten, nahmen die Beiträge ab und viele StudentInnen berichteten, wie in der Einführung

festgealten wurde, sich nicht zu trauen im Forum zu posten, aus Angst, “Unsinn” zu schreiben oder

nicht so gute Artikel verfassen zu können, wie andere KollegInnen. Dies mag vor dem offiziellen

präskriptiven Hintergrund, dass immer wieder betont wurde, dass jedes Reflexionsniveau und

Sprachniveau willkommen sei solle, schwer verständlich scheinen. Vor dem inoffiziellen

präskriptiven Hintergrund aber, dass jede Stellungnahme zugleich einen Anspruch auf Wahrheit

stellt, als auch darauf, ernst genommen zu werden, könnte sich das Gefühl von StudentInnen, dass

tatsächlich von ihnen - entgegen aller offiziellen Versicherungen - doch relativ hohe Reflexions-

und Artikulationsniveaus erwartet wurden, als keine bloße Projektion erweisen.

Kompetenzvorsprünge zwischen StudentInnen alleine, so die bisherige Argumentation, boten

sich in der Lehrveranstaltung als implizite Präskriptionen an, wie etwas richtig getan werden soll.

Alle Beteiligten im Forum hatten einander gegenüber Kompetenzvorsprünge verschiedener Art.

Einige StudentInnen waren besonders wortgewandt, andere besser in der ad hoc Interpretation von

Piktogrammen, andere darin, Diskurse auf den Punkt zu bringen, andere wiederum hatten besonders

intensiv über einen Begriff nachgedacht etc. Ohne Lernprozesse und Reflexionsbemühungen

konnten die im Forum artikulierten Handlungsaufforderungen nicht unmittelbar von allen erfüllt

werden, ebenso wie auch nicht alle StudentInnen ohne Vorbereitung die Abschlussprüfung positiv

abschließen konnten. Und all diese Handlungsaufforderungen, gemeinsam jenen durch die

Institution sowie den Lehrveranstaltungsleiter eingesetzten - so die Vermutung - standen in

Zusammenhang mit den geäußerten Hemmungsgefühlen.

An dieser Stelle ist nur festzuhalten, dass der Lehrveranstaltungsraum normativ “überladen”

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Page 23: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

war. Warum diese Präskriptionen jedoch als “hemmend” erfahren worden sein könnten und nicht

bloß zur Kenntnis genommen wurden, wie etwa Naturereignisse wie Steinrutsche - sofern diese das

eigene Ich oder jenes anderer Personen nicht betreffen - bloß zur Kenntnis genommen werden, soll

im nächsten Kapitel diskutiert werden.

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Page 24: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

4. Normen bieten sich zur Identitätskonsitution an

I. Die Bedeutsamkeitsbeziehung von Bewusstsein

Werte sind “interiorisierte” Normen. Dann, wenn eine Norm als Handlungsanweisung nicht

nur verstanden wird, sondern es dem handelnden Individuum ein Bedürfnis wird, diese Norm auch

zu erfüllen, d.h. dem Aufruf der Erfüllung Folge zu leisten, wird sie zu einem Wert43. Betritt man

z.B. ein fremdes Land, begegnet man einer fremden Wertewelt noch als bloßer Norm, d.h. als

Aufruf zum Handeln, welches im Interesse anderer Individuen ist. Man lernt mit der Zeit, welche

Normen oder Aufrufe es wann zu befolgen gilt, um Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden. Doch sind

diese Normen so lange nicht zu Werten interiorisiert worden, zu einem Bestandteil des eigenen Ich

geworden, als sie aus Angst vor Sanktionsmaßnahmen befolgt werden und es für die Handelnden

eigentlich “keinen Unterschied macht”, ob sie der Norm entsprechen oder sie verfehlen. Normen

sind also ein bloßer Ruf, der verstanden werden kann, jedoch mit dem Verstehen nicht notwendig

ein Bedürfnis einhergeht, dem Ruf auch - unabhängig von Sanktionsmaßnahmen - folgen zu wollen.

Sobald man jedoch beginnt sich zu schämen oder Schuld empfindet, eine Norm verfehlt zu

haben, ist sie interiorisiert worden. Und es scheint beobachtbare Tatsache, dass Bewusstseine

gegenüber dem Nichtbefolgen bestimmter Handlungsaufrufe Schuld und Scham empfinden können,

auch unabhängig davon, ob sie bei der Nichtbefolgung öffentlich beobachtet werden oder mit

Sanktionen zu rechnen haben. In Eriksons Modell der Identitätsentwicklung sind Scham und

Selbstzweifel in der Kindesentwicklung die ersten Anzeichen interiorisierter Normen44 und über

diese Bedeutsamkeitsbeziehung zu diesen Normen konstitutierter Identität. Sobald ein Kind

beginnt, ein Schamgefühl ohne Androhung von Sanktionsmaßnahmen zu entwickeln, hat es die

Normen in sein Selbstbild interiorisiert, dem es gerade nicht entspricht. Das Identitätsgefühl des

Kindes ist weiter geworden und umfasst neben seinem Vertrauen in bestimmte Bezugspersonen45

zudem auch das Gefühl, jemand bestimmer zu sein, der bestimmten Handlungserwartungen gerecht

werden kann - oder eben nicht.

Jene Normen oder Handlungsaufrufe, die zu einem Wert interiorisiert wurden, werden vom

handelnden Bewusstsein nicht bloß zur Kenntnis genommen - wie ein Bewussstsein z.B. zur

Kenntnis nimmt, dass in einem bestimmten Land andere Kleidungsvorschriften gelten -, sondern

43 Zum Begriff der Interiorisierung siehe Dux 2004, 174f.44 Erikson 1973, 87ff.45 Erikson 1973, 62ff.

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üben auf dieses eine identitätskonstitutive Funktion aus. Sofern eine Norm zum Wert interiorisiert

wurde, braucht niemand die Verfehlung der Handlungsaufforderung zu beobachten, und dennoch

wird Scham oder Schuldgefühl empfunden46.

Warum es eine derartige Beziehung zwischen Erfüllung eines Aufrufes zur Handlung, sowie

dem eigenen Selbstempfinden gibt, ist damit keineswegs geklärt. In dieser Arbeit wird lediglich als

Ausgangspunkt darauf verwiesen, dass - aus welchen Gründen auch immer - Bewusstsein immer

eine “Bedeutsamkeitsstruktur” hat, d.h. es für Bewusstseine “einen Unterschied macht”, was sie

erfahren - Bedeutsames oder Profanes - ebenso, wie es für sie “einen Unterschied macht”, ob sie

dem Handlungsaufruf des einem Bewusstsein Bedeutsamen gerecht werden können oder nicht.

M.a.W. scheint es beobachtbare Tatsache - auch wenn diese u.U. nicht näher erklärt werden könnte

-, dass Bewusstseine, sofern sie den Erwartungen eines bedeutsamen Gegenübers nicht gerecht

werden, Scham oder Hemmung empfinden.

II. Die identitätskonstitutive Funktion von Kompetenz

Nach dem bisher Dargelegten haben Individuen nicht nur Kompetenzen, sondern zugleich

auch eine Bedeutsamkeitsbeziehung zu diesen Kompetenzen47. Diese Aussage kann am je eigenen

Bewusstsein erprobt werden: sofern es für das eigene Bewusstsein “einen Unterschied macht”, ob

man hinsichtlich einer bedeutsamen Fähigkeit kompetent ist oder nicht, nimmt man Kompetenz

nicht bloß zur Kenntnis, sondern ist davon betroffen. Kompetenz, ebenso wie andere Personen,

können Bewusstsein zu einem Anliegen werden.

Eine Norm erfüllen zu können erfordert Kompetenz. Bewusstseine jedoch verfügen nicht

einfach über Kompetenzen - oder eben nicht - sondern definieren sich, sofern Eriksons Modell der

Identitätsentwicklung stimmig ist, über ihre Kompetenzen als Iche48. Subjekten ist wichtig oder

bedeutsam, über bestimmte Kompetenzen zu verfügen - nämlich jenen, die in einem

Interiorisierungsprozess zu einem Wert geworden sind. Kann das Ich diese Kompetenzen erfüllen,

erfährt es Selbstachtung49, wird es ihnen dagegen nicht gerecht, empfindet es Scham.

46 Erikson 1973, 9447 In Anlehnung an Dux’ Ausführungen über den bedeutsamen Anderen ist hier die Rede von einer Bedeutsamkeitsbeziehung zu Kompetenzen. Dux 2004, 17848 Spätestens ab dem Lebensthema des Werksinns oder der Leistung wird Kompetenz bei Erikson als identitätskonstitutiv erfahren. Erikson 1973, 98ff.49 Erikson 1973, 17ff.

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Page 26: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Vertritt das Bewusstsein dagegen gegen eine bloße Norm, erfährt es sein Ich als nicht davon

berührt. “Es macht für ein Ich keinen Unterschied”, ob es einer Norm gerecht werden kann oder

nicht, sie bleibt bloße Handlungsaufforderung, bloßer Aufruf. Höchstens die Konsequenzen des

Verstoßes gegen eine bloße Norm, könnten für das Ich einen Unterschied machen, nicht aber der

Verstoß selbst. Man denke z.B. an Erwachsene, die unter Kindern geltende Normen manchmal

durchaus nicht erfüllen können. Dennoch wird das Scheitern der Erwachsenen z.B. beim

Kartenspiel mit Kindern nicht notwendig von ihnen als Identitätsverlust erfahren. Im Gegenteil,

Erwachsene müssen oft sogar Betroffenheit und Anliegen “vorspielen”, die sie nicht erleben, um

den Kindern das Spiel nicht zu verderben. Spiel ist gerade dort ein wirkliches Spiel und kein “so-

tun-als-ob”, wenn jemand wirklich davon persönlich betroffen ist, ob er gewinnt oder verliert. Dass

m.a.W. Bewusstseine nicht nur über Kompetenz verfügen, sondern diese Kompetenz ihnen

bedeutsam ist, zeigt sich bereits im Spiel von Kindern, welche Niederlage und Sieg nicht bloß zur

Kenntnis nehmen.

III. Identität als der erschlossene moralische Raum von Bedeutsamkeitsbeziehungen

Oben war die Rede von identitätskonstitutiver Funktion von Werten. Identität meint in diesem

Zusammenhang ein zeitlich ausgedehntes Selbstgefühl50, welches über kohärente

Bedeutsamkeitsbeziehungungen konstitutiert wird. In Anlehnung an Erikson definiert Taylor

Identität als jenen moralischen Raum, innerhalb dessen einem Bewusstsein bestimmte Personen,

Probleme, Bewusstseinsinhalte oder Kompetenzen bedeutsam, wichtig sind51. Keine Identität, in

dem von hier gebrauchten Sinne, hätten Bewusstseine dann und nur dann, wenn ihnen alles ihnen

Begegnende völlig gleich-gültig wäre, d.h. einerlei wäre, ob sie wüssten oder nicht, ob sie sich

entwickelten oder nicht, kompetent wären oder nicht, Schmerz erführen oder nicht, stürben oder

nicht. Sobald es “für jemanden einen Unterschied macht”, ob er sehen kann oder plötzlich

erblindete, existiert dieser “jemand” auch schon als Identität, d.h. ein sich mit dem “sehen Wollen”

identifizierendes Bewusstsein. In diesem Sinne haben auch Tiere Identität, sofern es für sie auch

tatsächlich “einen Unterschied macht”, ob sie sich in einem Schmerzzustand befinden oder nicht.

Auf Maschinen und bloße Gegenstände dagegen, lässt sich die Formulierung des “für jemanden

einen Unterschied machen” nicht anwenden. Für eine Maschine “macht es keinen Unterschied”, ob

50 Erikson 1973, 17ff.51 Taylor 1996, 60; 67f.

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Page 27: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

sie in ihre Einzelteile zerlegt wird. Es macht höchstens für jemanden in der Welt einen Unterschied,

ob diese Maschine zerlegt würde, oder - im übertragenen Sinne - für den Aufbau der Welt, doch

gibt es keinen “jemand als Maschine”, für den die Ganzheit der Mschine einen Unterschied machte.

Die Bedeutsamkeitsbeziehung zu ihren Bewusstseinsinhalten können sich Tiere nicht

aussuchen. Menschliche Identität dagegen ist teilweise eine aktive Konstruktionsleistung. Was

einem Bewusstsein bedeutsam ist, muss dieses Bewusstsein im Laufe seiner Geschichte erst

differenzieren. Ausgehend von bestimmten vorgegebenen Bedeutsamkeitsbeziehungen, wie jener

zur Nahrungsaufnahme oder Vermeidung von Schmerz, müssen menschliche Bewusstseine jenes

das ihnen bedeutsam ist erst finden. Deshalb fasst Taylor Identität als etwas auf, das aktiv gesucht

werden muss52. Und Bewusstseine können ihre Identität gerade auch über Wissensbestände und

Könnensbestände konstituieren, dies kann aus der Beobachtung geschlossen werden, dass

Bewusstseine nicht nur wissen, sondern ihnen auch wichtig ist, zu wissen.

Bevor dem Zusammenhang zwischen Identitätsbildung und Hemmung näher nachgegangen

wird, soll jedoch ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie die Interiorisierung von Normen zu

Werten verlaufen könnte.

IV. Die “Garantenstellung” von Bezugspersonen für gelungene Identitätskonstruktion

Günter Dux legt in Anlehnung an Stern ein Modell von Interiorisierung vor. Bereits Erikson

sieht das soziale Umfeld des Kindes als unter bestimmten Bedingungen Selbstgefühl fördernd an.

Im Gegensatz zu Freud fasst er das Über-Ich nicht als eine reine Beschränkung der eigenen

Bedürfnisse auf, der sich das Ich unterwerfen muss, sondern als potenzielle Anregung für die

Entfaltung eines Selbstgefühls und Selbstachtung53. Dux spricht im Falle der nächsten

Bezugspersonen des Kindes, zu denen das Kind stark emotional unterlegte Bindungen aufbaut, von

“bedeutsamen Anderen”. Über diese Personen lernt das Kind sich selbst als bedeutsamer Anderer

zu verstehen54. Zudem übernehmen die bedeutsamen Anderen jedoch auch die Rolle der “Garanten”

gelungener Identitätskonstruktion ein. Sie vermitteln dem Kind nicht nur Kompetenzen, sondern

garantieren diesem zugleich, dass diese Kompetenzen einem gelungenen Lebensführung, einem

52 Taylor 1996, 10353 Erikson 1973, 1354 Dux 2004, 173

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Page 28: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

gelungenen Sinnentwurf dienen55.

Was bei Erikson vorgedacht, bei Dux jedoch explizit ausgesprochen wird, ist, dass

Identitätsentwicklung auf bedeutsame Andere angewiesen ist. Kinder konstruieren sich ihre

Identität oder Bedeutsamkeitsbeziehungen nicht aus reiner Abwägung nach einem

Rationalitätskriterium heraus, sondern durch Anlehnung an für sie bedeutsame Andere. Sie

übernehmen dabei nicht nur Kompetenz sondern zugleich auch die Bedeutsamkeitsbeziehung zu

Kompetenz. Kinder lernen nicht nur etwas zu tun sowie zu wissen, sondern zugleich, dass es

wichtig ist etwas zu wissen und zu können. Im bloßen Vormachen von Kompetenz bieten die

Bezugspersonen dem Kind einen sinnhaften Identitätsentwurf an. Die Bezugspersonen übernehmen,

um es nochmal in Dux’ gelungener Fomulierung zu sagen, eine “Garantenstellung” für die

Sinnhaftigkeit dessen, was Kinder von ihnen lernen.

V. Hemmungssituationen bei Nichterfüllen von interiorisierten Handlungsaufrufen

In einem inneruniversitären Forschungsprojekt gelang eine StudentInnengruppe zu dem

kontraintuitiven Ergebnis, dass selbst eine “gute” Mathematikschülerin die Interaktionen mit ihrer

Lieblingslehrerin in ihrem Lieblingsfach Mathematik als “hemmend” erfahren kann56. Sowohl die

Lehrerin als auch die Schülerin bezeichneten ihre Beziehung als positiv. Die Schülerin wurde von

ihren MitschülerInnen als Klassenbeste anerkannt und kam - zumindest während der Beobachtung -

nie in die Situation, geltenden Normen nicht gerecht geworden zu sein. Die StudentInnen

analysierten die Beobachtungen und kamen zu dem Schluss, dass die genannte Schülerin im

Mathematikunterricht Nervosität, Angespanntsein zeigte, sowie versuchte die Klasse und selbst die

Lehrerin mit ihren guten Mathematik-Kentnissen zu dominieren sowie beeindrucken.

Nach dem bisher Dargelegten könnte das zunächst kontraintuitive Ergebnis, dass gute

Schulleistungen nicht notwendig zu hohem Selbstvertrauen führen57, verständlich werden.

