Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf...

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Phänomenologie und Idealismus Schwab:

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"Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen." Dieser Schlussatz von Rudolf Steiners Dissertation Wahrheit und Wissenschaft (1892) enthält lapidar die Grundfrage seiner ganzen Philosophie. Steiner stellte sich diese Frage, als er zum ersten Mal Kant und dann als junger Student Fichte las. Diesem Problem widmete er sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit (1894). Seine Freiheitsphilosophie erklärt auch sein Eintreten für Nietzsche gegen die damalige herrschende Richtung der Philosophie und liess ihn schließlich, im Unterschied zur Theosophie, in die er sich nach der Jahrhundertwende involvierte, eine entwickeln, das heißt eine spirituelle Menschen- und Weltanschauung, die das Freiheitsmoment des menschlichen Geistes in den Mittelpunkt stellt. Diese Problemstellung bringt Steiner schon unmittelbar in die Nähe Fichtes, Schellings und Hegels. Steiner betrachtete sich als einen Erneuerer des Idealismus, der nicht einfach aus den Schriften dieser Denker schöpft, sondern der sich den Idealismus neu auf phänomenologischen Grundlagen und namentlich anknüpfend an Goethes naturwissenschaftliche Arbeit aufbaut. Der Autor untersucht in seiner historisch-kritischen Arbeit die Methode und die Strukturaspekte von Steiners Philosophie und unternimmt im Abschluss eine Würdigung, die Steiner jenseits von Apologetik und Polemik eine gebührende Stelle in der Geschichte der Philosophie zu geben versucht. Die Hauptfragen von Sijmons' Untersuchung sind: Wie hat Rudolf Steiner einen um die Freiheit zentrierten Idealismusauf phänomenologischer Grundlage schaffen wollen? Was ist seine philosophische Methode gewesen? Wie verhalten sich dabei die objektive Idee und das subjektive Erlebnis derselben (Bewusstsein) oder Wissen und Handeln (Freiheit) zueinander?

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Phänomenologie und Idealismus

Schwab:

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Phänomenologie und Idealismus

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Iona Stichting, Amsterdam.

Die vorliegende Publikation ist eine vom Autor überarbeitete Fassung seiner Dissertation, die 2004 als Band 50 der vom ZENO Research Institute of Philosophy an der Universität Utrecht herausgegebenen Reihe Quaestiones Infinitae erschienen ist.

Die Druckvorlage wurde von TAT Zetwerk in Utrecht (www.tatzetwerk.nl) erstellt.

© 2008 by Schwabe AG, Verlag, Basel Umschlaggestaltung: Thomas Lutz unter Verwendung zeitgenössischer Bildnisse von Goethe, Hegel und Steiner Satz: TAT Zetwerk, Utrecht Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2259-8 (gebunden) ISBN 978-3-7965-2263-5 (broschiert)

www.schwabe.ch

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort XIII Siglenverzeichnis XV

Kapitel I. Einleitung 1 1.1. Fragestellung 1 1.2. ,Goetheanismus`, ,Phänomenologie und ,Phänomenalismus` 3

1.2.1. Goetheanismus 3 1.2.2. Phänomenologie 3 1.2.3. Phänomenalismus 6

1.3. Phänomenalismus und Idealismus: widersprüchliche Synthese? 7 1.4. Methodische Ausgangspunkte 8 1.5. Aufbau dieser Untersuchung 12

ERSTER TEIL

DAS MATERIAL

Kapitel ii. Übersicht über Steiners philosophische Entwicklung 15 2.1. Erste Schritte in die Mathematik und Philosophie 15 2.2. Fichte-Studien 16 2.3. Ausbildung an der Technischen Hochschule und an der Universität Wien ... 16 2.4. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften 18 2.5. Grundlinien einer Erkenntnistheorie 22 2.6. Der Kreis um Marie Eugenie della Grazie 23 2.7. Goethe'sche Ästhetik 24 2.8. Studien über den Platonismus 25 2.9. Weimarer Zeit 25 2.10. Die Promotion 26

2.10.1. Von Stein in Rostock 26 2.10.2. Dissensus von Kant 27 2.10.3. Dissensus von Fichte 28 2.10.4. Gutachten und Widmung 29

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VIII INHALTSVERZEICHNIS

2.11. Die Philosophie der Freiheit 29 2.11.1. Der Anlass 29 2.11.2. Monismus und Freiheit 30 2.11.3. Erster, erkenntnistheoretischer Teil 30 2.11.4. Zweiter, ethischer Teil 32 2.11.5. Reaktionen und Rezensionen 33

2.12. Das Nietzsche-Archiv 34 2.13. Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit 36 2.14. Goethes Weltanschauung 41

2.14.1. Idee dieser Anschauung 41 2.14.2. Das Subjekt als objektive Idee 42 2.14.3. Hegel als Philosoph der Goethe'schen Weltanschauung 43 2.14.4. Schicksal des Platonismus 44

2.15. Umzug nach Berlin 47 2.16. Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert / Die Rätsel der

Philosophie 48 2.17. Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft 56 2.18. Iv. Internationaler Kongress der Philosophie 57 2.19. Brentano und Von Seelenrätseln 58 2.20. Begegnung mit Max Scheler 61 2.21. Das Vortragswerk und die übrigen Publikationen 61 2.22. Philosophische Kritik 62 2.23. Periodisierung 65

ZWEITER TEIL

ELEMENTE EINER PHÄNOMENOLOGISCHEN ERKENNTNISTHEORIE

Kapitel III. Erster Erkenntnisbegriff und die Kritik am Atomismus 69 3.1. Einleitung: Der Empirismus im Aufstieg 69 3.2. Das ,Ich` als Ausgangspunkt: von Kant bis Hegel 70

3.2.1. Die Vernunfttafel 70 3.2.2. Manuskript über eine Wissenschaftslehre (nach Fichte) 71 3.2.3. Die intellektuelle Anschauung des Ich 77

3.3. Die Kritik am Atomismus 80 3.3.1. Die Möglichkeit des Naturerkennens 80 3.3.2. Aufsatz für Vischer 81 3.3.3. Erster Erkenntnisbegriff 82 3.3.4. Das Atom als Gedankending 84 3.3.5. Erkenntnisgrenzen 86 3.3.6. Der Begriff der Erfahrung 87

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INHALTSVERZEICHNIS IX

3.3.7 Einfluss von Brentano und Mach 88 3.3.8. Die Entwicklung der Kritik in drei Kategorien von Argumenten 90 3.3.9. Phänomenales Wesen, Raum, Zeit und Materie 93 3.3.1o. Weitere Widerlegungen des Subjektivismus 97 3.3.11. Parallele mit Rickerts Kritik am Subjektivismus 99

3.4. Empirismus und Dialektik 100

Kapitel iv. Das Vorbild der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes 103 4.1. Die Goethe-Interpretation und ihr Umfeld 103

4.1.1. Stellungnahmen zu Steiners Interpretation 103 4.1.2. Grundriss von Steiners Goethe-Interpretation 107 4.1.3. Konkurrierende philosophische Interpretationen 109 4.1.4. Wiedergewinnung der idealistischen Interpretation 111

4.2. Steiner über Goethes wissenschaftliche Methode 115 4.2.1. Allgemeines Prinzip der wissenschaftlichen Methode: der Weg zur

Idee 115 4.2.2. Passivität und Aktivität 117 4.2.3. Autarkie und Offenheit 120 4.2.4. Verstand und Vernunft 122 4.2.5. Regulativ und konstitutiv 128 4.2.6. Verstandeswelt und Vorstellungsart 132 4.2.7 Empirische Notwendigkeit 135 4.2.8. Der Induktionsbegriff 141 4.2.9. Induktion und ,reines Phänomen` 146

4.3. Das Verhältnis zu Hegels Naturphilosophie 149

4.3.1. ,Beobachtende Vernunft': Gesetz, Leben und Bewusstsein 149

4.3.2. ,Gesetz` 151 4.3.3. Typus und ,Leben` 166 4.3.4. Bewusstsein 170

Kapitel v. Ideen zur Logik 173 5.1. Einleitung 173

5.1.1. Bedeutung der Logik 173 5.1.2. Studien zur Logik 173

5.2. Wort und Gedanke 175 5.3. Steiners Begriff der Logik 178

5.3.1. Formale Logik und Erkenntnistheorie 178

5.3.2. Bestimmung der Aufgabe der Logik 180 5.3.3. Empirische Logik? 181 5.3.4. Psychologismus 184

5.4. Gattung und Abstraktion 190

5.4.1. Gattung 190

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X INHALTSVERZEICHNIS

5.4.2. Subjektivität der Begriffsform 191

5.4.3. Idee 192 5.4.4. Realismus und Nominalismus 193

5.5. Induktion und Intuition 195

5.5.1. Induktion bei Mill 195

5.5.2. Alternative Induktion 197 5.6. Dialektische Logik 198

5.6.1. Dialektik und Widerspruch 198 5.6.2. Dialektische Methode und Kategorienlehre 202

Kapitel VI. Das Paradigma der Mathematik 209 6.1. Einleitung 209 6.2. Steiners mathematische Ausbildung 211 6.3. Mathematik und Abstraktionstheorie 213 6.4. Das Differential und das Unendliche 217 6.5. Die synthetische, ,fließende Geometrie 222 6.6. Projektive Dynamik 227 6.7. Mathematik und Dialektik 232

6.7.1. Qualitative Mathematik und Dialektik 232 6.7.2. Zahl und Rechnen 233 6.7.3. ,Auflösung der Zahl' 235 6.7.4. Dialektik der Raumesdimensionen 236 6.7.5. Ganzheit des Raumes 239 6.7.6. Ergebnis 240

DRITTER TEIL

DIE PHILOSOPHISCHE METHODE

Kapitel VII. Die Methode der Grundlinien 245 7.1. Einleitung: Die Phänomenologie Goethes und die philosophische Methode 245 7.2. Goethe und Schellings Stufen der Selbstanschauung 246 7.3. Eine Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung 248

7.3.1. Allgemeine Methode 248

7.3.2. Reine Erfahrung 251 73.3. Das Denken als höhere Erfahrung in der Erfahrung 254 7.3.4. Denken und Bewusstsein 256 7.3.5. Innere Natur des Denkens 259 7.3.6. Denken und Wahrnehmung 264 7.3.7. Ontologischer Anthropomorphismus 269 7.3.8. Stufen des Erkennens 269

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INHALTSVERZEICHNIS XI

7.4. System der Wissenschaft 271 7.4.1. Beweisende Methode 272 7.4.2. Vergleichende Methode 273 7.4.3. Reflexive Methode 274 7.4.4. Historische Methode 275

Kapitel VIII. Die Dissertation: die voraussetzungslose Erkenntnistheorie 279 8.1. Wissenschaftliche Forderungen an eine Erkenntnistheorie 279

8.1.1. Methodische Aufgabe 279 8.1.2. Volkelt als methodisches Vorbild 280 8.1.3. Volkelt über Erfahrung und Denken 281

8.2. Voraussetzungslosigkeit 286 8.2.1. Reale und theoretische Voraussetzungen 286 8.2.2. Die Voraussetzungen Kants und der Neukantianer 289 8.2.3. Steiners reiner Anfang 290

8.3. Form und Stoff der Erkenntnis: das Unmittelbare 294 8.4. Fortgang der Theorie: das unmittelbare Mittelbare 297 8.5. Das erkenntnistheoretische Postulat und seine Erfüllung 301 8.6. Der Erkenntnisbegriff 306 8.7. Konsistenz von Methode und Resultat 314

Kapitel ix. Die Philosophie der Freiheit 321 9.1. Ziel und Aufbau der Philosophie der Freiheit (Kap. I) 321 9.2. Ich und Welt (Kap. I I) 324 9.3. Denken und Beobachtung (Kap. III) 325 9.4. Bewusstsein und Wahrnehmung (Kap. IV) 336 9.5. Das Erkennen (Kap. y) 340 9.6. Die menschliche Individualität (Kap. VI und VII) 343 9.7. Vom Wissen zum Handeln (I I. Teil) 346 9.8. Dialektische Einheit von Wissenschaft und Wirklichkeit der Freiheit 350 9.9. Methode der Philosophie der Freiheit 354 9.10. Differenz zu Hegel 356

Kapitel x. Modifikation des Erkenntnisbegriffs 363 10.1. Einleitung 363 10.2. Zwölf Weltanschauungen 363 10.3. Die Metamorphose im Kreis und ihr Strukturgesetz 369 10.4. Beziehung zu Hegels Wissenschaft der Logik 373 10.5. Diltheys Typen der Weltanschauung 385

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XII INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel xi. Schlussbetrachtung zur Methodenfrage 391 11.1. Zurück zur Hauptfrage 391 11.2. Steiners ,Phänomenologie` 392

11.2.1. Historische Definitionen 392 11.2.2. Merkmale der phänomenologischen Methode 393 11.2.3. Anwendung auf Steiners Methode 396

11.3. Steiners ,Dialektik` 397 11.3.1. Referenzpunkte bei Fichte, Schelling und Hegel 397 11.3.2. Entwicklung von Steiners Dialektik 399

11.4. Verhältnis von Phänomenologie und Dialektik 404

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Kapitel XII. Schlussfolgerungen 413 12.1. Steiners Philosophie im Kontext 413 12.2. Philosophische Position 415 12.3. Methodisches Ergebnis 417 12.4. Steiners Philosophie innerhalb der Dynamik des Neukantianismus 419

12.4.1. Zur methodischen Bewertung 419 12.4.2. Weltanschauungsphilosophie? 420 12.4.3. Entwicklung des Neukantianismus 421 12.4.4. Antizipierte Synthese von ,Dialektik` und ,Phänomenologie` 424 12.4.5. Problematik der Grundthesen 431

Literaturverzeichnis 437 Personenregister 457

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit hat sich das Ziel gesteckt, eine historisch-philosophische Aus-einandersetzung mit der Philosophie Rudolf Steiners darzubieten und zu versuchen, diese innerhalb der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie zu verstehen. Sie will aber vor allem auch eine Sicht auf Steiners Methodik erarbeiten, die jenseits von Apolo-getik oder unhistorischer Kritik angesiedelt sein soll, allein schon deshalb, weil Steiner zu den vergleichsweise viel gelesenen philosophischen Autoren des 19. Jahrhunderts gerechnet werden muss. Für die Historiografie stellen die Werke Steiners eine Her-ausforderung dar, da sie sich nicht einfach einer der damaligen Philosophenschulen (Marburger Schule, Badener Kantianismus oder Brentanoschule) zuordnen lassen. In augenscheinlich schlichter Sprache geschrieben, treiben sie ihre Wurzeln doch tief in den geschichtlichen Boden. Es soll versucht werden, diese Schriften im biografischen Zusammenhang eines Menschen zu verstehen, der sich seine philosophische Bildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts anzueignen hatte. Wer diesen Versuch unternimmt, wird entdecken, dass Steiners Philosophie teilhat an der geschichtlichen Dynamik und dazu über eine einheitliche Systematik verfügt, die zeitgemäß war und meines Erachtens auch heute noch Interesse zu wecken vermag.

Die vorliegende Studie ist zuerst als Dissertationsdruck in der Reihe Quaestiones

Infinitae der philosophischen Fakultät der Universität Utrecht erschienen. Für die Mög-lichkeit ihrer Erarbeitung bin ich meinem leider viel zu früh verstorben Doktorvater Prof. Dr. Mag. Karl Schuhmann zu großem Dank verpflichtet, einem hervorragen-den Historiker und Phänomenologen, dessen Werk Die Fundamentalbetrachtung der

Phänomenologie (Den Haag 1971) mir schon vor Jahren eine Inspiration war. Husserls Einsicht, dass Philosophie und besonders auch die Phänomenologie von Geschicht-lichkeit durchzogen sei, war auch die seine: Der Philosoph „bedarf [ ... ] ganz wesentlich der Geschichte und besonders der Philosophiegeschichte, als Phänomenologe mithin auch der Geschichte der Phänomenologie." Während dieser Arbeit konnte ich dies für mich nur wieder bestätigen. Nach dem Tod von Karl Schuhmann hat Prof. Dr. Theo Verbeek meine Dissertation angenommen. Für seine Bereitschaft möchte ich mich bei ihm an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken.

Außerordentliche Hilfe erhielt ich auch von Elisabeth Schuhmann-Leimeister, die die erste Version der Dissertation korrigierte. Mein Dank gilt ferner Dr. Walter Kugler vom Rudolf Steiner Archiv in Dornach für zur Verfügung gestelltes Material und seine persönliche Hilfe. Es sind viele Unwägbarkeiten damit verbunden, die originalen

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XIV VORWORT

handschriftlichen Anmerkungen Steiners in seinen Exemplaren von Kants Schriften zu lesen.

Schließlich bedanke ich mich bei Dr. David Marc Hoffmann, Leiter des Schwabe Verlags in Basel, für die Herausgabe dieser allgemein zugänglichen Edition sowie der Iona Stichting, Utrecht, für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung.

Die Text wurde im November 2004 abgeschlossen.

Jaap Sijmons

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Siglenverzeichnis

ENZ Hegel, G.W.F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund- risse (1830), zitiert nach folgenden Ausgaben: a) herausg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1975; b) auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1970, (= Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8-10) (= ENZ

c) herausg. von G.J.P.J. Bolland, Leiden 1906 (= [B] ); b) und c) für die „Zusätze" Hegels in der Ausgabe von Von Henning (1839), Michelet (1841) und Boumann (1845) bzw. für die Einleitungen dieser Editoren.

FL Goethe's Zur Farbenlehre (1810), herausg. mit Kommentar von Rudolf Steiner, 1883-1897, neu herausg. von G. Ott und H.O. Proskauer, Stuttgart 1980. Wenn nicht anders vermerkt, bezieht sich die Angabe auf die Seitenzahl des ersten Bandes.

GA Rudolf Steiner Gesamtausgabe, herausg. von der Rudolf Steiner-Nachlass- verwaltung, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1961 ff.

GA Beiträge Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Veröffentlichungen aus dem Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung Dornach, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1949 ff.

GB Goethe, J.W., Goethes Briefe, ausgewählt und in chronologischer Folge mit Anmerkungen herausg. von Eduard von der Hellen, Cotta, Stuttgart 1901-1913.

GGA Goethe, G.W., Goethe Gesamtausgabe, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1963 (Nachdruck der Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Goethes).

HA Goethe, G.W., Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, textkri- tisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Wegner Verlag, C.H. Beck, Hamburg, München 1948-1966.

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XVI SIGLENVERZEICHNIS

KDRV Kant, I., Kritik der reinen Vernunft (1781/1987), nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausg. von Raymund Schmidt, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1976.

KDU Kant, I., Kritik der Urteilskraft (1790/1793/1799), herausg. von Wilhelm Weischedel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1974 (= Werkausgabe, Bd. x).

LA Goethe, G.W., Die Schriften zur Naturwissenschaft, vollständige mit Erläu- terungen versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina zu Halle, begründet von K. Lothar Wolf und Wilhelm Troll, herausg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt, Böhlau Verlag, Weimar 1947 ff. (= Leopoldina-Ausgabe).

LU Husserl, E., Logische Untersuchungen, Bd. 1, Prolegomena zur reinen Logik (1900, 2., umgearbeitete Auflage 1913), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1980.

PHDF Steiner, R, Philosophie der Freiheit, Verlag von Emil Felber, Berlin 1893 (1894).

PHDG Hegel, G.W.F., Phänomenologie des Geistes (1807), nach dem Texte der Originalausgabe herausg. von Johannes Hoffmeister, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1952 (= Sämtliche Werke, Bd. 5).

SW Schelling, F.W.J., Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Wer- ke, Cotta, Stuttgart, Augsburg, 1856-1861.

WA Goethe, J.W., Goethes Werke, herausg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Hermann Böhlau Nachfolger, Weimar 1887-1919 (= Weimarer Ausgabe oder Sophien-Ausgabe).

WDL Hegel, G.W.F., Wissenschaft der Logik (1812-1816), auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1970, (= Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5-6).

WL Fichte, J.G., Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794) , Einleitung und Register von Wilhelm G. Jacobs, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1969.

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KAPITEL I

Einleitung

§ 1.1. Fragestellung

„Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen". Dieser Schlusssatz, den Rudolf

Steiner1 1892 seiner Dissertation im Zuge der Vorbereitung ihrer öffentlichen Publikation hinzufügte, enthält lapidar die Grundfrage seiner ganzen Philosophie. Steiner stellte sich diese Frage, als er zum ersten Mal Kant und dann als junger Student Fichte las. Die-sem Problem widmete er sein Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit. Seine Freiheits-philosophie erklärt auch sein Eintreten für Nietzsche gegen die damalige herrschende Richtung der Philosophie, und lässt ihn schließlich im Unterschied zur Theosophie, in der er sich involvierte, eine ,Anthroposophie entwickeln, das heißt eine spirituelle Menschen- und Weltanschauung, die das Freiheitsmoment des menschlichen Geistes in den Mittelpunkt stellt. Diese Problemstellung bringt Steiner schon unmittelbar in die Nähe Fichtes, Schellings und Hegels. Nun hat Steiner an Fichtes Wissenschaftslehre in der Tat seine ersten philosophischen Versuche einer Freiheitsphilosophie erprobt. Schellings Werke haben ihn wahrscheinlich ständig weiter begleitet, namentlich des-sen ,Freiheitsschrift`. An Hegels Phänomenologie des Geistes und dessen Wissenschaft der Logik hat Steiner seine Gedanken reifen lassen. Steiner betrachtete sich als einen Erneuerer des Idealismus, der nicht einfach aus den Schriften von Fichte, Schelling und Hegel schöpft, sondern der sich den Idealismus neu auf phänomenologischen bzw. phänomenalistischen Grundlagen (auf diesem Wortgebrauch wird nächstens einzuge-hen sein), namentlich aber an Goethes naturwissenschaftlicher Arbeit, aufbaut. Die spekulative Methode wäre dabei aufzugeben zugunsten einer naturwissenschaftlichen Methodik unter Beibehaltung der wesenhaften Bedeutung der Idee.

Ein zweiter Schlusssatz Steiners, diesmal von seiner Philosophie der Freiheit, lautet: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft" (GA 4\271). Er enthält im Überschlag nicht nur die Bedingung der Reali-sierung der Freiheit, sondern auch in nuce eine Charakteristik seiner philosophischen Methode. Freiheit finden wir in der Philosophie ebenso sehr wie in der moralischen Lebenspraxis. Steiners Philosophie konzentriert sich, trotz vieler Ansätze, nicht auf die

1 Rudolf Joseph Laurenz Steiner (Kraljevec 1861 — Dornach 1925).

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2 KAPITEL I

Wissenschaftslehre eines besonderen Bereichs, wodurch sie eher eine gediegene wis-senschaftliche Gestalt hatte erlangen können. Ihr Ziel ist, wie gesagt, die Freiheit. Diese ist allerdings ohne die ,Idee` und eine bestimmte Art des Wissens der Idee unerreichbar. Mithin ist die Erkenntnistheorie für Steiner „die bedeutungsvollste Wissenschaft für den Menschen" (GA 1\166), denn sie ist „die Wissenschaft von der Bestimmung aller andern Wissenschaften" (GA 1\165) . Sie zeigt zugleich die Bestimmung des Menschen (GA 1\167) : die Wege zur Freiheit durch die Idee, die man nicht zu beugen hat, sondern der man „erlebend gegenüberstehen" kann. Umgekehrt ist die Freiheit auch ein Kardi-nalpunkt im Theoretischen. Heißt methodische Arbeit gerade nicht jene Freiheit von nichtdurchschauten Voraussetzungen und deswegen ein einsichtliches logisches Fort-gehen, frei von willkürlichen Einfällen und dem jeweiligen Ausgangspunkt nicht gemä-ßer Gedanken? Eben jene Freiheit nicht an jede Vorstellung gebunden zu sein, perceptio und volitio trennen zu können, ermöglichte Descartes am Anfang der Neuzeit einen radikalen methodischen Zweifel,2 der uns von allen natürlichen Vorurteilen befreien sollte.' Diese theoretische Freiheit sich erwerben, war jeweils das Sokratische Prinzip der Philosophie. Nicht anders bei Steiner. Philosophische ,Rechtfertigung` braucht vor allem die Wissenschaft, weil ohne sie „die moderne Gelehrsamkeit im Trüben fischt und nicht weiß, was sie will" (Vorrede zur Dissertation; GA 3\13). Der spekulative oder subjektive Idealismus befriedigte Steiner nicht wegen seines methodischen Mangels. Er will daher einen erlebenden, phänomenalistischen oder phänomenologischen (im nachherigen spezifischen Sinne) Idealismus haben, der sich frei gegenüber der Idee ver-hält. „Die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels stehen daher ohne Fundament da. [ ... ] Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten dieselben Irrtum auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit" (GA 3\11-12). Steiners Anliegen ist also nicht, den klassi-schen Idealismus ohne weiteres zu rehabilitieren, sondern vielmehr ihn methodisch neu zu fundieren. Steiners hohes Ziel ist, die Freiheit in der Einheit vom Theoretischen und Praktischen zu begründen: „Die Anschauung von Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommene freie Persönlichkeit ist" (GA 3\12).

Die Hauptfrage dieser Untersuchung ist demgemäß: Wie hat Rudolf Steiner einen um der Freiheit zentrierten Idealismus auf phänomenologischer Grundlage schaffen wollen? Was ist seine philosophische Methode gewesen? Wie verhalten sich dabei die objektive Idee und das subjektive Erlebnis derselben (Bewusstsein), oder Wissen und Handeln (Freiheit) zueinander?

2 U. a. Principia Philosophiae. Pars prima (1644/franz. 1647), herausg. C. Adams und P. Tannery, Paris 1997, §§1-3, VIII-A, 5, (franz. IX-B, 25-26) und §§32-39, VIII-A, 17-19 (franz. IX-B, 39-41).

3 A. a. O., §§71-75. Das Urteilen (cogitare) sei eine Betätigung der Freiheit. Deshalb sieht von einem Fichte'schen Systemansatz Lauth schon im Freiheitsprinzip des ,cogito` nicht nur die Grundlage des Systems Descartes', sondern auch des nachkantischen Systemdenkens (vgl. R. Lauth, Descartes' Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart 1998, S. 58-61 und 112-114).

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EINLEITUNG 3

§ 1.2. ,Goetheanismus', ,Phänomenologie` und ,Phänomenalismus`

§ 1.2.1. Goetheanismus

Zuerst wollen wir uns verständigen über die vorausgesetzten Termini ,Phänomenologie' und ,Phänomenalismus`. Anfänglich spricht Steiner über seine Philosophie als eine ,Goethe'sche Weltanschauung' (GA 2), und erst später von ,Goetheanismus`, bei-spielsweise in dem Vortrag über Anthroposophie und Naturwissenschaft (Zürich 1917; GA 73\150-152). ,Goetheanismus` wird da charakterisiert, im Gegensatz zum herrschen-den Kantianismus des ,Dinges an sich', als eine naturwissenschaftliche Betrachtungs-weise, die sich beschränkt auf dasjenige, was phänomenaler Art uns gegeben ist, und die nicht versucht durch allerlei Stoffhypothesen (sei es die ältere Atomtheorie oder die damalige Ionen- und Elektronentheorie) zu einem ,hinter den Phänomenen' Gele-genen zu kommen (ebd., S. 117-121).4 Was Steiner später Anthroposophie oder Geis-teswissenschaft nennen wird, führt noch zurück auf diesen Goetheanismus und dazu auf Goethes Metamorphosenlehre: „Ich glaube, diese Geisteswissenschaft ist durchaus nicht etwas Neues. Denn man braucht nicht weiter zurückzugehen als bis zu Goethe, so findet man in seiner Metamorphosenlehre die elementaren Ansätze, die nur aus-gebaut werden müssen durch die Geisteswissenschaft. [ ... ] Daher, da ich selber mehr als dreißig Jahre ausgehe von einem Ausbauen der Goethe'schen Weltanschauung, nenne ich sehr gerne für mich diejenige Weltanschauung, die ich als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft vertrete, die ausgebaute Goethe'sche Weltanschauung. Und den Bau in Dornach, der gewidmet ist dieser Weltanschauung, den möchte ich am liebsten, wenn es bloß nach mir ginge, ein Goetheanum nennen" (GA 73\207-208).

§ 1.2.2. Phänomenologie

Dieser Goetheanismus wird zuweilen durch Steiner ,Phänomenologie' genannt. Diese Gleichstellung der Termini ist auch ein späterer Wortgebrauch, vermutlich veranlasst durch den Sprachgebrauch seiner jüngeren Mitarbeiter wie Eugen Kolisko, Hermann von Baravalle, Walter J. Stein u. a. Denn während einer Fragebeantwortung am 3o. März 1920 sagt Steiner: „Wenn die von Dr. Kolisko gemeinte Phänomenologie vorgenommen wird, so muss eben gesagt werden, dass diese Frage so umfassend noch ist, dass sie ja auch nur höchst andeutungsweise beantwortet werden kann. Vor allen Dingen ist es nötig, dass man einsähe, dass man zunächst zu einer entsprechenden Phänomenologie kommen müsste. Eine Phänomenologie ist nicht eine Zusammenstellung der bloßen Phänomene in willkürlicher Weise, oder so wie sie gerade durch die wissenschaftlich angestellten Versuche ergibt; sondern eine wirkliche Phänomenologie ist eine solche

4 Vgl. auch GA 76\40.

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4 KAPITEL I

Systematisierung der Phänomene, wie sie etwa versucht worden ist von Goethe in seiner Farbenlehre" (GA 324a\164).

Steiner setzt hier Goethes Anschauungsweise und Phänomenologie einander also gleich. Im selbigen Jahre fanden die ersten ,anthroposophischen Hochschulkurse statt im noch nicht ganz fertig gebauten Goetheanum. Steiner und u. a. die genannten Mitarbeiter hielten Vorträge auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten (Steiner eine Vortragsreihe über Die Grenzen der Naturerkenntnis; GA 322). Die ca. dreißig Vorträge der anderen Sprecher wurden in den nächsten Jahren herausgegeben.5 Das Vorwort von Kolisko im ersten Band hebt folgendermaßen an: „Phänomenologische Wissenschaft, Zusammenschau aller Wissenschaften, Wiedereinführung des Menschen in die Wissenschaften, das sind die drei Grundforderungen anthroposophischen wis-senschaftlichen Strebens".6 In den Vorträgen unterschied man dann fortwährend die ,bloße Phänomenologie` von der ,wirklichen Phänomenologie, d. h. eine rein deskrip-tive und positivistische, die eher ,Phänomenalismus` heißen könnte, von einer Goe-the'schen, die das ideelle Wesen der Phänomene in der Gestalt der ,Urphänomene oder anschaulichen ,Typen` sucht, es handelt sich also eher um eine Systematisierung der Phänomene als um ein Überspringen derselben mit einem underlying mechanism (siehe das angeführte Steiner'sche Zitat). Die Terminologie wird nicht endgültig fest-gelegt, wohl entsprechend der damaligen historischen Situation, sondern bleibt in diesem Sinne schwankend bei allen Vortragenden. Auch bei Steiner selbst. So nennt er den Goetheanismus in Grenzen der Naturerkenntnis (1920; GA 322), der sich streng an die Phänomene hält, „einen bloßen Phänomenalismus"7 (S. 26) und spricht dann etwas weiter unten über „die Goethesche Phänomenologie" (S. 46) . In GA 324 spricht er über das, „was man im Sinne der Goetheschen Weltanschauung Phänomenalismus nennen könnte" (S. 1o1), der aber gleichfalls eine „Phänomenologie [ ... ] ein reines Zusammenwachsen mit den Phänomenen" genannt wird (S. 102).

Die Quellen für diese neue Terminologie waren damals wahrscheinlich Ernst Mach (,phänomenologische' Physik) und Edmund Husserl (,phänomenologische` Erkennt-nistheorie). Die Ideen von Mach waren Steiner bekannt aus seinen Wiener Jahren. Er vergleicht Goethe und Mach als Phänomenologen in GA 81 (1922). Walter Johannes Stein, der mit Anweisungen Steiners an der Wiener Universität 1921 eine Dissertation anfertigte, hat darin hingewiesen auf die Übereinstimmung von Steiner und Husserl in Beziehung auf die ideal-logische Identität von Urteilen mit demselben Inhalt.$ Der Hin-weis bezieht sich auf die Logischen Untersuchungen (Lu). Steiner war im Besitz der zwei-

5 Aenigmatisches aus Kunst und Wissenschaft, Anthroposophische Hochschulkurse der freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum in Dornach vom 26. September bis 16. Oktober 1920, Stuttgart 192o.

6 A. a. O., S. 7 7 Noch in GA 4 (1893) ist mit ,Phänomenalismus` der subjektive Idealismus von Hume gemeint (a. a. O.,

S. 266). 8 Vgl. W.J. Stein, Historisch-kritische Beitrüge zur Entwicklung der neueren Philosophie, Wien 1921, Nach-

druck in: W.I. Stein/Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens, Dornach 1985, S. 197-198.

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EINLEITUNG 5

ten Auflage der LU von 1913. Er kannte also Husserls Gebrauch des Terminus ,Phänome-nologie` aus der LU. Ob er Stein auf Husserl aufmerksam gemacht hat oder umgekehrt, ist nicht mehr auszumachen. Jeweils hat man sich in diesem Kreise dem allgemeinen Wortgebrauch angeschlossen. Seitdem spricht man innerhalb der anthroposophischen Bewegung von ,Goetheanismus` oder ihren Abwandlungen u.a in der Schriftreihe Goe-theanistische Naturwissenschaft (herausg. von W. Schad, Stuttgart 1982 ff.), wie von der ‚phänomenologischen Physik`.9 Außerhalb dieser Bewegung redet man seit kurzem

unbeschwert von einer ‚Phänomenologie der Natur`, die als Ergänzung von der phä-nomenologischen Philosophie, wie sie von Husserl ausgegangen ist, verstanden wird (Gernot Böhme) .10 Ihre Paradigmen sind Aristoteles und die Goethe'sche Farbenlehre."

