Siewerth Metaphysik Der Kindheit

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GUSTAV SIEWERTHwww.gustav-siewerth.de

METAPHYSIK DER KINDHEIT

TRIALOGO VerlagD-78421 Konstanz3

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Auflage : 2003/06 Alle Rechte vorbehalten! Copyright 2003 by TRIALOGO

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VORWORT

Der Titel hebt die vorliegende Abhandlung ab von psychologischen und pdagogischen Bchern, die sich mit dem gleichen Gegenstand befassen. Metaphysik bedeutet hier die Erffnung des weitesten und ursprnglichsten Horizontes, aus dem her und auf den hin alles Menschsein sich ereignet, in welchem es, aufgelichtet durch das Sein als Sein, allein zu seiner Wahrheit gelangen kann. Eine solche Erkenntnis ist notwendig ein Enthllen von Wesenszgen, sofern sie dem grndenden und aktuierenden Sein im Ganzen entspringen. Die Tiefe und transzendentale Weite der Aussagen ist immer auch der metaphysischen Seinserhellung verpflichtet, die unser Erkennen und Sprechen geschichtlich ermchtigte und ihm die Magrnde, die Wege und das Wort schenkte. Darum ist kein metaphysisches Unternehmen ohne die Aufweis- und Sagekraft hchster geistiger Akte, die in unsere Sprache gekommen sind. Da es hier um die Erziehung und Bildung des christlichen wie des gegenwrtigen Menschen geht, so verpflichtete uns das theologische, philosophische und pdagogische Werk als Instrument des Sprechens und Auflichtens in gleicher Weise. Deshalb bedeuten weite Strecken dieser Untersuchung eine Ausfaltung thomistischer Grundlehren, eine Weiterfhrung der Daseinsdeutung Martin Heideggers und eine Durchlichtung der Erfahrungen Maria Montessoris, der bedeutendsten Erzieherin des 20. und ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dabei geht es stets um eine metaphysische Erhellung, was besagt, da es stets das eine Sein und das von ihm her aufgelichtete Dasein selber ist, das die innere Einheit der Ausfhrungen trgt. Deshalb gibt es an keiner Stelle ein bloes Wiederholen von schon Gesagtem, sondern stets eine weiterfhrende, einigende bersteigung, die sich bei jedem ursprnglichen Enthllen immer ereignet. Es wre deshalb auch ein Miverstndnis, dieses Werk als eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger oder gar als eine Widerlegung seiner Daseinshermeneutik anzusehen, als wenn ein ursprngliches, dem undurchdringlichen Geheimnis des Seins hingegebenes Philosophieren anders in den Akt kommen knne, als da es das Aufgewiesene selbst in jedem Fortgang auseinander setzt, das heit auf immer tiefere Dimensionen hin erschliet und weitet, freilich auch in immer neuer Einigung zusammenhlt. Wie knnte aber ein die ratlose Irre der neuen Zeit aufbrechender Geistakt anders sich vollziehen, als da er sich auf ihre geschichtliche Geworfenheit einliee, um gerade hier und so das alles Zeitliche berholende Sein in eine zeitgeme und zeitmchtige Frage zu zwingen. Es ist kein Zweifel, da Martin Heidegger das in die Abstraktion oder in die Subjektivitt aufgelste, entmchtigte und begriffsverstellte Sein als Sein wieder ins ehrfrchtig durchschtterte Wort kommen lie, weshalb sein Denken dem Aquinaten wahlverwandter und nher ist als eine in abstrakten Lehrbegriffen befangene Neuscholastik. Die innere Verpflichtung an sein Werk spricht fr den Wissenden schon aus der Sprache dieses Buches, die freilich nirgend ein zitierendes Nachsprechen bedeutet, sondern ein sich Einlassen auf jene Tiefe unserer ursprungsmchtigen deutschen Sprache, die diese zu einem erlesenen und unersetzbaren Gef meta-

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physischen Denkens macht. Nach Heideggers Werk ist alles Philosophieren fragwrdig, das nicht demtig aus der Gnade und Macht eines nicht von uns Gemachten, sondern aus menschheitlichem Ursprung Ererbten und rein Bewahrten Gesehenes ins Wort unserer Sprache bringt. Wer nur begriffsterminologisch weiterphilosophiert, soll wissen, da er einer Beirrung ausgeliefert ist, die seit Jahrhunderten whrt und die Knigsmacht des Geistes den haltlosen Sophisten und schlielich den bornierten Fanatikern der Steppe ausgeliefert hat. Mancher Leser dieses Buches, das in keine herkmmlich literarische Gattung einzuordnen ist, wird sich die Frage stellen, ob diese Metaphysik des Kindseins nicht Arbeit und Aufweis der anthropologischen Einzelwissenschaften weithin berflssig mache. Wer in solchen Fragen auf die immer mitfragende Sprache hrt, wird von ihr her die sachgeme Antwort erhalten. Sie werden in der Tat berflssig, sofern sich aus der metaphysischen Erhellung der Kindschaft das Licht des aus Gott kommenden und in seinem schpferischen und begnadenden Leben fortwaltenden Ursprungs in sie ergiet und das von ihnen mit gewissenhafter Mhe Zusammengebrachte so flssig und beweglich macht, da es zu jenen tragenden Grnden zurckfinden kann, denen sich jede Einzelwissenschaft im Entschlu zur Spezialisierung, zur Wesens- und Sachbegrenzung verschlossen hat. Seit diesem abschlieenden Verschlu steht jede Einzelwissenschaft, ob Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Biologie und auch die nicht nur Technik sein wollende Naturwissenschaft in der Unsicherheit aller Seinsund Wesenskategorien, die sie ohne kritische Rechenschaft aus dem durchschnittlichen Reden oder als unverstandene Abflle der Philosophie aufgreift. Die Einzelwissenschaften berflssig machen, heit daher immer, sie aus dem Unbedachten und Unbedenkbaren ihrer Grundbestimmungen und aus ihrem deshalb beranstrengten Treiben zu erlsen. Wenn dieses Buch auch diesen nicht beabsichtigten Nebenerfolg htte, der Zerspaltung und Zerfetzung unseres Wissenschaftsbetriebes zu steuern, so wre es nicht nur dem Heil des Kindes, sondern allen jenen zugeordnet, die in qualvoller beranstrengung als Studierende unserer Universitten und Hochschulen durch das Unverstandene und Halbverstandene von tausend Meinungen gefhrt werden.

Aachen: am Fest Allerheiligen 1956

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I. DAS METAPHYSISCHE WESEN DER KINDSCHAFT

1. Der ontologische Ort der FrageDie Neuzeit hat die wesenhafte Einheit von Mensch und Natur aufgehoben. Die Entschiedenheit, mit welcher DESCARTES den Menschen zur denkenden Sache machte, die sich im Denkakt als solchem und seinen allgemeinsten Inhalten absolut versichert, hat die intelligible Empfngnis, die Vernehmungskraft des Geistes aus dem Blick gerckt. Die Natur aber war fr DESCARTES nicht minder empfngnislos, sofern sie allein durch Bewegung und Ausdehnung wie ein mechanisch determiniertes Allwesen begriffen wurde. Seither stehen daher die absolute Selbstgewiheit des .Subjektes einerseits wie die mathematische Gesetzlichkeit einer All-Natur andererseits in unvereinbarem Gegensatz sich gegenber, so da, um die verlorene Einheit wieder zu gewinnen, bald das intelligible Subjekt die Natur als einen Entwurf des Geistes aus apriorischen Grnden, bald die allgesetzliche Natur den Geist aus ihren mechanischen Wirkgrnden als ein sptes Ergebnis ihrer Entwicklung aus sich hervortreibt. Dabei erweist sich, da die Subjektivierung den Menschen dem objektiven und konstruktiven Systementwurf der rechnenden Vernunft ausliefert, so da die rationale Nivellierung und Kollektivierung des Menschen nur die Kehrseite seiner intellektuellen Subjektivierung darstellt. Die radikalste Kritik der neuzeitlichen Philosophie erwuchs im Denken Martin HEIDEGGERS. Der Mensch ist nicht aus sich selbst verstndlich, weder als Vernunft- noch als Willenssubjekt, weder im Sachentwurf der Wissenschaft oder im Seinsentwurf der philosophischen Systematik noch im Weltentwurf der Technik. Alles dies ist etwas, das sich im Geschick des Seins in geheimnisvoller Abwendung des Menschen vom Einfachen und Gesammelten des Ursprungs erst ereignete und geschichtliches Schicksal der Seinsverkennung und Seinsvergessenheit wurde. Wir wollen hier nicht untersuchen, was diese bedeutungsvollen und tiefen Aussagen vom Sein her sichtbar machen. Sie umreien jedoch den Horizont, in welchem die weittragende Daseinsdeutung von Sein und Zeit gesehen werden mu. Hier hat HEIDEGGER dem Subjektentwurf der Modernen das Dasein als ursprngliches In der Weltsein entgegengesetzt, das sich im transzendierenden Vorlaufen in den Tod geschichtlich in der Zeit als Sorge zeitigt. Es ereignet sich im Welt- und Seinsbezug, der alles Subjektive in der Dimension des ontologischen Entbergens, d.h. der Wahrheit, oder. im abgleitenden Verfall der Irre, in welchem das Dasein das Sein verstellt und ins Uneigentliche des Seienden flchtet, vom Ursprung her berstiegen hat. Bis in die Wurzeln ist es durch geschichtliche Faktizitt und Geworfenheit bestimmt, als ein sich zeitigender Aufbruch zur Eigentlichkeit des freien, angstbereiten Seinknnens, das sich als Sorge in ihrem Ruf als Sein zum Tode verhlt. Je mehr HEIDEGGER ins Walten des Seins selber vorstie, desto mehr erwies sich dieser ursprngliche Daseinsentwurf als vorlaufende und vorlufige Erhellung eines Ausgangs, der noch nicht im eigentlichen Sinne im Dasein das Sein sichtbar machte und daher in seiner Vorlufigkeit nicht als Vermenschlichung der Metaphysik verstanden werden darf. Vielmehr wurde im weltbersteigenden

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Vorlaufen in den Tod und in der sich ngstigenden Freiheit die Welt, das Seiende und das Dasein so in die Schwebe und Fragwrdigkeit des Nichts gestellt, da die eigentlich metaphysische Frage, warum eigentlich Seiendes sei und nicht vielmehr nicht nichts erst mit Deutlichkeit aufbrach.1 Seither hat HEIDEGGER umsichtig und in immer neuen Anstzen diese Ursprungsffnung des Daseins, dieses aufgelichtete Dunkel, d. h. diesen Horizont des Fragens, als solchen umkreist und das Walten des Seins und sein alle Geschichte ermglichendes Geschick in eine ihm geme Helle zu stellen versucht, die aus eigenem Grunde strahlt und das Wort am Ursprung schenkt wie begeistet und durchlichtet. Der vom Sein ermchtigte, zu sich selbst erst auf das Sein hin ereignete Mensch erscheint nunmehr als vernehmender und dichtender, als bekundender und fgender im hervorgehen-lassenden und anwesenmachenden Werk in der Freiheit eines geschichtlichen Waltens aus dem Sein. Immer steht er in der Dimension der verwesentlichenden Enthllung oder des abgewendeten Verfalls, des Seins oder des Scheins, der Wahrheit oder der Irre, die sich nur im Mit- oder Ineinander geschichtlich ereignen. Aber es ist nicht, mehr nur die das Nichts bekundende Angst, sondern zugleich und mehr die Macht einer entschlossenen Erschlossenheit, die im Anwesen des Heiligen oder Gttlichen das Sein wahrt und erffnet. In ihr allein hat das Sein als Sein seine Zu- und Ankunft wie seine Erinnerung. Hlt man sich in dieser metaphysischen Bewegung, so wendet sich die Auflichtung des Seins selbst auf die Hermeneutik des Daseins als angstgestimmter Geworfenheit zurck. Es zeiht diese nicht der Falschheit, aber es stellt sie in die Frage einer mglichen Seinsvergessenheit und Seinsverbergung, die auch das freiheitliche Vorlaufen in den Tod nicht einholt. Das Sein, auch das Entsetzend-Entsetzliche, das Unheimliche und Un-geheure, das aus dem Bergenden und dem gewohnt heutigen heraussetzt, das Einbrechend-Gewaltige ist doch nur fr den Seinsentfremdeten das tdlich ngstigende und Beirrende, whrend es in seinem waltenden Grund auflichtende Helle, ermchtigende Macht, verlockender Glanz, belebende Wonne und rufende Sorge ist, die das Herz, das seine Ankunft besteht, in die Antwort und Verantwortung und damit ins Schicksal eines Gttlichen stellt. Darum walten ber den Tempeln der Griechen und mchtiger in den festlichen gotischen Kathedralen, da das Sein in dieser Erschlossenheit gedacht wurde, auch der Glanz einer seligen Ankunft und die heitere Gelassenheit eines Auftrages aus der Macht des Hohen. Wer des Seins verga, hat den Ursprung verloren. Wir knnen auch sagen, da ein Dasein, das jenseits des Wunderbaren des Aufgangs aus den Grnden des Seins sich nur als Geworfenes im Da der Faktizitt wte, in der Gefahr steht, aus dem Horizont des Seins das unableitbar Zufllige und Tatschliche der Existenz zu artikulieren und das seinsbegrndete Entspringen aus dem Ursprung nicht mehr zu bedenken.1 Wer aber solchermaen Ursprung und Anfang verlre, wre mit seiner un1

