Semyon BYCHKOV LONDON VOICES - staatskapelle … · Luciano Berio (1925-2003) »Sinfonia« für...

19
14., 15. und 16. April 2018 Semperoper 9. SYMPHONIEKONZERT Semyon BYCHKOV LONDON VOICES

Transcript of Semyon BYCHKOV LONDON VOICES - staatskapelle … · Luciano Berio (1925-2003) »Sinfonia« für...

14., 15. und 16. April 2018Semperoper

9 . S Y M P H O N I E K O N Z E R T

Semyon

B Y C H K O V

L O N D O N V O I C E S

Kunst zählt zu den wichtigsten Kulturgütern unserer Gesellschaft und setzt immer wieder neue Impulse, die uns inspirieren und zum Nachdenken anregen. Wir freuen uns daher ganz besonders, als Partner der Semperoper Dresden Kunst und Kultur zu fördern und so einen Beitrag leisten zu können.

VW_Programmhefte_135x210.indd 1 30.08.17 09:34

14., 15. und 16. April 2018Semperoper

9 . S Y M P H O N I E K O N Z E R T

Semyon

B Y C H K O V

L O N D O N V O I C E S

2 3 9. SYMPHONIEKONZERT

SA MSTAG14.4.1820 UHR

SONNTAG15.4.1811 UHR

MONTAG16.4.1820 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

9. SYMPHONIEKONZERT PROGRAMM

Rückkehr mit symphonischen MeisterwerkenLeider musste Myung-Whun Chung seine Mitwirkung im 9. Symphonie-konzert krankheitsbedingt absagen. Die Staatskapelle Dresden freut sich jedoch, dass Semyon Bychkov nach langer Zeit wieder zurückkehrt, diesmal mit einem Programm, das Geschichte und Moderne produktiv verbindet. Luciano Berios 1967 / 68 komponierte »Sinfonia« steht für ein Werk, das rätselhaft und zugänglich zugleich ist. Hochkomplexe Avantgarde wuchert neben schwelgerischen Harmonien der europä-ischen Kunstmusik. Verknüpft wird das Opus mit Tschaikowskys fünfter Symphonie, in der der russische Komponist den Spuren des Schicksals und der Vorsehung nachgeht.

Luciano Berio (1925-2003)»Sinfonia« für acht Stimmen und Orchester

1. [ohne Bezeichnung]2. O King. Immobile e lontano3. In ruhig fließender Bewegung4. [ohne Bezeichnung]5. [ohne Bezeichnung]

P A U S E

Pjotr I. Tschaikowsky (1840-1893)Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64

1. Andante – Allegro con anima2. Andante cantabile, con alcuna licenza3. Valse. Allegro moderato4. Finale. Andante maestoso – Allegro vivace

Semyon Bychkov Dirigent

(anstelle des erkrankten Myung-Whun Chung)

London Voices StimmenEinstudierung: Ben Parry

Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginnim Opernkeller der Semperoper

Aufzeichnung durch MDR KulturSendetermin: Dienstag, 17. April 2018 ab 20.05 Uhr auf MDR Kultur und MDR Klassik

4 5 9. SYMPHONIEKONZERT

Semyon Bychkov Dirigent

 Der in Leningrad (St. Petersburg) geborene Semyon Bychkov gewann als Zwanzigjähriger den Rachmaninow-Dirigierwett-bewerb. Dass ihm der Preis, die Leningrader Philharmonie zu dirigieren, vorenthalten wurde, trug wesentlich zu seiner Entscheidung bei, zwei Jahre später die ehemalige Sowjet-

union zu verlassen. Zu dem Zeitpunkt, als Bychkov 1989 als Erster Gast-dirigent des Philharmonischen Orchesters nach St. Petersburg zurück-kehrte, wurde er in den USA bereits als Music Director des Grand Rapids Symphony Orchestra und des Buffalo Philharmonic Orchestra gefeiert. Seine internationale Karriere, die in Frankreich mit Debüts an der Opéra de Lyon sowie beim Festival in Aix-en-Provence begonnen hatte, nahm durch Einspringen bei den New York Philharmonic, den Berliner Phil-harmonikern und dem Concertgebouw Orkest rasant an Fahrt auf. Er wurde Chefdirigent des Orchestre de Paris (1989), Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters Köln (1997-2010) und von 1998-2003 Chefdirigent der Semperoper Dresden.

Im Vereinigten Königreich tritt er regelmäßig mit dem London Symphony Orchestra auf. Als Gastdirigent kehrt er jedes Jahr zu den Berliner Philharmonikern, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Orchestre National de France und der Accademia Nazionale di Santa Cecilia zurück. In den Vereinigten Staaten ist er regelmäßig mit den dortigen großen Orchestern zu erleben.

Wenngleich Bychkov vor allem für seine Interpretationen des Kern-repertoires bekannt ist, verbanden ihn stets auch intensive Arbeitsbezie-hungen mit außergewöhnlichen zeitgenössischen Komponisten, darunter Luciano Berio, Henri Dutilleux und Maurizio Kagel. Aus seiner 13-jährigen Zusammenarbeit mit dem WDR Sinfonieorchester ging eine Serie bahnbre-chender Aufnahmen hervor. 2010 wurde Bychkovs Aufnahme des »Lohen-grin« vom BBC Music Magazine als »Record of the Year« ausgezeichnet, seine im Juni 2017 erschienene Einspielung von Franz Schmidts zweiter Symphonie als »Record of the Month« gefeiert. Die International Opera Awards kürten ihn zum »Dirigenten des Jahres 2015«.

Kürzlich wurde Semyon Bychkov zum neuen Musikdirektor und Chefdirigenten der Tschechischen Philharmonie ernannt. Er tritt diese Position mit Beginn der Saison 2018 / 2019 an.

6 7 9. SYMPHONIEKONZERT

 Das britische, aus London stammende Chorensemble London Voices hat bisher an über zweihundert Plattenaufnahmen teilgenommen. Sein breites Repertoire reicht dabei von eher populären Alben mit Nigel Kennedy, Bryn Terfel und Luciano Pavarotti bis hin zu Aufnahmen mit Werken der

Neuen Musik und Avantgarde; hier sind es insbesondere Komponisten wie John Adams, György Ligeti und Luciano Berio, die von London Voices interpretiert werden.

London Voices hat auch in zahlreichen Soundtracks von Filmen mitgewirkt, so in sämtlichen »Harry Potter«- und »Star Wars«-Folgen. Das Ensemble wurde von Terry Edwards gegründet, einem der erfah- gegründet, einem der erfah-rensten und angesehensten Chorleiter und Chordirigenten Europas. Er dirigierte London Voices z. B. in allen der vielen Chorsektionen der »Herr der Ringe«-Trilogie. Terry Edwards und London Voices arbeiten mit vielen wichtigen Orchesterleitern und Dirigenten zusammen, u. a. mit Christoph von Dohnányi, Bernard Haitink, Sir Simon Rattle und Peter Eötvös.

