Sibir

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I Zwischen dem Schalter 5 und dem Schalter 6 in der Abflughalle des Flughafens Hannover befindet sich der Schalter der Firma Neufeld Reisen. Dort kannst du dein Ticket abholen, wenn es dir nicht schon vorher zugeschickt worden ist. Am Schalter 3 werden die Fl ge f r Sibirien ü ü abgefertigt. Oben kann stehen: Orenburg, Omsk oder Nowosibirsk. Es ist alles ein und derselbe Flug der Firma AEROFLOT. Man soll sp testens eine Stunde vor Abflugszeit ä mit seinem Gep ck an diesem Schalter stehen. Die Firma ist ä zu erreichen ber folgende Nummern: 05264/6478 0,12,13,16; ü 05261/22 71; 05461/6 28 73; 02226/1 22 09; 07051/7 75 11; 0711/948 40 21. Um 16 Uhr startet die Maschine mit einer halben Stunde Versp tung aus Hannover Richtung Orenburg. Der Kapit n hei t ä ä ß Michael Michailowitsch. Der Service ist etwas anders als gewohnt. Es gibt keine Bordzeitung, die dar ber informiert, ü wie die Flugroute ist. Es spielt ein Radio, aus dem Musik kommt. Es gibt keinen Fernsehschirm wie in Transatlantikfl gen. Auf dem Flug wird ü ein Abendessen angeboten. Die Lufthansa hilft der Aeroflot in vielen praktischen Dingen des Lebens; das f ngt an bei ä den Gep ckaufklebern und h rt auf bei den Plastikbechern, ä ö aus denen getrunken wird. Es gibt ein Men mit drei G ngen: ü ä als Aperitif ein Glas Mineralwasser, als Vorspeise ein Vollkornbr tchen mit Streichk se aus der Schweiz, ein Salat ö ä mit franz sischem Ketchup, als Hauptspeise ein Nudelgericht ö mit Kalbfleisch, M hren als Beilage, als Nachspeise eine ö Plastiktasse Tee mit englischem Rosinenkuchen. Zum Ausklang einen Apfel. Aus dem Bordradio dringen russische Schlager, die mich erinnern an t rkische Schlager. Wir sind zwei Stunden ü geflogen und drau en d mmert es. Wahrscheinlich ist es ß ä drau en eine Stunde sp ter, nicht 18 Uhr sondern 19 Uhr. Im ß ä Flugzeug sind viele ltere Menschen. Ich nehme an, deren ä Kinder leben in Deutschland und haben ihre Eltern eingeladen zu Besuch. Auch am Flughafen erinnere ich mich an viele j ngere Leute, die zum Abschied gewunken haben. Nach ü dreieinhalb Stunden Flugzeit kommt der erste Stop: Orenburg oder russisch Arenburg. Ich sitze im Warteraum in Orenburg. Ich mu te eine Zollerkl rung in russischer Sprache und ß ä Schrift ausf llen. Ich bekam dabei Unterst tzung von meinem ü ü russischen Sitznachbarn. Die Fragen mu t du mit njet ß beantworten. Du wirst gefragt: Haben Sie Drogen dabei? Haben Sie eine ansteckende Krankheit? usw. Jetzt stehen wir in einer Warteschlange f r die Pa kontrolle. Nachdem du die ü ß Pa kontrolle passiert hast, befindest du dich in einer ß Halle, wo Gep ckst cke und Menschen herumliegen. Die ä ü Menschen sind russische Angestellte der Gep ckabfertigung. ä Sie fertigen normalerweise Waren aller Art ab, warten aber

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IZwischen dem Schalter 5 und dem Schalter 6 in der Abflughalle des Flughafens Hannover befindet sich der Schalter der Firma Neufeld Reisen. Dort kannst du dein Ticket abholen, wenn es dir nicht schon vorher zugeschickt worden ist. Am Schalter 3 werden die Fl ge f r Sibirienü ü abgefertigt. Oben kann stehen: Orenburg, Omsk oder Nowosibirsk. Es ist alles ein und derselbe Flug der Firma AEROFLOT. Man soll sp testens eine Stunde vor Abflugszeitä mit seinem Gep ck an diesem Schalter stehen. Die Firma istä zu erreichen ber folgende Nummern: 05264/6478 0,12,13,16;ü 05261/22 71; 05461/6 28 73; 02226/1 22 09; 07051/7 75 11; 0711/948 40 21.

Um 16 Uhr startet die Maschine mit einer halben Stunde Versp tung aus Hannover Richtung Orenburg. Der Kapit n hei tä ä ß Michael Michailowitsch. Der Service ist etwas anders als gewohnt. Es gibt keine Bordzeitung, die dar ber informiert,ü wie die Flugroute ist.

Es spielt ein Radio, aus dem Musik kommt. Es gibt keinen Fernsehschirm wie in Transatlantikfl gen. Auf dem Flug wirdü ein Abendessen angeboten. Die Lufthansa hilft der Aeroflot in vielen praktischen Dingen des Lebens; das f ngt an beiä den Gep ckaufklebern und h rt auf bei den Plastikbechern,ä ö aus denen getrunken wird. Es gibt ein Men mit drei G ngen:ü ä als Aperitif ein Glas Mineralwasser, als Vorspeise ein Vollkornbr tchen mit Streichk se aus der Schweiz, ein Salatö ä mit franz sischem Ketchup, als Hauptspeise ein Nudelgerichtö mit Kalbfleisch, M hren als Beilage, als Nachspeise eineö Plastiktasse Tee mit englischem Rosinenkuchen. Zum Ausklang einen Apfel.

Aus dem Bordradio dringen russische Schlager, die mich erinnern an t rkische Schlager. Wir sind zwei Stundenü geflogen und drau en d mmert es. Wahrscheinlich ist esß ä drau en eine Stunde sp ter, nicht 18 Uhr sondern 19 Uhr. Imß ä Flugzeug sind viele ltere Menschen. Ich nehme an, derenä Kinder leben in Deutschland und haben ihre Eltern eingeladen zu Besuch. Auch am Flughafen erinnere ich mich an viele j ngere Leute, die zum Abschied gewunken haben. Nachü dreieinhalb Stunden Flugzeit kommt der erste Stop: Orenburg oder russisch Arenburg. Ich sitze im Warteraum in Orenburg. Ich mu te eine Zollerkl rung in russischer Sprache undß ä Schrift ausf llen. Ich bekam dabei Unterst tzung von meinemü ü russischen Sitznachbarn. Die Fragen mu t du mit njetß beantworten. Du wirst gefragt: Haben Sie Drogen dabei? Haben Sie eine ansteckende Krankheit? usw. Jetzt stehen wir in einer Warteschlange f r die Pa kontrolle. Nachdem du dieü ß Pa kontrolle passiert hast, befindest du dich in einerß Halle, wo Gep ckst cke und Menschen herumliegen. Dieä ü Menschen sind russische Angestellte der Gep ckabfertigung.ä Sie fertigen normalerweise Waren aller Art ab, warten aber

jetzt, da Reisende angekommen sind, bis die Reisenden mit der Abfertigung ihrer Gep ckst cke fertig sind. Dabei gebenä ü sie Kommentare ab oder machen Beobachtungen. Die Reisenden balgen sich um ihr Gep ck, und die russischen Angestelltenä lachen nur dar ber. Dein Gep ck erk mpfst du dir berü ä ä ü Mitreisende, herumlungernde Angestellte und Unmengen von Gep ckst cken hinweg vom Band. Wer gesunde Arme hat, muä ü ß zupacken, ob Mann ob Frau, ob jung ob alt. Fri oder stirbß hei t die Devise. Dantes Inferno k nnte nicht schlimmerß ö sein. Wenn du mehrere Gep ckst cke hast, gehst du groggyä ü nach einer Zeit. Aber das macht nichts, fri oder stirb.ß Mitleid ist keine russische Eigenschaft, h chstens eineö deutsche oder j dische.ü

Wenn du deine Gep ckst cke gl cklich zusammen hast,ä ü ü hoffentlich ist keines abhanden gekommen!, mu Gep ckst ckß ä ü f r Gep ckst ck auf ein Band gelegt werden zum Durchleuchtenü ä ü der Gegenst nde. Dann an der Zollkontrolle vorbei. Sieä stellen dir Fragen oder auch nicht. Dann mu t du dein Gep ckß ä eine Treppe hoch schleppen, einen langen Gang entlang, in einen Raum, wo eine Waage steht. Dort sitzt eine Angestellte der Aeroflot und will deinen Namen wissen. Familija auf russisch. Du legst dein Gep ck auf die Waage und nennstä deinen Zielort Omsk. Das Gep ck bekommt einen Anh nger undä ä wird aufs Band gelegt. Ist alles fertig, gehst du in den Warteraum und wartest auf den Abflug des Flugzeugs. Solltest du Durst empfinden, kannst du zur ckgehen, die Treppeü hinunter, in dem Raum vor der Zollkontrolle befindet sich eine Kantine, wo du f r 3 DM eine B chse Bier erwerbenü ü kannst.

Mittlerweile ist es halb elf geworden. Das Gep ck mu ten wirä ß zun chst vom Band holen inmitten unz hliger Ballenä ä gewerblichen Frachtgutes, durch einen engen Kanal schleusen am Zoll vorbei, eine Treppe hochtragen, einen Gang entlang, bis wir es aufs F rderband legen konnten. Dabei hat eineö Frau beobachtet, wie ich mit meinen zehn Gep ckst cken insä ü Schwitzen komme, hat ihren Mann gebeten, mir zu helfen. Einige der Mitreisenden sprechen russisch und deutsch. Ich habe also beim Ausf llen des Zollformulars und beimü Transportieren der Gep ckst cke Hilfe erfahren. Auf demä ü Zollformular habe ich alle Fragen mit njet beantwortet und in die Tabelle Ger te eingetragen: kassetnyj magnitofon,ä kompjuter, akkordeon, kodoskop. Als eingef hrtes Geld habeü ich geschrieben: 500 dollari und 500 mark. Nicht zuviel angeben, das k nnte sich herumsprechen und Gangsterö anlocken.

Der Z llner las meine Erkl rung und wies mich an, auf dieö ä Gep ckst cke zu zeigen, in denen die angegebenen Ger te drinä ü ä sind. Den Computer holte ich heraus und zeigte ihn vor, der Z llner singnalisierte, steck wieder ein. ö

Unter dem Reisepublikum gibt es die verschiedenartigsten Personen. Unter sehr l ndlicher Bev lkerung , M nner mitä ö ä M tzen, Frauen mit Kopft chern, befinden sich auch studierteü ü Leute mit st dtischem Outfit. Die meisten sprechen russisch,ä aber einige sprechen russisch und deutsch. Die Einrichtungen der Infrastruktur sind alle sehr bescheiden. Billige Plattenbauweise, billiges Mobilar, wir kennen das alles aus der ehemaligen DDR. Hier in Orenburg sind Einrichtungen und Personal total berlastet. ü

Es ist gleich 23 Uhr und wir sitzen wieder im Flugzeug, diesmal von Orenburg nach Nowosibirsk. Die Abfertigung war f r unsere Begriffe leger, l ssig. Wir bekamen keineü ä Bordkarte, die Pl tze im Flugzeug sind frei w hlbar. Geradeä ä ging es um die Best tigung des R ckfluges. Ein Angestellterä ü der Aeroflot hat in flie endem Russisch die Mitteilungß gemacht und Formulare ausgeteilt. Ich habe davon nicht ein Wort verstanden. Mich betrifft es auch nicht, weil ich erst am 6. Januar zur ckfliege, aber wenn jemand auf Urlaub kommtü und zwei, drei Wochen hier verbringt, dann mu er/sie schonß einen bersetzer haben.Ü

Es ist viertel nach elf Uhr abends und wir stehen immer noch auf dem Flughafen in Orenburg, russisch Arenburg. Dieses Mal fliegen wir mit komandjer Michail Schostakowitsch. Startzeit: 23 Uhr drei ig. Auf diesem Flug nun wird einß trockenes Br tchen gereicht mit Salami belegt. Aber von derö Stewardess selbst geschmiert und nicht aus der fertigen Plastikschachtel. Schmeckt aber sehr trocken. Der Kaffee ist schon ges t und wird in Gummibechern gereicht. Die gleichenüß Gummibecher dienen sp ter zum Anbieten von Mineralwasser,ä russ. mineralnje. Bei der Pa kontrolle dauerte es eineß geraume Zeit und die Menschen waren zusammengepfercht in einen engen Gang, es war hei und stickig. Bei mir dauerteß es l nger als bei den Einheimischen mit russischem Pa , weilä ß der Beamte das Visum eingehend studierte, es dann teilte, eine H lfte behielt und mir die andere H lfte aush ndigte. ä ä ä

Es nach deutscher Zeit halb zwei Uhr morgens. In Nowosibirsk beginnt langsam der Tag. Wir sind im Landeanflug auf Nowosibirsk. Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine tischebene Fl che mit Seen, vereinzelten B umen undä ä Ackerfl chen. Eine riesige tischebene Fl che, hier und daä ä ein paar Geb ude, das meiste ist Natur- oderä Kulturlandschaft. Der Mensch ist hier die Ausnahme.

Es ist zwei Uhr in Deutschland und in Nowosibirsk geht gerade die Sonne auf. Zwei junge Ru landdeutsche, die vonß Hannover nach Nowosibirsk gereist sind, sagten zu mir Tsch sü und Gute Weiterfahrt. In Nowosibirsk stehen ein Flugzeug der Vietnam Airline und jede Menge Aeroflot-Maschinen. Wie gut schmeckt ein Gummib rchen nach einer langen Nacht mitä Schwei und Warten. ß

Letzte Etappe: in Deutschland ist es drei Uhr, hier ist es taghell, blauer Himmel. Wir fliegen von Nowosibirsk nach gorod Omska, in die Stadt Omsk. Ich bin angekommen in Omsk, wurde erwartet von zwei deutschen Lehrerinnen mit ihren zwei russischen Chauffeuren. Diese russischen Chauffeure halten Ausschau auf dem Parkplatz nach einem Wagen mit Kennzeichen Nowosibirsk, 54 RUS. Tats chlich sind zwei Leute ausä Neudatschino gekommen, um mich abzuholen. Der B rgermeisterü h chstpers nlich und sein Bruder. Sie hei en Heinrich undö ö ß Viktor. Der B rgermeister Heinrich spricht gut deutsch, seinü j ngerer ist scheuer. Sie sprechen einen f r michü ü unverst ndlichen Dialekt, aber k nnen, wenn sie wollen, auchä ö Hochdeutsch mit mir reden. Viktor ist ein gutaussehender, junger Mann, der schon zwei Kinder hat. Heinrich, der B rgermeister, ist ein gro er Mann mit dickem Bauch. Erü ß wirkt ein bi chen strapaziert, ist aber nett und einf hlsam.ß ü Ich bin jetzt hier am Markt von Omsk und beobachte das Treiben. Ich sitze im Auto und beobachte alles um mich herum, w hrend Heinrich und Viktor die Gelegenheit nutzenä und etwas f r daheim einkaufen. Sie fahren nicht sehr oftü die Strecke von 156 km von Neudatschino nach Omsk. Neben Russen sieht man hier auch Asiaten. Omsk ist eine 2-Millionen Stadt. Es gibt hier viele Polizisten auf den Stra en. Zum Teil kontrollieren sie die Passanten, zum Teilß sind sie aber auch Helfer und beschreiben Hilfesuchenden den Weg. Die beiden Lehrerinnen hei en Erna Henning und Brigitteß Kott.

Jetzt fahre ich im Auto von Omsk nach Neudatschino. K he,ü ein Cowboy. Das Land ist eben und satt. B ume und cker.ä Ä Viele Menschen aus Omsk haben ihren eigenen Kartoffelacker. Sie gehen am freien Samstag dorthin, um zu ernten. Ich habe den Eindruck, jeder, der hier wohnt kann ein eigenes St ckü Land benutzen, so gro ist das Land. Du siehst nicht einenß einzigen Zaun, alles ist offen, unendlich weit. Heinrich, der Dorfschulze, wird von der russischen Bev lkerungö genannt: Andrej Iwanowitsch. Elisabeth, die Lehrerin, Jelisbeta. Die Kinder sagen zu ihrem Lehrer: Tomas Karlowitsch und Sie. Die Autos haben neue Nummernschilder bekommen: 54 ist die Nummer f r Nowosibirsk, 55 Omsk, 77ü Moskau.

Heute ist Samstag, der 10.9. Die Sonne scheint, es ist ein milder Altweibersommertag. Die letzten Kilometer zu unserem Dorf Neudatschino gehen ber eine holprige Piste. Da mu manü ß sich gut anschnallen! Eine tischebene Landschaft, und ab und zu f hrt ein Zug vorbei.ä

Ich telefoniere nach Deutschland von Heinrichs B ro aus. Alsü ich ihm f r die Kosten eine F nf-Dollar-Note geben will,ü ü sagt er: Aber wir sind doch Freunde. Er lehnt ab.

Ein Teil der Bewohner von Neudatschino ist mehrsprachig. Im Familienkreis sprechen sie einen Dialekt, plattd tsch wieü sie sagen. In der Kirche und in der Schule sprechen sie hochdeutsch oder was sie darunter verstehen und mit den anderen in der Umgebung sprechen sie russisch. Der B rgermeister Heinrich hat mich gleich bei den Leutenü untergebracht, zu denen er den besten Draht hat, die er auch kennt und von denen er wei , da sie t chtig sind und michß ß ü als Gast gut beherbergen werden. Ein Sohn der Familie erz hlt, er war in Holland und hat bei der KLM 22 Gulden f rä ü jedes Kilo bergep ck zahlen m ssen. Marieche, die Mutter,Ü ä ü hat mich zum Kaffeetrinken eingeladen und Geb ck angeboten.ä Sie hat mich gefragt, ob wir beten. Ich habe ein Gebet gesprochen. Ich frage sie, wie sie betet. Sie erz hlt mir,ä sie betet immer, was ihr gerade in den Sinn kommt. Ich denke: nicht so wie wir es kennen, Litaneien herunterlesen, sondern mit Gef hl, so wie das Herz spricht. ü

Wenn ich meine Anreise noch einmal an meinem geistigen Auge vor berziehen lasse, denk ich mit Schrecken an die zehnü Gep ckst cke, die ich mitgef hrt habe, zum Teil ber andereä ü ü ü Teile hin bergehievt, Treppen hinaufgetragen, aufü F rderb nder gelegt habe. Ich wurde oft bel chelt vonö ä ä Leuten, die mich beobachtet haben, aber jetzt bin ich froh, da ich alles mitgebracht habe und da nicht ein Teil kaputtß ß gegangen oder abhanden gekommen ist. Sogar die zahlreichen technischen Apparate sind ohne Schaden zu nehmen angekommen, was mich sehr gl cklich macht.ü

Wichtige Personen an der Schule sind f r mich, Erna, dieü Lehrerin aus Kanada, Elisabeth, eine mehrsprachige Frau, und die Direktorin, eine Russin. Marie, meine Wirtin, arbeitet von fr h bis sp t und dankt dem Sch pfer f r Speise, Trankü ä ö ü und gesunde Kinder. Es ist halb neun und es dunkelt in Neudatschino. Die K he werden f r die Nacht von der Weideü ü getrieben. Die Kinder kommen heim und gehen zu Bett, die kleinen zumindest, die lteren machen die Nacht durch. Dieä Tiere kommen in den Stall.

IIDie Mitglieder meiner Gastfamilie hei en: Marieche, dieß Hausfrau und mehrfache Mutter und Gro mutter, Gerhard, ihrß Mann, Abraham, Heinrich, Gerhard, Jascha, ihre S hne, Katja,ö Tanja, Marieche und noch ein T chterchen, insgesamt hatö Marieche 8 Kindern das Leben geschenkt. Sie sprechen alle einen deutschen Dialekt, aber einige von ihnen k nnen auchö hochdeutsch reden. Gutes Hochdeutsch daf r, da sie soweitü ß von Deutschland entfernt leben.

Marieche erz hlt, da sich das Leben in den letzten Jahrenä ß hier ver ndert hat. In Tatarsk, 30 km entfernt, werdenä Kinder entf hrt. An der Station, wo die Elektritschka h lt,ü ä zwei Kilometer entfernt, wird man bel stigt und angep belt.ä ö In der S-Bahn selbst wird man bel stigt. Sie schickt ihreä begabte Tochter nicht nach Tatarsk zur Lehre, weil sie Angst um sie hat. Hier im Dorf f hlen sich die Menschen sicher,ü kann man sich sein Leben einrichten.

Es ist heute der 10.9. und eine laue Sommernacht. Jascha geht ins Waschhaus, wo Dusche und Sauna sind, einmal die Woche, wie er sagt. Marieche sitzt vor der T r auf derü Veranda und schneidet Zwiebeln. Hier an der frischen Luft mu sie nicht so viel weinen, sagt sie. Gerhard kommt vomß Bibelabend heim und Heinrich f hrt frisch geernteteä Kartoffeln nach Hause, um sie einzulagern.

Heute habe ich berall, wo ich vorbeigekommen bin, Menschenü auf ihren Kartoffel ckern vor den St dten und auf denä ä D rfern gesehen. Es war ein sonniger Samstag, und vieleö Sibirier gingen ihrer Lieb- lingsbesch ftigung nach, derä Natur etwas abzuringen. Sei es zu sammeln oder zu jagen, urzeitliche menschliche Besch ftigungen, die hier noch vollä lebendig zu sein scheinen.