Heidegger nennt selbst in Vom Wesen des Grundes die einzig leitende Absicht von Sein und Zeit, den transzendentalen Horizont der Frage nach dem Sein zu gewinnen. Alle konkreten Interpretationen, vor allem die der Zeit, sind allein in der Richtung auf die Ermglichung der Seinsfrage auszuwerten. S. 42. 1 Anm.: Auch wenn man zugibt, da das Dasein durch unableitbare Faktizitt und Geworfenheit, durch wesens- und notwendigkeitsfreie Vereinzelung oder durch kontingente Endlichkeit bestimmt ist, so entsteht die Frage, wie weit und notwendig die erregende Auflichtung dieser unmittelbaren Faktizitt ins Vermittelnde, ins Tragende und Umhaltende des Ursprungs zurckzwingt - so da im geschichtlichen Dasein jede geworfene Faktizitt immer schon berholt ist durch eine ursprungerhellende Deutung und eine Anheimgabe des Daseins aus dem Un-heimlichen an das bergende Geschick, das aus dem Ursprung waltet. Wenn der Mensch ins Dasein tritt und seiner Faktizitt innewird, ist ihm

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berholbaren Geworfenheit der seinsbegrndeten und seinsdurchwalteten Geschichtlichkeit entfallen. Darum wrde der modernen Philosophie der rational schematisierenden absoluten Subjektivitt und ihrem Willen zum Willen (Heidegger) am entschiedensten widersagt, wenn das In der Weltsein des endlichen Daseins auf sein geschichtliches Entspringen und Getragensein befragt wrde. Das aber bedeutete, da die metaphysische Frage nach Ursprung und Wesen der Kindschaft gestellt wrde. Wer sagt, da der Mensch am Ursprung Gottes, des Menschen und der Erde Kind ist, sagt zugleich, da er nicht nur geworfen, sondern vorab empfangen, nicht ausgesetzt, sondern geborgen sei. Er widersagt darin zugleich notwendig allen modernen Anthropologismen, die den Menschen aus dem geschichtlichen Verfall an seinen Naturgrund deuten. Denn der Gott-entsprungene ist am Ursprung kein triebgeladener Machtwille, sondern ein Spiel des Herzens, nicht ein erblindeter Rechner, sondern ein gotterleuchtetes himmlisches Auge, da Gott ihm sein eigenes ins Herz pflanzte; er ist nicht ein triebzerspaltenes Unheil, sondern ein gesammelter, sich aus unerschpflichen Grnden nhrender Feuerherd und eine reine Flamme der Natur. Das Wesen der Kindschaft ist daher nicht von einer besonderen Natur des Kindes her aufzuhellen, wenn man nicht wieder den modernen Subjektivismen verfallen will. Dann freilich scheint es, als baue, wie Frau Montessori in ihrem so wertvollen Buch Kinder sind anders sagt, das Kind die Menschheit auf, was zwar einen wahren Gesichtspunkt enthlt, aber doch dazu verfhrt, mit Berufung auf sie zu fordern, da das Kind wie die Blumen oder die Bume wachse, die nur Nahrung und rechte Witterung brauchen. Alles andere bringt es in seinen Anlagen mit, die es - als seit Urzeit gewachsenes Erbgut - von Samen und Eizelle erhlt, aus denen es entsteht (Flora Scherer : Unser Kind). Die moderne Tiefen-, Trieb-, Charakter-, Typen- und Vererbungspsychologie verschrft ebenfalls die Vorstellung von einem naturhaft vollendeten Subjekt, einer vollendet angelegten Entelechie, die sich unter gnstigen ueren Bedingungen, aus dem inneren Seelen- und Lebenskern als individuelle Organisation wie ein Naturwesen, wie das artbestimmte Tier oder die freiheitlose Pflanze, aus innerer Wuchskraft entfaltet. Die Vermgen werden dann zu instinktgeladenen vorgeprgten Anlagen, in denen alles Sptere schon ein- und angelegt ist, so da es nur, wie die vollendete Knospe im Sonnenschein, aufzubrechen braucht, um das zu werden, was es immer schon ist. Es ist nicht schwer einzusehen, da eine entelechial und inhaltlich durchprgte Seelen- und Vermgensverfassung der transzendierenden Geistigkeit des Menschen, die sich ins Sein bersteigt, zuwiderluft und seine tiefsten Mglichkeiten in Frage stellt. Sie ist in besonderem Mae dem Kind entgegengesetzt, das am Ursprung zwar eine individuelle Natur, aber nichts im Sinne tierhafter Artvollendung von der Gattung her im zureichenden oder vollendeten Mae zu eigen hat.

immer schon die verweisende Deutung der geschichtlich existierenden Erzeuger zuvorgekommen; sie stellt ihn in seiner Vereinzelung in ein aus dem Ursprung her erhelltes Seinknnen, nicht ohne ihn in Aufhebung der Geworfenheit durch frsorgliche Huld und bernahme auf sein Heil hin zu bergen und zu sichern.

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2. Die Zeugungs- und Lebensgrnde des MenschenDie Menschheit wird nicht vom Kinde erzeugt; sondern der Mensch erzeugt das Kind. Die Erzeugung ist ein Werk des gesamten Menschen. Sie ist in ihrer uneingeschrnkten Erstreckung seine hchste, substantiellste, naturhafte Mglichkeit, wofern man sie nicht wesenswidrig auf den geschlechtlichen Zeugungsakt eingrenzt. In diesem waltet nur ein geringer Anteil der zur Erzeugerschaft ermchtigten Liebe des Menschen, wenn auch gem der metaphysischen Einheit der Menschennatur und ihrer substantiellen Liebeskraft in ihm sich die Liebe des Herzens von der Wurzel her bekundet und ins Werk kommt. Darum ist die zeugende Vermhlung nur menschengem, wenn sie Versiegelung und Ausdruck der Herzensvermhlung ist, in welcher die Gatten die je persnliche Natur als Gabe und Vermchtnis bernahmen und dies Einvernehmen als Aufgabe und Wille Gottes in zeitloser Treue versiegelten. Solchermaen bersteigt die zeugende Liebe der Gatten und Eltern in ihrem Wesensgrund die Beschrnktheit der Natur, das Schne und Eigenartige ihrer Erscheinung, die das Herz entzndet, den Eigenwillen der Triebe, die Besonderungen seelischer Prgung und das Spiel des zeitlichen Geschickes. Im Grunde bringen die Gatten im Daseinsraum der Liebe ihre Natur zum Opfer, d. h. zur Aufhebung im Fug und in der Fgung der Gemeinschaft einer Familie, wie sie sie zugleich zu wesenhaften Mglichkeiten befreien. In der Gemeinschaft der Ehe waltet vom Ursprung her ein Geschick, das nur aus der Eintracht der Herzensliebe mit dem gttlichen Grund der Natur angetreten werden kann. Es mu in der Bereitschaft bernommen werden, den Vollzug des Lebens in ihm zu halten, d.h. sich gegenseitig in ihm zu bergen und auf ihn hin wachzuhalten. Also entspringt die zeugende Liebe einer vermhlenden, in Gottes Walten sich einbettenden Empfngnis und reift so erst zu Wesen und Auftrag menschlicher Erzeugerschaft. Immer bersteigt sich daher auch die Liebe in der Zeugung in die Tiefen der gattunghaften und der individuellen Natur wie in die gttlichen Lebensgrnde, deren der Mensch in seinem bewuten Vernehmen, Wissen und Wirken durchaus unkrftig ist. Er kann nur erwecken, nicht wissend um die Mitgift seines persnlichen Lebenserbes, so da er selbst in der Empfngnis eines Kindes in der Menschennatur ein empfangender, erwartender ist. Er ist der demtig aus sich selbst beschenkte, wie es seinem metaphysischen Wesen entspricht, das schlechthin ermchtigte Empfngnis ist. Darum ist das Kind in jedem Betracht Gabe und Empfngnis. Es ist empfangen in seiner eigenen Natur, die es zu sich kommen lt, in der es bewutlos heranreift. Es ist des weiteren empfangen im Scho der Mutter, in der demtigen Erwartung des Vaters, im Empfngnisakt der Zeugung und der Herzensvermhlung der Eltern, im Walten der dunkelen Erbschaft der menschheitlichen Natur wie in der Empfngnis aus gttlichen schpferischen Grnden. Und dennoch ereignet sich nichts, das nicht auch in seinen tiefsten verborgenen Werdegrnden wurzelhaft bestimmt wre durch die selbsturschliche Freiheit, sei es der Eltern oder Ureltern, und als Geschick und Auftrag in Freiheit bernommen werden mu. Darum ist der Mensch in seinem Sein eine geheimnistiefe Einheit von Freiheit und Empfngnis; er erzeugt sich ganz und kommt nur zum hervor-

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bringenden Vollzug oder Mitvollzug dieses Ganzen, indem er sich in Freiheit empfngt und bernimmt, sei es, da er dies als Kind oder als Vater und Mutter vollbrchte1 . Denn wie das Kind seine individuelle Natur und sein Dasein in allen vorgegebenen Bedingungen bernimmt, so bernehmen es zugleich die Eltern, um es in dieser liebenden bernahme erst ins Walten, Wachsen und Reifen kommen zu lassen. Was Erbe ist, wird so nicht determinierende, ntigende Natur, sondern im dauernden Vollzug der bernahme, der Fgung und Fhrung der tiefste Grund der Mglichkeit der Freiheit. So wie der Mensch ist, ist er durch Natur; aber eigentlicher und wesenhafter ist er er selbst zugleich im Entwurf, im Gericht und in der Verantwortung seiner Freiheit und im freien Walten der ihn zur Freiheit fhrenden Liebe. Die Empfngnis des Kindes ist ein Aufbrechen liebenden Lebens, einer wundersamen Macht, die das leibliche Reifen des Embryo durchseelt. Sie ist das Erwachen einer wrmenden Herzensglut der zur Mutterschaft erweckten Gattin. Sie hllt das werdende Leben in ihrem Scho als ein persnliches inniges Geheimnis ein und trgt es in Hoffnung und Erwartung dem Licht und der Ankunft entgegen. Jene tragende Innigkeit der Liebe, ihre versehrbare Zartheit, die Erkrankung an berreichem Segen, Bedrftigkeit und Reichtum zugleich, bereignen das Geschehen zugleich der Sorge des Gatten und wandeln die Liebe des Erzeugers in die Verantwortung und mitfhlende Zartheit vterlicher Liebe. Diese Liebe ist da, wo sie echt waltet, von einer zarten, kontemplativen Schaukraft, je mehr das Geschehen der eigenen Natur entzogen ist. Sie schliet das Ganze von Mutterschaft und Kindschaft ins Gemt ein und ist von Dank, von Sorge wie von Ehrfurcht zugleich erfllt. Auch hier brechen Quellgrnde in der Herzenstiefe auf, von denen der Mann und Gatte nichts wute, die er meist verschmt verschweigt, whrend sie in Wahrheit seinem Leben, Wirken und Wollen ein neues Gewicht und substantielle Tiefe gewhren. Es ist die wesenseigene Kraft der Vaterschaft, das Geheimnis des werdenden Lebens, dem die Mutter in wirkender, ttiger, bergender und nhrender Frsorge zugeordnet ist, im vterlichen Gemt eingehllt zu bewahren und in gewhren-lassender Freiheit anzuschauen. Jene Einheit von einwebender Innigkeit und seinlassender, gtig schenkender Freiheit ist die schpferische Kraft des mnnlichen Gemtes, das den Lebensgrnden in der eingehllten Zartheit ihres Reifens und der Anmut huldreichen Waltens geffnet ist. Dem Manne ist es gegeben, das Innige in der Schaukraft seines Geistes zu bewahren und es im Kunstwerk zu gestalten, whrend all dies das Herz der Frau primr zu ttiger Frsorge und Hingabe bewegt. Das empfangene Kind entriegelt mit dem eigenen Leben die Herzenstiefen und den Brunnquell der mtterlichen und vterlichen Liebe. Seine Empfngnis ist Begeistung und Ermchtigung; es bringt die Mehrerschaft der Eltern (Autoritt), deren es bedarf, im ursprnglichsten und eigentlichsten Sinne selbst mit hervor und beschenkt sie mit jener Wonne und Freude, in deren Wrme, Helle und berschwang allein es in gemer Weise ins Leben treten kann. Es ruft die Eltern zugleich in die Sorge fr das kommende Leben. Auch hier waltet mehr als eine naturhafte oder eine triebhafte Neigung, die das einzelne Lebewesen als solches umspielt. Was das Ge-