London Voices werden geleitet von Terry Edwards (ehemaliger Chordirektor der Royal Opera) und Ben Parry (Komponist und künstle-rischer Leiter des National Youth Choirs Großbritanniens). Die Anzahl der Mitglieder ist nicht festgelegt, die Choristen werden für jedes einzelne Engagement und Projekt ausgewählt. So sind für John Adams’ »Grand

Sopran Joanna L’Estrange, Sarah EydenAlt Joanna Goldsmith, Wendy NieperTenor Richard Eteson, Christopher Jay NealeBass Jeremy Sadler, Nicholas Garrett

Sound Design John Milner

London Voices StimmenD I R E K T I O N : T E R R Y E D WA R D S & B E N PA R R Y

E I N S T U D I E R U N G : B E N PA R R Y

Pianola Music« drei Stimmen gefordert, bei Steve Reichs »Tehillim« vier, bei Karlheinz Stockhausens »Stimmung« sechs, bei Igor Strawinskys »Rake’s Progress« vierzig, bei György Ligetis Requiem 120 und bei »La damnation de Faust« von Hector Berlioz 150 Stimmen. Es ist zudem üblich, dass zwei Gruppen des Ensembles gleichzeitig in verschiedenen Städten oder Ländern auftreten.

Zu den jüngsten herausragenden Projekten der London Voices zählen u. a. Beethovens »Fidelio« in der Londoner Royal Festival Hall unter Leitung von Vladimir Jurowski im Januar 2017 mit dem London Philharmonic Orchestra sowie Luciano Berios »Sinfonia« mit dem Orchestre de Paris unter der Stabführung von Daniel Harding im November 2017. Die London Voices werden Berios »Sinfonia« zudem am 21. und 22. April 2018 mit den Münchner Philharmonikern unter Leitung von Semyon Bychkov zur Aufführung bringen.

8 9 9. SYMPHONIEKONZERT

STATT EINES ABDRUCKS DER GESANGS- UND REZITATIONSTEXTE AUS BERIOS »SINFONIA«Eine Werkeinführung als Bestandteil des Stückes

 Der Titel »Sinfonia« ist hier im etymologischen Sinn des »Zusammenklingens« – von acht Stimmen und Instru-menten – zu verstehen. Obwohl die fünf Sätze äußerst verschiedenartige Ausdruckscharaktere aufweisen, sind sie aufs Ganze gesehen doch durch vergleichbare harmo-

nische und artikulatorische Eigenschaften miteinander verbunden. Der Text des ersten Teils besteht aus einer Reihe kurzer Fragmente aus dem Buch »Le cru et le cuit« von Claude Lévi-Strauss. Diese Frag-« von Claude Lévi-Strauss. Diese Frag-Lévi-Strauss. Diese Frag-mente sind den Abschnitten des Buches entnommen, in denen der französische Anthropologe die Struktur und die Symbolik brasilia-nischer Mythen über den Ursprung des Wassers analysiert.

Der zweite Teil ehrt das Andenken Martin Luther Kings. Die Vokalpartie beruht ausschließlich auf seinem Namen.

Der Text des dritten Teils enthält im wesentlichen Exzerpte aus »The Unnamable« von Samuel Beckett, denen sich Zug um Zug andere Elemente verschiedenartiger Herkunft zugesellen: Joyce, Sätze von Harvard-Studenten, Parolen, die Studenten im Mai 1968 während des Pariser Aufstands – dessen Zeuge ich war – an die Mauern der Sorbonne schrieben, auf Tonband aufgenommene Ge- spräche mit Freunden und mit meiner Familie, Solfège-Fetzen usw.

ENTSTEHUNG

1967 / 1968 / 1969, u. a. auf Sizilien

UR AUFFÜHRUNG

viersätzige Fassung: 10. Oktober 1968 in New Yorkendgültige, fünfsätzige Fassung: 18. Oktober 1969 in Donaueschingen – Auftragswerk des New York Philharmonic Orchestra

WIDMUNG

Leonard Bernstein in Erin-nerung an eine denkwürdige Aufführung von Gustav Mahlers zweiter Symphonie, die Berio unter Bernsteins Leitung 1967 in New York erlebt hat

BESETZUNG

3 Flöten, Piccolo, 2 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Es-Klarinette, Alt-Saxophon, Tenor-Saxophon, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Harfe, E-Orgel, E-Cembalo, Klavier und Streicher

DAUER

ca. 30-35 Minuten

Luciano Berio* 24. September 1925 in Oneglia bei Genua† 27. Mai 2003 in Rom

»Sinfonia«für acht Stimmen und Orchester

1. [ohne Bezeichnung]2. O King. Immobile e lontano3. In ruhig fließender Bewegung4. [ohne Bezeichnung]5. [ohne Bezeichnung]

10 11 9. SYMPHONIEKONZERT

Im vierten Satz beruht die Vokalpartie auf einem kurzen Aus-schnitt eines Textes, den ich bereits im ersten Satz verwendet habe.

Auch der Text des fünften Satzes ist im Wesentlichen vom ersten abgeleitet, diesmal allerdings unter Hinzufügung neuer Elemente aus »Le cru et le cuit«. Hier werden Fragmente zweier Mythen übereinandergelagert. Sie zeigen �hnlichkeit und Paral-. Sie zeigen �hnlichkeit und Paral-lelität in ihrer Struktur, haben aber verschiedene Bedeutung. Der eine bezieht sich wiederum auf den Ursprung des Wassers, der andere auf den Ursprung der Musik. Diesen zweiten Text stellte mir Gérard Brunschwig liebenswürdigerweise zur Verfügung. Musikalisch »träumt« dieser fünfte Satz von Elementen der vorher-gegangenen Sätze und »analysiert« sie – es handelt sich fast um eine »Traumdeutung«. Bestimmte Elemente treten nur einmal auf, bei anderen wiederholt sich ihre Erscheinung in gleichbleibender Weise, wieder andere sind unterschiedlichen Transformations-formen und Transformations-Geschwindigkeiten unterworfen. Zum Beispiel enthält dieser fünfte Satz den ganzen zweiten Satz in völlig unveränderter Gestalt. Die Behandlung der Vokalpartien in den Sätzen I, II, IV und V ist sich jeweils darin ähnlich, dass der Text als solcher nicht unmittelbar erfasst werden kann. Die Worte und ihre Phoneme werden einer musikalischen Analyse unterworfen, die einen wesentlichen Bestandteil der Gesamtstruktur aus dem Zusammenwirken von Stimmen und Instrumenten bildet. Der wechselnde Grad an Textverständlichkeit ist Teil der musikalischen Struktur, und deshalb werden die von mir verwendeten Worte und Sätze nicht im Konzertprogramm abgedruckt. Die Erfahrung des »Nicht vollständig Hörbaren« soll als wesentlich für das Werk selbst betrachtet werden.