Es ist heute der 10.9. und eine laue Sommernacht. Es ist warm, ein herrlicher Sternenhimmel ber dunkler weiterü Ebene. Ab und zu f hrt ein Zug auf 2 km entferntem Bahngleisä vorbei und ich h re das Ger usch, das die Lokomotive auf denö ä Gleisen macht. Ein Pfeifen in der Nacht h rt man nur sehrö selten, sagt Marieche. Wenn das passiert, berichtet sie, bekommt sie es mit der Angst zu tun, dann hat sie das Gef hl, Unheil droht.ü

Der Name des sibirischen Dorfes Neudatschino stammt von einer russischen F rstenfamilie und nicht von den russischenü W rtern nje+udatscha, was so viel bedeutet wie nichts gehtö hier. Im Gegenteil: Dieses Dorf hat den zweiten Platz belegt in ganz Ru land f r wirtschaftliche T chtigkeit.ß ü ü

Das Wasser kommt aus dem Hahn, warm, wenn geheizt wird, sonst kalt. Es stammt aus der Erde. Fr her hatte man nurü einen Brunnen, aus dem das Wasser f r alle Zwecke m hsamü ü

herangeschafft werden mu te. Heute wird das Wasser aus demß Brunnen in einen kleinen Wasserturm gepumpt, der das Wasser speichert und per Druck an die nahegelegenen Haushalte abgibt. Der erste Wasserturm dieser Art wurde im Jahre 1963 von drei deutschen Siedlern, zwei M nnern und einer Frau,ä konzipiert und angelegt. Einige Jahre tat diese Konstruktion seine wohlt tige Wirkung, bis dann die Rohre platzten, dasä Wasser ausstr mte und umliegenden Wald und dieö Kartoffelernte eines Jahres zerst rte. ö

Mariechen putzt jeden Tag die ger umigen Bauernstuben. Hierä ist es sehr sauber, auch - wie es scheint - eine deutsche Eigenschaft. Du ziehst dir, wenn du vom gekachelten Flur in die Stuben trittst, die Schuhe aus, damit Du nicht den Stra enschlamm hineintr gst. Die Stra en sind im Dorf und imß ä ß n heren Umkreis nicht asphaltiert, Pisten also, die tiefeä Schlagl cher aufweisen. Du lebst hier mitten in der Natur.ö Du hast hier Strom, flie endes Wasser, und wenn du aufs Kloß mu t, dann gehst du aus dem Haus ber den Hof auf einenß ü Donnerbalken, ein Plumpsklo. Du hast Licht auf dem Hof, aber nicht auf dem Klo, also l t du, wenn es drau en dunkel ist,äß ß die Klot r offen. Du willst ja auch das Loch treffen undü gesehen wirst du im Dunkeln schon nicht. Klopapier ist vorhanden. Vor dir stehen die K he, drau en auf dem Hof. Imü ß Winter stehen sie im Stall.

Heute ist Sonntag, Ruhetag. Die Familie geht ins Gemeindehaus. Blank geputzte Bohlen und frisch gewaschene Gardinen, Blumen auf dem Klavier. Es sind etwa 30 Menschen anwesend, M nner, Frauen, Jungen und M dchen. Fr her warenä ä ü mehr Menschen anwesend, erz hlt Gerhard senior. Aber seitä soviele Menschen aus Neudatschino nach Deutschland ausgesiedelt sind, 140 an der Zahl, sind es nicht mehr viele. Wir sind zum Untergang verurteilt, sagt Georg senior. Die Russen, die hier leben, kommen nicht. Sie interessieren sich nicht daf r.ü

Die Gemeinde singt Lieder aus den Liederbuch aus Deutschland, Deutsche Baptistengemeinde. Die Leute nennen sich Plattd tsche, ihre Vorfahren waren Mennoniten. Sieü haben die ganze Erde besiedelt, unter anderem auch dieses sibirische St ck Land (Flecken Erde), das fr her einemü ü russischen F rsten geh rte, der es an die ersten Menonnitenü ö in Sibirien verkauft hat.

Einige Frauen stimmen das Lied an, und die anderen Anwesenden fallen mehr oder weniger in das Lied ein. Wem die Tonart nicht gelegen kommt, der singt einfach einen Kontrapunkt dazu ein paar T ne tiefer. Einige singen auchö gar nicht. Es folgt eine Lesung aus der Bibel in hochdeutsch, die daraufhin in plattdeutsch f r dieü anwesenden Kinder interpretiert wird. Gesang und Gebet schlie en die gemeinsame Stunde am Sonntag ab.ß

Einer im Dorf hat einen Faxanschlu , er hei t Bernhard. Ichß ß mu ihn kennenlernen und ihn fragen, ob und wie ich auchß faxen kann.

Heute ist Montag, der 12.9.94. Ich gehe zur Schule. Sie beginnt um halb neun. Die Direktorin ... hei t michß willkommen und gibt mir Klassen zum Unterrichten. Sie l täß mir noch 3 Tage Zeit zum Ein- gew hnen, bevor ich mit demö Unterrichten beginne. Die Deutschleh- rerin Elisabeth dient als bersetzer. Ich bekomme den Schl ssel zu einem Raum, inÜ ü dem Sachen aus Deutschland stehen, zwei Kassetten- recorder, zwei Fernsehger te, ein Kopierger t und jede Menge B - cher.ä ä ü Ich r ume zwei Regale aus und stelle meine Sachen hinein.ä Kurz vor 11 Uhr ist Schulspeisung. Um 12 Uhr ist Mittagspause, und Elisabeth hat etwas Zeit f r mich. Sieü zeigt mir das vorhandene Lehrmaterial, einiges brauchbar, anderes weniger brauchbar. Offen- bar ist die Schule von Deutschland, Goethe-Institut, Inter Nationes und JUMA, reichlich bedacht worden.

Ich lebe in einer religi sen Familie, in der niemand rauchtö und niemand Alkohol trinkt. Das Familienoberhaupt ist Mennoniten- prediger, Jahrgang ´38. Seine Frau ist 1941 geboren worden. Die beiden haben im Lauf der Jahre 8 Kindern das Leben geschenkt. 4 davon haben selbst schon wieder Kinder, allerdings erst zwei je Paar. Vielleicht kommen ja noch einige dazu.

Neben den Menschen leben auf dem Hof in Neudatschino/Sibirien noch zahlreiche Tiere wie H hner,ü Ziegen, K he, Katzen, Schweine. Keine Hunde, Hunde mag derü Hausherr nicht.

Auf dem Mennoniten-Hof herrscht eine liberale Atmosph re,ä Verwand- te, Freunde und Nachbarn kommen und gehen. Alle lenken ihre Schritte in die Wohnk che, wo die gute Mutter anü zwei Herden und einem Ofen immer das Feuer sch rt, f r jedenü ü ein gutes Wort und etwas Gutes zu essen hat. Ihr Mann soll fr her b renstark gewesen sein, erz hlt ihr Sohn Jascha.ü ä ä Sein Vater hat die Reparatur- werkstatt f r Kraftfahrzeugeü gegr ndet, die heute dreien seiner S hne und anderen M nnernü ö ä aus dem Dorf Brot und Arbeit gibt, allerdings sind 100 000 Rubel Lohn sehr wenig, sagt Jascha. Jascha spricht f rü sibirische Verh ltnisse sehr gut Deutsch. Er hat auf derä Schule immer F nfer bekommen. Die F nf ist in Ru land dieü ü ß beste Note. In Deutschland allerdings w rde man ihn sicherü als Streber bezeichnen. Es ist unglaublich wohltuend, inmitten von Asien vertraute deutsche Laute zu vernehmen, Mitgef hl zu versp ren.ü ü

Die Stra en und Wege in und um Neudatschino sind nichtß asphaltiert. Daher sind die Schuhe oft schmutzig. Damit

nicht Wohnung und Schule wie ein Schweinestall ausschauen, ziehen sich die Menschen die Schuhe aus, wenn sie Wohnung oder Schule betreten.

Der mennonitische Prediger Gerhard Neufeld in Neudatschino sagt, in Neudatschino gibt es die beste Butter. Sein Sohn Abraham sagt, Neudatschino hat den 2. Preis bekommen im Wirtschaftlichkeits- wettbewerb aller D rfer Ru lands. Seinö ß Sohn Herrmann sagt, ich m sse mal 30 km n rdlich fahren undü ö sehen wie die Russen dort lebten, dann w rde ich dasü angenehme Leben in Neudatschino zu sch tzen wissen.ä

Ich wei es zu sch tzen, Herrmann! Ich wei es zu sch tzen!ß ä ß ä

Ein wichtiger sibirischer Gebrauchsgegenstand ist der Ständer zum Füße abtreten. Viele Straßen auf dem Land sind nicht asphaltiert und damit Schlaglöcher erster Ordnung. In Sibirien ist die Küche der wichtigste Ort. Man stärkt sich hier, man wärmt sich hier auf.Jedem Vorbeikommenden wird wie selbstverständlich ein Platz einge- räumt. Heißer Tee, Borschtsch, etwas Süßes sind in vielen sibirischen Küchen zu haben.

Du siehst hier Pferdefuhrwerke wie in dem Film, reitende Kuhhirten wie in den Prärien Nordamerikas oder in der Pampa Argentiniens. Es gibt aber auch Autos, Traktoren, elektrisches Licht, Telefon und Faxgerät. Die Menschen sind hier wie bei uns oder wie überall in der Welt: es gibt solche und solche. Das Fremdartigste ist und bleibt die russische Sprache. Ich muß sie unbedingt lernen, ich fühle mich wie ein Taubstummer.

Wer mit mir spricht, klagt über die Inflation in Rußland. Gerhard erzählt, seine Rente ist um das Tausendfache gestiegen, viele Waren des täglichen Bedarfs um das 5000-fache. Sein Sohn Jakob erzählt mir, sein Lohn bei den Soldaten im ersten Jahr betrug 7 Rubel, nach heutigem Kurs etwa 20 000 Rubel. Jetzt verdient er mit 21 Jahren 100 000 Rubel im Monat als Kfz-Mechaniker, womit er wirklich keine Sprünge machen kann.

Heute ist Samstag (Sonnabend), der 17.9. Ich stehe schon früh um sechs auf, weil ich nach Omsk fahren möchte. Ich habe mich mit einer Lehrerin verabredet, die auch heute nach Omsk fährt. Sie will mich mit dem Auto (der Maschine) zur Bahnstation mitnehmen und mir im Zug beim Lösen eines Fahrscheines behilflich sein. Ich erwarte sie um 6 Uhr 40 an der Hauptstraße (Zentralnaja uliza). Doch es kommt niemand. Es ist noch dunkel und das Dorf ruht noch. Um 6:45 Uhr ist immer noch kein Auto in Sicht. Ich denke, vielleicht habe ich sie mißverstanden und sie holt mich gar nicht von zu Hause ab? Ich gehe die Hauptstraße auf und ab, um auf mich aufmerksam zu machen. Sie muß doch hier

vorbeikommen, wenn sie zur Bahnstation fährt, denke ich. Um zehn vor sieben schließlich biegt ein Auto aus einer Nebenstraße in die Hauptstraße ein. Der Wagen hat Licht an und nimmt Kurs auf mich zu. Ich winke und tatsächlich, der Wagen hält. Die Lehrerin bedeutet mir einzusteigen und wir fahren ab, Fünf Minuten später sind wir an der Bahnstation. Wir steigen aus und gehen den Bahndamm hoch, dann über die Gleise (in D streng verboten) auf den Bahnsteig. Dort stehen schon andere Reisende. Es vergehen keine 30 Sekunden, da kommt der Zug. Das war in letzter Minute, denke ich. Der Zug, gezogen von einer Elektrolok, hält, wir steigen ein. Wir lassen uns auf harten Holzbänken nieder.

Ich schaue aus dem Fenster. Endlose Weite, ein riesiges Land. Die Sibirier sagen Steppe dazu. Wiesen, Weiden, Äcker, Laubwald, meist Birken, und ganz flach, keine Erhebung, jedenfalls nicht hier in der westsibirischen Tiefebene. Wenn das Land nicht bestellt wird, verbuscht es wieder. Laubbäume siedeln sich an. Die Schaffnerin kommt. Sie hat keine Uniform an. Meine Begleiterin zahlt für mich mit. Als ich ihr sage, ich habe Geld und möchte selber zahlen, sagt sie, es sei nicht teuer und ich sei eingeladen. Schon wieder eingeladen! In der Gastfamilie brauche ich nichts zu bezahlen. In der Schule brauche ich nichts zu bezahlen für Verpflegung in der Kantine. Die Schaffnerin kann nicht auf große Scheine herausgeben. Wahrscheinlich lagert sie das eingenommene Geld irgendwo ein, bevor sie eine neue Runde dreht. Auf diese Weise hat sie nie viel Geld in ihrer Tasche. Ob sie schon einmal beraubt worden ist?

Nach drei Stunden hält der Zug endlich in Omsk. Es herrscht hier großes Gedränge, im Bahnhof, auf dem Straßenmarkt (Basar), im Bus. Die Omsker Lehrer aus Deutschland, die mich am Bahnhof abholen, klagen darüber, daß sie als Ausländer ausgenommen werden wie die Weihnachtsgänse. Auch ich höre nur, das kostet soundso viel, das kostet soundso viel, als ich mit ihnen über den Straßenmarkt gehe, um das eine oder andere zu kaufen, was ich im Mennoniten-Dorf nicht bekomme. Einer erzählt, er habe in seiner Wohnung eine Alarmanlage installieren lassen, die direkt mit der Miliz verbunden sei. Wir treffen uns in der Wohnung der Fachleiterin Deutsch in Omsk und Region. Alle Anwesenden außer mir jammern und klagen. Der einen paßt das nicht, der anderen paßt jenes nicht. Die Meinung herrscht vor, du mußt dir alles ertrotzen von deinen russischen Mitarbeitern und Vorgesetzten, du mußt auf deine Rechte pochen. Du mußt dich dumm stellen, wenn ein Schutzmann dich anspricht, aber gut und sachlich argumentieren, wenn du mit einheimischen Kollegen und Vorgesetzten zu tun hast. Ich weiß nicht, was ich von diesen Meinungen halten soll. Sind sie so verbittert, weil sie schon ein Jahr länger als ich hier sind, oder hat die Verbitterung andere Gründe?

Ich bin froh, wieder in Neudatschino zu sein. Hier gibt es Leute, die Deutsch verstehen, selbst Plattdeutsch sprechen und allem Deutschen aufgeschlossen gegenüber stehen. Die Kinder hier haben das Herz auf dem rechten Fleck. Auf einem Pferd im Galopp die Hauptstraße entlangzupreschen, auf einem Motorrad über Stock und Stein zu jagen, das macht alles mehr Spaß als in der Schule über Schulbüchern zu hocken, zu schweigen und still zu sitzen. Ich wundere mich nicht, wenn die Schüler und Schülerinnen wie erlöst auf das Klingelzeichen warten. Es ist nicht persönlich zu nehmen, es ist nicht gegen den Lehrer gerichtet, es ist gegen das Schulsystem gerichtet. Wenn man sie außerhalb der Schule trifft, sind sie reizend und goldig.

An diesem Samstagabend ist Badetag in Neudatschino. Ein Mitreisender im Zug hat mir schon davon vorgeschwärmt. Also sage ich sofort, ich möchte mit, als mir Jakob, ein Sohn der Gastfamilie, erzählt, er gehe heute ins Waschhaus (Banja). Das öffentliche Bad ist wie die Schule einfach und sauber. Alles was der Badegast benötigt ist vorhanden, aber kein unnötiger Firlefanz. Das Haus hat Charakter. Zuerst warten wir ein paar Minuten, weil das Bad im Moment voll ist. Dann gehen wir hinein. Jakob lädt mich ein. Er zahlt meinen Eintritt mit. Wir ziehen uns aus, waschen uns und gehen in die Sauna. Danach duschen wir uns kalt, ziehen uns an und gehen aus dem Bad. Wie in der Schule wartet eine junge Frau, bis der letzte Gast gegangen ist. Dann macht sie sauber. Alles ist gut organisiert. Aber im Unterschied zu D ist es nicht ein widerwärtiger Job, sondern ein selbstverständlicher Dienst an der Dorfgemeinschaft. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß die jungen Frauen so darüber denken. Ist es die religiöse Erziehung? Ist es die besondere Situation der Rußlanddeutschen in fremder Umgebung? Ich weiß es nicht. Ich nehme es aber wahr.

Jakob sagt, in der Stadt denke jeder an sich zuerst, als ich ihm erzähle, daß ich in Omsk war und es mir dort nicht gefallen habe.

IIIWestsibirien ist gar nicht so hinterw ldlerisch wie wir inä Deutschland denken. Im Zug haben junge Leute Karten gespielt und ratet mal womit? Mit unserem franz sischen Kartenblatt!ö Auch in der Schule war ich ganz berrascht, da ichü ß keinerlei Erkl rungen abzugeben brauchte, als ich Skatkartenä verteilte. Die russischsprachigen Sch ler legten gleich losü mit Kartenspielen. Viele M dchen tragen hier Kleidung nachä westlichem Vorbild. Sie schminken sich die Lippen und lackieren sich die Fingern gel. Die Lieblingsfarbe scheintä rot zu sein.

Der Familienzusammenhalt wird hier in dem Vielv lkerstaatö hoch eingesch tzt. In der Familie deutscher Abstammung, inä der ich als Gast wohne, sind Kinder wieder nach Hause zur ckgekehrt, nachdem sie in der Stadt einen Beruf erlerntü oder beim Milit r fern von zu Haus gedient haben. Im Zugä habe ich eine mittelalte Frau beobachtet, die ziemlich gestre t und ungl cklich dreinschaute und ungeduldig mit derß ü Schaffnerin sprach. Nur in Gegenwart ihrer Tochter bl hteü sie auf und l chelte sogar. ä

Ein zentraler Ort hier im Dorf ist neben der Schule das ffentliche Bad, banja genannt. Nach der harten Arbeit aufö dem Feld oder im Garten, auf dem Bau oder mit schmierigen Maschinen, einer Arbeit, die schmutzig macht und die Muskeln verh rtet, genie en es die m nnlichen Dorfbewohner amä ß ä Samstagabend, die weiblichen am Freitagabend, sich zu reinigen, zu entspannen, zu schwitzen. Alles l st sich,ö f llt von einem ab im Bade. Jeder spricht nur gut von demä Bad. Der Eintritt ist gering, es ist mehr ein Unkostenbeitrag als ein Eintrittsgeld.

Eine gewisse Dienstbereitschaft ist hier in dem westsibirischen Dorf Neudatschino h ufig anzutreffen. Ob vonä der jungen Frau, die in der Schule sauber macht, von der jungen Frau, die nach dem Bade das Bad putzt, ob von dem einen Dorfbewohner, der einem anderen das Auto repariert. Bezahlt wird, wenn Geld vorhanden ist, manchmal nie. Du gewinnst den Eindruck, die Menschen hier arbeiten weniger f r Geld als vielmehr f r soziale Anerkennung oder ist esü ü Gottgef lligkeit? Ich wei es nicht. Auf jeden Fall ist esä ß anders als in einer deutschen Gro stadt. Vielleicht ist dasß mit ein Grund, warum die Kinder nach Aufenthalt in der Fremde wieder ins Dorf zur ckgekehrt sind, um hier zu lebenü und zu arbeiten. Arbeitslosigkeit ist hier verdeckt, ist nicht so ein soziales Stigma wie in den St dten und istä daher auch nicht so erniedrigend.

Die Bev lkerung in Westsibirien ist weltoffen. Du triffst imö Dorf und in der Stadt immer wieder Menschen, die Deutschland kennen, weil sie dort zu Besuch waren oder weil sie dort Freunde oder Verwandte wohnen haben, mit denen sie sich

schreiben. Dabei werden die Briefe meist reisenden Personen mitgegeben. Das geht schneller und ist sicherer als mit der Post. Es ist also nicht so, da man ber Deutschland garß ü nichts wei , obwohl es tausende von Kilometern entfernt ist.ß

Der Tag in meiner Gastfamilie beginnt um sieben Uhr mit K heü melken. Die Milch ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel der Familie. Die zwei K he geben genug Milch f r ein Kalbü ü und f r die mehrk pfige Familie und den Gast. Im Sommer,ü ö wenn die Weiden fett sind, geben die K he dreimal am Tagü Milch, im Winter bei Trockenfutter im Stall zweimal. Der Familienvater betreibt auch einen Bienenstock. Die Bienen sammeln genug Honig f rs eigene Volk und f r die Familie. Inü ü manchen Jahren sammeln sie so viel, da der Vater noch Honigß verkaufen kann.

Das Leben ist ungezwungen hier drau en auf dem Land. Lehrerß und Sch ler sind gemeinsam in der Sauna, du sitzt auf demü Donnerbalken, die T r ist offen, weil es noch nicht hell istü und die K he schauen dir bei deinem Gesch ft zu. Der kleineü ä Franz sitzt auf Gro mutters Scho und schei t in dieß ß ß Windeln. Du stinkst, sagt Gro mutter. Du hast gekackt. Naß mu auch sein, sagt die Tochter. Die Kleidung hier istß leger, Jeans, Turnschuhe, Pulli, Lederjacke.

Heute ist Sonntag, der 18.9.94. In Neudatschino ein Arbeitstag wie jeder andere. Das Wetter ist trocken und deshalb wird das Heu eingefahren, die Kartoffeln aus der Erde geholt u.a.m. Die Bauern haben Sorge, da das Heuß feucht wird und fault, daher beeilen sie sich und nutzen jeden Sonnentag. Bei den Kartoffeln besteht das gleiche Problem. Eine feuchte Kartoffel steckt zehn andere an, die Kartoffeln faulen. Eine Katastrophe in einem Dorf, das f rü sich selber sorgen mu , weil es von jeder Versorgungß abgeschnitten ist, zu abgelegen, eine richtige Rodungsinsel im sibirischen Laubwald. Milch, Brot, Butter, Eier, Zwiebeln, Kartoffeln sind die Hauptnahrungsmittel, daneben gibt es je nach Wetter und Einsatz der Bauern Tomaten, Paprika, Rote Beete, Wassermelonen, Erdbeeren, Apfel, Mais, Knoblauch, Schweinefleisch, H hnerfleisch, G nsefleischü ä u.a.m.