Angenommen, dass die genannte Schülerin die im Mathematikunterricht geltenden Normen nicht

nur gerecht werden kann, sondern diese zudem als bedeutsame interiorisiert hat, hat sie eine

identitätskonstitutive Bedeutsamkeitsbeziehung zu ihren Mathematikkentnissen und nimmt diese

nicht bloß zur Kenntnis. Nach Erikson würde sie Stolz gegenüber ihren eigenen Kompetenzen

55 Dux 2004, 17456 Datler 2003, 4857 Löw 2003, 74

Mario Spassov a0309830 28

Page 29: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Empfinden, wenn sie dagegen versagt, Scham. Gerade darauf scheinen die Beobachtungen der

StudentInnen hinzuweisen. Im Gegensatz zu einigen ihrer MitschülerInnen, welche die geltenden

Normen nicht interiorisiert haben, scheint die Schülerin nicht nur Kompetent sondern zugleich

auch von ihrer Kompetenz sowie der Bestätigung durch die Lehrerin sowie ihre MitschülerInnen

auf “schmerzlicher Weise abhängig”58 zu sein.

VI. Subjektive Bedeutsamkeitsrelationen, nicht “objektive” Leistung sind

identitätskonstitutiv

Das obige Beispiel veranschaulicht, dass Selbstgefühl nicht von “objektiver Leistung”

abhängt, sondern den subjektiv konstituierten Bedeutsamkeitsbeziehungen. Während für einige der

SchülerInnen in der genannten Klasse die Hausübung nicht gemacht zu haben, u.U. ein Gefühl des

Stolzes bergen kann, ist dies im Falle der Klassenbesten nicht der Fall. Ihr Selbstgefühl scheint -

zumindest teilweise - über ihre Bedeutsamkeitsbeziehung zu bestimmten Normen definiert, die

nicht einmal offiziell während der Mathematikstunde gelten müssen. So ist im Klassenraum keine

offizielle Norm, die Klassenlehrerin mittels eigener Kenntnisse zu übertreffen oder vor der Klasse

stets Kompetenz beweisen zu müssen. Offizielle Norm in der Klasse könnte dagegen sein, dem

Mathematikunterricht mit Bemühen zu begegnen, sowie die aufgetragenen

Handlungsaufforderungen zu erfüllen. Am Beispiel der Klassenbesten wird jedoch deutlich, dass

diese Normierungen auch überzeichnet werden können sowie identitätskonstitutive Funktion haben.

Das Dilemma der Klassenbesten ist hierbei, dass sie selbst sich Normierungen setzt, denen sie

kaum gerecht werden kann. M.a.W. ist denkbar, dass sie in ihrem Lieblingsfach, der Mathematik,

mit mehr Hemmung konfrontiert ist, als MitschülerInnen, die an nicht mehr als einer positven Note

interessiert sind, weil sie selbst sich Handlungsaufrufe stellen kann, welche uneinlösbar sind. Was

für ihr Selbstgefühl zählt, scheint nicht die objektive Leistung der Schülerin, sondern ihren je

eigenen bedeutsamen Handlungsaufrufen gerecht zu werden.

58 Datler 2003, 54

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Page 30: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

5. Ausdeutung des Fallbeispiels

I. Die Garantenstellung der Institution

Nach dem bisher Gesagten kann an dieser Stelle die Problemsituation des Fallbeispiels neu

interpretiert werden. Es wurde argumentiert, dass Identitäten nicht nur wahrheitsfähige Sätze

produzieren und über Kompetenzen verfügen, sondern - sofern sie ihre Identität über Kompetenzen

definieren - es “macht für sie auch einen Unterschied”, ob sie mit dem Gesagten richtig liegen und

kompetent sind. Einem Wert wie Kompetenz gegenüber nicht gerecht zu werden, wird dabei von

den Identitäten als persönliches Versagen empfunden und von Hemmungsgefühlen begleitet.

Identitäten nehmen nicht bloß zur Kenntnis, etwas nicht verstanden zu haben, oder das richtige

Ergebnis nicht erfolgreich im Gehirn “abgespeichert” zu haben, sondern sind auch persönlich davon

betroffen, ob sie das “Gespeicherte” wiederfinden können.

Die im Forum geäußerten Hemmungen könnten einerseits mit der Interiorisierung dieser über

die Institution geforderten und als sinnvoll “garantierten” impliziten Norm des Wissen-Sollens

zusammenhängen. Stellungnahmen im Internet werden “verewigt” und bleiben - im unterschied zur

mündlichen Kommunikation - auch über längere Zeit hinweg gespeichert und damit potenziell

kritisierbar. Die implizite Forderung nach Wissensproduktion seitens der Institution, kann zwar

einerseits neue Identitätskonzeptionen anregen, ein neues Seinsgefühl. Umgekehrt jedoch, wie in

jedem potenziell verwirklichbaren Lebensthema bei Erikson, steht dem positiven Potenzial auch das

Negative des möglichen oder reelen Scheiterns gegenüber. Gerade dann, wenn StudentInnen die an

der Bildungsinstitution geltenden Normen interiorisiert haben, werden sie Hemmungen verspüren,

wann immer sie vor der Möglichkeit diesen Normen nicht gerecht zu werden stehen. Und dies

scheint unabhängig von ihren “objektiven” Leistungen.

II. Die Garantenstellung des Lehrveranstaltungsleiters

Zudem jedoch bot sich neben dieser institutionell vorgegebenen und für die eigene Profession

als sinnvoll garantierten Handlungsaufforderung, sich bestimmte Wissensbestände anzueignen, auch

jene - durch den Lehrveranstaltungsleiter eingeführte - des selbsterschlossenen Wissens zur

Interiorisierung an. Hierbei war nicht mehr Wissen höchster Endzweck, sondern der Weg, auf dem

Mario Spassov a0309830 30

Page 31: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Wissensbestände erschlossen werden. Auch der Lehrveranstaltungsleiter übernahm eine

Garantenstellung sinnvoller Lebensführung, denn der Aufruf, sich Wissensbestände selbstständig zu

erschließen, ging implizit mit einem Sinnanspruch einher. Für diejenigen StudentInnen, die dem

Aufruf Folge leisten konnten, wurde der Begriff “Elite” ins Spiel gebracht. Im Forum wurde eine

Diskussion eröffnet, welche Interventionen gesetzt werden könnten, um alle beteiligten

StudentInnen möglichst rasch zu dieser “Elite” “aufschließen” zu lassen. Die Diskussion drehte sich

aber bald nicht mehr um mögliche Interventionen, sondern den Elitebegriff selbst. Denn einige

bisher unbeteiligte StudentInnen nahmen im Forum Stellung und “enttarnten” die Bezeichnung

“Elite” als “bewertend” und “trennend”. Dass die Forderung, andere zur Elite aufschließen zu

lassen, überaupt aufkam, wurde von diesen als das eigentliche, d.h. Hemmung auslösende Problem

angesehen. Und weniger, dass die meisten StudentInnen - aus welchen Gründen auch immer - nicht

zur Kollaboration bereit waren. Der Elitebegriff implizierte, dass allen StudentInnen eine aktive

Beteiligung im Forum bedeutsam werden solle und sie sich aus ihrer Position “bloßen” Zuhörens

herausbewegen sollten.

Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen kann dies so verstanden werden, dass der

offensichtlich wertende Begriff “Elite” einen Handlungsaufruf expliziert, der zugleich vermittelt,

dass man den Ruf interiorisieren, bedeutsam werden lassen solle. Obwohl keine offiziellen

Sanktionsmaßnahmen für “nichtelitäre” Beteiligung angedroht wurden, drückt der Begriff implizit

schon aus, dass die Handlungsaufforderung “elitär” zu werden, nicht nur im Interesse des

Lehrveranstaltungsleiters lag, sondern dies auch das Interesse der beteiligten StudentInnen werden

solle.

Wie in der Einführung erwähnt, war die Absicht der Einführung dieses wertenden Begriffes

wohl eine andere. Diese Wertung und Garantenstellung, dass es sinnvoller sei, sich kollaborativ zu

beteiligen, als “passiv” zuzuhören, wurde von StudentInnen dennoch nicht bloß zur Kenntnis

genommen, sondern bot sich zur Interiorisierung an. All jene, die von Beginn nicht zu

Kollaboration bereit waren, fanden sich plötzlich auf der Seite eines nicht als sinnvoll garantierten

Entwurfs und nicht mehr willkommen. Und all diejenigen, welche das Interesse hinter dem Aufruf

interiorisierten, standen wiederum vor der hemmenden Möglichkeit, dem Aufruf nicht gerecht zu

werden. Ähnlich dem Beispiel der klassenbesten Schülerin, kann die bloße Möglichkeit des

Scheiterns schon hemmend erfahren werden.

Mario Spassov a0309830 31

Page 32: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

III. Die Garantenstellung der StudentInnen untereinander

Auch untereinander nahmen StudentInnen Garantenstellungen ein. Kompetenzvorstrünge

wurden demnach ebenso nicht bloß zur Kenntnis genommen. Sofern KollegInnen einander als

GarantInnen anerkannten, hatten sie auch das Bedürfnis, gegenseitigen Handlungsaufrufen Folge zu

Leisten. Dies könnte erklären, wieso einige StudentInnen Hemmung äußerten, Probleme nicht

gleichermaßen differenziert andere analysieren zu können. An keiner Stelle wurde dies als offizielle

Beteiligungsvoraussetzung der Lehrveranstaltung expliziert, an keiner Stelle wurde

Wettbewerbsdenken forciert. Dennoch wurde dieser Artikulationsraum zumindest von einigen

scheinbar als Gefahr erfahren. Wenn nicht als Gefahr für die eigene Note, so dennoch als Gefahr für

die eigene Identität. Wären die StudentInnen einander völlig gleichgültig gewesen, wären derartige

Hemmungen wohl nicht aufgekommen. Umgekehrt hätten sie dann jedoch kein Interesse an einer

Beteiligung im Forum haben können.

IV. Die Unmöglichkeit der Gerechtwerdung von Handlungsaufrufen in normativ überladenen

Räumen

Sofern die Bildungsinstitution, die Lehrperson sowie die KollegInnen als GarantInnen für

gelungene Ausübung der Profession sowie gelungener Lebensführung akzeptiert werden, wird ein

Scheitern gegenüber ihren - ob impliziten oder expliziten - Handlungsaufrufen als hemmend

erfahren. Wenn Wissen zu einem Wert interiorisiert wurde, wird das nach Wissen strebende

Bewusstsein Angst vor dem Nichtwissen haben. Wenn Kollaboration zu einem Wert interiorisiert

wurde, wird das kollaborieren wollende Bewusstsein Angst vor musslungenen

Kollaborationsprozessen haben etc.

Doch waren die bisher dargestellten impliziten Handlungsaufrufe nicht nur potenziell

verfehlbar, sondern prinzipiell praktisch nicht einlösbar. Einerseits schlossen sich Handlungsaufrufe

der Institution und jene des Lehrveranstaltungsleiters teilweise gegenseitig aus. Man konnte nicht

zugleich beiden gerecht werden, sich sorgsam Wissen selbst erschließen und zugleich die

Wissensbestände der eigenen Profession abdecken. Dem kamen noch die Artikulationen der

StudentInnen hinzu, welche alle implizit den Anspruch stellten, ernst genommen und verstanden zu

werden. Bei ca. je 40 neuen Beiträgen in jeder der ersten Wochen, war dies alleine schon

uneinlösbar. Der “normativen Überladenheit” des Unterrichtsraumes, in dem verschiedene

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Page 33: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Handlungsaufrufe zusammenkamen, konnte kein einziges Bewusstsein gerecht werden; selbst jene,

die viel Zeit in die kollaborative Beteiligung investierten.

Nach dem bisher Diskutierten müssen Normen als nur Hemmungen weckende und Gefahr

bedeutende unüberwindbare Hindernisse erscheinen. Dennoch beteiligten sich an der

Lehrveranstaltung einige StudentInnen kollaborativ und wurden nicht durch überstarke

Hemmungen daran gehindert am Forum teilzunehmen. Umgekehrt ist auch anzunehmen, dass

StudentInnen die geltenden Normen tatsächlich auch gleich-gültig waren und sie sich nicht am

Forum beteiligten, weil ihnen die Lehrveranstaltung als solche nicht bedeutsam erschien. Im

nächsten und letzten Kapitel, soll jedoch die Frage aufgeworfen werden - und damit wieder an der

Forschungsfrage dieses ersten Teils angeschlossen werden -, ob nicht artikulierte Mindeststandards

eine “enthemmende” Funktion haben könnten.

Mario Spassov a0309830 33

Page 34: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

6. Explizite Normierung als Ermöglichungsbedingung von Commitment

I. Die konstruktive Freiheit von Bewusstsein: das Commitment

Das Bewusstsein ist den eigenen Identifikationen nicht völlig hilflos ausgeliefert. Es kann

zwar nicht aus reinem Willensakt heraus Bedeutsamkeitsstrukturen generieren. Dennoch kann

Bewusstsein seinen Lebensraum so einrichten, dass darin auch Orte sind, an denen es bewusst

bestimmte Bedeutsamkeitsbeziehungen “pflegt”. Diese Orte, um die Brücke zur Ausgangsfrage

nach der entlastenden Funktion von Mindeststandards aufzugreifen, sind gekennzeichnet über

eindeutige Normierungen. Es sind Orte wie der Musikraum oder das Arbeitszimmer. Betritt man

diese, gelten bestimmte höchste Normen, welche zugleich von der normativen Überladenheit der

Alltagssituation entlasten. Bewusstsein kann sich entscheiden, eindeutig normierte derartige Räume

zu betreten und den dort geltenden Handlungsaufrufen Folge leisten. Das Befolgen der

Normierungen kann Erfahrung sowie Bedeutsamkeitsstukturen - welche vor Betreten des jeweiligen

Raumes nicht unmittelbar vorhersehbar waren - generieren. Ein konstanter Übungsprozess eines

Musikinstruments z.B., kann Bedeutsamkeitsstrukturen generieren, welche dem Bewusstsein völlig

neu sind; etwa die Bedeutsamkeit des Gewahrens eines bloßen Tonintervalls.

Diese Entscheidung eines Bewusstseins, bestimmen Handlungsaufforderungen - unter

temporärem Ausschluss anderer - Folge zu leisten, soll als “Commitment” bezeichnet werden.

Institutionalisierte Räume, in denen derartig fokussierte und von anderen Handlungsaufforderungen

“entlastete”59 Praxis stattfinden kann, sind z.B. Unterrichtsräume. In diesen gelten zumindest

offiziell nicht mehr die Handlungsaufforderungen, die im Alltag Relevanz haben. Betritt eine

Lehrperson den Lehrraum, kann über kurz oder lang Stille einkehren, als Ausdruck dafür, dass die

beteiligten Bewusstseine sich auf das jeweilig gemeinsame Thema, die gemeinsame Praxis

ausrichten.

59 Schulräume als entlastende “Schutzräume” aufzufassen, wurde in in Prof. Alfred Schirlbauers Vorlesung “Didaktische Theorien” im Sommersemester 2006 angeregt. “Schutzräume” befreien der Konzeption dieser Arbeit zufolge nicht von Praxis schlechthin, sondern nur von der normativen Überladenheit der Alltagsräume. Die Begründung und nähere Definition der Begriffes „Schutzraum“ blieb dabei in der genannten Vorlesung aus.

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Page 35: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

II. Minimalnormen als Voraussetzung für Schutzräume

Um sich für ein Commitment entscheiden zu können, braucht Bewusstsein eindeutige

Handlungsaufrufe. Wer sich dem Klavierspiel “commiten” will, braucht klare, erfüllbare

Handlungsanweisungen, die nicht in einer Gleichzeitigkeit mit anderen, diesen widersprechenden,

formuliert werden. Was bisher in dieser Arbeit als “Handlungsaufruf” galt, deckt sich mit den

Autoren der PISA-Studie geforderten Bildungsstandards im Sinne explizierter erfüllbarer

Erwartungshaltungen oder Minimalnormen. Maximalnormen, wie etwa, sich selbst

Wissensbestände zu erschließen, oder gar der Aufruf, sich zu “bilden”, so die bisherige

Argumentation, können Hemmungen auslösen, die handlungsunfähig machen. Damit sollen die

Gehalte der Maximalnormen nicht in Frage gestellt werden, sondern die Frage aufgeworfen werden,

ob diese an ein endliches menschliches Bewusstsein gerichtet werden können und zugleich erwartet

werden kann, dass es diese ungehemmt bloß zur Kenntnis nimmt und auf deren Erfüllung

hinarbeitet. Wenn menschliches Bewusstsein immer schon Bedeutsamkeitsbeziehungen hat und es

“für dieses einen Unterschied macht”, ob es bestimmten interiorisierten Handlungsaufrufen Folge

leisten kann, wird es interiorisierte Maximalnormen nicht bloß zur Kenntnis nehmen sondern ihnen

gegenüber überall dort Hemmungen erfahren, wo es ihnen potenziell nicht gerecht wird.