Auch Bernard Rang hat die Regional-Ontologie Husserls einer ‚Phänomenologie der Natur`, wo die Region des Seienden unter der Idee des Naturobjektes steht, mit dem Goetheanismus in Verbindung gebracht.12 Die phänomenologische Bewegung als Gan-zes hat ja auch nicht eine derart sonderliche und eigene Methode, dass sie nicht man-nigfache Übereinstimmungen hätte mit anderen methodischen Ansätzen. Spiegelberg urteilt in The Phenomenological Movement über das negativ Unterscheidende und posi-tiv Charakterisierende der Phänomenologie: „If there is anything distinctive about the phenomenological approach to this task, it has to be found in its deliberateness and in its conscious challenge to the reductionism of Occam's razor" und „On all levels the phe-nomenological approach is opposed to explanatory hypotheses; it confines itself to the direct intuitive seeing" und ist motiviert bei „reverence for the phenomena".13 Es wird sich herausstellen, dass diese Charakteristik auf Steiners Goetheanismus derart zutrifft,

dass die Verwendung des Terminus ,Phänomenologie' in diesem Zusammenhang14

9 Vgl. Georg Unger, Vom Bilden physikalischer Begriffe, ,,i. Teil, Stuttgart 1967, Kap. X: „Phänomenologie" und Mathematik der neuen Physik, S. 136 ff.

10 In: Phänomenologie der Natur, herausg. von Gernot Böhme und Gregor Schiemann, Frankfurt a. M. 1997.

11 Böhme in Böhme/Schiemann (1997), S. 14-18 und 19-26. 12 „Dieses Interesse an einer phänomenologischen Begründung der Naturwissenschaft unterscheidet

Husserls Phänomenologie der Natur von anderen Versuchen einer phänomenologischen Beschreibung von Naturgegebenheiten, die dieses Interesse nicht haben (Merleau Ponty, Hermann Schmitz u. a.) und bringt sie in eine bisher kaum beachtete Nähe zur goetheanistischen Naturbetrachtung, die eine phänomenologische Naturwissenschaft anstrebt" (in: Böhme/Schiemann [1997], S. 9o).

13 H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction. 3. Revised and enlarged Ed. with the collaboration of K. Schuhmann, stud. Ed., Dordrecht/Boston/London: Kluwer, 1994, S. 715 und

717. 14 H. Bortoft qualifiziert z. B. Goethes Verfahrungsart als ,hermeneutic phenomenology of nature' (The

Wholeness of Nature. Goethe's Way of Science, Edinburgh 1996, S. 75), ziemlich entsprechend die allgemeine Charakteristik Spiegelbergs. Auf die von Spiegelberg aufgelisteten Elementen der phäno-menologischen Methode — vgl. Spiegelberg (1994), S. 682-715 — werden wir im Xi. Kapitel eingehen. Das Adagium „Zu den Sachen selbst" sollte vorzüglich für Goethes ,gegenständliche' Erkenntnisweise zutreffen (D. Saemon, Goethe, Natur and Phenomenology, in Goethe's Way of Science: A Phenomenology of Nature, herausg. D. Saemon und A. Zajonc, Albany 1998). Eine gewisse Übereinstimmung zwischen Goethe und den philosophischen Phänomenologie sei ,unmistakeable`, meint auch Spiegelberg (1994),

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6 KAPITEL I

jedenfalls nicht unangebracht ist. Manchmal wird Steiners Philosophie eine ,Phäno-menologie des erkennenden Bewusstseins' genannt, gemeint als Hauptcharakteristik seiner Methode.15

§ 1.2.3. Phänomenalismus

Der Terminus ,Phänomenalismus` ist ebenfalls mehrdeutig. Der traditionelle ,Phä-nomenalismus` beschränkt die Grundlage unserer Erkenntnis auf die Erscheinungen (Phänomene) in unserem Bewusstsein. Ontologisch mag dann hinter den Phänome-nen sich die objektive Welt als unbekannte Ursache verstecken (Locke und Kant), diese Objektwelt außerhalb unseres Bewusstseins verneint werden (Berkeley) oder gar unser Geist in diesem Strom der Phänomene aufgehen (Hume). In einem dualistischen onto-logischen Modus ist der Phänomenalismus der Phänomenologie Husserls bestimmt nicht gleichzusetzen.16 Der erkenntnistheoretische Phänomenalismus, der sich gleich-zeitig in der analytischen Philosophie durchsetzte (vgl. Russells neutral monism oder Ayers phenomenalism)" ist der Phänomenologie Husserls nicht ganz fremd, wenn es auf der Art des unmittelbaren Vorgegebenheit von Erscheinungen ankommen 5011.18 In die-sem Sinne ist der Phänomenalismus ein Grundbau, auf dem sich sowohl das Stockwerk eines subjektiven Idealismus Berkeleys, der Transzendentalismus Kants wie ein logi-scher Atomismus Russells aufbauen könnte. Der (bloße) ,Phänomenalismus` wird hier ferner die Phänomenologie bedeuten nach Abzug der ontologischen Interpretationen und des theoretischen Aufbaus, also nur deskriptives oder ,reines` Erfahrungswissen19

sein.

S. 23. Wir halten vorerst daran fest, dass dieser Goetheanismus Steiners prima facie innerhalb der Bandbreite der „mannigfachen Bedeutungen von ,Phänomenologie"` (Schuhmann) gebracht werden kann (vgl. dessen ,Phänomenologie`: eine begriffsgeschichtliche Reflexion, in: Karl Schuhmann. Selected Papers on Phenomenology, herausg. von C. Leijenhorst und P. Steenbakkers, Dordrecht 2004, S. 1-33, v. a. S. 16 ff.). Diese Bandbreite umfasst das Motiv des einleitenden Wissens, über das der Wissenschaft des empirisch Gegebenen, bis zu der Lehre von Bewusstseinsgegebenheiten.

15 So z. B. M. da Veiga Greuel, Wirklichkeit und Freiheit. Die Bedeutung Johann Gottlieb Fichtes für das philosophische Denken Rudolf Steiners, Diss. Universität Duisburg (1989), Dornach 199o, S. 5.

16 Spiegelberg (1994), 5.127. 17 Der frühe Ayer war EXponent eines ,thoroughgoing phenomenalism` (Language Truth and Logic (1936);

Harmondsworth/New York 1978, S. 42 und 182 ff.). Der späte Ayer gibt ihn auf: The Problem of Knowledge (1956), Harmondsworth/New York 1979, S. 118 ff.: die Dingwelt lässt sich nicht reduzieren auf eine logische Konstruktion aus sense data. Die Entwicklung des logischen Atomismus vollzog sich über diesen Phänomenalismus — Deskription in atomaren Sätzen (Russell), einfachen Tatsachen (Wittgenstein i) oder Protokollsätzen (Carnap) — zu Varianten vom Physikalismus (späteren Carnap) und von linguistischem Behaviourismus (Wittgenstein ii).

18 Spiegelberg (1994), 5.127. 19 Auf die ,Reinheit` dieses Wissens, ihre Unabhängigkeit von jeder gedanklichen Bestimmung, wird noch

ausführlich zurückzukommen sein. Der Begriff soll hier vorläufig abstrahieren von dieser Komplika-tion.

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EINLEITUNG

§ 1.3. Phänomenalismus und Idealismus: widersprüchliche Synthese?

Steiner hat einen langjährigen Briefwechsel mit Eduard von Hartmann (1842-1906) unterhalten. Als 1893 seine Philosophie der Freiheit erschien, sandte Steiner an Hart-

mann ein Exemplar (GA 4a\346) . Er erhielt das Buch mit Randbemerkungen versehen innerhalb von zwei Wochen zurück. Es sollte zu Lebzeiten Steiners die intensivste Aus-einandersetzung eines namhaften Philosophen mit der Philosophie der Freiheit bleiben. Von Hartmanns Kritik war schonungslos: „In diesem Buche ist weder Humes in sich absoluter Phänomenalismus mit dem auf Gott gestützten Phänomenalismus Berkeleys versöhnt, noch überhaupt dieser immanente oder subjektive Phänomenalismus mit dem transcendenten Panlogismus Hegels, noch auch der Hegelsche Panlogismus mit dem Goetheschen Individualismus. Zwischen je zweien dieser Bestandteile gähnt eine unüberbrückte Kluft" (GA 4a\420) .

Dass Steiner beabsichtigte, einen absoluten (Hume), auf Gott gestützten (Berkeley), dennoch subjektiven Phänomenalismus (Kant) mit dem transzendenten Panlogismus Hegels und weltfreudigen Individualismus Goethes zu versöhnen, ist nicht sehr wahr-scheinlich. Dennoch berührt Hartmann einen wichtigen Punkt, wenn diese Qualifi-kationen als Richtungen unterschiedlicher Tendenzen in Steiners Denken aufgefasst werden. Hartmanns Anhänger Arthur Drews hielt übrigens das Verhältnis von Monis-mus und Individualismus gleichfalls für widersprüchlich.20 Der damalige amerikani-sche Rezensent David Irons kritisierte Steiner gleichfalls wegen der angeblich fehlenden Eindeutigkeit in seinem Begriff der Freiheit: „he defines it differently in different pla-ces, and involves himself in contradictions in attempting to answer objections".21 Die Widersprüchlichkeit unterschiedener Gedanken kann man in der Tat schon auffinden.

Steiners Philosophie kennzeichnet sich durch das ausdrückliche Bestreben, die erkenntnistheoretischen Gegensätze von Hegel'schem Idealismus (Monismus) und einem angeblich an Goethe, nicht an Hume oder Berkeley gewonnenen Phänomena-lismus, die beide in der Ethik als ideelle Freiheit und Goethe'scher Individualismus wiederkehren, zu überwinden. Die Grundfrage dieser Arbeit ist also näher bestimmt die folgende: Wie hat Steiner versucht, den beiden Gegenpolen von Idealismus und Phänomenalismus gerecht zu werden und sie miteinander zu verbinden? Oder histo-risch formuliert: Wie hat er Goethe mit Hegel vereint, vorausgesetzt, er wollte nicht vom spekulativen Idealismus her Goethe einfach annexieren?

Es wird sich erweisen, dass die ,Freiheit` das Bindeglied darstellt, sowohl zwischen den Phänomenalismus und Idealismus einerseits und dem Idealismus und Individua-lismus andererseits. Die Widersprüchlichkeit stellt die Aufgabe, die zugrunde liegende Struktur zu befragen und aufzuzeigen, wenn wir es bei der Kritik Hartmanns nicht bewenden lassen wollen. Es wird sich dabei herausstellen, dass der Phänomenalismus zu

20 Rezension in Die Gegenwart, Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Berlin, 28.

April 1894, aufgenommen in GA 4a\449. 21 The Philosophical Review, September 1895, abgedruckt in GA 4a\481.

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8 KAPITEL I

einer dialektischen Phänomenologie ausgebildet werden muss. Die Phänomenologie, die die Verbindung zwischen Phänomenalismus und Idealismus liefern soll, hat eine phänomenale Grundlage und eine monistische und idealistische Organisation und Systematik. Und aus dieser wird vom Ende her zuletzt die philosophische Methode Steiners erhellt.

Damit ist in Hauptzügen der Aufbau dieser Untersuchung angedeutet: Wir fangen an mit der Erarbeitung der phänomenalistischen Aspekte und wenden uns danach der Logik und der paradigmatischen Mathematik zu, dann der eigentlichen Philosophie Steiners und schließen ab mit einer Darstellung und Analyse der Systematik und Methodik seiner Philosophie.

§ 1.4. Methodische Ausgangspunkte

Bei der Beantwortung unserer Grundfrage, d. h. in der Darstellung und Analyse von Steiners Philosophie, gilt es methodische Ausgangspunkte einzuhalten, und wir denken uns an die folgenden Richtlinien zu halten:

1. Grundlage dieser Untersuchung sind Steiners Texte zur Philosophie. Die metho-dischen Bemerkungen und ausschlaggebenden Aussagen sind über mehrere Publika-tionen und Vorträge verstreut. Es liegt jetzt die schon über 35o Bände umfassende Rudolf Steiner Gesamtausgabe (im Folgenden abgekürzt mit ,GA`) vor. Sie ist noch nicht ganz abgeschlossen, doch so weit fortgeschritten, dass das noch nicht veröf-fentlichte Material wahrscheinlich nicht sehr viel radikal Neues bringen wird. Die Gesamtausgabe wird erschlossen durch das ausführliche Register von Emil Mötteli.22

Die GA wird ständig ergänzt durch Veröffentlichungen aus dem Archiv der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, die so genannten Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtaus-gabe, welche zurzeit Dr. Walter Kugler betreut. Es handelt sich dabei u. a. um bis-her noch unveröffentliche Vorträge, sowie Briefe, Aufzeichnungen und Notizen Stei-ners.23 Drittens gibt das Archiv die Schriftenreihe Rudolf Steiner Studien heraus, deren Bände bestimmten Themen gewidmet sind; hier sind namentlich zu nennen die The-men Steiners Dissertation und seine Arbeit für das Nietzsche-Archiv.24 Anhand dieser Texte ist erstens eine zusammenfassende Darstellung des philosophischen Materials zu geben. Wir halten uns dann ferner an die Beschränkung, die dieses Material uns auferlegt.

22 Register zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 2. Auflage, Dornach 1998. 23 Hier kommen vor allem in Betracht Heft Nr. 3o (Rudolf Steiner und der deutsche Idealismus), Nr 87

(Aufsatz Steiners: Glaubensbekenntnis des empirischen Idealismus aus 1892), Nr 63 (Rudolf Steiner und der Atomismus; Aufsätze aus 1882 und 189o), Nr 85/86 (über GA 4) und Nr 91 (über GA 2).

24 Vgl. Band V, Rudolf Steiners Dissertation: „Die Grundfrage der Erkenntnistheorie" (1991), und Band vi, Rudolf Steiner und das Nietzsche-Archiv (herausg. und eingeleitet von David Marc Hoffmann, 1993).

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EINLEITUNG 9

2. Gemäß der Grundmaxime der Hermeneutik, dass eine Auslegung immer auf das Ganze zurückzugreifen und den Teil im Lichte des Ganzen zu sehen hat (hermeneuti-scher Zirkel), wird die Entwicklung der Philosophie Steiners im Zusammenhang mit seiner Biografie zu skizzieren und das Textmaterial zu periodisieren sein. Christoph Lindenberg hat durch sein zweibändiges Werk Rudolf Steiner, eine Biographie25 dafür eine wissenschaftlich verlässliche Grundlage geschaffen. Es sei hier im II. Kapitel eine bisher im Druck fehlende Gesamtübersicht über Steiners philosophische Entwicklung versucht.

3. Es wird ferner eine thematische Analyse angestrebt. Innerhalb des am Schluss des vorigen Paragrafen angegebenen Grundrisses wird sowohl chronologisch als auch the-matisch zu verfahren sein. Steiners Werke weisen etappenweise eine Entwicklung auf, die es schwer macht, den Zusammenhang einer ‚philosophie en devenir` zu durch-brechen. Es wird die Position Steiners ferner gelegentlich thematisch zu vergleichen sein mit der anderer Philosophen. Zum Teil ergeben sich diese Vergleiche aus dem Werk Steiners selber, wenn er auf Ansichten der Klassiker, seiner Zeitgenossen oder Gegner eingeht. Manches ist nur im Rahmen einer solchen Auseinandersetzung ver-ständlich. Auch Steiners Philosophie ist Diskurs, die Kontextualisierung braucht. Wenn Einflüsse benannt werden, wird jedoch immer vorausgesetzt, es handele sich um ein freies Verhältnis zu Vorbild und Quelle, da, wie sich ergeben wird, Steiner durchaus eine eigenständige Position behauptete. Zum Teil legitimieren derartige Vergleiche sich auch von der Sache her, da wir zur Philosophie Steiners mehr als ein Jahrhundert zu überbrücken haben. Diese Auseinandersetzungen sind selbstverständlich der Restrik-tion unterworfen, dass sie zur Erhellung oder der näheren Bestimmung von Steiners Ideen unmittelbar zu dienen haben. Die sonst sich ergebende unbegrenzte Themen-reihe: Rudolf Steiner und ... würde von vornherein die Sicht auf die Fragestellung nur versperren.26 Dass manchmal auch andere Vergleiche als die gewählten zur Darstel-lung nützlich oder angebracht wären, ist bei der Fülle des zu bewältigen historischen Materials wohl unumgänglich.

4. Ziel ist die Analyse der grundlegenden Strukturen in Steiners Philosophie und deren methodischem Aufbau. Eine Diskussion über Steiners Resultate wird nur im Rahmen der Interpretation vorgesehen. Das Interesse der vorliegenden Arbeit ist daher primär historisch. Sie versucht, die Philosophie Steiners zu verstehen im historischen Kontext und die Intentionen seines Denkens zu erfassen sowie das Unausgesprochene darin zu formulieren. Eine rein historische Untersuchung ohne irgendein implizites Moment des Beurteilens aus heutiger Sicht wäre freilich eine nicht zu verwirklichende Prätention

25 Stuttgart 1997. 26 Ein vielleicht aufgrund der Stichwörter ,Phänomenologie` und ,Idealismus` nahe liegender eingehender

Vergleich mit dem ,konstitutiven Idealismus` Husserls wird hier z. B. deshalb nicht angestrebt. Die Ausgangspunkte liegen noch zu weit auseinander, um hier unmittelbar erforderlich zu sein.

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10 KAPITEL I

der Objektivität. Zum Verständnis hat der Verstehende nach Einsicht der Hermeneutik ja seine eigenen Voraussetzungen einzubringen. Wir sind heute auf erhebliche Distanz zur idealistischen Philosophie geraten.27 Eine geläufige Ansicht, als wäre die idealistische Philosophie nur „schlichter Unsinn und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat"28, tut man jedoch besser einzuklammern, wenn es dieser Philosophie einen Sinn abzugewinnen gilt.

5. Voraussetzung ist ferner das principle of charity, denn wir setzen, anders als Hart-mann, Drews und Irons, am Anfang voraus, den augenscheinlich widersprüchlichen Elementen von Steiners Philosophie liege doch ein einheitliches Gesamtkonzept und eine systematische Methodik zugrunde. Diese Voraussetzung wird dann selbstverständ-lich einzulösen sein.

6. Zuletzt wird diese Arbeit sich beschränken auf die Philosophie Steiners. Nicht in Betracht kommt daher die weitere Entwicklung dieses Gegensatzes von Phänomena-lismus und Idealismus im Zusammenhang mit anderen Themen der Anthroposophie, obwohl vielleicht erst vor diesem Hintergrund deutlich wird, wie Steiner den Streit um den Idealismus als einen Geisteskampf ansah, den er als Zeitenschicksal deutete. Ein Problem dabei ist freilich, dass die Unterscheidung von Philosophie und Anthro-posophie nicht sehr scharf ist. Klar ist jedenfalls, dass Steiners Ansichten über den Zusammenhang des gegliederten Menschenwesens mit der geistigen Welt, über Re-inkarnation und die Wirkung des menschlichen Schicksals usw. außerhalb des Kreises unserer Fragestellung liegen. Ebenso deutlich ist aber auch, dass diese ganze Welt einer christologischen Deutung des Idealismus, der Palingenesie der Seele und des Schicksals nah der Goethe-Zeit und ihrer idealistischen Philosophie angehört, einschließlich des Wortes ,Anthroposophie selber (bei Schelling, Troxler, I.H. Fichte, Zimmermann).29

Für unsere Zwecke wird es ausreichen, die Fragestellung auf Steiners philosophische Schriften in der Periode bis etwa 1900 zu beschränken und von späteren Werken und Vorträgen nur das einzubeziehen, was in direkten Zusammenhang mit diesen phi-losophischen Anschauungen gebracht, somit als spätere Zusätze zum früheren Werk betrachtet werden kann. Die freilich fließende Grenze bringt es mit sich, dass einiges,

27 Obwohl McDowells Mind and World (Cambridge MA, 1994) von einem neuen Interesse gerade von der analytischen Philosophie in dem Idealismus kündet und eine erneute Sensibilität für die Unzuläng-lichkeit, mit der die analytische Philosophie um die vorige Jahrhundertwende gegen den Idealismus argumentierte, sich auftut: vgl. Peter Hylton, Russell, Idealism and the Emergence of Analytical Philoso-phy, OXford 199o.

28 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Basic Blackwell 1958), § 119, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1978, S. 81. Ein Widerhall von Schopenhauers Urteil über Hegel: ,seichten Wortkram` und ,baren Unsinn'. Zurzeit die Ansicht eines R. Rorty und D. Dennett: ,abgelebte Metaphern'.

29 Vgl. GA Beiträge 121, Anthroposophie. Quellentexte zur Wortgeschichte, Dornach 1999, namentlich vom Verf., „Anthroposophie", eine philosophiegeschichtliche Betrachtung, a. a. O., S. 66-79, und über Reinkarnation im Allgemeinen z. B. R. Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen, Gütersloh 1996,

S. 77-93•

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EINLEITUNG 11

das unter den Titeln ,Theosophie' oder ,Anthroposophie publiziert oder vorgetragen war, hier als ,philosophisch` behandelt wird. Zur Abgrenzung werden wir uns dabei methodisch auf eine rule of reason verlassen müssen.30

7. Die Sekundärliteratur zu Steiners Philosophie ist im Umfang sehr gering.31 Nach einem Jahrhundert seit dem Erscheinen seiner Philosophie der Freiheit steht ein aka-demisches Gespräch darüber immer noch aus.32 Seit kurzem ist ein Aufleben des aka-demischen Interesses zur Philosophie Steiners zu bemerken.33 Diese Sekundärliteratur ist für unsere Untersuchung doch nur von beschränkter Bedeutung und gibt daher nicht im Voraus den Rahmen unserer Interpretation her. Nur im letzteren Teil dieser Untersuchung werden wir uns mit ihr nebenbei auseinandersetzen.

3o Unsere Arbeit unterscheidet sich daher methodisch von der Arbeit M.B. Majorek, Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand. Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse, Tübingen / Basel 2001 (Diss. Univ. Basel). In den ersten 35o Seiten gibt Majorek einen Überblick von den philosophischen Aporien des modernen Objektivitätsideals, um sie nachher im letzten Kapitel aufzulösen vom Standpunkt der Anthroposophie aus (Kap. 6). Er ist dann gezwungen, dem Leser um einen gewissen Vertrauensvorschuss zu bitten, dass die übersinnliche Erkenntnismethode der Anthro-posophie leistungsfähig sei und ihre Resultate die erwünschte Objektivität besitzen (S. 358). Majorek stößt dabei an eine ,prinzipielle Schranke', dass gemessen an den konventionellen Erkenntnismetho-den man Steiners anthroposophische Erkenntniswege ablehnen muss (S. 483). Das hindert uns aber nicht daran, Steiner auf, wenn auch nicht immer aktuell-konventionellem, so doch auf bekanntem philosophischen Terrain zu begegnen.

31 Es gab über längere Zeit nur einige kleinere Dissertationen zur Philosophie Steiners: von W.J. Stein, Die moderne naturwissenschaftliche Vorstellungsart und die Weltanschauung Goethes, wie Rudolf Steiner sie vertritt, fertiggestellt unter Leitung von Steiner, approbiert von der philosophische Fakultät der Universität Wien (Stuttgart, 1921); von B. Kallert, der 1943 an der Universität Erlangen bei E. Herrigel promovierte: Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners. Der Erkenntnisbegriff des objektiven Idealismus, 2.

Aufl., Stuttgart 1971. 32 So folgert Lindenberg (1997), S. 239. G. Wehr stellt fest in Rudolf Steiner, Leben Erkenntnis Kulturim-

puls (München 1987): „Zwar wird der Name des Begründers der Anthroposophie in den allgemeinen Nachschlagewerken behandelt [ ... J. Um so seltener begegnet man ihm aber in der übrigen Sach-und Fachliteratur oder im einschlägigen theologischen Schrifttum. Noch heute scheint es riskant zu sein, Rudolf Steiner in einem anderen als in einem apologetisch-abgrenzenden Sinn zu nennen." (S. 9). So schon in R. Eislers Philosophen-Lexikon (Berlin 1912), S. 712. Im Philosophen-Lexikon von W. Ziegenfuß und G. Jung (Berlin 195o) wird seine Philosophie reduziert auf Haeckel und Nietzsche (S. 632). Sachliche Information zu seiner Philosophie fehlt im Lemma ,Steiner` gänzlich in Dictionaire

des Philosophes, herausg. D. Huisman, P.U.F.-Paris 1984, S. 2702, in Routledge Encyclopedia of Philo-

sophy, herausg. E. Craig, London-New York 1998, 9.Bd., S. 133 und in Enzyklopädie Philosophie und

Wissenschaftstheorie, herausg. J. Mittelstraß, Stuttgart-Weimar 1996, 4. Bd., S. 87. Sachgemäß dagegen J. Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1. Bd., Darmstadt 1971, S. 378-379 und Encyclopédie

philosophique universelle, P.U.F., 1992, III-2, S. 2870-2871. 33 Vgl. M. Muschalle, Das Denken und seine Beobachtung. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Epis-

temologie und Methodologie in der Philosophie Rudolf Steiners, Diss. Univ. Bielefeld 1988, M. da Veiga Gruel (199o), F. Schwarzkopf, The Metamorphosis of the Given. Empirical Considerations as Founda-tion for Paradigmatic Thinking, PhD-Thesis Univ. San Diego 1992, Lang Publishing 1995, W. Zumdick, Über das Denken bei Joseph Beuys und Rudolf Steiner (Diss. RWTH Aachen), Basel 1995 und M. Joseph, La Philosophie et la Pédagogie Sociale de Rudolf Steiner. De la théorie de la connaissance Steinerienne comme expérience de l'esprit à sa réalisation dans l'Anthroposophie, la pédagogie Waldorf et l'Art social,

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12 KAPITEL I

§ 1.5. Aufbau dieser Untersuchung

Der weitere Aufbau dieser Untersuchung ist demgemäß der folgende. Im ersten Teil (Kapitel II) werden wir die Gesamtentwicklung von Steiners Philosophie skizzieren. Die in späteren Kapiteln zurückkehrenden Teile werden dabei nur in knapper Form behandelt. Wir runden ab mit einer Periodisierung seiner philosophischen Werke (§2.22).

Im zweiten Teil (Kapitel III bis vi) behandeln wir die historischen Voraussetzungen und Steiners Auseinandersetzung mit ihnen: erstens seine Kritik am damals geläufigen Atomismus (Kapitel III), dann seine Interpretation von Goethes naturwissenschaftli-chen Schriften (Kapitel Iv). In diesen zwei eng zusammenhängenden Kapiteln werden wir Steiners Konzept einer phänomenologischen Wissenschaft, die er sich in Ausein-andersetzung mit Goethe erarbeitete, darstellen.

Voraussetzung für die methodische Gestaltung seiner Philosophie sind auch Stei-ners Ansichten zur Logik und Mathematik. Seine Ansichten über die Logik werden wir in Kapitel y eruieren, und es wird sich zeigen, welche Bedeutung hier Hegels Logik beizumessen ist. Nach dem Selbstverständnis Steiners war die Mathematik in seiner wissenschaftlichen Ausbildung von paradigmatischer Bedeutung. Seine Auffassung von bestimmten Grundbegriffen der Mathematik und seine Stellungnahme in dem Streit über analytische und synthetische Methoden der Geometrie sind zudem aufschluss-reich für das Verständnis seiner Philosophie. Die projektive Geometrie war ihm im Besondern ein Paradigma für einen erneuerten wissenschaftlichen Idealismus. Diese Aspekte werden wir in Kapitel vi darstellen.

Im dritten Teil wird die eigentliche philosophische Methode zu befragen sein. Wir werden sie analysieren in ihren drei historischen Schritten von a) dem ersten Versuch einer Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung (die mehr sein soll als eine Interpretation der Ansichten Goethes, nämlich eine systematische Rechtfertigung der-selben; Kapitel vii), b) der Promotionsarbeit, die eine Auseinandersetzung mit Kant (d. h. dem damaligen Neukantianismus) und Fichte beinhaltet (Kapitel VIII), und c) seiner Philosophie der Freiheit, in der sich die Grundstruktur seiner systematischen Posi-tion erstmals zur Vollständigkeit entfalten wird (Kapitel ix). Gleichsam im Rückblick wird die Vorgehensweise Steiners weiter aufgeklärt in einer Gesamtsystematik einer Weltanschauungslogik dialektischer Art. Ihre Darstellung mit Bezug auf Hegels Wis-senschaft der Logik erlaubt den Überblick über das Ganze seiner Philosophie (Kapitel x). Der Abschluss des dritten Teils bildet das Fazit der Methodenfrage (Kapitel xi) .

Zuletzt fassen wir das Ergebnis der ganzen Untersuchung Kapitel XII zusammen und ziehen unsere Folgerungen zur Hauptfrage.

Thèse de doctorat en philosophie, Paris viii 1999/2000 (in seinem Quellennachweis auf S. 724 erwähnt er eine nichtpublizierte Thèse doct. d'Etat von RH. Bideau, Paris Sorbonne 199o). Zuletzt gibt es die erwähnte ausführliche Studie von Majorek (2001).

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ERSTER TEIL

Das Material

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KAPITEL II

Übersicht über Steiners philosophische Entwicklung

§ 2.1. Erste Schritte in der Mathematik und Philosophie

Unter einfachen Verhältnissen in der österreichischen Provinz aufgewachsen, trug seine Familienumgebung nur wenig zu Steiners Bildung bei. Die Eltern und Verwandten waren nicht ,gebildet`. Der Vater war ein Beamter im Eisenbahndienst, ein Stationschef von kleinen Eisenbahnhöfen (Pottschach, Neudörfl, Inzersdorf, Brunn am Gebirge). Ein vom Hilfslehrer an der Volksschule geliehenes Geometriebuch (Anfangsgründe der Geometrie in Verbindung mit dem Zeichnen von Franz Močnik) machte auf den ganz jungen Steiner, als er etwa zehn Jahre alt war, einen bemerkenswerten Eindruck. Wochenlang beschäftigte er sich leidenschaftlich mit den elementaren geometrischen Figuren bis zum Pythagoreischen Lehrsatz. Erkenntnisfragen tauchten auf: „Ich zer-grübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden" (GA 2820 ff.) . Es zeichnet seine Geisteshaltung aus, dass Steiner in seiner Autobiogra-fie im Rückblick über diese Erfahrung mit der Geometrie schreibt: „Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe" (GA 28\21). Die Geometrie war ein inneres Erlebnis von objektivem Erkenntniswert, denn man erfasste mit ihr Verhält-nisse der Außenwelt. In dergleichen Gedanken über Geometrie sah Steiner retrospektiv „das erste Aufkeimen einer Anschauung", die „um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewußte Gestalt annahm" (GA 28\21).

Nach der Volksschule ging Steiner in die Realschule in Wiener-Neustadt. Die klassi-sche Bildung eines Gymnasiums lag außerhalb des Horizontes der Familie. So war die Ausbildung von Anfang an gerichtet auf die Naturwissenschaften statt auf die Huma-niora. Mathematik wurde Steiners Lieblingsfach, namentlich die Geometrie. Ein Buch von seinem Schuldirektor, Heinrich Schramm, Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen (Wien 1872) war ihm eine besondere Herausfor-derung. Er versuchte, dem mit höherer Mathematik durchzogenen, materialistischen Exposé durch eifriges Selbststudium (u. a. von H.B. Lübsens Bücher zum Selbstunter-richt in der analytischen Geometrie, Differential- und Integralsrechnung) beizukommen. Der Wille, diese Gedankenmasse zu bewältigen, war zu groß, als dass Steiner noch lange warten wollte, bis er schulmäßig reif dafür war. Der wissenschaftliche Materialismus war mithin die erste ,Philosophie, die er kennen lernen und sich zu Eigen machen suchte.

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16 KAPITEL II

Als er 1877 (sechzehn Jahre alt) an einem Schaufenster einer Buchhandlung in Wiener-Neustadt vorbei gang, sah er dort Kants Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) in der soeben erschienenen Reclam-Ausgabe liegen. Er hatte wahrscheinlich noch nichts, oder vielleicht nur das wenigste, von Kants Philosophie gehört. Der Titel des Buches versprach ihm offensichtlich einen Einblick in das Wesen der menschlichen Vernunft, so dass er es möglichst bald zu erwerben suchte. Er heftete die einzelnen Bogen in sein Geschichtsbuch, das während der Unterrichtsstunde gelesen wurde, damit er überhaupt Zeit fand, sich in Kant zu vertiefen. Manche Seiten musste er „zwanzigmal" lesen, um den Gedanken zu erfassen. Er hat dann zu dieser Zeit auch andere bei Reclam erschienene Werke Kants gelesen und weiter die philosophischen Schriften von einem Schüler Herbarts (1776-1841), Gustav Adolf Lindner (1828-1887), dessen Einleitung in die Philosophie (Wien 1866) und Psychologie (Wien 1858). Kant und Herbart sind also die ersten Kapitel dieses jugendlichen Studiums der eigentlichen philosophischen Literatur.