Nat rlich ist nicht alles so rosig oder beschaulich wie ichü das schildere, wie sich das auf geduldigem Papier liest. Ich arbeite ja nicht wie ein Bauer auf dem Feld und auf dem Hof, sondern in der Schule. Ich mu nicht mit l verschmierteß Ö lpumpen reinigen, durch Schlamm oder Kuhfladen stapfen,Ö messerscharfe Getreidehalme anfassen usw. Ich mu h chstensß ö einmal 10 Schulb cher ausradieren, in denen Sch ler mitü ü Bleistift herumgeschmiert haben oder meine H nde vomä Kreidestaub reinigen.

In der letzten Zeit sind 140 deutschst mmige Menschen ausä Neudatschino nach Deutschland ausgesiedelt. Ihr seht daran, das Leben hier ist nicht f r jedermann geeignet. Nur einü bestimmter Menschenschlag berlebt und freut sich desü Lebens. Faszinierend f r den Besucher aus Europa ist dieü Weite des Landes, die Gr e des Himmelzeltes. Zum Vergleichöß zwei Zahlen: ein Bauer in Deutschland hat durchschnittlich 50 ha Land zu bestellen, ein Bauer in Westsibirien 2.500 ha. Die Felder sind riesengro und dementsprechend belastbarß m ssen die Traktoren sein, was sie h ufig nicht sind. Sieü ä gehen kaputt, sie m ssen repariert werden, es m ssenü ü verbrauchte Teile durch neue ersetzt werden oder, wenn keine neuen vorhanden sind, mu improvisiert werden. Dieß Lebensdauer der Traktoren ist hier gut 20 Jahre. Heinrich, der Bauer aus Neudatschino war in Deutschland, hat deutsche Traktoren gesehen, sagt: sie waren wunderbar, ich habe gestaunt, aber uns fehlt das Geld. Wir m ssen mit unserenü alten Traktoren weiterwurschteln, solange es geht. Die Leute hier sind zum Teil sehr sehr t chtig. Ich nehme an, vorü allem die religi s motivierten Mennoniten und Baptistenö haben die n tige Moral, sich immer wieder aufzuraffen undö den Kampf aufzunehmen. Sie sind zweisprachig, beherrschen plattdeutsch und russisch, zum Teil auch hochdeutsch, also drei Sprachen. Ihr Vokabular ist zumeist beschr nkt auf dasä Wetter, die Familie und die Landwirtschaft. Sie leben hier ja ziemlich abgelegen. Einige wenige lesen auch noch russische oder deutsche Texte (Literaturdeutsch wie die Plattdeutschen sagen). Die deutschen Texte sind hier meist religi ser Natur: entweder am Samstag und Sonntag die Bibelö oder am Abend ein religi ses Erbauungsblatt wie zum Beispielö von den deutschen Baptisten in Heilbronn.

Es gibt hier nicht ein vergleichbares soziales Netz, das staatlich organisiert ist wie in Deutschland. Der russische Staat tut so gut wie gar nichts f r die Bev lkerung inü ö Neudatschino. Er asphaltiert keine Stra en, er baut keineß Gemeinschaftsh user. Was der russische Staat getan hat, istä die Elektrifizierung und das Schulsystem einrichten. Das ist aber auch alles. F r alles andere m ssen die Bewohner selbstü ü sorgen meist in Form von Nachbarschaftshilfe. Du mu t hierß t chtig sein, rackern von fr h bis sp t in den sechsü ü ä eisfreien Monaten, sonst gehst du und deine Familie am Bettelstab. Meine mennonitische Gastfamilie ist besonders t chtig. Sie hat neun Kindern das Licht der Welt geschenkt.ü Sie halten zahlreiches Kleinvieh, haben sehr viel gebaut in der Vergangenheit und kennen sich aus mit Maschinen. Auch die ltesten Kinder schlagen in die Kerbe der Eltern undä r hren sich von fr h bis sp t. Und trotzdem bleibt am Endeü ü ä nur das nackte Leben, kaum Ersparnisse, kein Geld zum Reisen oder f r Urlaub. Du gewinnst als Zuschauer jedoch nicht denü Eindruck, da sie ungl cklich sind. Sie strahlen dich an mitß ü ihren offenen Gesichtern, freuen sich ber jede Kleinigkeit.ü

Wahrscheinlich sind sie auch etwas stolz darauf, da sieß sich mit ihrer eigenen H nde Arbeit ern hren k nnen. ä ä ö

Eine der t glichen Arbeiten ist zum Beispiel, die K he aufä ü die Weiden zu treiben und darauf zu achten, da keineß durchbrennt oder verlorengeht. Das macht man meistens hoch zu Pferd, vergleichbar den nordamerikanischen Cowboys. Es ist bei den M nnern des Dorfes kein beliebter Dienst. Daherä wird dauernd gewechselt. Jeder m nnliche Dorfbewohner muä ß zwei- dreimal in 6 Monaten diese Pflicht bernehmen. Dieü S ttel sind nicht von bester Qualit t und nach einem Tag imä ä Sattel tut der Hintern sehr weh. Die Arbeit ist au erdemß u erst anspruchslos und langweilig. Meist wirdä ß herumgestanden und es passiert einfach nichts. Man mu dieß stumpfen K he berwachen, da ist ja Kindergarten nochü ü anspruchsvoller! Der eine oder andere Cowboy zieht es vor, mit dem Motorrad die K he zu h ten. Das scheint wenigerü ü eint nig zu sein. Ich wei es nicht. ö ß

Nat rlich kommt es hier auch - wie berall auf der Welt -ü ü auf equipment an wie die Amerikaner sagen. Die technische Ausr stung tr gt entscheidend zum Wohlbehagen des Menschenü ä bei. Diese Ausr stung ist hier auf einem veralteten Stand.ü Das ist so in der K che, wo die Hausfrau schaltet und waltetü ohne Sp le, gesp lt wird im Badezimmer, in derü ü Reparaturwerkstatt f r Kraftmaschinen, wo eine hydraulischeü Hebeb hne fehlt, auf dem Feld bei den Traktoren undü sonstigen Ger tschaften, in der Schule, wo wie vor hundertä Jahren mit Kreide an die Tafel geschrieben und aus uralten Schulb chern Goethe zitiert wird. Zum Teil, weil dasü Material fehlt, zum Teil weil der Umgang mit Folien, Diager ten, OHP-Projektoren zu zeitaufwendig erscheint. Werä hier aufw chst, versteht einfach etwas von Autos undä Maschinen. Sie sind hier wirklich lebensnotwendig. Wir d rfen nicht vergessen, es handelt sich hier um riesigeü Fl chen und Entfernungen, die zu Fu oder per Pferd sehrä ß beschwerlich zu berwinden sind. Wer hier zwischen Dings undü Nirgendwo mal eine Panne hat, mu sich selber helfen. Esß gibt hier keinen Engel vom ADAC oder ein Pannentelefon. Es gibt hier nur das Notwendige, Rudiment re. ä

K he sind hier ganz wichtig. Sie geben die Milch, einü Grundnahrungsmittel, Kartoffeln haben hier gro e Bedeutung,ß Weizen ist ein Grundnahrungsmittel. Viele haben H hner, dieü Eier legen. Gestern haben die T chter des Hauses Waffelnö gebacken, aus dem Weizen, mit Eiern von ihren H hnern, mitü Sahne und Butter von ihren K hen und Vanille, die wurdeü gekauft. Der Vater bekommt eine Rente aus fr herenü Arbeitsjahren. Die Rente, sagt er, ist tausendmal mehr geworden, die Preise sind um das F nftausendfacheü gestiegen. Fast jeder Siedler hat noch ein bis zwei K he f rü ü seine Familie privat neben den rd. 400 K hen, die derü Gemeinschaft geh ren. K he sind nicht jedermanns Sache, sieö ü

stapfen im eigenen Kot, aber die Maul und Zunge sind putzig und vor allem geben sie lebenserhaltende Milch. Allerdings m ssen die K lber daf r leiden. Sie stehen angepflockt undü ä ü bekommen nur zweimal am Tag Milch, nicht wenn sie wollen. Deshalb br llen sie oft, vielleicht vor Hunger? ü

6 Monate im Jahr wird in Neudatschino hart gearbeitet, 6 Monate herscht Winterschlaf. Dann sind die Arbeiten reduziert auf das Versorgen des Viehs in den St llen. Hierä in Neudatschino ist der Typ von Mann gefragt, der alles kann, Maschinen reparieren, Weizen zum Reifen bringen, H user bauen, ein Art Gigant, Pionier, Samson. Klug mu erä ß sein, stark mu er sein. Auch heute am Sonntag wirdß gearbeitet. Ich stehe gerade am Silo. Oben kommt der geerntete Weizen hinein. Auf Knopfdruck l uft er ber einä ü F rderband in die Zerkleinerungsanlage, aus der der Weizenö nach Frucht und H cksel getrennt herauskommt. In den sechsä Monaten der eisfreien Zeit ist viel zu tun.

Nicht jeder Dorfbewohner ist gleich t chtig. Die P dagogenü ä sind meines Wissens von den Gemeinschaftsaufgaben befreit, da sie ja den Dienst an den Kindern versehen. Allerdings scheint fast jeder noch sein Privatg rtchen und auchä Haustiere zu besitzen. Der Verwaltungs-Chef vom Dorf hier hat mir vorgerechnet, da auf drei Kinder ein P dagogeß ä kommt. Das Dorf hat insgesamt 30 P dagogen. Die Abwanderungä der 140 Plattdeutschen wurde ausgeglichen durch die Neuansiedlung von 140 Russen und Ru landdeutschen ausß Kasachstan, die aber nur Russisch sprechen. Die alteingesessenen Plattdeutschen scheinen das als berfremdung zu empfinden. Aber was sollen sie machen?Ü

Ich aus meiner St dtersicht kann nur sagen, ein hartesä Leben, Plackerei von fr h bis sp t, die sich nach unserenü ä Ma st ben nicht bezahlt macht. Das bi chen Geld, das dieß ä ß Leute haben, hat immer weniger Kaufkraft. Immerhin ist f rü das N tigste gesorgt durch die kollektive und privateö Landwirtschaft. Dann mu eben der Kleiderkauf aufgeschobenß werden, die Reise gestrichen werden, usw. Verhungern muß hier keiner.

Ich kann mich nicht beklagen ber die Aufnahme hier inü Neudatschino. Ich bin freundlich empfangen worden und die Begegnungen in der ersten Woche waren vorurteilsfrei. Ich bin der erste ausl ndische Lehrer hier im Ort. In einemä anderen Ort etwa 200 km von hier mit Namen Asowo ist das nicht der Fall. Dort sind schon zwei Lehrerinnen aus Deutschland seit einem Jahr t tig. Mittlerweile scheint dieä Bev lkerung diesen Personen mehr und mehr ablehnendö gegen berzutreten. Ausgehend von den F hrern scheint sichü ü ein Mi trauen breit gemacht zu haben, das sich in der Angstß u ert, die Lehrerinnen aus Deutschland k nnten allesä ß ö haarklein nach Deutschland weitermelden, was in Asowo und

Umgebung so alles passiert. Wer hat schon in allem was er tut eine reine Weste? Die Angst scheint umzugehen, da durchß die Meldungen der beiden Lehrerinnen nach Deutschland der Geldhahn aus D zugedreht werden k nnte. ö

Das K heweiden wird hier allgemein als coole Sacheü angesehen. Niemand ist dabei bis aufs u erste angespannt.Ä ß Es scheint berhaupt so zu sein, da vor allem bei denü ß Menschen ohne religi se Moralvorstellungen ein gewisserö Schlendrian herrscht. Zumindest erz hlen mir das dieä t chtigen Plattdeutschen wie der Dorfvorsteher oder der Sohnü des Mennoniten-Predigers. Das Wort f r Stre ist imü ß Plattdeutschen Drock. Die t chtigen Leute hier beherrschenü mehrere T tigkeiten nebeneinander. Sie scheinen nicht soä spezialisiert zu sein wie wir St dter. Sie f hren ein Lebenä ü am Puls der Natur mit Fr chten der Erde und Tieren. Das,ü wonach wir St dter uns sehnen, was wir am Wochenende zuä erleben suchen, haben die und ich jeden Tag. Aber die Natur verw hnt sie nicht. Sie m ssen ihr alles abringen. Auch beiö ü Regen und schlammigen Feldern mu der Bauer raus. Wirß St dter bleiben dann lieber in der warmen Stube. ä

Ich kann hier unbehelligt meine Runden drehen, Fotos machen. Die Leute, die mir begegnen sind kein bi chen mi trauisch.ß ß Sie sind auch nicht ungeduldig oder unfreundlich, wenn sie merken, da ich sie nicht verstehe. Treffe ich auf einenß gebildeten Menschen, korrigiert dieser meine Bem hungenü russisch zu sprechen. Treffe ich auf einen ungebildeten, ist dieser sichtlich verst rt und stellt die Kommunikationö umgehend ein. Ich bin ihm egal. Aber ich sp re keinenü Fremdenha , eher Gleichg ltigkeit. Ich sehe alles mit denß ü Augen des Neuank mmlings und mit den Augen desö Schreibtischmenschen, der nicht im Schlamm mit lverschmierten Traktoren arbeiten mu . ö ß

Genau wie in den Pr rien Nordamerikas ist das erste Ziel desä heranwachsenden Westsibiriers, motorisiert zu sein. Fahrrad, Pferd, Motorrad, Auto, das ist die Reihenfolge. Niemand von den Jungen versteht, wenn ich spazieren gehe. Ein Mann muß hier ein Auto haben. Das ist verst ndlich bei denä Entfernungen hier. Wie soll man jemals diese riesigen Entfernungen ohne Auto berbr cken. Gut, es gibt den Zug.ü ü Aber selbst der Anmarsch zur Station ist lang und beschwerlich, ganz zu schweigen vom Gep ck. Ich vermuteä stark, da ich mich hier ebenfalls motorisieren mu . Zumß ß Beispiel sind die beiden Lehrerinnen, die schon im vorigen Jahr in Asowo t tig waren, in diesem Jahr mit dem eigenenä Pkw aus Deutschland angereist. Sie werden ihre Gr nde haben,ü die weite und beschwerliche Anreise auf sich genommen zu haben!

Das mu f r die Russen, die hier leben befremdlich sein,ß ü diesen plattdeutschen Dialekt oft zu h ren. Wahrscheinlichö

finden sie sich damit ab, weil ansonsten alles gut zu sein scheint. Ich sagte schon, das Dorf Neudatschino ist eine Perle unter den russischen D rfern. Das ist sogar amtlich!ö

Zwei Kilometer weiter direkt am Bahndamm wohnen russische Siedler. Sie m ssen ihr Wasser aus einem Ziehbrunnen holen.ü Sie haben kein Wasser aus dem Hahn wie wir in Neudatschino. Betrachtest du dir die schmucken Wohnh user in N., hat jedesä dritte eine Fernsehantenne. Jakob Neufeld erz hlt mir, dieä Ger te in den H usern seien Farbfernseher nach dem neustenä ä Stand der Technik. Er nennt die Marke Sony. In der Mennoniten-Familie, in der ich wohne, gibt es keinen Fernseher, weil die Eltern aus moralischer berzeugungÜ dagegen sind. Die kleine Katja geht daher h ufiger mal beiä einer Schulfreundin Fernsehen schauen, auch Videos anschauen. Der Vater ist immerhin Mennoniten-Prediger und daher besonders prinzipientreu. Die S hne von ihm, dieö bereits eine eigene Familie und ein eigenes Haus im Ort haben, haben einen Farbfernseher zu Hause.

Die Jahreszeit hei t auch in Ru land ß ß Altweiberssommer. Die Sonne scheint warm vom Himmel, die Bl tter nehmenä verschiedene Gelbt ne an. Das Heu liegt zum Trocknen aus.ö Jeder Sonnentag wird genutzt zum Arbeiten. Bald wird es Winter sein und dann ruht die Arbeit auf der Steppe. Dann m ssen die Menschen von dem leben, was sie in den eisfreienü Monaten erwirtschaftet haben.

Es gibt neben den alteingesessenen, t chtigen Menschen auchü entwurzelte zugezogene Menschen oder sozial degradierte Altkommunisten, wie den ehemaligen Schuldirektor Wladimir, der jetzt Bienen z chtet. Diese Menschen sind nicht soü arbeitsam, die schlagen eher die Zeit tot und wissen nicht so recht, etwas mit sich anzufangen. Ich kann mir denken, was einem zugezogenen Russen durch den Kopf geht, den ich auf der Stra e treffe und dem ich mich vorstelle. Wenn ichß sage, ich bin der neue Lehrer f r Deutsch an der hiesigenü Schule, wird er sicher denken, na, der hat mir gerade noch gefehlt.

Der Himmel ist weit ber Neudatschino. Diese Tatsacheü symbolisiert f r mich die Toleranz, die die Bewohnerü einander entgegenbringen. Es gibt hier Mennoniten, alteingesessene Siedler, Baptisten, beide Gruppen sprechen plattdeutsch, dann junge Leute, die sich von den religi senö Vorstellungen ihrer Eltern mehr oder weniger entfernt haben, aber weiter plattdeutsch sprechen und genausogut russisch, dann Russen, die zugezogen sind, und schlie lichß Ru landdeutsche aus Kasachstan, die kein Wort Deutsch mehrß sprechen.

Wenn ich in der K che sitze, f hle ich mich wie in Irland.ü ü Auf einer Insel, wo g lisch und englisch gesprochen wird.ä

Neudatschino liegt hnlich abseits wie Aran Island zumä Beispiel, und das G lische dort ist das Plattdeutsche hier,ä eine wahrscheinlich aussterbende Sprache, umgeben von der Verkehrssprache, dem Englischen dort, dem Russischen hier.

Am Sonntagabend ist Andacht. Im Gemeindehaus versammeln sich immer die gleichen Leute, ein paar alte Menschen und der Neufeld-Clan. Es werden fromme Lieder gesungen, in russisch und in hochdeutsch, es wird aus der Bibel zitiert und die Passagen vom Prediger in plattdeutsch anschaulich gemacht. Der Prediger war lange Zeit Gerhard Neufeld, heute bernehmen auch seine ltesten S hne diese Aufgabe. Dieü ä ö Gemeinde ist klein geworden. Den Kirchen scheinen berallü auf der Welt die Gl ubigen davonzurennen. Eineä dreiundsiebzigj hrige mit Kopftuch und schlechten Z hnenä ä erz hlt mir in russisch gef rbtem Hochdeutsch, sie sei dieä ä letzte aus ihrer Familie in Neudatschino. Ihr Vater sei 1937 wie alle anderen M nner des Dorfes erschossen worden. Zurä Erinnerung: 1938 ist Gerhard Neufeld geboren worden. Ihre Mutter habe sie vor drei ig Jahren beerdigt. Ihre zweiß Schwestern seien vor 3 Jahren nach Deutschland ausgesiedelt. Jetzt sei nur noch sie allein briggeblieben. Sie wohnt inü einem gro en Haus neben dem Dorfladen ganz allein. Sie muß ß Brennholz schlagen, Kartoffeln ausbuddeln, trocknen und einkellern usw. Eine ihrer Schwestern hat ihr angeboten, sie in Hamm bei sich und ihrer Familie aufzunehmen. Daraufhin hat sie ein Ausreisevisum beantragt. Sie wartet immer noch darauf. Sobald es kommt, will sie ausreisen. Dann ist wieder eine Kirchg ngerin und eine Hochdeutschsprechende weniger inä Neudatschino.

Der Neufeld-Clan f hlt sich offensichtlich noch zu wohl inü Westsibirien, um Ausreisepl ne ernstlich zu bedenken. Sieä haben sich auch nach meinem Eindruck ganz bequem eingerichtet in der Steppe. Der Familiensinn ist stark ausgepr gt. ä

Die Jugend von Neudatschino nimmt alles nicht so tragisch. Wenn sie nur Fu ball spielen, Karten spielen, Sahnewaffelnß essen, Gr nen Fritz trinken, Motorrad fahren, mitü Gleichaltrigen herumsch kern k nnen. Die Sorgen und N te derä ö ö lteren gehen ihnen ziemlich am Arsch vorbei.Ä

IVHeute ist Samstag, der 1.10.94. In der Schule ist Tag des Lehrers. Am Vormittag ein lustiger Wettbewerb zwischen einer Lehrer- und einer Sch lermannschaft, am Nachmittagü geselliges Beisammensein der Lehrer. Jeder Mensch bringt etwas zu essen und zu trinken, Salate aus selbst geernteten Auberginen, Artischocken, Tomaten, Karotten, Kohl, alles mit Knoblauch angemacht, selbst gemachte Sp tzle (Spaghetti),ä eingelegte Gurken, Pilze, Beeren, fleischgef llteü Maultaschen (Ravioli), H hnerfleisch, russischen Wodka, Teeü (Tschai). Ein Klassenzimmer wird umfunktioniert in eine Gastst tte. Jakob der zweisprachige Musiklehrer istä Lehrerobmann, das ist jemand, der vermittelt, wenn es zwischen Lehrern zu einem Streit kommt oder zwischen Lehrern und Verwaltung. Er ist ein Animateur und bald flie t derß Wodka und ert nt der Gesang. Nach dem Essen wird getanzt,ö Polka, Sirtaki, Walzer, you name it we have it. Einige kennen ein Gesellschaftsspiel und die Stimmung schl gt hoheä Wogen. Um 5 Uhr nachmittags wird dem Spuk im Schulhaus ein Ende gemacht. Der Tag des Lehrers ist zu Ende.