Bisher wurde nur die entlastende Funktion von Minimalnormen diskutiert, jedoch nicht

geklärt, ob es sich hierbei um Input- oder Output-Minimalnormen handeln solle. Auch wurde offen

gelassen, ob in Unterrichtsräumen geltende Minimalnormierungen in allgemeine

“Bildungsstandards” übergeführt, d.h. in allgemein gültige und zu vermittelnde Kernkompetenzen

transformiert werden sollten. Diese Fragen bleiben in dieser Arbeit unbeantwortet, auch die im

ersten Kapitel gegen Bildungsstandards in diesem Sinne formulierten Einwände. In dieser Arbeit

wurde nicht das Ziel verfolgt, den komplexen Begriff “Bildungsstandard” zu legitimieren, sondern

jenen der Minimalnorm. Es wurde gezeigt, dass soziale Räume wie Unterrichtsräume zwar nicht

notwendig schon standardisierte, dennoch immer schon normierte Räume sind. Sofern diese

Normierungen expliziert werden, kann normative Überladung vermieden werden, die Hemmung

und Handlungsunfähigkeit auslösen kann. Wie derartige explizite Normierungen in Zusammenhang

der genannten Lehrveranstaltung aussehen könnten, soll im nächsten Kapitel skizziert werden.

Mario Spassov a0309830 35

Page 36: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

III. Differenzierung von Commitments am Beispiel der besprochenen Lehrveranstaltung

Der normativen Überladenheit des in der Einführung geschilderten Fallbeispiels, könnte über

diverse Commitment-Modi oder Teilnahme-Modi begegnet werden. Jeder Modus würde hierbei

einerseits bestimmte Interessen artikulieren und zugleich Minimalnormen formulieren, wie diesen

Interessen begegnet werden könnte. StudentInnen hätten vor der Entscheidungssituation gestellt

werden können, in welchem Commiment-Modus sie bereit wären, die Lehrveranstaltung zu

absolvieren. Folgende - an der Unterrichtssituation beteiligte - Interessen und diese artikulierende

Modi, hätten differenziert werden können:

A. Nicht-kollaborative Modi

1. Minimalmodus

Interessen: das Grundinteresse der Bildungsinstitution, bestimmte minimale Wissensbestände

zu vermitteln. Das Grundinteresse von StudentInnen, eine Lehrveranstaltung mit “Genügend”

abzuschließen, ohne kollaborative Beteiligung.

Commitment: ein sehr kurzes allgemeines Skript lernen, in welchem die

professionsbezogenen Kernmodelle bündig dargestellt werden. Diese Beteiligungsform sollte

zumindest ein “Genügend” bei der Abschlussprüfung garantieren.

Wenn StudentInnen mit den hier genannten Interessen in die Lehrveranstaltung gingen,

konnten sie diese nur mit Mühe meistern, denn die Kerntheorien kennenzulernen setzte voraus, sich

mit langen - über die Kernmodelle hinausführenden - Diskursen auseinandergesetzt zu haben. Es

gab keine offizielle Anerkennung dieses “nichtelitären” und “passiven” Commitments.

2. Maximalmodus

Interessen: das Interesse von StudentInnen, die Lehrveranstaltung mit “Sehr Gut”

abzuschließen, auch ohne kollaborative Beteiligung.

Commitment: das Skriptum lernen und zudem einen blog lernen, in dem die (unten

dargelegten) kollaborativen Prozesse anhand von Threadzusammenfassungen und

Zusammenfassungen von Artikeln aufgearbeitet werden.

Nachdem in der genannten Lehrveranstaltungen die Diskussionen im Forum bald

Mario Spassov a0309830 36

Page 37: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

unüberschaubar geworden waren, schlug der Lehrveranstaltungsleiter gegen Ende des Semesters

vor, dass StudentInnen die Rolle von Thread-ModeratorInnen übernehmen und in kurzen Artikeln

Threaddiskussionen zusammenfassen sollten. Diese Artikel sollten gegen Ende des Semesters vom

Lehrveranstaltungsleiter in einem blog zusammengestellt und öffentlich gemacht werden. Das

Projekt konnte nicht umgesetzt werden, hätte jedoch bestimmte Grundinteressen öffentlich

anerkannt.

B. Kollaborative Modi

1. Minimalmodi

Interessen: eigene kollaborative Beiträge, ohne dabei alle Kollaborationsprozesse

nachvollzogen zu haben. Die Lehrveranstaltung garantiert positiv abschließen.

Commitment: das Skriptum lernen und zudem einen Artikel anhand von Kernthesen und

einer Kontextualisierung mit den in der Vorlesung besprochenen Kernmodellen kontextualisieren.

Oder: das Skriptum lernen und eine Sammlung der besten eigenen Beiträge im Forum zur

Benotung abgeben60.

Oder: das Skriptum lernen und einen oder mehrere Forum—Threads moderieren und anhand

eines kurzen Artikels zusammenfassen61.

Das Exzerpt und die Kontextualisierung, sowie die Forumsbeiträge als auch die

Threadmoderation, könnten bei der Schlussprüfung eine Prüfungsfrage ersetzen und damit

garantieren, dass die Lehrveranstaltung zumindest positiv abgeschlossen wird.

2. Maximalmodi

Interessen: eigene kollaborative Beiträge und zudem Verantwortung gegenüber den

Kollaborationsprozessen im Forum übernehmen. Die Lehrveranstaltung garantiert positiv

abschließen und keine schriftliche Prüfung ablegen.

Commitment: das Skript lernen, einen Artikel zusammenfassen/kontextualisieruen sowie

60 Dies war Vorschlag des Lehrveranstaltungsleiters.61 Dies war Vorschlag einer Kollegin, welcher vom Lehrveranstaltungsleiter aufgegriffen wurde.

Mario Spassov a0309830 37

Page 38: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

einen oder einige Threads im Forum moderieren und anhand eines Artikels zusammenfassen.

Oder: das Skript lernen, die besten eigenen Forumsdiskussionen zur Benotung abgeben und

einen Artikel zusammenfassen/kontextualisieren62.

Oder: das Skript lernen, die besten eigenen Forumsdiskussionen zur Benotung abgeben und

zudem einen oder mehrere Threads moderieren und zusammenfassen.

Diese Form des Commitments könnte die schriftliche Prüfung zur Gänze ersetzen.

Allen diesen Beteiligungsmodi, ob Minimal- oder Maximalmodi, ist gemeinsam, dass sie erst

über klare Minimalnormen konstituiert werden. Sofern ein Commitment zu einem bestimmten

Modus eingegangen wird, findet eine offizielle Entlastung von den anderen, möglichen

Handlungsaufforderungen statt. Diese Modi stellen eine minimale Differenzierung der an der

genannten Lehrveranstaltung beteiligten Interessen, sowohl auf Seiten des

Lehrveranstaltungsleiters, der Institution als auch der StudentInnen dar, und könnten weiter

verfeinert werden. Wie eingangs erwähnt, wurden die Interessen heuristisch, anhand der im Forum

geäußerten Bedenken und persönlicher Rücksprachen mit dem Autor dieser Arbeit gesammelt und

erhoben. Dies kann nicht mehr, als eine erste Annäherung an mögliche beteiligte Interessen sein.

Es müssten zudem klare Bedingungen formuliert werden, wie die Exzerpte, Kontextualisierungen

und Moderationen aufgebaut sein müssten, sodass ein Mindestaufwand garantiert wäre. Und

inwiefern diese Modi tatsächlich eine relativ “ungehemmte” Form der Beteiligung ermöglichen

würden, müsste erst empirisch erhoben werden.

62 Der Vorschlag Forumsbeiträge eine Prüfungsfrage ersetzen zu lassen kam vom Lehrveranstaltungsleiter.

Mario Spassov a0309830 38

Page 39: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

7. Resumée

I. Die hemmende Funktion von Normen

Das bisher Gesagte sollte eine Perspektive auf die Sinnhaftigkeit von Standards in Hinsicht

auf die Milderung von Hemmungen, unabhängig von etwaiger Steigerung oder Minderung von

Leistung, darlegen. Unter Standards wurden gesollte Handlungsaufforderungen oder Normen

verstanden, die eingeteilt werden können in Minimal- Regel- und Maximalstandards. Zudem konnte

auch differenziert werden, an wen sich die Standards richten, z.B. - im Rahmen einer

Lehrveranstaltung - an StudentInnen oder Lehrpersonen. Standards wurden in dieser Arbeit nicht

gleichgesetzt mit allgemeingültigen Unterrichtsnormen, seien dies Input- oder Outputerwartungen,

sondern als Standard galten die im Lehrveranstaltungsraum expliziterten geltenden Normen, mögen

diese von Normierungen anderer Lehrveranstaltungen abweichen oder nicht. Zumindest für die

Gruppe der StudentInnen, so die Argumentation, kann die Explikation von Normen in Form

artikulierter Standards Befreiung enthemmend, wenn auch nicht notwendig leistungssteigernd sein.

Der Lehrveranstaltungsraum vor aller expliziten Formulierung von Standards, ist als

institutionalisierter sozialer Praxisraum immer schon implizit vornormiert, d.h. in ihm wurden

immer schon Handlungsaufrufe an die teilnehmenden Bewusstseine gerichtet. Impliziten Normen

haben potenziell hemmende Funktion.

Am Modell der Identitätsentwicklung von Erikson sowie am Modell der Interiorisierung von

Dux wurde gezeigt, dass Handlungsaufrufe oder Normen von Bewusstseinen zu verinnerlicht

werden können. Die Erfüllung bestimmter Handlungsaufrufe kann einem Bewusstsein bedeutsam

und damit identitätskonstitutiv werden. Sobald jedoch eine Norm interiorisiert wurde, hat sie

potenziell hemmende Funktion, da mit dem Scheitern oder der bloßen Möglichkeit des Scheiterns

gegenüber der Handlungsaufforderung auch persönliche Versagensgefühle, Scham und Zweifel

(scheinbar) notwendig einhergehen. Jede Identitätsstufe des Eriksonschen Modells weist einen

negativen, von Hemmung beladenen Pol des Versagens gegenüber der möglichen positiven

Identitätskonstitution auf. Ob dies notwendig so sein muss, wird von Erikson nicht diskutiert und

wurde auch in dieser Arbeit nicht aufgegriffen. Scham und Zweifel werden von Erikson als über

Beobachtung gestützte Prämisse eingeführt, welche in dieser Arbeit übernommen wurde. Diese

Prämisse würde jedoch erklären, wie es selbst in der Interaktion zwischen einer “guten” Schülerin

und ihrer Lieblingslehrerin, wie es am Beispiel der Klassenbesten im Mathematikunterricht

dargelegt wurde, zu Hemmungssituationen kommen kann: Hemmung ist demnach nicht unmittelbar

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Page 40: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

von der objektiv erbrachten Leistung abhängig, sondern vom interiorisierten und damit

identitätskonstitutiven Handlungsaufruf. Am Beispiel der genannten Schülerin ist der

Handlungsaufruf, die Klasse und selbst die Lehrerin durch Wissen zu dominieren, an keiner Stelle

durch die Lehrerin oder den Lehrplan offizieller Standard. Wo immer die Klassenbeste jedoch

gegen diese Norm verstößt, nimmt sie dies nicht bloß zur Kenntnis, sondern erfährt ihr eigenes

Identitätsgefühl als davon berührt.

II. Der normativ “überladene” Lehrveranstaltungsraum

Dieses Beispiel einer implizit geltenden, wenn auch nicht bewusst in den Klassenraum

eingeführten Norm, diente als Überleitung zum Versuch, das Eingangsbeispiel auf implizite

Normierungen hin zu untersuchen. Es wurde die Vermutung aufgestellt, dass in diesen gerade

aufgrund loser Normierung leicht Normierungen hineingetragen werden konnten und ihn normativ

überladen haben. Nicht nur gelten in diesem Unterrichtsraum implizit die von der Institution - wie

etwa Wissensproduktion - sowie die durch den Lehrveranstaltungsleiter in diesen Raum

hineingetragenen - wie etwa das selbsterschlossene Wissen. Auch die einzelnen StudentInnen

durften dank der losen Normierung im Forum eigene Normierungen in den Unterrichtsraum

einbringen. Bereits bloß deskriptive Stellungnahmen im Forum wurden als derartige Normierungen

gedeutet. Die Deskriptionen im Forum hatten einen mindestens zweifachen normativen

Sollensgehalt: hinter allen Artikulationen stand das Interesse (und damit das Soll), ernst genommen

zu werden, sowie das Interesse (und damit das Soll), die vermittelte Information für sich relevant

werden zu lassen.

Wo diese diversen Normierungen interiorisiert und zu Werten wurden, entstanden potenziell

Hemmungen am Ort des realen oder auch nur möglichen Versagens gegenüber der jeweiligen

Norm. Wo StudentInnen der Profession, dem Lehrveranstaltungsleiter sowie ihren KollegInnen

nicht mit distanzierter Gleichgültigkeit begegneten, gab es auch schon Hemmungspotenziale. Je

mehr und unausgewiesener die Normierungen sind, desto mehr Hemmungpotenzial hat ein

Unterrichtsraum, denn desto schwieriger wird es, den einander teilweise widersprechenden

Normierungen gerecht zu werden.

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Page 41: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

III. Normative “Entladung” des Lehrveranstaltungsraums durch explizite Normierung

Explizite Normierung des Lehrveranstaltungsraums jedoch, d.h. das Überführen von Normen

in offizielle (Teilnahme-)Standards, wurde als normativ entladend verstanden. Hierfür muss nicht

ein notwendiger Ausschluss der bisher in den Lehrveranstaltungsraum herangetragenen

Normierungen stattfinden, sondern es können unterschiedliche Teilnahme-Modi differenziert

werden. Über derartige explizit vornormierte oder standardisierte Räume, die bestimmte Formen

sozialer Praxis konstitutieren, kann Bewusstsein über Commitment Einfluss auf die ihm eigentlich -

zumindest direkt - unverfügbaren Bedeutsamkeitsstrukturen nehmen. Ein Bewusstsein kann sich

nicht entscheiden, was ihm bedeutsam und damit potenziell hemmend ist, es kann sich jedoch einer

sozialen Praxis, welche Bedeutsamkeitsstrukturen generieren kann, unter gleichzeitigem Ausschluss

und Entlastung von anderen Praktiken, “commiten”.

Diese Modi greifen zwar einerseits eine Pluralität an Normierungen auf, gleichzeitig aber

findet im Rahmen jedes einzelnen dieser Modi eine normative Entladung von den in den anderen

Modi geltenden Handlungsaufrufen statt. Jeder Modus wird dabei über bestimmte Minimalnormen

konstituiert. Werden diese nicht eingehalten, kann die Lehrveranstaltung nicht in diesem Modus

abgeschlossen werden. Erst über das offizielle Commitment an einen dieser Teilnahmemodi, ob nun

kollaborativ oder nicht, ob im Minimal- oder Maximalmodus, ob über Aufarbeitung von Artikeln

oder der Moderation von Threads, findet eine Verpflichtung gegenüber den im Modus herrschenden

Standards statt. Wird diesen entsprochen, kann nicht nur die Lehrveranstaltung positiv

abgeschlossen werden, sondern zugleich eine Entlastung von anderen im Lehrveranstaltungsraum

möglichen Normierungen.

Die Arbeit setzte mit dem Ergebnis der Diskussion um die Einführung von Bildungsstandards

ein und gelangte über einen anderen Argumentationsweg an ein ähnliches Resultat.

Bildungsstandards als explizierte Handlungsaufforderungen können demnach enthemmend wirken.

Sofern die Autoren der PISA-Studie für nach Außen hin explizierte und erfüllbare

Erwartungshaltungen plädieren, scheint diese Forderung durch diese Arbeit gestützt. Doch muss

nicht jede explizierte Norm zugleich auch standardisiert sein. Der Schritt hin zur Standardisierung

dieser Erwartungshaltungen kann aus dem Rahmen dieser Arbeit heraus weder legitimiert noch

kritisiert werden. Wie eine Explizierung von Handlungsaufforderungen im Zusammenhang mit dem

eingangs besprochenen Fallbeispiel aussehen könnte, wurde anhand der Differenzierung mehrerer

Teilnahmemodi vorgemacht. Die Teilnahmemodi stellen dabei explizierte Normen, jedoch

Mario Spassov a0309830 41

Page 42: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

keinesfalls standardisierte Teilnahmebedingungen für Lehrveranstaltungen, dar. Sofern Eriksons

Modell der Identitätsenticklung haltbar ist, müsste eine derartige Differenzierung von

Teilnahmemodi Hemmungen minimieren. Diese Vermutung müsste empirisch untersucht werden.