§ 2.2. Fichte-Studien

Nach seiner Matura-Prüfung („mit Auszeichnung") war Steiner 1879 zum ersten Mal in Wien. Dort tauschte er beim Antiquariat seine Schulbücher für einige philosophi-sche Werke ein. Darunter Kants Prolegomena (1783), Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) und Die Bestimmung des Menschen (180o), eine Geschichte der Philosophie von dem Herbartianer C.A. Thilo (1813-1894) und einiges mehr vom frühen Kant (u. a. Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, 1876), Karl Leonard Reinhold (1758-1823) und Traugott Krug (1770-1842). Die Prole-gomena halfen Steiner, ein besseres Verständnis für Kant zu gewinnen, denn durch die Kritik der reinen Vernunft war ihm das nicht zu seiner Befriedigung gelungen. Aber „dasjenige, dem nun meine besondere Liebe sich zuwandte, war der erste Entwurf von Fichtes ,Wissenschaftslehre"` (GA 28\51-52) . Er wollte, Fichte nachfolgend, den Weg finden vom Ich zur Natur. Es hat sich ein Manuskript erhalten, in dem Steiner versucht hat, in selbständigen Gedankenschritten Fichtes Wissenschaftslehre für sich zu rekon-struieren. Er hat dafür die Wissenschaftslehre von 1794 genommen und deren Anfang Seite für Seite für sich umgeschrieben.

§ 2.3. Ausbildung an der Technischen Hochschule und an der Universität Wien

Das Studium an der Technischen Hochschule in Wien, wo er sich zum Mathematikleh-rer auszubilden gedachte, ließ ihm wahrscheinlich nicht allzuviel Zeit, um dergleichen philosophische Studien intensiv weiterzutreiben, während er zusätzlich durch Privat-unterricht seinen Lebensunterhalt zu sichern hatte. Er hörte aber Vorlesungen an der Wiener Universität über Mathematik und Philosophie. So besuchte er die Vorlesungen von Robert Zimmermann (1824-1898), der damals in Wien als einer der führenden Herbartianer galt, und die Vorlesungen von Franz Brentano (1838-1917). Beide lasen

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über praktische Philosophie (Zimmermann später über Ästhetik). Steiner war nicht besonders stark beeindruckt, dennoch war es ihm wichtig, der Philosophie ,in Person' begegnet zu sein, und es war der Anlass, die Schriften von Zimmermann' und von Brentano zu studieren. Die Art und Weise, wie Brentano seine Philosophie vortrug, war für Steiner später Gegenstand des Aufsatzes Philosophenhände.2 An der Universität hörte er weiter noch Ernst Machs (1838-1916) Vortrag Über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung (GA 186\222) und mehrere Vorlesungen des Philosophen J.G. Vogt (geb. 1843).

Steiner war zu dieser Zeit sowohl mit den philosophischen Ansichten von Fichte und bald auch von Schelling und Hegel beschäftigt sowie mit denjenigen Brentanos und Herbarts. Von dieser Beschäftigung mit dem Idealismus und im Besonderen mit Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus (1795) spricht der erste erhaltene Brief Steiners vom 1o./11. Januar 1881: „Mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr sei, was Schelling sagt: ,Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.' Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben — geahnt habe ich es ja schon längst —: die ganze idealistische Philosophie steht in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir" (GA 38\13). Bemerkenswert ist, dass das denkende Ich, jenes geheime Vermögen, nicht als theoretisches Postulat genommen wird, sondern offensichtlich als phänomenaler Gegenstand entdeckt wird, der uns unmittelbar oder mittelbar sein noumenales Eigenleben zeigen soll.

Die innere Erfahrung des Denkens war für Steiner ein geistiges Erlebnis, an dem er nicht zweifeln konnte: „Gedanken-Erleben war mir das Dasein in einer Wirklichkeit, an die als an einer durch und durch erlebten sich kein Zweifel heranwagen konnte. Die Welt der Sinne schien mir nicht so erlebbar. Sie ist da; aber man ergreift sie nicht wie den Gedanken." Letztere sind aber dasjenige, „durch das die Sinnenwelt sich ausspricht" (GA 28\62). So beschreibt er seine ersten Gedanken über eine „Erkennt-nistheorie" während der ersten Studienjahre in Wien. Weil er aber vorsichtig seine eigene philosophische Anschauung ausbilden wollte, widmete er sich zunächst „einem wirklich eingehenden Studium Hegels", das ihm „für eine längere Zeit sehr wertvoll" war (GA 28\63).

Die eigentliche philosophische Herausforderung kam Steiner in dieser Zeit nicht von Seiten der akademischen Philosophie (Zimmermann und Brentano), sondern von Seiten der Naturwissenschaft, der seine täglichen Studien gewidmet waren. Die Natur-

1 Von diesem z. B. auch Anthroposophie im Umriß. Entwurf einer Systems idealer Wissenschaft auf realis-tischer Grundlage, Wien 1882.

2 In: Goethe-Studien und Goetheanistische Denkmethoden, der Goetheanumgedanke inmitten der Kultur-krisis der Gegenwart, Gesammelte Aufsätze von Rudolf Steiner, ein Goethe-Jahrbuch, Phil.-Anthr. Verlag Dornach 1932, S. 12o-123; GA 36\166-169.

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wissenschaften gaben seinen Überlegungen Halt und Gewicht, die er für ein sicheres Urteil brauchte. Vor diesem „Forum des naturwissenschaftlichen Denkens" wollte er „seine Anschauungen für gerechtfertigt halten" (GA 28\72). Die Mathematik behielt für ihn die Bedeutung einer Grundlage des ganzen Erkenntnisstrebens (GA 28\63), und er wusste sich dadurch „gegen ein Umschlagen in rein Hegelsche Begriffskonstruktionen" von Anfang „durch seinen positiven Ausgangspunkt geschützt" (GA 1\252) .

§ 2.4. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften

Der bedeutendste Lehrer an der Wiener Technischen Hochschule war für Steiner den-noch nicht einer der mathematischen oder naturwissenschaftlichen Fächer, sondern Karl Julius Schröer (1825-1900), Professor für deutsche Sprache und Literatur. Dieser hatte in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts an den Universitäten von Leipzig, Halle und Berlin, wo noch der nachkantische Idealismus herrschte, deutsche Sprache und Literatur studiert und war diesem Idealismus, in der Person von Goethe, ganz ergeben. Goethe war für Schröer der Höhepunkt der deutschen Dichtung, sogar aller Kultur überhaupt. Die Ideenwelt war für Schröer die treibende Kraft in Natur und Kultur. Er brachte dem jungen Steiner, dem er, trotz eines Alterunterschiedes von etwa dreißig Jahren, befreundet wurde, Goethe in vielen persönlichen Gesprächen nahe. Wie verhielt sich nun der Idealismus Goethes zu der modernen Naturwissen-schaft? Diese Frage musste Steiner bewegen. Er schrieb bald darüber einige (nicht erhaltene) Abhandlungen, die er Schröer überreichte (GA 28\96). Steiner versuchte seine philosophische Anschauung mit den Ergebnissen der modernen Naturwissen-schaft (namentlich der Optik, Physiologie und Anatomie u. dgl.) zu verbinden. Dem Philosophen Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) schickte er am 20. Juni 1882 eine

kleine Abhandlung Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe, in der er betont, die Begriffe hätten ihre eigene, auf sich gebaute Daseinsform. Aus den Vorstellungen des Atomismus heraus ist das Vorkommen von Begriffen nicht erklärlich, womit man zugleich diese Sicht in die Schranken gewiesen hat. Vischer schrieb einige zustimmende Worte zurück (GA 2\11) . In all dem konnte der Literaturprofessor Schröer Steiner nicht viel weiter helfen, doch er wird sich bestimmt gefreut haben, dass der junge Steiner eintrat für Goethes Naturanschauung und die Hoffnung bestand, dass diese nicht von der modernen Wissenschaft grundsätzlich überholt war.

1863 hatte Carl Gustav Carus (1789-1869) noch prophezeit, dass die Wirkung von Goethe „nicht abgeschlossen war" und „von Beendigung nach irgendeinem Zeitmasse" keine Rede sein konnte.4 Schon 1882 erklärte dennoch der Berliner Physiologe Emil Dubois-Reymond (1818-1896) in seiner berüchtigten Rektoratsrede Goethe und kein

Ende, aus positivistischer Wissenschaftsauffassung, die naturwissenschaftlichen Stu-dien und Werke Goethes für eine „totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilet-

3 GA Beiträge 63. 4 H. Kindermann, Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1966, S. 57.

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tanten", denen überhaupt keine Bedeutung, und wenn eine, nur eine negative, beizu-messen wäre.5 Dieser Ansicht hat sich nun Schroër von allen damaligen Philologen am schärfsten entgegengesetzt. Man könne das dichterische Werk Goethes seiner Meinung nach nur verstehen, wenn man Goethes naturwissenschaftliche Arbeit kenne und zu schätzen wisse.6 Damit stand er übrigens nicht allein. So war im x. Band der Zeit-schrift für Völkerpsychologie 1877 der Aufsatz von Wilhelm Dilthey (1833-1911) Goethe und die dichterische Phantasie erschienen,' in dem Dilthey das Schaffen Goethes unter einen einheitlichen Gesichtspunkt fasst: die naturwissenschaftlichen Studien sind Goe-the allmählich die Grundlage gewesen für ein in Selbstbildung errungenes Verstehen des Lebens aus dem Leben selber heraus.8 Nun war Schröer beteiligt an der Heraus-gabe von Goethes Werken unter Leitung von Joseph Kürschner in der Serie Deutsche National-Literatur des Spemann Verlages. Im Sommer 1882 wagte Schröer den Schritt, Kürschner vorzuschlagen, den jungen ,Studiosus Steiner' die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in dieser Serie herausgeben zu lassen. Der Vorschlag wurde erst von Kürschner und dann von Steiner angenommen. Von Oktober 1882 bis Februar 1883

war Steiner fast ausschließlich mit dieser Herausgabe beschäftigt. Das Studium an der Technischen Hochschule gab er auf und nahm eine Stellung als Hauslehrer an, die ihm die Existenz sichern sollte, während er seine privaten Studien über Goethe und die Phi-losophie fortsetzte. Er hat wohl gedacht, direkt an der Universität zu promovieren und eine akademische Laufbahn antreten zu können. Er befasste sich auf philosophischem Gebiete zu dieser Zeit namentlich mit den Schriften von Johannes Volkelt (1848-1930)

und Eduard von Hartmann (1842-1906).

Steiners Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften für Kürschners Deutsche National-Literatur (GA 1) sind nicht schlicht philologische Einführungen. Es sind vielmehr philosophische Aufsätze, die den Grund klären wollen für ein neues Verständnis von Goethes Denken. Schon die erste Einleitung gibt den neuen Ton an. Nicht die Einzelentdeckungen, die Goethe gemacht hat, sind Steiner wichtig. Er betont sogleich den neuen Gesichtspunkt: Goethes Entdeckung des Wesens des Orga-nischen. Der Metamorphosegedanke „ist die in die Idee übersetzte Natur der Pflanze, die in unserem Geiste ebenso lebt wie im Objekte" (GA 1\12-13) . In diesem Satze steckt schon eine ganze erkenntnistheoretische Stellungnahme. Die folgenden Einleitungen, namentlich in seinem Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes Schriften über die organische Bildung, seinem Goethes Erkenntnis-Art, in dem Aufsatz Goethes Erkenntnis-theorie in Verhältnis der Goetheschen Denkweise zu anderen Ansichten und Goethe als Denker und Forscher (alle in GA 1) führen diesen Gedanken weiter aus. Steiner sieht in Goethe eine Voraussetzung tätig, der man erst philosophisch beikommen kann. Es ist der Glaube, dass alles nur Manifestation der Idee ist (GA 1\214). Goethes Wesen

5 Kindermann (1966), S. 44. 6 Kindermann (1966), S. 64-65. 7 Das Erlebnis und die Dichtung, 4. Aufl., Berlin 1913,5.175-267, und Anm. S. 468. 8 Ebd., S. 201 und Kindermann (1961), S. 61-64.

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wirkte deshalb „philosophisch, d. h. so, daß es sich nur in philosophischen Formeln aussprechen, nur von philosophischen Voraussetzungen rechtfertigen läßt" (GA 1\215) . Diese Rechtfertigung seiner Eigenart zu denken hatte Goethe selber erst in der Philo-sophie von Spinoza, dann in den Philosophien von Kant und Fichte, und später von Schelling und Hegel gesucht. Steiner wollte nun diese philosophische Rechtfertigung in seinen Einleitungen darstellen, die also notwendig von philosophischem Gehalt sind. Nicht dass sie über philosophische Argumente diskutieren. Man kann eher sagen: Steiner gibt eine philosophische Beschreibung von Goethes naturwissenschaftlichem Denken.

Seine Ausgabe der Einleitungen der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes brachten dem jungen Steiner Anerkennung. Wilhelm Dilthey sprach von den „scharf-sinnigen Auseinandersetzungen Rudolf Steiners, von welchem wir auch die beiden mus-terhaften Ausgaben der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes besitzen".9 Adolf Harpf (1857-1927), der damals auch über Goethes Verhältnis zur Philosophie publi-ziert hatte, gestand in seiner Rezension einer Goethe-Ausgabe Steiners: „Diese Aus-gabe von Goethe's Aufsätzen über Bildung und Umbildung organischer Naturen ist eine philosophische Errungenschaft, und kann ihr in gleicher Hinsicht keine zweite ebenbürtig an die Seite gestellt werden, wie denn eine gründliche philosophische Wür-digung des Gedankeninhaltes der Weltanschauungen unserer Dichterheroen über-haupt jungen Datums ist".10 Noch Heinz Kindermanns Das Goethebild des 20. Jahrhun-derts erwähnt, „daß Rudolf Steiners meist übergangene oder nur am Rande beachtete Goethe-Erschließung in diesen seinen frühen, noch nicht anthroposophisch gefärbten Arbeiten trotz aller Einseitigkeiten zu den wichtigsten Pioniertaten der Goethefor-schung im xx. Jahrhundert gehört"."

Die Denkweise Goethes aus seinem Werk herauszulesen, ist selber eine Tat philo-sophischer Interpretation. Andere Philosophen kamen da zu einem anderen Ergebnis. Dies zeigt sich besonders in Steiners Auseinandersetzung mit dem Schopenhauerianer Adolph Harpf12 („Den prinzipiellen Unterschied zwischen Goethe und Schopenhauer, wie wir ihn [ ... ] charakterisieren, findet Harpf, der selbst Schopenhauerianer ist, nicht heraus"; GA 1\226, Anm. 95) und dem Neukantianer Karl Vorländer(1860-1928)13 („Vor-länder hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in der Goethe lebte"; GA 1\336, Anm.

9 Gesammelte Schriften, II. Band, zweite Aufl., Berlin 1921, S. 379. 10 Philosophische Monatshefte, XXII, 1886, S. 429. 11 Zweite Auflage, Darmstadt 1966, S. 68. Kindermann würdigt, dass Steiner als einer der Ersten auf

die zentrale Bedeutung der Metamorphosenlehre Goethes und seine Erkenntnisart („anschauende Urteilskraft") gewiesen hat (S. 65-68) .

12 Vgl dessen Goethe's Erkenntnisprinzip, in: Philosophische Monatshefte, XIX, 1883, S. 1-39, und Scho-penhauer und Goethe, ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauer'schen Philosophie, in: Philosophische Monatshefte, XXI, 1885, S. 449-479.

13 Goethes philosophische Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Kant in: Kant-Studien, Heft Nr 1(1897), S. 63 ff.; Steiner in GA 1\336-337, Anm. 106; Vgl. Vorländers Kant, Schiller, Goethe, gesammelte Aufsätze, Leipzig 1903, worin er sein Urteil über den Kantianismus Goethes etwas abgemildert hatte: vgl. S. 258-26o.

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). Im weiteren Verfolg dieser Untersuchung wird darauf noch zurückzukommen sein. Hervorzuheben ist hier, dass Steiner zu gleicher Zeit der Philosophie, namentlich der kantischen, vorwirft, nicht unbefangen genug die Frage nach der Erkenntnis gestellt zu haben. Wenn wir nach der Möglichkeit bestimmter Formen der Erkenntnis fragen (Kant), setzt dies das Was der Erkenntnis als bekannt voraus. Das vollendete „gegen-ständliche" Denken Goethes, seine (in späterer Terminologie) ,phänomenologische' Betrachtungsart wäre, nach Steiner, „für den Philosophen ein typisches Musterbild für die Auffindung der Gesetze objektiver Weltbetrachtung. Man kann annehmen, daß die Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann fruchtbar werden kann, wenn sie ihren Ausgangspunkt von Goethes Betrachtungs- und Denkweise nehmen wird." (GA 1\57). Eine subjektive Denkweise wird, von der Philosophie analysiert, also nur eine subjektivistische Erkenntnistheorie erzeugen. Steiner will nicht etwa die landläufige ungelenke Denkart zum Vorbild und Objekt der Philosophie erheben. Seine philosophische Kritik des Atomismus hatte ihn prädisponiert für Goethes dynamische Vorstellungsart. Durch die Philosophie ist diese Goethe'sche Anschauungsweise erst zu verstehen, die zwar in ihren Anfängen stecken geblieben ist, aber in der philosophischen Analyse eine erkennbare Potenz aufweist. Sie ist zugleich Muster und Ziel des Erkennens, daher Maßstab einer Erkenntnistheorie, und wirkt so auf die Philosophie zurück. Freilich kommt man aus dem Zirkel, der in diesem Standpunkt steckt, nur hinaus durch Rekurs auf die Erfahrung: „Die Größe dieses Gedankens [der Metamorphose] [ ... ] geht einem nur dann auf, wenn man ver-sucht, sich denselben im Geiste lebendig zu machen, wenn man es unternimmt ihn nachzudenken. Man wird dann gewahr, daß er die in die Idee übersetzte Natur der Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso lebt, wie im Objekt, man bemerkt auch, daß man sich einen Organismus bis in die kleinsten Teile hinein belebt [ ... ] vorstellt." (GA 1\13) . Es liegt hier mehr vor als ein hermeneutischer Zirkel, den Steiner vollzieht, um die philosophischen Implikationen von Goethes Denken herauszuarbeiten. Um eine (an Fichte anknüpfende) Philosophie des Geistes mit der Naturwissenschaft zu verbinden, musste Steiner eine Anschauungsart auffinden, die die Idee auch in der Natur aufweisen kann, die die geistige Idee, die der Idealismus im selbstbewussten Ich findet, in der Natur real wirksam sehen kann. Diese Brücke von Geist zu Natur, einst das Ziel der spekulativen Naturphilosophie (Schelling), die in Misskredit geriet im positivistischen Zeitalter, eine solche scientia intuitiva (Spinoza)14 der ,anschauenden Urteilskraft', somit eine idealisierende, vermittelnde Phänomenologie der Natur, findet Steiner bei Goethe. Dazu muss er zugleich bescheidener und kühner sein als der speku-lative Idealismus. Bescheidener, weil er nur auf positiver Erfahrungsgrundlage aufbaut; kühner, weil er die Idee aus dem abstrakten Idealismus befreien will. Das schwebte ihm

14 Ethica, II. Teil, Prop. XL, Anm. 2, und Prop. XLVII. Vgl. GA 1\76-81. Steiner sieht in Goethes Ansichten über die lebende Natur einen konsequenten ,Spinozismus`, d. h. eine immanente Erklärungsart, die Spinoza nur unvermittelt für das Raumhafte und Geistige (die beiden Attribute) angestrebt hatte. Goethe sollte sie im Zwischenbereich des Lebendigen handhaben.

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vor als eigene Erkenntnistheorie und Philosophie des menschlichen Bewusstseins, die sich als Fortsetzung von Goethes Anschauungsweise erweisen konnte.

§ 2.5. Grundlinien einer Erkenntnistheorie

Die Grundideen der wissenschaftlichen Anschauungen Goethes als eine in sich, selbst-ständig begründete Theorie darzustellen, ist Ziel und Aufgabe von Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller (1886; GA 2). Das Buch versucht, systematisch einen objektiven Idealismus zu entwickeln anhand des Begriffes der Erfahrung. Das Erfahrungsprinzip wird dabei gleichsam zum Extrem geführt. Der Anfang wird gemacht mit der Feststellung des Begriffes der Erfahrung. Die reine Erfahrung soll die Form der Wirklichkeit sein, die erscheint bei ,vollständiger Entäußerung unseres Selbst`, also mit vollständiger Zurück-haltung unseres Denkens (Epoché, epohe). Die Welt verwandelt durch diese Epoché in eine unbegrenzte Summe von Phänomenen (Standort des ,Phänomenalismus`, vgl. §1.2.3). Innerhalb dieses Stromes von zusammenhangslosen Erscheinungen erscheint aber auch schon das Denken, denn auch wenn wir das Denken nicht auf die übri-gen Phänomene beziehen und im Urteilen resignieren, ist es selber ,da`, d. h. innere Erscheinung, als besondere Erfahrung innerhalb der allgemeinen Erfahrung. Im Den-ken tritt nun als Erscheinung auf, was sonst nicht mit den Phänomenen mitgegeben ist: die Einsicht in ihren Zusammenhang, in ihre innere Struktur und ihr Verhältnis zu anderen Erscheinungen (ihre Allgemeinheit, ihr Wesen und ihre Gesetzmäßigkeit). Der Positivismus oder das sich auf die kahlen, elementaren Tatsachen stützende empirische Wissen (Phänomenalismus), lässt sich deshalb nur im Denken durchführen. Da haben wir eine auf sich stehende Wirklichkeit. Wir brauchen das Denken nur hinzunehmen, wie es ist, wenn wir es erkennen wollen. Denken und das Wissen von ihm sind für Steiner völlig eins. Das Denken klärt uns aber auch über alle anderen Phänomene auf, denn es findet den entwickelten Gedanken auch in den anderen Erscheinungen als Bestimmung ihrer Eigenschaften, Wesen und Gesetzmäßigkeit wieder. Das Denken vermittelt also das Wesen der Erscheinungen und ist somit der Kern der Welt. Nicht die phänomenale Welt ist die wahre, sondern die, welche dadurch entsteht, dass das Denken den Erscheinungen ihre geistige Stellung im Ganzen aufweist. Der Idealismus soll damit Resultat eines konsequenten Empirismus sein.

Mit Goethe weist Steiner die methodische Einförmigkeit des Denkens (monisti-schen Reduktionismus) zurück. Im Anorganischen führt das Denken die Erscheinung zurück auf die Urphänomene (objektive Naturgesetze, z. B. die quantativen Hauptge-setze der Mechanik sowie die qualitativen Grundsätze der Goethe'schen Farbenlehre) und ihre Umstände (Bedingungen), im Organischen auf den intuitiv zu erfassenden Typus (Goethes Urpflanze), in den Geisteswissenschaften auf die geistige Person (das Ich) und ihre freie Tätigkeit (Freiheit).

Steiners philosophischer Erstling (GA 2, i886) fand gleichfalls eine positive Auf-nahme. In den Philosophischen Monatsheften schrieb der Herausgeber Carl Schaar-

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schmidt, dass Steiner „in seiner sehr beachtungswerten Schrift" Gesichtspunkte her-vorbringt, die „in der Tat bedeutsam genug" sind, „um den Gedanken des Verfassers zu rechtfertigen, daß er mit seiner Schrift nicht nur einen Beitrag zur Goethelitte-ratur, sondern auch einen solchen zur Erkenntnislehre überhaupt geliefert habe."15

Namentlich die Erörterung des Begriffs der Erfahrung konnte interessieren.

§ 2.6. Der Kreis um Marie Eugenie delle Grazie

Steiner wurde ab 1886 regelmäßiger Gast am Sonnabend im Hause von Laurenz Müllner (1848-1911), Professor für christliche Philosophie (1894/1895 Rektor der Wiener Univer-sität), wo sich ein Kreis von Wissenschaftlern und Künstlern traf, dessen Mittelpunkt die junge Dichterin Marie Eugenie delle Grazie (1864-1931) war. Auf Schröers Emp-fehlung hatte Steiner ihre Dichtungen gelesen und in Der Freien Schlesischen Presse gepriesen. Er wurde dadurch in ihren Kreis eingeladen. Steiner begegnete dort u. a. Vincenz Knauer (1828-1894), Privatdozent für Philosophie an der Wiener Universi-

tät, dessen Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und theilweisen Lösungen von Thales bis Robert Hamerling (1892) er später rezensierte, Adolph Stöhr

(1895-1921), Ordinarius für Philosophie an der Wiener Universität (Leiter des Psycholo-

gischen Laboratoriums),16 und noch mehreren Professoren der theologischen Fakultät. In diesem Kreise wird Steiner manche philosophischen Anregungen erhalten haben. Er konnte hier Beziehungen zum akademischen Leben anknüpfen. Er führte auch Bekannte in diesen Kreis ein, wie z. B. Eugen Heinrich Schmidt (1851-1916), Autor der

von der Berliner Hegelgesellschaft preisgekrönten Schrift Das Geheimnis der Hegelschen

Dialektik beleuchtet vom concret-sinnlichem Standpunkte (1888).

Der Kreis war in der Ansicht Schröers eine Stätte des Pessimismus.17 Viele lei-tende Teilnehmer waren dem weltfreudigen Goethe entschieden abgeneigt. Müllner war überzeugter Skeptiker. So hielt er Steiner vor, dass dieser Goethe „Dinge andich-tete, die eigentlich mit dem wirklichen Minister des Großherzogs Karl August nicht viel zu tun haben." (GA 28\129). Der Kreis bildete somit die Antithesis zu Steiners mit Schröer gemeinsam betriebenen Goethe-Forschung. Schröer kam nur einmal in diese Gesellschaft und wollte wegen der anti-Goethe'schen Stimmung nie wiederkom-men. Delle Grazies Pessimismus war Anlass für Steiner, einen Aufsatz in der Wiener Zeitschrift An der schönen blauen Donau zu schreiben mit dem Titel Die Natur und

15 Philosophische Monatshefte, XXIV, 1888, S. 240. 16 Stöhr hat im Jahre 1919 die Dissertation W.J. Steins, über Locke, Berkeley und Steiners Goetheanismus

(vgl. Kap. I, Anm. 8 und 31) angenommen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass der alte Kontakt und der erinnerte gute Ruf Steiners im alten Kreise dabei eine Rolle spielte. Steiner hat diese Dissertation, die einzige über ihn zeitlebens, intensiv begleitet. Stöhr, der positivistisch angehaucht war, ein Bewunderer Machs, hat sie von der Fakultät approbieren lassen; vgl. Stein (1985), S. 76-68 und die Einführung von Th. Meyer, S. 12.

17 Jedenfalls bewegte dieses Thema die Gemüter. Knauer schrieb z. B. über Robert Hamerling gegen den

Pessimismus Schopenhauer's (Wien 1892).

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unsere Ideale. Ein Sendschreiben an Marie Eugenie delle Grazie (1886). Ideale sollten wir uns selber verdanken, nicht der äußeren Natur, und mithin ist unser Glück auch nicht nur von der äußeren Welt abhängig, denn wir werten die Welt nach unseren Idealen. Steiner nannte diesen Passus des Aufsatzes über die Eigenart der Ideale die ,Urzelle` seiner späteren Philosophie der Freiheit (GA 28\130). Die Ideale, führt Steiner hier aus, sind eine Welt für sich, Wesenheiten, sogar lebendige Individualitäten, deren Vollkommenheit nicht in ihrer Verwirklichung liegen kann. Wo bliebe denn auch die Freiheit, wenn die äußeren Umstände entscheidend wären für unseren Wert und unsere Vollkommenheit?

§ 2.7. Goethe'sche Ästhetik

Im Wiener Goethe-Verein hielt Steiner am 9. November 1888 einen Vortrag Goethe als Vater einer neuen Ästhetik (GA 30). Steiner hatte sich längst mit Ästhetik beschäf-tigt.'$ Zuerst durch die Vorträge von Schröer an der Technischen Hochschule über die deutsche Dichtung. Er hatte auch Zimmermann über Ästhetik vortragen gehört und anschließend seine Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (1865) gelesen. Zimmer-manns Ästhetik war geprägt von der Auseinandersetzung mit ET. Vischers Auffassung. Steiner schrieb Vischer im Jahre 1882, und man darf voraussetzen, dass Steiner damals schon dessen Hauptwerk, eine Hegel'sche Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846-1857) kannte.19 Er war in Briefwechsel getreten mit E. von Hartmann, der ihm in 1887 seine Geschichte der Ästhetik (1886/1887) und Philosophie des Schönen geschickt hatte. Aus dem Briefwechsel geht hervor, dass Steiner beide Werke mit hohem Interesse stu-diert hatte. Steiner hat auch manche literarische Neuerscheinung rezensiert. Er war also nicht nur in der deutschen Klassik zuhause, sondern kannte sich in der moderneren Literatur gut aus. Eine grundlegende Erörterung des künstlerischen Schaffens bildet den Abschluss von Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschau-ung. In dem Vortrag vom 9. November 1888 entwickelt Steiner einen Begriff des Schönen durch eine Umkehrung des Hegel'schen Satzes „Das Schöne ist das sinnliche Scheinen der Idee":20 „Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich-wirklichen Gewande; nein es ist das Sinnliche-Wirkliche in einem göttlichen Gewande." (GA 30\43). Das Sinn-liche scheint, als wäre es Idee. Auch in seiner Ästhetik tritt somit zwar der Idealismus Steiners hervor, aber mit Betonung des Primats der empirischen Wirklichkeit.

18 Lindenberg (1997), S. 161-166. 19 Vgl. Vortrag vom 8. März 1924 in GA 235• 20 A. a. O. erwähnt Steiner diesen ,Satz von Hegel' als einen Grundgedanken von Vischers Ästhetik. Vgl.

auch die erwähnte Kritik Zimmermanns an ET. Vischer.

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§ 2.8. Studien über den Platonismus

Zu dieser Zeit hat Steiner sich noch ,eingehend beschäftigt' mit dem Platonismus (GA 28\201). Schon früher hatte er Dialoge von Platon studiert, jedenfalls die Politeia (davon zeugt der ersten erhaltenen Brief; GA 38\16), sowie Schellings platonisches Gespräch Bruno, oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge (1802) gelesen und sich für das Verhältnis zwischen antikem und neuerem Platonismus interessiert. Dazu las er auch die nötige Sekundarliteratur, wie H. von Steins Monografie Sieben Bücher Platonismus, auf die weiter unten zurückgekommen wird.

§ 2.9. Weimarer Zeit

Als der letzte Enkel Goethes starb, hatte dieser den handschriftlichen Familien-Nachlass von Goethe der Großherzogin Sophie Luise von Sachsen Weimar hinterlassen. Diese gründete damit ein Goethe-Archiv, das eine neue Goethe-Edition herausgeben sollte: die Weimarer Sophien-Ausgabe. Es ist wahrscheinlich auf einen Vorschlag der Großher-zogin persönlich zurückzuführen, dass Steiner, nach Anlass seiner Veröffentlichungen über Goethe, gebeten wurde, die Herausgabe der morphologischen Schriften Goethes zu versorgen.21 Diese Arbeit brachte ihn nach Weimar, wo er von 1890 bis 1897 an der Sophien-Ausgabe mitarbeitete.

Steiner hatte 1881 die Vorlesungen von Herman Grimm (1828-1901) über Goe-the22 gelesen. Durch seine Gedanken und persönlichen Verhältnisse zu Goethe und der Goethe-Zeit vermittelte Grimm das Gefühl unmittelbarer Nähe zu dem Dichter.23

Wie Schröer lebte Grimm ganz dem Idealismus hingegeben. Steiner las dann während seiner Wiener Jahre fast alles von ihm Publizierte. Jetzt in Weimar gewann Steiner ein persönliches Verhältnis zu ihm. Herman Grimm gehörte zur eigentlichen Füh-rung des Goethe-Archivs (mit G. von Loeper, 1822-1891 und W. Scherer, 1841-1886).

Namentlich vertraute Grimm Steiner in persönlichen Gesprächen seinen Gedanken über eine Geschichte der dichterischen Fantasie bei den europäischen Nationen an.24

Die ,dichterischen` Fantasien von Homer, Dante, Michelangelo, Raphael, Shakespeare und Goethe waren für Grimm Offenbarungen einer universellen, dichterischen Welt-fantasie, die sich in diesen Dichtern (Künstlern) auslebte. Steiner empfand: „Vor mir stand, nach meiner Ansicht, eines der seelenvollsten Bekenntnisse zum Geist, die man

21 Lindenberg (1997), S. 192. 22 Vorlesungen1874/1875, gehalten an der Von Humboldt Universität, von denen Dilthey dann das er-

wähnte Thema der schöpferischen Fantasie aufgegriffen hat. Vgl. Kindermann (1966), S. 57-61. 23 Wie Steiner in Eine vielleicht zeitgemässe persönliche Erinnerung erwähnt, erschienen in: Goetheanum, 3,

Juni 1923, und im Sammelband Goethe-Studien und Goetheanische Denkmethoden. Ein Goethe-Jahrbuch 1932, Dornach 1932, S. 85-86.

24 A. a. O., S. 87-89 und GA 28\211. Vgl. Kindermann, S. 6o-61.

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in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch finden konnte, die aber doch vor dem Tore der eigentlichen Geisteswelt stehen blieben".25 Grimm stand, in Steiners Augen, der mechanisch-positivistischen Naturbetrachtung genauso ratlos gegenüber wie Schröer und war nicht imstande, Goethe, vor dem Forum des naturwissenschaft-lichen Denkens' zu verteidigen.26 Dieser Umstand konnte Steiner nur befestigen in seinem Glauben, dass er mit der Herausgabe und Neuwertung der Goethe'schen natur-wissenschaftlichen Schriften und der Rechtfertigung eines objektiven Idealismus von der Zeit geforderte Aufgaben erfüllte, die von den bedeutendsten Geistern übergangen worden waren.