Ich glaube, dass der dritte Satz einen ausführlicheren Kommentar verlangt als die übrigen Sätze, denn er ist – um eine Klischeewendung zu gebrauchen – die vielleicht »experimentellste« Musik, die ich je geschrieben habe. Der Satz stellt eine Huldigung an Gustav Mahler dar, dessen Werk das Gewicht der ganzen Musik-geschichte in sich zu tragen scheint; auch ist er eine Huldigung an Leonard Bernstein für seine unvergessliche Interpretation der »Aufer-stehungs-Symphonie« in der New Yorker Konzertsaison 1967.

Das Ergebnis wird zu einer Art »Voyage à Cythère« an Bord des dritten Satzes aus Mahlers zweiter Symphonie. Ich habe den Mahlerschen Satz wie ein Gefäß behandelt, in dessen Wänden eine große Zahl »musikalischer Mythen« und Anspielungen entwickelt, in gegenseitige Beziehung gesetzt und transformiert wird: von Bach, Schönberg, Debussy, Ravel, Richard Strauss, Berlioz, Brahms, Berg, Hindemith, Beethoven und Strawinsky bis zu Boulez, Pousseur, Globokar, Stockhausen, mir selbst und anderen.

Es lag weder in meiner Absicht, Mahler zu zerstören – er ist unzerstörbar – noch einen privaten Komplex gegenüber der nach-romantischen Musik abzureagieren – ich habe keinen – noch eine weit gesponnene musikalische Anekdote zu erzählen – wie das junge Pianisten gerne tun. Zitate und Anspielungen wurden eher wegen ihres potentiellen als wegen ihres realen Bezugs zu Mahler ausge-wählt.

Die Gegenüberstellung und Verschmelzung kontrastierender Elemente gehört tatsächlich zum Entscheidendsten in diesem Satz der »Sinfonia«, der sich – wenn man so will – auch als Dokumenta-»Sinfonia«, der sich – wenn man so will – auch als Dokumenta-Sinfonia«, der sich – wenn man so will – auch als Dokumenta-«, der sich – wenn man so will – auch als Dokumenta-, der sich – wenn man so will – auch als Dokumenta-tion über »vorgefundenes Material« ansehen lässt. Als struktureller Bezugspunkt bedeutet Mahler für die musikalische Gesamtheit dieses Satzes das gleiche wie Beckett für den Text. Man könnte das Verhältnis zwischen den Worten und der Musik als eine Art Interpre-tation – nochmals: Traumdeutung – jenes gefühlsstromartigen Dahin-fließens charakterisieren, welches das unmittelbarste Ausdrucks-merkmal in Mahlers Satz darstellt. Wenn ich beschreiben sollte, auf welche Weise das Scherzo von Mahler in meiner »Sinfonia« gegen-wärtig ist, so käme mir spontan das Bild eines Flusses in den Sinn, der eine beständig wechselnde Landschaft durchläuft, manchmal in ein unterirdisches Bett versinkt und an einem ganz anderen Ort wieder ans Tageslicht dringt, bisweilen in seinem Lauf klar vor uns liegt, mitunter vollkommen verschwindet, gegenwärtig ist als völlig überschaubare Form oder auch als schmales Rinnsal, das sich in der vielfältigen Umgebung musikalischer Erscheinungen verliert.

L U C I A N O B E R I O

Übersetzung: Josef Häusler/UE

12 13 9. SYMPHONIEKONZERT

OPUS APERTUSBemerkungen zu Luciano Berios »Sinfonia«

 In einem wegweisenden Kindheitstraum erlebt Luciano Berio das faszinierende Abenteuer, die Ozeane der Welt als Kapitän zu durch-kreuzen und zahlreiche Häfen anzulaufen, ohne sich fest an einen Ort binden zu müssen. Es drückt die Sehnsucht aus, bei jedem Ankern in fernen Ländern den offenen Horizont weiterhin im Blick

zu behalten. Eine Vision des Überblicks. Die produktive Aneignung von Neuem, sei es von Landschaften oder von Musik, beschreibt nur einen Moment innerhalb eines Prozesses, der unaufhörlich voranschreitet und jedes Angesteuerte sogleich mit einer Aura der Distanz belegt – für Berio ein schöpferisches Spannungsverhältnis, das für eine zeitgemäße plura-listische Bestandsaufnahme dem Versuch unterliegt, Unterschiedliches zusammenzudenken. Dazu zählt vor allem der Umgang mit Geschichte. Berio vertritt die Auffassung, dass die kulturelle Vergangenheit von beständiger Präsenz ist. »Es besteht kein Zweifel«, so der Komponist, »dass wir stets unsere Vorfahren mit uns herumtragen – eine Menge von Erfahrungen, ›den Schmutz auf unseren Schultern‹, wie Sangui-neti sagt, und folglich eine virtuelle Sammlung einer Auswahl aus dem fortwährend präsenten Lärm der Geschichte. Wir können diesen Lärm filtern, verantwortungsvoll und bewusst das eine statt dem anderen Ding auswählen – und versuchen zu verstehen, welche Kombination der ausgewählten und gefilterten Ereignisse unseren Erfordernissen am besten entspricht und es uns erlaubt, einen besseren Zugang zu uns selbst zu bekommen.« Die freiheitliche, selbstbestimmte Individu-alität, so der Tenor, entlässt nicht aus der Pflicht, mit der Geschichte zu arbeiten, namentlich dann, wenn die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in Europa vielleicht verdrängt, nicht aber vergessen sind. Als Berio seine »Sinfonia« 1968 komponiert, befindet sich Europa in Bewegung. Gerade jüngere Menschen besinnen sich auf ein geschichtliches Denken, das nach 1945 tabuisiert oder marginalisiert wurde. Weder glaubt Berio an einen sauberen Schnitt noch an einen historischen Nullpunkt oder eine »tabula rasa«. Der Fluss der Geschichte lässt sich nicht aufhalten. Dort, wo er anschwillt, sammelt er seine Kraft und bricht umso stärker hervor.

Der italienische Komponist Luciano Berio steht für vieles: er ist ebenso ein mediterraner Rationalist wie ein Pragmatiker und Nicht-Dogmatiker, ruhelos getrieben in den Chaos-Schluchten der Geschichte. In Oneglia bei Genua geboren, gilt er als ästhetisch-politischer Gegenpol zu Luigi Nono. Berio, politisch gleichermaßen eher links, teilt den Westblick mit einem berühmten Landsmann, dem ebenfalls aus Genua stammenden Christoph Kolumbus. Nicht zufällig hält sich Berio oft in Amerika auf, wo er auch lehrt, von 1965-1971 unterrichtet er an der Juilliard School in New York. Seine »Sinfonia« von 1968 präsentiert im dritten Satz quasi ein »Scherzo to end all Scherzos« als Musik über Musik: Über dem komplett durchlaufenden »Fischpredigt«-Scherzo aus Mahlers zweiter Symphonie erhebt sich eine verwirrend dichte Folge aus Zitaten von Bach bis Berio. Das Werk wird ein enormer Erfolg, trägt dem Komponisten aber auch den Vorwurf des »Verrats« an der »wahren« Avantgarde ein.