Am Abend treffen sich die M nner und Jungen des Dorfes inä der Banja. Jeder schrubbt und schwitzt und dampft. Ein Dutzend H user weiter sitzt eine Familie auf gepacktenä Koffern und wartet auf die Abreise nach Nowosibirsk. Sie werden von dort mit drei Koffern ber Moskau nach Frankfurtü fliegen und irgendwo in einem Aufnahmelager leben. Die Frau hat eine Schwester in Hamburg. Sie nehmen jede Menge Briefe mit aus Neudatschino. Die frankieren sie in Deutschland neu und werfen sie ein. Das geht bedeutend schneller als der gew hnliche Postweg. Der Vater der Frau ist dreiundsiebzigö und gl ubiger Christ. Er hat die Geburt des Kommunismusä miterlebt, die Verfolgung der Christen durch den KGB (russischer Geheimdienst), die Verfolgung und Exekutierung der Deutschen nach vorheriger Folterung im zweiten Weltkrieg, Nachbarn haben damals Nachbarn angezeigt und an den Galgen gebracht, ohne Gerichtsverhandlung ging das. Er ist auch heute pessimistisch, traut der Perestroika nicht so recht, glaubt an die Wiedergeburt des Kommunismus. Auch sein Ausreisevisum liegt schon in der Schublade. Die lterenä Ru landdeutschen, die bis 1937 zur Schule gegangen sind,ß sprechen meist ausgezeichnet deutsch f r sibirischeü Verh ltnisse. Damals wurden alle F cher in Hochdeutschä ä unterrichtet, heute nur noch das Fach Deutsch (Nemjezkij).

Heute ist Sonntag, der 2.10.94, Erntedankfest bei den frommen Mennoniten in Neudatschino. Einige wenige russische Mitb rger sind anwesend, Walera aus dem Nachbardorf, zweiü Lehrerinnen aus der hiesigen Schule. Als G ste sindä angereist plattdeutsche Mennoniten aus Waldheim, einem gro en deutschen Dorf 300 km von hier. Das Versammlungshausß ist voll bis auf den letzten Platz. An der Decke h ngenä Papiergirlanden mit gemalten Fr chten. Der Gottesdienstü

beginnt um 10 und endet um 13 Uhr. Die G ste aus Waldheimä haben ein perfektes Musikequipment mitgebracht, einen Klavierspieler, einen Keyboardspieler mit Verst rker, eineä Gesangsanlage, einen Chor. Es werden fromme Lieder gesungen, es werden Bibelstellen vorgelesen und interpretiert, alles auf russisch. Ich verstehe einige W rter und Passagen, nichtö viel. Ssluschajem sslowa christa. Wir h ren das Wort Gottes.ö Um 13 Uhr wird zu Tisch gebeten. Vor dem Essen wird dem Herrn gedankt f r Speis und Trank, dann kann jeder essen vomü Gabentisch so viel er oder sie will. Um 15 Uhr ist wieder Gottesdienst mit frommen Liedern und belehrenden Spr chenü oder Gleichnissen aus der Bibel. Um 17 Uhr wird zum Kaffeetrinken geladen. Die christlichen Leute sind sehr zur ck- haltend, ja scheu. Am Tisch herrscht keineü ausgelassene Stimmung wie bei den russischen Mitb rgern amü Tag zuvor beim Lehrerfest. Liegt es an der Religion, liegt es an der Nationalit t? Ich wei es nicht.ä ß

Die deutschen Familien in Neudatschino sind sehr unterschiedlich. ber die Stra e gegen ber den NeufeldsÜ ß ü wohnt eine Familie Becker mit Opa, Oma, Mama, Papa und sieben Kindern. Oma und Opa sprechen deutsch gel ufig mirä russischen W rtern gemischt. Die zweite Generation sprichtö deutsch schon sehr viel holpriger, die dritte Generation nur zum Teil. Die ltesten Geschwister sprechen ganz gutä deutsch, die j ngeren nur plattdeutsch oder russisch. Derü Hofwirkt schmutzig, verwahrlost. Es gibt fast so viele Kinder wie bei den Neufelds, aber das Leben ist nicht so gut organisiert. Vater und Mutter haben bergewicht, die ElternÜ haben keine eigenes Haus und bauen tut auch niemand. Von ihrer gemeinsamen Rente in H he von 290.000 Rubeln schie enö ß sie den Kindern Geld zu f r das Auto. Sie sind in ihremü Leben schon f nfmal umgezogen, unfreiwillig sozusagen,ü fr her hat der Gro vater noch gebaut, jetzt ist er Invalide.ü ß Man hat ihm einen Teil des Beines amputiert. Mit wem ich auch rede von den lteren Mitb rgern deutscher Nation, jederä ü spricht von der Wiederkehr des B sen um dieö Jahrtausendwende, sie m ssen das der Bibel entnehmen. Ichü verstehe davon zu wenig. Auf die russische Umwelt wird durchweg geschimpft, der rechte Weg sei, sich rassisch reinzuhalten, nicht zu ´verrussen´. Die Deutschen seien t chtig, bauten etwas auf, die Russen seien faul und tr nkenü ä zu viel. Deshalb h tte der russische Staat in derä Vergangenheit die Deutschen auch nicht gehen lassen. Das Christentum sei unter dem Kommunismus verfolgt worden.

Ich erz hle immer von anderen Leuten. Wenn ich von mirä erz hlen soll, so hatte ich zu Beginn meines Aufenthaltesä eine Erk ltung und jetzt, nachdem die Erk ltung abgeklungenä ä ist, einen leichten Durchfall. Das sind f r mich typischeü Anpassungsschwierigkeiten des K rpers an Klima und Nahrung,ö nicht der Rede wert. Es scheint, da ich immer im letzenß

Augenblick auf der Bildfl che erscheine. Das war so beiä meiner Geburt, als meine Mutter schon 44 Jahre alt war und kurze Zeit sp ter in die Wechseljahre kam. Das ist auch soä hier in Neudatschino, wo ich Deutschlehrer bin. Ich bin deshalb von der Schule eingeladen worden, weil hier Deutsch als Mutter- sprache mit vielen Unterrichtsstunden ausgestattet ist und die einzige Deutsch-Lehrerin mit dem Pensum allein nicht fertig wird. Der Grund f r die vielenü Deutschstunden an der Schule ist darin zu sehen, daß Neudatschino ein reines Mennonitendorf plattdeutsch sprechender Leute war bis vor einigen Jahren. Seitdem hat sich viel ge ndert. Es sind 400 Ru landdeutsche nachä ß Deutschland umgesiedelt und ersetzt worden durch russisch sprechende Menschen und Familien. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, da Deutsch auch im n chsten Schuljahr dieß ä bisherige Bedeutung im Lehrplan haben wird. Das bedeutet f rü mich, da ich berfl ssig sein werde. Gut, da ich in diesemß ü ü ß Jahr gekommen bin, in dem Deutsch noch viele Stunden unterrichtet wird.

Die einzigen geselligen Aktivit ten in diesem ehemaligenä Menno- nitendorf sind Treffen aus Anla der Bibellesung. Esß gibt f r das H uflein briggebliebener Ru landdeutscher inü ä ü ß Neudatschino gleich zwei Versammlungsh user, wo gesungen undä gebetet wird. Beide sind voll von schw lstigen Ansprachenü und gelegentlich Frauen, die vor Inbrunst weinen. Das Beste sind die Lieder, die mit Andacht gesungen werden. Die Ansprachen dagegen wollen kein Ende nehmen. Ich kann das nicht so nachvollziehen.

Wegen der K he, die nachts am Haus sind und tags ber auf derü ü Steppe, zumindest in der schneefreien Jahreszeit, gibt es viele Fliegen im Haus. Keine Stube ist frei von Fliegen, die von der Kuhschei e leben, unappetitlich.ß

Waschen ist einmal in der Woche gr ndlich in der Banja undü sonst Katzenw sche, weil die sanit ren Verh ltnisse nichtä ä ä sehr einladend sind. Will man die sanit ren Einrichtungenä renovieren (´Remont´ ist zur Zeit berall in der Stadt undü auf dem Land), ist es schwer, die n tigen Teile zu findenö und zu bezahlen, also bleiben die Dinge tage- oder wochenlang halbfertig liegen.

Heute ist Mittwoch, der 5. Oktober. Es ist der Tag der Veteranen, so nennen die Russen ihre Senioren. Der Gemeindevorstand veranstaltet im Klubhaus ein geselliges Beisammensein, wo etwa 75 vor allem ltere Menschenä versammelt sind. Es wird ihnen Gesang geboten und ein Essen auf Gemeindekosten. Die Mehrzahl dieser Menschen hat viel gelitten; sie sind vertrieben worden von ihren Wohnst tten,ä wo sie geboren wurden, sie wurden in die Arbeitsfront eingezogen, mu ten schwer arbeiten und bekamen wenig zuß essen, ja hungerten. Angeh rige sind zum Teil vor ihrenö

Augen erschossen worden. Das war die b se Zeit des 2.ö Weltkrieges, als die Deutschen in Ru land Verfolgung undß Erniedrigung bis zur Ausl schung erfuhren. Heute jedenfallsö haben sie Anerkennung bekommen, und daf r sind sie dankbar.ü Diese Generation ist auf die Russen nicht gut zu sprechen. Sie sagen, die Russen wollen nicht ihr Land entwickeln, `sich nicht die Erde untertan machen´. Die Russen lehnten es ab. vom Westen zu lernen und lie en ihre Reicht merß ü sozusagen `verkommen´.

Heute ist Donnerstag, der 6.10.94. Die Lehrer proben eine Inszenierung f r die Hochzeit einer Kollegin. Jelisabethaü Abramowka erz hlt von Hochzeitsbr uchen der russischenä ä Landbev lkerung und der plattdeutschen Mennoniten. Eineö russische Hochzeit geht ber zwei Tage, erz hlt sie. Manü ä kann einen Roman dar ber schreiben, so umfangreich ist sie.ü Zun chst wird es dem Br utigam schwer gemacht zu seinerä ä Braut zu gelangen. Ihm werden Barrieren in den Weg gelegt, die erst wegger umt werden, wenn er etwas springen l t,ä äß gew hnlich Wodka. Die Schuhe der Braut werden gestohlen undö erst zur ckgegeben, wenn der Br utigam sie voll Wodkaü ä sch ttet und mit seinen Kumpels bis zur Neige austrinkt.ü Sollte der Br utigam knausern, wird sogar die Braut entf hrtä ü und erst zur ckgegeben, wenn der Br utigam sich gro z gigü ä ß ü zeigt. Der Br utigam mu seine Kraft unter Beweis stellen,ä ß gew hnlich Holz hacken. Ist er stark genug, einem Hausstandö vorzustehen? Die Braut tr gt einen Kranz aus Blumen, derä Br utigam ein Str u chen am Rockaufschlag. Der Abschied vonä ä ß den Eltern wird dadurch gefeiert, da die Braut den Kranzß abnimmt, sich umdreht, den Kranz in die Menge der wartenden Jungfrauen wirft. Die, die den Kranz f ngt, wird nach demä Volksglauben die n chste Braut. Nat rlich kann man das Spielä ü so manipulieren, da tats chlich die n chste Braut den Kranzß ä ä f ngt. Der Br utigam nimmt seinen Strau aus B ndern undä ä ß ä Zweigen ab und wirft den Strau in die Menge der wartendenß Unverheirateten. Wer ihn f ngt, wird der n chste Br utigamä ä ä im Dorf. Wenn die G ste das Brautpaar hochleben lassen,ä k ssen sie sich. Auch das Paar, das Kranz und Strauü ß geschnappt haben, m ssen sich k ssen.ü ü

Vor dem Mahl werden die Hochzeitsgeschenke abgegeben. Jeder Gast steht auf und verk ndet vor versammelter Runde, was erü schenkt und was er den Brautleuten w nscht. Das dauertü gew hnlich allein eine Stunde je nach Gr e derö öß Hochzeitsgesellschaft.

Beim Mahl flie t wieder Wodka. Nach dem Mahl wird getanzt.ß Dann wird wieder gegessen. Eine russische Hochzeit dauert zwei Tage.

Erna, Mennonitin aus Kanada, erz hlt, sie und ihr Mann Benä seien die ersten Ausl nder zwischen Omsk und Nowosibirskä gewesen. Die Beh rden h tten noch keine Erfahrungen mitö ä

ihnen, die Bev lkerung sei gastfreundlich und neugierig.ö Kann sein, da sich das ndert, wenn mehr und mehr Ausl nderß ä ä nach Westsibirien kommen.

Die Neufelds lassen nichts verkommen. Das ist ihre Ethik. Wenn andere die pfel am Baum verfaulen lassen, sie pfl ckenÄ ü sie. Wenn andere das Heu auf dem Acker liegen lassen, sie rechen es zusammen und laden es auf und fahren es in die Scheune. Wenn andere die Schafe scheren und die Wolle nicht verwerten, sie verwerten sie. Marie hat ein Spinnrad, auf dem sie Rohwolle zu Wolle spinnt. Das habe ich von der Mutter gelernt, sagt sie. Im Winter, wenn die Arbeit auf dem Feld und im Garten ruht, erz hlt sie, spinnt sie Wolle oderä sie strickt oder stopft. Irgendwie strahlen diese Leute Zufriedenheit aus, obwohl sie auch st hnen unter der Lastö der all- t glichen Arbeit. Aber sie haben Geist, Wille,ä Ethik. Mennonitische Ethik. Sie identifizieren sich auch mit dieser sibirischen Erde. Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Sie nehmen auch Anteil am Schicksal ihrer Mitmenschen. "Wenn ich k nnte, w rde ich ihm ein Hausö ü bauen," sagt Gerhard, "aber ich kann nicht. Ich darf nicht. Der Arzt hat es mir verboten." Er spricht ber einenü Invaliden, dem sie das Bein abgenommen haben. Er ist f nfmalü vertrieben worden von seinem Hof und hat jetzt im Alter eine k mmerliche Bleibe f r sich und seine Frau. Die Kinder undü ü Enkelkinder wohnen nebenan. Er ist trotzdem nicht griesgr mig, hat ein jungshaftes L cheln auf den Lippen. Undä ä die 83-j hrige, zahnlose Ehefrau hat einen hellwachen Geistä und eine Chuzpe, von der sich so mancher eine Scheibe abschneiden kann.

Heute ist Samstag, der 8.10. Es ist Treffen der bundesdeutschen Lehrer im Gebiet um Omsk. Wir treffen uns in einer Privatwohnung in Omsk, 6 Lehrer und Lehrerinnen und eine Koordinatorin, die auch Wohnung und Essen stellt. Wir sprechen von unseren Erfahrungen und tauschen Unterrichtsideen aus. Sehr n tzlich und motivierend! Nach 10ü Stunden Beisammensein verabschieden wird uns und jeder geht seiner Wege. Ich schlie e mich einer Lehrerin an, die michß freund- cherweise bei sich beherbergt, sibirische Gastfreundschaft! Auf dem Heimweg lerne ich einiges Sehenswerte in Omsk kennen. Besonders die repr sentativenä Geb ude aus der Zeit der Jahrhundertwende haben Stil, eineä Art europ ischen Kolonialstil. Ingrid erz hlt, ihre Wohnungä ä habe schrecklich heruntergekommen ausgesehen, als sie in sie eingezogen sei vor einigen Wochen. Wir verbringen einen feuchtfr hlichen Abend miteinander und gehen zu Bett. Amö n chsten Morgen gibt es ein Fr hst ck mit Ei. Es istä ü ü Sonntag. Nach dem Fr hst ck machen wir einen gemeinsamenü ü Stadtbummel. Die Stadt ist nicht so ausgestorben wie deutsche St dte am Sonntag. Es sind auch Gesch fte ge ffnetä ä ö und viele fliegende H ndler unterwegs. Zu Mittag sind wirä bei einem Essen zum Essen eingeladen. Wir kaufen einige

Bierflaschen und machen uns auf den Weg. Der Kollege wohnt weit drau en vor der Stadt in einem Neubauviertel, typischeß Schlafstadt in Plattenbauweise. Der Trolleybus ist wie immer berf llt und es wird geschoben und gedr ngt. Es herrschtü ü ä eine unfreundliche Stimmung. Als wir endlich angekommen sind, ist der Kollege nicht zu Hause. Ist ihm die Wartezeit zu lang geworden. Wir wissen es nicht. Ein Haus schaut wie das andere aus, es gibt keine Namensschilder, so etwas Unpers nliches habe ich noch nicht gesehen. Die Telefoneö sind zerst rt. Zum Gl ck scheint die Sonne. Sie macht allesö ü ertr glich. Die Kinder spielen auf der Stra e.ä ß Wahrscheinlich hat die Mutter zu ihnen gesagt, geht mal eine Zeitlang drau en spielen, es ist sch nes Wetter, damit sieß ö mit Papa allein sein kann. Nicht weit von hier flie t derß m chtige Irtysch, breiter als der Rhein. Es ist alles flach.ä Die Infrastruktur heute l t sehr zu w nschen brig. Allesäß ü ü scheint lieblos hingerotzt zu sein, nach einigen Jahren heruntergekommen und berwuchert von wilden Kr utern, unterü ä anderem auch Cannabis.

Die Stadt Omsk hat breite Stra en und viele Parks, gro z gigß ß ü angelegt, viel Raum, viel Platz. Ingrid bringt mich zum Bahnhof und begleitet mich auf den Bahnsteig. In Omsk gibt es 5 Gleise, erstaunlich wenig f r eine Millionenstadt. Dieü Gleise 1 bis 3 sind reserviert f r Fernz ge derü ü transsibirischen Eisenbahn zwischen Moskau und Nowosibirsk und dem Fernen Osten. Die Gleise 4 und 5 werden befahren von der Elektritschka, die berall h lt und f r denü ä ü Personennahverkehr von gro er Bedeutung ist. Ein Mannß spricht uns an, der uns deutsch reden h rt. Er erz hlt, daö ä ß er im Monat August in Deutschland war zu einer Tagung. Er sei Wissenschaftler von Beruf, arbeite an einem Institut. Er verdiene 70.000 Rubel pro Monat, was viel zu wenig sei bei dem Preisanstieg und der Geldent- wertung. Darum gehe er als Eisverk ufer in den Zug, um etwas dazu zu verdienen.ä

Im Zug t nt ein betrunkener Mann lautstark. Erinnert mich anö den Hinflug. Dort war auch ein Betrunkener, der in einem Fort lautstark redete. Mu komisch sein, was er sagt, weilß die Leute oft lachen.

Wieder zur ck in Neudatschino. Das Haus der Neufelds stehtü f r den Besucher offen, ist nicht verrammelt und verriegeltü wie in der Stadt. Es empf ngt mich ein warmerä Willkommensgru von Marie, der Hausfrau. Marieche nimmt sichß Zeit, bietet mir einen Kaffee an, h rt mir geduldig zu, wasö ich zu erz hlen habe. Wie anders als in der Millionenstadtä Omsk, wo die Leute in Wohnungen bereinandergeschachteltü wohnen, die T ren verrammelt, zwei Schl sser, viele habenü ö einen Hund, einen Wachhund, der ihren kleinen Wohlstand besch tzen soll. Die Leute gehen sich eher aus dem Weg alsü sich die T r zu ffnen. Sie leben in der Stadt vereinzelt,ü ö atomisiert. Auf dem Dorf dagegen kennt jeder jeden und ist

hilfsbereit. Gerhard Neufeld hofft und w nscht, da das soü ß bleibt, da nicht gestohlen wird, da die Leute sich nochß ß helfen untereinander. Bef rchtungen sind da, da sich dasü ß ndern k nnte durch das Fernsehen und andere moderneä ö Einfl sse. Die Habgier k nnte in den Menschen gewecktü ö werden. Noch ist Neudatschino unverdorben, wie lange noch? In Omsk zahlst du f r ein Fax nach Deutschland bestehend ausü 5 Zeilen 30 - 45 Tausend Rubel, in Neudatschino wird es dir geschenkt.

Die Sonnenunterg nge in Westsibirien sind immer wieder neuä ein Erlebnis, ein Naturereignis. Ein m chtiger Himmel w lbtä ö sich scheinbar endlos ber das flache Land. Die wenigenü Wolken am blauen Himmel hat die Sonne rot gef rbt und derä Mund steht strahlend und klar am Firmament. Macht, Intensit t, Energie, diese Begriffe fallen mir ein beimä Betrachten des Sonnenuntergangs in Westsibirien.

Heute ist Dienstag, der 11.10. In der Schule ist eine B chersendung aus Warschau ber Moskau eingetroffen. Dasü ü Goethe-Institut versorgt uns mit modernem Unterrichtsmaterial. Die Sch ler sind begeistert. Sie sagenü immer wieder das frisch gelernte Wort ´prima´.