Die Zeit in Weimar war für Steiners Philosophie die produktivste seines Lebens. Nach dem späteren Umzug nach Berlin sollte er sich anderen Aufgaben widmen und auch sein Streben nach einer universitären Dozentur für Philosophie aufgeben. In Wei-mar schrieb er seine Dissertation Wahrheit und Wissenschaft (1891), sein philosophi-sches Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschau-ung (1893), ein Buch über Nietzsche, Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895), und die Gesamtdarstellung seines Goethebildes in Goethes Weltanschauung (1897). Daneben hat er zu dieser Zeit sieben Bände für die Sophien-Ausgabe fertiggestellt, noch einige Bände mit Einleitungen für Kürschners Nationalliteratur herausgegeben, dazu eine Schopenhauer Gesamtausgabe bei der Cotta'schen Bibliothek der Weltlitera-tur (und ebenfalls bei Cotta eine Ausgabe von ausgewählten Werken von Jean Paul). Schließlich publizierte er eine Unsumme von etwa achtzig Aufsätzen und Rezensionen, aus denen besonderes hervorzuheben sind die Aufsätze und Rezensionen: Die Philo-sophie in der Gegenwart und ihre Aussichten für die Zukunft (1892), eine Rezension zu Brentanos Das Genie (1892), Nietzscheanismus (1892), eine Rezension zu Also sprach Zarathustra iv („der Schluß des tiefsinnigsten aller oberflächlichen Bücher";1892) und über J.G. Vogts Die Unfreiheit des Willens (1893), den Essay Einheitliche Naturanschau-ung und Erkenntnisgrenzen (1893) und eine Besprechung Franz Brentanos Über die Zukunft der Philosophie (1893).

§2.10. Die Promotion

§ 2.10.1. Von Stein in Rostock

Am Ende der Wiener Jahre waren Steiner die Sieben Bücher zur Geschichte des Pla-tonismus27 von Heinrich von Stein (1833-1896), Ordinarius für Philosophie an der Universität Rostock (deren Rektor 1890-1892), „in die Hände gefallen" (GA 28\198). Vielleicht hat Schröer Steiner auf von Stein aufmerksam gemacht. Schröer war 1871 zum

25 Sammelband Goethe-Studien., S. 87. 26 A. a. O., S. 96-97 und 101-103. 27 3 Bände, Göttingen 1862, 1864 und 1875.

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Ehrendoktor der Universität Rostock ernannt worden. Das Buch von Heinrich von Stein fesselte Steiner dermaßen, dass er sich an ihn wendete wegen einer Promo-tion.28

§ 2.10.2. Dissensus von Kant

Zur Promotion forderte von Stein nach der Lektüre von u. a. Grundlinien (1886) Steiner auf, seinen „Dissensus von Kant [ ... ] noch strenger [zu] erörtern, als es bis jetzt der Fall war".29 Steiner hat mit seiner Dissertation Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichte's Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst versucht dieser Anforderung gerecht zu werden unter Einbeziehung der Fichte'schen Wissenschaftslehre. Mit dieser Studie erlangte er am 26. Oktober 1891 die Doktorwürde. Die Schrift wurde, versehen mit einer Vorrede und Schlussbetrachtung, unter den Titel Wahrheit und Wissenschaft, Vorspiel einer Philosophie der Freiheit30 herausgegeben. Sie enthält zuerst eine Kritik an Kants Philosophie (die neue Vorrede öffnet mit dem Satz: „Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden Kant-Glauben") . Sein Kant-Verständnis schöpfte Steiner, außer aus eigener langjähriger Kant-Lektüre, aus den Schriften von Cohen, Dilthey, Erdmann, Kuno Fischer, von Hartmann, Liebmann, Paulsen, Rehmke, Riehl, Stadler, Volkelt und Windelband.3' Dem Kant'schen Lehrgebäude fehle nach Steiner die gedie-gene Grundlage, denn Kant hat dogmatisch zweierlei vorausgesetzt: 1. dass es außer der Erfahrung noch a priori einen Weg zu gültigen Erkenntnissen gibt (synthetische Urteile a priori) und 2. dass alles Erfahrungswissen (a posteriori) nur bedingte Gültig-keit hat. Die Kritik der reinen Vernunft hat die Apriorität der Mathematik und reinen Naturwissenschaft nicht bewiesen, sondern sie einfach vorausgesetzt. Demgegenüber macht Steiner geltend, dass wir zuvor der Frage nachzugehen haben, was denn eigent-lich Erkennen ist. Steiner versucht einer voraussetzungslosen Methodik zu folgen, um sich an den Ausgangspunkt alles Erkennens zu versetzten: die reine Erfahrung der Welt, die uns zum Erkennen nötigt. Dazu muss man künstlich jeden Erkenntnisakt zurückhalten. Innerhalb des rein Gegebenen treten Begriffe und Ideen auf. Hier ist der Punkt, wo die Erfahrung in die Erkenntnistätigkeit hineingeht. Die Form der Erfahrung von Begriffen und Ideen nennt Steiner, in direktem Gegensatz zu Kant, ,intellektuelle Anschauung'. Kant soll sie zu Unrecht den Menschen ganz abgesprochen haben. In der Erkenntnispraxis verbinden wir Begriffe und Ideen (Kategorien) mit den einzelnen, nicht-ideellen Erfahrungsobjekten. Wir beziehen mit Hilfe der Begriffe die Erfahrungen

28 Siehe zu diesem Thema die ausführliche Monografie Rudolf Steiners Dissertation, Rudolf Steiner Studien. Veröffentlichungen des Archivs der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Bd. V, herausg. von David Marc Hoffmann, Walter Kugler und Ulla Trapp, Dornach 1991.

29 Brief an Steiner vom 15. November 189o, a. a. O., S. 188. 3o Der Untertitel spielt auf den Untertitel von Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886) an, der lautet:

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Vgl. a. a. O., S. 12. 31 Vgl. GA 3 (1958), S. 16-21.

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aufeinander. Auch für diesen Erkenntnisakt soll Kant mit seiner „synthetischen Ein-heit der Apperzeption" nicht das Richtige getroffen haben, denn aus der synthetischen Tätigkeit als solcher folgen nicht inhaltlich die gefundenen Gesetze. Ob zum Beispiel im konkreten Fall der synthetisch erfasste Begriff der Kausalität Anwendung findet oder nicht, ist letztendlich von dem zu befragenden Gegenstand her zu beurteilen. Die Erfahrung lehrt, dass die Gegenstände der Erfahrung dazu einen Halt bieten. Somit sind alle Erkenntnisse empirisch, obwohl vermittelt durch eine synthetische Funk-tion. Die Kant'schen Urteile a priori sind dagegen nur Postulate, keine Erkenntnisse. Dass die Objekte ideellen Kategorien entsprechen, ist kein Zwang der menschlichen Erkenntnis (,Bedingung der Erfahrung überhaupt`), sondern jedes mal Resultat eines gelungenen Erkenntnisversuches an einem Gegenstand. Das synthetische Verfahren des Erkennens stellt nach Steiner also einen ursprünglichen Zusammenhang wieder her (objektive Synthesis nach subjektiver Analyse), dem nicht bleibend ein Riss zwischen einem subjektiven und objektiven Element anhaftet. Aposteriorisches Erfahrungswis-sen begründet also eine objektive Wissenschaft, während die Kategorien als solche nicht zu einem apriorischen Wissen führen.

§ 2.10.3. Dissensus von Fichte

Zweitens geht Steiner in Auseinandersetzung mit Fichte der Frage nach, wie das menschliche Bewusstsein Erfahrungswelt und Idee umfasst, denn bis dahin wurde das Bewusstsein als solches nicht thematisiert. Es stellt sich heraus, dass im Bewusstsein erscheinender Gegenstand und Idee zuerst getrennt auftreten. Die Erkenntnis stellt aus ihnen (empirisch) den Zusammenhang wieder her. Sie überwindet dadurch nur eine subjektive Trennung, die für den Gegenstand als solchen gar keine Bedeutung hat. Wir müssen daher eher die Trennung von Gegenstand und Idee im ersten Auftreten für das Bewusstsein als subjektive Leistung bestimmen, statt ihre inhaltliche Einheit im Erkennen. Die Trennung wird zwar aufgehoben durch eine synthetische Tätigkeit des Bewusstseins, aber so ergibt sich nur, dass beide, Trennung und Synthesis, im Bewusstsein und für das Bewusstsein sind. Die Trennung ist nicht von einer freien Tätigkeit bedingt, denn wir finden sie passiv im Bewusstsein vor. Nur die Synthesis ist eigene, freie Denkaktivität. Diese setzt die unbewusste voraus. Für das ich-hafte Bewusstsein war die Spaltung notwendig, denn nur so konnte es aus freiem Entschluss sich selbst denkend, also durch die synthetische Aktivität, verwirklichen. Das Ich wäre ohne eine zu überwindende Trennung nicht da, denn es setzt sich selbst offenbar nur durch und in dem Erkennen. Hier findet sich der Punkt wo Steiner Fichtes Wissenschaftslehre berührt und sich zugleich von ihr abhebt. Fichte lässt das Ich sich selber wie das Nicht-Ich setzen und zwar zuletzt beides notwendigerweise in Wechselbeziehung. Aber der Übergang von unbedingter zu bedingter Tätigkeit des Ich soll ihm Steiner zufolge fehlen. Die Tätigkeit des Ich fängt nur beim bedingten Erkennen an (,Das Ich setzt das Erkennen`). Die abstrakte und unbestimmte Wissenschaftslehre Fichtes „gewinnt Hand und Fuß" (GA 3\79), wenn wir ausgehen von dem Erkennen als

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inhaltsvolle Tätigkeit des Ich. Diese Tätigkeit ist also bei Steiner, anders als bei Fichte, unmittelbar von der zu erkennenden Wirklichkeit bedingt.

§ 2.10.4. Gutachten und Widmung

Obwohl Heinrich von Stein nicht „jedes Urteil desselben unterschreiben möchte" und den Gedankengang auch „nicht immer so neu und überzeugend wie der Verfasser vorauszusetzen scheint" fand, würdigte er in seinem Gutachten die sachgemäße Durch-führung der Doktorarbeit und billigte auch „die Grundtendenz, über den einseitigen Subjektivismus hinaus zu kommen. "32

Die Buchausgabe widmete Steiner mit dessen Genehmigung Eduard von Hartmann, der ebenfalls in Rostock promoviert hatte, „da sich viele von meinen Ideen an dem Studium Ihrer Schriften entwickelten", wie Steiner an Hartmann schrieb.33 Hartmann dankte und antwortete: „Wenn ich nicht aus ihren früheren Arbeiten wüßte, worin sie abweichender Ansicht sind, so hätte ich es aus dieser Schrift nicht entnehmen können, weil sie da abbricht wo unsere Differenzen beginnen".34 Hartmann sah aber zu dieser Zeit noch eine „uns beiden gemeinsame Metaphysik" vor sich.35

§ 2.11. Die Philosophie der Freiheit

§ 2.11.1. Der Anlass

Im Fichte-Kapitel der Dissertation befinden sich die Sätze „Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unserer Erkenntnis-theorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese wird auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren ver-mag" (GA 3\79) . Eine Gelegenheit, diese Gedanken über die Ethik und Metaphysik zu veröffentlichen, wurde Steiner noch vor der Promotion geboten, als Ludwig Laist-ner (1845-1896), damals literarischer Beirat der Cotta'schen Verlagsbuchhandlung und als solcher öfter im Goethe-Archiv, Steiner vorschlug, für den Verlag ein Buch über Grundprobleme der Metaphysik zu verfassen. Zugleich bat Laistner ihn, eine Jean-Paul-und Schopenhauer-Ausgabe für Cotta zu übernehmen. Neben seinen anderen Geschäf-ten stellte er das Manuskript für das Buch innerhalb von etwa zwei Jahren fertig. Es wurde im Oktober 1893 von dem Verlag von Emil Felber (Berlin) zum Druck bestellt. Es erschien im November (obwohl das Titelblatt schon die Jahreszahl 1894 trägt) mit

dem Titel Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung, Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Warum ein anderer Ver-

32 Gutachten zur Dissertation, in: Hoffmann et al. (1991), S. 199. Ich lese aber „hinaus" für „hin an". 33 Brief an Hartmann von 20. März 1892, a. a. O., S. 208-209. 34 Brief von Hartmann an Steiner, a. a. O., S. 213. 35 A. a. O., S. 215.

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leger an die Stelle von Cotta trat, ist ungewiss (die Beziehungen zu Cotta und Laistner wurden nicht beendet). Der Titel bringt jetzt zum Ausdruck, dass Steiner seine Frei-heitsphilosophie im Sinne seiner Dissertation bringen wollte, statt einen geschichtlich-systematischen Traktat über die Metaphysik zu schreiben. Eine Philosophie der Freiheit

wurde auch in dem Untertitel von Wahrheit und Wissenschaft angekündigt.

§ 2.11.2. Monismus und Freiheit

Das Buch enthält eine monistische Erkenntnistheorie als Bedingung für eine Freiheits-lehre. Der erkenntnistheoretische Monismus, der jeden objektiven Dualismus (von Ich und Welt, Geist und Materie usw.) und daraus hervorgehenden Transzendentalismus überwinden will, ist eine notwendige Voraussetzung für die menschliche Freiheit, denn wenn wir in die Ursachen der Weltgeschehnisse nicht erkennend eindringen können, ist uns wohl auch der erkenntnismäßige Zugang zu den Ursachen unseres Handelns versagt. Kennen wir aber die Ursachen unseres Tuns nicht, so können wir auch nicht frei sein, denn es fehlte der Ansatzpunkt, die Ursachen irgendwie zu beeinflussen oder in die Hand zu nehmen. So muss die Exposition der monistischen Erkenntnistheorie, Inhalt eines ersten Teiles (mit der Überschrift Wissenschaft der Freiheit), die Grundlage des zweiten Teils über die Freiheit abgeben. Der zweite Teil erörtert die Idee der Freiheit und die Bedingungen und Aspekte ihrer Realisierung (Die Wirklichkeit der Freiheit). Auf monistischer Grundlage baut Steiner einen ethischen Individualismus auf. Ethi-sche Handlungen sind nur solche, die wissend vollzogen werden. Sie entspringen der reinen Intuition des Handelnden, d. h. Ideen zum Handeln, die jeder sich individuell denkend erwerben soll.

§ 2.11.3. Erster, erkenntnistheoretischer Teil

Das Ganze beruht angeblich auf einer empirischen Basis, denn das Buch sollte ,Be-

obachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode' (Motto des Titelblattes der Erstausgabe von 1893) enthalten. Darunter will Steiner verstanden haben eine „einfache Beschreibung dessen, was jedermann in seinem eigenen Bewußtsein erlebt" (GA 4\34). Um den Dualismus zu überwinden will er „keine Spekulationen anstellen über die Wechselwirkung von Natur und Geist. Wir wollen aber hinuntersteigen in die Tiefen unseres eigenen Wesens." (GA 4\34). Er will zunächst den Erkenntnisprozess nur beobachten, und aus dieser Beobachtung ergibt sich, dass der Gegensatz von Denken und Beobachten der erste sich zeigende Unterschied ist, der in diesem Prozess auffällt. Dabei stellt sich zugleich heraus, dass das Denken selber ein unbeobachtetes Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist (GA 4\42), denn der Denkende (,Ich`) beschäftigt sich immer mit einem Gegenstand (ideell oder sinnlich), ,worüber` er nachdenkt. Hinterher kann sich aber das Denken reflektieren, d. h. seinen Verlauf beobachten (GA 4\43). Denn das Denken muss sich ja kennen, weil das Subjekt es zu vollziehen hat (GA 4\44). Es kann aus seinem Denken nicht heraus. Es beobachtet

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seine eigene geistige Tätigkeit. Das ist aber die allerwichtigste Beobachtung, denn das Subjekt verbürgt sich selber die Realität des Denkens durch seine Tätigkeit (GA 4\46). Das Denken kann sich selbst erfassen (GA 4\51), und wir brauchen dann nur zu fragen, ob wir durch das Denken auch anderes als es selbst ergreifen können (GA 4\51) .

Dem Denken steht nun immer eine bestimmte Wahrnehmung, ein Objekt der Beobachtung, gegenüber, die nicht unmittelbar von der denkenden Tätigkeit abhängt (GA 4\62). Das Denken geht ständig über die Wahrnehmung hinaus, da es Begriffe sucht, die sich mit der Wahrnehmung verbinden lassen. Wenn das gelingt im Erkennt-nisakt, hat das Denken, durch das sich das Subjekt von dem Gegenstande (Objekt) unterscheidet, diese Spaltung von Subjekt und Objekt überwunden und das Subjekt mit dem Objekt wahrhaft verbunden: in der Tätigkeit des Denkens (im Subjekt) spricht sich durch Begriffe und Ideen das Wesen des Objekts aus (GA 4\60). Das Denken stellt das Subjekt zwar auf sich selbst, zugleich verbindet es sich ebenso sehr durch die Erkenntnis wieder mit der Welt. Die Wirklichkeit der Dinge fließt dem Subjekt daher von zwei Seiten zu: passiv von Seiten der Wahrnehmung, und geistig-aktiv von Seiten des Denkens (GA 4\88). Das Denken ist eigene Tätigkeit, wie auch eine allgemeine, denn es bildet die Begriffe und Ideen in allen menschlichen Bewusstseinen in gleicher Art. Es gibt nur einen einzigen Begriff des (Euklid'schen) Dreiecks, wie viele Köpfe ihn auch denken mögen (GA 4\91). Diese einer ideelle Inhalt des Denkens ist das Gemeinsame in den Einzelwesen der Welt (Subjekten wie Gegenständen). Die Erkenntnis liefert uns den Ausgleich von allgemeinem, geistigem Weltensein und beobachtetem Sonderding (GA 4\91-92) . Sie ist Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit (GA 4\96 und 115) .

Diesen Erkenntnisbegriff bezieht Steiner nun auf die Wahrnehmung. Wie Begriffe und Ideen entstehen, lässt sich am Denken beobachten, wie aber „eine Wahrnehmung aus dem Unwahrnehmbaren hervorgeht" kann man nicht gleicherweise irgendwie ,wahrnehmen` (GA 4\98). Es liegen für den Zusammenhang von Objekt und Sub-jekt nur ideelle Bezüge vor, nicht sinnlich real-wahrnehmbare Prozesse (GA 4\99). Der Dualismus macht den Fehler, diesen ideellen Gegensatz von Subjekt und Objekt zu hypostasieren und dabei Bestimmungen auf ein Objekt ,an sich' irgendwo hin-ter der Wahrnehmung (außerhalb des Bewusstseins) zu übertragen (GA 4\176-177). Der Monismus vermeidet diesen Widerspruch, eine Art unwahrnehmbarer, doch mit Wahrnehmungsqualitäten ausgestatteter Objekte zu setzen (GA 4\123) . Der Monis-mus verarbeitet die Erscheinungswelt innerhalb der Erfahrung zur Wirklichkeit, die sich lediglich aus Wahrnehmung und korrespondierendem Begriff zusammensetzt (GA 4\112). Das monistische Erkenntnisprinzip kann eine überflüssige transzendentale Welt, die bruchstückhafte hypostasierte Verdopplung der zugänglichen Wirklichkeit, völlig entbehren. Die Überwindung des Subjektivismus (Dualismus) hat bei Steiner demgemäß zwei Stufen. Erstens wird sich durch die Selbstbeobachtung das Denken gewahr. Wenn eingesehen wird, dass die vom Denken gefundenen Ideen nicht subjek-tiver Natur sind, weil die Bestimmung ,Subjekt` nur ein Begriff unter vielen ist, dem nicht das Alleinrecht auf Geltung zukommt, dann ist der Aufstieg zur zweiten Stufe erreicht: „Die Selbstwahrnehmung führt mich nicht aus dem Bereich dessen hinaus,

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was zu mir gehört. Dieses Selbstwahrnehmen ist zu unterscheiden von dem denken-den Selbstbestimmen. Wie ich eine einzelne Wahrnehmung der Außenwelt durch das Denken eingliedere in den Zusammenhang der Welt, so gliedere ich die an mir selbst gemachten Wahrnehmungen in den Weltprozess durch das Denken ein" (GA 4\90). Die Bestimmung unseres Subjekts hat keine prinzipiell andere Erkenntnisstruktur als die Bestimmung irgendeines anderen Wahrgenommenen. Diese Selbstbestimmung lautet nach Steiner: Ich bin „ein Doppelwesen. Ich bin eingeschlossen in das Gebiet, das ich als das meiner Persönlichkeit wahrnehme, aber ich bin Träger einer Tätigkeit die von einer höheren Sphäre aus mein begrenztes Dasein bestimmt." (GA 4\90). Das Den-ken ist, obwohl zugleich subjektive Tätigkeit, etwas Universelles. Diese Doppelstellung, nicht ein dualistischer Gegensatz von Welt und Ich (Bewusstsein), ist der tiefste Grund unseres Wesens: „Unser Leben ist ein fortwährend Hin- und Herpendeln zwischen dem Mitleben des allgemeinen Weltgeschehens und unserem individuellen Sein" (GA 4\109). Ihm entspricht ein Gegensatz des universellen Denkens einerseits und individuellen Fühlens und Wollens andererseits.

§ 2.11.4. Zweiter, ethischer Teil

Auch der zweite Teil der Philosophie der Freiheit beruht auf phänomenologischer Grundlage. Steiner bezieht sich hier auf Hartmanns Die Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (1878). Steiner interessierte sich nicht für die pessimistischen ethischen Konsequenzen, die Hartmann in Nachfolge Schopenhauers auf Grund seiner Weltan-schauung zieht, sondern für die unvoreingenommene, sachliche Beschreibung (,Phänomenologie') Hartmanns verschiedener Stufen des menschlichen Handelns. In einer Fußnote bemerkt Steiner: Man findet bei Hartmann „eine vollständige Zusammen-stellung der Prinzipien der Sittlichkeit" (GA 4\152). Hartmann ordnet die Erscheinun-gen nach dem Grundunterschied im Willen: einerseits Ziele, andererseits Triebfedern. Jene sind die im Bewusstsein auftretenden Motive, diese die unbewussten, charakte-rologischen Anlagen, die die verschiedenen Individuen zur Realisierung eines Motivs treiben.36 Hartmann unterscheidet ferner mehrere Stufen in beiden Kategorien. Über den Egoismus (,die individual-eudämonische Pseudomoral`) und die Autoritätsethik (,die heteronome Pseudomoral`) hinaus sind der Geschmack, das Gefühl und der Vernunfttrieb (praktische Vernunft) aufeinander folgende Stufen der Triebfedern der Sittlichkeit. Das Moralprinzip des Gesamtwohls, der Kulturentwicklung und der sittli-chen Weltordnung bilden die Stufen der Ziele. Steiner folgt mit einigen Modifikationen Hartmann in seiner Auflistung der Triebfedern: 1. Trieb (Geschmack), 2. Gefühl, 3. Vor-stellen und Denken (praktische Vernunft), und in der Stufenordung der Ziele: 1. Das eigene und fremde Wohl (reiner oder aufgeklärter Egoismus) 2. Sittlichkeitsprinzipien: a) des Gesamtwohles, b) der Kulturfortschritt, und 3. die rein intuitiv erfassten, sitt-

36 Von Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins, 3. Aufl. herausg. durch Alma von Hartmann, Berlin 1922, S. 19.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 33

lichen Ziele der praktischen Vernunft. Während Hartmann die individuelle Freiheit verneint, ist diese bei Steiner die Spitze und Kulmination der praktischen Vernunft. Schon im ersten Kapitel opponiert er zu Hartmanns These, dass wir „nach der Notwen-digkeit unserer charakterologischen Veranlagung" bestimmte Vorstellungen zu Moti-ven erheben, also „nichts weniger als frei"37 sind. Nach Hartmann ist das unmittelbare Zeugnis des Bewusstseins über die Willensfreiheit nicht zuverlässig, denn wir erfahren im Freiheitsempfinden nur die Unbewusstheit bestimmter Determinationen, welche zurückführt auf die Unbewusstheit des Motivationsprozesses im Allgemeinen. Von der Unbewusstheit lässt sich nicht auf die Freiheit (Undeterminiertheit) schließen.38 Stei-ner sieht dagegen in der Tätigkeit der praktischen Vernunft die höchste Freiheit, nicht nur weil die Sittlichkeit aus der (eventuell unbewusst wirkenden) Vernunft entspringt, sondern weil die sittlichen Intuitionen eigene und selbstbewusste, freie Leistungen eines Ichs sind. Die Liebe, die eine Idee von einer bestimmten Handlung im Ich erregt, sodass es die Idee ausführt, ist nicht außerhalb, sondern gleichfalls wie die Idee in dem Selbstbewusstsein des Ich zu situieren (GA 4\161-162). Steiners Monismus kann einen unbewussten, hinter der Wahrnehmung und dem Begriff steckenden Zwang nicht anerkennen. Eine unfreie Handlung muss immer eine nachweisbare Ursache im Wahr-nehmungsbereich haben (GA 4\178) . Dem Wollen muss dagegen Freiheit zugesprochen werden, wenn es rein ideelle Intuitionen verwirklicht. Die nachweisbare Ursache dieser Intuition ist im Bewusstsein vorhanden (GA 4\2o1). Diese Freiheit ist ebenso selber sitt-liches Ideal wie ein Erkenntnisbegriff (GA 4\168) . Freiheit ist Ideal des freien Geistes, das wir nur selber durch unsere freie Aktivität verwirklichen können (GA 4\169-170). Stei-ner widmet anschließend der Pessismusfrage, die den Kreis um Delle Grazie bewegte, ein ganzes Kapitel. Er widerspricht Schopenhauers und Hartmanns Pessimismus durch den Nachweis, dass die Wertbestimmung abgemessen wird am Wollen, nicht am Lust-und Unlustgefühle (welche Bilanz leicht negativ ausschlagen könnte; GA 4\225) . Freie Intuitionen werden dieses Wollen stärken (GA 4\232) .

§ 2.11.5. Reaktionen und Rezensionen

Steiner überreichte ein Exemplar der Philosophie der Freiheit u. a. an Eduard von Hartmann. Dieser schickte das Buch mit zahlreichen Randglossen versehen zurück. Seine Kritik läuft auf eine grundsätzliche Ablehnung von Steiners Philosophie hinaus (vgl. § 1.3), die Steiner wahrscheinlich nicht überraschte. Steiner hatte das Buch vorher an Vincenz Knauer in Wien geschickt mit dem Begleitwort: „Ich stehe in dem denkbar schärfsten Gegensatze zu Ed. von Hartmann" (GA 39\187) .39

37 Von Hartmann (1922), S. 366. 38 Von Hartmann (1922), S. 37o. Im Vorwort zur ii. Auflage der Philosophie des Unbewußten: psychische

Phänomene sind passiv und bewusst; die unterliegenden psychischen Tätigkeiten sind aktiv und notwendigerweise unbewusst (vgl. Schopenhauer über Vorstellung und Wille). Grund dieser Annahme ist seine Theorie, das Bewusstsein entstehe durch gegenseitige Hemmung von unbewussten Tätigkeiten.

39 Lindenberg (1997), S. 124.

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In der zweiten Auflage von 1918 hat Steiner manche der von Hartmann erhobenen Einwände in den Text einbezogen und von seiner Ansicht aus widerlegt. Die prinzipielle Differenz, die Hartmann noch im „Vorspiel" dieses Buches nicht herausfinden konnte, war jetzt in vollem Umfang exponiert.

Als Die Philosophie der Freiheit Ende 1893 erschien, waren die ersten Pressestimmen lobend: „Klar und wahr" (Deutsche Worte), „vorurteilslose Eindringlichkeit, scharfum-rissene Klarheit und eine ungewöhnliche Vertiefung in das Wesenhafte der umstrittenen Probleme" (Wiener Zeitung), „frisch geschrieben, verständlich gehalten, ein intellek-tueller Genuß" (Frankfurter Zeitung).40 Arthur Drews, Anhänger Hartmanns, schrieb aber eine ablehnende Rezension, u. a. weil Steiner seiner Meinung nach die immanente Teleologie im Sinne von Hartmann (oder Hegel) leugnet, die er als angeblicher Idealist behaupten sollte.41 Robert Zimmermann warf ihm in einer Sammelrezension in The

Atheneum einen Nietzsche überbietenden theoretischen Anarchismus vor (GA 4a\451). An seinen alten Freund Vincenz Knauer schrieb Steiner, dass er erfahren müsse, dass man seinen Individualismus als Folge einer Nietzsche-Lektüre hinstelle (GA 4a\516) . In diesen Zusammenhang wurde Steiner auch gerückt durch Max Heinze (1835-1909) u. a. Vormund des kranken Nietzsche, dem Steiner während seiner Beziehung zum Nietzsche-Archiv einige Male begegnen sollte. Heinze bearbeitete Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie der Neuzeit und referierte darin Steiner: „Einen ähnlichen, nur modificierten Standpunkt wie N [ietzsche] nimmt Rud. Steiner ein, Phi-

losophie der Freiheit,1894, der sich mit Goethe viel beschäftigt hat" (II. Bd. 8. Aufl., S. 296

und GA 4a\484-485). Seit Die Philosophie der Freiheit fühlte er sich in Weimar „noch mehr als früher vollständig kaltgestellt". Der Direktor des Goethe-Archivs, Bernard Suphan, verglich ihn mit einem verführenden Sokrates, einem angeblichen Zerstörer tradierter Ideale (GA 4M529).

§ 2.12. Das Nietzsche-Archiv

Das Verhältnis von Steiner zu Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist kompliziert.42 Stei-ner war gefesselt von Nietzsches persönlichem Stil und seiner Denkweise („Das Frei-schwebende, Schwerelose seiner Ideen riß mich hin", GA 28\251). Er hätte sich aber wahrscheinlich gar nicht so eingehend mit Nietzsche beschäftigt, wenn nicht am n.

40 GA 4a, S. 428, 435 und 425. 41 Die Gegenwart, Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben von 28, April 1984; Sieh GA 4a,

S. 439-450, namentlich S. 450. 42 Eine Klarstellung auf Basis der Dokumente ist nach längerer Zeit geleistet worden, namentlich von

Heinz Frederick Peters in seinem Zarathustra's Sister (New York 1977, S. 194-218) und von David Marc

Hoffmann in Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin/New York 1991, sowie in dem von Letzterem herausgegeben Rudolf Steiner und das Nietzsche Archiv. Briefe und Dokumente 1894-1900, in: Rudolf

Steiner Studien. Veröffentlichungen des Archivs der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Bd. vI, Dornach

1993. Einen Überblick bietet Lindenberg (1997) im 17. Kapitel seiner Steiner-Biografie („Für und wider Nietzsche", S. 240-260).

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Mai 1894 Elisabeth Förster-Nietzsche das Goethe- und Schiller-Archiv besucht hätte, um sich über die Einrichtung eines Archivs für den Nachlass ihres Bruders zu orien-tieren. Einige Mitarbeiter wurden eingeladen ins „Nietzsche Archiv" im Naumburg, und Steiner war in der folgenden Zeit dann mehrmals bei der Nietzsche-Familie in Naumburg (wo Mutter und Schwester im elterlichen Hause den kranken Nietzsche pflegten). Er schrieb, wohl angeregt von der unmittelbaren Nähe Nietzsches, innerhalb weniger Monate Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit43 (1895). Das Werk erhielt viele Rezensionen und war so schnell vergriffen, dass es noch im selben Jahr neu gedruckt werden musste. Im Januar 1896 wandte sich Elisabeth Förster an Steiner mit der Bitte, die philosophische Bibliothek ihres Bruders zu ordnen.44 Steiner war dazu mehrere Wochen in Naumburg. Er stellte das allererste Verzeichnis der Bibliothek von Nietzsche auf. Zu dieser Zeit ist er auch einmal dem kranken Nietzsche begegnet.45 Im Sommer und Herbst 1896 war er Privatlehrer Elisabeth Försters für die Philosophie ihres Bruders, denn sie hatte gestehen müssen, sich eigentlich gar keinen klaren Begriff von dieser bilden zu können. Steiner war für diesen Unterricht die richtige Person. Elisabeth Förster war begeistert: „Ich sage dir, Dr. Steiner ist als Lehrer der Philosophie, als Philosoph einfach großartig, ich schwelgte! "46 Peinliche Machenschaften Elisabeth Försters (sie wollte den vertraglich festgelegten, ersten Herausgeber, Fritz Koegel, jetzt durch Steiner ersetzen) trieben Steiner bald wieder aus dem Nietzsche-Archiv.47 Eine Aufgabe, zu der er „sich berufen fühlte",48 war just an ihm vorbeigegangen.

Nietzsches Einfluss machte sich gerade zu der Zeit im kulturellen Leben von Weimar geltend. Der junge, zweite Kapellmeister Richard Strauss komponierte dort seine symphonische Dichtung Also sprach Zarathustra, die Steiner wahrscheinlich in Weimar hörte (GA 28\276) . Steiner wurde in seinen letzten Weimarer Jahren eng befreundet mit dem Pianisten, Komponisten und Schüler Franz Liszts, Conrad Ansorge, der Musik zu mehreren von Nietzsches Dichtungen komponierte. Mit seinem Schwager, C. von Crompton, belebte Ansorge einen Kreis künstlerisch interessierter Freunde, zu dem auch Steiner bald gehörte. „Der ganze Kreis stand sozusagen im Zeichen Nietzsches" (GA 28\320). Das Interesse dieses Kreises galt vor allem den Freiheitssinn Nietzsches. Hierin lag für Steiner der eigentliche Wert von Nietzsches Philosophie, was sich an seinem Nietzsche-Buch belegen lässt.

43 Der Titel ist eine Anspielung auf den Schluss des 6. Abschnittes der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Lindenberg (1997), S. 250.