Im zweiten Teil der Arbeit soll diskutiert werden, ob derartige explizite Normierung nicht

neben der entlastenden, auch eine bildungsfördernde Funktion haben könnte. Um diese These zu

stützen, soll gezeigt werden, dass explizite Normierung sich zur Raumdifferenzierung anbietet und

diese wiederum bildungsfördernd sein kann. Teil II beginnt mit Ausführungen zum in dieser Arbeit

verwendeten Raumbegriff.

Mario Spassov a0309830 42

Page 43: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Teil II. Bildungsfördernde Aspekte bewusster Raumtrennung

1. Räume

I. Drittpersonaler vs. erstpersonaler Raum

In seiner phänomenologischen Annäherung an den Raumbegriff, unterscheidet Bollnow den

mathematischen vom erlebten Raum. Mathematischer Raum ist ihm zufolge homogen. Alle darin

vorfindbaren Objekte stehen in konstanten Abständen zueinander, in diesem Raum gibt es keine

unerschlossenen Bereiche, unausgefüllte Koordinatenpunkte oder dunkle Stellen. Jeder beliebige

Koordinatenpunkt im mathematischen Raum kann zum Achsenmittelpunkt des Koordinatensystems

gemacht werden, es gibt keinen absoluten Mittelpunkt des mathematischen Raums63. Man könnte

diesen mathematischen Raum als einen - von den Koordinatenachsen aufgespannten - Behälter,

oder als eine Schachtel denken, in der Objekte mittels klarer Koordinatenangaben positioniert

werden64.

Diesem homogenen Raum stellt Bollnow den erlebten Wahrnehmungsraum entgegen, welcher

einen erlebten Achsenmittelpunkt hat. Der Achsenmittelpunkt ist der Sitz des Ichs und wurde oft

von der Psychologie zwischen den Augen, direkt hinter der Nasenwurzel verortet65. Im

Wahrnehmungsraum gibt es somit ein absolutes Zentrum, einen absoluten Schnittpunkt der

Raumachsen, aus dem Heraus der wahrgenommene Raum erfahren wird. Dieser Raum wird dabei

nicht anhand von Abständen und Koordinatenpunkten aufgespannt, sondern anhand subjektiver

Abstände zwischen Begegnendem und beobachtendem Ich. Es gibt hierbei zwar Nähe und Ferne,

doch nicht im Sinne diskreter Abstände. Ebenso wie beim mathematischen Raum gibt es ein

Achsensystem, dessen vertikale Achse jedoch fällt mit der Körperachse zusammen und ist damit an

die Position des Körpers gebunden. Die anderen zwei Achsen spannen die Horizontalebene des

Erdraums auf, auf der sich das Leben der Menschen abspielt66. Der Wahrnehmungsraum lässt sich

somit in Kategorien wie “oben”, “unten”, “vertraut”, “nahe”, “fern” fassen, nicht jedoch in

absoluten Raumabständen. Eine vertraute Stelle ist in Begriffen des erlebten Raumes “näher”, als

eine unbetretene - sei diese dem Körper des beobachtenden Bewusstseins auch in objektiven

63 Bollnow 1960, 39864 Diese Raumkonzeption, so Löw, scheint Piagets Untersuchungen zur Entwicklung räumlichen Vorstellungsvermögens bei Kindern zugrundezuliegen. Löw 2001, 7865 Bollnow 1960, 39966 Bollnow 1960, 399

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Maßeinheiten “ferner”67.

Bollnow interpretierend könnte gesagt werden, dass die Unterscheidung dieser beiden

“Räume” mit der Cartesianischen Differenzierung von “res cogitans” und “res extensa“

zusammenfällt. Ebenso wie bei Descartes die res extensa, zeichnet sich der mathematische oder

drittpersonale Raum68 durch Größenangaben sowie Teilbarkeit von Strecken aus. Der erstpersonale

oder Wahrnehmungsraum dagegen, ist bestimmt über Erfahrungsqualitäten.

II. Raum als (An)Ordnung von Gegenständen

Die Unterscheidung von mathematischem und erlebten Wahrnehmungsraum könnte - in

Analogie zur Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa als zwei Substanzarten - den

Eindruck erwecken, dass es zwei unterschiedliche Räumarten gibt. In Anschluss an Martina Löw

soll jedoch hierbei nicht von zwei Räumen, sondern zwei Aspekten ein und des selben Raumes die

Rede sein. Löws Raumbegriff - ein zweiseitiges Gebilde, bestehend aus einer sozialen oder in

Terminologie dieser Arbeit erstpersonalen, sowie einer objektiven oder drittpersonalen Dimension -

wird als Grundlage für die anschließenden bildungsphilosophischen Überlegungen über den

Bildungswert explizit normierter Unterrichtsräume dienen.

Der drittpersonale Aspekt von Raum wird von Löw69 als “Ort” thematisiert, welcher eine

einmalige geographische Position hat und unabhängig von beobachtenden Bewusstseinen ist70.

Ähnlich wie Koordinatenpunkte in Bollnows mathematischem Raum, lassen sich Positionen von

Orten über Längen- und Breitengrade präzisieren. Das Positionieren von Gegenständen oder

Personen an Orten nennt Löw “Spacing”71. Der Ort ist m.a.W. das Ziel einer Platzierung oder eines

Spacings72. Die platzierten Gegenstände sind jedoch - im Unterschied zu jenen im mathematischen

Raum - keine “reinen” Objekte, d.h. von allem Bewusstsein gereinigt. Wenn Löw von

Gegenständen spricht, die an Orten positioniert werden, meint sie damit generell sinnbeladene

Objekte, d.h. bedeutsame Personen, Gegenstände oder Handlungen. Diese platzierten Objekte sind

67 Bollnow 1960, 40968 Zur Untercheidung erst- und drittpersonaler Ontologie siehe Searle 2004, 6869 Löw verwendet hierbei nicht die terminologische Unterscheidung erst- und drittpersonaler Perspektive.70 Löw 2003, 121; Löw 2001, 22471 Löw 2001, 15872 Löw 2001, 224

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Page 45: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

somit nie drittpersonal, bloß ausgedehnt und bewegte Gegenstände, definiert über

Raumkoordinaten73. Die jeweils positionierten Objekte haben stets auch subjektive Kategorien der

Bedeutsamkeit, d.h. symbolischem Charakter74. Die Verknüpfungen dieser sinnbeladenen Objekte

zu Sinninseln nennt Löw “Syntheseleistung”75.

Damit will Löw jedoch nicht einen “objektiven” Raum einem “subjektiven”, erfahrenen Raum

gegenüberstellen, wie etwa Bollnow unterstellt werden könnte. “Orte” sind für Löw der objektive

Aspekt von Räumen76. Diese Konzeption von Räumen als zweidimensionale Gebilde, bestehend aus

objektivem Ort sowie subjektiver Syntheseleistung von sinnbeladenen Gütern, lässt sich in der

Terminologie erst- sowie drittpersonaler Perspektive auf Raum rekonstruieren, und durch den

Nachdruck auf “Perspektive” schon in der Terminologie eine Vergegenständlichung von Aspekten

vermeiden. Indem Löw von “Orten” sowie platzierten “Objekten” spricht, bietet sie die ontologisch

dualisierende Sprache des Descartes an, die sie zu vermeiden sucht77. An einer ontologisch

dualisierenden Sprache ist nicht einzuwenden, dass sie Differenzierungen vornimmt, wie jene, dass

Gegenstände hinsichtlich der Extension (reine Gegenstände der Naturwissenschaft) gedacht werden

können und andere hinsichtlich ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit (Gegenstände des Bewusstseins).

Auch Löw differenziert Spacing und Syntheseleistung, trennt aber deren Bezugsobjekte nicht

ontologisch. Der Schritt zur Ontologisierung der Gegebenheitsweise von Objekten zu Objekten

jedoch, der Schritt hin zur These, dass es Objekte gäbe, die “nichts anderes als bloß ausgedehnt”

wären, und andere, die “nichts anderes als bloß unmittelbar erfahren” seien, übersieht die

Möglichkeit, dass es sich hierbei nicht um zwei Objekte handeln könnte, sondern um dasselbe

Objekt, betrachtet aus erst- oder drittpersonaler Perspektive. Mit Kant gesprochen, könnte es sich

um zwei verschiedene Objekte der Anschauung78 handeln, die auf ein “Objekt an sich” bezogen

sind.

Räume sind nie bloß drittpersonale homogene Objektanordnungen, wie der mathematische

Raum. Dieser stellt eine Idealisierung der Anschauung dar79. Ebensowenig jedoch sind Räume bloß

erstpersonal, über reine subjektive Nähe und Distanzerfahrungen und Sinninseln definiert80, sondern

anhand (An)Ordnung von (sinnbeladenen) Objekten und Handlungen an bestimmten Orten.

73 Löw 2001, 4674 Löw 2001, 15375 Löw 2001, 15976 Löw 2001, 1577 Zu Löws Ablehnung des Substanz-Dualismus siehe ihre Ausführungen über die Entstehung des Dualismus von Geist und Körper. Löw 2001, 11878 Kant KdrV, B 3379 Löw 2001, 265; 2003, 12480 Löw 2001, 113

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Page 46: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

(An)Ordnung soll Löw zufolge betonen, dass die Syntheseleistung, die Verknüpfung der Objekte,

nicht völlig willkürlich geschieht, sondern diese dem Bewusstsein als immer schon vor- oder bereits

angeordnete begegnen. Die Handlungsdimension des Anordnens von Objekten durch das

individuelle Bewusstsein, sowie die Tatsache, dass Bewusstsein Objekte schon sozial vorgeordnet

an Orten vorfindet, fallen hierbei zusammen81. Ein Beispiel derartiger Anordnung von Objekten, die

vor dem individuellen Bewusstsein geleistet wurde, sind Institutionen82. Diese geben

Syntheseleistung und Spacing teilweise vor, wie etwa der Richtersaal, in dem Bundesweit praktisch

identisches Spacing und Syntheseleistung vorliegt und RichterInnen und Angeklagte die selbe Rolle

zueinander einnehmen83.

Bewusstsein muss Syntheseleistung nicht selbst aus dem Nichts hervorbringen, sondern baut

seine eigenen Ordnungen immer schon auf Anordnungen von symbolischen Objekten auf, die ihm

gesellschaftlich vorgegeben werden. Hierin liegt nach Löw die soziologische Relevanz dieses

Raumbegriffs, der ihr zufolge bei anderen Soziologen wie Giddens, Luhmann, Schütz oder

Bourdieu nicht zur Geltung kommt84. Dennoch übernimmt Bewusstsein - oder, wie Löw formuliert,

das “Subjekt” - diese Anordnungen nicht einfach, sondern ordnet die Objekte auch nach eigenen

Reflexionsprozessen um85. Diese Doppelstruktur von bereits angeordneten Objekten sowie der

Ordnungsleistung, welche durch das individuelle Bewusstsein geschieht, erlaubt die Vorstellung,

dass an einem Ort zugleich mehrere Räume - durch individuelle Anordnungsleistungen der

singulären Bewusstseine - entstehen86.

III. Relativer vs. absoluter Raum

In ihrer historischen Herleitung des Raumbegriffs unterscheidet Löw absolute von

relationalen Raumvorstellungen87. Sie sieht im Newtonschen oder auch Cartesischen Raumbegriff,

welche beide über diskrete Abstände in einem Koordinatensystem definiert sind, absolute

Raumbegriffe, die Raum als Art unveränderbaren, schuhschachtelförmigen Hintergrund, Behälter

81 Löw 2001, 13182 Löw 2001, 16383 Löw 2001, 16484 Löw 2001, 41ff.85 Löw 2001, 18786 Löw 2001, 13187 Löw 2001, 17ff.

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Page 47: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

oder “Container” fassen, innerhalb dessen Objekte eindeutig in Relation gestellt werden können,

und nicht von ihm beeinflusst sind88. Ähnlich spannt das Koordinatensystem, welches

Veranschaulichung dieses absoluten Raumes ist, mittels dreier Raumachsen einen kubischen

“leeren” Luftraum auf, in dem Objekte anhand von Koordinatenpunkten eindeutig positioniert

werden. Dieser Raum selbst wird als unabhängig von den darin positionierten Objekten gedacht.

Löw sieht diese Raumvorstellung als von einer relativistischen abgelöst, in der Raum nicht als

Behälter gedacht wird, sondern durch die Objektrelationen selbst konstituiert wird89. Das Verhältnis

von Objekten spannt den relationalen Raumbegriff auf, der im Gegensatz zum absoluten Raum auch

“Krümmungen” aufweisen kann. Je nach der Bewegungsgeschwindigkeit der Objekte zueinander,

variiert auch deren absolute Ausdehnung90. Dies lässt sich im Koordinatensystem, welches einem

Cartesischen, die Anschauung idealisierenden Denken entsprungen ist, nicht abbilden. Die

relativistische Raumvorstellung dagegen, so Löw, eignet sich, um ihre Raumkonzeption darauf

aufzubauen, in der Objekte nicht in klaren Abständen zueinander stehen, sondern vielmehr vom

Subjekt, dem Beobachtungsstandpunkt, abhängen.

Während Löws Raumbegriff für diese Arbeit praktisch unverändert übernommen wurde, gilt

dies nicht für ihre Herleitung des Begriffes. Löw differenziert nicht klar genug zwischen dem

Begriff eines Beobachters in phänomenologischem sowie physikalischem Sinne. Während der

phänomenologische Beobachter jene Stelle hinter der Nasenwurzel einnimt und stets ein

beobachtendes Bewusstsein oder Subjekt ist91, meint Beobachter in physikalischem Kontext ein

“reines” Objekt, welches in Messrelation zu einem anderen “reinen” Objekt steht. Durch die

Äquivokation von “Beobachter” entsteht bei Löw die Vieldeutigkeit, dass Relativität von Raum -

auf die sie besteht92 - bei ihr einerseits bedeuten kann, dass die raumkonstituierenden Objekte

zueinander in Relation stehen, oder, dass die Objekte immer schon durch ein Bewusstsein oder

Subjekt in eine Relation gebracht werden. Für diese Arbeit interessiert lediglich die letztere These,

die konsistent aus einem Cartesischen Anfangsstandpunkt entwickelt werden kann, auch ohne

Rekurs auf Relativitätstheorie.

Durch ihren Rekurs auf Relativitätstheorie, scheint Löw Objekt-Objekt und Subjekt-Objekt

Beziehungen nicht zu differenzieren. Sie argumentiert, dass sich die Wandlung der klassisch

“absolutistisch” Newtonschen Objekt-Objekt-Relation93 hin zu einer “realtivistischen”, wie in der

88 Löw 2001, 18ff.89 Löw 2001, 3290 Löw 2001, 3291 Für diese Arbeit reicht eine Gleichsetzung von Subjekt und Bewusstsein.92 Löw 2001, 13193 Löw 2001, 14

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Page 48: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Relativitätstheorie94, dafür anbiete, Raum nicht mehr als über ein Koordinatensystem absolut und

vom Beobachtungsstandpunkt unabhängig geordnet zu verstehen, sondern vielmehr in Graden der

Entfernung vom eigenen Beobachtungsstandpunkt. Dieser Rekurs auf die Relativitätstheorie ist

jedoch für den Raumbegriff dieser Arbeit nicht nötig, weil diese Beobachter im Sinne eines

Beobachtungssystems versteht, in dieser Arbeit dagegen vom phänomenologischen oder

erstpersonalen Beobachter die Rede sein wird.

Diese kurze Anmerkung sollte plausibilisieren, dass Löws Raumbegriff konsistenter über die

Cartesische Raumkonzeption hergeleitet werden kann, als über die Relativitätstheorie, denn bei

Descartes ist die Subjekt-Dimension zumindest mitgedacht - auch wenn er an keiner Stelle die res

cogitans versucht mittels Theorie zu erschließen. Descartes ontologisiert zwar drittpersonale

Perspektive zu “Raum als ausgedehnten”, ebenso wie das ego cogito - indem er von “res” cogitans

sowie “res” extensa spricht, d.h. von “Sachen”, die erfahren und “Sachen”, die bloß ausgedehnt

sind. Im Unterschied zur Relativitätstheorie, wird bei Descartes jedoch der phänomenologische

Beobachter, der Standpunkt des Bewusstseins hinter der Nasenwurzel, nicht auf ein reines Objekt

reduziert. Über Bewusstsein sagt Relativitätstheorie nichts aus, das Bewusstsein soll jedoch in den

folgenden Kapiteln Gegenstand der Untersuchung dieser Arbeit sein.

94 Löw 2001, 23

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Page 49: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

2. Räume als Veräußerlichung von Bewusstsein

I. Raumstrukturen spiegeln Bewusstsein wieder

Bollnow fasst Räume als Spiegelungen der Strukturen von Bewusstsein. In den Anordnungen

von Gegenständen spiegeln sich die Strukturen des die Gegenstände anordnenden Bewusstseins

wieder. Ein derartiges Strukturmerkmal von Bewusstsein ist die bestimmende Mitte, ein innerer

“Ort”, an dem der Mensch “zuhause” ist95. Das ist ein weit verbreitetes theologisches Motiv, das

Motiv des gefallenen Menschen, welcher dieses “Zuhause” erst finden muss. Erst in seiner

bestimmenden Mitte, im “Zuhause”, findet das Bewusstsein einen Ruhepunkt und Geborgenheit96.