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Vgl. hierzu: Der Mensch und sein Leib, vom Verfasser S. 65/66

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heimnis gro erscheinen lt und die Herzen in ehrfrchtigen Tiefen bewegt, ist das mitwaltende Geschick des Seins. Denn im Kinde geht die Natur aus ihren gttlichen und unergrndlichen Tiefen herauf, wie mit ihm zugleich die Frucht der in Gott vermhlten Liebe erscheint. Diese ist zwar gewollt und erwnscht, aber in keinem Sinne ein Gemchte des werkenden Willens, sondern eine erweckende Erzeugung im Empfngnisscho der Liebe. In ihm reift ein menschheitliches Erbe von Anbeginn als die Naturmitgift der Eltern als eine harrende Potenz der gttlichen Geist- und Seelenform entgegen. Die durchdringende Einigung der himmlischen und naturhaften Grnde ist (wie das Menschengeheimnis von Empfngnis und Freiheit) ein zweites undurchdringliches metaphysisches Geheimnis. Der allgemeine Seelengrund besondert sich auf die Natur hin und fgt diese gem ihrer individuellen Durchprgung zur Einzigkeit und Einheit eines persnlichen Wesens. In allem aber, was aus gttlicher reiner Tiefe ins Walten kommt, durchstimmt die Wurzel- und Herzkraft der Natur oder die erzeugte Potenz des neuen Menschen die Wesensform im Ganzen ihres Daseins zu individueller Einzigkeit, so da der Mensch im Ganzen dessen, was er ist, aus Gott wie aus dem Menschen wird. Der Akt der Form durchdringt einigend die Potenz der Natur, diese aber erschwingt in tragender Empfngnis den Akt1. Diesem Geheimnis entsprechend wird die Liebe der Eltern vom Kinde her in die Erinnerung des ganzen Daseins gerufen. Nie wieder wird die eigene Kindschaft und die Herkunft aus der liebenden Sorge der Eltern bei den Erwachsenen tiefer erweckt, so da die Mutter- und Vaterschaft sich innerlich eint mit dem goldenen Strom an Liebe (Stifter), der von den Ureltern her als schtzender, hegender Genius die Generation durchwaltet und die Sippe im Stammesgrund der Elternschaft verwurzelt. Eine feinsinnige Ehrfurcht und ein zarter Dank verweht Mutterschaft mit Mutterschaft und verbindet verschwiegen das Vterliche mit den Vtern, um aus solchem frommen Mitsein und solcher opferbereiten Ergebenheit allein zu Hoheit und Huld, zu Demut und Dienst, zur Freiheit und Verantwortung zu wachsen. Das Kind wird also aus der Empfngnistiefe der Generation, aus dem gottverbundenen Gewissen, wie aus der persnlichen Liebe der Eltern empfangen. Dieser Empfngnisgrund ist daher keineswegs, wie die moderne Psychologie des erkrankten und miratenen Lebens (denn dies ist sie nach Herkunft und Wesen) ein unbewutes Wuchern jenseits eines verengten und verkmmerten Bewutseins, sondern die innere Helle und Weite jeder wurzelhaft gediehenen Liebe, die zur Mehrerschaft und demtiger Herrschaft ber das kommende Leben gerufen wird. Darum sind Mutterschaft und Vaterschaft kein selbstischer Trieb, dem man das berma genieender Selbstbefriedigung wehren mu, sondern im Wesen ein Aufbruch der ganzen Natur in die Freiheit einer Aufgabe des Lebens. Wie in der Erzeugung die Natur zur Hervorbringung der Frucht sich bersteigt, so bersteigt sich auch das Herz in einem einzigen ekstatistischen Akt, sowohl in der Erinnerung, der eigenen Kindschaft, in der Demut frommen Empfangens eines gttlichen Geschicks als auch in der frsorgenden Erwartung. Die Einkehr ins Innige des tragenden Herzraumes ist daher auch zugleich eine einigende und weitende Fgung in ein menschheitliches Vermchtnis, das mit den Mttern, den Urkrften des Daseins, verbindet. Es gehrt oft zum Hochmut miratener Bildung, da, wo die reflektierte Auskunft - vielleicht in der Sprache der Wissen-

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Vgl. S. 65-67, Der Mensch und sein Leib vom Verfasser

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schaft - nicht gegeben wird, auch die waltende Tiefe wachen und wissenden Lebens nicht anzuerkennen. Wo das Leben jedoch fromm, entschlossen und liebend gelebt wird, gewinnt es eine Erfahrung des Wesenhaften wie der Entartungen des Daseins, deren Urteilskraft von wissenschaftlicher Reflexion nur mhsam oder gar nicht erreicht wird. Es ergibt sich aus dem Gesagten, da menschliche Neigungen keine instinktgerichtete Ntigungen der Natur sind, sondern ein geistig-menschliches Ereignis, das aus seiner Geschichte her vom Walten sittlich und glubig gelebten Lebens Gestalt gewann und im Gewissen der Fhrung aus Freiheit und dem Anruf aus den Tiefen des Seins und Daseins unterworfen ist. Die Empfngnis des erweckten Lebens ist daher zugleich frsorgliche Wartung und Erwartung, die dem kommenden Leben zuvorkommt und ihm das schtzende, bergende Haus, die geordnete Wohnstatt, die hegende Wiege des Schlafes, das wrmende, schmckende Kleid und die Nhrsttte der Familie bereitet. All dies ist nicht eine zufllige Zugabe, sondern der wesentliche Grundakt des Daseins, das zur Pflege des naturhaften Lebens ins Werk kommt. Die Pflege des Hauses und des Kindes ist mit der Bebauung des Ackers und der Errichtung und Waltung des Tempels ein Grundgeschehen der menschlichen Kultur und kennzeichnet sie im Wesen. Der Mensch auf der Erde ist auch der Bauer seines Hauses, des schtzenden Daches wie der bergenden Stube und der Nhrwirt des Lebens, das er in tglicher Frsorge dem umdrohenden Tode abringt. Was er in Bau und Arbeit vollbringt, ist die Wehr und Abwehr des Todes und des notvollen Chaos, dem er sein Dasein, die Freiheit seiner Entfaltung, die Sttte seines innigen Versammeltseins, die Ruhe und den Frieden des Wohnens entwindet. Dieses Selbstverstndliche und Ursprngliche wird immer wieder bersehen. Psychologen fragen nach kollektiver Erbschaft und unbewuten Triebpotenzen und leben dabei oft vllig im Unbewuten ber die das Dasein der Menschen tragenden und fgenden Grundakte. Die elterliche, empfangende Frsorge aber hat das Haus gebaut. Wie die Mutter in Hoffnung ist, wenn sie das Kind erwartet und, wie das Wort sagt, in hoffender Erwartung einem Unbekannten ahnend und sorgend vorauseilt, so kommt dem Kinde der sorgende Entwurf der das Haus ihrer Liebe bauenden und bereitenden Eltern zuvor. Es ist in seiner Sammlung, seiner Ordnung, Helle, Weite und Ruhe ein Geschenk der zeugenden Liebe an die Zukunft ihrer Empfngnis, ohne welches das Kind ins Verderben gestellt wre1.

3. Die Personalitt des KindesDas Kind selber tritt, kommend aus gttlichen und menschheitlichen Tiefen, mit Recht und Anspruch seiner Seins- und Wesensgrnde ins Dasein. Man sagt, es trete als metaphysische und rechtliche Person ins Leben, und zwar schon am Ursprung seiner Empfngnis im Scho der Mutter. Diese Personalitt ist nicht das Fr-sich-sein der Individualitt oder eines sich wissenden oder fhlenden Bewutseins, sondern nach den Aussagen einer theologisch gefhrten Metaphysik das denkend zu sich selbst kommende1

Vgl. Siewerth: Das Haus des Menschen, Mitteilungsblatt der Pd. Akademie Aachen, 1950

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Insichsein eines grndenden Seins- und Wesensaktes (Subsistentia). Was Selbstbewutsein, Selbstfhlen, denkendes Vermgen an ihm ist, entspringt einem Tieferen und Tragenden, wodurch es, Anteil habend am Sein selbst, eingegrndet ist in eine waltende Aktualitt, die in ihrer wurzelhaften Tiefe und Hhe unmittelbar von Gott belebt und bewegt ist. Kraft dieses Lebens und Lichtes ist der Mensch zur Wahrheit und zur Gte und als deren Folge zur Selbsterkenntnis und zum personalen Bewutsein befhigt und ermchtigt. Aber dieser metaphysische Anspruch und Anruf der Person des Kindes ergeht nur in einem geistigen Raum, in dem es keine naturhafte Ntigung, sondern nur den Gewissensimpuls aus Freiheit und die freie bernahme des Gesollten gibt. So ergibt sich an einer dritten Stelle ein menschheitliches Mysterium, da das, was gttlich begrndeter Anspruch, unabdingbar forderndes Recht ist, dennoch nicht als herrische Ntigung, sondern als Ruf an die geneigte Liebe ergeht, die das Gesollte im berschwang der Erfllung in die Gabe ihres Lebens verwandelt, das aus Freiheit dem Guten geweiht und aus Liebe ins Opfer gestellt ist. Man kann daher nicht das Kind an sein Recht und die Eltern an ihre Pflicht erinnern, ohne zugleich zu bedenken, da Pflichterfllung in ihrer sittlichen Wesenstiefe aus einem von Grund aus unmebaren, berschwenglichen Ja zum Guten entspringt, weshalb das Kind nur in demtigem Dank das Walten der elterlichen Liebe in angemessener Weise empfngt. Denn auch hier gilt: Was gttlich und naturhaft ins Walten kommt, ist nicht ntigende Gewalt, sondern ereignet sich zugleich in der Freiheit eines rufenden und beauftragenden Geschickes und im zuvorkommenden Ja berschwenglicher Liebe. Solchermaen wird das Kind im Ganzen seines Daseins als Geschenk Gottes und der Menschheit wie als Frucht der elterlichen Liebe empfangen. Es wird nicht von instinkthaften Trieben begehrt, sondern wesensgem aus einer Liebe erhofft, die durch das Licht Gottes und des Gewissens, durch die Kraft urvterlicher Erbschaft und durch den Enthusiasmus und die Wonne brutlicher und gattenhafter Vermhlung zu sich selbst aufgelichtet, begabt und ermchtigt ist. Dennoch tritt das Kind als machtvolles Wesen hervor; wie es die Herzensgrnde der Eltern aufbricht, den Leib der Mutter durchwohnt und beansprucht, wie es schmerzbereitend ans Licht drngt, so erweckt es auch die gttlichen Grnde des Gewissens und die heilige Kraft sittlicher, schenkender Frsorge. Wo immer ein Kind hilfesuchend in irgendeiner Not auf den reifen unverdorbenen Menschen trifft, bringt es auch die Macht eines Anspruchs mit und bewegt die Herzen. Trotz seiner personalen Vollendung tritt das Kind als menschlich empfangenes Wesen so bedrftig ins Leben, da es sich selbst erst durch die erzeugend waltende Liebe empfangen mu. Dieser Verhalt wird von einer Spontaneitts- und Aktivitts-Psychologie, nicht minder von der Anlage- und Erbseelenlehre verkannt. Man bersieht die Lebensgrnde, von denen die Aktivitt ermglicht und getragen ist, und deutet die transzendentale Entfaltung des Geistes- und Herzenslebens in subjektivistische Vollzge um. In Wahrheit ist das Kind ein Lebensakt von tiefer Potentialitt, die bis ins Zentrum des Herzens hinein reicht.

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II. EMPFNGNIS UND ERWECKUNG DER KINDSCHAFTCharis charin gar estin e tiktous aei SOPHOKLES

Huld nmlich ists, die Huld erzeuget immer

1. Die Liebesgemeinschaft von Mutter und KindDas Kind ist nicht nur Teil der Eltern, sondern die himmlische Frucht und Aufgabe ihrer Liebe. Denn die Menschwerdung ist weder mit dem Akt der Zeugung noch mit der Geburt abgeschlossen, wie sie auch mit ihr nicht beginnt. Schon die Ruhe des Embryo im Mutterleib, in der seelenhaften Schowrme des Lebens, ist kein unbewuter vegetativer Proze, sondern ein durchfhlter seelischer Vorgang von wurzelhafter Tiefe. Das Leben atmet, nhrt sich und ruht gelinde eine lange segensvolle Nacht der Ruhe im gesicherten Grunde. Es ist in seiner Wurzeltiefe beschwichtet in wohlig warmem Schlaf. Immer wird das Kleinkind in die angstbeschwichtigte Ruhekammer des Lebens, in den mtterlichen Herzund Nachtraum zurcksinken, wenn es in erquickendem Schlafe sein Leben erneuert und aufbaut. Darum ist die harrende Lebensgeduld, die Herzensruhe und beschtzte Sicherheit der Mutter eine verschwiegene Mitgift an das Kind. Auch seine Ruhe ist Gabe und Vermchtnis der sittlichen Tugendkraft der Liebe, in der die Gatten vertrauend ineinander ruhen und sich den Frieden des Heimes schenken. Sie lt das Kind nicht nur heranreifen, sondern der hoffenden Erwartung sich entgegen-fhlen in einem innigen Einvernehmen der Lebensgrnde. So sind Mutter und Kind nicht nur physisch, sondern bis in die fhlendwebenden Seelentiefen hinein eine Lebens- und Liebesgemeinschaft.