44 Lindenberg (1997), S. 254-255, und Hoffmann (1993), S. 29-32. 45 Am 22. Januar 1896, wie aus einem nachgelassenen Notizbüchlein hervorgeht: Hoffmann (1993), S. 32-

37 Nicht „in autumn 1896", wie es C. Dietke in ihr Historical Dictionary of Nietzscheanism (London

1999, s. 202) noch haben will. 46 Brief E. Försters, 6. Dezember 1896, in: Hoffmann (1993), Brf. Nr. 78, S. 147. 47 Hoffmann (1993), S. 40-54. 48 Abschiedsbrief Steiners an E. Förster, 23. August 1898, in: Hoffmann (1993), S. 230-232.

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36 KAPITEL II

§ 2.13. Friedrich Nietzsche, Ein Kämpfer gegen seine Zeit

Die Freundin und Schriftstellerin Rosa Mayreder hat dieses Buch Steiners wohl am trefflichsten charakterisiert mit den Worten: „als eine Interpretation Nietzsches kann ich diese Schrift nur in sehr eingeschränktem Maße nehmen. Es ist für mich fast ausschließlich eine Interpretation Steiners vermittels Nietzsche."49 Ohne seine eigene und Nietzsches Auffassungen klar zu unterscheiden, interpretiert Steiner Nietzsche in der Tat von seinem eigenen Begriff des freien Geistes her. Steiner schildert Nietzsche als einen Menschen mit anderen Instinkten als den gewöhnlichen: nicht den von der christlichen Orthodoxie eingepflanzten Instinkte, keinen patriotischen Empfindungen, und deshalb nicht leidend an dem Widerspruch von Verstand und Instinkt, der so manchem so genannten „Freigeist" anhaftet (GA 5\16-19) . Nietzsche ist auch kein „Denker" (GA 5\20), denn er fragt nicht nach logischen Gründen („Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf`), sondern interessiert sich nur dafür, ob ein bestimmter Gedanke lebensfördernd ist oder nicht (GA 5\20) . Sein herrschender Instinkt ist das Gefallen an allem, was Macht bekundet (GA 5\24). Darum will Nietzsche selbst bestimmen, wie er denkt, und die Wahrheit nicht „empfangen". Er will sie schaffen (GA 5\27). Wenn er seine Urteile wertet nach seinen persönlichen Lebenstrieben und Instinkten, kann Nietzsche auch nie mehr sagen wollen, als dass er in Bezug auf seine Persönlichkeit bestimmte Urteile für wertvoll hält. „Gerade dieses sein Verhältnis zu seiner Gedankenwelt wirkt so wohltuend auf den freiheitlich gesinnten Leser" (GA 5\31).5° Abstoßend findet Steiner, laut einer eingeschobenen, persönlichen Bemerkung, dagegen diejenigen, die ihre Gedanken unbescheiden für ewige, unpersönliche, unumstößliche Wahrheiten halten (GA 5\31) und dennoch alle Ursprünglichkeit und Mut zur eigenen Gedankenerzeugung verloren haben, wie die angeblich von Kant gelähmten Fachphilosophen (GA 5\33). Dann bekennt Steiner sich rückhaltlos zu Nietzsches Psychologie der Philosophie: „Nietzsche nennt rücksichtlos die Instinkte des Gegners, die ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte, die er ihnen entgegensetzt. Wer dies Zynismus nennen will, der mag es tun. Er soll aber nicht übersehen, daß es in aller menschlichen Tätigkeit niemals etwas anderes als solchen Zynismus gegeben hat, und daß alle idealistischen Wahngewebe von diesem Zynismus gewebt sind." (GA 5\37). Nun hat Steiner wohl kaum seine eigene Philosophie als

49 Brief an Steiner vom 13. August 1895, in: Hoffmann et al. (1991), S. 501; Lindenberg (1997), S. 254. 5o Steiner betont mehrmals, sein ethischer Individualismus sei von Nietzsche nicht beeinflusst gewesen.

So im Brief vom 15. November 1893 an Vincenz Knauer (GA 39\187-189). „Mein Individualismus ist nur eine notwendige Folge meiner monistisch-naturwissenschaftlichen Beobachtungsweise der Welt." (ebd., S. 187, vgl. Hoffmann et al. [1991], S. 219). Die Philosophie der Freiheit ist deshalb alles andere als nur eine Summe persönlicher Wertungen bestimmter Urteile nach eigenen Lebensinstinkten. Während er an dem Nietzsche-Buch arbeitete, wollte er seine soeben erschienene Freiheitsphilosophie dennoch auch als etwas ganz Persönliches verstanden wissen: „Ich darf es meinen Freunden — aber nur diesen gestehen, daß ich es mit Schmerz empfinde, daß Nietzsche mein Buch nicht mehr hat lesen können. Er hätte es genommen als das, was es ist: in jeder Zeile als persönliches Erlebnis" (Brief an Rosa Mayreder, 4. November 1894; GA 39\231 ff., GA 4a\527).

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Ausfluss des eigenen Zynismus stempeln wollen, sondern eher die Scheindiskussionen der Philosophen, wie er sie im Streit über Goethe und in den Beurteilungen seiner Philosophie der Freiheit erlebt haben mag, damit treffen wollen.

Nach diesem geistigen Porträt Nietzsches folgt in GA 5 eine Darstellung von Nietz-sches Gedanken vom Übermenschen. Die Schilderung von der Lehre Zarathustras ver-bindet Steiner mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen, ohne detail-liert auf Nietzsches Bemerkungen über Erkenntnis einzugehen. Den Anfang macht die Darstellung der Ansichten zur Tugend. Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst sind nur Mittel zur Befriedigung der von der Natur im Menschen eingepflanzten Triebe, ohne welche diese verkümmern müssten. Wenn aber dieser Zusammenhang vergessen wird, werden die Mittel Zwecke für sich, denen sich der Mensch unterwerfen soll. Wenn der irrende Idealismus zusätzlich dazu noch den Menschen nach seinen Voraussetzungen ändern will, legt er der menschlichen Natur nur Fesseln an, statt sie zu verwirkli-chen. „Der einzelne Mensch wird nicht ,vollkommen`, wenn er sich verleugnet und einem Vorbilde ähnlich wird, sondern wenn er verwirklicht, was in ihm zur Verwirk-lichung drängt." (GA 5\4o). Diese Gedanken, die geradewegs aus seiner Philosophie

der Freiheit herzuleiten sind (der hier genannte ,Idealismus` ist der dort verworfene Dualismus), sollten die Botschaft Zarathustras erläutern: Der Übermensch ist das sou-veräne Individuum, das nur aus seiner [für Steiner auch geistigen] Natur heraus lebt

(GA 5\41-42). Steiner stimmt Nietzsches Kritik an den asketischen Idealen und an dem Asketismus

bei, wie dargestellt in Zur Genealogie der Moral (3. Abhandlung, § 9). Ein gewisser Asketismus gehört schon zum Philosophieren. Nur sollte der Philosoph nicht, gleich Schopenhauer, seinen Grundinstinkt und seine Voraussetzung in eine Lehre umsetzen (GA 5\54). Der Priester hat diese Einseitigkeit des Philosophen in noch stärkerem Maße, wenn er den Sinn alles endlichen Lebens leugnet. Steiner führt zur Illustration das anonyme mittelalterliche Werk Die deutsche Theologie an. Nur Fall und Abkehr der Kreatur wären die Annahme, ,sie sei etwas für sich und etwas gehöre ihr zu'. Dies merkt Steiner als die (minderwertige) Gesinnung jedes Priesters an. Sie ist das Gegenteil von der Gesinnung desjenigen, den Nietzsche als den höherwertigen Typus Mensch bezeichnet, der nicht an der Wirklichkeit leidet (GA 5\57).

Dieser Asketismus hat sich auch in der modernen Wissenschaft eingenistet. Der Positivismus will entsagungsvoll beim Tatsächlichen stehen bleiben. Er will die Erschei-nungen bloß beobachten und beschreiben, aber nicht deuten mit Ideen, die aus der eigenen Persönlichkeit geschöpft werden müssen (GA 5\61). Das persönliche Urteilen soll unterbleiben: dies ist der Asketismus (GA 5\62). Dann setzt Steiner seine eigene Erkenntnistheorie an, die er mit Nietzsches Wille zur Macht zusammenbringt. Die gedankenleere Beobachtung liefert uns ein zusammenhangsloses Weltbild. Nur den-kend finden wir einen gesetzmäßigen Zusammenhang (Nietzsche würde dessen Objek-tivität bezweifeln). Der Mensch produziert aus sich heraus Gedanken, weil die Gedan-kenleerheit als eine unbekannte Macht auf ihn wirkt. Um darüber Herr zu werden, lebt der Wille zur Macht sich in dem Erkenntnistrieb aus (GA 5\65). Der starke, produktive

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38 KAPITEL II

Intellekt deutet die Beobachtungen durch Ideen. Nur ein schwacher Intellekt sucht den Sinn den Beobachtungen selber zu entnehmen, was ihm wegen deren Gedankenleerheit doch nicht gelingen wird. Wenn Fichte die Welt für einen Traum erklärt „der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt" (in Die Bestimmung des Menschen), oder Kant von einem Ding an sich hinter den Erscheinungen spricht, so ist dieser Glaube noch der philosophische, erkenntnistheoretische Nihilismus des schwachen Geistes (GA 5\68-69). So wird der Monismus zur Weltansicht des stärkeren, höheren Menschen, wenn nicht des Übermenschen erhoben.

Für die Darstellung des Asketismus in der Ästhetik greift Steiner zurück auf seinen Vortrag Goethe als Vater einer neuen Ästhetik (1888). Nietzsche musste sich zuerst von den Schopenhauer'schen asketischen Ansichten befreien und deren Fortwirken in Wagners Kunst. In Bizets Musik erlebte er die Förderung, die Befriedigung, das Freiwerden durch die Musik (GA 5\83-85) . Wer, wie Hegel, der Kunst die Aufgabe stellt, die göttliche Idee zu versinnlichen, gibt sich einem jetzt ästhetischen Nihilismus anheim. Denn das göttliche Jenseitige löst sich vor dem Wirklichkeitssinn in ein Nichts auf (GA 5\85) . Steiner setzt dem eine (Goethe'sche) Ästhetik der starken Persönlichkeit gegenüber, „die in der Kunst ein Abbild der Wirklichkeit, eine höhere Wirklichkeit sieht, die der Mensch lieber genießt als die Alltäglichkeit" (GA 5\85) .

Steiner führt dann noch einmal Fichte an, jetzt als Ritter des ethischen Nihilismus, „weil er mit eiserner Konsequenz die Meinung der ,Schwachen und Mißratenen' bis ans Ende gedacht hat" (GA 5\70). Fichte unterwirft die Einzelpersönlichkeit dem Gewissen, der Stimme Gottes, dem Willen an sich, dem kategorischen Imperativ. „In Worten, die zu den schönsten Erzeugnissen des Sinnens für Gehorsam und Demut gehören, die mir bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den ,ewigen Willen an sich'": „Erhabener, lebendiger Wille, den kein Name nennt und kein Begriff umfaßt".51 Da der Mensch diesen Willen nicht kennt, seine Endziele nicht erkenntnismäßig erreichen kann, ist er moralischer Nihilist, wenn er sich von einem solchen Willen bestimmen lässt. „Er ist in der schlimmsten Art von Unwissenheit befangen, die sich erdenken läßt", meint nicht nur der interpretierte Nietzsche, sondern hier offensichtlich auch sein Interpret Steiner (GA 5\72) .

Die Darstellung gipfelt zuletzt in der Schilderung des dionysischen Menschen, der nicht außerhalb seiner Erkenntnisobjekte steht, als leidender (apollonischer) Zu-schauer, sondern schafft in seiner Weisheit, indem er Eins wird mit seiner Erkenntnis (GA 5\87). Der dionysische Mensch bringt nicht Ernst vom Jenseits, sondern die Hei-terkeit des Diesseits. Steiner setzt diesem dionysischen Mensch seinen freien Geist (im Sinne der Philosophie der Freiheit) gleich. Ein freier Geist folgt nur seiner Natur. „Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. Ich glaube, daß Nietzsche mit einem Namen eine Reihe von Antrie-ben zusammengefaßt hat, die eine mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern."

51 Die Bestimmung des Menschen, 3. Buch.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 39

(GA 5\89). Obwohl alle Triebe auf eine und dieselben Grundkraft zurückgehen, stellen sie doch „verschiedene Stufen in der Entwicklung dieser Kraft dar" (GA 5\90). Der Mensch handelt nicht nur aus unbewussten sinnlichen Trieben, sondern setzt auch mit Bewusstsein Zwecke vor. Dem Menschen ist diese Art zu handeln ebenso natür-lich, wie die Sinnlichkeit. Stehen diese beiden Stufen nicht im Einklang, dann ist der Mensch zur Unfreiheit verurteilt (GA 5\90) . Beugt er sich vor fremden Gedanken, so ist er unfrei. Ebenso unfrei wäre er auch, wenn er „ein Knecht seiner eigenen Instinkte" wäre (GA 5\92). Der Mensch ist nur dann frei, „als er sich gedankliche Triebfedern sei-nes Handelns innerhalb des Bewußtseins schaffen kann." (GA 5\93) . Steiner meint die „letzten Konsequenzen" aus Nietzsches Philosophie zu ziehen, die Nietzsche allerdings nicht selbst gezogen hat (GA 5\93) . Steiner fühlt sich dazu verpflichtet, denn „wahrhafte Bildung nimmt das Große einer Persönlichkeit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt halbfertige Gedanken zu Ende." (GA 5\94).

Nun ist schwerlich anzunehmen, es seien nur die „kleinen Irrtümer" Nietzsches, die diesen veranlasst haben, diese Konsequenzen nicht zu ziehen. Nietzsche hat sie wohl absichtlich vermieden. Denn das Bewusstsein ist für Nietzsche „die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran" (Die Fröhliche Wissenschaft, §. 11), wie Steiner selber auch zitiert zur Illustra-tion, dass Nietzsche die Bedeutung des Bewusstseins für die Persönlichkeit unterschätzt hat (GA 5\92). Es handelt sich nicht lediglich um eine Unterschätzung, wenn Nietzsche in seiner „Erkenntnistheorie" die Handlungen des Bewusstseins bloßzulegen glaubt. Den Begriffen und Vorstellungen des Bewusstseins wohnt für Nietzsche grundsätzlich keine Wahrheit inne. Sie sind insgesamt Fiktionen, die nur praktischen Nutzen haben können. Nietzsche glaubt an einen konsequenten Perspektivismus und Nominalismus, wo alle Erkenntnismittel eingesetzt werden vom Willen zur Macht zur Bewältigung der Außenwelt — ebenso wie der menschlichen Innenwelt. Besondere Begriffe wie ,Ursache` (Bedingtheit), ,Freiheit` (Unbedingtheit), ,Subjekt` und ,Ich` sind ihm reine Vorurteile, die nur ihren Wert im Bewältigungsbetrieb des pluralen und anonymen, zum einzelnen Menschen verdichteten Willens haben. Steiner unterlässt es, auf diese erkenntnistheoretischen Erwägungen Nietzsches einzugehen, was aber Voraussetzung seiner Korrektur an Nietzsche hätte sein sollen. Stattdessen weist er nur auf seine eigene Darstellung des Erkenntnisprozesses in seinen Schriften Wahrheit und Wissenschaft und

Die Philosophie der Freiheit hin. Nietzsche könnte das Bewusstsein gar nicht schätzen, wegen seines extremen, nominalistischen Perspektivismus. Steiner dagegen setzt ein selbsttätiges (also Fichte'sches!) Ich voraus, das die Freiheit erstreben kann und will. Ein solches Ich kann freilich in die Knechtschaft der Instinkte oder fremder Gedan-ken geraten. In Nietzsches Philosophie gibt es aber im Bewusstsein überhaupt keine zentrale Instanz, die eine solche fremde Knechtschaft erleiden kann. Das cartesische Ego meinte Nietzsche als grammatikaler Schein entlarven zu können. Alle sich an- und abwogenden Willensmomente sollen immerwährend einander über- und unterlegen sein ohne jede kontrollierende Instanz, die sich in bewusstem Endkampf seine Herr-schaft sichern könnte. Freilich fehlt damit dem freudigen dionysischen Menschen die

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40 KAPITEL II

innere Selbständigkeit, aber diese Konsequenz ist für Nietzsche nicht problematisch. Im Gegenteil (amor fati!).

Steiner muss die Unzulänglichkeit dieses Nietzsche-Bildes einige Jahre später be-wusst geworden sein, denn er komplettierte es 1900 durch eine schonungslose Analyse der Philosophie Nietzsches als psychopathologisches Problem. Es folgte bald ein zweiter Aufsatz, Friedrich Nietzsches Persönlichkeit und die Psycho-Pathologie.52 Zwar will er sich von seinen früheren Aussagen, worin er Nietzsche immerhin ,objektiv` gerecht zu werden suchte, nicht trennen, jetzt aber versucht er, mit klinischer Distanz „einen Beitrag zur Erkenntnis dieses Mannes von einem Gesichtspunkt aus zu liefern, der zwei-fellos bei der Beurteilung seiner merkwürdigen Gedankengänge in Betracht kommt" (GA 5\127). Es gilt jetzt die Person Nietzsches zu verstehen, gerade weil er schon „einen unermeßlichen großen Einfluß auf die Zeitkultur gewonnen hat" (GA 5\127). Man darf zweifelsohne eine autobiografische Note Steiners dabei hineinlesen.

Steiner weist primär hin auf Nietzsches Mangel an Objektivität (GA 5\128) . Nietzsche hat nie einen wissenschaftlichen Streit durchgemacht, der einen zwingt, anerzogene Meinungen aufzugeben (GA 5\129). Der jugendliche Umschwung von seiner Religiosität zum Gedanken der „Geburt der Tragödie" vollzieht sich auf Grund eines ästhetischen Eindrucks von Schopenhauers Philosophie. Diese neuen Wertschätzungen zu prü-fen hatte Nietzsche gar keine Lust. Seine maßlose Kritik zeigt einen pathologischen Zerstörungstrieb (Schopenhauer und Wagner werden erst lobgepriesen, dann später niedergemacht. Cesare Borgia wird erhoben zum ‚Übermenschen'. Zuletzt will er eine ,Umwertung aller Werte` usw.) . „Nur das Faszinierende seiner Ausdrucksform, nur die künstlerische Behandlung der Sprache kann bei Nietzsche über diese Tatsache hinweg-täuschen" (GA 5\140) . Steiner rügt ferner an seiner Philosophie eine „Inkohärenz der Vorstellungen" (GA 5\143) und Nietzsches Isolierung, die sich steigert zu den Punkt, wo seine Lieblingsansichten Zwangsvorstellungen werden (GA 5\148) . Öfters tritt eine Verdopplung des Selbstbewusstseins ein. Sein Feldzug gegen Wagner ist nur ein Feldzug gegen sich selbst, wie es für ihn auch im Allgemeinen ist (GA 5\164). Nietzsche: „Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen, wenn nicht sich? [ ... ] Selbstvernichtung, Selbstvergötterung, Selbstverachtung — das ist unser Richten, Lieben und Hassen." (zit. in GA 5\164). Es führt zu dem Endergebnis, dass man die eine Tatsache, dass Nietzsches Philosophie auf Selbstbeobachtung beruht, zusammenbrin-gen muss mit der anderen Tatsache „daß dieses Selbst kein harmonisches, sondern ein in sich zersplittertes war." (GA 5\169) .

Letzten Endes soll Nietzsches Philosophie ein Traum der Stärke und Gesundheit gewesen sein, die ihm fehlten. Der freie Geist Steiners dagegen sei zwar Ideal, aber eine reale, sich zum Beispiel in Goethe verwirklichende Potenz jedes Menschen, die ruht auf der festen Grundlage des erkennenden Ich. Das zuweilen schizoide Ich Nietzsches konnte diese Potenz nicht in sich erleben. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche ver-

52 Beide in: Wiener klinische Rundschau, aufgenommen in GA 5, S. 127 ff.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 41

tiefte für Steiner die in allgemeinen Begriffen und Ideen gehaltene Freiheitsphilosophie zu einer mehr konkret auf die einzelne Persönlichkeit bezogenen Auffassung. In diesem Licht steht jedenfalls seine nächste Schrift Goethes Weltanschauung (1897). Nietzsche war ihm Aktualität, keine systematische Herausforderung.

§ 2.14. Goethes Weltanschauung

§ 2.14.1. Idee dieser Anschauung

In diesem Buche53 stellt Steiner das Ergebnis seiner langjährigen Goethe-Studien im Überblick dar. In der Vorrede (zur ersten Auflage) klingt die Auseinandersetzung mit Nietzsche nach: „Von vielen Ausgangspunkten aus habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persön-lichkeit, die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen." (GA 6\1O). Steiner will „die Ideen, von denen Goethe beherrscht wird, in lichter Klar-heit" darstellen und dabei „die Oberflächlichkeit alles Reden von mystischen, dunklen Abgründen des Seelenlebens" usw. beiseite lassen (GA 6\11). Er möchte Goethe, nach einer Maxime Nietzsches, „nur so weit folgen, als er mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist das Wertvolle." (GA 6\13).

Goethe soll vermieden haben, sein Wesen in „kristallklaren scharf geprägten Sätzen auszusprechen". Er hatte eine gewisse Scheu für zu scharfe Begriffe, die das vielfarbige Lebendige verkennen könnten. Die Einheit seiner Anschauung ist deshalb eher seiner Lebensführung, dem Ganzen seines Denkens und Sinnens zu entnehmen, als direkten Selbstzeugnissen. Steiners Interpretation stellt die Ideen dar, „wie Goethes Persönlich-keit in ihrem innersten Wesen geartet sein muß, um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu können, wie er in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten niedergelegt hat." (GA 6\14). Damit ist das Thema der Persönlichkeit wieder in den Vordergrund gerückt.

Ein Kapitel „Persönlichkeit und Weltanschauung" ist im Besondern ihr eingeräumt, weil sie auch die Grundtendenz von Goethes Denken enthält: die unbefangene Geis-teshaltung der Welt gegenüber. Steiner setzt dieses Thema jedoch wieder allgemein philosophisch an.

53 Weimar 1897

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42 KAPITEL II

§ 2.14.2. Das Subjekt als objektive Idee

„Die Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. In der philosophischen Weltbetrachtung und im künstlerischen Empfinden und Her-vorbringen durchdringen die subjektiven Erlebnisse die objektiven Anschauungen." (GA 6\63) . In diesem Durchdringen werden nicht zwei inkompatible Elemente zusam-mengebraut, sondern wird vielmehr ein Ganzes wiederhergestellt, das „sich in zwei Teile spalten mußte, um in den menschlichen Geist einzudringen" (GA 6\63). Steiner versucht diesen objektivierten ,Anthropomorphismus` — Goethe: „Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist." (aus: Sprüche in Prosa; GA 6\64) — nach klas-sischem Beispiel im einfachsten Urteil über die Außenwelt nachzuweisen. Wenn wir sagen: „Körper A stößt Körper B", so sollen wir in der Wahrnehmung (die Bewegung von A, die sichtbare Berührung beider und die Bewegung von B) das Erlebnis hineinle-gen, dass wir durch Anwendung von Kraft einen Körper in Bewegung setzen können. Der Anthropomorphismus steckt also auch noch in der Mechanik. Umso mehr macht er sich im Ganzen einer Theorie oder Weltansicht geltend. Das hindert die Erkennt-nis nicht, denn „das Subjektive ist das eigentlichste und tiefste Objektive", das an der Außenseite der Dinge eben nicht zum Erscheinen kommen kann. Von der Verschieden-heit der subjektiven Erlebnisse wird zu rasch auf die Unwahrheit derselben geschlossen. Aber „nicht ein totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner Oberfläche zeigen kann." (GA 6\66) . Schon die Frage nach der Erkenntnis zeugt von dieser objektiven Seite. Wenn die Wahrheit im Jenseits läge, woher kommt dann unser Erkenntnisbedürfnis? Wir hätten keine Veran-lassung, nach der Wahrheit zu fragen: „Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin es gehört: zu der Wahrnehmung." (GA 6\67).54 So die allgemeine Überlegung, die sich lesen lässt als eine Art Synthese der im objektiven Stil gehaltenen früheren Erkenntnistheorie (GA 2

und 3) und der ins Persönliche eindringenden Sicht der Philosophie der Freiheit und von Steiners Nietzsche-Episode.

Goethe lebte die erwähnte Erkenntnishaltung und sprach sie indirekt aus. Die Metamorphosenlehre ist ihre praktische Folge. Goethe vermochte nicht die Eigenart seiner eigenen Geistesbetätigung als solche sich zum Bewusstsein zu bringen. Es sollte ihm dazu die Anschauung der eigenen menschlichen Tätigkeit des Denkens gefehlt haben („Mein Kind, ich habe es klug gemacht; ich habe nie über das Denken gedacht.", Zahme Xenien). Dadurch wurde ihm auch die Natur des Ideellen nicht völlig klar. Denn diese kann man nach Steiner nur erkennen, wenn der Mensch seine eigene denkende Tätigkeit anschaut (vgl. § 2.11.3) : „Bei jeder anderen Anschauung durchdringt

54 Vgl. Platons Menon 8o d-82 e.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 43

er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern gegenwärtig. [ ... ] Die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. [ ... ] Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt." (GA 6\86) . Steiner identifiziert in diesem Passus menschliches Denken und Idee schlechthin. Noch in der Philosophie der Freiheit stellte er das Denken über Begriffe und sagte, dass die in sich selbst ruhende Natur des Denkens nicht auf die Begriffe übertragen werden kann, denn diese entstehen erst durch das Denken ( „Ich bemerke das hier ausdrücklich, weil hier meine Differenz mit Hegel liegt. Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches."; GA 4\58). Dieser Unterschied, wenn er derselbe wäre, wird jetzt verwischt. Denken ist, wie bei Hegel, sich anschauende Idee. Das heißt, auch die Kehrseite gilt, die Idee ist dynamisiert zur denkenden Tätigkeit: die „Geistigkeit" der Ideenwelt (Sophistes 248a-249d).

§ 2.14.3. Hegel als Philosoph der Goethe'schen Weltanschauung

Im Schlusskapitel wird Hegel eine prominentere Stelle erteilt, während er bis jetzt immer etwas in Distanz gehalten war: er sei „der Philosoph der Goetheschen Weltanschauung", weil er dessen Metamorphosenlehre ins Ideelle erweitert hat (GA 6\205-206). Ebenso wie die organischen Formen sich auf eine sich metamorphosierende ideelle Grund-form zurückführen lassen, sind die Ideen nur der Erscheinung nach verschieden. Sie sind wesentlich identisch und lassen sich deshalb ineinander überführen. Goethe: „Die Idee ist einzig. Daß wir den Plural gebrauchen ist nicht wohlgetan." (Sprüche in Prosa). Hegels System ist Metamorphose der Idee, ausgehend vom Begriff ,Sein` in der Logik bis zu der Idee der Philosophie am Ende seiner Enzyklopädie, wenn auch seine „Reflexio-nen [... ] nach vielen Richtungen hin schief und unwahr sind." (GA 6\208-209). Hegel sollte wie Goethe die Anschauung der Ideenwelt, eben die menschliche Selbstbeob-achtung, die Anschauung der Freiheit und deshalb eine wirkliche Freiheitsphilosophie abgegangen sein.

Es ist nicht leicht zu verstehen was Steiner hier meint, denn er muss sich bewusst gewesen sein, dass für Hegel die Idee ihre Spitze hat im Selbstbewusstsein, dass die Idee nicht bloß Gedankenform oder Ordnungsregel, sondern Selbstbeziehung im Anschauen der eigenen setzenden, denkenden Tätigkeit, und deshalb auch für Hegel ,Geist` oder das allgemeine Ich sei. Wenn Steiner in der Selbstbeobachtung des Denkens die eigene Natur der Ideenwelt entdeckt, scheint dies eben die von Hegel angedeutete, im philosophischen Selbstbewusstsein zu sich kommende Idee zu sein. Aus dem Zitat aus Die Philosophie der Freiheit über die Differenz mit Hegel geht hervor, dass Steiner Hegel den ,Begriff als Erstes setzen lässt. Das ist dem Wortlaut nach nicht richtig. Das Erste ist ,Sein` als reines Wissen (nur dieses Wissen nicht als Wissen von sich, sondern als leeres unmittelbares Denken oder Anschauen). Was für Hegel das Erste eigentlich ist, zeigt sich erst am Ende, in der Logik (absolute Idee oder der freie Begriff der Persönlichkeit

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hat also reine Subjektivität), wie in der Enzyklopädie: es ist der Geist, nicht der abstrakte Begriff, der im absoluten Wissen erscheint (der abstrakte, besondere Begriff ist eine vorübergehende Stufe in der Wissenschaft der Logik). In Steiners Bemerkung steckt eine noch implizit gebliebene Hegelkritik oder ein bloßer Interpretationsfehler. Wir werden diese Frage klarzustellen versuchen im Ix. Kapitel, § 9.10.

Merkwürdig ist auch, dass Steiner mit keinem Wort Hegels Dialektik erwähnt. Ob diese Methode geeignet oder ungeeignet ist, die Metamorphose des Ideellen zu verstehen, wird nicht aufgeklärt. Wohl hatte Steiner vorhin die Dialektik als eigenstän-dige Methode ausdrücklich verworfen: „Wir halten an dem Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde" (GA 1\127). Da nun Hegels dialektische Methode letztendlich selber die Idee ist, liegt hier dasselbe Problem noch mal vor. Auch wäre es hier angemessen gewesen, die Bedeutung des Widerspruches zu erörtern, denn in erheblichem Maß Steiner hat sich bis jetzt in Widersprüche über den Erkenntnispro-zess ergangen. Ob dies eine Notwendigkeit, oder eine Art Darstellungsgriff sei, hatte sich an Hegel darstellen lassen. Nur bildhaft deutet Steiner an, der Geist sei kein „totes Begriffssystem", sondern ein „lebendiges Meer". Ob er dabei auch Hegels Begriffsystem im Sinn hatte, muss hier dahingestellt bleiben. Eine klare Antwort steht noch aus.

§ 2.14.4. Schicksal des Platonismus

In Goethes Weltanschauung geht Steiner erstmals ausführlich auf die Geschichte der Philosophie ein, da er „Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenent-wicklung" dartun will (GA 6\19) . Es konzentriert sich diese geschichtliche Betrachtung auf das Schicksal des Platonismus, wofür u. a. Von Steins Sieben Bücher Platonismus das historische Material geboten haben mag. Zur Einleitung dient das bekannte Gespräch von Goethe und Schiller, nachdem sie beide einer Sitzung der naturforschenden Gesell-schaft zu Jena beigewohnt hatten und Goethe mit einigen Federstrichen Schiller die ,Urpflanze` vorzeichnete. Schiller meinte, diese ,Urpflanze` sei keine Erfahrung, son-dern eine Idee. Goethe erwiderte: „Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe." (GGA 39\177). Für Schiller war dies eine Unmöglichkeit, denn die Idee und Erfahrung können nie kongruieren. Was Schiller hier Goethes Idee gegenüber aussprach, sei nur Vorurteil der Kantischen Philosophie gewesen, die Steiner geschichtlich zurückführt bis auf die eleatische Philosophie. Ein Abgrund zwischen der Erfahrung der Sinne und der Erfahrung des Geistes wird emp-funden (GA 6\24). Parmenides hat als Erster die trügerischen und täuschenden Sinne einerseits und die Wahrheit des Denkens andererseits55 einander scharf entgegengesetzt (GA 6\25) . Durch diese Zweiteilung und Herabwürdigung der Sinnenwelt „war vielen

55 In der moderneren Deutung von Parmenides' Gleichstellung von Denken und Sein (DK 28 B 3) bleibt gerade dieser Gegensatz problematisch. Vgl. J. Mansfeld, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1983, I. Teil, S. 299-303: Den angesprochene Gegensatz bedeutet die Unmöglichkeit der Erkenntnis außerhalb des Seienden.

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folgenden Philosophien eine Entwicklungskrankheit eingeimpft" (GA 6\25; man hört noch den Nachklang der einstimmenden Darstellung von Nietzsches Kritik am Asketis-mus). Diesem (psychologisch gedeuteten) Mißtrauen in die Erfahrung, begegnen wir bei Platon wieder. Steiner lässt Platon aussprechen (ein wörtliches Zitat liegt nicht vor), dass das Dasein der Dinge der Sinnenwelt ein ,Nichtsein` (Werdendes, nicht Seiendes) ist. Wahrhaft seiend sind nur die ewigen Ideen, die Urbilder der Dinge (GA 6\26) . Die platonische Anschauung soll die Welt in zwei Teile auseinander reißen: in eine Schein-welt der Sinne und eine wahre Wirklichkeit der Ideenwelt (GA 6\26). Das Wertvolle an der Philosophie Platons ist für Steiner, dass sie die Ideen als das Ziel der Erkenntnis setzt. Verhängnisvoll ist aber die Suggestion, dass die Sinnenwelt für sich eine Schein-welt sei. Steiner sieht die Unterscheidung ja als eine vom Bewusstsein bedingte an. In Goethe lebte die Empfindung: ,Anschauung und Denken verbinden sich um die volle Wirklichkeit zu offenbaren' (GA 6\29). Der platonische Gegensatz von Idee und Schein-welt gab Anlass zur Frage: „Wie verhalten sich Idee und Sinnenwelt (Natur) außerhalb des Menschen zueinander?"56 (GA 6\29). Aber wenn sie nur innerhalb des menschlichen Bewusstseins getrennt auftreten und die Trennung innerhalb desselben Bewusstseins wieder aufgehoben wird, ist diese Frage „eine vollkommen überflüssige" (GA 6\29). Die subjektive Trennung wird hypostasiert. Dieser Gedanke wird im Verfolg gespeist von einem christlichen Jenseitsglauben. Man verband die unwahre Anschauung von Ide-enwelt und Sinnenwelt mit der Vorstellung der Unerkennbarkeit Gottes. Daraus ergibt sich die Vorstellung, dass die Geistigkeit ein von der Natur abgesondertes Dasein für sich hat, in dem schöpferischen Gott. Die Seele kann nur durch göttliche Erleuchtung zur Erkenntnis gelangen (Augustinus' Illuminationslehre). Idee und Natur werden so völlig auseinander gerissen. Das religiöse Empfinden befestigt auf diese Weise „das Ungesunde des einseitigen Platonismus" (GA 6\32) .