Bollnow charakterisiert diese innere Mitte des Menschen nicht näher. Das im Raum verortete Haus

jedoch, ist für Bollnow verräumlichtes Symbol dieser inneren Mitte. Der Innenraum des Hauses ist

dem ihn bewohnenden Bewusstsein Heiligtum oder Tempel und repräsentiert die bestimmende

Mitte des Menschen97. Durch etymologische Anspielung auf das lateinische “templum”, weist

Bollnow darauf hin, dass hiermit das “Herausgeschnittene” gemeint ist98. Das Haus “schneidet”

einen vertrauten Innenraum von einem unvertrauten Außenraum mittels Wände ab. Alles

Bewusstsein bewegt sich zwischen vertrautem Innenraum und fremdem Außenraum. Die innere

Struktur von Bewusstsein wird m.a.W. an der äußeren Struktur des Hausbaus ersichtlich. An der

Ausdeutung des Hausbaus, kann sich Bewusstsein selbst zum Thema machen.

Das Fremde wiederum, so Bollnow, erschließt sich das Bewusstsein über vereinzelte Wege

oder Pfade. Straßen, welche am vertrauten Innenraum des Hauses anschließen, führen das

Bewusstsein nicht unmittelbar in das Fremde, sondern in ein noch teils Vertrautes der unmittelbaren

Nachbarschaft. Und wo auch diese auf Wegen verlassen wurde, bewegt sich das Bewusstsein noch

in der teils vertrauten “Heimat” und nicht einem völlig Fremden99. Über das Vorvertraute, erschließt

sich Bewusstsein das Fremde. Dabei ist das Bewusstsein auf Ordnungen angewiesen. Es schafft

sich Raum, Weite, indem es - hier verweist Bollnow auf Heidegger - Auftauchendes “einräumt”100,

ihm einen Platz zuweist. Die menschliche Zwecksetzung objektiviert sich an räumlichen

Strukturen101. Nicht nur diese, nicht nur die bewussten Absichten schlagen sich in der

Raumgestaltung nieder, sondern, so würde auch Löw zustimmen, auch unbewusste Motive. Die

95 Bollnow 1960, 40096 Bollnow 1960, 40197 Bollnow 1960, 40298 Bollnow 1960, 40299 Bollnow 1960, 405100 Bollnow 1960, 407101 Bollnow 1960, 408

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Page 50: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Soziologie hat es Löw zufolge nach Giddens gerade damit zu tun, unbewusste Handlungsstrukturen

aufzudecken, durch die Analyse der Objektivationen von Bewusstsein102.

Der Schweizer Kulturphilosoph Jean Gebser macht sich diese hermeneutische, verborgenen

Sinn oder Bewusstseinsstrukturen entbergende Methode zunutze, um nicht nur vereinzelte Objekte,

sondern ganze Landschaften von Objekten, d.h. erschlossene Symbolkulturen, zu deuten. Gebser

deutet dabei nicht nur Architektur und Kunst, sondern auch Wissenschaft, Sprachformen, jede Form

von Objektivation, auf deren dahinterliegende Bewusstseinsstruktur hin aus. Für Gebser z.B. ist die

Wende hin zu Hausbau, bei dem Innenraum und Außenraum durch große Glasflächen miteinander

verbunden werden, ein Ausdruck für die Entstehung eines a-perspektivischen Bewusstseins,

welches sich über Selbst-Transparenz auszeichnet. Hierbei liegt eine zweifache Öffnung vor: das

Bewusstsein öffnet sich selbst gegenüber anderen Bewusstseinen, verbirgt sich nicht hinter kleinen

Fenstern, wie sie gerade im Mittelalter üblich waren. Andererseits aber sieht es durch diese weiten

Glasflächen auch in die Welt:

“Eine stärkere Form der Überwindung des einstigen Dualismus Innen:Außen läßt sich kaum

denken, denn hier wird sie im privatesten Bereich des Menschen, seiner Wohnung, geleistet; die

Abkapselung, die Isolation wird aufgegeben; der Mensch beginnt im Offenen nicht nur zu denken

und zu musizieren, sondern auch zu leben und zu wohnen”103.

Einen anderen Fokus als Gebser und Bollnow legt Foucault. Diesem geht es um die

Wiederspiegelung von Machtstrukturen in Raumstrukturen sowie deren Reproduktion durch

Anpassung an Raumstrukturen. Foucault wird hierbei oft mit seiner Analyse des Klassenzimmers

als Raum, der die darin geltenden Machtstrukturen äußerlich abbildet, zitiert: Die Bänke der

LernerInnen sind in Richtung der einen Bank der UnterichterInnen hin ausgerichtet. Es wird von

Beginn klargestellt, wer spricht und wer zuhört. In vielen Klassenräumen ist die Bank der

Unterichtenden zudem auf einem Podest montiert und somit von der gleichgemachten Schar an

ZuhörerInnen klar qualitativ herausgehoben. Dadurch wird ebenso wie an den Toiletten, in denen

Kopf- und Bein-Bereich durch Halbtüren sichtbar bleiben, Kontrolle ausgeübt, nicht angepasstes

Bewusstsein aussortiert und in hierarchische Strukturen gezwungen104. Ebenso wie bei Gebser und

102 Löw 2003, 11103 Gebser 1992, 624104 Löw 2003, 40ff.

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Page 51: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Bollnow werden bei Foucault durch die hermeneutische Analyse von Raumstrukturen unbewusste

Strukturen von Bewusstsein aufgedeckt. Bewusstsein oder Subjekt wird dabei auch bei Foucault, so

Löw, nicht durch die Analyse der Raumordnungen aufgelöst, sondern selbst zum Gegenstand der

Diskurse105.

II. Räume werden über Normen konstituiert

An dieser Stelle ist die Beziehung zwischen Normen und Raum, wie er bisher definiert wurde,

näher zu klären. Räume werden erst über Normen konstituiert. Das wird in Löws Konzeption von

Raum nicht auf erstem Blick ersichtlich, denn sie spricht von Syntheseleistung von Gütern und

Handlungen, die an Orten durch Spacing positioniert werden, der Begriff der Norm kommt hierbei

jedoch nicht vor. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass der Begriff der Norm, wie er in Teil I

gefasst wurde - als auf Erfüllung bestehender Handlungsaufruf -, bereits im Begriff des “Guts” oder

der “Objekte”, welche in Syntheseleistungen zueinander in Relation gestellt werden, enthalten ist.

Wie bereits angedeutet, versteht Löw Güter und Objekte nicht als reine, sondern als mit Sinn

versehene soziale Güter. Diese Spiegeln nicht nur Bedeutsamkeitsbeziehungen, d.h. was einem

Bewusstsein wichtig ist, sondern stellen auch implizite Handlungsaufforderungen, wie mit ihnen

“richtig” umzugehen sei. Es sei an die Ausführungen über den präskriptiven Gehalt von

Deskriptionen in Teil I erinnert. Nicht nur Deskriptionen, sondern auch sinnbeladene Objekte haben

normativen Gehalt.

Im Rahmen eines Schulraums z.B., trägt ein Bleistift die inhärente, auf Erfüllung bestehende

Handlungsaufforderung - und damit Norm - in sich, dass er - in “richtiger” Verwendung - zum

Schreiben oder Zeichnen zu verwenden sei, nicht jedoch für andere Zwecke. Die “Klassentafel”

trägt die Handlungsaufforderung in sich, fachlich Bedeutsames darauf zu exponieren; die

Schulbank, darauf fachlich relevante Notizen zu verfassen; der Stuhl, darauf “ordentlich” zu sitzen.

Freilich können diese Objekte sich auch für andere Handlungen anbieten und werden auch für

andere Handlungen gebraucht, doch weisen schon die besonderen Formen dieser Gegenstände auf

deren inhärente Normierungen: eine Schultafel unterscheidet sich deutlich in ihrer Form von

Spieltafeln, auf denen Kinder nach Belieben zeichnen können; ebenso die Schulbank, welche kein

bloßer Tisch ist; und die Sitzgelegenheit, welche kein bloßer Stuhl oder gar Sessel ist. Schulbänke

105 Löw 2001, 150

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Page 52: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

stehen in Schulen und nicht in Wohnzimmern. Und wenn sie im Wohnzimmer stünden, würden sie

eine andere Atmosphäre verbreiten als ein Schreibtisch. Allein die Objekte in einem Schulraum -

ebenso wie deren Anordnung - deutet auf eine inhärente Normierung hin, auf implizite

Handlungsaufforderungen, wie man mit ihnen “richtig” umgehen “soll”. Diese Objekte sind also

zugleich Imperative. Und diese Imperative drücken - ebenso wie die Imperative der Commitments

in Teil I - bestimmte Interessen von Bewusstsein aus.

Neben derartigen normierenden, zu “richtiger” Handlung auffordernden Objekten, werden

Räume auch durch normierende Handlungen konstituiert. Der Klassenraum z.B. dient primär der

Handlung der Wissensreproduktion sowie der Aufmerksamkeit. Diese Normen werden dabei von

den LehrerInnen durch betreten des singulären Ortes “Klassenzimmer” an diesen herangetragen und

generieren damit den Raum “Klassenzimmer”. Die Lehrpersonen müssen die SchülerInnen auch

immer wieder an diese Handlungsaufforderungen, ebenso wie jene des “richtigen” Gebrauchs der

Objekte im Klassenzimmer, erinnern. Verlässt die Lehrperson samt den Normierungen den Ort

“Klassenzimmer”, wandelt sich dieser und wird teils zum Wohnraum. Tafel, Bank und Sessel

werden plötzlich Mittel neuer Normierungen. Nicht mehr, wer am ruhigsten auf dem Sessel sitzen

bleiben kann, erfüllt hierbei die angesehensten Handlungsaufforderungen, sondern wer z.B. das

waghalsigste Wippmanöver darauf vollbringen kann. Nicht mehr, wer die Gleichung fehlerfrei auf

der Tafel auflösen kann erntet Lob, sondern wer die beste Karikatur von Lehrpersonen anfertigen

kann. Würden SchülerInnen nach dem Ende der Klassenstunde bei Abwesenheit der Lehrperson

eifrig an den Gleichungen weiterarbeiten, löste dies bei MitschülerInnen wohl Befremden aus, sie

würden etwas nicht “richtig” tun. Denn nicht mehr wer am meisten in einem bestimmten Fach weiß,

zieht Aufmerksamkeit auf sich, sondern z.B., wer dieses Wissenwollen am besten überzeichnen und

es als letztlich belangloses entlarven kann.

Dass die Objekte, von denen hier die Rede war, nicht nur Träger von

Bedeutsamkeitsstrukuren sind und zugleich Dichte, Ausdehnung und Oberflächenbeschaffenheit

verfügen, sondern zugleich auch zu richtigem Umgang mit denselben auffordern, ist für deren

raumkonstitutiven Charakter von zentralem Belang. Erst über die inhärenten

Handlungsaufforderungen in den Objekten wird der Ort Klassenzimmer zum Raum des

Klassenzimmers, in dem die Objekte zwar aus drittpersonaler Perspektive völlig identisch sind,

wenn die Unterrichtsstunde endet, dennoch aber aus erstpersonaler Perspektive eine völlig andere

Bedeutung bekommen. Die Handlungsaufforderungen generieren erst den jeweiligen “Sinn” der

genannten Objekte.

Eine Re-Interpretation des von Löw zitierten Beispiels der Lads soll dabei das bisher Gesagte

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Page 53: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

veranschaulichen und zeigen, wie an einem Ort mittels Normierungen unterschiedliche Räume

konstituiert werden können. Im Gegensatz zu Löw wird hierbei der Schwerpunkt auf den

normativen Aspekt von Räumen gelegt.

III. Das Beispiel der Lads - einander nicht begegnende Bewusstseine

In Rekurs auf Willis und Giddens versucht Löw die Stärke ihres Raumbegriffs zu

veranschaulichen. Sie zitiert das Beispiel der Lads, jener zwölf Jungen aus armen

ArbeiterInnenfamilien, die an ihrer Schule durch ihr unadaptives Verhalten negativ auffallen. Durch

ihre Protesthaltung erreichen sie letztlich das Gegenteil des Beabsichtigten, bleiben ohne Abschluss

und reproduzieren den sozialen Stand ihrer Eltern106. Die Lads fallen damit auf, dass sie sich ständig

zu Gruppen zusammenfinden und bestimmte Orte - innerhalb oder außerhalb des Schulgebäudes -

“okkupieren”. Ihnen stehen keine Ressourcen zur Raumgestaltung zur Verfügung und so sind sie

dazu gezwungen, auf ihre Körper und Gesten - als raumkonstituierende Objekte - zurückzugreifen.

Am Ort “Schule” bilden sie ihren eigenen gegenkulturellen Raum. Sie markieren über

Gruppenbildung an den Gängen, wo ihr Raum beginnt. Außerhalb des Schulgebäudes, jedoch zum

Ort “Schule” gehörend, bietet ihnen die Straße Ressourcen für Raumbildung. Auch dort finden sie

sich in Gruppen zusammen, die über die Objekte bestimmter Körperhaltungen, Gesten, sowie am

Boden zerstreuter Zigarettenstummel oder Graffiti ihren eigenen Raum konstituieren.

Löw gelingt es zu zeigen, dass ihr Raumbegriff - im Gegensatz zu Raumkonzeptionen, welche

die erstperonale Dimension von Räumen nicht berücksichtigen - erklären kann, wie an einem Ort

zugleich mehrere Räume gebildet werden können107. Erst über die Syntheseleistung der am Ort

positionierten Güter wird Raum geschaffen, die bloße Vor- oder Anordnung der Gegenstände reicht

dafür nicht aus. Die Syntheseleistung muss erst über die Lads in ihren eigenen Ordnungsprozessen

geleistet werden, sodass sie den gemeinsamen Raum “Schule” betreten. Die Lads jedoch weigern

sich neben dem Ort “Schule”, an dem sie körperlich anwesend sind, auch den Raum “Schule” zu

betreten und bringen sich damit selbst um Karrierechancen. Selbst wenn sie sich im Klassenraum

befinden, sehen sie ständig auf die Straße und nutzen jede Gelegenheit, Rauchpausen zu planen108.

106 siehe Löw 2001, 232ff.107 Der Raumbegriff bei Giddens dagegen lässt eine derartige Deutung nicht zu. Löw 2001, 131108 Löw 2003, 119

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Der Schulraum, als auch der Raum der Lads, werden über Handlungsaufrufe konstituiert und

fallen an einem Ort zusammen. Durch ihre Weigerung, den im Schulraum geltenden Normen

nachzukommen, betreten die Lads den Schulraum - und verstehen ihn - letztlich nicht. Umgekehrt

gilt aber auch für die Lehrpersonen, dass das Beobachten der unter den Lads geltenden Normen

nicht schon verstehen hilft, was es heißt - “wie es ist” -, ein Lad zu sein. Ein Schlag auf den

Oberarm ist Handlungsaufforderung und Bedingung dafür, den Raum der Lads betreten zu können,

sie zu verstehen. Erst über das Befolgen der jeweiligen Handlungsaufforderungen eröffnet sich der

Sinn dieser Normierungen, d.h. das dahinter stehende Bewusstsein. Die Lehrpersonen sind vom

Verhalten der Lads ebenso irritiert, wie diese von den Erwartungen innerhalb des Schulraums109.

Am singulären Ort der Schule, finden in diesen zwei Räumen zwei unterschiedliche Formen von

Weltbewusstsein anhand von Normierungen Ausdruck. Ohne jedoch, dass innerhalb dieser Räume

der jeweils andere Raum Anerkennung finden würde, als Ausdruck eines fremden Bewusstseins,

welches erst verstehend erschlossen werden könnte. Weder in der Sprache der Lads noch in der

Sprache der Lehrpersonen scheint der Gegenraum als noch unerschlossenes “Fremdes” auch nur

begrifflich auf. Die Institution Schule stellt den Lads keine eigenen Ressourcen für ihre

Raumgestaltung zur Verfügung, ebensowenig wie die Lads umgekehrt die im Schulraum geltenden

Normen bereit sind zu verinnerlichen. Zwei Formen des Weltbewusstseins artikulieren sich am

selben Ort über Normierungen und beide bleiben scheinbar ungehört.