2. Das Geheimnis der GeburtWas sich in der Geburt selbst ereignet, ist ein tiefes Geheimnis. Wie jedes Opfer verpflichtet und bindet, so sind auch die Wehen der Geburt wie eine vorwegnehmende Einweihung in den Opferakt der mtterlichen Selbstverschwendung an das Kind, das in ihren Schmerzen in den Herzraum des Fhlens eindringt und als ein erlittenes Kleinod der Liebe wie von Flammen der Liebe und des Schmerzes eingehllt und angeeignet wird. Das Kind selbst aber berschreitet eine Schranke, wie es sie im spteren Leben nur noch an der Todesgrenze zu durchschreiten hat. Maria Montessori hat diesem Vorgang in dem oft genannten Buche Kinder sind anders erregende Betrachtungen gewidmet. Ja, whrend er (der neue Mensch) noch nicht existierte, schlug sein Herz schon doppelt so schnell wie andere Herzen schlagen. Und ich wute, dies war das Herz eines Menschen. Und jetzt tritt er heraus. Verwundet von Licht und Ton; erschpft bis in die letzte Fiber, nimmt er alle Arbeit seines Daseins auf sich. Und er stt einen Schrei aus: Warum hast du mich verlassen? Und es ist das erste Mal, da der Mensch in seinem Dasein den sterbenden Christus wie auch den Christus der Auferstehung widerspiegelt.

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In der Tat ist die Geburt wie ein Sterben, wenn man bedenkt, da das Kind Nahrung, Wrme, Umgebung und Atmung verliert und alle seine Sinne und wesentlichen Organe wie Lunge, Mund und Glieder mit einem Male einem Ungewohnten und Unbekannten von erregender Heftigkeit ausgesetzt sind. Htte es ein Bewutsein dieser Vorgnge, es schriee im ersten Schrei des Lebens in der Tat wohl seine Todesangst heraus. Sicher aber ist sein zartes Fhlen noch lange von dem Ungeheuren des neuen Andrangs durchschttert, da man wohl die Forderung von Frau Montessori verstehen und nachdrcklich betonen kann, ein so bermig angestrengtes und heimgesuchtes Wesen nicht wie ein unfhlendes Tier, sondern wie ein krankes, ermdetes und nach Liebe drstendes Wesen mit liebreicher Zartheit zu behandeln. Sie schreibt: Die Weise, wie wir ein neugeborenes Kind berhren und bewegen, die Zartheit des Gefhls, das es uns einflt, lt mich an die Gebrden denken, mit denen der katholische Priester die heiligen Gegenstnde auf dem Altar handhabt... Und alles das spielt sich in einem stillen Raum ab, in dem das Licht nur durch farbige Glser gedmpft einzudringen vermag. Ein Gefhl der Hoffnung und der Andacht beherrscht den heiligen Ort. hnlich sollte die Welt aussehen, in der ein neugeborenes Kind lebt. (Kinder sind anders. S. 41).

3. Die Selbstempfngnis des KindesDieses Neugeborene, das bisher in der Empfngnis der eigenen Natur im Walten des Naturerbes und der ausformenden Seele zur Einheit eines fhlenden Herzens heranwuchs, hat sich geistig und seelisch selbst zu empfangen. Es ist zunchst ein eingehlltes und zugleich ein sich selbst entuertes Leben, dem die Lebensregungen, die Grundvermgen und das eigene Dasein erst zuwachsen mssen. Es mu das eigene Leben erfahren, sich selbst erinnernd empfangen, um seiner in der Erinnerung wie auch im eigenen Lebensgrunde mchtig zu werden. Nur im fhlenden Herzen ist es aktuiert, so da es sich aus dieser Lebensmitte her mit allem, was es an bewegenden Potenzen besitzt, anspannt, wenn es von einem Reiz angestoen oder angelockt wird (Lewin). Erst spter lernt es, mit einzelnen Gliedern sinnvoll auszugreifen und den Raum auf ein Ziel hin zu durchgreifen. Man mu auch hier das wunderbare Doppelgeschehen ins Auge fassen, mit dem wir auf ein groes metaphysisches Geheimnis des menschlichen Daseins stoen. Es ist im Ganzen seines Ursprungs unmittelbar gesetzte und gefgte Natur, ein Organismus von feinster Durchgliederung mit vielseitiger sinnlicher Empfngnis- und leiblicher Bewegungskraft und wird doch erst als eigenes Leben im Akt sinnenhaften Gewahrens und Bewahrens in die Erinnerung bernommen und zugeeignet, aus der es wieder hervorgeht. Dabei ist es nicht das Kind selbst, das sich gewinnt, sondern es erhlt sich im Geschehenlassen seines Lebens, im pflegenden Umgang und in sinnvoller Lebensfgung zugleich als Gabe von der elterlichen und geschwisterlichen Liebe zu eigen. Das Leben lebt sich so tief ein, wie es eingelebt, in den Vollzug gelockt und helfend gefhrt wird. Darin wird es ursprnglich in sich selbst gesammelt und gewinnt sich im durchfhlenden Fokus seines immer schon aktuierten Herzens. In diesem Funktions- und Lebensgedcht-

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nis grndet sich das Dasein in der Herzmitte seines Lebens ein, deren Strung das geistige und persnliche Wachstum in Frage stellt. Dieses Lebensgedchtnis ist als Anfang die vollendete Mitte des Daseins, zeitentrckte Selbstgegenwart in der Grundgestimmtheit milder Gelassenheit, in die das Dasein aus jeder ekstatischen Erhebung oder niederdrckenden Beschwernis wieder zurckschwingt. Aus diesem Mittleren an gelinder Ruhe wird das geschichtliche, der Zeit berantwortete Dasein erst gezeitigt, wie es in ihm als einem Grundgefhl verwurzelt bleibt. Durch diesen substantiellen Frieden kann der Mensch seine Freiheit in allen Strmen der Entzckungen und der ngste bewahren, weil er sich im Gleichma seiner Herzensruhe wiederfinden, sich in sich sammeln und so zu sich zurckkehren kann. Dabei ist das zu sehen, was die Philosophie als die intentionale, den eigenen Akt transzendierende Erstreckung alles Gewahrens, Handelns und Fhlens bezeichnet. Das menschliche Dasein ist von der Wurzel her nicht bei sich selbst, sondern entuert, so da es sich nur aus einem Jenseitigen seiner selbst zurckgewinnt. Im Schoe der Mutter wird nun im Akt der Generation, d. h. der Naturauszeugung, die sinnliche Empfngniskraft des Herzens in allen Verzweigungen der Sinnesorgane vollendet.1 Diese unerhrte Lehre des Aquinaten wei diese Krfte im Zustand hchster Wirkbereitschaft und in erweckter Empfngnisoffenheit, so da es frderhin keines Aktes mehr bedarf, der aus dem Innern einer Potenz entspringt. Vielmehr ist im Innern der Natur alles schon geschehen, was das Dasein aus seinem Grunde hergeben kann, auf da die Sinne zum Leben kommen. Sie sind auerdem in der leiblichen Ausbreitung der Organe rumlich ausgefaltet und stehen in rumlicher Offenheit im Walten einer Welt, in die sie entrckt sind und von der sie in den Akt des Gewahrens gekommen sind. Denkt man dies gewahrende Inder-Welt-sein des Menschen auf seinen Lebensgrund hin, so ist der Embryo im Gela des Lebensschoes in seinem leisesten traumhaften Gewahren und Empfinden seiner Sinne ganz dem einhllenden mtterlichen Leben an- und eingefhlt, das ihm in seiner liebevollen Wrme die Welt vertritt. Der urtmlichste Inhalt der Sinne wre in ihrer wesenhaften Transzendenz damit ein Akt bergender, wrmender Liebe. Die Wrme, sagt Victor Poucel (in: Gegen die Widersacher des Leibes), ist nicht allein Spenderin des Lebens, sondern auch der Zrtlichkeit; die Wrme steht mit der Liebe im Bunde. Ist es nicht wundersam zu denken, da der Ursprung sinnenhaften Gewahrens beim Menschen in bltenhafter Zartheit von der Liebe her erfllt ist? Die Sinne sind also, wenigstens am Lebensursprung, wie. einst im Paradies Empfngniskrfte der Liebe.

4. Die waltende Liebe und die Welt des KindesSie sind es auch noch beim neugeborenen Kind. Das ewige Nachgerede von der Umwelt des Kindes, durch die es zu spontaner Aktauslsung kommt, ist eine peinliche Verkrzung des Eigentlichen im menschlichen Dasein. Denn das Kind ist in seinem Herzensgrunde nichts anderes als ein zartes Glimmen der Liebe, das durch Liebe ins Leuchten und zum Leben kommt. Das In-der-Welt-sein des1 Vgl. die Metaphysik der Erkenntnis vom Verfasser, Oldenbourg, Mnchen, ferner: Die transzendentale Struktur des Raumes in Mlanges Marchal, Louvain und Paris.

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Kindes ist in Wahrheit eine Weise, bei und in der sorgenden Liebe der Erzeuger zu sein. Seine Welt ist das Walten der elterlichen Pflege, in die es entrckt wird, in solchem Mae, da ihm sein In-der-Weltsein ganz und ausschlielich aus der frsorglichen Huld der Eltern geschenkt wird, die ihm vorher Heim- und Lebenssttte bereiteten. Wie das Kind aber durch die Sinne in die Landschaft seines Lebens entrckt ist, so kommt es metaphysisch frher durch die Liebe seines Herzens ins Verstehen. Was es aber versteht, ist nicht eigentlich sein vitales Gengen, sondern es wird in ihm der waltenden Frsorge inne, ohne die es solches Gengen nicht gibt. Gibt es denn Nahrung ohne die umarmende Innigkeit der Mutter und ohne physische Vermhlung mit ihren Brsten, gibt es Wrme, ohne da sie leiblich gespendet oder durch Umhllung bereitet wird, Ruhe, ohne das Geschenk des Einbettens, das Wohlgefhl der Frische ohne frsorgliche Reinigung und Waschung, gibt es das Gefhl der Geborgenheit ohne den geordneten Rhythmus pflegender Wartung? All dies erfhrt das Kind, whrend bald der holde Schatten und bald das helle Antlitz der Mutter und die Gestalt des Vaters ihm erscheinen. Es atmet in ihren Rumen, erfhrt ihr zartes, einfhlendes Kosen, ihre einschlfernden oder erweckenden Worte, das sanft berwaltende ihres Kommens und Gehens - lange bevor es auch nur im geringsten um sich selber wei. Wir wissen nicht, welche Durchfhlungskraft ihm eigen ist - aber die Psychologen der Urerbschaften sollen auf der Hut sein, da sie nicht das ungehemmte Durchfhltwerden mit den Bildern und Lebenstiefen des reifen Lebens, also das Urgedchtnis des anfnglichen Daseins mit solcher Mitgift verwechseln. Bevor also das Kind sich ins eigene Gedenken und Erinnern bernimmt, gewinnt es sich als Geschenk der besorgenden Liebe, in deren Wrme und Strahlkraft es selbst zur Liebe erwacht, deren sanften und holden Ruf es vernimmt. Wo diese Liebe waltet, bersteigt das Kind am Ursprung alles sinnliche Gengen und Genieen in der Erfahrung der schenkenden Huld und sieht diese selbst an, bevor es sich selber sieht. Reift es so heran, so berwchst sich sein scheinbar sinnliches Erfahren ins Sittlich-Schne schenkenden Gewhrens, das es selbst in spontaner Freiheit vollzieht. Wunderschn erfuhr ich dies bei einem Kind von acht Monaten, das noch nicht der Sprache und des Gehens mchtig war. Das erste Stcklein Schokolade, das ihm von der Mutter auf die Zunge gelegt ward, empfing es mit einem seligen Lcheln; dann aber holte es sich das Stcklein wieder aus dem Mund und berreichte es berglcklich dem Vater, der, nachdem er Freude und Mitgenu bezeugte, es wieder zurckgab. Wieder war die Wonne an einem neuen Lcheln sichtbar, aber noch einmal wurde das Genieen unterbrochen und der Mutter das klein gewordene Stcklein zurckgereicht, damit auch sie ihren Anteil habe. Was diese Erfahrung bezeugt, ist dies, da die Schokolade nicht als solche empfangen wurde, sondern als Ausstrom und Gabe gewhrender Liebe. Diese selbst wurde ins Herz aufgenommen und konnte daher in Freiheit weitergeleitet werden. Lange Jahre hindurch hat dieses empfindungszarte und leidenschaftliche Kind nichts empfangen, ohne sofort ans Schenken zu denken, und hat im Alter von 14 Monaten wochenlang eine Praline aufbewahrt fr den von Reisen heimkehrenden Vater. Dieses liebenswrdige Geschehen wre nicht mglich, wenn das Kind nach dem rohen Modell als vorab sinnliches Wesen begriffen wird. Es kann nicht grber miverstanden werden. In Wahrheit ist es am Ur-

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sprung nichts als eine selige Flamme der Liebe, von der her es das Leben versteht. Nur wenn ihm die Liebe versagt wird, werden die Inhalte der Sinne ihm kostbar und wichtig, weil sie isoliert erfahren wurden und das Herz in ihnen allein sein Gengen finden mu. Was Maria Montessori erzhlt, da gesammelte, ttige Kinder nicht naschen, kann man am frhesten Ursprung besttigt sehen, wenn das Kind in der ihm gemen Weise ins geistige Leben gerufen wurde.