Ein Leben dicht an der Natur: gestern habe ich mit Holzscheiten aus Birkenholz drau en ein Feuer gemacht, dasß einen Wasserkessel erhitzte. Die Frauen des Dorfes haben Wald- und Gartenfr chte hineingegeben und zu einem Teeü verkocht. Der wird ber Nacht abgek hlt und morgen, amü ü Sonntag, den G sten gereicht. Diesen Sonntag feiert dieä andere Mennonitengemeinde Erntedankfest. Unter den Frauen ist auch die Schwester Gerhards des lteren. Sie sagt, sieÄ war auch schon in Deutschland und ihre Tochter lebe dort. Aber sie und Gerhard f nden es hier in Neudatschino sch ner.ä ö In D erlebten die Menschen keinen Sommer und keinen Winter, jede Jahres- zeit sei gleich in den zentral beheizten R umenä mit Fernseher, Dusche und WC. Die Stimmung in Neudatschino ist gar nicht schlecht. Gestern hat wieder ein junges Paar geheiratet. Das bedeutet, da sie an die Zukunft glauben undß an Kindersegen. Und das, obwohl aus einem rein plattdeutschen Dorf in wenigen Jahren ein russisch-deutsches Dorf geworden ist zu etwa gleichen Anteilen. Die lterenÄ reden von Niedergang und Untergang des Deutschtums in Neudatschino und Ru land allgemein, die J ngeren sehen dasß ü Ganze lockerer und sind nicht so auf ihr Deutschtum bedacht wie die lteren. Sie h ren im Unterschied zu ihrenÄ ö Gro eltern in der Schule ohnehin nur russisch und habenß russische Spielgef hrten. ä

Sonntag, der 16.Oktober. Heute ist Erntedankfest, dieses Mal bei der mennonitischen Gemeinde, der Gerhard Neufeld vorsteht. Die Neufeld-Familie ist stark eingespannt mit verschiedenen Aufgaben wie Essen bereiten, Saal schm cken,ü

im Gemeindechor singen und Essen austeilen. Es sind neben frommen Menschen aus Neudatschino auch `Br der undü Schwestern´aus anderen Orten Sibiriens versammelt, ja sogar ein Mennonit aus Kanada ist mit seiner Frau anwesend, der schon erw hnte Ben Falk mit seiner Frau Erna.ä

Der Chor singt sch n a capella, die Reden sind schw lstigö ü bis zur Unertr glichkeit. Gut, da ich nur die in deutschä ß gehaltenen Reden und Gedichte verstehe. Der Grundton ist M hsal und Plagen und das j ngste Gericht, nicht mein Fall.ü ü Nach der Andacht gehe ich vor die T r und genie e die sch neü ß ö warme Herbstsonne. Die anschlie ende Speisung kommt mir vorß wie eine Armenk che in Deutschland, aber hier sind esü Leckerbissen, an denen vor allem die Kinder des Dorfes gerne teilnehmen.

Nach dem Essen plaudere ich so gut es geht mit Einheimischen. Dann gehe ich nach Hause. Die 83-Jahre alte Frau Rempening kommt aus dem Nachbarhaus. Sie will sich in die Sonne setzen. "Ich kann nicht den ganzen Tag im Haus sitzen," sagt sie. Sie i t nur Zwieback und leidet unterß vielen Beschwerden. "Mit mir geht`s zu Ende," sagt sie. Sie ist schwerh rig, deshalb geht sie auch nicht mehr in dieö Versammlung.

Ich fahre mit dem Fahrrad die Dorfstra e entlang. Es istß warm wie im Sp tsommer, und ich genie e es, nicht so dickä ß eingepackt zu sein wie sonst.

Die Lehrer stehen hier auf ziemlich verlorenem Posten. Viele Kinder sind wild und ungeb rdig, wachsen auf mit kl ffendenä ä K tern, bl den K hen und bl kenden Schafen, sehen nicht ein,ö ö ü ö warum sie in dieser Umwelt lesen, schreiben, rechnen und sogar deutsch lernen sollen. Viel Druck ist erforderlich, und sobald der Lehrer seinen R cken zuwendet, sind sie au erü ß Rand und Band.

Der Sonnenuntergang ist herrlich. Etwas derartiges siehst du in Europa nicht, dazu geh rt eine unendliche Weite wie inö Sibirien, Australien oder Nordamerika. Dieses Naturschauspiel entsch digt f r viele Unannehmlichkeiten.ä ü Ein rgernis sind meine Bem hungen um die Verl ngerungÄ ü ä meines Visums. Das Beschaffen der Unterlagen, Beh rdenwillk r, Beh rdeng nge, die umsonst sind, weil dieö ü ö ä zust ndige Person nicht erscheint usw. erschweren undä verz gern diesen an sich einfachen Vorgang ungemein. Einö anderes rgernis sind die unzureichenden und schlechtÄ gewarteten Werkzeuge und Transportmittel. Hier fehlt eine Axt zum Holzhacken, dort ist die S ge stumpf zum Holzs gen,ä ä dort springt ein Auto nicht an. Und Neudatschino ist f rü russische Verh ltnisse noch vorbildlich, eines der wenigenä D rfer, die ohne Schulden bei den Beh rden sind. ö ö

Der 21-j hrige Jakob leidet unter seinem Vater. Nach derä Arbeit in der Kfz-Reparaturwerkst tte verbringt er seinenä Feierabend damit, in den Wald zu fahren, B ume zu f llen,ä ä die Baumst mme auf den Hof zu bef rdern und auf dem Hof dieä ö Baumst mme zu Brettern zuzus gen. Er f hlt sichä ä ü verantwortlich f r den Bau eines Schuppens, in dem das Heuü f r die K he und Pferde ber Winter gelagert werden sollen.ü ü ü Das Dach hat er schon ganz allein gedeckt und nun ist er bis 10 Uhr abends damit besch ftigt, die W nde aus Holzbretternä ä hochzuziehen. Kommt er in die Stube zum Essen oder um Dampf abzulassen, sagt der Vater nur, wenn ich so k nnte wieö fr her, w re ich mit deiner Arbeit l ngst fertig. Der Vaterü ä ä hat bis zu seinem Krankenhausaufenthalt ge- arbeitet wie ein Ochse, Tag und Nacht. Er erwartet von seinen S hnen dasö gleiche. Jakob (Sascha) ist ein aufgeweckter Junge. Er spricht am besten russisch und am besten hochdeutsch in der Familie. Er w rde auch gerne mal ein Buch lesen oder einü Instrument spielen. Aber die Umst nde sind nicht daf rä ü geschaffen. Der Druck der Umwelt ist zu gro : Bete undß arbeite, Ora et labora.

VSibirien, Ende Oktober. Ein eiskalter Wind fegt ber dieü westsibi- rische Tiefebene. Mensch und Tier halten sich so wenig wie m glich drau en auf. Wer unbedingt drau en seinö ß ß mu , versucht, sich im Wind- schatten aufzuhalten. Es werdenß noch schnell Unterst nde f r die Tiere gebaut. Imä ü Windschatten ist es viel ertr glicher als im eisigen Wind. ä

Die Neue Welt. Es ist schon wieder ein neuer Siedler eingetroffen. Ein Russe mit seiner Familie, der vorher in Kasachstan gelebt hat. Er erz hlt, es ist f r die Russen inä ü Kasachstan unertr glich geworden. Jakob bersetzt f r mich.ä ü ü "Ein Fl chtling aus dem eigenen Land," bemerkt Jakobü lakonisch. Vor gar nicht langer Zeit hat Kasachstan zur gro en Sowjetunion geh rt. Seit der Perestroika gehen dieß ö Kasachen eigene Wege und machen den Russen, den Deutschen und anderen Minderheiten das Leben schwer. Die Becker-Familie gegen ber ist schon ein Dutzendmal vertriebenü worden, bis sie endlich in Neudatschino eine Bleibe fanden.

Das auserwählte Volk. Die Mennoniten haben ihren Namen von Menno Simons, einem katholischen Priester im niederl ndischen Friesland, der hnlich wie Luther undä ä andere Protestanten unzufrieden war mit dem Abla handel undß dem Prunk der katholischen Kirche. Da sie wegen ihres Glaubens verfolgt wurden in ihrer Heimat (Flandern, Friesland), wanderten sie mit Kind und Kegel aus. Die einen nach Westen, also Nordamerika, die anderen nach Osten, zun chst nach Polen an die Weichsel, wo sie S mpfeä ü trockenlegten und Land urbar machten, mit Polderwirtschaft kannten sie sich aus. Sp ter dann in die Ukraine unterä Katharina, die den Deutschst mmigen g nstigeä ü Ansiedlungsbedingungen bot: sie hatten keinen Wehrdienst zu leisten, sie waren freie Bauern, sie hatten Religionsfreiheit. Die g nstigen Bedingungen verkehrten sichü ins Gegenteil, als die Mennoniten zu Wohlstand und Bl teü kamen. Die Familien waren kinderreich. Das Land reichte nicht mehr f r alle. Es wurde nach preiswertem Land Ausschauü gehalten. Das gab es Anfang des 20.Jahrhunderts in Sibirien. Deutschst mmige sendeten Kundschafter aus, die dieä Bedingungen vor Ort erkunden sollten. Sie wurden von ihren russischen Nachbarn beneidet und geha t. H user wurdenß ä angez ndet. Mennoniten wurden ermordet. Systematischü berwacht wurden sie zur Zeit des Kommunismus vom russischenü Geheimdienst. Ihre Religion pa te nicht ins materialistischeß Weltbild. Sie waren verd chtig. Vollends verd chtig wurdenä ä sie in den Augen der russischen Umwelt zur Zeit des "Vaterl ndischen Krieges", 2. Weltkrieg. Bis 1937 durftenä die Ru landdeutschen, im russischen Pa steht alsß ß Nationalit t "Deutsch", ihre deutsche Sprache ungehindertä aus ben. An den Schulen wurde ausschlie lich in Hochdeutschü ß unterrichtet, alle F cher. Das nderte sich 1937. Dieä ä Unterrichtssprache mu te Russisch sein. 5 Jahre sp terß ä

wurden die Russen deutscher Nationalit t systematischä zwangsumgesiedelt, in abgelegene Regionen wie Sibirien oder Kasachstan. Sie waren in den Augen der Obrigkeit zu einem Sicherheitsrisiko geworden. Man verd chtigte sie derä geheimen Machenschaften mit Hitlerdeutschland. Sie wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet in der sog. "Trudarmee". Es gab auch Konzentrationslager f r Ru landdeutsche, deutscheü ß Kriegsgefangene, russische politische Gefangene . Dort sollen die Menschen gestorben sein "wie die Fliegen". Allein das Wort "Sibirien" demoralisierte sie derart, da sieß keinen Lebensmut mehr hatten.

Die Mennoniten haben einen niederdeutschen Dialekt bewahrt, der so weder in Deutschland noch in Holland mehr gesprochen wird. Das "D tsche" ist mit russischen W rtern gespickt, wasü ö den Sprechern selbst kaum noch bewu t ist. Es gibt starkeß Parallelen zu dem Leben und der Sprache der osteurop ischenä Juden: auch sie wurden aus ihrer Heimat Israel vertrieben und sprechen eine ihnen eigent mliche Sprache, dasü "Jiddische". Es wundert den Betrachter daher nicht, da dieß Mennoniten in Ru land sich stark identifizieren mit derß Geschichte der Israeliten und deren Hauptstadt Jerusalem. Sie betrachten Jerusalem als den Nabel der Welt. Sie haben die gleiche eschatologische Heilserwartung und reden in jeder Predigt vom nahenden Ende der Welt.

Die Mennoniten leben sehr anspruchslos, darin sind sie ihren protestantischen Vorv tern und heutigen russischen Nachbarnä gleich. Wenn ein gl ubiger Mennonit zu Wohlstand gelangt,ä teilt er mit anderen. Ansammlung von Sch tzen ist verp nt.ä ö Viele haben Angst vor Pogromen. Die Welt in Sibirien ist gesetzloser als in West- und Mitteleuropa. Leben und Eigentum sind nicht gesch tzt, lediglich geduldet. Soü scheint der fromme Mennonit in st ndiger Angst zu leben,ä wenigstens erlebt der Betrachter das so aus den Erz hlungenä und den Verhaltensweisen der mennonitischen Br der inü Neudatschino. Aus diesem Gef hl des Ungesch tzseins herausü ü erkl rt sich auch der starke Zusammenhalt, den derä Gottesdienst den Menschen vermittelt. Im gemeinsamen Beten und Singen vergessen die Menschen eine kurze Zeit lang das Gef hl des Verlorenseins, des Ausgeliefertseins. Zuü Festtagen wie Weihnachten, Ostern, Erntedank kommen Glaubensgeschwister von weit her angereist, um an der Versammlung, dem gemeinsamen Gottesdienst, teilzunehmen.

Das Wetter. Heute ist der 1.November. Es hat geregnet und der Boden ist schlammig. Ich ziehe mir Stiefel an und stecke mir H ttenschuhe in die Taschen vom Anorak. In der Schule sch leü ä ich mich aus Windjacke und Daunenjacke, ziehe die Stiefel aus und die H ttenschuhe an. Ich hole einenü Kassettenrecorder und Bastelmaterial f r den Unterricht. Esü ist auf- wendig und anstrengend, wenn man nicht nur nach

Buch und Schema F Unterricht macht. Nach vier Stunden Unterricht mit Reden, Zuh ren, Lesen, Beurteilen, Austeilen,ö Einsammeln, Aufr umen bin ich m de. Ich lege mich nach demä ü Mittagessen f r eine Stunde aufs Ohr. Dann bereite ichü Unterricht vor. Um 5 Uhr bin ich wieder in der Schule, um Organisatorisches und Verwaltungsarbeiten zu machen. Um viertel vor sechs habe ich eine Unterrichtsstunde, die letzte f r heute. Wenn die zehnj hrigen Kinder aus derü ä Schule kommen, ist es dunkel. Die Stra enbeleuchtungß leuchtet nur sp rlich. Auf dem Nachhauseweg lauert ein 14-äj hriger Junge auf die Kleinen. Er hat Spa daran, ihnenä ß Angst einzujagen. Ich nehme an, er hat selber Angst vor seinem Vater und anderen Erwachsenen.

Ein anderer Junge, 16 Jahre alt, macht der Lehrerin Sorgen. Er ist erst seit kurzem in Neudatschino und hat an der Schule keine Freunde. Sein einziger Freund ist ein Jahr j nger und genau so ein Au enseiter. Sein Vater lebtü ß woanders und er macht zuhause die schweren Arbeiten. Er sieht nicht ein, wozu Deutsch lernen und all die anderen F cher wie Physik, Geschichte, Mathematik, Literatur ... Erä und der 16-j hrige rauchen in jeder Pause, was strengä verboten ist. Sie machen nur Unsinn und hecken dauernd neue Streiche aus. Sie bringen den Lehrk rper zur Verzweiflung.ö Von der Schule relegieren ist nicht einfach; erst mu eineß Kommission pr fen, warum und wieso. Das kann lange dauern.ü Da kann man geradesogut noch ein Jahr mit ihnen aushalten. Dann d rfen sie sowieso die Schule verlassen; dann ist dieü gesetzlich vorgeschriebene Schulpflicht erf llt.ü

Lisa, die Deutsch-Lehrerin erz hlt, an der Schule habe sichä in den letzten f nf Jahren vieles zum Guten ge ndert. Derü ä Lehrer sei heute frei in der Gestaltung seines Unterrichts. In der kommunistischen Sowjetunion sei dem Lehrer der Stoff bis ins Detail vorgeschrieben worden. Ru land sei ein gro esß ß Land, f hrt sie fort, mit viel Land. Aber wie in alten Tagenä sei es schwer, Land zu erwerben und privat zu bewirtschaften. Vor allem in D rfern wie Neudatschino, dieö nicht heruntergewirtschaftet sind, h te der Dorfvorsteherü eifers chtig seine Amtsvollmachten. Er betrachte dasü Kollektiveigentum als ihm pers nlich anvertraut.ö

Fr her war Neudatschino Teil einer gr eren Sowchose ausü öß drei D rfern und Land. Seit ein paar Jahren ist Neudatschinoö selbst ndig und offiziell unter der Verwaltung vonä Ru landdeutschen. Das hei t nicht, das das Eigentumß ß besonders geachtet w rde; die Kinder in der Schule st bernü ö ungeniert in Taschen und Material der Lehrer herum; die Erwachsenen nehmen sich aus Wald und Acker, was sie brauchen, egal wessen Eigentum der Boden ist.

Heute ist Samstag, der 5. November. In der Nacht hat es geschneit und es schneit noch. Alles ist wei , der Schneeß

hat eine sch tzende Decke ber alles gelegt. Gerhard Neufeldü ü arbeitet drau en. Beim Fr hst ck erz hlt er, da der Frostß ü ü ä ß im Winter alles zusammenschmiedet, alles mit einer dicken Eisschicht berzieht. Auf meine Frage, ob es auch St rmeü ü gibt, erz hlt Gerhard, Westsibirien sei ungesch tzt denä ü Nord- und S dwinden ausgeliefert. Es gebe kein sch tzendesü ü Gebirge. Daher gebe es hier Temperaturunterschiede von bis zu 30 Grad an einem Tag.Diese extremen Unterschiede f hrten auch zu schwerenü St rmen, ja Orkanen, die H user abdeckten und B umeü ä ä entwurzelten. Gerhard erz hlt die Fabel von der Grille undä der Ameise. Die Grille macht den ganzen Sommer Musik und h pft herum, macht sich keine Sorgen. Die Ameise istü flei ig, sorgt f r den Winter vor. Als der Winter nun kommt,ß ü sagt die Grille zur Ameise, nimm mich auf, gib mir Nahrung, aber die Ameise sagt, geh singen.

Ich ziehe Jakob und Abraham mit dem Schlitten durch den Schnee. An der Stra e steht der 14-j hrige Junge. "Thomasß ä Karlowitsch, kommen Sie her!" ruft er. Ich komme, sage "Guten Tag". Wir halten ein Schw tz- chen, er spricht ganzä gut deutsch. "Was tun?" sagt er. Offensichtlich langweilt er sich. "Ich gehe in die Banja." sagt er. "Ich gehe um 3 Uhr, dann ist es noch nicht so hei und ganz leer." Die Banja istß die Attraktion am Samstagnachmittag. Bei mir ist es anders. Ich habe am Morgen das Heu mit der Heugabel vom verschneiten Hof in den trockene Scheune bef rdert. Knochenarbeit. Alleö Muskeln des K rpers arbeiten. F r mich ist alles neu undö ü fremdartig, genug Eindr cke, die ausgekund- schaftet undü verarbeitet werden wollen. Die de oder Langeweile, dieÖ andere f hlen, empfinde ich nicht. Das Leben derü Einheimischen ist wirklich nicht beneidenswert. Im Winter stehen die Tiere im Stall und schei en alles voll. Jeden Tagß mu entsorgt werden, will man nicht durch Tierkot waten,ß wenn man die Kuh melkt oder die Tiere f ttert.ü

Der Schnee h llt alles ein. Richtig hell ist es von 10 bisü 15 Uhr. Der Rest des Tages herrscht D mmerlicht oderä Dunkelheit. Gerhard kommt um 6 Uhr abends in die Wohnk cheü gerannt. Er hat sich beim Holzs gen in der Dunkelheitä verletzt; zwei Fingerkuppen sind abges gt worden, dieä St mpfe sehen grauenerregend aus. Er ist ganz ruhig, erü jammert nicht, er ist bei vollem Bewu tsein. Wir wundern unsß alle; es mu doch schrecklich weh tun. "Ich stehe unterß Schock", sagt Gerhard. Zum Gl ck hat eine von Gerhardsü T chtern Krankenpflegerin gelernt. Sie verwaltet dieö medizinische Ausr stung im Dorf. Sie desinfiziert dieü Fleischwun- den und gibt dem Vater eine Spritze. Sie verbindet die Fingerst mpfe und f hrt mit dem herbeigeeiltenü ä Bruder zum Krankenhaus in die Stadt. Die Finger m ssenü gen ht werden. Sie nimmt Medizin und Blutdruckmesser mit.ä Oft ist das Dorf besser ausger stet als die Stadt, wasü Medizin anbelangt.

In Deutschland w rde ich jetzt Fu ball im Fernsehenü ß anschauen. Meine Haut ist leicht ger tet vom Schnee und derö frischen Luft. Der erste Schnee fiel heute am 5. November. Gerhards Fingerst mpfe mit den Haut- lappen und demü zermatschten Fleisch gehen mir durch den Kopf. Zwei Kn chelö sind von der elektrischen S ge zermalmt worden. Armerä Gerhard!

Heute ist Sonntag, der 6. November. ber dem Dorf liegt einÜ widerw r- tiger Geruch, als ob 1000 Menschen zugleichä gekotzt h tten. Ist das G lle ? Ich wei es nicht. Gerhardä ü ß und Marieche sind schon wieder auf den Beinen und arbeiten. Die Kinder schlafen noch. Wir fr hst cken und gehen zurü ü Versammlung. Auf dem Weg begegnet uns ein gro er Schlitten,ß gezogen von einem Pferd im Trab. Dahinter drei kleine Schlitten mit Kindern, die jubeln. Es sieht romantisch aus. Fehlen nur noch die Gl ckchen. Auf der Versammlung wiederö ein Sprachengewirr aus Russisch, plattdeutsch und gebrochenem Hochdeutsch.

Die Menschen im Dorf. Heute ist Montag, der 7. November, ein National- feiertag. Er wird nicht mehr so aufwendig begangen wie unter dem kommunistischen Sowjetsystem mit Milit rparadeä auf dem Roten Platz in Moskau und feierlichen Umz gen inü vielen St dten des gro en Ru land. Fr her mu ten dieä ß ß ü ß Studenten an den Umz gen teilnehmen, es wurde perü Anwesenheitsliste berpr ft. Heute k nnen die Menschenü ü ö schlafen, wenn sie wollen, oder fernsehen oder arbeiten, ganz wie sie wollen. Ich habe den Tag bei Lisa Steffen und ihrem Mann Sslawa Blochin verbracht. Ich kam am Vortag zu Besuch und bin bis zum folgenden Tag geblieben. Wir haben zusammen gegessen, deutsch gesprochen, getr umt, gelacht,ä getrunken, gesungen, Gitarre gespielt, Bajan (Knopfharmonika) gespielt. Sslawa stammt aus Moskau, hat Lehrer studiert und war drei Jahre als P dagoge imä abgelegenen Jakutien t tig. Jetzt ist er Musiklehrer inä Peromaiss, einem Nachbardorf von Neudatschino. Ru land istß riesig, unerme lich weit. Jakutien liegt n her an Alaska alsß ä an Moskau. Die Menschen dort sind ganz scharf auf den American Way of Life. Jakuten haben sich mit Kosaken gemischt. Ihre Nahrungsgrundlage bilden Fische, V gel undö Rentiere. Im Winter wird es dort bis zu minus 60 Grad. Im Fernseher bei Lisa laufen Filme ber Georgien mit seinenü hohen Bergen und Sibirien mit seinen m chtigen Fl ssen undä ü endloser Taiga. Die Natur ist berw ltigend und hinrei endü ä ß sch n. Sslawa hat sich immer schon f r andere L nder undö ü ä Sitten interessiert. Er hat Latein und Franz sisch gelernt,ö die Beatles aufgenommen, wenn immer sich die Gelegenheit bot, er spielt Musikst cke aus aller Welt und jeglicherü Machart, am meisten jedoch Beatles-Lieder. Wenn er die Knopfharmonika spielt, wird es still im Raum. Er spielt ungeheuer ausdrucksstark. Er spielt auch sehr gut Gitarre.