IV. Räume als erschlossene Handlungsaufrufe spiegeln die Erschlossenheit von Identität

Am Beispiel der Lads wurde einerseits Löws soziologische Perspektive der Reproduktion von

Machtverhältnissen durch Bildung von Gegenräumen skizziert, zudem jedoch aufgezeigt, dass die

Lads über Normierungen ihr eigenes Weltbewusstsein zum Ausdruck bringen und Normen wie

Körperhaltung, Gesten etc. letztlich ihre Form der Selbstmitteilung ihres Weltbewusstseins und

ihrer Interessen sind. Unabhängig davon, wie bewusst sich die Lads ihres Weltbewusstseins sowie

ihrer Normierungen sein mögen, wie gut sie es m.a.W. “verstanden” haben, bleibt es

nichtsdestotrotz ein ge- und erschlossener singulärer Sinn- und Identitätsentwurf. Ähnlich wie ein

einzelnes Wort alleine keinen Sinn hat, sondern dieser erst vor dem erschlossenen ganzen

“Background” der Sprachpraxis verständlich wird, ist Identität als Bedeutsamkeitsbeziehung ein

zeitlich überdauerndes und erschlossenes Gebilde, ebenso wie die Normierungen der Lads ein

109 Löw 2003, 120

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erschlossenes “Ganzes” bilden. Was einem Bewusstsein bedeutsam ist, erschließt sich über

Bedeutsamkeitsbeziehungen zu Anderem. Das Ich ist hierbei ein “Zentrum organisierter

Erfahrung”110. Dieser narrativ erschlossene moralische Raum muss jedoch erst über eine Suche und

narrative Entwürfe vorerschlossen werden111. Die narrative Zusammenhangsbildung zwischen

Erfahrungen und ihren Bedeutsamkeitsstrukturen wird von Marotzki als Biographisierung

bezeichnet112. Jede Einzelgeste der Lads wird erst vor dem Hintergrund ihres erschlossenen

Weltbewusstseins und ihrer erschlossenen Praxis des “Lad-Seins” verständlich.

Die “Einheit” von Räumen spiegelt die “Einheit” von Identitätskonzeptionen. Einheit meint

hier Erschlossenheit von Vereinzelungen innerhalb einer Sinnganzheit. Löw zitiert zwar Heidegger,

der den Raumbegriff vom Mittelhochdeutschen “Rum”, das “Lichtung oder freigeräumten Platz”113

meint, geht aber auf die darin implizierte “Einheit” der Lichtung, bei gleichzeitger Vielheit des

Platzierbaren, nicht näher ein. Stattdessen kritisiert sie die Vorstellung von Raum als Einheit, im

Sinne eines alle Objekte umfassenden singulären Raumes, der von den darin situierten Objekten

unabhängig existiert und nicht beeinflusst wird114. Diese “absolutistische” Raumvorstellung, so

Löw, spiegle sich auch in der Vorstellung eines Körpers als bloßes Gefäß und zu disziplinierende

Einheit und wird von ihr abgelehnt115. Während ihr in der Problematisierung des Körperbildes als

geschlossenes singuläres Objekt zugestimmt werden kann, rückt dennoch aus dem Blick, dass auch

Löw selbst von einer bestimmten Form der “Einheit” spricht, wenn sie von “Sinninseln” spricht, die

sich in räumlichen Strukturen niederschlagen116. Gerade der Inselbegriff impliziert erschlossene

Einheiten, ebenso wie ihr Synthesebegriff, der singuläre - wenn auch wandelbare -(An)Ordnung

von Objekten darstellt. Die einzelnen Objekte liegen dabei nicht ungeordnet im Raum, sondern

stehen in einem relationalen Gefüge zueinander. Wenn sie auch betont, dass “verinselter” Raum

inhomogen sei117, ist dieser Inhomogenität dennoch relative Einheit und Erschlossenheit inne.

Erst vor dem Hintergrund des (singulären) Raumes der Lads, haben die Normierungen der

Lads einen Sinn. Gerade aufgrund dieser Erschlossenheit singulärer Räume, kann ein Objekt - eine

in einem Raum geltende Norm - nicht einfach in einen anderen Raum hineingetragen werden, ohne

dass sich deren Sinn änderte. Der Armschlag der Lads wirkt innerhalb des Schulraums, von

110 Erikson 1973, 13111 Taylor 1996, 97112 Marotzki 2006, 168113 Löw 2001, 37114 Löw 2001, 17ff.115 Löw 2001, 118ff.116 Löw 2001, 83117 Löw 2001, 88

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Page 56: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

LehrerInnen vollzogen, als seines Eigencharakters enthoben und missverstanden. Würden

LehrerInnen die Lads mit Schlag auf dem Oberarm begrüßen, wäre dies zwar die selbe Geste,

dennoch hätte sie einen anderen Sinn. Die Lehrpersonen “verstehen” das Weltbewusstsein der Lads

in seiner Erschlossenheit nicht schon, indem sie eine singuläre Norm nachahmen, jedoch im

Sinnhorizont des Weltbewusstseins des Lehrperson-Seins bleiben. Umgekehrt gilt auch, dass

Haltungen und Gesten des Lehrkörpers, herausgerissen aus ihrem spezifischen Kontext, den Lads

letztlich nur zur Belustigung, nicht aber dem Verstehen dienen.

Der Sinn der individuellen Handlungsaufforderung erschließt sich nur im Kontext des

jeweiligen Bezugsraumes. Die “absolutistische” Raumvorstellung als Gefäß ist somit nicht nur

Ausdruck einer “inadäquaten” physikalischen Sicht der Welt, die durch die Relativitätstheorie

überholt wurde, sondern legitimer Ausdruck der Erschlossenheitserfahrung von Bewusstsein.

Sofern Normen in ihrer Erschlossenheit befolgt werden, kann Verstehen statthaben. Und Verstehen

ist notwendige, jedoch - wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist - nicht hinreichende Bedingung für

Bildungsprozesse.

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Page 57: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

3. Vom Bildungswert explizit normierter und damit differenzierter Räume

I. Bildung

Marotzki lehnt seinen Bildungsbegriff an Hegels Dialektik des Geistes an. Dieser legt in der

Phänomenologie des Geistes eine Entwicklungslogik des Bewusstseins vor, in der absoluter Geist

über Stufen zunehmenden Selbstbewusstseins seiner selbst als absoluter Geist bewusst wird. Aus

diesem Entwicklungsmodell, dieser Schichtentheorie des Bewusstseins, übernimmt Marotzki das

Prinzip der Negativität als zentrales entwicklungsförderndes Prinzip118. Der Widerspruch, die

Negativität, ist dabei der Auslöser für eine Neukonstitution von Identität119. Bei Humboldt findet

das Negative oder Fremde, wobei hier die fremde Weltanschauung gemeint ist, Ausdruck in einer

eigenen Sprache120. Nicht nur gibt es fremde Sprachen, sondern in gewissem Sinne spricht jedes

Bewusstsein eine eigene Sprache. Über Aneignung von Sprache kann Bewusstsein jedoch Fremdes

verstehen121. In der Terminologie dieser Arbeit hieße dies, dass über das Erfüllen von

Handlungsaufforderungen Erfahrung oder Sinn rekonstruiert werden kann, Verstehen stattfinden

kann.

Für Marotzki ist “Verstehen” - das Deuten spezifischer Gesten vor dem Hintergrund der

Erschlossenheit der Äußerungssituation122 - noch nicht Bildung. Aufbauend auf Verstehensprozesse

gibt es Marotzki zufolge auch Bildungsprozesse. In Bildungsprozessen wird nicht primär

verstanden, sondern die Konstruktionsprinzipien der eigenen “Weltaufordnung” rücken in den

Fokus der Reflexion123. In Bildungsprozessen findet eine spezifische Form des Selbstbezugs statt, in

dem Subjekte ihrer eigenen Weltaufordnung als Weltaufordnung bewusst werden124. Gerade ein

derartiges Bemühen sollte an Bollnows, Gebsers und Foucaults Interpretationen von

Bewusstseinsstruktur aufgezeigt werden. Ihre Interpretationen hatten nicht das Verstehen eines

konkreten anderen Bewusstseins zum Ziel, sondern vielmehr die Struktur des Verstehens,

Bewusstseinsstruktur selbst. Genauso wie Verstehensprozesse misslingen können, ist denkbar, dass

die durch diese Autoren vorgeschlagenen Bewusstseinsstrukturen inadäquate Deutungen von

Bewusstsein sind.

118 Marotzki 1984, 111119 Marotzki 1984, 134120 Marotzki 2006, 171ff.121 Marotzki 2006, 172122 Marotzki 1990, 36123 Marotzki 1990, 40124 Marotzki 1991, 41

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Page 58: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

In weiterer Folge soll von diesem Bildungsbegriff ausgehend beleuchtet werden, inwiefern

einen Unterrichtsraum explizit zu normieren eine bildungsfördernde Funktion haben kann.

II. Ausdeutung des Fallbeispiels

Zurück zum Ausgangsbeispiel der kollaborativ-kooperativ angelegten Lehrveranstaltung. Im

ersten Teil wurden drei Quellen der Normierung des Lehrveranstaltungsraumes herausgearbeitet:

die Bildungsinstitution, der Lehrveranstaltungsleiter sowie die StudentInnen. Hier können diese als

RepräsentantInnen mindestens dreier Grundformen von Identität verstanden werden: der

Professions-Identität, d.h. dem “wie es ist, aus der jeweiligen Profession heraus zu handeln”, der

Lehrveranstaltungsleiter-Identität, d.h. dem “wie es ist, die Professions-Identität zu kennen und

zudem eine eigene Konzeption von Bildung zu vertreten” sowie der StudentInnenidentität, dem

“wie es ist, StudentIn zu sein”. Alle drei Identitätsformen verfügen über ein erschlossenes

Weltbewusstsein, wobei die Professions-Identität über die Lehrperson vorgelebt wird und nicht ein

eigenes Bewusstseinszentrum bildet.

Gerade durch die lose Vor-(An)Ordnung der Gegenstände im Raum und dem gleichzeitgen

Angebot an Artikulationsressourcen über die Lernplattform, konnten mehrere Räume an einem

(virtuellen) Ort entstehen. Alle drei Identitätsformen bemühten sich um Artikulation über das eine

Forum. Im ersten Teil wurde gezeigt, dass sich all diese Artikulationen als bloße Artikulationen

zugleich auch als Präskriptionen anbieten, d.h. verstanden werden wollen und damit dem

Gegenüber ein potenzielles Sollen konstituieren. Dieses Ineinanderlaufen der Artikulationen in

einem geschlossenen Artikulationsraum, gleicht dabei den Artikulationen der Lads, welche auf

Artikulationsressourcen der Schul-Identität zurückgreifen müssen.

Die Erschlossenheit der Artikulation wurde im Fall der Lads teils durch Ressourcenmangel

unmöglich, im Falle des Fallbeispiels durch die Verteilung singulärer Aufrufe in einem allen

Identitäten gemeinsamen Artikulationsfeld. Während im ersten Teil darauf aufmerksam gemacht

wurde, dass die sich am Unterrichtsort anbietenden Handlungsaufrufe - sofern sie interiorisiert

werden - Hemmungen auslösen können, und damit allen Aufrufen Folge zu leisten allein aus

Gründen der Grenzen der Belastbarkeit des eigenen Ichs unmöglich schien, dürfte dies im Fall der

Lads, die sich erst gar nicht auf die im Schulraum geltenden Handlungsaufrufe einlassen wollten,

wohl nicht so sein. Doch ist beiden Fällen gemeinsam, dass die Handlungsaufrufe nicht als solche

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Page 59: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

thematisiert wurden, d.h. Normen als Normen ausgewiesen wurden. Noch wurden

“Erschlossenheitsinseln” akzentuiert, an denen eine bestimmte Identität ihre Erschlossenheit über

die Erschlossenheit von Normierungen zum Verstehen anbieten kann. Im Falle der Lads waren die

Artikulationsressourcen begrenzt, nicht so jedoch im Falle des genannten Fallbeispiels, in dem eine

Lernplattform zum Einsatz kam. Ein Explizieren der Normierungen in ihrer Erschlossenheit hätte

einerseits Verstehen fördern können und wäre zudem Voraussetzung für Bildungsprozesse gewesen.

In der Lehrveranstaltung wurden einander als Fremdes begegnende Identitäten nicht als

solche ausgewiesen und ihnen ein geschlossener Artikulationsraum zur Verfügung gestellt, in dem

sie Sinninseln generieren konnten. Stattdessen wurden singuläre Artikulationen im Forum

übereinandergelegt, als wären es keine Artikulationsversuche von Identitäten, sondern selbständige

wahrheitsfähige Aussagen.

III. Bildungsfördernde Aspekte expliziter Normierung am Beispiel bewusster Raumtrennung

Eine explizite Raumtrennung des Artikulationsraums der Professions-Identität, sowie der

singulären beteiligten Identitäten, hätte einerseits Verstehen fördern können, den Beteiligten

Identitäten die Möglichkeit gegeben, sich über erschlossene Handlungsaufforderungen - die

innerhalb des vornormierten Raumes stattfinden - in Erschlossenheit zu rekonstruieren. Zudem

jedoch, und hierin liegt das bildungsfördernde Potenzial derartiger bewusster Normierung, hätte die

Raumstruktur selbst - als Abbild der Struktur von Bewusstsein oder Verstehensprozessen - zu

Bildungsprozessen in dem hier verwendeten Sinne anregen können.

Als Prinzipien der Weltaufordnung dienten in dieser Arbeit z.B. Bollnows und Marotzkis

Entwürfe, dass Bewusstsein sich Fremdes über Rekurs auf das jeweils Vertraute erschließt125.

Ebenso die Deutung, das Bewusstsein stets über eine Erschlossenheit verfügt, die erst über

erschlossene Handlungsaufforderungen verstehbar wird. Diese Prinzipien könnten in der

Raumstruktur eines Unterrichtsraumes mittels Normierungen bewusst abgebildet werden, indem

z.B. erschlossene Artikulationsräume für alle beteiligten Identitäten zur Verfügung gestellt würden.

Die Raumstruktur zum Interpretationsgegenstand zu machen, gliche dann dem Versuch, die eigene

Weltaufordnung zu verstehen. Im Unterschied zu Bollnows, Gebsers und Foucaults Interpretationen

von Raumstruktur jedoch, denen spekulativer Charakter unterstellt werden könnte, hätten die

125 Marotzki 2006, 163

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Page 60: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

beteiligten Bewusstseine in den eigenen Verstehensprozessen zugleich einen Orientierungspunkt für

die Validität der obig dargelegten Prinzipien von Weltaufordnung. Ob m.a.W. Bewusstsein sich

tatsächlich nur über erschlossene Artikulationsbereiche in seiner Erschlossenheit verständlich

machen kann, könnte in einem - auf diese Erschlossenheit hin vornormierten - Unterrichtsraum

unmittelbar “erprobt” werden, indem beobachtet wird, ob derartig vorstrukturierte Räume

tatsächlich Verstehensprozesse fördern.

Nicht Normierungen sind hierbei unmittelbar bildungsfördernd. Im Gegensatz zur genannten

Lehrveranstaltung, lag im Fall der Lads “strenge” Normierung vor. Dennoch fand scheinbar

einerseits wenig Verstehen statt, andererseits ist auch fraglich, ob die Lads oder die Lehrpersonen

über ihre Interaktionen im Unterrichtsraum etwas über die eigene Weltaufordnung lernen konnten.

Indem die Normierungen auf beiden Seiten nie explizit zum Thema des Diskurses wurden, wurden

wohl auch die am Diskurs beteiligten Bewusstseinsstrukturen nie Gegenstand des Diskurses selbst.

Normierungen alleine sind demnach nicht notwendig bildungsfördernd, doch gilt umgekehrt, dass

explizite Normierungen, insofern sie wirklich Vorraussetzung für Verstehensprozesse, auch

Voraussetzung für den Gegenstand von Bildungsprozessen sind.

Der Vorschlag dieses zweiten Teils der Arbeit läuft darauf hinaus, allen Identitäten

Artikulationsräume zur Verfügung zu stellen und sie als “Fremdes”, welches sich über erschlossene

Normen artikulieren, anzuerkennen. Diese Raumstruktur selbst, so die These, regt nicht nur zu

Verstehensprozessen an, sondern bildet zugleich Verstehensprozesse und damit

Bewusstseinsstruktur anhand der Raumstruktur ab. Indem diese Raumstruktur zum Gegenstand von

Verstehensprozessen gemacht wird, wird Bewusstseinssturkur selbst zum Gegenstand der

Verstehensprozesse.

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Page 61: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

4. Raumtrennung anhand expliziter Normierung – eine praktische Umsetzung

In der genannten Lehrveranstaltung, so die bisherige Argumentation, wurden den beteiligten

Bewusstseinen keine Ressourcen für die Artikulation der Erschlossenheit eigener Identität zur

Verfügung gestellt. Virtuelle persönliche Artikulationsbereiche jedoch, an denen Bewusstseine

aufgefordert worden wären, ihre Erfarungsstrukturen über Normierungen explizit in ihrer

Erschlossenheit zu rekonstruieren und ihre Commitments zu organisieren, hätten einerseits

Verstehensprozesse selbst anregen und zudem - insofern darin Bewusstseinsstrukturen und

Verstehensprozesse selbst veräußerlicht werden - explizit bildungsfördernde Funktion haben

können. Im Forum fanden zwar Verstehensprozesse statt und ebenso wurden Vorschläge gemacht,

was Strukturen von Bewusstsein sein könnten. Eine Raumstruktur jedoch, die selbst

Bewusstseinssturkturen explizit abbildet, hätte als anregende Grundlage dieser Deutungsprozesse

dienen können, ebenso wie die Vorarbeiten von Bollnow und Gebser dieser Arbeit als

Interpretationsanregung für Bewusstseinsstruktur vorlagen.