14 15 9. SYMPHONIEKONZERT

Im unübersichtlichen Strom geschichtlicher Gestalten bilden historische Bezugsgrößen Orientierung gebende Wegmarken und entwickeln sich zu Referenzgrößen.

1967 zeigt sich Berio tief bewegt von Leonard Bernsteins Auffüh-rung der zweiten Symphonie von Gustav Mahler in New York. Es wundert daher nicht, dass das Schaffen des großen Symphonikers in Berios »Sinfonia« eingeflossen ist. Vor allem hat es der dritte Satz zu einiger Berühmtheit gebracht: Er wird getragen vom Scherzo aus Mahlers zweiter Symphonie, der sogenannten »Auferstehungs-Symphonie«. Mahlers Musik setzt im achten Takt ein und erscheint in melodischen Fragmenten, reduziert als Solmisation oder in Form einer Umspielung des Tonmaterials, als harmonisches oder metrisches Gerüst. Berio führt Mahlers Kompositionsprinzip weiter und legt über das phasenweise mehr oder weniger hörbare Ausgangsmaterial weitere Schichten aus musi-kalischen Zitaten von Bach, der Zweiten Wiener Schule um Schönberg, Webern und Berg sowie Vertretern der Darmstädter Schule mit Boulez oder Stockhausen. Schon Mahler übernimmt in seinem Scherzosatz eine erweiterte Form seines »Wunderhorn«-Lieds »Des Antonius von Padua Fischpredigt« und spielt hier auf Beethovens letzte Violinsonate op. 96 sowie auf Trioteile von Bruckners vierter Symphonie an. Zudem finden sich am Ende in Mahlers Scherzo Reste aus Schumanns neuntem Lied der »Dichterliebe« (»Das ist ein Flöten und Geigen«).

»Old favourites«

Die gesungenen wie gesprochenen Textschichten ergeben im dritten Satz der »Sinfonia« das Muster einer Collage. Wenn überhaupt, so kann Samuel Becketts 1953 veröffentlichter Roman »L’Innommable« (»Das Unnennbare« oder auch »Der Namenlose«) als literarischer Haupttext aufgefasst werden. Weitere Quellen verweisen auf James Joyce. Zusätzlich nutzt Berio Bruchstücke aus Alltagsgesprächen – alles gesprochen, gesungen oder dargeboten in einem Solfeggio sowie in unterschiedlichen lautlichen �ußerungen und Gesten. In gewisser Weise folgen die Wortfetzen der Anordnung der musikalischen Zitate und scheinen diese zu kommentieren. Die im dritten Satz anfänglich geäußerte »Peripetie« (Wendepunkt in einem antiken Drama oder im Schicksal eines Menschen) nimmt Bezug auf Schönbergs Orchester-stück op. 16, 4. Es wird verknüpft mit der stimmlichen �ußerung »nicht eilen. Recht gemächlich«, die originale Vortragsbezeichnung des Mahler-schen Scherzos. Wenn die Stimmen »Nothing more restful than chamber music« sprechen, deuten sie auf Hindemiths »Kammermusik«. In der Bezeichnung von »La valse« und »Rosenkavalier« als »Old favourites«

 Zum ersten Mal traf ich Luciano 1987 in den Vereinigten Staaten, als er Katia und Marielle [Labèque] in seinem »Concerto« für zwei Klaviere mit dem Cleveland Orchestra diri-gierte. Sie waren noch jung, als sie die von

ihm geleitete Paris-Premiere seiner »Sinfonia« erlebten. Überwältigt von dieser Musik, gingen sie danach zu ihm und baten ihn, ein Concerto für zwei Klaviere zu schreiben – was er auch tat. Als Marielle in mein Leben trat und ich bemerkte, dass sie das Werk gemeinsam mit Berio in Cleveland zur Aufführung bringen wollte, flog ich dorthin und besuchte ihr Konzert. Damals war ich ziem-lich entfernt von der Sprache seiner Musik und fühlte mich eher von ihr ausgeschlossen. Ich sagte mir, der einzige Weg, eine Verbindung zu ihr herzustellen, wäre ein Konzert zu hören, das der Komponist selbst dirigierte. Am Ende einer solchen Aufführung begann sich in mir etwas zu verändern. Wir gingen danach noch zu viert auf einen Drink. Dort führten wir unser Gespräch ziemlich lange fort und in dieser Nacht begann eine sehr schöne Freund-schaft, die bis zu seinem Tode anhielt – mit verschiedenen gemeinsamen Projekten.

Irgendwann, als wir stundenlang am Telefon spra-chen, stellte ich ihm viele Fragen über »Sinfonia«, »Render- ing«, das »Concerto« für zwei Klaviere und »Canticum novissimi testamenti«. Luciano war in seiner Notation nicht übergenau und ich hatte Fragen zu Tempo und Arti-kulation bis hin zum Prüfen auch der eindeutigen Noten. Er war sehr geduldig. Außerdem verfügte er über eine so außergewöhnlich fröhliche Gabe, über Musik zu reden – über alle Arten von Musik. Ihm war es geschenkt, allen, die nicht vertraut waren mit seiner Welt, seine Musik mit einfachen Worten zu erklären, den wohl schwierigsten Gedanken in einem musikalischen Prozess.

S E M Y O N B Y C H K O V

16 17 9. SYMPHONIEKONZERT

klingt eine ironische Distanz an. Kalauernd nimmt Berio in der Ansage »It’s a fantastic public performance« auf Berlioz’ »Symphonie fantastique« Bezug. Mitunter führt der »running comment« zu einer Anmerkung über die formale Ausgangsgestalt: die erste Reprise des A-Teils (Scherzo-Teil) wird mit »I shall say my old lesson now, if I can remember it« angekündigt. »But now it’s over, we’ve had our chance« steht am Ende des letzten Trio-Teils.