Er ist musikalischer als ich. Er spielt die St cke, die erü liebt, aus dem Geh r nach mit komplizierten Harmonien,ö kunstvoller als meine Notennachdrucke. Lisa hat etwas jugendlich-frisches an sich. Sie arbeitet und macht die Hausarbeit wie jede andere Frau, obwohl sie nur eine Hand hat. Die andere Hand fehlt, ein Fehler, den sie von Geburt an hat. Sie fa t die Gegenst nde mit einer Hand und pre tß ä ß sie gegen ihren Armstumpf. Sie l chelt viel und istä unentwegt auf den Beinen.

Hier in dem berschaubaren Stra endorf in den riesigenü ß Weiten der westsibirischen Tiefebene kann der Mensch sich schnell klein, verloren und nutzlos f hlen, wenn er/sieü nicht dagegen angeht. Am besten, man arbeitet unentwegt bis zum M dewerden, erholt sich und arbeitet wieder aufs Neue.ü Gerhard der ltere braucht heute Trost; er hat seineÄ Fingerkuppen gefunden und bedauert, da sie ihm nun fehlenß werden. Er f hlt sich mutlos; er sagt, auch seine Kinderü gingen fort von ihm gerade so wie er seine Fingerspitzen verloren habe. Er ist traurig. Ich spreche mit ihm ber seinü Lieblingsthema, Gottes Wort, und nach einer Stunde hat er wieder Mut gefa t und geht hinaus in den Schnee, um seineß Bienen zu versorgen.

Gestern war ich zu Besuch in einer Familie im Nachbardorf Peromaisk. Er ist deutscher Abstammung aus Neudatschino, sie ist russischer Abstammung aus Kasachstan. Sie haben sich kennengelernt in Nowosibirsk an der Musikhochschule. Ihre Kinder sprechen russisch, sie spricht nur einige Worte Deutsch. Zu Besuch sind ein befreundetes Ehepaar aus Krasnojarsk, Ala und Sergej. Sie kennen sich alle von der Musikhoch- schule in Nowosibirsk. Ala und Sergej sind 20 Stunden mit dem Zug gefahren, um an der Familienfeier teilzunehmen: 10 Jahre verheiratet. Ich wundere mich, daß Jakobs Mutter nicht anwesend ist; sie wohnt wie ich im Nachbardorf Neudatschino und h tte leicht eingeladen werdenä und anwesend sein k nnen. Wir beginnen um 14 Uhr mit demö Essen und Trinken und essen und trinken bis 1 Uhr nachts. Dazwischen unterhalten wir uns, Jakob bersetzt, singenü zusammen, h ren eine Kassette in amerikanisch ber eineö ü Firma, die ihre Produkte bei Hausbesuchen vertreibt, ich bersetze ins Deutsche, Jakob ins Russische. Die Frauenü wollen sich offensichtlich etwas dazuverdienen. Die Geh lterä von zwei Musikp dagogen reichen nur zum Lebensnotwendigstenä f r eine mehrk pfige Familie. Aber heute wird gefeiert, undü ö wenn der Russe feiert, dann aber richtig! Dann wird nicht auf die Menge oder auf die Zeit geschaut. Dann wird stundenlang, wenn nicht tagelang, gegessen und getrunken. Ich bernachte auf der Wohnzimmercouch. Am n chsten Morgenü ä schaltet die Mutter das Fernsehen ein und Gast und Kinder und Katze sitzen auf der Couch und warten auf das Fr hst ck.ü ü Im Fernseher l uft ein amerikanischer Zeichentrickfilm, "theä Renegates", in russischer Synchronisierung. Ich frage Jakob

beim Fr hst ck, in welchen Lebensbe- reichen sich das Lebenü ü in Ru land am meisten ge ndert habe seit der Perestroika abß ä 1985. Er sagt, gut sei die Informationsfreiheit, die wir heute gen ssen. Wir s hen im Fernsehen nicht nurö ä Lobhudeleien der Regierenden sondern auch Kritisches. Jeder k nne heute seine Meinung sagen und h ren und lesen, was er/ö ösie wolle, ohne Nachteile bef rchten zu m ssen. Schlecht seiü ü dagegen der wirtschaftliche Niedergang seit 1985. Das ganze Mobiliar wie Einbauk che, Einbauschrank und das Auto derü Familie stammten aus der Zeit vor 1985. H tte er fr her 100ä ü Rubel im Monat zur cklegen k nnen, die Eltern sindü ö Doppelverdiener, so k nne er heute nichts sparen. Au erdemö ß lohne es sich auch nicht, zu sparen, weil die Inflation die Ersparnisse auffresse. Und Bankkredite f r Haus und Wohnungü oder Verbraucherkredite f r M bel wie in Deutschland seienü ö in Sibirien noch nicht entwickelt.

Die transsibirische Eisenbahn rattert durch die kalte sibirische Nacht. Gerhard Neufeld der J ngere hat "Drock".ü Vor der Arbeit mu er melken, nach der Arbeit mu er dieß ß Innentoilette f r Frau und Kinder bauen, zwischendurch Viehü f ttern und K he melken. Er verdient 80 000 Rubel auf derü ü Arbeit und vielleicht noch mal soviel nach der Arbeit mit Schwarzarbeit. Das soll reichen f r eine vierk pfigeü ö Familie, die in wenigen Wochen noch einen Kopf und ein Maul mehr haben wird. Deshalb kann Lena, Gerhards Frau auch nicht mehr auf die Au entoilette im Hof gehen und die K he nichtß ü mehr melken. Dann braucht Gerhards Vater noch Hilfe; er hat sich beim S gen die Hand verletzt und mu schnell zum Arztä ß gefahren werden. Gerhard ist der versierteste Fahrer und muß her. Armer Gerhard! Alle wollen was von ihm. Jeder zieht und zerrt an ihm. Wie gern w rde er mal sitzen und ein Buchü lesen, die Seele baumeln lassen. Aber nein, immer ist irgend etwas zu tun. Welch' ein Leben!

Es sind Schulferien, und ich esse ausw rts. Bin ich beiä russischen Familien zu Gast, flie t der Wodka in Str men undß ö wir essen stunden- lang. Danach leide ich an Verstopfung. Aber der Wodka bekommt mir wunderbar, ich f hle mich keinü bi chen benebelt oder betrunken, nur am ganzen K rper warm.ß ö Esse ich bei Mennoniten, habe ich hinterher Durchfall, ich wei auch nicht warum. Am besten schmeckt es mir beiß Marieche Neufeld. "Wo ess mihne maschin?"(Wo ist mein Auto?) Gerhard der ltere benutzt wie alle Plattdeutschen dasÄ russische Wort 'maschina' f r Auto. Eines der vielen Kinderü hat das Auto ausgeliehen und nicht zur ckgebracht. Kommtü h ufiger vor in der Familie. Gerhard will arbeiten gehen,ä eine T r zum Stall bauen. Nun mu er warten. Tut er ungern.ü ß Er hat kein Sitzfleisch. Der Fr hst ckstisch ist reich ge-ü ü deckt. Es gibt Honig, Milch, Butter, K se, Brot undä Rosinenkuchen, 'kjeks' in Ru land. Dazu einen hei en Kaffee,ß ß aber d nn. Kaffee ist ein Luxusartikel bei den Neufelds.ü Gerhard Neufeld und seine S hne haben in einer gewaltigenö

Anstrengung in relativ kurzer Zeit einen Schuppen hochgezogen f r die Schafe und ein Pferd als Unterstand imü Winter und als Heuschober. Dazu mu ten im Wald Birkenß gef llt und zum Hof transportiert werden. Auf dem Hof inä Bretter, Latten und St mme geschnitten werden. Dachpfannenä mu ten besorgt werden, gebrauchte kosten weniger als neue.ß F r die Bienen ist ein Unterstand zurecht gemacht worden.ü Ein igluf rmiges Teil aus Alteisen wurde geschwei t, mitö ß einer T r versehen und wetterfest gemacht. Die Bienenü brauchen f r ihren Winterschlaf eine gleichbleibendeü Temperatur von 4 Grad C. Die bisherigen Unterst nde wiesenä s mtlich zu gro e Temperaturschwankungen auf.ä ß

In der Natur leben."Der Mensch mu in der Natur leben." Sslawa Bloschin, der inß Moskau aufgewachsen ist, ging nach dem Besuch der Hochschule nach Jakutien. Heute lebt er in Westsibirien in einem Stra endorf mit Namen Neudat- schino. Er spricht russisch,ß franz sisch, deutsch, englisch. Er liebt die Beatles undö spielt herrlich Bajan und Akkordeon. Er ist wie seine Frau P dagoge. "In der Stadt verliert der Mensch sein Zentrum."ä

In der Natur leben hei t, Pilze sammeln, Fr chte anbauen,ß ü ernten und konservieren. Als Konfit re, wenn Fruchtst ckeü ü erhalten bleiben, als Marmelade, wenn alles zu P ree gekochtü wird. In der Natur leben hei t, alle m glichen Ger te,ß ö ä Maschinen und Hilfsmittel zu ben tigen wie Elektros ge,ö ä Traktor, Schraubzwinge, Fleischwolf u.a.m. In der Natur leben hei t, Kinder, K he und K lber zu haben; Geburt, Todß ü ä und Krankheit mitzuerleben, h ufig auch tatkr ftig durchä ä eigenes Zupacken.

Es ist Samstag, der 12.11.1994. ber dem flachen, gr nÜ ü gestrichenen sibirischen Holzhaus steigt eine Rauchfahne auf. Die Hausfrau w scht, der Gast aus Deutschland hacktä Holz zum Heizen, die lteste Tochter f llt Rohkost inä ü Gl ser, Vitamine f r den Winter. Die j ngste Tochter liestä ü ü einen Roman in russischer Sprache, der Vater h rt religi seö ö Vortr ge vom Tonband in englisch und deutsch. Als ich vomä Holzhacken und Holzscheite schlichten ins Haus komme, sind meine Zehen und Finger eiskalt. Marie, die Hausfrau, erlaubt mir, einen starken Kaffee zu trinken. Die Familie trinkt nur schwachen Kaffee, Plepps genannt. Kaffee ist hier ein Luxusartikel. Ich danke daf r und sage, wenn ich Kaffeeü trinke, f hle ich mich wie zuhause in Deutschland. Dieü Familie hat daf r Verst ndnis. Die Eltern eines derü ä Schwiegers hne sind nach Deutschland ausgewandert. Sie lebenö in Schwabach, nicht weit von N rnberg. Ich mu ihnen Postü ß mitbringen, wenn ich nach N rnberg reise.üIn der Natur leben, das bedeutet auch schmutzige Fingern gel, rauhe H nde, h ufige Hautverletzungen,ä ä ä Verstauchungen usf.

Ich lerne, den Ofen zu heizen. Der Ofen ist zentral gelegen und beheizt ber Rohre alle Zimmer. Zuerst mu Kohle m hsamü ß ü aus der Erde gesch rft werden. Holzscheite m ssen gehacktü ü werden. Knochenarbeit. Die Holzscheite werden zu einem H uschen aufgeschichtet und im Hohlraum wird zerkn lltesä ü Papier entz ndet. Wenn die Scheite Feuer gefangen haben,ü wird langsam Kohle aufgelegt, nicht zuviel am Anfang, daß das Feuer nicht erstickt. Es mu gute Durchl ftungß ü herrschen, das Feuer braucht Sauerstoff. Das Feuer braucht Nahrung. Immer wieder Kohle nachlegen, wenn die L ftungü geschlossen wird, weniger. Auch das Heizen will gelernt sein. M hselig! Trud i boljesnj!ü

Nun, ich schreibe viel, wenn der Tag lang ist. Aber nur schreiben ist langweilig. Ich mu auch etwas erleben,ß wor ber ich schreiben kann. Und das mu nicht immer angenehmü ß oder wohltuend sein! Im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, da die Menschen mehr interessiert, wie ein Mensch leidet,ß als wie er/sie sich am siert. Irgendwann kommt die Zeit imü Leben, wo du nicht mehr zur ck kannst, nur noch nach vorn.ü F r viele kommt dieser Zeitpunkt mit der Geburt einesü Kindes. Für mich kam der Zeitpunkt mit dem Tod meiner Eltern und der Wiedervereinigung Deutschlands. Ab diesem 6. Oktober 1989 wu te ich, da ich nicht mehr zur ck kann, da niemandß ß ü ß auf mich wartet, da ich nur nach vorn kann, indem ich etwasß für andere tue. Wie schwer, undankbar, unangenehm diese Aufgabe auch immer sein mag, ich mu sie tun, sie ist meinß Leben, sie ist alles was ich hab'.

Die ersten 38 Jahre meines Lebens habe ich alles studiert und analysiert. Danach lebe ich und erz hle, was ich erlebe.ä Bekannte in N rnberg, denen ich diese Berichte aus einemü sibirischen Dorf geschickt habe, bescheinigen mir Talent zum Schreiben. Also gut, dann schreibe ich. Andere bauen H user,ä setzen Kinder in die Welt, melken und weiden K he; ichü schreibe. Beseelt sein, Seele einhauchen. Andere beseelen, machen selig mit Reden, mit Musik machen. Ich versuche es mit Schreiben. Schreiben ist das einzige, wozu ich hier tauge, das einzige was ich hier kann.

Moskau - Nowokusnjezk. Die transsibirische Eisenbahn h lt inä Omssk. Omssk in Westsibirien. Die Millionenstadt, in der die Fl sse Om und Irtysch zusammenflie en. 2.700 km von Moskauü ß entfernt. Europide Menschen wohnen hier, mitten in Asien, mongolide Menschen sieht man nur vereinzelt. Die Menschen, die hier leben, k nnen Fische fangen, Enten schie en, Brotö ß und Kuchen backen, K he melken, Kartoffeln ernten usw. Hierü gibt es keinen berflu , nur das zum Leben Notwendige. EsÜ ß gibt eine Oper, mehrere Zeitungen, ffentliche und privateö Verkehrsmittel, Telefon, Schulen, Krankenh user, Kaufh user,ä ä Fabriken. Es ist alles Lebensnotwendige vorhanden, nur eben kein Luxus. Die Menschen hier sind still, bescheiden, geduldig, mitleidig.

Verschneite H user am Waldesrand. H user, die aus B umenä ä ä gezimmert wurden. In Omssk gibt es keine Ladenschlu gesetze.ß Hier wird auch am Sonntag Ware verkauft. Kauflustige eilen ber die Stra enm rkte und halten Ausschau nach Waren undü ß ä Preisen. Die H ndler stehen stundenlang in der K lte, heute,ä ä am 4. Dezember, minus 20 Grad C. Die Konsum- und Kaufwelt ist im Vergleich zu kommunistischen Zeiten sehr vielf ltig:ä von Stra enm rkten ber Verkaufsst nde (kiossk) zu L den undß ä ü ä ä Kaufh u- sern oder berdachten Einkaufszentren. Das Angebotä ü ist jedoch noch keinesfalls auf Weltniveau.

Ein Samariter f nde hier ein weites Bet tigungsfeld. Imä ä Bahnhof hocken Menschen, die keine Bleibe haben. Sie sitzen und schei en an Ort und Stelle in die Hosen. Imß Kinderkrankenhaus liegen Kinder in Laufst l- len, die vonä ihren Eltern versto en wurden. Sie sprechen nicht, sieß schreien nicht. Sie liegen oder stehen apathisch in ihren Laufst llen. Eigentlich geh rten sie in ein Waisenhaus, dochä ö die sind berf llt. ü üReisende mit Wodka oder Butterstullen warten auf die Abfahrt ihres Zuges. Kauflustige eilen ber die Stra enm rkte undü ß ä schauen nach den Waren und Preisen im Angebot. Die H ndlerä stehen stundenlang in der K lte, minus 20 Grad C.äDie Konsum- und Kaufwelt ist heute sehr vielf ltigä organisiert in russischen Gro st dten: von Stra enm rktenß ä ß ä ber Kioske zu L den und Kaufh usern oder berdachtenü ä ä ü Einkaufszentren. Die Warenwelt selbst ist jedoch weitaus armseliger als bei uns in Deutschland.

5.12.94. Heute mit dem Dorfvorsteher Heinrich Enns auf Erledigungstour in Tatarsk, der Kreisstadt. Erst wird die Krankenschwester aus dem Nachbardorf im Kreiskrankenhaus abgesetzt. Dann zur Polizei, um Pa und Visum f r denß ü Dorfschullehrer abzuholen. Dann zur Bank, um 30 Mill. Rubel abzuholen f r Lohnzahlungen. Das Geld wird transportiert inü einer Milchkanne. Dann noch eine Besorgung. Alles l uft wieä am Schn rchen. "Die Polizei sind meine Freunde," sagtü Heinrich, der Dorfschulze. "Die Bank will auch essen", sagt Heinrich. Hier hei t jeder Heinrich, der den russischenß Namen Andrej tr gt. Heinrich scheint den Bogen raus zuä haben. Die erwachsenen Neufeld-Kinder, die mir helfen wollten mit dem Visum, hatten weniger Erfolg. Sie wurden versetzt, falsch informiert u.a.m.

Hier auf dem flachen Land scheint es besser zu funktionieren als in den gro en St dten. Die Fachberaterin in Omssk, einerß ä Millionenstadt, erz hlt, sie habe die Visumangelegenheit nurä beschleunigen k nnen, in- dem sie geschmiert habe.ö Orientalische Sitten. Die Erfahrungen der deutschen Programmlehrer decken sich mit den Erfahrungen eines deutschen Entwicklungshelfers, der zu Besuch ins Dorf kommt:

Bis auf wenige Ausnahmen halten alle die Hand auf, ob Russen oder Ru landdeutsche, nehmen ohne Gegenleistung. Dieß Ausnahmen sind fromme Mennoniten, die nach der Bibel leben. Ein Menschenschlag, der langsam ausstirbt. Die Kinder sind schon konsumorientiert, ganz zu schweigen von den Enkelkindern.

Die Autos stehen bei laufendem Motor. W rde der Motorü abgestellt, w re das Auto im Nu eiskalt und die Insassenä w rden m chtig frieren. So aber l t es sich im Auto gutü ä äß aushalten. Ru land war lange Zeit ein abgeschottetes Land.ß Auch heute sind Ausl nder hier eine Seltenheit. Daher sehenä sie Russen auch keinen Grund, eine Fremdsprache zu erlernen. So lange die Ein- und Ausreiseformalit ten und dieä Aufenthaltsbescheinigungen so zeitraubend und nervenraubend sind, wird sich daran auch nicht viel ndern. Die Einreise-ä und Aufenthaltsgenehmigungen sind aufwendig und zeitraubend f r Ausl nder und f r Russen, die ins Ausland reisen wollen.ü ä üIch mu die Impfung gegen Diphterie erneuern lassen. Inß Tatarsk hat es einen Fall von Diphterie gegeben. Der Amtsarzt fragt mich, ob ich mich gesund f hle. Die Menschenü hier sind richtig bem ht um mich.ü

Ich habe schon zum x-ten Mal Durchfall und Magenschmerzen. Die sanit - ren Verh ltnisse lassen sehr zu w nschen brig.ä ä ü ü Das Wasser l t sich nur abgekocht trinken. Es fri t dieäß ß Rohre, sie haben eine Nutzungs- dauer von 3 Jahren. In der Stadt sieht man berall hei eü ß D mpfe aus defekten Rohren kommen. Energieverschwendung.ä Heute gibt es auf dem Dorf kein Wasser. Die Bewohner helfen sich mit Schnee. Er wird einge- sammelt und geschmolzen. Fr her hat man das immer so gemacht, weil der Brunnen soü weit war. Fr her war der Schnee noch sauber, es wurde nurü mit Holz geheizt. Heute wird mit Kohle geheizt und der Schnee ist schmutzig. Es schaut schmutzig aus im Haus. Ohne Wasser kann die Hausfrau nur das n tigste waschen.ö

7.12.94. Heute hat Gerhard Neufeld der J ngere seine Frauü Helene aus dem Krankenhaus angeholt. Sie hat einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Mutter und Kind geht es gut. Die Verwandtschaft ist gl ck- lich. Die versammeltenü Familienangeh rigen bestaunen das kleine Menschlein. Dieö Gro mutter lobt den Prachtkerl. Er wog bei der Geburt 4,2 kgß und ma 63 cm. Marieche, die Hausfrau, hat f r die jungeß ü Mutter, ihren Mann und die vielen anderen Kinder ein Mittagessen zubereitet, das in zwei Schichten gegessen wird.