5. Das Leben des Kindes als Gabe der LiebeWeil das Kind solchermaen von sich selbst auf die Eltern hin entrckt ist, wird ihm sein Leben und sein Selbst zur Gabe zeugender Liebe. Dies ist der metaphysische Grund fr die wesenhafte Erkenntnis, da der Mensch den Menschen auch in seinem geistig-seelischen Leben erzeugt. Das Kind ist im Wesen eine Herzensantwort auf den Anruf der Liebe. Gewi lernt es, so ihm die Eltern das Spielding schenken, an ihm das Greifen, Halten und Haschen, aber die ersten starken Bewegungen, das angespannte Strampeln und sich Entuern erfolgt doch auf den Anruf und im Beisein der Eltern. Dies knnen alle erfahren, die das kleine Wesen bewundernd und anerkennend anrufen, und sei es mit Worten, die es nicht versteht, deren Musik, Innigkeit und Nachdrcklichkeit ihm aber ins Herz dringt. Wie es dann auer sich gert und sich wie aus der Mitte seines kleinen Leibes stemmt und alle seine unbeholfenen Vermgen gesammelt ins Spiel zu bringen sucht ! Darum liegt Wahrheit in dem grausamen Bericht ber das Experiment des Kaisers Friedrich II., der Kinder isolieren lie, um ihre Entwicklung im Raum beziehungslosen Schweigens und unpersnlicher Einsamkeit kennenzulernen. Sie seien alle nach kurzer Zeit gestorben, weil ihnen die Liebe, das Lebenselement der Herzens und der Seele, die auszeugende Kraft des Lebens entzogen worden war. Die Liebe aber dringt durch zum Grund der Seele und begabt die Kinder mit ihrer Kraft und Tiefe. Liebevolle Eltern mgen hier Ungewhnliches erfahren. Ein halbjhriges Kind, dessen Vater drei Wochen abwesend war, stie nach seiner Rckkehr ein nicht endendes, selig jubelndes Ho, Ho, Ho aus, da die Eltern von diesem unerwarteten Ausbruch tief erschttert waren. Wie tief hatte sich wohl das Bild des Vaters dem kleinen Herzen eingeprgt! Welches Vermissen und welches Erwarten mag das stumme Whnen und Trumen des kleinen Wesens durchzittert haben! Galt denn nicht schon auch von diesem Kinde, was man von den reiferen wei, da das, was als Liebe liebend erfahren wurde, dem Gedchtnis sich unauslschlich einprgt und seine vergegenwrtigende Leuchtkraft ein Leben lang in der Einbildung bewahrt. Im Grunde besttigt sich dies nur aus eigener Erfahrung. Ich sehe heute noch mit andachtsvoller Ergriffenheit das Bild meiner Mutter vor mir, als sie mit Trnen in den Augen eines Morgens in das Zimmer eintrat, in dem ich auf einem Sthlchen sa. Dieses Antlitz ist mir ein Leben lang Inbegriff seelenvoller Hoheit geblieben. Ich erfuhr zugleich, da die Gromutter gestorben sei. Durch den Eindruck der mtterlichen Erscheinung haftete dieser Vorgang als etwas ganz Ungewhnliches, Ernst-Bedeutungsvolles mir

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im Gemte. Ich habe immer geglaubt, ich sei vier oder fnf Jahre alt gewesen, als ich dieses Erlebnis hatte. Erst als ich das Todesjahr meiner Gromutter spter im amtlichen Ahnenausweis las, sah ich mit Betroffenheit, da ich zwei Jahre alt war, als dies geschah. An seiner hellsichtigen Deutlichkeit hat sich bis auf den heutigen Tag kein Zug verndert, so da diese hohe, tief bewegende Vision ein ganzes Leben hindurch waltete. Es ist kein Zweifel, da dieses Bild so nachdrcklich ins Bewusein und Gedchtnis trat, weil es hervorwuchs aus einem innigen Einvernehmen der mtterlichen und kindlichen Liebe. Es war wie ein Aufgang, der in seinem Kommen die Grundtiefen des kindlichen Herzens aufschlo, so da die innerste Schau -und Herzkraft der kindlichen Liebe erweckt und hellsichtig ins Erhabene entrckt wurde. Wohl nur, weil die Mutter im Schmerz zugleich gefat und gesammelt war, war es mglich, da das in ihr geborgene Kinderherz sich geffnet ihrer Erscheinung darbot, so da das Ungewhnliche, Hohe und Ernste nicht schreckhaft das Gemt abschlo und das Erleben sich flchtig ins Vergessen wendete, sondern als Walten der Gte selbst erfahren und im Gedenken als Inbegriff und offenbarende Erhhung des schon lange Erfahrenen festgehalten wurde. Aus diesem Vorgang erhellt, welche Genien das Kind ins Leben rufen, in welche Tiefen es durch die gttliche Schaukraft seines Herzens gehoben, aber auch, welchem Unheil es ausgeliefert werden kann. Das Herz des Kindes ist ein weites Haus, das in seinen Fenstern dem Walten der mtterlichen und vterlichen Liebe geffnet ist, von der es durchlichtet, durchwrmt und durchwohnt ist.

6. Die eingehllte Tiefe der Erkenntnis des KindesWeil das Kind mit dem Herzen sieht, sieht es, wie Exupery sagt, gut. ber die Erkenntnisweise des Kindes wird viel Unsinniges vom Erkenntnisschema psychologischer und erkenntnistheoretischer Lehrbegriffe her ausgesagt. Es wird zum Sinnenwesen, mit vage schwrmender Phantasie, das noch nicht die intellektuelle Stufe der Abstraktion erreicht hat und noch nicht zum Gebrauch der Vernunft erwacht ist. Wirklichkeitsfremd lebt es in blassen irrealen Schemen, wie sie sich in kindlichen Zeichnungen widerspiegeln. Seine drftigen uerungen in der Sprache und die tastenden Darstellungen in Zeichnungen werden vielfach als gltiges Zeugnis seines geistigen und seelischen Lebens angesehen. Es ist dies nicht viel anders, als wollte man den Gehalt eines Philosophen an dem messen, was er in einer fremden Sprache, von der er 30 Worte beherrscht, zum Ausdruck bringen kann, oder den Genius eines Musikers ersehen aus kmmerlichen Produkten eines Zeichnens, das er nie gebt hat. Dabei wird nicht gefragt, ob es nicht gerade dem Kinde eigen ist, im Ruheraum des Ursprungs vieler und wesentlicher Dinge innezuwerden, die berhaupt nicht zum Ausdruck drngen, weil sie nicht als persnliche, bewute Mitteilung da sind, sondern als Grundgefge des Seins und Daseins die Lebensgrnde ruhevoll erfllen. Denn das waltende Innesein geschieht im Lebensakt der Liebe und wird als ruhendes

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Gestimmtsein erfahren, whrend die frhreife Bewegtheit von Kindern meistens keine Begabung, sondern eine Strung des Grundverhaltens des Lebens anzeigt. Man braucht doch nur den kindlichen Leib anzusehen, um dieses runde, erfllte Innesein mit Augen zu gewahren. Sehr schn sagt Pater Poucel ( Gegen die Widersacher des Leibes S. 125) : Die erste Lebensphase zeigt ein Wunder in Miniatur, den schnen Krper der kleinen Kinder. Ihre Gestalt hat etwas Wunderbares und Abgerundetes, was nach nichts mehr verlangt. Es ist ein Kunstwerk, das in den Armen einer Mutter ruht. So konnten die religisen Maler diese kleinen Wesen unverndert in die Zeitlosigkeit eingehen lassen, so wurden sie dann zum Range eines Engels erhoben. Die Maler knnen der Einbildungskraft ermangeln. Und doch fllt es nicht auf, und keiner wte zu sagen, was diesen Engeln da gebricht, wenn es nicht Flgel sind, um zu fliegen. Und richtig, sie haben Flgel, wie sie sich da leicht mit den Ellenbogen auf die Wolken aufsttzen als ewige Zuschauer, da ja die Augen das einzige Organ sind, dessen vollkommenen Gebrauch sie gekannt haben. Denken wir dem Worte nach, da die Augen Flgel sind, so stoen wir auf den Grundakt der entrckenden Transzendenz des Schauens. Alle anderen Sinne, brigens in ihrer organischen Gebrauchsfhigkeit nicht minder vollkommen als das Auge, sind doch irgendwie ins Innerliche des eigenen Lebens eingesenkt, wenn man nicht hinzufgt, da das schauende Gewahren auch in ihnen waltet; aber im Auge ist es vollkommen und ohne Eigenbestimmtheit da, sofern im Auge die Wesen und die Dinge selbst heraufgehen und wir nicht bei uns, sondern bei ihnen sind; sogar die Wonne des Anschauens wird nicht als sinnliches Behagen, sondern als Glanz, als Schnheit und Freundlichkeit der Dinge selbst erfahren und dringt als die Heiterkeit und Helle der Farben und Gestalten von ihnen her uns ins Herz. Unsere Freude aber ist nur der Widerhall ihres schenkenden Grens und Leuchtens. Da die Augen Flgel sind, bedeutet daher, da wir im Schauakt den Lichtraum durcheilen, uns pfeilgeschwind und selig in allen Weiten einer Landschaft ausbreiten und die Erscheinung in der Ferne mit dem lauteren, leidenslosen Blitz des Blickes berhren. Es ist dies freilich nur ein aufhellendes Bild fr einen geheimnistiefen metaphysischen Verhalt der Erscheinung und des Schauens1.

7. Das einfltige Wesen kindlichen ErkennensFr die Erkenntnisweise des Kindes aber bedeutet das Gesagte Wesentliches. Es lebt in nicht steigerungsfhiger Vollendung in einer anschaubaren Welt, und die Wesen gren es mit der Kraft ursprunghaften Aufgangs. Nur weil uns das Einfache dieses Geschehens etwas Gewohntes und Gewhnliches, ja ber unserer Rechnerei und verbalen Bildungsbegrifflichkeit etwas Unbeachtetes und Vergessenes geworden ist, halten wir das schauende Leben des Kindes fr etwas Belangloses. Da es in Ursprung und Wahrheit als reines Vernehmen und entzcktes Verwundern mit dem Hchsten der Ver1

Vgl. Wort und Bild und Die Sinne und das Wort des Verfassers

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nunft und dem fragenden Ausgang des geistigen Erstaunens nicht nur wahlverwandt, sondern selbig ist, kommt uns nicht mehr in den Sinn. Wir verstehen es jedoch nur dann wirklich, wenn wir zugleich die innere Lebenstiefe sehen, aus der heraus der Blick ergeht. Das Kind ist unzerspaltenes Leben, das weder in Schichten noch in Fhigkeiten geschieden und auseinandergefaltet ist, sondern in der beschwichteten Ruhe des Herzensgrundes webt und waltet. Es ist noch nicht von Leidenschaften getrieben und beengt, noch von Trieben gentigt und geqult. Es ist ein Irrtum, die Tiefe der Liebe in der Leidenschaft, der gefhrdenden Passion zu sehen, die doch nur ihre Verwundung und ihr Bedrfnis anzeigt. Wenn von Hoheit und Tiefe solchen Bedrfens und Sehnens die Rede sein kann, dann nur, sofern das arme, verlangend ausgespannte Herz von einem Gttlichen berhrt und erfllt und dann in den Entzug der Verlassenheit gestellt wurde, so da das blasse Bild der Erinnerung mit dem Anreiz neuer Wonne zugleich den um so tieferen Schmerz des Ungengens erweckt. Wo aber Gttliches erfllend anwest und das Herz gestillt ist, waltet der Friede und die Heiterkeit, deren Tiefe nicht zu messen ist. Man kann zwar die Schluchten der Erde und die Wellenberge wogender Wasser mit dem Auge abmessen, aber nicht die Tiefe ruhender Seen und den Lichtabgrund des Himmels. Wo der Friede des in sich Einigen waltet und die Krfte ohne hemmende Gegenwehr und die Anstrengung der Mhsal auf- und niedersteigen, ist die Hhe so nah wie der Grund, das uere wie das Innere, und eines spiegelt das andere. Der Krampf seelischer Zerklftung und die Not des Gegenstzlichen hat stets den Schein der Tiefe bei sich, weil das Ma der Zerspannung sichtbar ist, whrend keiner die gesammelte Einfalt des Herzens, die Dichte und Tiefe der Heiterkeit und Freude abschtzt. Das metaphysische Wesen des Einfachen ist schlechthin dies, da es nicht gemessen werden kann. Darum hat der rechnende und messende Geist der modernen Zeit sich schon im Ansatz vom Gttlichen des Seins abgekehrt und vor ihm verschlossen. Wenn Nietzsche sagt, da die Heiterkeit des Sdens tiefer sei als die Schwermut und Zerrissenheit des Nordens, so hat er der Einfalt aufgehellten und frohen Wesens auf den Grund gesehen.