Auffällig ist, dass Berio Textpassagen aus Becketts »Der Namen-lose« auswählt, um auf die Ohnmacht des Komponisten hinzuweisen. Dessen Musik »can’t stop the wars, can’t make the older younger, or lower the price of bread«, wie er ein Zitat von Beckett weiterführt. Skepsis und Resignation bestimmen seine Arbeiten. Auch hier tritt Mahler als Kronzeuge auf. In seinem Lied »Des Antonius von Padua Fischpredigt« dominiert ebenfalls eine Auffassung von Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit. Die Kirche des Predigers bleibt leer. Auch wenn Anto-nius zu den Fischen spricht, vermag er sie mit seiner Botschaft nicht zu erreichen. Spuren eines Weltekels zeigen sich, wenn Mahler angesichts des Scherzos in seiner zweiten Symphonie gegenüber Natalie Bauer-Lechner und Max Marschalk von einem einsamen und ausgeschlos-senen Beobachter spricht, der durch ein Fenster Zeuge einer sichtbaren, gleichwohl stummen Szene eines festlichen Ballsaals wird. Die Metapher des Ballsaals nutzt Berio für eine Reihe musikalischer Zitate mit einer Assoziation auf Tanz, Walzer oder Ball, etwa Strauss’ Walzer aus dem »Rosenkavalier«, Ravels »La valse« und »Daphnis et Chloé«, Berlioz’ »Un bal« aus der »Symphonie fantastique« oder Strawinskys »Sacre« und »Agon«. Die Fischpredigt hingegen dient als bildhafter Impuls für die zahlreichen wasserbezogenen Zitate, angefangen mit Beethovens sechster Symphonie, zweiter Satz: »Szene am Bach«, über Debussys »La mer« und der vierten Szene des dritten Aktes aus Bergs »Wozzeck«, wo

Wozzecks Selbstmord im Teich beschrieben wird, bis zu Schönbergs Orchesterstück op. 16, 3, »Farben«, das nach Aussage des Komponisten durch die Betrachtung eines Sees in der Dämmerung ausgelöst wurde. Die Zusammenstellung der Zitate mag dabei durchaus vom Zufall geprägt sein. Berio bedient sich jener Quellen, die er während der Komposition auf Sizilien gerade mit sich führt oder in Bibliotheken und Musikalien-läden vorfindet. Aber auch die Kreativität der ausführenden Musiker ist gefragt, nicht ohne die Fügung der jeweiligen Umstände immer wieder auf die Probe zu stellen. So fordert Berio gegen Ende des dritten Satzes, dass der Klavierspieler etwas aus dem Konzertprogramm des laufenden Abends spielt, beispielsweise aus einem Werk, dass im Konzertprogramm der »Sinfonia« folgt.

Spiel der Wellen

Vieles kreist, wie erwähnt, um die Metaphorik des Wassers, was auf einer Insel nicht ohne Bedeutung ist. Mahlers am Wasser predigender Antonius von Padua avanciert zu einem Kristallisationspunkt, von dem aus �ußerungen wie »Les jeux de vagues« (»Das Spiel der Wellen«) oder »the flow of the ocean currents« anknüpfen. Schließlich verbindet Berio das Meer mit dem Tod: »la mer, la mer toujours recommencée« aus Valérys »Le cimetière marin« – ein Einschnitt, in dem Vergehen und Beginnen sich semantisch neu aufladen. Bereits 1962 entwi-ckelt Umberto Eco in seinem Essay »Opera aperta« eine Poetik des mehrfachen Sinnes. Das »offene« Kunstwerk ist nicht mehr eindeutig. Vor diesem Hintergrund kommt es zu einem beziehungsreichen Spiel auf der Ebene der Bedeutungen und Verweise. Wasser kann demnach als Allegorie auf den Fluss der Tradition verstanden werden; ferner lassen sich die von Berio verwendeten Zitate als ein

18 19 9. SYMPHONIEKONZERT

»Ausufern des Erzählflusses« (Thomas Gartmann) deuten. Die in Berios Werkeinführung angesprochene »Fahrt nach Cytherea«, der Geburtsinsel der Aphrodite, richtet schließlich den Blick auf die Mythologie. Im ersten Satz der »Sinfonia« beruft sich Berio hauptsäch-Sinfonia« beruft sich Berio hauptsäch-« beruft sich Berio hauptsäch- beruft sich Berio hauptsäch-lich auf Lévi-Strauss, wenn der französische Anthropologe in »Le cru et le cuit« (»Das Rohe und das Gekochte«) auf die Struktur und Symbolik brasilianischer Mythen über den Ursprung des Wassers eingeht und das himmlische Wasser des Regens dem aus der Erde quellenden Wasser gegenüberstellt. Auch im fünften Satz taucht der Mythos vom Ursprung des Wassers wieder auf, überlagert von einem Mythos der Bororo im brasilianischen Kernland.

Ist eine umfassende Lesart des Werks über die Bedeutung des dritten Satzes hinaus möglich? Das letzte gesungene Wort im ersten Satz »[héros] tué« ist mit dem zweiten Satz verbunden, dessen Namensgeber Martin Luther King während Berios Arbeit an der »Sinfonia« am 4. April 1968 in Memphis ermordet wird. Der Hoffnungsträger nicht nur vieler farbiger Amerikaner lässt sich umstandslos sowohl in die Wasser-thematik einfügen (sein Mord ereignet sich unweit der schwellenden Ufer des Mississippi River) als auch gleichzeitig in der Figur des vergeb-lich Predigenden spiegeln. Auch das von den Stimmen vorgetragene »Rose de sang« [»Blutrose«] im vierten Satz kann als Kommentar auf die aktuelle Situation des Jahres 1968 verstanden werden, überdies bildet der gleiche Klang am Ende des vierten Satzes und Beginn des fünften Satzes eine kompositorische Klammerfunktion. Eine mutmaßliche Parallele zu Martin Luther King ergibt sich aus Mahlers später zurück-gezogenem Programm zu seiner zweiten Symphonie, wo der zweite Satz als »seliger Augenblick aus dem Leben dieses theueren Todten und eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld« beschrieben wird. Die mehrfach wiederholte �ußerung »Rose de sang« im vierten Satz der »Sinfonia« findet einen unüberhörbaren Widerhall in »O Röschen roth« am Anfang des vierten Satzes von Mahlers zweiter Symphonie – Entsprechungen, die Berio mit unterschiedlichen Techniken des Paraphrasierens neu ausdeutet. Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit werden neu formuliert. Sinn und Bedeutung entfalten ein breites Tableau, das zu unterschiedlichen Auslegungen geradezu provoziert. Berios »Sinfonia« versteht sich daher als ein Aufruf. Es ist der Aufruf eines offenen Kunstwerks, das nicht ›fertig‹ ist, wenn sein Schöpfer es in das Treiben der Welt entlässt. Es fordert den Rezipienten zum Auswählen und Neukombinieren von Bedeutung auf. Erst hier, in der Rezeption, findet es zu einer neuen Formatierung.