Aristoteles' Philosophie hätte nach Steiner vor dieser Verirrung bewahren können, aber es wurde nicht an ihm angeknüpft. Den christlichen Denkern musste er „unbe-quem" sein, da er das höchste wirksame Prinzip in die Erfahrungswelt verlegt. Die Natur als einheitliches Wesen, enthält die Ideen ebenso, wie die durch die Sinne wahrnehmba-ren Dinge (sein Hylemorphismus). Nur in der menschlichen Seele haben die Ideen ein Sonderdasein. Sie sind jedoch in ihrer scheinbaren Selbständigkeit keine Wirklichkeit (GA 6\34). Bis Thomas von Aquino wurde Aristoteles von den christlichen Denkern umgedeutet. Erst bei Thomas tritt die menschliche Vernunft im Naturerkennen wie-der mit einem gewissen selbständigen Recht auf. Noch Bacon und Descartes „haben

Die Erklärung der empirischen Welt mit der Zweielementlehre (u. a. DK 28 B 9) ist also eigentlich unmöglich. Dass es sie dennoch gibt, ist eine ungelöste Antinomie in der Philosophie von Parmenides.

56 Vgl. Platons Parmenides 130 a-135 c. Der Dialog ist aber eine dialektische Vorübung, und man kann aus ihr nicht ableiten, dass Platon die angeführte Frage für eine unauflösbare Aporie hielt, wie Aristoteles es tat (Metaphysik, 991b2-3). Der Status der Sinnenwelt ist zwar ambivalent, sie ist doch nicht unbedingt ein Nicht-Seiendes. Steiner mag Aristoteles' Kritik an Plato im Sinn gehabt haben, wie das Argument der Verdopplung aus Peri ideon gegen eine Zweiweltentheorie (statt seiner Zweielemententheorie: Hylemorphismus).

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den bösen Blick für das Verhältnis von Erfahrung und Idee als Erbstück einer entar-teten Gedankenwelt mitbekommen." (GA 6\35) . Von den getrennten zwei Bereichen hält Bacon nur die ideenlose Wahrnehmungswelt für ein Wirkliches („umgekehrter Platonismus"; GA 6 \35-36). Descartes dagegen hat sich auf einen „Schleichweg" des metaphysischen Denkens eingelassen, auf dem der im Denken aufgefundene Begriff Gottes als allervollkommenstes Wesen ihm die Realität seiner Gedanken und Sinneser-fahrungen gewähren soll (GA 6\ 37-38). Folge des Cartesianismus ist dann der einseitige Rationalismus. Spinoza sollte in seiner Ethik durch reine Gedankentätigkeit aus einer Anzahl von Vorstellungen die Wirklichkeit haben herausspinnen wollen. Aus Sinnes-wahrnehmung entsprungene Ideen sind dazu für Spinoza ungeeiget, denn sie seien „inadäquat, verworren und verstümmelt" (GA 6\39)

Über Hume gelangt Steiner zu Kant, wo die Synthese verschiedener Denkrichtun-gen nur für gegenseitige Verstärkung der Irrtümer zu sorgen scheint. „Kant fehlt die natürliche Empfindung für das Verhältnis von Wahrnehmung und Idee. Er lebt in philosophischen Vorurteilen, die er durch Studium seiner Vorgänger in sich aufge-nommen hat." (GA 6\4o) . Denn er glaubt, es gebe notwendige Wahrheiten, die vom Denken frei von aller Erfahrung eingesehen werden (Urteile a priori). Kant glaubt ferner, die Erfahrung (a postiori) könne solche Wahrheiten nicht liefern, und, dass die Ideen, mit denen wir über die Dinge denken, nicht aus der Erfahrung stammen. Dazu kommt noch die christliche Empfindung, in der auch schon die Einseitigkeit des Platonismus herrschte. Kant hat das Wissen begrenzt, „um dem Glauben Platz zu machen". Also: „Der einseitige Platonismus hat in Kant eine die Erkenntnis lähmende Frucht hervorgebracht." (GA 6\42).57 Paradoxerweise war eben durch den einseitigen Platonismus die Idee abhanden gekommen.

Goethe sollte dagegen den geraden Sinn für die platonische Erhebung zur Ideenwelt im Anschauen der Kunst und der Natur besessen haben, und „stellte [ ... ] die auf die Ideenwelt gehende Richtung des Platonismus in ihrer Reinheit her." (GA 6\33) . Da Goe-the die Ansicht, dass Denken und Anschauen nicht kongruieren, empfindungsgemäß widerstrebte, konnte er bei den Philosophen keine Aufklärung finden, und glaubte, dass er wohl für Philosophie „kein Organ hatte". So hielt er sich an „gegenständliches Den-ken" (Heinroth), das aber durchaus beim Menschen der Normalfall sei. Steiner setzt dies zum Schluss an Schillers Begriff des spekulativen Geistes auseinander. Schiller hatte Goethe geschrieben (Brief vom 23. August 1794), dass Goethes intuitive Geistesart der spekulativen gegenüberstehe. Jene steigt vom Empirischen zur Idee auf, diese soll von den allgemeinen Gattungen her den Weg zu der Erfahrung finden können. Steiner behauptet, ein solcher spekulativer Geist sei Illusion. Wirkliche Gattungsideen stam-men insgesamt aus der Beobachtung der Wirklichkeit. Ohne Erfahrung kann man sie nicht erfassen. Weil die abstraktesten Gattungsideen manches Individuelle auslassen, scheint es nur so, als ob sie keinen Zusammenhang mit der Erfahrung hätten. Es sei nur

57 In der ersten Auflage heißt es sogar „eine böse Frucht".

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Täuschung, wenn man meint, sie aus dem eigenen Denken herauszuspinnen, da diese Begriffe jedenfalls während der Bildung doch tradiert sind (GA 6\58-6o). Was Stei-ner hier zum Schiller'schen Begriff ausführt, beleuchtet auch sein Verhältnis zu Hegel und dem spekulativen Idealismus im Allgemeinen. Notwendigerweise muss Steiner die Spekulation verwerfen, wenn sie die Erfahrung überspringen will. Doch wenn er über Hegel zu sprechen kommt, übergeht er die Methodenfragen, wie die offene Frage, wie man sich denn die Begriffe an der Erfahrung bildet.

§ 2.15. Umzug nach Berlin

Als er die ihm von der Sophien-Ausgabe aufgetragenen Bände der naturwissenschaft-lichen Schriften fertig gestellt hatte, musste sich Steiner nach einer neuen Aufgabe umsehen. Seine Hoffnungen, sich von Weimar aus einen philosophischen Lehrstuhl oder eine Privatdozentur zu erwerben, hatte er allmählich aufgeben müssen. Er hatte gedacht, in Jena eine Privatdozentur erwerben zu können. Aber gerade vom Archiv aus gab es eine gewisse ,Opposition` gegen Steiners philosophische Aspirationen (vgl. § 2.11.5) . Laurenz Müllner setzte sich ein für die Errichtung eines philosophischen Lehr-stuhls an der Wiener Technischen Hochschule. Sie ließ sich, trotz anfänglicher guter Aussicht, am Ende wahrscheinlich aus finanziellen Gründen nicht realisieren.58 Steiner hatte nicht viel Verbindung mit anderen Universitäten. Er gehörte nicht zu irgend-einer philosophischen Schule. Er war nicht einmal als Student einer philosophischen Fakultät verbunden gewesen. Seine Opposition gegen Kant (während der Blütezeit des Neukantianismus!), sein Eintreten für Nietzsche und die etwas dünkelhaften Bemer-kungen über die Fachphilosophen im Nietzsche-Buch und zuweilen auch in seinen Rezensionen werden ihm wahrscheinlich nicht den nötigen Kredit verschafft haben für irgendeine venia legendi.

Steiner wurde stattdessen Mitherausgeber und Redaktor vom Magazin für Litte-

ratur, eine Wochenschrift, die über alles Interessante berichtete, das sich auf geisti-gem Gebiete abspielte. Steiner übersiedelte 1897 von Weimar nach Berlin. Mit seinem Mitherausgeber, dem Literaten Otto Erich Hartleben (1864-1905), tauchte er in die literarische Avantgarde Berlins ein. Ab 1899 war Steiner ferner Dozent für Geschichte und „Rede"-Übungen an der von Wilhelm Liebknecht (1826-1900) gebildeten Arbei-terbildungsschule (belegt ist eine Empfehlung Kurt Eisners: GA Beiträge 111\9) . Steiner setzte seine philosophische Tätigkeit als Schriftsteller inzwischen weiter fort. Es sind die zwei Themen der monistischen Weltauffassung und des ethischen Individualismus, die ihn zunächst weiter beschäftigten. Er schrieb darüber einen Beitrag in dem von Arthur Dix herausgegeben Sammelwerk Der Egoismus mit dem Titel: Der Egoismus in der Philosophie (1899) und über den Monisten Ernst Haeckel (1834-1909), den er beson-ders schätzte: Ernst Haeckel und seine Gegner (in der Zeitschrift Die Gegenwart; 1899).

58 Lindenberg (1988), S. 134-145.

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Ihre persönliche Beziehung kam in Steiners Weimarer Zeit zustande. Haeckel hatte Steiners monistischer Freiheitsidee öffentlich Beifall bezeugt (in: Ethik und Weltan-schauung).59 Sie tauschten im Briefwechsel einige Publikationen aus und Steiner wurde eingeladen zur Feier des 60. Geburtstages von Haeckel in Jena (als „Nicht-Weimarer der einzige Weimarer unter den Anwesenden") .60 In diese Berliner Zeit fällt auch seine Freundschaft mit dem Max Stirner-Herausgeber John Henry Mackay (1864-1933), der als Zeuge für Steiners Eheschließung auftrat.

§ 2.16. Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert/ Die Rätsel der Philosophie

Cronbach, der Verleger des Magazins, gab einige Sammelwerke zur Jahrhundertwende heraus. In dieser Serie erschien von Steiner ein umfassendes Werk über die Philosophie von Kant bis Haeckel und Nietzsche: Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert (190o). Das Buch wurde 1914 zu einem die ganze Geschichte der Philosophie umspan-nenden Werk erweitert: Die Rätsel der Philosophie (GA 18). Für die Geschichte des 19. Jahrhunderts sind ihm Goethe und Hegel die Stützpunkte. Steiner setzt sich nun erst-mals eingehend mit Hegel auseinander. Steiner hatte in Goethes Weltanschauung sich noch auf die Ansichten beschränkt Goethes und die Geschichte der Philosophie nur unter den Gesichtspunkt des Verhältnisses von Idee und Anschauung gebracht und so die Geschichte des Platonismus betrachtet. Jetzt wird nicht sosehr ein Abriss der Geschichte skizziert, sondern vielmehr gezeigt, was man den philosophischen Gedan-ken und Systeme ablauschen kann in Bezug auf die in ihr durchgehende Bewusstseins-entwicklung. Obgleich der Philosoph das Persönliche nicht auszusprechen beabsichtigt, muss in der Philosophie doch immer erscheinen wie die menschliche Persönlichkeit sich zur Welt und zu sich selbst stellt (GA 18\24). Innerhalb dieser ,Seelenentwicklung` unterscheidet Steiner vier Epochen.

In der ersten Epoche, im griechischen Altertum, entsteht oder „erwacht" der Gedanke in seiner dem von Bildern gesättigten Mythos entgegengesetzten Bildlosig-keit (GA 18\26-27). Die ionischen Naturphilosophen empfanden sich freilich noch mit dem Naturgeschehen verwandt. Äußere Naturvorgänge und innere Seelenprozesse (des Verstehens) wurden noch nicht scharf getrennt. Das Mit-Erleben von der Natur war seelisch tangiert im Erleben der Elemente: des nährenden Wassers (Thales), der im Atem erfühlten Luft (Anaximenes), des verzehrenden Feuers (Heraklit). Diese ,Archai` sind in Steiners Sicht noch keine abstrakten Begriffe. Schon mehr dem Gedankenele-mente hingegeben ist Anaximander, der den Gedanken als den Weltenäther, als gestalt-loses Urwesen erlebt. Bei ihm wird daher das Gedankenleben in seiner Bildlosigkeit eigentlich erst geboren. Die eleatische Philosophie ist dann schon so weit im Gedanken-leben fortgeschritten, dass sie eine Weltanschauung fordert, welche ausschließlich das

59 In: Die Zukunft vom 12. November 1892. Lindenberg (1988), S. 116. 6o Lindenberg (1988), S. 127.

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Gedankenleben voll befriedigen soll. Xenophanes sucht die Gottheit rein im Gedanken zu erfassen. Parmenides kann nur noch in dem Unvergänglichen, das der Gedanke ergreift, das Wahre erleben, und Zeno weist mit der Darstellung der Widersprüchlich-keit der anderen, vergänglichen Welt, darauf hin, wie die Außenwelt dem Gedanken nicht entspricht. Das Gedanken-Erleben wird hier zu einer Gedanken-Kunst (Dialek-tik), wodurch die Seele ihre Selbständigkeit der umringenden Welt (Natur) gegenüber fühlen lernt. Den Zusammenhang mit der Welt konnte ein Anaxagoras noch unproble-matisch im Denken bewahren, da er sich den Weltverstand (Nous) in der Welt wirksam vorstellt. Um einen bedeutenden Grad stofflicher als seine Homoiomeren sind die Atome Demokrits. Dieser will im Gedanken nur gelten lassen, was er als nächstliegen-des Gedanken-Erlebnis erfassen kann, und der Gedanke verblasst dabei zum Schatten einer entseelten Natur. Mit der Sophistik ist das Geistesleben an einem Wendepunkt angekommen. Der Mensch ist sich jetzt des erwachten Gedankenlebens bewusst, und es ist ihm fraglich geworden. Bei Sokrates ist die Weltanschauung völlige Ausdruck seiner Persönlichkeit wie der reinen Vernünftigkeit; so stellen Xenophon und Platon den diskutierenden Sokrates dar. Bei Platon erreicht die Entwicklung für Steiner den Höhepunkt. Seine Philosophie ist die Wissenschaft von Ideen als dem wahren Seien-den. Die Idee ist Offenbarung des Weltengeistes durch die Gedanken. Die Seele ist dem Wesen nach Glied dieser Ideenwelt. Die reine Gestalt des Gedankens hat die Seele im Erdenleben aber nicht für sich. Sie erinnert sich an die Ideen aus einer geistigen Vorexistenz. Bei Aristoteles ist die Herrschaft des Gedankens im Erdenleben nun erst ganz selbstverständlich geworden. Der Gedanke wird Werkzeug, um in das Wesen der Dinge einzudringen, und erarbeitet sich ihre Form (Idee). Die eigene Seele ist ebenfalls tätige Idee oder Form, und sie gehört der Sphäre an, wo das Göttliche als reine, alles bewegende Geistigkeit sein Wesen hat. Die Folgezeit des Altertums ist dann aufzufassen als ein stufenweises Herabsteigen des Gedankenlebens bis zum Skeptizismus und zum Mystizismus im Neuplatonismus.

Eine Grundcharakteristik dieser Epoche ist nach Steiner, dass der Grieche den Gedanken einfach hingenommen hat, wie man eine äußere Wahrnehmung von etwas Rotem oder Gelbem hinnimmt. Der Gedanke hat für die Seele den Charakter einer Art von Wahrnehmung und deshalb eine selbstverständliche überzeugende Kraft, wie es sich namentlich bei Platon und Aristoteles zeigt (GA 18\28).

Es tritt eine Art Zwischenzustand ein in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung (GA 18\89) . Die griechischen Gedanken leben fort und werden umge-staltet, aber sie bringen nicht eine neue Stufe des Gedankenlebens selber. In religiöse Empfindungen getaucht erlebt die Seele in dieser Epoche das „Aufwachen des Selbst-bewußtseins" (Gnosis, Clemens von Alexandria, Origines, Dionysius Areopagita und Augustinus) .

Schon bei Augustinus tritt ein neues Element hervor, das sich erst später weiter entfalten wird: er sucht die Gewissheit des Erkennens in dem Zweifeln selber, also in sich, in der Gewissheit des seelischen Erlebens (GA 18\91). Das „Ich" zieht im Bewusstsein ein, und zu gleicher Zeit verliert der Gedanke seine ganz unmittelbare

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Überzeugungskraft, die er für den Griechen hatte. Die Lebendigkeit des Gedankens wurde ,abgedämpft`, und dies nimmt ihm die naive Selbstverständlichkeit seines Inhalts (GA 18\95-96) . Man fühlt sich dafür im Mittelalter Bildner der Gedanken und fragt nach der Bedeutung und dem Wahrheitswert der Gedanken. Der Kampf von Realismus (Anselm von Canterbury) und Nominalismus (Roscellin) entsteht aus diesem neuen Verhältnis. Der selbsterzeugte Gedanke wird in der dritten Epoche auf seine Realität hin geprüft.

In der vierten Epoche (der Neuzeit) wird das Selbstbewusstsein immer mehr rege, und es erlebt nur an seiner denkenden Tätigkeit innere Sicherheit (GA 18\109). Das Naturbild löst sich zu gleicher Zeit völlig von dem inneren Eigenleben los (Galilei, Francis Bacon). Innerhalb des Naturbildes hat das „Ich" keinen Platz mehr (GA 18\32). Der maßgebende, wenn auch nicht immer bewusste Impuls der Neuzeit ist daher, nach Steiner, die Frage, wie sich Ich und Natur verhalten und das Ich-Bewusstsein sich innerhalb des Weltbildes sichern lässt (GA 18\33).61 Descartes sucht einen Anfang des Erkennens im eigenen Cogito, und zugleich deutet er die Natur mechanisch. Die Spaltung von Ich und Natur tritt daher in der Form eines Dualismus auf. Leibniz versucht ihn zu überwinden dadurch, die Welt wie von Monaden (Ichwesen) aufgebaut vorzustellen. Bei Locke stellt dagegen sich das „merkwürdige Schauspiel" dar, dass er im Selbstbewusstsein nur gelten lässt, was es von der Außenwelt erhält, während, was das Ich wahrnimmt, mit der Welt nicht mehr das Geringste zu tun hat. Locke verliert dadurch jeden Zusammenhang von Ich und Welt (GA 18\118) . In der Aufklärung wird auf mannigfaltige Art in solchen Gedanken das Verhältnis von Ich und Welt gestaltet, die in sich selbst ihre Rechtfertigung haben sollen. Schon bei Lessing und Herder findet man aber einen Impuls, das Ich weiter zu entwickeln. In Lessings Erziehung

61 Nicht nur eine Hegel'sche Ansicht, dass im modernen Prinzip erst das Subjekt für sich und frei wird (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1, Suhrkamp, Werke 18, S. 127), während die Aufgabe der modernen Philosophie darin besteht, den Gegensatz von Denken und Sein, Geist und Natur zu überbrücken (a. a. O., S. 129), sondern mittlerweile längst eine anerkannte historische Sichtweise, vgl. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin 1927, 5. Aufl., Darmstadt 1977. Auf Augustinus soll in der Tat der Individualismus zurückgehen, dass nichts gewisser sei als sich selbst (De trinitate, XIV 7; Cassirer, a. a. O., S. 135), der sich u. a. in der Philosophie der Renaissance breit machte und gipfelt in der korrelierten Selbstanschauung der Freiheit und Anschauung der Unendlich-keit (Bruno, a. a. O., S. 199-20o). Damit hat diese Epoche das Problem aufgetrieben der ,dialektischen Antinomie' von Ich und Welt, die Verschlungenheit von freiem Individuums und es ständig aufzulösen drohendem Kosmos, die doch in seiner Unendlichkeit nur von einem sich aufschwingenden, freien Ich verstanden wird (a. a. O., S.197-200). Die andere, den Gegensatz zuspitzende Ansicht, dass im Naturbild der Neuzeit das „Ich" (Seele/Geist) keinen Platz mehr hat, ist gleichfalls reçu. Vgl. A. Koyré's From the Closed World to the Infinite Universe (Baltimore/London: John Hopkins University Press 1957, p. b. Ed., 4. Dr.), das die neuzeitliche Entwicklung zeigt von einer die Gottheit repräsentierenden Endlichkeit zur geist- und gottleeren Unendlichkeit (a. a. O., S. 273-276), und der klassischen De mechanisering van het wereldbeeld, von E.J. Dijksterhuis, (195o, 3. Aufl., Amsterdam 1977), worin die Verdrängung von Sub-stanziellem, Wesenhaftem durch funktionelle, mathematisch beschriebene Beziehungen im Naturbild eingehend dargestellt ist (vgl. aber auch schon E. Cassirers, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 191o, in der 2. Aufl. von 1923 im Bibliothek Steiners, GA Beiträge 114-115\93).

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des Menschengeschlechtes wird das einzelne Ich erweitert aus dem engen sinnlichen Einzelleben zur Teilnahme an dem Entwicklungsgang der Menschheit in aufeinander folgenden Verkörperungen (GA 18\1224-125). In Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit lebt das Vertrauen, dass die Beobachtung der Natur und Geschichte ein Weltbild ergibt, das auch der Seele ihren Platz einräumt. Dazu nimmt Herder nicht einfach den Gedanken, wie er sich dem Selbstbewusstsein darbietet, sondern er sucht den Gedanken in seinem seelischen Entstehen mitzuerleben, dem Schöpferischen im Gedanken nahe zu kommen (GA 18\134). Steiner fügt hinzu: „Die wirkliche Kraft des Gedankens kennt nur derjenige, der ihn bei seiner Entstehung erlebt" (GA 18\134). Ab hier wird die geschichtliche Darstellung noch mehr zugleich kritische Auseinandersetzung, zuerst mit Kant im Kapitel „Zeitalter von Kant und Goethe".

Bei diesen „zwei geistigen Antipoden" scheiden sich für Steiner die Wege. In Kants Kopernikanischer Tat gelangt manches zwar zu einem systematischen und klaren Ausdruck, was vorher mehr im Hintergrund schwebte (GA 18\139 ), entwicklungsfähig ist Steiner zufolge jedoch nicht Kants Philosophie, sondern die Erkenntnisweise Goethes. Man hat dann allerdings nicht nach dem fertigen philosophischen Resultat zu urteilen (der ,naive` Goethe kann Kants drei, mit allen Mitteln der strengen Schulphilosophie aufgebauten Kritiken freilich nichts Vergleichbares an die Seite stellen), sondern nach dem in ihren Anschauungen lebenden Impuls (GA 18\173). In dem weiteren Dreiviertel des Buches versucht Steiner diesen Gedanken an der seitherigen Entwicklung zu erhärten.

Kant hat nach Steiner die Natur in den menschlichen Geist hineinversetzt und ihre Gesetze zu Gesetzen des menschlichen Bewusstsein selber gemacht. Die höhere Weltordnung hat er aus der Natur verwiesen und auf die rein moralische Grundlage des kategorischen Imperativs gestellt. Zwischen unorganischer und organischer Natur wird künstlich eine scharfe Grenzlinie gezogen, und das Reich des Schönen und der Kunst wird völlig aus seinem Zusammenhang mit der übrigen Welt herausgerissen (GA 18\159-160). In seiner Kritik der Urteilskraft hat er dem Menschen die Einsicht in die lebendige, organische Welt schlechthin abgesprochen. Damit soll Kant ausgesprochen haben, „daß er sich Gedanken nicht denken könne, welche als wirkend in den Wesen der Natur selbst vorgestellt werden." (GA 18\160) . Man kann Gedanken nicht nur denken, sondern auch denkend miterleben. Erst wenn das selbstbewusste Ich solche Gedanken hat, „daß es an ihm ein Leben erkennt, von dem es wissen kann: es vermag sich auch außer mir zu verwirklichen", dann kann sich das Ich mit der Natur wieder verbinden. Zu diesem Schritt drängt nach seiner Sicht die neuere Weltanschauungsentwicklung. Und nicht Kant hat diesen Schritt gemacht, sondern Goethe (GA 18\160-161). In dem Begriff der ,Urpflanze` hat Goethe eine Idee erfasst, mit der man, wie er sagt, „Pflanzen ins Unendliche erfinden kann", die „konsequent sein müssen, d. h., die, wenn sie auch nicht existieren, existieren könnten, und [ ... J innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben." Damit hat Goethe einen ersten Schritt getan, um in dem selbstbewussten Ich die lebendige Idee zu finden (GA 18\170-171).

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Das „Unbefriedigende der Kantschen Gedankenkreise" (GA 18\174) zeigt Steiner an-

hand der Kritik von Fichte, Lichtenberg, G.E. Schulze, Salomon Maimon und Schiller.

In Fichtes Philosophie der Tathandlung des Ich „will die Weltanschauung das Selbstbe-

wußtsein erleben" (GA 18\188). Schließlich wird der Kantianismus, nach Steiner wohl

endgültig, überwunden durch die zwei „Klassiker der Welt- und Lebensanschauung":

Schelling und Hegel (GA 18\212). Schellings Geist („ein erfinderischer Kopf ohneglei-

chen"; GA 18\212) ist Goethe verwandt, denn „er war beseelt von dem Gefühl, daß die

Ideen, die in seiner Phantasie erscheinen, auch die wahren schöpferischen Kräfte der

Naturvorgänge seien" (GA 18\217). Nach dieser Fantasie strebte seine Philosophie, die

Schelling anfänglich krönte mit einer Philosophie der Kunst, worin denkende Weltbe-

trachtung und künstlerisches Schaffen ineinander übergehen (GA 18\219-220). Dann

genügte ihm die reine Vernunftwissenschaft nicht mehr und er ging von der Welt-

betrachtung zu einer Theosophie über. Schelling versetzte das an dem rein Gedank-

lichen vorbei lebende Element des schöpferischen Willens in Gott und hatte so in

seiner ,positiven Philosophie' den Mut zum konsequentesten Anthropomorphismus

(GA 18\228-229). „Allein wie fremd sind die Begriffe seiner Gottesbetrachtung dem

unmittelbar-wirklichen Leben.": Schelling zieht sich in die höchsten Regionen des

Daseins zurück (GA 18\247). Steiner spricht ferner kein Urteil aus über den Wert von

Schellings Philosophie. Dass er nun weiter an Hegel anknüpft und dessen Wirklichkeits-

sinn gegenüber Schelling behauptet, besagt nur scheinbar, dieser bliebe hinter Hegel

zurück. Schelling ist ihm von größerer Bedeutung als die Behandlung hier vermuten

lässt, wie aus unserer Untersuchung noch hervorgehen wird.

In Hegel rühmt Steiner eine Persönlichkeit „die ganz im Element des Denkens

lebt". Hegels Philosophie setzt dort ein, wo das wissenschaftliche Beobachten an sein

Ziel gelangt: „beim Gedanken, wie er im Selbstbewußtsein lebt" (GA 18\235-236). Die

Gedanken, die an einzelnen Dingen gewonnen werden, schließen sich zu einem Ganzen

zusammen. Dieses Ganze versucht Hegel als eine fortschreitende Gedankenentwicklung

zu verstehen, die vorwärtsgetrieben wird vom Widerspruch. In den reinen Gedanken

erfassen wir nach Hegel das Wesen der Natur und des Menschen. Im menschlichen

Selbstbewusstsein schaut sich der Gedanke also selbst an (GA 18\238-239): „Durch

Hegel wird der Grundcharakter des neuen Weltanschauungsstrebens ausgesprochen."

(GA 18\240): denn Hegel lässt die Seele in den Weltgeist untertauchen und lässt sie

dann, nachdem sie untergetaucht ist, ihr inneres Leben entfalten. So lebt sie als eige-

nes Leben mit, was der Weltgeist lebt, in den sie untergetaucht ist (GA 18\241). Mit

dieser Hegel'schen Formulierung will Steiner nicht sagen, Hegel lebte in einem mysti-

schen Element. Hegel hat diesen Weltgeist vor seiner Verwirklichung, als das „unfertige

Welturwesen" dargestellt in der Logik als „ein Gebäude von leblosen, starren, stum-

men Gedanken", das als solches in Wirklichkeit nirgends vorhanden ist, denn unser

Verstand trennt es nachher vom dem lebendigen Wirklichen ab (GA 18\248-249). In

der lebendigen Persönlichkeit durchbricht der Geist aber die Hülle der Natur und tritt

nun erst als Geist hervor und enthüllt sich als die Triebkraft der Welt. Steiner sieht

hier eine vollständige Übereinstimmung zwischen Goethe und Hegel. Was Goethe aus

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der Naturbeobachtung gewonnen hatte, hat Hegel im reinen, im Selbstbewusstsein lebendigen Denken gefunden (GA 18\255) . In diesem Sinne stimmt dann auch Steiner ganz mit Hegel überein. Ein Unterschied zu Hegel, der in der wiedergegebenen Darstel-lungsweise schon enthalten ist, wird nachher manifest, wenn Steiner die Entwicklung des weiteren 19. Jahrhunderts entfalten lässt durch das Verhältnis, das sie zu Hegels Philosophie einnimmt.

Gegenüber Hegel erscheinen die Philosophien von Herbart und Schopenhauer als „reaktionäre Weltanschauungen". Herbart findet nicht den lebendigen Gedan-ken. Seinem logischen Bedürfnis entsprechen nur die widerspruchslosen Gedanken (GA 18\257). Schopenhauer greift nur zum Aufbau seiner Philosophie willkürlich eine besondere Kraft aus der Persönlichkeit auf, die ganz individuell ist: den leiblichen Wil-len (GA 18\269). Der Hegel'sche Ausgangspunkt ist dagegen das ,reine` Denken, d. h. die abstrakte Idee, die er selbst als „austernhaft, grau oder ganz schwarz" beschreibt (GA 18\278) . Das Ziel der Entwicklung ist der inhaltvolle, individuelle Mensch, durch den die an sich graue oder schwarze Idee zum Vorschein kommen soll. Man würde Hegel zwar missverstehen, indem man annimmt, das farben- und formenreiche Naturleben wird erklärt aus der eisigen Höhe des reinen, abstrakten Gedankens. Dieses Missverste-hen sei aber begreiflich (GA 18\278-279) . Denker wie Baader, Krause, I.H. Fichte, Weisse, Günther, Trahndorff, Deutinger und Ulrici unternehmen deswegen den Versuch, die christliche Gottesvorstellung eines persönlichen Gottes philosophisch zu rechtfertigen und zu begründen (GA 18\279). Aber man missversteht Hegel, indem man meint, man könne die Religion stützen (Hegel'sche Rechte) oder stürzen (Hegel'sche Linke) durch seine Philosophie. Hegel versucht sie lediglich als Vernünftiges zu begreifen. Er hat sie ebenso wenig wie eine Erscheinung der Natur aus den reinen Gedanken heraus schaffen wollen (GA 18\284) . Überall sieht Steiner Hegel nur bestrebt, den Gedankengehalt der Erscheinungen an die Oberfläche zu bringen, nicht diese selber zu schaffen (GA 18\284).

Dann betont Steiner, dass die Art wie Hegel den Gedanken auffasst, andererseits wirklich zu einem toten Punkt führt (GA 18 \339) . Hegel hatte begriffen, wie die Seele den Gedanken in sich hervorbringt und sich darin reflektiert, aber auch der Nachwelt die Aufgabe überlassen, diese Gedankenform zu überwinden, weil die Seele in ihr sich „nicht in seiner Ganzheit erleben kann" (GA 18\340) . Deshalb traten als notwendiger Gegensatz die radikalen Weltanschauungen von Feuerbach, Bruno Bauer und Stirner auf. Sie wiesen auf den konkreten Menschen hin, und Stirner auf das reine, für sich stehende Ich, ohne es von der Vernunft noch abhängig zu machen, wie Hegel es tat (GA 18\307, 311, 316). „Die Entwicklung scheint auf einen weiteren Fortgang hinzuwei-sen. Der Gedanke darf nicht als Gedanke verharren, er darf nicht bloß gedacht, nicht nur denkend erlebt werden, er muß zu einem noch höheren Leben erwachen." Wie wenig diese Konsequenz aus den unmittelbaren geschichtlichen Tatsachen hervorgeht, ist Steiner selber klar, denn er verfolgt: „So willkürlich alles dies erscheinen mag, so notwendig muß es sich einer tiefer dringenden Betrachtung der Weltanschauungsent-wicklung im 19. Jahrhundert aufdrängen." (GA 18\34o). Dieses kann Steiner wieder nur an Goethes Denken abmessen. Das spätere Jahrhundert fühlte sich unbefriedigt von

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54 KAPITEL II

der Philosophie Hegels. Der Lieblingsschüler Schellings, der Schweizer Troxler ,ahnte': „daß Hegel [ ... ] die Spekulation auf die höchste Stufe ihrer Ausbildung geführt und sie eben dadurch vernichtet" hat (GA 18 \345) . Man fühlte „die Ohnmacht des Hegelschen Gedankengemäldes" gegenüber dem Individuellen des Menschen und gegenüber der Forderung, in die Tiefe der Natur einzudringen (GA 18 \347) . Steiner führt aus, wie die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaft zeigen, wie gründlich Hegel aus dem Geiste alles ,Tatsächliche' ausgetrieben und zu bloßen Gedanken verdünnt hatte (GA 18\380). Eben durch das, was Hegel aus dem Geiste gemacht hatte, war die Weltan-schauung zum Materialismus gedrängt worden, weil Hegel nur mangelhaft das Neue des Goethe'schen Denkens ergriffen hat. Goethe wollte mit der Urpflanze den Gedan-ken zu solcher Lebendigkeit steigern, dass „in dem seelischen Zusammensein mit dem lebendig gewordenen Gedanken [ ... ] man ein geistig Erlebnis gehabt [hätte], das den Geist auch im Stoffe hätte anerkennen können, in dem ,bloßen Gedanken' hatte man ein solches nicht" (GA 18\380). Es führt zu einer völligen Umkehrung der Denkweise im Laufe des 19. Jahrhunderts. Hegel wollte am Anfang die Natur aus dem Geist verstehen. Haeckel schließlich versucht in seinem Monismus, streng methodisch wissenschaftlich, den Geist aus der Natur abzuleiten (GA 18\412). Der Hegel'sche Gedanke kann der Hae-ckel'schen, in sich befestigten Naturanschauung nichts entgegenstellen. Diese Lage for-dert deshalb, dass die Philosophie sich ein Feld schaffen muss über die Naturgedanken hinaus, das „in dem selbstschöpferischen Gebiet des Gedankenlebens liegt" (GA 18\421). Die Goethe'sche Mitte hätte vor dem Verblassen des Gedankens bewahren sollen.