Die Zauberer. Es ist Mittag. Die Sonne steht tief ber demü Horizont. Das sibirische Dorf Neudatschino scheint unter dem Schnee zu schlummern. Kaum ein Lebewesen weit und breit. Aber der Schein tr gt. Hinter jeder Fensterscheibe, die mitü Eisblumen verziert ist, stecken Menschen mit pochenden

Herzen. In den H usern verstecken sich Freud und Leid,ä Muttergl ck und Vaterstolz, Kinderlachen, Krankheit,ü Seufzer.

Eine Handvoll Menschen in der unendlichen Weite der westsibirischen Tiefebene, das ist das Dorf Neudatschino. Rund 500 Einwohner. Aber diese 500 Einwohner haben es in sich. Einer der Einwohner zum Beispiel baut H user, legtä Rohre, repariert fen, repariert Autos; ein andererÖ Dorfbewohner spielt auf dem Akkordeon oder auf der russischen Variante, dem Bajan, alle Lieder dieser Welt, von Mozart ber Strauss zu den Beatles und russischenü Volksliedern und T nzen. Er benutzt die raffiniertestenä Harmonien. Er verzaubert dich mit seiner Musik. Er spricht neben seiner russischen Muttersprache Franz sisch, Deutsch,ö Englisch, Irkutisch. Ein dritter Bewohner ist ein As im Reparieren von feinmechanischen Ger ten. Die Frauen vonä Neudatschino sind in der Region bekannt f r ihre Backkunst.ü Sie backen Kuchen in allen Varianten, schmackhaft und gut. Und das mit einfachsten Ger tschaften, Zauberer in ihrerä Art.

Hier leben keine Menschen, hier leben Zauberer. Die mystischen Schleier und Nebel des Vergessens, des Erwachens, des Schlafes in dem Rhythmus einer unendlichen Natur, bis in die Poren und Haarwurzeln lebendig. Es verzaubert dich, wenn du aus einer unfreundlichen K lte in eine warme Stubeä kommst, etwas Warmes trinkst und dazu ein St ck Kuchen i t.ü ß Es verzaubert dich, wenn du in eine hellerleuchtete, warme Stube kommst, ein Glas trinkst, etwas Warmes i t und wohligeß Bajan- kl nge in herrlichen Harmonien h rst. Hier wird allesä ö zu etwas Einmaligem, zu etwas Bedeutendem. Du bist unendlich dankbar, in dieser Eisw ste oder unendlich weiten Steppeü Kultur, Menschenwerk zu finden. Und du sp rst irgendwie, wieü hart die Menschen daf r gearbeitet haben, jedes St ck Kulturü ü ist der Natur abgerungen. Die Natur ist hier gr er alsöß alles andere. Um Milch am Morgen zu haben, mu t duß fr hmorgens in den Stall gehen, auf Kuhschei e deinenü ß Schemel aufstellen und melken, was noch lange nicht jeder kann.

Ulrich Hecht, ein Mitarbeiter der GTZ aus Deutschland, erz hlt, er lebe in einem Dorf ohne flie end Wasser und ohneä ß Wurstfabrik. Sein Haus, das er f r 3,5 Mill. Rubel gekauftü habe, sei kalt und h tte keine Innentoilette. Er ist angetanä von Neudatschino mit seiner Schule, seiner Wurstfabrik, seiner Autoreparaturwerkst tte. Und trotz- dem gingen Jahrä f r Jahr Hunderte Deutschst mmiger aus Neudatschino fort, umü ä in Deutschland zu leben. Seit Deutschland Geld gebe nach 1985, hielten alle gerne die Hand auf, aber niemand wolle etwas Neues anfangen. Jeder verwende das Geld f rü Verbesserungen der gewachsenen Strukturen, aber niemand fange wirklich etwas Neues damit an. Verschwendung von

Steuergeldern ist sein Kommentar. Ich frage ihn, ob der Stempel in meinem Pa ein Ausreisevisum sei, weil er besserß russisch spricht und liest als ich. Er sagt ja und ich bin beruhigt. Zu Wiehnachten geht es heim nach N rnberg.ü

Der Ofen mu bei 35 Grad minus regelm ig gesch rt werden,ß äß ü um eine Zimmertemperatur von 18 Grad plus zu halten. Die Kohle liegt au er Haus in einem Schuppen, in dem ausß irgendwelchen unerkl rlichen Gr nden kein Licht ist. Alsoä ü Taschenlampe mitnehmen. Sind die Batterien noch tauglich? Russisch lernen ist eine Qual, ein Elend. Ich bin geistig nicht mehr so beweglich wie als Heranwachsender. Nachbar Sascha bietet mir seine Hilfe an: Er lernt Deutsch, ich lerne Russisch. Seine Eltern leben in Deutschland, und er m chte Deutsch reden k nnen, wenn er sie besucht. Sohn Hansö ö kommt. Er will drei Liter Milch haben. Marieche, seine Mutter ist nicht da. Ihre Tochter hat die Kuh nicht gemelkt. Also ist keine Milch im Hause. Aber bei Sascha und Helene ist Milch. Also geht Hans mit zu Sascha und Helene. Vorgestern kam er, um eine Gl hlampe zu stibitzen. Erü bel chelt meine Sprachversuche. "Thomas," sagt er, " ichä habe fr her auch kein Russisch gesprochen, aber bei derü Armee, da wurde ich auf russisch verpr gelt, seither sprecheü ich russisch." Ohne Pr gel scheint hier kein Lernen zuü laufen. In der Schule geben sich einige Kinder jedoch auch ohne Pr gel gro e M he, andere wiederum gar nicht, so istü ß ü das eben.

Das Alltagsleben ist hier beschwerlich und zeitraubend. Die Menschen stehen um 7 Uhr auf und gehen um Mitternacht zu Bett und haben in der Zeit auch nicht mehr und nicht weniger gemacht als wir in Deutschland in 12 Stunden. Kuh melken, Ofen heizen, zur Bahn laufen, W sche waschen, Autoä reparieren, einkaufen und etwas passendes finden u.a.m. Alles nimmt mehr Zeit in Anspruch als in Deutschland. Und beschwer- licher, k rperlich anstrengender ist es auch. Keinö Wunder, da viele Deutschst mmige es vorziehen, imß ä bequemeren Deutschland zu leben. Sibirien ist ein Land f rü Pioniere. Die Menschen hier sind hart im Nehmen. Dies ist kein Land f r Zartbesaitete. Hier hei t die Devise: Friü ß ß oder stirb.

Das Schlachten der Tiere geht hier auf archaische Weise vor sich: Kegel durchschneiden und Beh lter unter den Blutstromä halten. In der Nacht haben die Br der ein Kalb geschlachtet.ü Jetzt steht ein Tier weniger im Stall. Am Morgen holen Marie und ich die blutverschmierten Teile in die Wohnk che. Dasü Fleisch ist nicht mehr warm, aber auch noch nicht gefroren, gerade recht zur weiteren Bearbeitung.

Heute, am 10. Dezember 1994, will es gar nicht richtig hell werden. Es ist schon 9 Uhr und ohne Licht kann ich in der

Stube kaum etwas sehen. Drau en ist es milchig grau undß w rmer als am Vortag, als minus 35 Grad C herrschte.ä

Der Musiklehrer aus Peromaisk, der in Nowosibirsk an der Musikhoch- schule studiert hat, und der in Neudatschino aufgewachsen ist, kommt t glich zwischen 11 und 15:30 Uhr anä die Mittelschule in Neudatschino, um mit den Kindern Lieder zu singen. Er begleitet sie auf dem Bajan (russische Knopfharmonika). Ehrlich gesagt, die Lieder werden eher gegr lt als gesungen. Man merkt ihm beim Singen an, da sieö ß ihm zum Hals heraush ngen. Daf r hat der Mann Harmonielehreä ü studiert und sein Abschlu examen als Chorleiter gemacht, umß nun Bauernl mmeln das Singen beizubringen. Er kommt immerü zwischen 11 und 15 Uhr 30, weil das die Fahrzeiten des Vorortzuges (russisch: Elektritschka) sind. Seine Frau ist auch Musikp dagogin. Sie haben zwei Kinder. Seine Mutterä gibt ihm oft Geld von ihrer Rente dazu.

Ein anderer Musikp dagoge aus Peromaisk, der schon erw hnteä ä Slawa Bloschin, hat die Deutschlehrerin Elisabeth Steffen aus Neudatschino geheiratet und ein Kind mit ihr. Trotzdem lebt er in Peromaisk mit einer anderen Frau zusammen. Orientalische Verh ltnisse !ä

Ohne Geld leben

Davon haben Utopisten von Plato ber Thomas Morus bis hin zuü Karl Marx geschw rmt: eine menschliche Ansiedlung, die ohneä Geld auskommt. Das stimmt so nat rlich nicht ; auch inü Neudatschino werden L hne und Geh lter gezahlt, allerdingsö ä nur zwei Drittel von dem in der Stadt. Aber das Geld ist hier nicht so lebensnotwendig wie in der Stadt; man kann auch ohne oder zumindest mit sehr wenig Geld auskommen, aller- dings sehr bescheiden. Und so sind denn auch viele Einwohner sehr bescheiden und f gen sich in ihr hartes undü beschwerliches Leben. Sie kennen es nicht anders, zumindest nicht aus eigenem Erleben, h chstens aus dem Fernsehen. Undö die Reklamebilder aus dem Fernseher sind so andersartig als ihre eigene Wirklichkeit, da sie niemand ernst nimmt. ß

Es lebt sich eigenartig in einer Welt, in der niemand den Drang zu versp ren scheint, auf ehrliche Art und Weise,ü durch harte Arbeit, Geld zu machen. Es gibt nur die allernotwendigsten Dienstleistungen, keinen Markt f rü dar ber hinaus gehende Bed rfnisse. Du bist auf Wohl-ü ü wollen, Nachbarschaftshilfe angewiesen, planst du irgendein größeres Unternehmen. Die Geldgier zieht hier nicht. Besondere Leistung wurde bis jetzt auch nicht belohnt. Jeder bekommt das gleiche bescheidene Gehalt, ob er viel oder wenig arbeitet. Das spornt nicht gerade an zu mehr Leistung. Der Maschinenpark ist hoffnungslos veraltet, die Mecha- niker können sich vor Reparaturarbeiten nicht

retten. Für Neuanschaffungen ist kein Geld da. Geld anzusammeln ist hier kein Lebensziel, dann schon eher Kinder und Tiere anschaffen. Das ist etwas reelles, damit kann ich hier etwas anfangen.

Gestern hatten wir Stromausfall. Wir saßen bei Kerzenschein wie die Menschen vor 1953. Seit dieser Zeit gibt es Strom in Neudatschino. Gestern fuhr ein Traktorfahrer im Dunkeln gegen einen Strommast. Stunden später gab es wieder Elektrizität. Heute läuft kein Wasser. Das hatten wir schon einmal vor einer Woche. Die Pumpe, die das Grundwasser in den Wasserturm pumpt ist nicht mehr ganz in Ordnung. Es müssen Ersatzteile aus Nowosibirsk herangeschafft werden. Nowosibirsk ist weit. Niemand will so richtig diese Dienstreise unternehmen. Also wird gestöpselt und improvisiert bis zum nächsten Schaden. Es sind aber auch riesige Entfernungen zu überbrücken. Gerhard Neufeld, der Jüngere, der der Reparaturwerkstätte für Kraftmaschinen vorsteht, fährt dienstlich dreimal die Woche größere Entfernungen mit dem Auto. Er ist immer müde und kaputt, wenn man ihn trifft. Manchmal schläft er im Stehen ein.

Der Mensch, der schon lange in Sibirien lebt, ist großzügig, gast- freundlich, tolerant. Der Besucher hat den Eindruck, daß der Sibirjak sich schon im Kampf gegen die Kälte des Winters und gegen die tägli- chen Pannen seiner Maschinen auf der Straße oder im Haushalt die Hörner abgestoßen hat und somit nicht mehr neigt zu Hochmut, Ironie oder Fremdenfeindlichkeit, Charakterzüge, die man in bevölkerteren Landstrichen wie Deutschland häufig antrifft.

VISamstagabend, 17.12.1994. In Neudatschino gibt es heute Abend drei Geb ude, in denenä sich die Menschen treffen: die Banja, das ffentliche Badö mit Sauna; das Klubhaus, in dem getanzt wird zu Lichtorgel und Diskomusik vom Tonband; das Versammlungshaus, in dem fromme Lieder gesungen und Gebete gesprochen werden. Ein Tag geht zu Ende. Ein Tag voller Freude, voller Gel chter,ä voller Freundschaft. Ein besonderer Tag. Kein Tag wie jeder andere. Ich habe mit einigen Sch lern getanzt und Spaü ß gehabt. Ich habe mit einigen Lehrern geplaudert und Tee getrunken. Ich habe Krapfen gebacken und die Familie hat davon ge- gessen. Die T chter haben mich geneckt und mirö Schneeb lle gegen die Fensterscheibe geworfen. Ich f hleä ü mich geborgen. Auch wenn mich kaum jemand versteht. Ich bin ein pochendes Herz unter anderen pochenden Herzen. Ich bin ergriffen von dem Neudatschino-Gef hl. Ich bin zufrieden.ü Ich f hle mich lebendig. Es ist gut.ü

Sonntag, 18.12.1994.Auf der Versammlung in der Andacht werden drei Sprachen gesprochen; plattdeutsch, russisch und hochdeutsch. Wird hochdeutsch gesprochen, versteht ein Gro teil der Anwesendenß wenig oder nichts. Nur die Alten verstehen und sprechen hochdeutsch. Die Jugend w chst auf mit plattdeutsch undä russisch und das gen gt den meisten. "Ich brauche dasü nicht", denken die meisten. Sie werfen sich lieber in den Schnee als Hausaufgaben in Deutsch zu machen. "Ich brauche das nicht." Ein Satz, der mir in Erinnerung bleibt. Die Alten im Dorf sagen das von den vielen Waren aus dem Ausland, die man jetzt in Omsk kaufen kann, wenn man das n tige Kleingeld hat. "Ich brauche das nicht." "Mnje njeö nada."

Montag, der 19.12.1994Diese Neufelds sind ein Ph nomen. Selbst nicht wohlhabend,ä im ver- armten Ru land z hlen sie zum Mittelstand, haben sieß ä immer noch Geld brig, um Menschen zu helfen, die noch rmerü ä dran sind als sie selbst. Das nenne ich selbstlos! Das ist christliche N chsten- liebe! S igkeiten f r 100 Kinder zuä üß ü kaufen und in Plastiks cke zu verpacken! Zum Weihnachtsfest.ä Und zum Erntedank- fest belegte Brote f r 200 Menschen zuü schmieren! Das ist Ausdruck des Geistes, der im Hause Neufeld herrscht.Abends esse ich Borschtsch. Mit Sahne,” Schmand” wie die Plattdeutschen sagen. Das Richtige, um die Lebensgeister zu wecken! Ich gehe hinaus, um Kohlen zu holen. Es ist schneidend kalt. Ich bin froh, als ich wieder in der geheizten Stube bin.

Dienstag, der 20.12.1994Schlechtes Papier wird mit undeutlichen Stempeln versehen, um dem Wisch einen offiziellen Anstrich zu geben.

Kontrollarbeit! ber die Ergebnisse lachen die LehrerÜ meistens. Die Mitarbeit der Eltern ist hier unerl lich. Vonäß sich aus sind nur wenige Sch ler und Sch lerinnen zum Lernenü ü motiviert. Die deutsche Sektion im Lehrerkollegium f hrtä unerm dlich fort, Weihnachtsstimmung zu erzeugen. Sie willü sich nicht so recht einstellen. Sch ler und Lehrer sindü gestre t und erk ltet wegen der Abschlu arbeiten. Derß ä ß stellvertretenden Direktorin m ssen die Deutschhefteü vorgelegt werden. Ein Halbjahr geht zu Ende. Weihnachten steht vor der T r.üDer Unterricht der letzten 10 Tage vor den Weihnachtsferien beruht auf 3 S ulen:ä1. Wir wiederholen. Was wir nicht schon alles gelernt haben! Toll! Prima!2. Wir singen deutsche Weihnachtslieder.3. Wir spielen Karten und blasen Luftballons auf.

Unter den 340 Deutschst mmigen in Neudatschino gibt es zweiä Lager, die nichts oder nur wenig miteinander zu tun haben wollen. Starrsinnige Betonk pfe scheinen das Sagen zu haben.ö Selbst an Weihnachten sind die gegnerischen Lager nicht bereit, zusammen einer Feier beizuwohnen. Nein, da wird berü die richtige Bibelauslegung gestritten. Dabei scheint der Berck-Clan rigoroser und weniger tolerant zu sein als die Neufeld-Gemeinde.

Unser Dorf. "Fr her waren in unserem Dorf nur Deutsche. Dieü haben gearbeitet. Gesungen und getanzt haben die auch, aber nur nach getaner Arbeit. Und heute saufen sie w hrend derä Arbeit. Vor zwei Tagen haben sie einen Strommmast im besoffenen Kopp umgefahren." Maria und Gerhard erz hlen vonä fr her. Ich glaube, ich werde hier noch zu einem Mystiker.ü Ich glaube an berirdische Gewalten inmitten dieserü gewaltigen Natur um mich herum. Ich habe das Gef hl,ü ausgeliefert zu sein. Ich habe mein Leben nicht selbst in der Hand. Es wird irgendwie ferngesteuert. Ich f hle mich soü machtlos! Was kann ich tun au er in die Schule gehen undß danach zu Hause ber meine Gedanken schreiben? Ich bin einü Fremdk rper im Dorfgebilde. Ich sp re das, obwohl dieö ü Einheimischen mich nicht abweisend behandeln. Mein Lebensradius ist hier sehr eingeschr nkt. Die fremdeä Sprache, das Fehlen eines Automobils, die Unkenntnis der Stra en und Wege sind Gr nde daf r. Und das Land ist soß ü ü riesig. Wohin sollte ich auch fahren? Ich w rde viel Zeit amü Steuer sit- zen. Habe ich denn ein Ziel? Ich habe das Gef hl, dabei lediglich Sprit zu verfahren. Meineü urspr nglichen Ziele, Russisch zu lernen und den Kindernü Deutsch beizubringen, habe ich aufgegeben. Die Schwierigkeiten sind doch zu gro . Zumindest f r mich. Ichß ü habe Heimweh.

Mir stehen nach russischem Gesetz als Lehrer Kohlen und Fleisch im Winter zu. Die anderen Lehrer haben ihre

Rationen auch alle schon erhalten, nur der ausländische Lehrer hat noch nichts bekommen. Ich kann ja auch keinen Druck machen. Mich versteht ja niemand. Die russische Verwaltungsangestellte Marina will die Sache nicht bearbeiten. Sie ist ihr zu lästig. Sie schiebt die Verantwortung auf jemand anderen. Erst der Einsatz von vereinten Kräften sowohl meiner Wirtsleute als auch meiner Lehrerkolegen hat erreicht, daß sich in der Sache etwas bewegt. Es ist schwer, Ausländer zu sein. Die einheimischen Gesetze scheinen für dich als Ausländer nicht zu gelten. Marieche sagt, die Russen arbeiten nur, wenn man sie ausschimpft. Du als Deutscher darfst aber nicht schimpfen. Dazu mußt du auch ein Russe sein. Als Deutscher mußt du brav, duldsam, großzügig sein, sonst wirst du gleich als Feind oder Faschist beschimpft. Und zu tüchtig darfst du auch nicht sein, sonst wirst du gleich beneidet.

Weihnachten in Sibirien. 22.Dezember 1994. Inder Schule ist ab 18 Uhr ein deutscher Abend, eine Weihnachstfeier. Die Turnhalle wurde geschm ckt und mit Tischen und St hlenü ü versehen. Sogar ein haushoher Tannenbaum wurde aufgestellt. Die Kinder f hren Theatersketche vor, singen Lieder oderü sagen Gedichte auf, alles in russischer Sprache. An den Tischen sitzt die Verwandschaft und i t , trinkt und h rtß ö zu. Unter hohen Schwierigkeiten habe ich mit einer Klassse Laternen gebastelt aus Pappe und Glanzpapier. Dazu habe ich den Kindern den deutschen Text eingebl ut:ä

Ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.Da oben, da leuchten die Sterne und unten, da leuchten wir.Laternenlicht, verl sch mir nicht.ö

Abreise aus einem sibirischen DorfIch mu Zahnstocher, Bleistifte, Radiergummis und Bleistift-ßspitzer mitbringen. Wei es Papier, Druckerfarbb nder, Kau-ß ägummis, Gummiwindeln, weiche Wolle, Fettcreme.Ich nehme Briefe nach Deutschland mit. Gerhard m chteö Kinderspielzeug: Vogel, der singt, wenn man ihn aufzieht.Meine Vorfreude auf daheim nimmt t glich zu. Am 6. Dezemberä haben sich die Falks aus Kanada verabschiedet. Sie reisen ber Moskau und Paris zur ck nach Toronto.ü ü

Nehmt Abschied Br der, ungewi ist alle Wiederkehr.ü ßDie Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer.Der Himmel w lbt sich ber's Land, Ade, Auf Wiedersehn.ö üDie Zukunft liegt in Gottes Hand, Ade, Auf Wiedersehn.