A N D R É P O D S C H U N

Ausstellung über den Capell-Compositeur

ARVO PÄRT – DER BEKANNTE UND

UNBEKANNTEverlängert bis 11. Juni 2018 in Verbindung

mit Vorstellungsbesuchen im elbseitigen Vestibül der Semperoper

20 21 9. SYMPHONIEKONZERT

»ICH BRAUCHE KEINEN RUHM, SONDERN RUHE!«Zu Pjotr Tschaikowskys fünfter Symphonie

 »Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht fern. Lohnt sich denn dann alles noch?« Der Urheber dieser Tage-buchnotiz ist achtundvierzig Jahre alt, befindet sich gerade auf einer erfolgreichen Europatournee, brilliert als Dirigent und wird als Komponist gefeiert: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky.

Man schreibt das Jahr 1888. Ein äußerlich erfolgreiches Jahr für den russischen Komponisten, trotzdem quälen ihn Fragen und Zweifel am Sinn des Lebens. Auf dem Höhepunkt seiner äußerst erfolgreichen Gast-spielreise mit eigenen Werken konstatiert er: »Dieses von gesellschaft-lichen Verpflichtungen getragene Leben ist ermüdend. Ich bin zu Tode erschöpft.« Und wenig später: »Ich brauche keinen Ruhm! Ruhe möchte ich endlich haben!«

Tschaikowsky zieht sich aufs Land zurück, sucht Erholung in der Stille der Natur. Aus der existentiellen Krise erwächst ein Kunstwerk, die Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64. Singulär wird dieses Werk, weil es den herrschenden Symphonietypus in Frage stellt, ohne dass es ihr Schöpfer lautstark verkündet. Die fünfte Symphonie wird von einem ganz bestimmten Thema dominiert, ohne im eigentlichen Sinn monothema-tisch zu sein. Zwar ist das Motto-Thema in allen Sätzen präsent, doch

ENTSTEHUNG

zwischen April und August 1888 in Frolowskoje bei Klin

UR AUFFÜHRUNG

am 5. (17.) November 1888 in St. Petersburg (Orchester der Russischen Musikgesellschaft, Dirigent: Pjotr Iljitsch Tschai-kowsky)

BESETZUNG

2 Flöten, Piccolo, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher

DAUER

ca. 55 Minuten

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky* 25. April (7. Mai) 1840 in Wotkinsk † 25. Oktober (6. November) 1893 in St. Petersburg

Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64 1. Andante – Allegro con anima 2. Andante cantabile, con alcuna licenza 3. Valse. Allegro moderato 4. Finale. Andante maestoso – Allegro vivace

22 23 9. SYMPHONIEKONZERT

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (um 1888). Tschaikowsky versieht das Porträt mit einer handschriftlichen Widmung an Antonín Dvořák, den er auf seiner Gastspielreise 1888 in Prag persönlich kennenlernt.

tritt es weder als Erinnerungsmotiv, noch schlechthin als »idée fixe« in Erscheinung. Es hat eine andere Funktion, nämlich von den ersten Takten an den Weg in ein alternativloses Finale zu weisen.

Fatum in der Kunst wie im Leben

Im Vergleich dazu völlig anders geartet: das symphonische Prinzip eines Ludwig van Beethoven. Dessen Symphonien geben das Steno-gramm einer hinausgeschobenen Entscheidung, in der die tätige Zeit auf ein unbekanntes Ziel hinstrebt. Hier ist alles offen, wird ein Kampf gewagt. Bei Tschaikowsky gibt es dieses Kämpfen nicht. Bei allen harmonischen wie thematischen Wandlungen: in dieser fünften Symphonie handelt es sich ausschließlich um das Herausarbeiten und Erfüllen einer vorab gesetzten unveränderlichen Gegebenheit. Man muss wissen: Zu Tschaikowskys Lebzeiten wurde Beet hoven in Russ-land kultisch verehrt. Das hatte Gründe. Seit dem Attentat auf Zar Alexander I. im Jahr 1881 herrschte Friedhofsruhe im Zarenland. Aber nur äußerlich, denn in den inneren Kreisen des aufgeklärten Adels und des Bürgertums, den kulturtragenden Schichten also, gärte es. Für sie fand in Beethovens Musik statt, was in der Gesellschaft unmöglich war: Veränderung, Kampf, Bewegung.

Tschaikowsky jedoch bekundete gegenüber dem »Titanen« unter den Ton setzern zwiespältige Gefühle: »Bewunderung, gleichzeitig aber auch Furcht!« Dabei teilte der Komponist seinen Zwiespalt gegenüber Beethoven mit einem der größten russischen Dichter jener Zeit, mit dem hochverehrten Lew Tolstoi. Mehr noch, Tschaikowsky war nach eigenem Zeugnis durch Tolstoi »mit der Welt des musikalischen Ideals« in Berüh-rung gekommen. Was aber war Tolstois Musikideal? Es war das »plötz-liche, lebendige Bewusstwerden eines erschreckenden Gegensatzes zwischen etwas unendlich Großem und Unbegrenztem, das in unserem Innern lebt, und etwas Begrenztem und Körperlichem, das wir zugleich auch sind«. An Beethoven schätzte und fürchtete der Dichter die schock-haften Kontraste, die Heftigkeit der Umschwünge. Er bezweifelte seinen Anspruch, dem »Schicksal in den Rachen« greifen zu können. Und wie der Dichter Tolstoi glaubte auch der Komponist Tschaikowsky nicht an »titanische« Kräfte des Menschen.

»Fatum« hatte der 28-jahrige Tschaikowsky 1868 eine sympho-nische Fantasie genannt. Zwei Jahrzehnte später machte der 48-Jährige das eigene Fatum zum Gegenstand seiner fünften Symphonie: Leben im Zeichen eines unausweichlichen Verhängnisses. Gibt er im Jugendwerk dem Schicksal noch eine mehr äußerlich-dramatische Gestalt, kommt im späten Opus seine inzwischen gereifte Lebenserfahrung zum Ausdruck.

24 25 9. SYMPHONIEKONZERT

mit dem edlen, aber runden Gesicht eines Tenors, in voller Uniform. Die Hornmelodie meint den Duft und das heiße Werben des Offiziers. Eine zarte, keusche Mädchenstimme antwortet. Es ist die Oboe, die Tochter des Generals. Die beiden müssen bereits im Einverständnis sein, kein Widerstand. Da fahren schneidend kriegerische Klänge dazwischen, die kaiserliche Garde, an ihrer Spitze der alte General. Unerbittlich fordert er Rechenschaft von dem jungen Offizier.« Tschaikowskys Musik wird hier Affekt-Duselei und Effekt-Hascherei unterstellt, die spirituelle Kompo-nente wird ausgeklammert. Dem Theoretiker der Neuen Musik erschien Tschaikowskys Popularität im deutschen Musikbetrieb des zwanzigsten Jahrhunderts mehr als verdächtig.