Dem Monismus steht als Gegenpart der moderne wissenschaftliche Dualismus gegenüber. Dieser fühlte sich aufgrund wissenschaftlicher Tatsachen genötigt, erst das Innenleben des Menschen für subjektiv, dann als nächstes folgerichtig das Bild der Welt, das er hat, für subjektiv zu erklären. Damit verwandelt er die ganze Welt in eine Illusion. Sein konsequentester Vertreter ist F.A. Lange (GA 18\443). Er sieht ein, dass die konsequent materialistische Betrachtungsweise in eine idealistische umschlägt. Wenn die Weltanschauung nur eine subjektive Vorstellungswelt ist, so ist die Materie ihr Traum und ihre ,Dichtung` (GA 18\441). Diese Vorstellung der Welt als Illusion fordert umso mehr das Lebendigwerden des Gedankens. Denn das Ich ist hier völlig mit sich in Widerspruch geraten, was Steiner auch darstellt an der Philosophie John Stuart Mills. Der konsequent nur beobachtende Empirismus steht dem Ich als Zuschauer genauso gegenüber, wie er sich zu einem äußeren Objekte verhält. Das Ich erscheint in diesem uneigentlichen Vorgehen nur als eine Reihe von Vorstellungen, die aber ein Bewusstsein von ihrer Vergangenheit und ihrem Werden haben sollen, was Mill selber durchaus als Paradoxon anerkennt (GA 18 \455) . Der Weg zur Überwindung des Subjektivismus ist eben das Überwinden dieses passiven Zuschauerstandpunktes: „Hat das Ich den Gedanken nur in sich erlebt, so fühlt es sich mit ihm in sich selbst. Beginnt der Gedanke sein Eigenleben, so entreißt er das Ich seinem subjektiven Leben" (GA 18\471).

Nachdem Steiner im Neukantianismus, der Philosophie des Positivismus, dem ,modernen` Idealismus (Lotze, Fechner, Ed. von Hartmann) und den neueren Rich-

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tungen wie Nietzsche und dem Pragmatismus, diese meistens unbewusst wirkenden Spannungen des Anschauungslebens in diesem Verhältnis dargestellt hat, bietet er einen ,skizzenhaft dargestellten Ausblick auf eine Anthroposophie (GA 18\594). Er weist auf seine Philosophie der Freiheit hin für den Punkt, wo über das Leben in Gedanken auf Hegel'sche Art fortgeschritten werden kann zu einem solchen seelischen Erleben, dass die Idee als übersinnliches Eigenwesen bewusst wird (GA 18\61o). Das Mittel, tiefer in das Bewusstsein einzudringen, ist, den Blick zu richten auf das Denken selber. Im gewöhnlichen Denken ist es mit dem Gedanken, dem Objekt beschäftigt. Man kann aber auch die Tätigkeit des Denkens als solche ins Geistesauge fassen (GA 18\6o4). Es ist

dies der von Steiner in seiner Philosophie der Freiheit im ersten Teil vollzogene Schritt, sich in einer Phänomenologie des Denkens sich diese als geistige Tätigkeit bewusst zu machen. Er fordert innere Konzentrationsarbeit („ein Verharren in der inneren Tätigkeit des Denkens") durch eine Steigerung „der Aufmerksamkeit und liebevolle Hingabe" am denkend Erlebten (GA 18\605). Es soll dazu führen, dass man erlebt, auf welchem Felde das Denken seine Tätigkeit entfaltet. Eine entsprechende Erkenntnis-theorie skizzierte Steiner 1911 auf dem Iv. Internationalen Kongress der Philosophie in Bologna, auf die er zum Schluss hinweist (GA 18\6o7).

Die Rätsel der Philosophie stellen mithin die geschichtliche Rechtfertigung dar des ersten (erkenntnistheoretischen) Teils von Steiners systematischer Philosophie der Frei-

heit. Die Philosophiegeschichte hat nach Steiner den inneren Sinn, dass der Mensch sich schrittweise erstens den bildlosen Gedanken erwirbt, dieses Denken dann innerlich vertieft, bis es in der Neuzeit zum Eigentum und Eigenleben des Ich wird. Indem es sich konzentriert im Ich, zieht das Denken sich immer mehr von der Welt zurück, lebt das Weltgeschehen immer weniger auf naive Weise unmittelbar mit (vgl. einerseits die ionische und stoische Naturphilosophie und andererseits die moderne mechanisierte Naturvorstellung). Die Geschichte selber stellt uns die Aufgabe, die in die Subjektivi-tät hineingenommene Objektivität des Ideellen wiederzubeleben und in seiner Fülle dem Welterkennen einzusetzen. Sieht man nicht zu, wie der Gedanke im Ich ent-steht, so findet man auch nicht den Weg zu seiner objektiven Bedeutung. Dies zu zeigen, unternimmt Steiner in Die Philosophie der Freiheit. Umgekehrt ist aber Steiners Geschichtsauffassung durch sein philosophisches Grundkonzept bedingt. Das Verhält-nis von passivem Entgegennehmen und aktivem Hervorbringen ist die Hauptachse seiner Erkenntnistheorie und Handlungsphilosophie. Dass die Entwicklung geschicht-lich vom passiven Entgegennehmen zum aktiven Hervorbringen verlaufen soll, ist unter diesem Gesichtspunkt naheliegend. Die Richtung der neueren philosophischen Entwicklung ergibt in dieser Perspektive die systematisch veranlagte Synthese die-ser beiden Pole: die Zurückbeugung der inneren geistigen Aktivität in eine zugleich wahrnehmende, oder historisch formuliert, die Synthese von Hegel und Goethe. Die

Rätsel der Philosophie stellt also die zeitlich-dynamisierte Systematik der Philosophie

der Freiheit dar.

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56 KAPITEL II

§ 2.17. Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft

Steiner sah sich im Sommer 1900 wegen der schlechten finanziellen Lage der Zeit-schrift genötigt, die Redaktion des Magazins aufzugeben. Im September 1900 bemühte er sich um eine Dozentur an der Humboldt-Universität, aber sein Gesuch soll zu spät angekommen sein, um für das eben begonnene Semester noch bewilligt zu werden.62

Nach dem Tode Nietzsches (25. Aug. 190o) hielt Steiner einige Gedenkreden auf den Verstorbenen. Deswegen wurde er eingeladen, in der Theosophischen Bibliothek in Berlin erst über Nietzsche zu sprechen, dann aber mehrere Vorträge über Goethe und weiter über die Entwicklung der deutschen Mystik (von Meister Eckhart bis Paracelsus) zu halten. Sie waren Anlass zum Angebot an Steiner, Vorsitzender der Berliner Loge und Generalsekretär der deutschen Theosophischen Gesellschaft zu werden (1902). Sein Gang durch die Theosophische Gesellschaft und die Gründung und Entwick-lung der Anthroposophischen Gesellschaft (ab 1913) gehören nicht hierher. Nur sei entre parenthèse bemerkt, dass Steiner seine Philosophie schon damals als eine Version der Theosophie, oder Anthroposophie, verstand und dass der Faden seiner philoso-phischen Entwicklung nicht abbricht. Er war sich wohl bewusst, dass eine mögliche wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität durch diese neuen Beziehungen gefährdet wurde, da die neuere ,Theosophie` von H.P. Blavatsky nicht einen unbedingt günstigen Ruf genoss. Selber verstand Steiner seine geistige Weltanschauung als eine notwen-dige Folge seines Idealismus, deshalb hielt er den Schritt in die Theosophie nicht für einen so radikalen Bruch. Umso weniger, da ihm die Leitung anvertraut wurde und er den Inhalt in erheblichem Maße zu bestimmen hatte: dem ,Rahmen der Gesell-schaft' wäre noch ein ,Bild` einzusetzen. So vertrat er von Anfang an die Ansicht, eine geistige Bewegung in Europa hätte nicht anzuknüpfen an das indische Vedanta-Yoga oder den Buddhismus (wie bis dahin in der Theosophischen Gesellschaft), sondern an Platon und Goethe.63 In einer kurzen Serie von Vorträgen Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theosophie (1903; GA 52), einer Kurzfassung seiner Welt- und Lebens-anschauungen im 19. Jahrhundert, stellt er die eigene philosophische Überzeugung dar, dass wir geistig „in den Dingen sein können", dass unser Ich „nicht uns selbst gehört, nicht eingeschlossen ist in das engumschlossene Gebäude, als das unsere Organisation erscheint, sondern der einzelne Mensch [ ... J nur Erscheinung des göttlichen Selbst der Welt" ist (GA 52\129) . Für die philosophische Rechtfertigung der Theosophie, die er hier für das öffentliche Gehör im Berliner Architektenhaus „in Bilder kleidete", weist er auf seine Philosophie der Freiheit hin. Nichts anderes hatte er in diesem Buche also gemeint. Damals konnte man den Zusammenhang mit der akademischen Philosophie dabei noch aufrecht halten. Steiner nennt z. B. Julius Baumann (1837-1916), damals Professor für Philosophie in Göttingen, der sich ähnlich ausgesprochen hatte.64

62 Lindenberg (1997), S. 313. 63 Lindenberg (1988), S. 191. Gespräch mit M. von Sivers vom 17 November 19o1. 64 Vgl. dessen Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre, Leipzig

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§ 2.18. Iv. Internationaler Kongress für Philosophie

1911 nahm Steiner an diesem Kongress in Bologna teil. Es sprachen u. a. Henri Bergson (1859-1890), Emile Boutroux (1845-1921), Oswald Külpe (1862-1915), Henri Poincaré (1854-1912) und Hans Vaihinger (1852-1933), der seine ,Philosophie des Als Ob' auf dem Kongress präsentierte. Steiner sprach in der Sektion ,Filosofia della Religione` über Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Theosophie.65

Eine bedeutende Wirkung, oder auch nur viele Besucher, hatte der Vortrag vermutlich nicht, aber aus den Akten geht hervor, dass er ein geneigtes Gehör fand. Der Kongress war für Steiner möglicherweise auch Anlass dafür, die neueste Philosophie von Bergson, Boutroux und Vaihinger zur Kenntnis zu nehmen. Steiner hat sie knapp (und Boutroux zustimmend) dargestellt in Die Rätsel der Philosophie (1914).

In seinem Vortrag verteidigte er die Wissenschaftlichkeit der Theosophie: Es soll auch hier ein methodisches Erkenntnisprinzip zugrunde liegen. Steiner greift das Thema der Verlebendigung des Gedankens wieder auf, jetzt aber von einem praktisch-technischen Gesichtspunkt, von der Bedeutung der Meditation aus. Das Eigenleben, die innere Dynamik der Begriffe wird man nur durch wiederholte Konzentration gewahr, indem man zunächst einmal ganz abstrahiert von ihrem Erkenntniswert, also ihre Beziehung auf Äußeres. Als Beispiel eines solchen Begriffes, der als ‚Symbol' für sich genommen werden soll, nennt Steiner Goethes ,Urpflanze` (wie Goethe sie „mit einigen Federstrichen" symbolisch gezeichnet hatte im erwähnten Gespräch mit Schiller). Man sollte das Erlebnis haben, dass man „sich in ein Gebiet inneren Seins zurückziehen kann" (GA 35\119), während man vorher zu den von den Sinnen herrührenden Vorstel-lungen hingezogen war. Diese Konzentration soll fortgeführt werden zu dem Punkte, wo man zum Anschauen der Gedankentätigkeit kommt, zu einer real-geistigen Selbst-anschauung. Hier soll das Ich nicht mehr bloßer Punkt der Selbstreferenz sein, sondern sich erleben als eins mit dem Gewebe von Gedanken (d. h. von Gesetzen; GA 35\124) .

Man vergleiche dazu die Formel, mit der Steiner den Ton seiner Goethe-Interpretation setzte: Goethes Urpflanze „ist die in die Idee übersetzte Natur der Pflanze, die in unse-rem Geiste ebenso lebt wie im Objekte" (GA 1\12-13) . Steiner betont die Kontinuität zu früheren Arbeiten: Die Philosophie der Freiheit soll die „vollständige Grundlage für die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theosophie" enthalten (GA 35\136).

Wir erfahren hier also umgekehrt, dass zum Verständnis dieses Buches diese Konzen-tration immer vorausgesetzt war. Wie wir in § 2.3 gesehen haben, war die Praxis dieser Art von ,intellektueller Anschauung' (Schelling) von Anfang an Prämisse von Steiners Idealismus.

Steiner bestreitet zum Schluss die damals geläufige Ansicht, wir seien in den Grenzen unserer Subjektivität eingeschlossen, und er behauptet, dies sei ein versteckter Mate-

1898. Er lehrte die Reinkarnation: Unsterblichkeit und Seelenwanderungslehre, Leipzig 1909; GA

52\128.

65 Atti del Iv Congresso Intern. di Filosofia, Bologna MCMXI, Vol. III, Reprint, Liechtenstein 1968. S. 224 ff.

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rialismus. Im materiellen Sinne wird der äußere Gegenstand nie in unser Bewusstsein einwandern, aber das Geistige am Gegenstand, die Aristotelische ,Form`, der Gedanke kann es schon. Für ihn ist das Ich eine Brücke. Der zweite Punkt, den Steiner erörtert, ist, dass es demzufolge ein Fehler wäre zu meinen, das Ich stehe außerhalb der ideellen Gesetzmäßigkeiten der Dinge. Das Ich ist nicht wie ein materielles Ding „im physischen Leibe", ebenso wenig wie das Bild im Spiegel ein materielles Dasein des reflektierten Gegenstandes in ihm darstellt. Die Leibesorganisation spiegelt die Tätigkeit des Ich gleichsam nur bildhaft zurück. Eben der versteckte Materialismus führt im subjektiven Idealismus zum Leib-Seele-Dualismus. In der zweiten Auflage (1918) fügt Steiner diesen Gedanken in Die Philosophie der Freiheit ein (GA 4\146-148).

§ 2.19. Brentano und Von Seelenrätseln

1917 starb Franz Brentano. Deshalb einen Aufsatz über ihn zu schreiben war Steiner „tiefstes Bedürfnis" (GA 21\9) . Steiner war Brentano früh begegnet, aber er hat ihn nur allmählich schätzen gelernt. Doch zuletzt wurde ihm Brentano von allen Zeitgenossen derjenige, der mit einem aristotelischen Scharfsinn „am weitesten in der Philosophie fortgeschritten war" (GA 176\3.VII.1917). „Wenn ich in bezug auf ihn etwas bedauere" gesteht Steiner im Vorwort von Von Seelenrätseln (GA 21, erschienen 1917), so ist es dieses, dass er den Aufsatz „nicht vor langer Zeit habe schreiben und den Versuch unternehmen können, ihn Brentano noch vor Augen treten zu lassen. Allein trotzdem ich ein eifriger Leser von Brentanos Schriften seit sehr langer Zeit bin: erst jetzt ist mir sein Lebenswerk so vor die Seele getreten, daß ich das Verhältnis desselben zur Anthroposophie in der Art darstellen kann, wie es in dieser Schrift geschieht. Der Hingang des verehrten Mannes hat mich gedrängt, dieses Lebenswerk wieder in Gedanken zu durchleben." (GA 21\9) . Die Auseinandersetzung mit Brentano erstreckt sich — abgesehen von den Wiener Jahren — über die Jahre 1910 bis 1917, und zeigt uns wiederum die Konsequenzen von Steiners Idealismus.

Schon 1910 hatte Steiner vier Vorträge über ,Psychosophie` (GA 115), eine anthro-posophische Psychologie, gehalten, die auf eine intensive Beschäftigung mit Brentano schließen lassen. Die ,Psychosophie` betrachtet die Seele, die Psyche, als ein zwischen Leib und Geist vermittelndes Wesen. Die leibliche Wahrnehmung eines äußeren Gegen-standes gehört noch nicht zum eigentlichen Seelenleben. In der Erkenntnis, im Urteil, sprechen wir geistig andererseits eine Tatsache aus, wie sie unabhängig von uns bestehen soll. Das rein Seelische befindet sich zwischen der Wahrnehmung und der Erkenntnis, wo wir nur in uns selber leben. Steiner charakterisiert es durch zwei Elemente: a) die Fähigkeit des Urteilens und b) die Erlebnisse von Liebe und Hass. Brentanos dritte Kategorie, die Vorstellung, ist für Steiner dem Inhalt nach etwas von außen Herein-genommenes und nicht ein rein Seelisches zu nennen. Nur der Form nach entspringt die Vorstellung der Tätigkeit des Urteilens. Die Vorstellung ,rote Rose' ist Ergebnis des

Urteils ,die Rose ist rot'. Die Vorstellung ist mithin eine Wirkung des Urteilens. Die Phänomene von Liebe und Hass entstehen mit dem Begehren. So gibt es im Grunde

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nur zwei Elemente des eigentlichen Seelenlebens: die Urteilstätigkeit und das Begeh-ren.66 Das Bewusstsein wird von Steiner nun erklärt durch das Zusammentreffen, das Übereinanderschlagen des Vorstellungsstroms mit dem Strom des Begehrens.

Die Anerkennung der Leistungen Brentanos kommt nur am Ende zur Sprache, wenn Steiner behauptet, „unter allen Psychologen der Gegenwart, welche [ ... ] mit feiner Schulung an die Seelenforschung herangegangen sind, ist nur Franz Brentano zu nennen" (GA 115\1931-156), während Wundt „nur vorgefaßte Meinungen" etabliert haben soll (GA 115\157).

Ein Jahr später (1911) knüpfte Steiner an diesen Zyklus an und sprach über eine ,Pneumatosophie` (GA 115). Der erste Vortrag fängt gleich an mit Franz Brentano und dessen Einteilung der psychischen Phänomene in Vorstellen, Urteilen und die Erschei-nungen von Liebe und Hass (die Gemütsbewegungen). Diese Dreiteilung soll die alte von Denken, Fühlen und Wollen ersetzen. Brentano soll zu Recht die Vorstellung unter-schieden haben vom Urteil, das die Vorstellung erst im Verhältnis zur Objektivität setzt. Es ist charakteristisch für Brentano, dass er das Wollen als Seelenphänomen auslässt oder mit den innerhalb der Seele erlebten Gemütsbewegungen identifiziert. Denn beim Wollen geht die Seele aus sich heraus, verbindet sich mit der Außenwelt. Beim Urtei-len und Wollen überschreitet die Seele also ihre Grenzen, nach Steiner, beide Male durch den Geist. Brentano aber hat „Ernst gemacht mit der Nichtberücksichtigung des Geistes" (GA 115\165) . Er soll ihn ganz ehrlich, als er ihn im Seelenbereich nicht fand, konsequenterweise pauschal negiert haben. Steiner erklärt daraus die Tatsache, dass Brentano seine Psychologie nicht weiterführen konnte, sodass sie stecken geblieben ist in einem Entwurf. Für eine Geistlehre hätte man bis auf Aristoteles zurückzugrei-fen, welche Lehre gerade durch Brentano nach langem Forschen dargestellt war im soeben erschienen Aristoteles und seine Weltanschauung (1911) und Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes (1911).

In Von Seelenrätseln (1917; GA 21) geht Steiner nunmehr philosophisch vor. Er weist wiederum hin auf das Unvollendete der Brentano'schen Werke. Dies gilt es ihm haupt-sächlich zu verstehen. Steiner relativiert Brentanos Kriterium psychischer Phänomene und setzt dazu der Unterscheidung psychischer Phänomene durch die intentionale Beziehung eine Betrachtung der physischen Phänomene gegenüber. Das Physische hat Brentano negativ dadurch charakterisiert, dass es keine Intentionalität hat. Im phy-sischen Bereich ist aber jede Erscheinung bedingt durch etwas anderes. Der Körper, der sich auflöst in der Flüßigkeit, ist bedingt durch die Beziehung zur umgebenden Flüssigkeit usw. Steiner referiert zustimmend die Sätze von Moleschott: „Alles Sein ist ein Sein durch Eigenschaften. Aber es gibt keine Eigenschaften, die nicht durch ein Verhältnis bestehen." (GA 21\65) . Die Unterscheidung muss daher so gefasst werden: Beides ist durch die Beziehung auf anderes, nur alles Psychische durch etwas in sich

66 Letztendlich hat auch Brentano nur zwei Klassen von psychischen Phänomenen unterschieden; vgl. Massimo Libardi, Franz Brentano, in: The School of Franz Brentano, herausg. von L. Albertazzi, M. Libardi und R. Poli, Kluwer-Dordrecht 1996, S. 48.

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(intentional), und alles Physische durch etwas außer sich (GA 21\86). Die verschwiegene Grundfrage, fügen wir hinzu, ist also: „Welcher Art ist stets ,die Beziehung"`? Wenn wir hier wieder Steiners idealistisch-erkenntnistheoretischen Monismus voraussetzen dürfen, ist die Lösung, dass beides mal die Beziehung rein ideeller Art sei, deswegen aber nicht weniger ,real` (sie ist also geistig zu denken). Es wäre dann derselbe Punkt getroffen: eine ,Nichtberücksichtigung des Geistes`.67

Erstens sucht man bei Brentano vergebens nach dem Übergang von der subjektiven Vorstellung zum Urteil. Was veranlasst das Bewusstsein, ein Urteil anzuerkennen? (GA 21\ 88). Genau so ergeht es Brentanos Definition des Guten: „Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist".68 Ist die ,Richtigkeit` nicht in Beziehung auf die äußere Welt zu beurteilen? (GA 21\88). Steiner erweitert Brentanos intentionale Beziehung im Urteilen zu einer Doppelbeziehung: einerseits über die Seele hinaus zum äußeren Gegenstand und andererseits zum dumpfen Erleben von Gleichgewichten, Bewegung usw. ins Leibliche hinein (GA 21\145-148) . Brentano erfasst erstens den bloßen Bildcharakter der Vorstellung. Das normale Vorstellen enthält schon darüber hinaus ein Urteilsmoment. Nur in rein ,imaginativen`, rein symbolischen Bildern, so wie man sie in der meditativen Konzentration benutzt (vgl. § 2.17), sind sie ohne jede Beziehung zur Sinneswelt. Nur für das künstlich hingestellte Bewusstsein wäre Brentanos Charakteristik des Vorstellens richtig (GA 21\92-93) . Zweitens wird von Brentano die Beziehung vom Urteilen zum leiblichen Erfahren übersehen. Letzteres wird im Urteil öfter auf den Gegenstand übertragen, z. B. im Existentialurteil, dass das Gesehene als Ding ,ist` (vgl. § 2.14.2 über den Anthropomorphismus in der Mechanik) . Es erhält eine Art vom eigenen Leibe übertragenen Realgehalt. Für eine vollständige Analyse dieses Phänomens braucht Steiner eine erweiterte Sinneslehre, deren Konturen er nur andeutet. So kehrt hier Steiners Ansicht wieder, dass die Seele nur zu verstehen sei als vermittelndes Wesen zwischen Leib und Geist.

Als Beschreibung des normalen Bewusstseins ist Brentanos deskriptive (phänome-nologische) Psychologie also nicht adäquat (GA 21\95-96). Brentano bildet Begriffe, die über das unmittelbare Sinnliche im Bewusstsein hinausgehen sollen, wofür er sich an Aristoteles' Geistesmetaphysik orientiert. Wie sehr auch Brentano Aristoteles zugeneigt ist, er verweigert sich zugleich den Zugang zu dessen Geisteslehre (Geist ist Aktuosität) durch seine sensualistisch gefärbte Vorstellungsart (GA 21\1o1) . Er war, Steiner zufolge, dafür zu sehr der Vorstellungsart von Bacon, Locke und Mill hingegeben und glaubte, jede andere liefe wohl in „mystisches Dunkel und freies Schweifen der Phantasie in unbekannte Regionen"69 aus. Steiner kritisiert anschließend Brentanos Die vier Phasen der Philosophie (1895): Brentanos Wertung der verschiedenen Epochen ist gleichfalls

67 0. Kraus hat in Franz Brentano, zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre (München 1919) Brentano gegen Steiner verteidigt. Mit „gänzlich unfundierten Schmähungen", urteilte J.W. Stein (Kolisko et al. [1922], Aenigmatisches aus Kunst und Wissenschaft, Bd. 1, S. 5o, Anm. 1).

68 Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1889, S. 17. 69 Brentano über Plotin in: Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht, Wien 1876, S. 14.

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bedingt durch seinen einseitigen Empirismus, der Steiner seine idealistische entgegen-stellt (vgl. § 2.16; GA 21\115) .

In der Wochenschrift Das Goetheanum hat Steiner später noch einige kurze Auf-sätze über Brentano publiziert:70 eine Rezension zu Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung, mit einem Anhang: Kurze Darstellung der christlichen Glaubenslehre (Leipzig

1922), über Aenigmatias den Aufsatz Der Philosoph als Rätselschmied, in Philosophen-hände erinnert Steiner an die Art und Weise, in der Brentano seine Philosophie an der Wiener Universität vortrug.

§ 2.20. Begegnung mit Max Scheler

Am 1. Mai 1905 hielt Steiner einen Vortrag in Jena über Die Grundlehre der Theosophie. Unter den Zuhörern war Max Scheler (1874-1928), damals noch Dozent für Philoso-phie in Jena. Im kleineren Kreise wurde nach dem Vortrag diskutiert u. a. über die Möglichkeit die Erkenntnis des Geistes erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen. Scheler beteiligte sich intensiv mit bemerkenswerter „innerer Toleranz" für Steiner. Er machte auf Steiner „einen genialischen Eindruck" (GA 28\442). Steiner hat Schelers philoso-phische Entwicklung nachher verfolgt „mit dem tiefsten Interesse. Innige Befriedigung gewährte es mir immer, wenn ich — leider nur ganz selten — dem Manne, der mir damals so sympathisch geworden war, wieder begegnen konnte." (GA 28\442). So hat Steiner sich namentlich für Schelers Betrachtung der Fremdwahrnehmung des anderen Ich interessiert. Scheler wollte ebenso wenig wie Steiner von unerbittlichen Erkennt-nisgrenzen zwischen den Bewusstseinssphären verschiedener Personen wissen. In der Neuauflage der Philosophie der Freiheit (1918) fügte Steiner einen Anhang hinzu, der mit dem Anhang von Schelers 1913 neu herausgekommenen Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß71 (Halle a. d. S. 1913) auffällige Ähnlichkeiten aufweist: Die Sinneserscheinung einer anderen Persönlichkeit ist für das Denken gewissermaßen seelisch ,durchsichtig`. Der Bezug auf Scheler geht u. a. hervor aus einer späteren Bemerkung Steiners: „Es ist eigentlich nur ein Freund [ ... ] oder Verwandter der Göttinger Husserl-Schule, Max Scheler, der eben darauf gekommen ist auf dieses unmittelbare Wahrnehmen des Ich des andern." (GA 322\94).

§ 2.21. Das Vortragswerk und die übrigen Publikationen

Innerhalb und außerhalb der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und seiner Anthroposophischen Gesellschaft (ab 1912) hat Steiner eine Unmenge von Vor-trägen gehalten. Zerstreut über diese Vorträge spricht Steiner immer wieder von den erwähnten philosophischen Themen, namentlich über die Philosophie der Freiheit, über Goethe, über Platon und Aristoteles, über Kant und Nietzsche usw. Diese vielschichti-

70 Zum Teil aufgenommen in Goethe-Studien 1932, S. 109 ff. 71 Halle a. d. S. 1913, ab der zweite Auflage Vom Wesen und Formen der Sympathie genannt.

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gen Bezüge hier zusammenzufassen oder nur anzudeuten, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Von der Philosophie handeln namentlich: die Zyklen und Vor-träge Die Stellung der Theosophie zur Philosophie (Berlin, 14. März 1908; GA 108\169 ff.), Über Philosophie (München, 20. März 1908; GA 108\189 ff.), Formale Logik (Berlin, 20. und 28. Oktober 1908; GA 108; GA 197ff.), Das Bilden von Begriffen und die Katego-rienlehre Hegels (Berlin, 13. November 1908; GA 108\237ff.), Der menschliche und der kosmische Gedanke (Berlin, 20.-23 Januar 1914; GA 151), Die Wahrnehmung des Gedan-kenwesens (Dornach, 10. Januar 1915; ZUGA 161), Die Philosophie des Thomas von Aquino (Dornach, 22.-24. Mai 1920; GA 74), Das Ewige in der Hegelschen Logik und ihr Gegenbild im Marxismus (zu Hegels 150. Geburtstag), Grenzen der Naturerkenntnis (Dornach, 27. September bis 3. Oktober 1920; GA 322), und Die Philosophie, Kosmologie und Reli-gion in der Anthroposophie (Dornach 6.-15. September 1922; GA 215), das Fragment Anthroposophie (1910), und das Buch Vom Menschenrätsel (GA 20), mit einer längeren Charakteristik der drei Idealisten, Fichte, Schelling und Hegel.

§ 2.22. Philosophische Kritik

Steiners Philosophie (in GA 2 und GA 3) hat in akademischen Kreisen wenig gewirkt. Er beteiligte sich dafür zu wenig an der fachmäßigen Diskussion. In der Goetheforschung anerkannt, beschränkte seine Wirkung sich auf diesen Bereich. Seine Freiheitslehre hatte wenig Erfolg. In der Zeit der politischen Krisenjahre 1878/1879 (mit zwei Atten-tate auf den Kaiser, Bismarck agierte gegen die Sozialisten) schlug die Stimmung im Neukantianismus um. Kritische Skepsis und Liberalismus mussten einem imperati-ven ethischen Idealismus weichen.72 Steiners Individualismus wurde als fehl am Platze empfunden, wie aus Rezensionen seiner Philosophie der Freiheit von Beck ( Wiener Zei-tung), Drews (Die Gegenwart), Zimmermann (The Athenaeum) und Gutberlet (Philo-sophisches Jahrbuch) hervorgeht (GA 4a\429-451 und 470-477). Nachdem er mit seiner ,Anthroposophie` vor das Publikum trat und deshalb eine größere Wirkung hatte, war er dementsprechend auch der öffentlichen Kritik ausgesetzt. Diese Kritik ging fast nie auf seine Philosophie ein. Es hatte der herbe literarische Streit mit dem Neukantianer Karl Vorländer seine Spuren hinterlassen: Vorländer schrieb in seiner Geschichte der Philosophie (3. Bd., Kap. XIII § 26, 7.Aufl., Leipzig 1927): „die ,Theosophie' eines Rudolf Steiner (1861-1925), der vor dreißig Jahren mit Sozialdemokratie, Nietzscheanertum und anarchistisch gefärbter ,Freiheits`-Philosophie begann, verdient, selbst wenn sie sich neuerdings als ,Anthroposophie` drapiert, keine Aufnahme in eine solche" [ sc. Geschichte der Philosophie]. Nicht dass Steiner je Nietzscheaner oder Anarchist gewe-sen wäre. Hauptsächlich wegen Steiners angeblicher ,Wende` zur Mystik distanzierte sich jetzt die philosophische Welt. Seine Anthroposophie forderte dann und wann auch

72 Volkelt spricht 1882 von einer Wiedererweckung der Kant'schen Ethik. Vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 404 ff.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 63

vehementen und unsachlichen Widerspruch heraus,73 den Steiner wo möglich repli-

zierte.74 Als Steiner nach dem ersten Weltkrieg mit seinen Gedanken zur ,Dreigliederung des sozialen Lebens`75 in der Öffentlichkeit hervortrat, wurde dieser politische Entwurf von philosophischer Seite stark angegriffen.76 Arthur Drews (1865-1935) hielt 1921 als Redner von „Köln bis Konstanz" kritische Vorträge über die Anthroposophie,77 obwohl Drews' Vorbild Hartmann sogar selber für eine Art Dreigliederung der Gesellschaft eingetreten war.78 Hans Leisegang (1890-1951) widmete der Bekämpfung Steiners ver-schiedene Vorträge und eine Streitschrift.79 Als Steiner dann z. B. in den Gesichtskreis

Edmund Husserls (1859-1938) trat, so war es wohl unter ungünstigen Bedingungen.80 Meistens war doch vielmehr ein Mangel an Interesse da, wie beispielsweise belegt von Karl Jaspers(1883-1969).81 Zur Ausnahme gehörte nicht nur Max Scheler, sondern auch Ernst Blochs (1885-1977) eigenartige Kritik und Würdigung Steiners in seinem Geist der

Utopie (1918). Er war Steiner persönlich begegnet, hatte einiges von ihm gelesen und wollte ihm nun „das Wasser abgraben".82 Es ging ihm „ähnlich wie Kant bei Schweden-borg",83 dessen Theosophie ihm nach Bloch, ungeachtet der erkenntnistheoretischen Ablehnung, zum „wichtigen Hilfsbegriff zur Lehre der praktischen Vernunft von dem Bürgertum zweier Welten" wurde.84 „Der kleine Hellseher"85 (Steiner) ist für Bloch, „der Einzige in diesen Tagen, der das alte theosophische Erbgut wieder lebendig zu

73 Zum Beispiel von MaX Dessoir, Vom Jenseits der Seele, die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, Stuttgart, 1917.