Meine Omsker Kollegen fliegen heim vom 23.12.1994 - 10.1.1995. Ich m chte mit ihnen fliegen.öIch mu Heinrich Enns, den Dorfschulzen, an sein Versprechenß erinnern: Heinrich, du hast gesagt, Gerhard bekommt dein Auto, um mich damit zum Flughafen zu bringen. Es ist schrecklich kalt. Ich mache mir Sorgen: arbeitet die

Maschine auch bei gro er K lte? Komme ich rechtzeitig zumß ä Abflug am Flughafen an?Meine verbleibenden Rubel spende ich der Schule, der Gemeinde, dem Krankenhaus.Mit 2 Koffern und einem Rucksack geht es mit der Maschine des Dorfschulzen nach Omsk zum Flughafen. Ich notiere in mein Notizbuch: Erkundige dich bei der Ausreise, ob dein Visum im Pa auch f r die Einreise G ltigkeit hat. Derß ü ü deutsche GTZ-Mitarbeiter hat gesagt, Verl ngerung alleinä reicht nicht aus, es m sse ein neues Visum beantragt werden.ü

Die Omsker Kollegen begr en mich mit lautem Hallo auf demüß Flughafen. Sie sind ausgelassen und freuen sich. Eine Kollegin hat eine Wodkaflasche dabei und die Flasche macht die Runde. Wir fliegen wieder mit der Firma NEUFELD REISEN. Im Flugzeug berichte ich von meinen ernsthaften Bem hungen,ü russisch zu lernen. Die Lehrerin Erna Henning gibt mir ein Russisch-Lehrbuch, mit dem sie auch schon Russisch gelernt hat, allerdings als Jugendliche auf der Schule in der ehemaligen DDR. Ich bedanke mich und stecke das Buch ein. Der Lehrer Hans Biersodt asu Th ringen erz hlt mir, da erü ä ß eine bildh bsche Russin kennen- und liebengelernt hat. Seineü zuk nftige Eherau begleitet ihn auf dem Flug nachü Deutschland. Diese Frau h tte auch noch eine Freundin, dieä auch einen Deutschen heiraten m chte. Ich solle alsoö zugreifen. Ich berleg es mir, antworte ich ihm. Die Etappeü nach Orenburg vergeht wie im Flug. Wir scherzen und sind lustig.In Orenburg hei t es wieder treppauf - treppab mit demß ganzen Gep ck. Ingrid, eine Deutsch-lehrerin aus Berlinä hilft mir. Am Schalter zu der Halle, die die Inlandsfl geü von den Auslandsfl gen trennt, sitzt ein Beamter, der dieü P sse kontrolliert. Meine Kollegen sind schon durch, bei mirä dauert es noch. Der Mann bl ttert durch meinen Pa undä ß sch ttelt den Kopf. Er sagt etwas zu mir, was ich nichtü verstehe. Erna schaltet sich ein; sie sagt, es gibt Probleme, weil der Polizeistempel in meinem Pa kein Visumß sei, sondern lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung. Ich sage, das kann nicht sein. Ich sei extra mit dem Dorfschulzen zur Polizei nach Tatarsk gefahren, um das Visum zu beantragen. Alle h tten mir gesagt, damit k nne ichä ö ausreisen!Der Beamte weigert sich, mich durchzulassen. Erna versucht, ihn mit 50 Dollar dazu zu bewegen, mich durchzulassen. Ohne Erfolg! Wir wollen den Vorgesetzten sprechen. Der Vorgesetzte sagt, seine Beamten w rden russische Gesetzteü verletzen, wenn sie mich ausreisen lie en. Ich m sse zurß ü Ausreise ein g ltiges Visum besitzen. Ingrid fleht ihn an:ü seien Sie doch ein Mal in Ihrem Leben ein Mensch und kein Beamter und lassen Sie den Ausl nder zu Weihnachten nachä Hause reisen. Njet, ist die Antwort. Meine Kollegen sind sich einig: wenn ich nicht ausreisen darf, verzichten sie auch auf die Ausreise. Allerdings wollen sie die deutsche Botschaft einschalten und aus der pers nlichen Sache eineö

politische Sache machen. Auch dieser Versuch schl gt fehl.ä Es bleibt dabei, ich darf nicht ausreisen, weil ich in meinem Pa statt einem Visum eine Aufenthalts-genehmigungß h tte. Meine mehrteiligen Gep ckst cke werden wieder aus derä ä ü Maschine geholt, die nach Deutschland fliegt. Sie werden vor bergehend in einer Dienstkammer abgestellt. Ich binü verzweifelt. Wie soll ich jemals wieder nach Hause kommen? Meinen Kollegen gegen ber zeige ich allerdings Zuversicht.ü Ich sage, das Mi verst ndnis wird sich aufkl ren und mit derß ä ä n chsten Maschine bin ich auch in Deutschland. Ingrid weintä vor Ohnmacht und Wut. Die Kollegen lassen mich zur ck undü gehen in die Abflughalle, nicht ohne mir versichert zu haben, meinen Fall den deutschen Beh rden mitzuteilen,ö sobald sie zu Hause seien. Damit ich den Verkehr nicht l nger aufhalte, werde ich in das gleiche Dienstzimmerä verfrachtet, in dem schon meine Gep ckst cke stehen. Dortä ü soll ich warten, bis ein Angeh riger des Reiseunternehmensö Neufeld mich abholt, um mit zur ckzufliegen nach Omsk. Ichü f hle mich total verlassen. Wie soll ich jemals mit meinenü bescheidenen Russischkenntnissen an das erforderliche Visum kommen, wenn schon die Hilfe des Dorfschulzen von Neudatschino mit all seinen Beziehungen nicht ausgereicht hat? Die Zeit scheint mir stehen zu bleiben. Ich versuche, mich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen, vergeblich: die Panik berwiegt. Nach endlosem Warten kommtü schlie lich ein Mitarbeiter der Firma Neufeld Reisen, einß Russe, der kein Wort Deutsch spricht. Er bedeutet mir, ihm zu folgen und nimmt mir zwei Gep ckst cke ab. Ich f hle michä ü ü wie ein Verbrecher, der zum Henkersklotz gef hrt wird. Ichü frage mich, was habe ich blo Ungesetzliches getan, womitß ich das verdient habe? Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt in einem Land, das Millionen von Quadratkilometern gro ist und dessen Sprache ich nur mangelhaft beherrsche.ß Der Russe f hrt mich ber den Platz vor der Eingangshalle zuü ü einem Hotel, in dem ich absteigen soll und etwa 4 Stunden warten soll, bis der R ckflug nach Omsk abgeht. Die Firmaü Neufeld bernimmt kulanterweise die Hotelkosten und denü R ckflug nach Omsk. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Imü Hotel verlange ich nach einem Telefon, um mit der deutschen Botschaft in Moskau zu telefonieren. Aus irgendeinem Grunde klappt die Verbindung nach Moskau nicht und das Gespr chä kommt nicht zustande. Ich wittere Verrat. Hat sich denn alles gegen mich verschworen ?Die Russen raten mir, mich erst einmal auszuruhen und begleiten mich auf das Hotelzimmer.Ich liege auf dem Bett und gr bele. Was soll ich jetzt bloü ß tun? Ich kann kein Auge zumachen. Mu ich jetzt ber Moskauß ü reisen wie die Falks aus Kanada? Das w rde viel Geld undü Zeit kosten. Wer kann mir in meiner Lage helfen? Die deutsche Botschaft in Moskau? Das Reiseunternehmen Neufeld in Omsk? Die Ru landdeutschen in Neudatschino? Fragen berß ü Fragen und keine Antwort.

Mitten in der Nacht, drau en ist es stockdunkel, klopft derß

Russe von Neufeld-Reisen an meine Hotelzimmert r. Ich sollü mich fertigmachen. Der Flug nach Omsk geht in K rze. Imü Flugzeug versuche ich, mit dem Russen ins Gespr ch zuä kommen. Der steht allerdings alle Augenblicke von seinem Sitzplatz auf und spricht mit verschiedenen Flugg sten. Erä scheint hier einen Job als Flug-begleiter zu haben. Ich finde mich damit ab und versuche zu schlafen.

In Omsk hat der einzige Mensch, den ich kenne, der russische Flugbegleiter, es unheimlich eilig. Er rennt herum und sagt mir, er treffe mich in 20 Minuten in der Wartezone f rü Flugg ste. Ich solle dort auf ihn warten. Er w rde mich dannä ü in seinem Auto mitnehmen in die Stadt. Ich bringe meine Gep ckst cke zur Gep ckaufbewahrung in der Flughafenhalle,ä ü ä weil ich davon ausgehe, da ich wieder von hier aus nachß Deutschland fliegen werde, ich hoffe inst ndig, m glichstä ö mit dem n chsten Flugzeug.ä

In der Wartezone treffe ich den Inhaber von Neufeld-Reisen, einem Ru landdeutschen, dem ich auf deutsch meine Lageß erz hle. Er macht mir Mut. Er sagt, er fliege jetzt berä ü Orenburg nach Deutschland. Er habe gute Beziehungen zu den Beamten in Orenburg und w rde dort versuchen, eineü Ausnahmeregelung f r mich zu erreichen. Bis zu dem n chstenü ä Flugzeug nach Orenburg solle ich in seiner Stadtwohnung in Omsk darauf warten, nach Deutschland zu fliegen. Er w rdeü mich dort anrufen, wenn er die Ausnahmeregelung f r michü erreicht h tte. Ich fasse wieder Mut. Vielleicht kann ich jaä doch noch mit den Lieben daheim Weihnachten feiern!? Die orthodoxen Russen feiern Weihnachten erst sp ter im Jahr, soä da die Tage vom 24. bis 26.12. keine gesetzlichen Feiertageß sind wie in Deutschland.

Der Inhaber von Neufeld-Reisen spricht auf russisch mit seinem Angestellten, dem mir bekannten Flugbegleiter. Der nimmt mich in seinem Wagen mit in die Stadt. Sein Sohn sitzt auch mit im Wagen. Ich versuche, mich mit dem Sohn ein wenig auf russisch zu unterhalten. Was die Russen i von diesen Sprechbem hungen halten und verstehen, wei ich nicht.ü ß

Der Flugbegleiter setzt mich in einem typischen Neubauviertel mit Hochh usern ab und ffnet mir die Wohnungä ö seines Arbeitgebers. Die Wohnung ist einfach m bliert. Au erö ß einer Unmenge von Bierdosen aus Deutschland gibt es in der K che keine Lebensmittel. Auch Blumen fehlen v llig. Dieü ö Wohnung macht einen unbehausten Eindruck. Aber egal, ich bleibe hier ja nur bis zum n chsten Flugzeug nachä Deutschland. Der Reiseunternehmer mit seinen Beziehungen wird f r mich eine Sonderl sung aushandeln.ü ö

Als ich die Telefonnummer w hle, die mir der Reiseunterneh-ämer mit auf den Weg gegeben hat, meldet sich eine Frau. Ich sage ihr auf meine Weise in russischer Sprache, da ich inß der Wohnung von Herrn Neufeld sei und auf seinen R ckrufü

warte. Sie sagt mir, da ich falsch verbunden sei, weil sieß nicht Herr Neufeld sei, sondern seine Nachbarin in der Wohnung gegen ber. Ich lege auf und wundere mich. Hat derü Reiseunternehmer mir eine falsche Telefonnummer gegeben oder habe ich irgendeine Vorwahl vergessen zu w hlen? Ichä berlege wieder hin und her. Nach einer Stunde versuche ichü erneut mit dem Reiseunternehmer Kontakt aufzunehmen, mit dem gleichen Erfolg. Ich spreche ein paar Worte mit seiner Wohnungsnachbarin und erkl re ihr, da ich aus Deutsch-landä ß bin und wegen Pa formalit ten nicht nach Hause fliegen kann,ß ä um das Weihnachtsfest mit meinen Angeh rigen zu feiern.ö

Nach wieder einer Stunde klingelt es an der Wohnungst r undü eine russische Frau fragt mich, ob ich schon etwas gegessen h tte. Ich sage, nein. Sie l dt mich daraufhin in ihre Woh-ä änung ein. Dort stellt sie mich ihrem Mann und ihrem Sohn vor. Der Mann ist Ru landdeutscher und hat seiner Familieß einmal Deutschland gezeigt, unter anderem auch meinen Wohn-ort N rnberg. Die Frau zeigt mir Bilder von der Burg inü N rnberg und ich denke: so ein Zufall, die Welt ist klein.ü Wir essen zusammen ein schmackhaftes Reisgericht.

Nach dem Essen plaudern wir ber dieses und jenes und ichü vergesse meine Sorgen. Ich frage meine neuen Freunde sogar, ob ich bis zu meinem bevorstehenden Abflug mit ihnen zusam-men bleiben k nnte, aber der Mann bedeutet mir, da er keineö ß Zeit f r mich habe, da er arbeiten gehen m sse. Ich ver-ü üstehe. Irgendwann klingelt es, und der russische Reisebe-gleiter fordert mich auf in seiner hektischen Art, ihm zu sagen, wohin er mich nun fahren k nne. Die Bem hungen seinesö ü Chefs f r mich seien erfolglos gewesen und ich m sse jetztü ü die Wohnung r umen. Ich berlege nicht lange und sage:ä ü Fahren Sie mich zum Bahnhof, ich will mit der Elekritschka zu meinen Freunden nach Neudatschino fahren.

Der Mann liefert mich am Bahnhof ab und berl t mich meinemü äß Schicksal.

Die Bewährungsprobe. Gerhard und Marieche scheinen nicht einmal erstaunt zu sein, als sie den wiedersehen, den sie bereits in Deutschland w hnten. Marieche lacht und Gerhardä sagt: Gut, da Du kommst, kannst du den Weihnachtsmannß spielen auf der Weihnachtsfeier der Gemeinde.Es ist der 24. Dezember und um 17 Uhr ist Bescherung im Gemeindehaus.Das bescheidene Holzhaus ist bis auf den letzten Platz gef llt mit Kindern und Erwachsenen. An Weihnachten kommenü selbst die Dorfbewohner in den Gottesdienst, die sich das ganze Jahr ber nicht blicken lassen, wahrscheinlich, weilü es an Weihnachten Geschenke gibt. Ich bekomme einen falschen Bart verpa t, eine Kutte und eineß M tze bergezogen und einen riesigen gef llten Sack ber denü ü ü ü R cken gelegt. So betrete ich, gefolgt von meinem Knechtü Rupprecht, den Saal, angef llt mit erwartungsvoll drein-ü

schauenden Menschen.Knecht Rupprecht hilft beim Verteilen der Geschenke an die Dorfbev lkerung, eine Rute gibt es nicht, jeder hat nurö Gutes zu erwarten. Einige meiner Sch ler erkennen mich trotzü meiner Verkleidung und rufen: Thomas Karlowitsch, Thomas Karlowitsch! Wahrscheinlich hat mich meine Stimme verraten.Ich vergesse meine Sorgen und gebe mein Bestes, um meine Rolle gut auszuf hren.üAm n chstenTag besuche ich meine Kollegin Elisabeth Steffen,ä genannt Jelisabeta Abramowna.Ich schildere ihr mein Mi geschick und sie ruft eineß Freundin an,die mit einem Polizisten in Tatarsk verheiratet ist. Die Freundin verspricht, ihrem Mann von meinem Fall zu erz hlen und wieder anzurufen, wenn sie mit ihrem Mannä gesprochen hat. Es vergeht wieder ein Tag, den ich so verbringe, als ob ich nie abgereist w re. Vielleicht sollä ich ja auch nicht abreisen? Vielleicht meint es das Schicksal ja gut mit mir, wenn es mich nicht fortl t vonäß diesen Menschen, die so gut zu mir sind? Aber das Heimweh und die Sorge, unfreiwillig an einem Ort festgehalten zu werden, lassen mich am n chsten Tag wieder zu Jelisabetaä gehen und sie fragen, ob ihre Freundin schon angerufen h tte. Die Antwort ist nein, njet, ein Wort, das sich mirä tief in der Seele einpr gt. Es vergeht wieder ein Tag inä Neudatschino, ohne da ich meiner Heimat auch nur einen Deutß n hergekommen w re. Die einzige Verbindung zur Heimat istä ä das Telefon. Ich habe meiner Schwester Frohe Weihnachten gew nscht und ihr von meinem Mi geschick erz hlt. Endlichü ß ä ruft mich Elisabeth Steffen zu sich. Sie hat Neuigkeiten f rü mich. Die Gesetzeslage sieht aus wie folgt:Ich mu pers nlich in die Bezirkshauptstadt Nowosibirsk, umß ö dort unter Vorlage meines Passes und eines vom Arbeitgeber bewilligten Urlaubsantrages ein Visum zu beantragen. Das Visum kostet umgerechnet 20 DM und mu in einer bestimmtenß Amtsstube ausgestellt werden. Meine Hoffnung schwindet. Ich hatte erwartet, da die Freunde von Elisabeth eineß g nstigere Nachricht berbringen w rden. Welche Zeit dadurchü ü ü verstreichen w rde, in das 750 km entfernte Nowosibirsk zuü fahren! Wie sollte ich mich auf einer Amtsstube verst ndlichä machen mit meinen geringen Kenntnissen der russischen Sprache? Ich bedankte mich f r die Auskunft bei Elisabethü und sprach bei n chster Gelegenheit mit Enns, demä Dorfvorsteher, ob er mir helfen k nne. Er antwortete mir, erö habe alles getan, was in seiner Macht st nde und k nne mirü ö nun nicht mehr helfen. Ich sprach mit Gerhard, meinem Gastgeber, und der wu te - wie so h ufig - Rat. Ich solleß ä mit einem seiner S hne nach Nowosibirsk fahren, die Frageö sei nur, wen das Dorf zur Zeit am ehesten entbehren k nneö f r 2,3 Tage. Die Wahl fiel auf Jakob, der in derü Autowerkstatt als Automonteur arbeitet.Im Zugabteil waren au er uns noch ein junger Soldat mitß seiner Freundin und ein lterer Mann. Der Soldat war aufä Heimaturlaub von der Front in Tschetschenjen, wie Jakob erfuhr und mir dolmetschte. Es gibt auch andere, die ein

schweres Los haben, dachte ich.In Nowosibirsk angekommen waren auf dem Bahnhofsvorplatz jede Menge Stra enh ndler und Kioske. Ich berlegte laut, obß ä ü ich f r den Beamten ein Geschenk kaufen solle, um ihn mildeü zu stimmen. Jakob riet mir ab; es gebe auch Beamte, die das als Beleidigung auffassen w rden, dann w rde meine Absichtü ü ins Gegenteil umschlagen. Bevor wir die Amtsstube aufsuchten, mu ten wir auf einer bestimmten Bank, die inß Staatsbesitz war, die Visageb hr entrichten. Dazu war dasü Ausf llen eines Formulars n tig. Wir lie en uns dabei vonü ö ß der Bankangestellten helfen. Mittler- weile n herten wir unsä der Amtsstube und wir mu ten uns beeilen, da wir unserenß ß Antrag noch vor der Mittagspause vorbringen konnten. Wer wei , wie lange das Ausstellen eines Visums dauert?ß Mittlerweile ging es auf Neujahr zu und heute war der letzte Tag vor den gesetzlichen Feiertagen um Neujahr, an dem die Russen sich gegenseitig besuchen und miteinander feiern. Wir hatten in der Amtsstube noch zwei Leute vor uns und ich bekam eine leichte Panik, ob wir noch vor der Mittagspause eingelassen werden w rden. Endlich stellten wir den Antragü und baten den Beamten inst ndig, das Visum noch heuteä auszustellen. Der Mann versprach nach Pr fung allerü Unterlagen, das Visum bis 15 Uhr auszustellen. Wir hatten 2 Stunden Zeit bis dahin, die wir uns damit vertrieben, etwas zu Mittag zu essen. Um 15 Uhr war das Visum tats chlichä ausgestellt und wir eilten zum Bahnhof, um den n chsten Zugä nach Omsk zu nehmen, denn das Flugzeug nach Deutschland ging am n chsten Tag ab. Im Bahnhof wimmelte es von Menschen, dieä alle die Schalter belagerten. Am Neujahrstag, dem orthodoxen Weihnachtsfest, reisen unz hlige Russen, um das Fest mitä ihren Familien zu feiern. Wir reihten uns in die Menschenschlange vor einem Fahrkartenschalter ein. Was ist, wenn der Zug nach Omsk, ausverkauft ist? Dann w rde ich meinü Flugzeug verpassen und das n chste, f r das mein Ticketä ü gilt, geht erst wieder in einer Woche. Ich m te noch eineüß Woche warten und dann br uchte ich gar nicht mehr zuä fliegen, weil dann mein Urlaub fast abgelaufen w re und ichä keine Urlaubsbescheinigung von der Schuldirektorin mehr bekommen w rde. Nicht auszudenken! Sollte jetzt, nachdem wirü so um das Visum gek mpft haben, kurz vor Erreichen des Zielsä noch etwas dazwischen kommen? Meine Nerven spielten verr cktü und allein der Anblick meines Begleiters und seine beruhigenden Worte retteten mich vor dem Ausrasten! Nachdem Jakob die letzten zwei Fahrkarten ergattert hatte, ging er zum n chsten Telefon, um seine Angeh rigen in Neudatschinoä ö anzurufen. Er teilte ihnen die voraussichtliche Ankunftzeit des Zuges aus Nowosibirsk in Omsk mit, damit sie dann schon mit einem Auto bereit st nden, was mich vom Bahnhof zumü Flughafen bringen w rde. Ein Bus w re zu langsam und denü ä Taxifahrern traute er nicht ber den Weg. Es ging jetztü wirklich um Minuten, da ich am Flughafen noch mein Gep ckä bei der Gep ckaufbewahrung einl sen mu te und danachä ö ß einschecken.

Mit Hilfe meiner Freunde aus dem sibirischen Dorf landete ich tats chlich eine Nacht und f nf Stunden sp ter inä ü ä Deutschland auf dem Flughafen Hannover. Ich kann nicht beschreiben, wie erleichtert ich mich f hlte, als ich inü Langenhagen aus dem Flughafengeb ude ging, um zuä telefonieren und einen Mietwagen zu besorgen. Beides funktionierte einwandfrei. Ich war wieder in Deutschland, ich war wieder zu Hause. Die lange Nacht mit ihrem Alptraum war vor ber und aus dem winterlichen Himmel ber Hannoverü ü brachen einige Sonnenstrahlen hervor.