8. Der Vollzug einfltigen Vernehmens im Reichtum liebenden GewhrensMit dieser Erkenntnis allein sieht man das Kind wesensgem an. Einfalt des Lebens bedeutet eingehllte, im eigenen Grunde gelste, webende Ruhe, zugleich aber das ungehemmte Durchstrmtsein aus allen Teilen des einigen Menschenwesens, eine dauernde Sublimierung und Vergeistigung des zur Mitte hin steigenden und zur Tiefe hin sich neigenden Lebens, eine Empfngnis aus dem Ganzen des Herzens, ein gelstes Einschwingen in jede Erscheinung bis zur Mitte ihres Wesens hin, zugleich aber ein eintrchtiges Geschlossensein, das sich dem gegenstzlich Verletzenden und Wesensfremden verschliet. Mit jedem dieser Worte ist versucht, einen metaphysischen Wesensverhalt genau auszusagen; aus ihrer Wahrheit erhellt, da die kindliche Urempfngnis ein einiger Lebensvollzug ist, der sich wesenhaft nur in strungsloser Ruhe und Innigkeit ereignet. Ins verhllte Weben hat zunchst nur jene Liebe Zutritt,

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welcher das sinnenoffene Kind im Schlaf des ersten Reifens im Mutterleibe im Grundgefhl der Lebenswrme verbunden war. Es gehrt zum Geheimnis der waltenden Liebe, da sie, wie das Licht alle Abschattungen und Qualitten der Farbe vom hellsten Wei bis zum tiefsten Violett in sich birgt und in allen Nuancen als Helle spielt und anwesend ist, so auch als Liebe vom hellsten Glanz leuchtender Blicke bis zum Dunkel gefhlter Wrme durch alle Varianten menschlicher Erscheinung und Lebensmitteilung hin gegenwrtig ist. Sie ist in der Strahlkraft geistigen Lichtes wie im sanften Dmmer eingehllten vegetativen oder leibhaft fhlenden Lebens als dieselbe gegenwrtig. Indem sie sich schenkt, bringt sie zugleich mit ihrer Macht die bergende, stillende Sanftmut ihres leidenschaftslosen Friedens mit, der das mtterliche Wesen von Grund aus kennzeichnet. Darum kann man sagen, da sie die Tiefe ihres Wesens mit den Wrmestrmen ihrer leiblichen Kommunikation und ihrem durchfhlten Gewhren ins Herz des Kindes einlebt und dieses so in der mtterlich gesammelten Herzmitte einpflanzt, aus der im eigentlichen Sinne sein Leben erst heraufgeht. Je mehr dies geschieht und das Kind vom reifen Leben seelisch und physisch bernommen wird, wird es zu eigenem Leben und zu tieferer Empfngnis erweckt. Diese Urerfahrung der Liebe ist jene Daseinsvertrautheit, die. allem spteren Erwachen zuvorgekommen ist und ihr das Schockhafte der bermchtigung nimmt. Denn in ihr ereignet es sich, da das Kind die sich mhlich klrende, bald lchelnd, bald ttig ernst es angehende Gestalt der Mutter (und spter des Vaters) immer schon im verhllten Dunkel eines urtmlichen Gewahrens erfuhr und aus einem erfllten und sanft durchfhlten Grunde ins Lichtere desselben Lebens vordringt. Wie tief diese Lebensstrahlung reicht, wird der allein bedenken knnen, der um das Eindringliche des zarten und sanften Lebens wei. Wenn Franz von BAADER sagt, da nur das sich kennt, was sich berhrt, dann wird man fr dies ursprnglichste Durchdringen ein wurzelhaftes Erkennen des Gemtes und Herzens annehmen mssen, die dem Erkennen des Mannes und Weibes in der brutlichen Umarmung und der geschlechtlichen Einung analog ist und die Lebenstiefe erschlieend einander berantwortet. Es ist ein unmittelbares, grundgestimmtes Da-sein, die Urbefindlichkeit des Lebens, nicht ein sich erstreckendes Streben und Vollziehen; es ist eine gelassene Eingelassenheit ins Zentrum der Natur. Dieses Erkennen hat seine Wahrheit im erfllten Einklang eines allgemeinen Gewahrens, das sich nicht unterscheidend gegen ein anderes abhebt, sondern nur seiner selbst inne ist. Zu sagen, es sei unbewut, kann eine leicht eintretende Verflschung des Denkens mit sich fhren, weil dabei oft eine dumpfe und dunkle Grundschicht des Lebens vorgestellt wird. Die urteils- und bezeugungslose Unmittelbarkeit der Lebensursprnge wird jedoch besser verstanden, wenn man nicht nur das unterscheidungslose Dunkel, sondern die ungeschiedene Dichte des Warmen und Lichten sieht, das deshalb nicht bewutseinsgegenstndig ist, weil es nicht gegen anderes abscheidend hervorgehoben und herausgelst werden kann. Das Bewutsein ist selbst da in dieser Grundgestimmtheit und kann sich selbst daher ihr nicht entgegensetzen. Statt des verbrauchten und falsch leitenden Unbewussten sollte man sagen, da es ein durchfhlter, durchlebter, im Grundgengen des Daseins irgendwie erfahrener Urbereich ist, in dem das kindliche Dasein sich geborgen hlt und aus dessen lichtender Tiefe es her-

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ausblickt. Immer hat es schauend diesen Grund berstiegen. In seiner geffneten Transzendenz hat es nicht das Vermgen eines erhellenden Rckblicks, so wie auch Erwachsene, selbst der gebildete Wissenschaftler meist nicht in der Lage sind zu sehen, aus welchen Anfngen, Licht- und Magrnden her sich ihr Tun eigentlich vollzieht. Noch heute ist in der Philosophie nichts so undurchleuchtet wie das Wesen der Seinsprinzipien, aus denen her sich das Philosophieren ausfaltet und auf die es in jeder Vernunftseinsicht zurckgeht. Eine Wahrheitsverfehlung in diesem Bereich verwirrt notwendig den ganzen Entwurf des Denkens, wie eine Strung der Grundbefindlichkeit des Lebens den Entwurf des Daseins verstren kann; aber niemand wird deshalb sagen, da der Grundirrtum einer philosophischen Ausfaltung oder die Ausgnge der Philosophie in einer Schicht des Unbewussten lagern, whrend sie doch in Wahrheit im entwerfenden Fortgang berstiegen oder transzendiert sind. Die Seinsvergessenheit Heideggers ist daher kein unbewutes, abgesunkenes Inhaltliches, sondern eine sich entschlieende Abkehr aus der Einfalt des Seins und seiner Urlichtung in der Wahrheit, gegen die man sich nur kraft ihres Lichtes verschlieen kann. Dieses metaphysische Vergessen ist im eingehllten Innesein des kindlichen Lebens noch unmglich, wenn das Kind nicht durch Klte und Roheit Erwachsener in diesem Urbereich aufgescheucht und aus ihm vertrieben wird. Sein transzendierendes Schauen ist durchwoben vom reinen Leben des Herzens, das in sich selbst so gelinde ist (Goethe).

9. Die Lebenstiefe und Einwandlungskraft des kindlichen HerzensDie Tiefe dieses Inneseins, dieser durchseelten Wrme und dieses webenden Lebenslichtes ist unausmebar. Man kommt dem Gelinden des Ursprungs nicht auf den Grund, so wenig man die Sanftmut der Liebe in ihrer Tiefe auslotet. Wenn es schwindet, kann ein Abgrund von Schwermut aufbrechen, lastend im Gewicht und der Seele Wurzeln vergiftend, was doch nur anzeigt, da all dieses Tiefe vom einfltigen Frieden und der Ruhe sanften Gengens durchwohnt und von der Huld der Liebe belebt war. Die in sich einige leidenslose Lebensglut kann daher einen ungeschiedenen, anfnglich eingehllten Anteil haben an himmlischen Wonnen, am sublimsten Erleben des Geistes, an heiterem Blhen minniger Liebe wie am kstlichsten geistig-sinnenhaften Genieen, doch so, da der einfltige Friede des Inneseins nicht gestrt wird. Man darf nicht sagen, da dieses Innere nur in potentieller Erwartung harrt, weil es bereits im ursprnglichen Einvernehmen mit der mtterlichen Liebe aktuiert ist. Die Urempfngnis, das Anfnglich-Vollendete des Daseins ist immer schon geschehen, wie ja das fhlende Herz in seiner Grundgestimmtheit und die Empfngniskraft des geistigen und sinnlichen Vernehmens in vollendeter Wirkbereitschaft gegeben sind. Es ist kein Widerspruch, da das eingehllte Leben erst spter ins flammende Entzcken gert, wenn ihm die Macht des Seins erscheinend heraufgeht, wie auch der erwachte Mensch in der Morgenfrhe seine Seele wie einen hellen Kristall erfahren kann, den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen (Mrike), und doch erst den Glanz der Morgenrte als das eigentliche Leben seines Tages begrt.

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In diesem anfnglichen Leben der Kindschaft - und so lange sie ungestrt whrt - ist die natur- und artverwurzelte Individualitt mit ihren Erbschaften im Einigen des Daseins gebunden und aufgehoben. Nie wieder - vielleicht nur in der Vollendung der Heiligkeit - sublimiert sich das Triebhafte, berhaupt das Untere der Natur so leicht ins gestillte Leben, so wie im vegetativen Aufbauproze alles ins dienende Walten gestellt ist. P. Poucel nennt mit Recht die Kinderzeit eine Zeit der sublimierenden Vergeistigung des Leiblich-Seelischen. Wird in dieser Zeit das von selbst aufsteigende Leben im Niedrigen festgehalten und von den Erwachsenen ins Banale gefhrt oder gar im Lebensgrund verstrt, so wird die kostbare Stunde der Menschwerdung vertan. Das eingehllte Leben des Geistes wird in die Unruhe gestoen und der Unmensch des Unfriedens, der Triebbesessenheit und der Rastlosigkeit erzeugt. Das leidenschaftlose Feuer des Kindes (Montessori), das alles einwandelt, das keusche Reifen und Blhen, die naturhafte Migkeit der Freude, der berschwang ins Hohe und Unerreichbare, die Opferbereitschaft und die lautere Hingabe (ohne Lohn und Lob) - all dies lebt aus dem Fokus der unvergifteten Lebenseinfalt oder ist mit ihr identisch.

10. Die Schaukraft des KindesDas lange Verweilen im Anfnglichen der Kindschaft sollte uns nicht ermden. Nichts wird so leicht verkannt und bersehen wie die Demut und Innigkeit des Einfltigen. Ihm gegenber versagen wir am meisten, die wir gelernt haben, da das nicht gelte, was man nicht messen kann und sich unseren theoretischen Schemata nicht fgt. Wenn wir es aber im Blick halten, ffnet sich uns das so schrecklich verkannte geistige Leben des Kindes. Maria Montessori wei darum, da es die Vernunft im Anfang ist, die im kindlichen Erkennen waltet; sie kennzeichnet es des weiteren mit dem erhabenen Wort Dantes, das die Weisheit umschreibt, den intelletto d'amore, die Schaukraft der Liebe. Diese schauende Liebe ist das Hchste, dessen der Mensch fhig ist, wenn er sich in Gottes Gnade vollendet. Die Tiefe dieses Erkenntniswesens enthllt sich uns, wenn wir entfalten, wie das Kind seine Eltern sieht. Waltet in seinem Schauen die Vernehmungskraft des Geistes, das liebende Einvernehmen des Ursprungs und die ungeschiedene Einfalt des Lebens, so kann das Erkennen nicht beim ueren, Ausdruckhaften und Teilhaften bleiben, weil dies seinem eigenen reinen Wesen nicht angemessen ist. Der aus dem liebenden Herzen gehende Blick erfhrt am Magrund des eigenen Wesens die Wesenstiefe der Liebe selbst, die sich ihr auf diese Weise einbildet. Er besitzt die Eindringlichkeit und Einlssigkeit des sanften Lebens, die intuitive Durch- und Zusammenschaukraft des Einfachen, das noch durch keine Hinsichten beirrt oder abgelenkt ist, und die einschmiegende Tiefe des Gefhls, das leidenschaftslos und ungetrbt in den inneren Vollzgen und Grundstimmungen webt. Dieses eindringlich webende Vernehmen lebt sich daher liebend ein und lt das gtig und behutsam an sich haltende und leidenschaftslos gestimmte Walten der mtterlichen Liebe im eigenen Lebensgrunde sich ausbreiten - es solchermaen durchlotend bis zu seinem Grunde hin. Dieses anfngliche Erken-