Ausgehend von diesen Überlegungen, wird die Differenzierung folgender Artikulationsräume

über Aufforderungen zur Normierung empfohlen. Einige der hier genannten Vorschläge wurden im

Laufe der Lehrveranstaltung von StudentInnen selbst artikuliert, ohne dem jedoch eine

bildungsphilosophische Begründung zu Grunde zu legen.

I. Der persönliche Artikulations-Raum - Artikulation der individuellen Identitätskonzeption

Wenn alle beteiligten Bewusstseine den Lehrveranstaltungsraum als Identitäten betreten und

als erschlossene Identitäten artikulieren, brauchen sie einen singulären Artikulationsraum dieser

erschlossenen Identität. In der Lehrveranstaltung wurde der Wunsch nach einem blog-Bereich für

alle StudentInnen geäußert. In diesem - vom gemeinsamen Diskussionsforum klar getrennten Raum

- könnten Bewusstseine ihr eigenes Problem- und Identitätsbewusstsein in Entwürfen

rekonstruieren. Hierbei würden nicht “fertige” Identitäten abgebildet, sondern in der

Artikulationsleistung selbst - ähnlich dem Verfassen eines Textes - Inkongruenzen auffallen, und zur

Revidierung einzelner Normierungen anregen.

Derartige Artikulationsräume könnten virtuell über Dienste wie mahara.com, facebook.com

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Page 62: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

oder in Form eines Blogs realisiert werden. “Artikulation” reicht hierbei sehr weit: bereits die

Auswahl der für das jeweilige Bewusstsein interessanten Literatur über social-booksharing wie dem

facebook plug-in “virtualbookshelf” oder librarything.com, ist schon eine Artikulation von

Weltaufordnung. Bewusstsein artikuliert hierbei, welche Fragestellungen ihm bedeutsam sind.

Einzelne in der Literaturdatenbank angegebene Werke könnten zusätzlich mit Kommentaren,

Exzepten, Kernzitaten sowie über kurze Videos auf youtube.com auf die für das jeweilige

Bewusstsein bedeutsame Kernthese heruntergebrochen werden und damit einer der in Teil I

empfohlenen kollaborativen Beteiligungsmodi realisiert werden. Hierbei würden nicht nur

Wissensbestände erschlossen, sondern die eigene Identität in der Erschlossenheit ihrer

Bedeutsamkeitsrelationen abgebildet.

II. Der Professions-Raum - Artikulation der Identitätskonzeption der Profession

Neben der individuellen Identitätskonzeption der beteiligten Individuen und des

Lehrveranstaltungsleiters, hätte auch der institutionellen Identitätskonzeption - der Professions-

Identität - ein geschlossener Artikulationsraum zur Verfügung stehen können. Hierbei handelt es

sich um all jene Handlungsaufforderungen, denen alle beteiligten Bewusstseine Folge leisten

können müssten, wenn sie sich als anerkannte Mitglieder der jeweiligen Profession verstehen

wollten. Ähnlich wie das singuläre Bewusstsein, ist auch die Profession um eine Kohärenzstiftung

der eigenen Fragestellungen, Antworten und Methoden bemüht. Hierfür ist ebenso ein eigener

Entwurfsraum notwendig, in dem einerseits singuläre Handlungsaufrufe formuliert werden, diese

zudem jedoch innerhalb eines geschlossenen Raumes in eine kohärente Anordnung zueinander

gebracht werden müssen. Jede “Sinninsel” aufeinander in Kohärenz verweisender Normierungen

würde dabei ein Paradigma der Professions-Identität repräsentieren.

Im Rahmen der Lehrveranstaltung wurde ein derartiger Artikulationsraum in Form eines

“Background-Bereichs” im Forum vorgeschlagen, innerhalb dessen der an der Vorlesung geltende

Professions-Entwurf anhand von theoretischen Kernmodellen, Musterbeispielen, Exzerpten

Professions-konstitutiver Fachtexte sowie Kernthesen rekonstruiert werden sollte. All dies waren

Handlungsaufrufe und ein offenes, relative Kohärenz zwischen den Aufrufen stiftendes

Konstruktionsprojekt, ähnlich den oben geschilderten Konstruktionsprozessen der Identität

beteiligter StudentInnen.

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Page 63: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Die bisherigen Vorschläge liefen darauf hinaus, Identität von StudentInnen sowie der

Profession klar voneinander zu differenzieren, anhand eigener für sie eingerichteter

Artikulationsräume. Hierbei würden beide Identitäten anerkannt, gleichzeitig jedoch durch die

Raumtrennung selbst als füreinander “Fremdes” - d.h. Unverstandenes und Unbetretenes Gebiet -

ausgewiesen.

III. Der Diskussions-Raum - wo Identitäten einander als noch-Fremdes verstehend begegnen

Um die Professions-Identität verstehen zu können, müssten StudentInnen deren

Handlungsaufforderungen nachkommen. Dafür jedoch hätten sie ihre eigenen Identitäten nicht

notwendig fallenzulassen. Im Gegenteil, sie könnten versuchen die Professions-Identität mit der

eigenen Identität z.B. in einem Lehrveranstaltungstagebuch, geführt im eigenen blog-Bereich,

tentativ zu verbinden. Umgekehrt jedoch könnte Aufgabe des Lehrveranstaltungsleiters sowie der

TutorInnen - die Sprachrohr für die Professions-Identität sind, die keinen eigenen Leib oder

Bewusstseinszentrum hat - sich darum bemühen, die Professions-Identität mit den Identitäten

einzelner StudentInnen zu verknüpfen, d.h. jene Handlungsaufrufe seitens der Professions-Identität

zu artikulieren, die den beteiligten StudentInnen auch in ihren eigenen Fragestellungen und

Problemen helfend begegnen.

Das Forum wäre der gemeinsame Raum, in dem Professions-Identität und StudentInnen-

Identität miteinander über gegenseitige Befolgung von Handlungsaufrufen verstehend begegnen

könnten. Die StudentInnen müssten dann m.a.W. bestimmte Grundmodelle gelernt haben, sich ein

bestimmtes fachliches Grundvokabular angeeignet haben. Umgekehrt jedoch müssten TutorInnen

sowie die Lehrperson, wenn Verstehen stattfinden sollte, Einblick in die Artikulationsbereiche der

StudentInnen genommen haben und die Auswahl der Grundmodelle auf die Fragestellungen der

StudentInnen abstimmen.

Im öffentlichen Forum würde eine Vermittlung beider einander fremden Identitäts-

Konzeptionen stattfinden und wäre damit ein Prototyp für Prinzipien des Verstehens. Den Blick der

beteiligten StudentInnen auf gerade diese Verstehensprozesse fördernde Raumstruktur selbst zu

lenken, wäre bildungsfördernd, Bewusstseine könnten an der Struktur der Unterrichtsräume selbst

Prinzipien der eigenen Weltaufordnung wiedererkennen. Hierfür jedoch, das wurde oft genug

betont, sind explizierte Normierungen Voraussetzung - wenn auch nicht hinreichende.

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Page 64: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

5. Resumée

I. Räume als Ausdruck von Identität

Die Ausgangsfrage in diesem zweiten Teil der Arbeit lautete, inwiefern explizite Normierung

bildungsfördernd sein kann. Dies sollte am Beispiel von Raumtrennung mittels expliziter

Normierung diskutiert werden. Räume wurden hierbei - in Anlehnung an Löw - als Verortung

(Spacing) von Objektrelationen (Syntheseleistung) verstanden. Objekte waren hierbei nicht “rein”,

d.h. unter bloß dritt-, sondern auch unter erstpersonaler Perspektive gefasst. In erstpersonaler

Hinsicht sind Objekte nicht nur ausgedehnt und bewegt, sondern fordern zu “angemessener”

Handlung auf, haben implizit normativen Charakter. Selbst Greifobjekte haben demnach immer

schon auch normative Ansprüche, d.h. Ansprüche darauf, wie mit ihnen “richtig” umgegangen

werden solle. Diese Normen wurden dabei verstanden als implizite Veräußerlichungen von

Bedeutsamkeitsbeziehungen des Bewusstseins. Selbst in bloßen Greifobjekten wie Tischen und

Stühlen werden - sofern sie Normativität transportieren - Bewusstseine implizit artikuliert. Bollnow,

Gebser und Foucaults Deutungen von Beuwsstsein sollten diese These plausibilisieren. Bewusstsein

erzeugt anhand dieser Objekte unbewusst verstehbare Entäußerung.

Am Beispiel der Lads wurde aufgezeigt, dass mehrere Räume und damit Objektrelationen an

einem Ort zusammenfallen können, ohne dass ein Verstehen - der hierbei einander fremden und

zusammentreffenden Bewusstseine - stattfinden würde. Ebenso wie es notwendig ist, einen Text in

seiner Erschlossenheit zu lesen und dessen Normierungen - in Form des Mitdenkens z.B. - zu

erfüllen, kann fremdes Bewusstsein nur über eine Erfüllung seiner Normierungen in ihrer

Erschlossenheit verstanden werden. Im Falle der Lads fand auf Seiten beider Bewusstseine wohl

kein Verstehen statt, das fremde Bewusstsein wurde nicht in seiner Fremdheit anerkannt und die

Erschlossenheit der Normierungen wurde über ein Zusammenfallen beider Räume am Schulort

aufgebrochen. Einzelnormierungen von Lehrpersonen wurden hierbei von den Lads aus ihrem

Erschlossenheitszusammenhang gerissen, vor den Hintergrund ihres eigenen Bewusstseins gestellt

und lächerlich gemacht. Umgekehrt galt dies genauso. Die Lads versuchten die Erschlossenheit

ihres Artikulationsraums zu bewahren, indem sie auch möglichst große körperliche Distanz zum

Schulraum einnahmen und auf der Straße oder am Gang Gruppen bildeten. Am Beispiel der Lads

wurde deutlich, dass sobald einzelne Objekte eines Raumes in einen anderen Raum hineingetragen

werden, sie ihre Erschlossenheitsbeziehung und damit ihren Sinn verlieren. Diese

Erschlossenheitsbeziehung der Objekte weist, wie weiter argumentiert wurde, auf die

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Page 65: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Erschlossenheit von Bewusstsein als Identität hin. Räume sind demnach zwar keine absoluten

Einheiten, im Sinne Objekte umfassender Behälter, dennoch relative Einheiten oder Sinninseln.

Dass dieser Einheitsaspekt von Raum, der in Löws Synthesebegriff implizit ausgedrückt wird,

sofern er in der bewussten Raumgestaltung Ausdruck findet bildungsfördernd sein kann, sollte

anhand folgender Überlegungen gezeigt werden.

II. Artikulation von Identität als Voraussetzung für Bildung

Die “Einheit” von Räumen, ähnlich der Einheit von Sinninseln, die zueinander als relative

Einheiten in Relation stehen, wurde - in Rekurs auf den ersten Teil der Arbeit - als

Wiederspiegelung der narrativen Erschlossenheit der jeweiligen Identitätskonzeption interpretiert.

Bedingung für Verstehensprozesse ist die Vertextlichung der Erschlossenheit der eigenen

Identitätskonzeption in Form von zueinander in Kohärenz stehenden Normierungen. Derartige

Artikulation geschieht auch schon unbewusst, indem Identitäten z.B. eine konsistente Erzählung

ihrer Selbst zu formulieren versuchen. Über die die Anordnung von Objekten, d.h.

Syntheseleistung, werden Handlungsaufforderungen oder Normen geschaffen, deren Entsprechung

in anderen Bewusstseinen Erfahrung generieren kann. Normierungen sind notwendige aber nicht

hinreichende Voraussetzung für Verstehensprozesse.

Explizite Normierung ist auch nicht hinreichend für Bildungsprozesse, welche in Anschluss

an Marotzki verstanden wurden als Bewusstwerdung der eigenen Bewusstseinsstrukturen oder der

Konstruktionsprinzipien der eigenen Weltaufordnung. Verstehensprozesse, als Akte von

Bewusstsein, sind Gegenstand von Bildungsprozessen. Die Strukturmerkmale von verstehendem

Bewusstsein, wie sie in dieser Arbeit in Anlehnung an Bollnow und Marotzki tentativ

vorgeschlagen wurden, waren die Erschlossenheit des eigenen Identitätsentwurfs - repräsentiert

durch die relative Einheit der Räume - sowie das Erschließen eines Fremden über ein Einlassen auf

dessen Normierungen in ihrer Erschlossenheit.

Sofern im Rahmen einer Lehrveranstaltung bewusste Raumtrennung vollzogen wird, indem

den beteiligten Identitäten Artikulationsräume zur Verfügung gestellt werden, ist dies insofern

bildungsfördernd, als die Raumstruktur einerseits Verstehensprozesse fördert und damit den

Gegenstand von Bildungsprozessen generiert. Zudem bietet sich die Raumstruktur als falsifizierbare

Deutung von Bewusstseinsstruktur an.

Mario Spassov a0309830 65

Page 66: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

III. Umsetzung von Raumtrennung mittels explizierter Normierung im Fallbeispiel

Es wurde vorgeschlagen, der in der Einführung geschilderten Problemsituation durch eine

dreifache Raumtrennung bildungsfördernd zu begegnen. Es sollten ein persönlicher

Artikulationsraum in Form eines blogs, ein Professions-Raum in Form einer Ansammlung von

Kernthesen, Musterbeispielen, Exzerpten, Literaturlisten sowie ein zwischen diesen beiden

Identitätsentwürfen vermittelnder Diskussions-Raum differenziert werden. Sowohl die Professions-

Identität würde hierbei als Unerschlossenes oder Fremdes als auch die beteiligten Bewusstseine

anerkannt. Die StudentInnen - wollten sie die Professions-Identität verinnerlichen - hätten deren

Normierungen zu folgen, d.h. die Grundmodelle zu lernen. Die Lehrperson und TutorInnen dagegen

- wollten sie zwischen den beteiligten Identitäten und der Professions-Identität vermitteln und damit

Verstehen fördern -, hätten die persönlichen Artiulationsbereiche zu betreten. Klare und

erschlossene Normierung ist hierbei Voraussetzung für Verstehensprozesse auf beiden Seiten.

Würde zusätzlich zu diesen Verstehensprozessen die Aufmerksamkeit der Bewusstseine auf

die Raumstrukturierung selbst gelenkt, könnten Bildungsprozesse angeregt werden. Ebenso könnten

auch, um einen Zusammenhang zum ersten Teil der Arbeit herzustellen, Hemmungen aufgelöst

werden. Im ersten Teil wurde argumentiert, dass sich Hemmungen dort einstellen, wo

Handlungsaufforderungen die einem Bewusstsein bedeutsam geworden sind, nicht entsprochen

werden kann. Dies kann etwa bei uneinlösbaren oder einander widersprechenden

Handlungsaufforderungen der Fall sein. Erschlossene Artikulationsräume dagegen würden sowohl

Widersprüchlichkeit als auch Uneinlösbarkeit minimieren.

Auch an dieser Stelle gilt es nochmals zu betonen, dass erst empirisch erhoben werden

müsste, ob eine derartige - Normen explizierende und zum Gegenstand machende - Strukturierung

von Unterrichtsräumen, wie die bisherigen Überlegungen heuristisch nahelegen, eine einerseits von

Hemmungsgefühlen entlastende und bildungsfördernde Funktion haben könnte. Letztere würde sich

wohl - wenn sie empirisch überhaupt erhebbar sein sollte - als Zunahme der Fähigkeit, Prinzipien

eigener Verstehensprozesse deutend vorzuschlagen, äußern. Eben solche Prinzipien schlagen

Bollnow, Gebser, Marotzki und Foucault vor, so unterschiedlich diese sein mögen, und bringen

damit ihre eigenen Bildungsprozesse zum Ausdruck.

Mario Spassov a0309830 66

Page 67: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Nachwort

1. Die Ursprungsfragestellung dieser Arbeit lautete, ob Bildungsstandards eine enthemmende

Funktion haben könnten. Wie mir jetzt klarer geworden ist, verstand ich den Standardbegriff sehr

einseitig als “explizierte Erwartungshaltungen”. Zwar sind Standards tatsächlich explizierte

Erwartungshaltungen, doch nicht jede explizierte Norm zugleich ein Standard. Und gerade der in

der PISA-Studie verwendete Standardbegriff scheint mehr als bloße Explikation von Normen zu

implizieren, nämlich “Eichung” von Erwartungshaltungen.