Endet der zweite Satz mit einem »Nein«, hebt der dritte Satz mit einem »Trotzdem« an und kündet von einer »gewissen wohltätigen, freundlichen menschlichen Gestalt« (Tschaikowsky). Doch die A-Dur-Beschwingtheit dieses Walzers ist trügerisch, denn auch hier lauert im Untergrund, sich aus der Tiefe emporarbeitend, das allbekannte Motto-Thema aus dem ersten Satz. Klaus Mann hat in seinem berühmten Tschaikowsky-Roman »Symphonie Pathétique« für Tschaikowskys innere Gestimmtheit den Satz geprägt: »Irgendwo anders sein – am besten nirgends – nur nicht hier.« Diesem Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein und doch den richtigen Ort nicht zu wissen, gibt dieser dritte Satz der fünften Symphonie adäquaten Ausdruck.

Rätselhaftes Finale

Ist das Motto-Thema im dritten Satz nur schattenhaft präsent, so eröffnet es in nackter Unmittelbarkeit und »molto maestoso«, nach kraftvollem E-Dur gewendet, den Finalsatz. Sein Sonaten-Allegro steigert sich zum Geschwindmarsch mit wild losbrechender Reprise. Presto setzt die Coda ein, schmettern Trompeten das Motto-Thema. Rätselhaft und bis heute kontrovers diskutiert ist dieser letzte Satz, in dem die Grundtonart e-Moll nicht nur dem gleichnamigen Dur zu weichen hat, in dem auch ein wie angehängter, »angeflickter« Schluss das Motto-Thema ein letztes Mal schmissig präsentiert. Von Theodor W. Adorno stammt das spitze Bonmot, bei Tschaikowsky kehre nach der Katastrophe der versäumte Anfang wieder, »als wenn nichts Schlimmes geschehen wäre«.

Tatsächlich gilt gemeinhin schon der Wechsel von Moll nach Dur als Übergang von Trauer zu Glück. Nicht aber hier. Tschaikowsky hat die Vorbilder dieses Finales namhaft gemacht: die Schluss-Szenen der beiden Opern »Ein Leben für den Zaren« sowie »Ruslan und Ljudmila« von Michail Glinka. In beiden Opern gibt es ein kräftig jubelndes Chorfinale, aber kein »lieto fine«. Zwar hat die Trauer zu schweigen, wird öffentlich-

Der Kopfsatz: Omnipotentes Motto

Das eröffnende Motto-Thema ist von düsterem Ernst, linear geführt – seinem Moll ist keine weiche Form mehr gegönnt. Es ist omnipotent, aber kein Zeichen für eine äußere Lage, sondern Ausdruck einer inneren Gestimmtheit: »Völlige Ergebung in das Schicksal, oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluss der Vorsehung«, lautete Tschai-kowskys Kommentar.

Dem Andante der Introduktion folgt in einem Allegro ein aktivie-rend-pulsierendes Hauptthema, von expressiven Nebenthemen umlagert. Es kommt, nach Tschaikowskys Worten, zu »Murren, Zweifeln, Klagen, Vorwürfen wegen xxx« (= eine von Tschaikowskys Chiffren für seine Homosexualität). Und mit diesen »Murren, Zweifeln, Klagen, Vorwürfen« sind nicht etwa die restriktiven Vorurteile der damaligen Gesellschaft gemeint, sondern Tschai kowskys eigene Unsicherheiten, Zweifel und �ngste. So intim-persönlich diese Aussage ist, so normhaft-streng handhabt der Komponist das Prinzip der Sonatenhauptsatzform. Das Hauptthema steigert das musikalische Geschehen bis zum Fortissimo; Pianissimo hebt im Fagott die Reprise an, und die Coda klingt in den tiefen Streichern leise aus: Erregung, schmerzvoll-lustvoller Höhepunkt und Resignation.

Glaube ohne Erlösung

Wird die alte Frage nach einem möglichen »per aspera ad astra« in der Regel in allen Sätzen einer Symphonie diskutiert, um im Finale beant-wortet zu werden, handelt Tschaikowsky diese Frage hier in einem einzigen Satz ab, und zwar ungewöhnlicherweise im zweiten (lang-samen) Satz. »Sollte man sich nicht dem Glauben in die Arme werfen???«, notierte er als Programm des Andante-cantabile-Satzes. Und tatsächlich entspringt der choralartigen Streichereinleitung die berühmte empha-tische Hornmelodie. Dazu gesellt sich eine sanfte, helle Weise in der Oboe, vom Komponisten als »Lichtstrahl« bezeichnet. Sie kündet von Hoffnung und Erlösung. Doch zweimal fällt das Himmelstor zu: das Intro-duktionsthema fährt donnernd dazwischen, die Hoffnung verlöscht im vierfachen Pianissimo.

Ohne diesen gedanklichen Hintergrund lässt sich Tschaikowskys Musik leicht missdeuten, was dem berühmten Philosophen und Musik-publizisten Theodor W. Adorno gelang, der im zweiten Satz den Vorläufer einer Stummfilmszenerie erkennen wollte und den musikalischen Verlauf entsprechend beschrieb: »Sonnige Mondnacht auf der Krim. Garten des Generals, helle Wolken, Bank unter Rosen. Ein junger praller Offizier,

26 27 9. SYMPHONIEKONZERT

Das Komponisten-Denkmal im Garten des Tschaikowsky-Museums in Klin

festliche Stimmung laut, aber es ist ein sehr gewalttätiger Jubel – ein Außen stülpt sich über ein Innen, die Konvention trägt den Sieg davon. Auch im Presto-Finale der fünften Symphonie donnern die Tutti-Schläge in nicht endender Folge: ein militanter Triumph, die Niederlage gibt sich als Sieg – nicht die Lösung von Konflikten ist erreicht, sondern ihre Verdrängung. Wie im Leben Pjotr Iljitsch Tschaikowskys, so auch in seiner Kunst. Eine »russische Konfliktlösung« von anno dazumal – oder eine auch heute noch gebräuchliche »Stundung« von Konflikten, ein »auskomponierter Alptraum«? Das Problem ist vielschichtiger: Die Konvention siegt zwar, das Subjekt unterliegt ihr – aber es triumphiert trotzdem. »Fatum« erweist sich nicht nur als Vollzug eines unausweich-lichen Verhängnisses, sondern auch als Bestätigung für die Unveränder-barkeit des Subjekts.

Charakter als Schicksal

Das überdeutliche Finale ist nicht eindeutig. Hier entlädt sich, wie in der gesamten Symphonie, ein emotionaler Überdruck. Diesen auszu-musizieren und dabei doch die kunstvolle Regelmäßigkeit der Form zu wahren, hat seit jeher Dirigenten gereizt und zu immer neuen Interpre-tationen herausgefordert. Tschaikowsky selbst war als Dirigent zu wenig professionell, um bei der Uraufführung am 5. (17.) November 1888 den Anforderungen der Partitur zu genügen. So projizierte er seine eigenen Unzulänglichkeiten als Dirigent auf das Werk und befand bereits einen Monat nach der Uraufführung, dass ihm die fünfte Symphonie »völlig misslungen« sei, »zu bunt, zu massiv, zu künstlich«. Erst Arthur Nikisch rettete mit seinem St. Petersburger Dirigat von 1892 das Werk vor der drohenden Vernichtung durch seinen Schöpfer.