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nen ist so eine vermhlende, auszeugende Begeistung. Es ist eine urteilslos unmittelbare Hinnahme und Einsenkung, lichtvoll, reich und erfllt und ohne entgegensetzende Reflexion. Es ist nicht eingeschlungen in ein Fremdes, sondern lebt im Einvernehmen und der Milde ffnenden Gewhrens, aus der es entspringt. Diese gewhrende Milde ist jeder wahren leidenschaftslosen Liebe eigen. Wir werden dieses Liebeswesen noch genauer zu kennzeichnen haben. Diese Schaukraft des kindhaft Einfltigen whrt sehr lange, so da jeder Erwachsene, dem die Kindheit nicht durch Fehlbildung aus dem Gedchtnis schwand, in der persnlichen Erinnerung - und nur hier - sich ihrer versichern kann. Keine psychologische Beobachtung kann sie erreichen, weil das Kind von ihr nach auen hin kein Zeugnis geben kann. Dem Erinnernden aber ist es nicht schwer, die unbeirrt tiefe und individuelle Durchlichtung, die hell- und scharfsichtig durchschaute Prgung der menschlichen Gestalten zu erkennen, die uns in der Morgenfrhe der Kindheit begegneten. Man wird gewahren, da hier keine fade, allgemeine Typik waltet, und da nichts ausgelassen ist, weder das ehrfurchtgebietend Hohe, das unheimlich Fremde, noch das anmutig Liebliche oder das Kalte und Leere des Unmenschlichen, da Geschwister, Gespielinnen, Erzieher mit einem Blick erfat wurden, der zwar von unreflektierter Unmittelbarkeit ist, aber doch das wesenhaft Prgende wie das individuell Eigenartige und unauflslich Persnliche unverrckbar festgehalten hat. Nie wieder ist die menschliche Welt so geffnet wie in der Zeit der kindlichen Herzensschau. Jeder Erzieher sollte dies wissen, da er durch keine Maskerade nur uerer Haltung und Hflichkeit sein fades, kaltes, unbeherrschtes Innere dem Kinde verdecken kann. So er sich selbst nicht lutert oder nicht in der Demut seines begrenzten Menschseins schlicht und echt vor und mit den Kindern lebt, wird er im Innern dem Kinde Unheil-volles zutragen und in einem tieferen Sinn nicht erziehen knnen. Der dichterisch begabte Mensch knnte alle Gestalten, die das liebende, unverstrte Kindesherz erschaute, als runde und reiche Wesen von berzeugender Individualitt nachzeichnen; er wird sehen, da er ihre Lebensverfassung, ja ihren metaphysischen Charakter so deutlich wahrnahm, da aus ihm sich jeweils das persnliche Geschick des spteren Lebens ergibt. Immer wieder, wenn man nach Jahrzehnten den Kameraden der Kindheit begegnet, kann man berrascht erfahren, wie sehr sie doch im Grunde das waren oder geworden sind, was man irgendwie von ihnen wute und zuvor schon unreflektiert von ihnen erfahren hatte. Auch die sptere Menschenkenntnis, die ein lauterer und hingebungsvoller Mensch besitzt, die allen Heiligen nachgerhmt wird, ist ein Vermchtnis der bewahrten oder geistlich wiedergewonnenen Kindschaft des Herzens. Dabei zeichnet jeder wirklich um einen Menschen persnlich Wissende sich durch die Scheu des Urteils aus, wofern er nur zum Wesensgrund gelangte, mit dem immer auch zugleich der undurchdringliche Raum der transzendental gewillten und durchlichteten sittlichen Freiheit sichtbar wird. Immer ist der Mensch im letzten Wesen das, wozu er in seinem unzugnglich Hchsten und Innersten entschlossen ist. In diesem Entschlu zum Guten aber ist jeder psychologische Charakter berstiegen und ins Geschick schmerzvollen Erleidens oder einer aus Freiheit radikalisierten Versiegelung gestellt.

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Diese Urteilsscheu ist kein Mangel, sondern ein Wesenszug des eingehllten Vernehmens, das in seiner Wahrheit ruht, wie das Auge des Menschen unreflektiert bei den Dingen ist und auf die nicht mehr hinmerkt, die es als die ihm vertrauten ansieht. Alle psychologische Neugier ist erloschen, wo wahrhafte Liebe waltet, die im Einvernehmen der geistigen Lebensgrnde sich ihrer selbst versichert hat.

11. Nur die Erinnerung erffnet das kindliche LebenLat sie doch auferstehen, die klaren Wesensbilder der frhen Kindheit, wenn euch vielleicht das Schicksal mit 6 Jahren an einen anderen Ort verpflanzte und ihr sie nun im reinen Spiegel der frhsten Erfahrung, ohne Vermischung und berdeckung durch Spteres, sehen knnt. Da gehen die 12- oder 14jhrigen Schwestern so frsorglich emsig und sonnenhell freundlich, so befremdend khl und abgekehrt stolz oder in besinnlich gesammelter Wrde durch die Grten der Kindheit, wie sie ein Leben lang geblieben sind; da sitzt die Zwei- oder Dreijhrige, von der Mutter einmal ein fleiiges Bienchen genannt, wie es leibt und lebt, im traulichen Stbchen, verletzbar im Gefhl und von einem empfindlichen Eigenwillen, wie ein Ktzchen zart und liebenswrdig, aber stets abwehrbereit und kratzig, die hellen Augen im blond umrahmten, minutis gezeichneten Gesicht, dessen Feinheit das etwas stumpfe, flache Nschen gegenstzlich betont. Daneben die gutmtige, um ein Jahr ltere Schwester, mit groen dunklen Augen, mit einem stillen, unaufflligen Wesen. Der 6 Jahre alte Bruder wirft ihr mit dem scharf ausgefransten Deckel einer Bchse eine breite Wunde in die Stirn. Nicht lange weint sie, wiewohl sie heftig erschrickt, und ist dem Bruder gleich wieder gut, weil im Herzensgrund andere Gefhle nicht lange Raum haben. Dieser Bruder selbst ist gutartig, aber unstet, gewandt und wagemutig. Im geheimen wird er tief verehrt, gutmtig-herzlich ist er im Umgang, aber immer wieder entzieht er sich ins Eigene jungenhaften Planens und khnen Unternehmens; seine innerlich miterlebten Streiche, wie sind sie lebendig geblieben! Sein etwas leidenschaftliches, eigenwilliges, wachsam kluges und doch ganz unbekmmertes Wesen hebt sich deutlich gegen den ausgeglichenen, ordentlicheren und berlegenden, ein Jahr lteren und den feingliedrigen, blonden, um ein Jahr Jngeren ab. Neben beiden wirkt er unordentlich, jedenfalls unachtsamer, aber auch selbstvergessener und gesetzloser. Der Jngere ist trotz eines Altersunterschiedes von drei Jahren mit dem 4- oder 6-Jhrigen fast von gleicher Gre; er steht ihm viel ferner, sein Wesen ist von federnder Spannung und innerer Kraft, zugleich von einer sorgfltigen Behutsamkeit, die sehr auf sich selber acht hat. Aber das Innere des Gemtes ist seltsam abgekehrt und birgt etwas Fremdes, Unfaliches, wiewohl das ganze Wesen so aufgerumt und aufgehellt scheint. Er ist seiner Artigkeit und gepflegten Hflichkeit, seiner schnen, immer sauberen Kleider wegen, vor allem aber wegen der Anmut seiner feinen Erscheinung der Liebling der feinen Leute. Aber der jngere Bruder wei nicht, wo sein Gemt wahrhaft Wurzeln hat, er liebt ihn, immer wissend, da er die Liebe nicht im gleichen Mae erwidert.

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Dann sind sie alle da, die Kinder und Alten aus der Nachbarschaft, der kranke, hagere Bauherr aus dem Nachbarhause, aber auch der gedrungene, feste und energische Mann aus dem ersten Stock, khl und unnahbar, der ein Kind nicht sieht, whrend es schon bei seinem Vorbeigehen die Festigkeit des durch seine Pflicht oder durch uere Berufsarbeit hart und karg gewordenen Wesens sprt. Von den Kindern seien nur zwei aus der deutlich sichtbaren Schar zurckgerufen, die kleine, etwas jngere Yvonne, die, schn gekleidet, an einem sonnigen Pfingsttag, da sie die Treppen des Nachbarhauses mit ihren Kinderbeinchen herunterspringt, mit einer so innigen Freude begrt wird, da der verhllte Hauch der ersten Minne ein Leben lang als eine schne Erinnerung auch neben spteren, strkeren Erlebnissen nicht mehr verweht. Da ist das dumme Gretchen, ein groes, gutmtiges Mdchen, das mit den kleineren Kindern herumluft und in ihrem gemthaften Dabeisein ohne Arg und ohne Herabwrdigung zur munteren Schar gehrt, mit einem etwas verhangenen Lcheln im immer sanften Gesicht, dessen Ausdruck sich so wenig verndert und ohne jede Impulsivitt ist in Bewegung und Reaktion. Nach 20 Jahren kann man es einsilbig und einsam auf der Wiese sitzen sehen, in der Nhe von 2 Khen, die es htet. Sein Schwachsinn hat es aus der Gemeinschaft der ttigen Menschen ausgeschlossen. Den Kindern blieb die Schwche des Geistes nicht verborgen, aber sie schauten zugleich in den stillen, gutartigen Gemtsgrund des Herzens, sahen es freundlich an als ihresgleichen und liebten es mehr als seine kluge, berechnende Schwester. Ihnen war es keinen Augenblick verschlossen, da hinter dem Schatten geistiger Schwche das empfindungsfhige Herz eines liebenswerten Menschen schlug, den sie so ernst nahmen wie sich selbst und die anderen. Sie gingen ja noch nicht in eine Schule, und der Mensch war noch hinter keiner Leistung versteckt und verdrngt. Diese Beispiele lieen sich beliebig vermehren; es wre jedoch unmglich, auch nur annhernd der Genauheit und dem inneren Reichtum der menschlichen Erfahrungen eines Kindes nachschildernd gerecht zu werden. Denn dies ist ein besonderes Kennzeichen des kindlichen Vernehmens, auf das Maria Montessori hinweist: die unbertreffliche Genauheit des Erfassens, dem eine besondere Aufmerksamkeit auf das Minutise und Kleine entspricht. Keine Bewegungseigenart, keine Nuance des Sprechens, kein verborgenes Spiel in den Gesichtszgen, das das kindliche wache Auge nicht erhascht und festhlt. Das eidetische Schauen der Kinder, d. h. die bildgetreue Reproduktion des Gesehenen in der Einbildungskraft, ist nicht nur eine Sache des Sensoriums und der Phantasie, sondern begleitet auch sein eindringendes Vernehmen und sein sympathetisch einschwingendes Fhlen. Es ist besonders da, wo das Kind sich aus dem inneren Feuer seines Herzens ohne Verstrung hinwendet, whrend ein gegen es verfgtes Aufmerken und Leisten sein Vermgen oft bis zur Verkmmerung verkrzt. Gemessen am unerschpflichen Reichtum der sympathetisch durchlebten Welt sind die Monate der ersten Schulzeit bei dem genannten Kinde fast ohne einen einzigen erinnerbaren menschlichen Zug, das Bild einer Lehrerin bildsulenhaft kalt, damenhaft gepflegt, ohne jede persnliche Schwingung, ein Hauptlehrer von preuisch-militrischer Facon, ein lterer Lehrer von mrrisch-trockener, unpersnlicher Art; die kleinen Kameraden eine gescheuchte, erregte Herde, in der menschlich nichts sichtbar wird und keine einfhlende Begegnung, auch nicht mit dem Nachbarn auf der gleichen Bank, statthatte. Noch

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sind viele schulische Inhalte, vor allem Gedichte, gegenwrtig, aber sie haben keine Kommunikation mit dem Schulraum, der im wesentlichen ein kalter Gerichtsraum fr Straf- und Prgelszenen geblieben ist. Sie ereigneten sich aber im Raum der 12-kpfigen Familie, wo sie in der Erinnerung genau lokalisierbar sind. Hier allerdings war ein blhendes Paradies kindgemer Bildung, in dessen dauerndem Feuer alles leicht und tief ins Herz drang und von der sympathetischen Gedchtniskraft bewahrt wurde bis auf den heutigen Tag.