In dieser Arbeit ging es mir aber ausschließlich um das Explizieren von Normen. Das könnte

durch den Standardbegriff, denn ich an einigen Stellen als synonym für explizierte Normen

verwende, verzerrt werden. Hätte ich den Standardbegriff jedoch vollständig aus meiner Arbeit

gestrichen, hätte mir die Verbindung zu dem im Seminar Besprochenen gefehlt. Und diese scheint

mir durchaus gegeben, auch wenn ich wohl in einer eigenen Arbeit die Differenzen zwischen

Normen und Standards herausarbeiten müsste.

Es sollte hoffentlich zumindest an meinen Beispielen deutlich geworden sein, dass die von

mir verteidigte Konzeption von Normen Pluralität an Erwartungen nicht nur zulässt, sondern erst

richtig zur Geltung kommen lässt. Diese Arbeit sagt dagegen nichts über die Legitimität von

Standards im Sinne allgemeiner Kernkompetenzen.

2. Ein weiterer problematischer Aspekt am hier verwendeten Begriff der Norm scheint mir,

dass er - im Unterschied zu dem in der PISA-Studie verwendeten - in keinerlei unmittelbarer

Relation zu Sanktionsmaßnahmen steht. Eine Norm ist in dieser Arbeit auch dann eine Norm, wenn

sie außerhalb eines Systems institutionalisierter Handlungsaufforderungen und

Sanktionmaßnahmen steht. Womöglich ist dies – etymologisch gesehen - eine illegitime

Verwendung des Normbegriffs, die ebenso unnötig Missverständnisse provoziert.

Wenn von Norm die Rede war, wollte ich in Anschluss an Dux den Aspekt des Aufrufs

betonen, dessen Befolgung in jemandes Interesse steht. Wird einer Norm nicht entsprochen, hat dies

einerseits zur Folge, dass ein aufrufendes Bewusstsein in seiner Erwartungshaltung enttäuscht

wurde, andererseits aber, dass das die Norm nicht befolgende Bewusstsein bestimmte (Verstehens-)

Erfahrungen nicht macht. Sanktion ist hier nicht mitimpliziert sondern erst Zusatzmoment von

Normen, die zugleich kollektive Formen von Praxis konstituieren.

Mario Spassov a0309830 67

Page 68: Seminararbeit 'Bildungsprozesse Im Und Am Explizit Normierten Raum' (WS2008)

Während somit nicht alle Normen mit Sanktionen in Verbindung stehen - und das war die

wichtige Voraussetzung dieser Arbeit - bieten sie sich dennoch alle – unabhängig davon, ob sie

Sanktionen androhen - zur Interiorisierung an. Diese Prämisse müsste eigens diskutiert werden.

3. Ich habe nicht problematisiert, dass Hemmungen zu minimieren letztlich zum Gegenteil

kritischer pädagogischer Haltung führen kann. Gerade eindeutig normierte Räume bieten sich auch

für Indoktrination an. Implizite Voraussetzung dieser Arbeit, die eigens legitimiert werden müsste,

war jedoch, dass Bewusstseine ohne Befolgung normativer Vorgaben keine Erfahrungsstrukturen

aus sich heraus generieren können und auch eine Position “reiner Vernunft”, aus der heraus vor aller

Erfahrung die Legitimität bestimmter Erfahrung versprechender Normen bestimmt werden könnte,

nicht denkbar ist.

Der Unterschied zwischen rein indoktrinierenden und bildungsfördernden normierten

Räumen, scheint mir einerseits in der Explikation der Normen zu liegen sowie andererseits darin, ob

innerhalb eines Raumes auch zusätzliche Raumbildung zugelassen wird (siehe Teil II). Auch das

müsste eigens in einer Arbeit diskutiert werden. Die in Teil I und Teil II diskutierten

Gestaltungsvorschläge jedoch liefen alle darauf hinaus - und das schien mir auch ohne eigene

Begründung offensichtlich genug - Normierungen als solche zum Gegenstand von

Reflexionsprozessen zu machen. Das scheint mir einerseits gegen Prinzipien von

Indoktrinationsversuchen zu verstoßen, ebenso wie die Forderung, im expliziert normierten

singulären normativen Rahmen zugleich auch Raum zu schaffen für Normierungen durch die

beteiligten Identitäten, sofern diese der Norm entsprechen, expliziert zu werden.

4. Gerade aus pädagogischer Perspektive könnte überlegt werden, ob Hemmungen nicht auch

anders minimiert werden könnten, als über Normierung. Umgekehrt könnte auch gefragt werden, ob

Hemmungen nicht auch bildungsförderlich sein könnten. Dazu habe ich nur vage Vermutungen.

5. Neben dem praktischen gegenseitigen Ausschluss der Handlungsaufrufe untereinander,

könnte noch das Moment der “Überzeichnung”, wie sie im Fall der Klassenbesten

Mathematikschülerin angedeutet wurde, hemmende Wirkung gehabt haben. Dieser These müsste

ich eigens nachgehen und untersuchen, inwiefern manche Normen nicht auf grundlage von

Projektionen interiorisiert werden.

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6. Ich muss auch darauf hinzuweisen, dass jeder normativ erschlossene Schutzraum zugleich

auch ein Risikoraum ist. Denn es scheint keine über ihn stehende Instanz zu geben, welche über die

Legitimität der darin erfolgenden Handlungsaufrufe entscheiden könnte. Dieses Problem steht m.E.

unmittelbar mit jenem der möglichen Indoktrination. Die Fokussierung auf den Hemmungsaspekt

normativ überladener Räume ließ dieses Problem aus dem Blickfeld rücken. Umgekehrt jedoch, und

das sollte in dieser Arbeit gezeigt werden, kann in normativ überladenen Räumen Hemmung die

Auseinandersetzung mit potenziell legitimer Praxis gerade verhindern.

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Bellmann, J. (2005). Ökonomische Dimension der Bildungsreform – Unbeabsichtigte Folgen, perverse Effekte, Externalitäten. In: Neue Sammlung (1), 15-30.

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Dux, G. (2000). Historisch-genetische Theorie der Kultur: instabile Welten: zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

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Der zur Erhebung der in der Lehrveranstaltung aufgekommenen Kritikpunkte verwendete Fragebogen

54 ausreichend ausgefüllte Fragebögen!

1.Ich besuche die Vorlesung primär wegen (mehrfaches Ankreuzen möglich):

dem Thema 41 der Lehrperson 31 dem Vortragsstil 22 dem Lehrplan 12 der leicht verdienten Note 2

der Möglichkeit der Präsenzphase fernzubleiben 5 der Möglichkeit der Kollaboration 14

andere Motive: moodle; Note; Vollständigkeithalber des Zyklus.

2. Ich hatte einen Arbeitsaufwand von ca.: 0-10: 2 10-20: 19 20-40: 13 40-80: 12 mehr als 80: 3 k.A.: 3 Stunden

3. Ich fand die Prüfung: leicht 9 mittelschwer 33 schwer 1

4. Ich konnte aus dieser Vorlesung persönlich viel mitnehmen: ja 42 nein 1

5. Mir fiel die Prüfungsvorbereitung relativ leicht: ja 37 nein 14

6. Mir war klar, welche Inhalte prüfungsrelevant sind: ja 41 nein 7

7. Die Ziele der Lehrveranstaltung (z.B. selbsterschlossenes Wissen) waren erreichbar angesetzt: ja 42 nein 4

8. Ich hatte in der Lehrveranstaltung mehr Erfolgserlebnisse, als in solchen mit Frontalunterricht: ja 30 nein 7

9. Ich hatte das Gefühl: „Um die Prüfung zu absolvieren, oder um der Vorlesung überhaupt folgen zu können, muss man eben an den kollaborativen

Prozessen teilnehmen.“ ja 28 nein 17

10. Ich fühle mich dank des Besuchs der Lehrveranstaltung emotional befriedigend über folgende Konzepte aufgeklärt:

deklaratives Wissen: 28 Stabilisierung innerer/äußerer Systeme: 29 Assimilation/Akkomodation: 30 Bindung: 33 Beziehung : 33 Übertragung/Gegenübertragung: 34 Bildung dritter Ordnung: 35 primäre/sekundäre Intersubjektivität: 35 Ich/Es/Über-Ich: 37 Bildung erster Ordnung: 38 Bildung zweiter Ordnung: 38 Integration: 39 Primärerfahrungen: 40 in Sprache heben des Gewahrseins: 48

11. Ich habe folgende Konzepte nicht wirklich verstanden: Unterschied Bindung/Beziehung; Szenische Bildung als Transformation; Tertiäre und

Quartiere Intersubjetkvität; Bipolarität; Äquilibration; Prälogisch-Postlogisch; Containing;

12. Kollaboration ist mir wichtig : ja 35 nein 1

13. Ich wünsche mir die offizilelle Anerkennung folgender Rollen:

die Rolle jener, die nur zuhören wollen: 29 die Rolle jener, die Exzerpte verfassen: 17 die Rolle jener, die Threads moderieren: 16 die Rolle jener, die ein Lehrveranstaltungstagebuch führen: 11

Zusatz: Anerkennung in Form des Lob durch den LV-Leiter findet statt;

14. Ich will für Kollaboration auch bei der Prüfung z.B. eine Frage streichen können: ja 34 nein 6

15. Ich kann mir vorstellen, kollaborativ mitzuarbeiten, wenn es klare Handlungsanweisungen dafür gibt: ja 35 nein 2

16. Ich wünsche mir mehr praxisnahe Beispiele in der Präsenzzeit: ja 40 nein 4

17. Ich bin gerade bei Bewusstsein: ja 40 nein 1 vielleicht 11 ;-)

18. Ich habe im Verlauf der Vorlesung den roten Faden oft verloren: ja 12 nein 35

19. Ich finde, dass Inhalte aus dem „Background“ intensiver in der Vorlesungszeit besprochen werden sollten: ja 27 nein 13

20. Ich erwarte mir in der Präsenzzeit primär (nur eines ankreuzen):

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Fakten, die mich Fachdiskurse besser verstehen lassen 32 Raum für Diskussionen mit KollegInnen 18

Anderes: in der LV zu wenig Input; Reflexionen eher ins moodle verlegen;

21. Ich finde Raum für Diskussion wichtig, würde dafür aber primär (nur eines ankreuzen):

die Präsenzzeit nutzen 20 das moodle nutzen 29

22. Ich habe die Diskussionen im moodle interessant gefunden und teils darin geschmökert, aber nicht gepostet: ja 40 nein 2 ich habe gepostet 9

23. Ich war zu Beginn der Vorlesung regelmäßig zu den Präsenzzeiten anwesend, bin dann aber abgesprungen wegen:

dem versprochenen Skriptum 3 weil ich wenig gelernt habe 1 mir der Vortragsstil nicht liegt 2 ich Besseres zu tun hatte 2 weil ich den roten Faden verloren habe 3 weil zu viel diskutiert wird 4 weil der Lehrveranstaltungsleiter selbst zu wenig Stellung bezieht 0 weil mir die Nähe, welche in der Vorlesung gefordert wird, nicht zusagt 1 weil ich mich eingeschüchtert fühlte 2

andere Gründe mangelnde Zeit; Kind; Arbeit; andere LV; Uhrzeit; langer Weg zur Uni;

24. Ich habe schlechtes Gewissen, mich nicht kollaborativ beteiligt zu haben: ja 12 nein 29

25. Ich ging nach der Vorlesung oft mit dem Gefühl nach hause, „[...] nichts verstanden zu haben, [mich] nicht zu trauen, etwas zu sagen [...]“: ja 5 nein 31

26. Ich habe mich bisher am Forum nicht beteiligt weil (mehrfaches Ankreuzen möglich):

ich mich eingeschüchtert fühle 10 weil ich den Eindruck habe, dass was ich poste ohnehin niemanden interessiert 6 weil was ich zu sagen habe schwer in einem kurzen Posting festgehalten werden kann 6 weil das Festhalten eigener Gedanken so mühsam ist 7 weil ich einige der sich am Forumsdiskurs beteiligenden Personen nicht mag 2 weil ich Angst habe, dass der Lehrveranstaltungsleiter meine Postings bewertet 3 weil ich Angst habe Unqualifiziertes zu posten 23

andere Gründe mangelnde Zeit; weil meine Gedanken oft schon vorher aufgegriffen werden; keine zeit, weil es mir mehr bringt persönlich zu diskutieren; mag Foren nicht da mir grundsätzlich nicht gut tut lange vor dem PC zu sitzen; so viele andere Dinge zu tun; weil man nicht zur Elite gehört; zu wenig Zeit; weil ich die elektronische Form des Austausches nicht mag und persönliche Gespräche vorziehe.

27. Ich wünsche mir, dass der Lehrveranstaltungsleiter sich im Forum aktiver beteiligt: ja 10 nein 16

28. Ich fühle mich von der Quantität der Beiträge im Forum erschlagen: ja 29 nein 17

29. Ich hatte schon mal schlechtes Gewissen, nicht alle Beiträge im Forum gelesen zu haben: ja 20 nein 35

30. Ich fand einige Beiträge im Forum sehr hilfreich: ja 34

31. Mich spricht das an: „Ich habe schon länger daran gedacht, mich auch im Forum zu „verwirklichen“. Und um ehrlich zu sein, ich scheue mich

immer noch ein wenig davor, weil das Niveau der Diskussionen hier dermaßen hoch geworden, bzw. angesetzt worden ist. Damit meine ich inhaltlich höchst intelligent und auch stilistisch sehr ausgefeilt, also eigentlich spreche ich meine Bewunderung hier ebenso aus, wie meine Scheu.“ ja 26 nein 12

32. Mich spricht das an: „Es wird meiner Meinung nach [im Forum] stets mehr die Eigenperspektive dargelegt und diese auch ausführlich und in

Verwendung von Fremdwörtern argumentiert, allerdings zu wenig auf Einzelaspekte anderer Kollegen eingegangen.“ ja 8 nein 19

33. Mich spricht das an: „In der Vorlesung [...] hatte ich durch das ständige erwähnen der "Elite" [...] teilweise das Gefühl unerwünscht zu sein,

bloß weil ich an der Diskussion nicht teilnehme sondern lieber zuhöre...“ ja 21 nein 20 Elite? 1

34. „[I]ch wollte auch immer wieder mal etwas ins Forum schreiben, allerdings ist es [...] bei mir so, dass ich durch die anderen Beträge

eingeschüchtert bin. Genauso ist es in der Vorlesung selbst [, ... dort] habe mich bisher kein einziges Mal getraut etwas zu sagen, auch wenn es mir auf der Zunge lag. Noch dazu bin ich ganz generell nicht so, dass ich unbedingt vor zig anderen Studenten reden möchte...“ ja 18 nein 16

35. Ich finde die Idee mit dem Backgorund-Bereich sinnvoll.: ja 41

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36. Ich finde die Idee mit den podcasts sinnvoll.: ja 30 nein 1

37. Die Vorlesungsprotokolle waren sehr hilfreich fürs Lernen : ja 37

38. Das LV-Tagebuch des Lehrveranstaltungsleiters war hilfreich: ja 18 nein 14

39. Das Tutorium gab wichtige Hilfestellungen : ja 11 nein 0 Tutorium? 5 ich war bei keinem Tutorium 27

40. Ich schätze an der Vorlesung: den Inhalt; die Verknüfungen; den Stil; den Versuch des LV-Leiters immer an sich selbst zu arbeiten; die

Kockerheit/Entspanntheit; den Vortragenden; die Offentheit; die psychoanalytischen Aspekte; die Möglichkeit des offenen Diskurses; Vernetztes Denken; ihren unglaublich anregenden und lebendigen Charakter; dass sie einen anderen Zugang zu Lernen schafft; Kooperation und Dynmaik; das Neue; dass jeder wichtig ist; dass StudentInnen einbezogen werden und nicht über deren Kopf hinweg referiert wird; dass man sich barrierenfrei einbringen kann; Offenheit des LV-Leiters; welches Ausmaß das moodle erreicht hat; Fallbesipiele; Lebensnähe; Hilfe von Mario; unterschiedliche Ebenen des Kollaboratioven; die Zus.arbeit und Hilfbereitschaft unter StudentInnen; dass sich Prof. Stephenson viel Zeit für die StudentInnen nimmt; Respekt; offener Vortragsstil; das Miteinander; die Art wie sie gehalten wird; gutes Klima; kompetenter und menschlicher Prof.; Verinnerlichung des Stoffes wird leicht gemacht; neue Art des Abhaltens der LV; die Anregung selbst zu denken/vernetzen; Diskussionen während der LV; Offenheit für eigene Meinungen; innovative Zugangsweise.

41. ADDENDUM: Verbesserungsvorschläge: Inhalte zu oft durchgekaut -> mehr Fakten; klare Trennung von kollaborativem Raum & Darstellung

von Inhalten und Modellen; ohne Inhalte fehlt mir die Grundlage für Diskussion.

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