Das Besondere der fünften Symphonie: Sie fordert nicht nur den Dirigen ten als schöpferischen Mitgestalter, jede neue Interpreta-tion belebt auch zu gleich die seit Homer andauernde Diskussion des Schicksalsbegriffs. Unmissverständlich und brüskierend offen bekannte Tschaikowsky, dass das Schicksal des Menschen der Mensch selbst sei. Wie heißt es doch im Talmud? »Gedanken werden Worte. Worte werden Handlung. Handlungen werden Gewohnheiten. Gewohnheiten werden Charakter. Der Charakter ist dein Schicksal.«

S I G R I D N E E F

28 29 9. SYMPHONIEKONZERT

FlötenRozália Szabó Solo

Bernhard KuryCordula BräuerDóra Varga-Andert

OboenSebastian Römisch Solo

Michael GoldammerJesus Morillas Alonso*

KlarinettenRobert Oberaigner Solo

Egbert Esterl Jan Seifert Christian Dollfuß

FagotteJoachim Hans Solo

Hannes SchirlitzAurelius Voigt**

HörnerRobert Langbein Solo

Andreas LangoschDavid HarloffMiklós TakácsKlaus Gayer

TrompetenTobias Willner Solo

Peter LohseSiegfried SchneiderAlexander Schuhwerk**

PosaunenJonathan Nuss Solo

Christoph AuerbachStefan Lüghausen*

TubaHans-Werner Liemen Solo

PaukenThomas Käppler Solo

SchlagzeugSimon EtzoldJürgen MayDirk Reinhold

HarfeVicky Müller Solo

CembaloJobst Schneiderat

OrgelSonnhild Fiebach*

PianoKristi Becker*

SaxophoneLutz Koppetsch*Martin Posegga*

* als Gast** als Akademist / in

1. ViolinenChristian Ostertag* 1. Konzertmeister

Federico KasikChristian UhligJohanna MittagJörg KettmannSusanne BrannyLudovica NardoneMartina GrothWieland HeinzeHenrik WollAnja KraußAnett BaumannAnselm TelleSae ShimabaraFranz SchubertMichael Eckoldt

2. ViolinenHolger Grohs Konzertmeister

Alejandro Carreño*Matthias MeißnerAnnette ThiemKay MitzscherlingJens MetznerOlaf-Torsten SpiesMechthild von RysselAlexander ErnstRobert KusnyerEmanuel HeldMartin FraustadtAmi YumotoMichael Schmid

BratschenFlorian Richter Solo

Andreas SchreiberStephan PätzoldMichael HorwathUwe JahnUlrich MilatzRalf DietzeZsuzsanna Schmidt-AntalClaudia BriesenickMilan LíkařLuke TurrellLeo Klepper*

VioloncelliFriedwart Christian Dittmann Konzertmeister

Simon Kalbhenn Solo

Tom HöhnerbachMartin JungnickelBernward GrunerJörg HassenrückAnke HeynTitus MaackNatalia CostiucJin Kyung Kim**

KontrabässeAndreas Wylezol Solo

Petr PopelkaTorsten HoppeHelmut BrannyFred WeicheReimond PüschelJohannes NalepaMykola Shakhov**

9. Symphoniekonzert 2017 | 2018 Orchesterbesetzung

30 31

Vorschau

Sonderkonzert 200 Jahre Staatsopernchor

DIENSTAG 1.5.18 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Christian Thielemann DirigentChristiane Karg SopranChristoph Pohl BaritonSächsischer Staatsopernchor Dresden

Johannes Brahms»Ein deutsches Requiem« op. 45

3. Aufführungsabend

MONTAG 7.5.18 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Carlo Goldstein DirigentPhilipp Zeller Fagott

Arnold SchönbergKammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9Carl Maria von WeberKonzert für Fagott und Orchester F-Dur op. 75Felix Mendelssohn Bartholdy Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 56 »Schottische«

W W W.FACEBOOK.COM/STA ATSK APELLE.DRESDEN

Staatskapelleli e

32

IMPRESSUM

Sächsische Staatskapelle DresdenChefdirigent Christian Thielemann

Spielzeit 2017 | 2018

HER AUSGEBER

Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © April 2018

REDAK TION

André Podschun

GESTALTUNG UND L AYOUT

schech.net Strategie. Kommunikation. Design.

DRUCK

Union Druckerei Dresden GmbH

ANZEIGENVERTRIEB

Anzeigenvermarktung Semperoper Dresden Lisa Hermann Telefon: 0351/49 11 645 E-Mail: [email protected]

TE X TNACHWEISE

Der Artikel von Sigrid Neef wurde 2005 im Programmheft der Münchner Philharmoniker abgedruckt. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Beitrag von André Podschun ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. Der Text über »Sinfonia« von Luciano Berio auf S. 9-11 ist entnommen: www.universaledition.com/de/komponisten-und-werke/luciano-berio-54/werke/sinfonia-4672. Bychkovs Erin-nerungen an Berio stammen aus: www.luciano-berio.org/en/node/36327

BILDNACHWEISE

Sheila Rock (S. 5); Ugo Porte (S. 7); Paul Fearn Alamy Stock Photo (S. 12); Abbildungen zu Tschaikowsky: Galina Alexejewna Pribegina, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Berlin 1988

Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

W W W.STA ATSK APELLE-DRESDEN.DE

SächsischeStaatskapelle DresdenKünstlerische Leitung/ Orchesterdirektion

Christian ThielemannChefdirigent

Maria GrätzelPersönliche Referentin von Christian Thielemann

Jan Nast Orchesterdirektor

Dennis GerlachKonzertdramaturg, Künstlerische Planung

André PodschunProgrammheftredaktion, Konzerteinführungen

Valerie SeufertPresse und Marketing

Alexandra MacDonaldAssistentin des Orchesterdirektors

Elisabeth Roeder von DiersburgCornelia Ameling Orchesterdisponentinnen

Matthias GriesOrchesterinspizient

Steffen TietzGolo LeuschkeWolfgang PreißStefan OtherOrchesterwarte

Agnes ThielVincent MarbachNotenbibliothek

Wir freuen uns auf Sie!Come and join us!

GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER STAATSKAPELLE DRESDEN E .V.KÖNIGSTRASSE 101097 DRESDEN | [email protected] | WWW.GFSKDD.DE

Wunderharfe Freundebegeistern

junge Menschentradition

Staatskapelleverbinden

hautnah

unterstützen

international

Netzwerk

gewinnen

fördernGesellschaftfriends

close

patron

networkengagement

Dresden

Partner der Staatskapelle Dresden