12. Die Tiefe und Gre kindlichen ErlebensDrei Beispiele sollen Kindhaftes in seiner Weise und Tiefe beleuchten, die dem oben Gesagten gem ist. Der 6jhrige Junge hat das Lesen schnell gelernt. Er liest in den Lesebchern des 2. oder 3. Schuljahres und stt, zur Winterszeit am warmen Ofen sitzend, auf ein Gedicht, dessen balladesker Inhalt im ganzen heute in der Erinnerung verblat ist. Aber noch sieht er einen Knaben, der halb erfroren zur Winterszeit entweder nach Hause zurckkommt oder bei einer Frau wie bei der Mutter Aufnahme findet. Beim Lesen trifft er auf die Verse: Friert's noch so stark, das Mutterherz taut doch in Trnen auf den Schmerz. Was sie genau bedeuten, erfat er nicht, aber die schnen Worte durchwalten wundersam die ahnende Tiefe der Seele; er ist wie von einer hohen Macht ergriffen, und immer wieder sagt er sich halblaut, selbst in Trnen aufgelst, die Worte nach. Mochte er spter oder als reifer Mensch sich wieder in sie versenken, nie ffneten sie sich wieder so erschtternd bis auf den Grund einer erbarmenden Liebe voller Zuflucht und bergender Huld an den Grenzen des Todes. Nie wieder war der Klang der Worte so schn und wunderbar! Noch geheimnistiefer war die Begegnung mit einem anderen Gedicht in derselben Zeit. Es war das schlichte Gedicht von der Mutter, von der die Tochter oder der Sohn scheidet und rckkehrend sie kalt und bleich im weien Totenkleide liegend, einem Engel gleich, wiederfindet, an ihrer Seite niederkniet und ihre Hand mit dem Wunsche kt, da Gott der Mutter ihre Liebe im besseren Vaterlande lohnen soll. Voraus gingen die Verse: Sie gab mir gute Lehren, sie sah mir lange nach, ich konnt sie nicht vergessen, auch keinen, keinen Tag. Dieses ganze Schicksal wurde von dem 6-jhrigen mit eidetischer Veranschaulichungskraft in langer monologischer Versenkung wohl in der Erlebnismitte einer tiefen seelischen Einigung mit der Mutter realisiert. Dabei geschah etwas, das man ungeheuer nennen kann. Die Rhythmik der laut gelesenen Verse wurde von bannender Eindringlichkeit und Macht, so da sie nach mehrmaliger Wiederholung nach der schmerzhaften Sanftheit des Miterlebens innerlich ntigten, das gleiche Schicksal persnlich zu bernehmen und zu vollziehen. Wer konnte auch in diesem Geschehen die Mutter sein, wenn nicht die eigene, die in allen Dichtungen immer allein genannt und gemeint ist? Die lange Strae hinunter ber die Brcke ging der Abschied ohne Wiedersehen, und am Fenster des Hauses stand die Mutter und schaute liebevoll ihrem Kinde nach, das, jeden Tag dieses Bildes gedenkend, nun durch die Welt irrte -eine qualdurchschtterte Visi-

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on. Die Rckkehr zur bleichen Toten war ein Blick in verstummte Hoheit und Liebe, die nun antwortlos in weien Kissen gebettet dalag. Er war von urbildlicher Gre und zugleich von solcher Sttigung mit Realitt, da der Schmerz in die Trostlosigkeit wirklichen Sterbens berging. Er kehrte in Trumen wieder, aus denen das Kind in Trnen erwachte, um die Mutter am frhesten Morgen zu suchen. Weil das Geschehen die innigste Einfalt des Herzensgrundes aufbrach, trat mit ihm die sonst im Einfachen des Friedens undurchdringliche und unerfahrene Tiefe des Gemtsgrundes zutage; er trat in der Zerreiung sich selbst entgegen und erzeugte Gesichte von einer erhabenen Macht und tragischen Schwere, da der gereifte, erwachsene Mensch ihnen zu keiner Zeit auch nur das geringste hinzufgen konnte und sie heute noch wie ein Heiligtum im Gedchtnis htet. So vollendet und gro ist das Leben an seinen Wurzeln. Deshalb kann das Kind, wenn der Lebensgrund auseinanderbricht, in die tiefsten Abgrnde blicken. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang eines ganz ungewhnlichen Vorgangs. Ich lebte als Kind auerhalb einer alten, wunderschnen kleinen Stadt an der Weser. Die Einwohner dieser Kleinstadt waren evangelisch. In naher Nachbarschaft gab es jedoch katholische Gebiete. Kaum eine Stunde Fuweg trennte uns von einer katholischen Gemeinde, deren Glocken bei gutem Wetter zu uns herberklangen. In dieser Gemeinde gibt es eine Benediktinerinnenabtei. In den Gesprchen der evangelischen Kinder wurde dieses Kloster fter erwhnt. Dabei wiederholten die Kinder das, was sie offenbar von Eltern oder anderen Erwachsenen gehrt hatten. Es wurde gesagt, da die Schwestern dort eingesperrt seien, und zwar hinter ganz dicken Mauern. Sie knnten nie mehr heraus und fhrten ein ganz trauriges Leben. Ganz zufllig hrte ich nun einmal Erwachsene sagen (offenbar war im Kloster eine Einkleidung erfolgt), da es unmenschlich und grausam sei, junge Mdchen dort hinter dicken Mauern einzusperren und sie sozusagen lebendig zu begraben. Diese Worte belasteten mein junges Herz sehr. Da ich wute, da ich katholisch sei, empfand ich dunkel, da ich irgendwie den armen Schwestern nher stand als die Kinder um mich her, und ich spre es noch heute, da ich selbst mitverklagt war in den Worten der evangelischen Erwachsenen und Kinder, woran diese gewi nicht im geringsten gedacht hatten. Irgendwie drngte es mich, Gewiheit zu bekommen, und so fragte ich einmal die Mutter, ob es denn wahr sei, da hinter den Klostermauern junge Schwestern wren, die dort eingesperrt seien und nie mehr herauskmen. Die Mutter gab eine sehr liebevolle Antwort, die mir noch im Herzen klingt, wenn ich auch die Worte nicht mehr im einzelnen wei; aber sie besttigten, da die Schwestern aus eigenem Willen Gott zuliebe diesen Beruf erwhlt htten. Durch diese Einweihung erhielt das Kind offenbar die Kraft, dem Geheimnis dieses Opfers, hinter Mauern lebendig begraben zu sein, standzuhalten. Es trat mir nun als etwas ganz Unerhrtes ins Bewutsein und klrte sich zu einem deutlichen Bild. Ich sah innerlich ein schnes, bleiches Frauenantlitz hinter Gitterstben aus einem dunklen, kellerartigen Gela mit sehr dicken Mauern hervorschauen, und die Frage lastete tief in mir, warum so etwas Schreckliches notwendig sei. Dabei fhlte ich sehr schmerzhaft den Gegensatz zu der wunderschnen Landschaft mit ihrem seligen Liebreiz. Hinter den schnsten Bildern der Natur tauchte immer wieder das bleiche Antlitz der Klosterfrau im nahen Kloster auf, das von einer dunklen Haube umrahmt war. Ich hatte

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noch nie eine katholische Schwester gesehen. Also hatte das Nichtverstehen des Gottesopfers meiner Umgebung sich als schwere Last mir ins Herz gesenkt - und erweckte in ihm eine sehr schmerzhafte Schwermut, die um so tiefer war, als sie mit der Heiterkeit des Kindes nicht ins Einvernehmen gebracht werden konnte. Die Tatsache aber, da die Mutter offenbar mit dem Opfer der Schwestern im Einvernehmen innerer Ruhe stand, hielt auch das Kind fest und lie es nicht in der Schwermut untergehen, sondern gab ihm die Kraft, sie still zu ertragen. Wie tief aber die Last der Welt dem zarten Kinde am Herzen lag, das wurde durch folgendes Ereignis offenbar. Die neun Jahre ltere Schwester lud den Jungen eines Sommernachmittags ein, mit ihr in den nahen Klippen Erdbeeren zu pflcken. Die Schwester war noch in der Schule, also kann das Kind nicht ber fnf Jahre alt gewesen sein. Sie war rank und schlank, etwas herb und stolz und spielte nicht viel mit den kleinen Geschwistern. Der kleine Bruder betrachtete sie mit einer liebenden Scheu, wenn sie mit ihrem Bcherranzen mittags allein aus der Schule kam und den Gru oder Anruf kaum erwidernd vorberging. Deshalb lag in der Einladung zum Beerensuchen etwas besonders Lockendes. Sie hatte sich ihr schmuckes, breitrandiges gelbes Basthtchen aufgesetzt, das sie selbst gefertigt hatte, und ging nun, ein buntes Eimerchen am Arm, vor dem Kinde in die liebliche Landschaft hinaus. Sie berquerten einen Eisenbahndamm mit einer kleinen Brcke, wanderten am Fue steiler Hgel mit dunklen Tannenwldern unter gewaltigen Eichenbumen, von denen einige gefllt waren und wie Riesenleiber umherlagen. Dann kam ein lngerer Streifen Heideland, durch das der schmale Fupfad fhrte. Es war ein sehr heier Tag; die Sonne war stechend und brannte unbarmherzig auf das Kind nieder, dessen kleine Fe mit der stolzen Schwester gar nicht Schritt halten konnten. Diese hatte sich von dem Bbchen gelst, das nun hinter dem hellen Basthtchen der Schwester, das sich weiter und weiter entfernte, hertrottete. Dabei berkam es eine unendliche Mdigkeit, die das zarte Gemt mit der ganzen Naturschwermut des sommerlichen Mittags erfllte. Nur mhsam folgte es der Schwester. Pltzlich erklangen Glocken vom Kloster oder der Kirche herber. Der milde und schwere, gemthafte Klang durchschtterte das Kindesherz mit einem seltsamen Weh. Aus dem Grunde dieses welthaft-tiefen Wehs aber stieg deutlich das Antlitz der jungen Nonne hinter den dicken Klostermauern herauf. Dieses alles zusammen bermchtigte das Kinderherz, das, in die Gesichte lange eingewhnt, ihre ganze Schwere lange ausgehalten hatte. Diesmal aber war die ganze Welt in lastendem Weh eingehllt, und das Kind warf sich weinend und schluchzend in die braune Heide hinein. Da wandte die Schwester sich um, kam eilend zurck, und das sonst so herbe Mdchen neigte sich ganz liebevoll dem kleinen Jungen zu und entschuldigte sich, da es so schnell und weit davongelaufen war. Denn dies, so meinte es offenbar, sei der Grund, weshalb das Kind weine. Nicht das, was die Schwester sagte, aber die liebreiche Bekmmernis holte das Kind denn auch aus seinem Weh heraus, es lie sich von ihr an der Hand fhren - um dann in Felsenhngen der nicht mehr allzu weiten Klippen nach Beeren zu suchen. Die Wachheit des Herzens lie es an diesem Nachmittag das Glck des Findens besonders innig empfinden. Noch heute sehe ich die wunderschnen Beeren vor mir, die an den verborgenen Hngen zwischen Felsen und Gestruch leuchteten.

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Aus diesem Vorgang erhellt wiederum die Tiefe der kindlichen Herzens- und Lebensgrnde. Wenn der einfltige Grund, der mit der Welt in Liebe vertraut ist und von dem erweckenden und geleitenden Genius der Mutterliebe in die Tiefe des Daseins eingeweiht wurde, auseinander bricht, dann kann der wurzelhafte Schmerz des Lebens es berkommen und sich sichtbar den reinen Vernehmungskrften darbieten. Welche Schwermut auch spter das Herz berwaltete, nie war sie tiefer als an diesem Nachmittag zwischen dem vierten und fnften Lebensjahr. Ergibt sich daraus nicht, da Erziehung vor allem Ingewahrnahme der Kindschaft ist, da das Kind ohne Zuflucht schenkende Hut entweder ins Leere sich verluft oder an der Last des Lebens Schaden nimmt, wenn nicht gar darin untergeht? Findet man daher ein tiefes Gemt, so wisse man, da sein Grund aus vieler Liebe stammt und in ihrem Schoe zu Kraft und Mut gedieh. Ist das Kind dann von einer groen Liebe gehalten, an deren Herz es zuflchtig nach Hause finden kann, dann ertrgt es schon in frhester Frhe die ganze Last dieser Welt. Gibt es diese Liebe nicht, dann schliet sich der innerlich von Schauern berhrte Blick zu. Das Kind versinkt in physischer und seelischer Ohnmacht, und die erschtterten Tiefen der Seele bleiben verschlossen - unter Umstnden ein Leben lang vor einem Unheimlichen und Bedrohenden, das man nicht bestanden hat. Entweder wird solch ein Kind, das keine Zuflucht hatte, in entscheidenden Augenblicken flchtig werden in die zerstreuende Oberflchlichkeit des Lebens, oder aber es wird vom durchschtterten Innern her ein Leben lang ver-strt, d. h. die Tiefe seines Herzens ist neurotisch belastet. Wer dieser Betrachtung folgte, wird vielleicht fragen, ob das Gesagte nicht an der offenbaren Unreife und geistigen Unfertigkeit und Oberflchlichkeit des Kindes vorbeisieht, auf die man doch immerfort stoen kann. Nun, ber diese Dinge wird noch manches gesagt. Wie aber Maria Montessori sagt, da man zwar leicht die Verwirrungen, Krankheiten, Abnormitten und Unzulngli