74 Von Seelenrätseln, 2. Kap.; GA 21\34 ff. 75 Zur Beschränkung der Staatsmacht im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich. Kultur, Staat und

Wirtschaft sind somit drei selbständige Glieder des sozialen Organismus. Dazu Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (1919); GA 23 und Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage (1915-1921); GA 24.

76 Es gab dann auch Beifall, wie von dem Marburger Neukantianer Paul Natorp, der, wie mehrere angesehene public figures, Steiners Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt (GA 24\418 ff.) unterschrieb; Lindenberg (1997), S. 65o. Natorps ,Sozialidealismus` war durchaus der ,Dreigliederung` und dem Missionsgedanken des deutschen Volkes verwandt (vgl. M. Pascher Einführung in den Neukantianismus, München 1997, S. 116-118 und 143-148).

77 Lindenberg (1997), S. 732. Vgl. A. Drews, Metaphysik und Anthroposophie, Berlin 1922. 78 Vgl. dazu H. Hegge, Freiheit, Individualität und Gesellschaft. Eine philosophische Studie zur menschlichen

Existenz, Stuttgart 1992, S. 287.

79 Die Geheimwissenschaften, Stuttgart 1924. 8o Edmund Husserl Briefwechsel, herausg. von K. Schuhmann in Verbindung mit E. Schuhmann, HUA

Dokumente 1994, I, S. 114, Brief an T. Masaryk, vom 2 März 1922, und a. a. O., III S. 25. Husserl lehnt den neueren „Steinerianismus" ab.

81 Er konnte des „Stiles wegen mit Steiners Schriften nichts anfangen", erzählt sein Schüler H.E. Lauer in Ein Leben im Frühlicht des Geistes, Erinnerungen und Gedanken eines Schülers Rudolf Steiner, Freiburg i. Br. 1977, S. 44. Belegt is z. B. auch das Desinteresse Oswald Külpes (1862-1915), der eine von Rittelmeyer vermittelte Einladung zur Diskussion mit Steiner ablehnte. F. Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, 2. Auflage Stuttgart 1928, S. 69.

82 Ernst Bloch, Briefe 1903-1975, herausg. von Karola Bloch et al., Frankfurt a. M. 1985, Brf. Nr. 6, S. 36. 83 Träume eines Geistessehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik (1766). 84 Geist der Utopie, S. 241. 85 Ebd.

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machen weiß."86 Bloch will natürlich sein „prinzipiell diesseitiges Weltbild" bei dieser Würdigung nicht preisgeben, sondern meint nur, dass es bei Steiner ein zugrunde lie-gendes religiöses Erlebnis, das ,innere Licht', gibt, das als Material intentionaler Akte noch der wissenschaftlichen Meinungsakte (im ,Husserl'schen Sinne')87 harre. So wäre zum Beispiel „der ethisch unumgängliche Gedanke der Seelenwanderung"88 ideolo-gisch neu zu rezipieren.89 Es soll Steiner vor allem eine angemessene Erkenntnistheorie fehlen.90 Nichts in diesem Werk zeigt, dass Bloch auch nur Notiz genommen hat von Steiners philosophischen Werken,91 wie es ihm freilich im Allgemeinen ergangen war. Die Wirkungsgeschichte von Steiners Philosophie hat sich deshalb vollzogen im Umfeld der anthroposophischen Bewegung und es sind anthroposophische Autoren, die seine Philosophie dargestellt haben und zu erweitern suchten.92 Bücher haben bekanntlich ihr eigenes Schicksal. Mit jetzt mehr als zweihunderttausend Exemplaren gehört Die Philosophie der Freiheit rein statistisch zu den viel gelesenen philosophischen Werken.93

Es ist schon früh übersetzt worden in mehrere Fremdsprachen: ins Englische (1916), Italienische (1919), Tschechische (192o), Französische (1923), Dänische (1924), Schwe-dische (1926), Polnische (1929) und seitdem noch u. a. ins Niederländische, Russische und Japanische.94

86 Ebd. 87 Bloch möchte so „Husserl und Steiner verbinden": Ernst Bloch, Briefe 1903-1975, herausg. Karola Bloch

et al., Frankfurt a. M. 1985, Brf. Nr. 105, S. 192. 88 Geist der Utopie, S. 242. 89 Vgl. Wayne Hudson, The Marxist Philosophy of Ernst Bloch, London 1982, S. 29.; Anders Arno Münster,

Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, Stuttgart 1982, S. 127. Wegen der späteren Kritik Blochs an Steiner (Steiners Bemerkungen über die Person von MarX und Engels waren ihm sehr unsympathisch) schließt Münster auf nur ein geringes Interesse an Steiner. Die Seelenwanderungslehre sei Bloch schon begegnet gewesen durch Schopenhauer und den Buddhismus.

90 Geist der Utopie, S. 242.

91 Der hochbejahrte Bloch erklärte in einem Gespräch mit W. Hudson, er habe früher nur Steiners „populäre Werke" gelesen: W. Hudson, Two interviews with Ernst Bloch, Bloch-Almanak, 9. Folge, 1989, S.119.

92 Mit Carl Unger (1878-1929), Vorsitzender der ersten Anthroposophischen Gesellschaft und Ingenieur, hat Steiner „Schulter an Schulter" an der Erkenntnistheorie gearbeitet hat. W.J. Stein (1891-1957) gehört der zweiten Generation an. Siehe § 1.4, Anm. 28. Zur nächsten Generation gehören Herbert Witzen-mann (1905-1988), Vorstandmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und Publizist, der Däne Oskar Borgman Hansen (Ord. emir. der Phil. Univ. Aarhus, Leiter einer Arbeitsgruppe für Philosophie und Psychologie am Goetheanum), der norwegische Philosoph Hjalmar Hegge (Univ. Oslo), und der Finne Reijo Wilenius (Ord. emir. der Phil. Univ. Helsinki). Vertreter der philosophi-schen Anthroposophie heute sind ferner Karl Martin Dietz, Leiter des anthroposophischen Friedrich von Hardenberg Instituts in Heidelberg, und Frank Teichmann, Gründer des Anthroposophischen Stu-dienseminars in Stuttgart.

93 GA 4a\ 535-538. 94 GA 4a\ 538-539. Nach einer Auskunft vom Rudolf Steiner Archiv sind ca. 220 00o EXemplare gedruckt

worden und gibt es Übersetzungen in 14 Sprachen.

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ÜBERSICHT ÜBER STEINERS PHILOSOPHISCHE ENTWICKLUNG 6 5

§ 2.23. Periodisierung

Eine Periodisierung könnte man nach verschiedenen Kriterien vornehmen. Es scheint uns unsachgemäß, nach Wohnorten einzuteilen. Die Wiener Periode (1879-1890), die Weimarer Jahre (1890-1897), Berliner (1897-1914) und Dornacher Zeiten (1914-1925) fallen nur teilweise zusammen mit unterschiedlichen philosophischen Perioden. Es gibt auch keine solchen Umbrüche in Steiners philosophischer Entwicklung, durch die sich verschiedene Epochen markieren lassen. Doch gibt es eine Entwicklung mit verschiedenen Akzenten und Phasen. Darin unterscheiden sich Perioden von sieben bis acht Jahren. Abgesehen von den Schuljahren, in denen die erste Begegnung mit der Philosophie (Mathematik, Materialismus, Kant und Herbart) stattfindet, sind es sechs:

1.1879-1886. Die erste Periode der Ausbildung philosophischer Ansichten fängt an mit dem Fichte'schen Manuskript und schließt ab mit der ersten Darstellung einer Erkennt-nistheorie in Grundlinien einer Erkenntnistheorie (GA 2). Die Kritik am Atomismus und die Gestaltung eines an Goethe orientierten, empirischen Idealismus' dominieren.

2. 1886-1893. 1886 ist das Jahr der ,Urzelle` der Philosophie der Freiheit (GA 4). Jetzt gilt es die gewonnenen Ansichten methodisch auszubauen zu einer umfassenden Freiheitsphilosophie. Zeit der Promotion und zuletzt der Fertigstellung der Philosophie der Freitheit (publiziert Ende 1893).

3. 1894-190o. In dieser Periode tritt einerseits die Aktualität (das Nietzsche-Buch; GA 5) und andererseits die historische Dimension hervor. So in Goethes Weltanschauung (GA 6) in Bezug auf Goethe selber wie auf die Geschichte des Platonismus. Dann im Gesamtbild Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert, das 1900 erscheint.

4. 1901-1907. Erste theosophische Periode, u. a. durch Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens (1901; GA 7) und die Schrift Theosophie (1904; GA 9). Steiners Philosophie wird Erkenntnistheoretische Grundlage der Theosophie (1903; in GA 52).

5.1908-1914. Namentlich 1908 hat Steiner erneute Aufmerksamkeit für die Philosophie im Verhältnis zur Theosophie, die formale Logik und die Wissenschaft der Logik Hegels. Dieses systematische Interesse rundet sich ab in dem Zyklus Der menschliche und kosmi-sche Gedanke (1914; GA 151). In diesem Jahr wird auch Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert erweitert und neu herausgegeben als Die Rätsel der Philosophie (GA 18).

6. 1915-1925. In der letzten Phase gibt es die schon 1910 angefangene Auseinander-setzung mit Brentano (in Von Seelenrätseln, 1917; GA 21), die erweiterte Ausgabe der Philosophie der Freiheit (1918) und ferner die Neuausgabe Grundlinien (1924, GA 2). Der Zyklus Grenzen der Naturerkenntnis (1920; GA 322) bezieht sich ebenfalls auf frühe

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66 KAPITEL II

erkenntnistheoretische Kritik und den Goetheanismus, der jetzt zur anthroposophi-schen Erkenntnismethode erweitert wird. In dieser Periode schließt sich gewissermaßen der Kreis. Das Frühere wird ergänzt und erneuert und als Ganzes konsolidiert.

Die biografisch-philosophische Überschau soll uns nun, in dieser Periodisierung, weiter als Grundlage einer analytischen Darstellung dienen.

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ZWEITER TEIL

Elemente einer phänomenologischen Erkenntnistheorie

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KAPITEL III

Erster Erkenntnisbegriff und die Kritik am Atomismus

§ 3.1. Einleitung: Der Empirismus im Aufstieg

Steiner fühlte das volle Gewicht der modernen Wissenschaft durch seine Ausbildung an der Technischen Hochschule auf sich lasten. Philosophie sollte nicht weniger metho-disch streng sein als die Naturwissenschaften. Die nachkantische Dialektik hatte ihr ehemaliges Ansehen verloren und konnte nicht ohne weiteres übernommen werden. Von dieser Seite her lag keine allgemein akzeptierte Methodik vor. Der Dialektik radikal entgegengesetzt war der naturwissenschaftliche Empirismus. Er wurde beispielsweise durch Wissenschaftler wie Hermann von Helmholtz' unter den Naturwissenschaftlern verteidigt. Ihre philosophischen Verteidiger waren Auguste Comte und John Stuart Mill, deren Philosophie auch in Deutschland weite Verbreitung fand. Statt spekulativer Deduktion sollte nur die Induktion anhand der Erfahrung reale Erkenntnisse vermit-teln. Franz Brentano war dieser Richtung zugeneigt, und in ihm an der Universität Wien wird Steiner dieser Philosophie der strengen Erfahrung, die später in der phäno-menologischen Philosophie (Husserl, Pfänder, Stumpf, Scheler u. a.) neues Momentum erhielt, erstmals begegnet sein.2 Schon in seinen Habilitationsthesen (1866) behauptet

1 Dessen Empirismus auch abzumessen ist an der Weise, in der er Goethes Leistungen wohlwollend anerkannte in Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen, Berlin 1892, aber nur wegen der vorausgreifenden empirischen Richtung in der Biologie, nicht wegen einer Nähe zum Idealismus, denn „erst Darwin hat das lösende Wort gesprochen" (S. 29). Dieser Empirismus Helmholtz' war nicht Phänomenalismus. Er wirft Goethe vor, in der Farbenlehre das Gebiet der Sinnlichkeit nicht verlassen zu haben, während jede Naturerklärung durchdringen muss zu unwahrnehmbaren Naturkräften, also zu „nur durch Begriffe bestimmten Dingen", zu der Materie und seinen Eigenschaften ( Über Goethe's naturwissenschaftliche Arbeiten, 1853, in Vorträge und Reden, Braunschweig 1884, S. 1-24,

hier S. 18). 2 „Die Anregung, die von Brentano ausging, wirkte in mir stark nach. Ich fing bald an seine Schriften zu

studieren" (GA 28/59). Steiner hörte Brentano vortragen über „Praktische Philosophie". Die Vorträgen sind erst aus dem Nachlass herausgegeben von F. Mayer-Hillebrand in 1952 (Grundlegung und Aufbau der

Ethik, FeliX Meiner Verlag, Hamburg 1978). Brentano will in diesen Vorträgen, in Anlehnung an Aristote-les, eine empirische Ethik liefern (vgl. a. a. O., S. 88, 150-152). Möglicherweise kannte Steiner aus Lektüre auch damals schon Brentanos Wiener Antrittsvortrag Über die Gründe der Entmutigung auf philosophi-

schem Gebiet (1874), worin es heißt, dass der Kampf von aprioristischer Konstruktion und Erfahrung ausgestritten ist. Es bestehe kein Zweifel mehr, „daß es auch in philosophischen Dingen keine andere Lehrmeisterin geben kann als die Erfahrung." (in: Über die Zukunft der Philosophie: nebst den Vorträ-gen; „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiet", u.a., herausg. von Oskar Kraus,

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70 KAPITEL III

Brentano: Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissen-schaften. Der Titel seines Hauptwerkes Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) lässt über die Zugehörigkeit zum Empirismus kein Missverständnis aufkommen, und das Vorwort hebt an: „Mein Standpunkt in der Psychologie ist der empirische: die Erfahrung gilt mir allein als Lehrmeisterin"3. Dieses Bekenntnis des Zeitalters zum Empirismus und das gleichzeitige Studium der Naturwissenschaften und Mathematik an der Technischen Hochschule, wie gelegentlich als Hospitant auch an der Universität, machten, dass Steiner nicht nur sich genötigt fühlte, seine Anschauungen „vor dem Forum des naturwissenschaftlichen Denkens für gerechtfertigt zu halten" (GA 28\72),

sondern zugleich sich mit dem Prinzip der Erfahrung auseinander zu setzen. Über diese Zeit sagt Steiner in seiner Autobiografie, anknüpfend an die Anregungen, die von den Vorträgen und der Lektüre Brentanos ausgingen: „Ich hielt mich damals für verpflichtet, durch die Philosophie die Wahrheit zu suchen. Ich sollte Mathematik und Naturwissenschaft studieren. Ich war überzeugt davon, daß ich dazu kein Verhältnis finden werde, wenn ich deren Ergebnisse nicht auf einen sicheren philosophischen Boden stellen konnte" (GA 28\59) . Das Vorbild und Weltbild der Naturwissenschaft ist ebenso wenig als die nachkantische Dialektik für Steiner eine zuverlässige Gegeben-heit, wo man schlechtweg hinzunehmen braucht, was das Zeitalter erarbeitet hat. So konnte eine philosophische Analyse des Empirismus und seiner Voraussetzung über die richtige Form dieses Erkenntnisprinzips nicht umgangen werden. Sie bringt Steiner zu einer Kritik am Atomismus, der in der damaligen Physik eine dominante Vor-stellungsart war. Es führt zu einer ,phänomenologischen` oder ,phänomenalistischen` Betrachtungsweise, deren Methodik das erste Ziel dieser Untersuchung ist. Steiner hat aber nicht unmittelbar sich dem Empirismus zugewandt. Vorher versuchte er, sich die Ergebnisse des Idealismus von Kant, Fichte, Hegel und Schelling anzueignen.

§ 3.2. Das Ich als Ausgangspunkt: von ,Kant bis Hegel'

§ 3.2.1. Die Vernunfttafel

Steiner suchte in der Philosophie erstens eine Klarstellung der „Tragweite des mensch-lichen Denkens" (vgl. § 2.1). Eben darum hatte der Sechzehnjährige am Schaufenster einer Buchhandlung vorbeigehend sich interessiert für die Reclamausgabe der Kri-tik der reinen Vernunft (GA 29\38. Das Buch versprach genau diese Frage zu beant-worten. Auch die Philosophiestudien während der ersten Studienjahre waren dieser Klarstellung gewidmet. Im Sommer von 1879 las er Kants Prolegomena (1783). Im Nachlass findet sich das Exemplar mit Anzeichnungen in der frühen Handschrift

2. Aufl., FeliX Meiner Verlag, Hamburg 1968, S. 85). Dieser Antrittsvortrag befindet sich als Einzelaus-gabe in Steiners Bibliothek, wie ein oder mehrere Exemplare von fast allen selbst herausgegebenen Büchern Brentanos.

3 Herausg. von Oskar Kraus, FeliX Meiner Verlag, Leipzig 1924-1928, Bd. 1, S. 1.

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 71

Steiners. Zu den ersten erhaltenen philosophischen Notizen gehört eine Tafel philoso-phischer Grundbegriffe, die er an einer leeren Stelle in Kants Prolegomena eingetragen

hat:

„Tafel der Vernunft-Prinzipien

1. Einheit

2. Objektivität 3. Vollständigkeit

4. Unbedingtheit"

Steiner weicht mit dieser, sich an Kants Tafel der Verstandesbegriffe anlehnenden, Anordnung erheblich von Kants Einteilung der Vernunftbegriffe ab, die sich aus dem Vermögen des Schließens (kategorisch, hypothetisch oder disjunktiv) ergeben (voll-ständiges Subjekt, vollständige Reihe der Bedingungen, beziehungsweise vollständi-ger Inbegriff des Möglichen; Prolegomena § 43). Kant hält Vollständigkeit und Unbe-dingtheit für unabänderliche, aber zugleich doch unerreichbare Zwecke der Vernunft. Wir werden zu zeigen haben, wie Steiner die Ansprüche dieser Vernunft-Prinzipien durch seine Philosophie zu befriedigen denkt. Wo sollte der Anfang gemacht wer-den? Mit welchem einheitlichen Prinzip sollten die Objektivität und Unbedingtheit gewährleistet und die Vollständigkeit der Erkenntnis nicht im Voraus beeinträchtigt

sein?

§ 3.2.2. Manuskript über eine Wissenschaftslehre (nach Fichte)

Der erste schriftliche Versuch, methodisch die eigene Ansicht zu entwickeln, ist festge-halten in einem (vielleicht nur teilweise) erhaltenen Manuskript (GA Beiträge 30\26-34), das Steiner geschrieben hat, gleichfalls während der Sommerferien von 1879, also bevor

er als Student antrat an der TH (siehe § 2.2). Er hatte in einem Wiener Antiquariat Fich-

tes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 (hiernach ,WL 1794') gefunden. Sie gab ihm Anlass, vom erkennenden Ich her der Frage nach dem Wesen des Erkennens nachzugehen. Wenn wir die Hauptlinien der Gedankengänge dieses Jünglingsmanu-skriptes behandeln, wird es uns selbstverständlich nicht um die unreife Kritik, die Steiner an Fichte üben will, gehen oder etwa um eine bleibende Bedeutung dieser philosophischen Übung für Steiners ausgereiftere Ideen. Fichte gab vielmehr nur den Anstoß oder die Ermutigung zu einer eigenen Gedankenentwicklung: „Meine Bemü-hungen um naturwissenschaftliche Begriffe hatten mich schließlich dazu gebracht, in der Tätigkeit des menschlichen ,Ich` den einzig möglichen Ausgangspunkt für eine wahre Erkenntnis zu sehen. [ ... ] Um den Weg [zu einer begrifflichen Darstellung] zu finden, hielt ich mich an Fichtes Wissenschaftslehre. Aber ich hatte doch meine

eigenen Ansichten. Und so nahm ich denn die Wissenschaftslehre Seite für Seite vor

und schrieb sie um" (GA 28\52). Das heißt, er schrieb sie um für den eigenen Ge-

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72 KAPITEL III

brauch,4 denn er gesteht im Rückblick, dass er eigentlich nur „unreife Vorstellungen von dem Schritte machen konnte, den Fichte über Kant hinaus tun wollte" (ebd.). Diese Früharbeit erlaubt uns aber, die Denkweise Steiners kennen zu lernen, noch bevor er Goethe entdeckte und gegen Newton verteidigen sollte. Keime seiner späteren Methode sind darin schon sichtbar.

Das Manuskript besteht aus einer Einleitung von sechs Abschnitten und ferner aus zwei Kapiteln; das erste mit dem Titel: Die Lehre von der Person oder dem «Ich» (Abschnitt VII bis ix) und ein zweites: Die Lehre vom «Nicht-Ich» (nur ein Abschnitt und dann bricht das Manuskript ab) .5

Die Einleitung fängt sogleich im ersten Abschnitt damit an, dass die heikle Frage nach dem Wesen des Bewusstseins und der Erfahrung eingeklammert wird: „Wenn das Bewußtsein des Menschen erwacht, sieht er sich versetzt in eine Welt, deren Objekte ihm durch die Wahrnehmung gegeben werden. Wie und auf welche Weise, wollen wir in einer späteren Untersuchung sehen." (S. 26) . Zum Gegebenen (den Objekten) kommt nun ein Zweites, das Wissen, „ein Gesuchtes, ein Erstrebtes", denn „der menschliche Geist bleibt beim Gegebenen nicht stehen." Das Gesuchte muss ein Unbekanntes sein, „denn sonst würde man es eben nicht suchen."6 Dieses Streben zeigt jede Seite der (geschriebenen) Welt- und Kulturgeschichte. Im zweiten Abschnitt (S. 26-27) setzt Steiner voran: „Das Wissen nun soll wahres Wissen sein, d. h. es soll das Wissen und Erkennen den Charakter der Gültigkeit tragen." Dies zu untersuchen wäre Aufgabe einer besonderen Wissenschaft, der Wissenschaftslehre, da die einzelnen Wissenschaften es nur mit dem Wissen von Gegenständen zu tun haben sollten. Die Möglichkeit einer Wissenschaftslehre beruhe auf einem „notwendigen Postulat der menschlichen Vernunft". Notwendig, weil die absolute Skepsis nicht durchführbar ist: Ist nichts gewiss, dann auch dieser Satz nicht, und so folgt der Widerspruch.' Also muss es etwas geben, das gewiss ist.8 Es handelt sich bei der Wissenschaftslehre nur darum dieses herauszufinden.

4 Erst zwölf Jahre später wird Steiner sich in seiner Dissertation mit Kant und Fichte auseinandersetzen. 5 Nach dem Herausgeber sind einige Blätter wahrscheinlich verloren gegangen, da Steiner (in GA 28\52)

von einem langen Manuskript spricht. Wie aus dem Folgenden hervorgeht, bricht das Manuskript gerade dort ab, wo die Fragen philosophisch in die Tiefe gehen, und dies, weil diese Fragen wohl mehr als eine erste frische Begegnung mit Fichte verlangten zu ihrer Bewältigung. In dieser Ferienarbeit wird nicht Seite für Seite die ganze WL 1794 umgeschrieben` sein. Wir vermuten also, das Manuskript sei wahrscheinlich doch komplett.

6 Ebenso gut gilt aber, dass wir es schon irgendwie kennen müssen. Wie könnten wir es sonst suchen und finden? (Platon, Menon 8o d-82 d).

7 Vergl. Fichte in WL 1794 über den sich widersprechenden Skeptizismus (Ausg. von W.G. Jacobs, Ham-burg 1979, S. 41). Der klassische Skeptizismus behauptet übrigens nicht dogmatisch die Ungewissheit, sondern nur als Geisteshaltung (Unentschiedenheit): Benson Mates, The Skeptic Way. Sextus Empi-ricus's Outlines of Pyrrhonism (Übersetzung, Einführung und Kommentar), OXford University Press 1996, S. 6o-61 und 9o-91. Vgl. §§5.3.3 und 5.3.4•

8 Der spätere Steiner würde so nicht mehr schließen, denn aus der logischen Widerspruchsfreiheit folgt noch nicht die EXistenz (GA 1o8\214). Nur die Möglichkeit der Erkenntnis lässt sich nicht wegdiskutieren.

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 73

Im dritten Abschnitt (S. 27-28) erfährt dieser Begriff der Gewissheit die nahe liegende, aber gravierende Korrektur. Steiner trägt dem Umstand Rechnung, dass Erkenntnisse sich entwickeln müssen und Menschen zu verschiedenen Zeiten ver-schiedene Ansichten haben, von denen sie doch die Gültigkeit beanspruchen. An der Gültigkeit aller Ansichten verzweifeln, ist, wie gesagt, widersprüchlich. Ihnen allen ohne weiteres Gültigkeit zugestehen, würde aber besagen, dass es gar keinen Irrtum gebe. Es bleibt nur die ,Hypothese` übrig, dass alle Anschauungen etwas Wahres und Gültiges haben, d. h. „die Wahrheit ist einer Modifikation fähig."9 Der nächste Schritt im iv. Abschnitt ist die Beobachtung, dass die Anschauungen sich aus einander entwi-ckeln und die verschiedenen Anschauungsweisen „Stufen bilden", „deren jede folgende aus der vorhergehenden herauswächst". Steiner ahnt dabei auch ein Gemeinsames, das „eben nur im Laufe der Zeiten modifiziert wird", dass „der Kern unwandelbar sei, daß derselbe aber nur verschiedene Gestalten annehme, welche bedingt sind durch den engeren oder weiteren Gesichtskreis jedes einzeln(en) oder ganzer Völker". Die Erfah-rung zeige „daß unsere Annahme eine durchaus erlaubte sei." Wir werden am Ende unserer Untersuchung (Kap. 10) sehen, dass Steiner diesem entwicklungsorientierten, Lessing'schen10 Wahrheitsbegriff treu bleiben, und methodisch ausgestalten wird.

Diese präliminaren Überlegungen gehen der Bestimmung der eigentlichen Aufgabe einer Wissenschaftslehre nur voran. Eine Anschauung kann lediglich bestehen, insofern sie einer Person zukommt: Es gilt den „Weg, auf dem alle Anschauungen entstanden sind und noch entstehen zu erforschen"." Im sechsten Abschnitt versucht Steiner die Quelle der Wissenschaftslehre, die Aufschluss über die Gültigkeit der Erkennt-nisse geben kann, anzugeben. Erfahrung kann die Quelle deswegen nicht sein, weil man durch Erfahrung nicht bestimmen kann, welche Überzeugungskraft für uns die Erfahrung hat. Die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften kann man doch nicht anwenden, um ihre Gültigkeit festzustellen.12 Diesem zu vermeidenden Zirkel will Stei-ner entgehen, indem er das Zustandekommen der Erkenntnis befragt. Zur Genese der

9 Es ist dies eine frühe Grundüberzeugung Steiners, dass die Wahrheit immer mehrere Seiten hat. Sie korreliert mit Goethes Vorstellung einer ,Verstandeswelt`. Vgl § 4.2.6.

10 Als Schüler war Steiner befreundet mit einem literarisch interessierten Arzte, der dem jungen Steiner Bücher aus seiner Bibliothek auslieh: „Ich lernte in der Atmosphäre dieses liebenvollen, für alles Schöne begeisterten Arztes besonders Lessing kennen" (GA 28\42). Steiner hielt seine erste „Übung im mündlichen Vortrag" an der Hochschule im Jahre 1879/1880 über Lessings Laokoon. Daraus lässt sich wohl schließen, dass er sich mit den wichtigsten Schriften Lessings beschäftig hat, u. a. der Erziehung des Menschengeschlechts (178o). Diese Schrift spricht die Überzeugung aus, dass die menschlichen Ansichten über die Jahrhunderte sich nur stufenweise aufklären in einer Gesamtentwicklung zur Wahrheit hin. Ebenso die portee der Steiner'schen Bemerkung.

11 Fichte: „Die Wissenschaftslehre soll sein eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" (WL 141).

12 Steiner verwendet hier noch einen beschränkten Erfahrungsbegriff, der wahrscheinlich sich am Kant'-schen Unterschied zwischen reiner und empirischer Erkenntnis (Erfahrung) aus der Einleitung der KDRV orientiert. Man kann nicht im allgemeinen argumentieren, dass eine Quelle nie Aufschluss geben kann über ihren Erkenntniswert. Sonst wäre das Geschäft einer Wissenschaftslehre von Anfang an sinn-los (eine Quelle kann ja auch keinen Aufschluss geben über eine andere, wenn dieser Aufschluss selber

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74 KAPITEL III

Erkenntnis gehört: i. ein zu erkennender Gegenstand (von dem wir, wie festgestellt, nicht ausgehen können), 2. der Akt des Erkennens (d. h. das Urteil), aber da wir ihre Gültigkeit untersuchen, so ist sie nicht die gesuchte Quelle.13 Also bleibt das letzte Element: 3. die erkennende Person.14 Die Wissenschaftslehre kümmert sich nur um das Wie, nicht um das Was der Erkenntnisse (den Gegenstand der gewöhnlichen Wissen-schaft) und hat das Eigentümliche an sich, dass wo sonst der Erkennende scheinbar aus sich herausgeht um den Gegenstand zu erkennen (und „er gegenüber den Objekten scheinbar verschwindet"),15 der Erkennende jetzt nicht mehr aus sich herausgehen soll.

Im ersten Kapitel folgt kurz gefasst „Die Lehre vom Ich". Erstens stellt Steiner die qualitative und numerische Identität des Ich im Strom der Zeit und der Erlebnisse fest. Kants Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption (KDRV A107/B 136) erkannte die notwendige Einheit des Bewusstseins in der Synthesis.16 In aller Mannig-faltigkeit der Anschauungen und Erkenntnisse ist das Ich ,eins`, was die synthetische Beziehung der Vorstellungen aufeinander erlaubt. Diese Einheit hat bei Steiner noch eine phänomenalistische Konnotation. Das Ich „zu ergreifen ist unmöglich [ ... ] , da er immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn wir ihn ins Auge fassen wollen." (S. 3o). Dies ist die zweite Beobachtung, die Steiner festhält. Das Ich widersetzt sich gegenständlich zu werden. Im nächsten Abschnitt unterscheidet er mit Kant und Fichte das empirische Ich von dem reinen Ich, damit das Gefundene aufrechterhalten bleibt. Die Summe von Vorstellungen die wir auf einen Mittelpunkt beziehen, liefert uns das durch Reflexion entstandene „psychologische Ich". Aber „dem Bezogensein geht das Beziehen voran", eben die „Tätigkeit des reinen Ich" (S. 31). Somit haben wir das Wesen

zweifelhaft wäre). Steiner wird gemeint haben, die naïve Erfahrung vermittlere, ihrer Art des Erkennens gemäß, keine refleXiven Erkenntnisurteile über den Status der gegenständlichen Erkenntnisweise.

13 Es fehlt hier das Argument. Wenn prinzipiell nur eine andere Quelle den Aufschluss liefern sollte, die aber selber möglich zweifelhaft wäre, dann führt das Argument auf einen progressus ad infinitum. So wäre das Geschäft einer Wissenschaftslehre von Anfang an ein sinnloses Unternehmen. Es scheint, dass Steiner erst in seiner Philosophie der Freiheit sich über die RefleXivität der Wissenschaftslehre völlig aufgeklärt hat (vgl. Kap. iX). Ein anderer Sinn von Steiners Aussage wäre die einfache Überlegung, dass das Urteil Zweifel aufkommen lässt über seinen Erkenntniswert, also selber wohl nicht der angewiesene Ort wäre, wo wir uns nach der Lösung umzusehen haben.

14 Steiner schwankt im Sprachgebrauch bei ,Person` und ,Ich` zwischen Kant (KDRV 400 B ff.) und Fichte (WL 1794). Wie die erkennende Person in der Analyse ohne den Erkenntnisakt über etwas auskommen könnte, fehlt im Argument. Gemeint ist wohl, dass die erkennende Person die Instanz sei, die ,urteilt`, also entscheidet ,über` das Urteil (freilich nicht ohne dessen Betätiging = den Akt des Erkennens).

15 Auf diese Charakteristik des Erkennens wird Steiner noch mehrmals zurückkommen. Sie scheint ihm eine originäre Struktureigenschaft des Denkens zu sein. Diese Charakteristik findet sich als solche weder in Kants KDRV und Prolegomena, noch in Fichtes WL 1794. Obwohl das Setzen des Nicht-Ich im Ich eine vergleichbare Unbewusstheit der Tätigkeit unterstellt, hebt Fichte doch immer gerade das Gegenteil hervor. Dieses Setzen ist noch im Ich: „Man kann gar nichts denken ohne sein Ich, als seiner selbst bewußt, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewußtsein nie abstrahieren." (WL 17).

16 Fichte stellt die (implizit einheitliche) Tätigkeit voran im ersten Grundsatz und kommt erst im zweiten Grundsatz auf diese Einheit zu sprechen: „Das Entgegensetzen ist nur möglich unter der Bedingung der Einheit des Bewußtseins des Setzenden"; beide handelnden Ich (die A bzw. Nicht-A setzen) sind das gleiche (WL\23).

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 75

des Ich zu suchen in dieser vorhergehenden Tätigkeit. Damit hat Steiner das ungreif-bare Ich ergriffen: „sein ganzes ergreifbares Wesen ist gegeben durch sein Tätigsein; wir können nicht wissen, was es ist, sondern nur was es tut". Dass wir es nicht in ein Objekt verwandeln können, dem versucht Steiner noch einmal beizukommen mit einer anderen Formulierung: „Wenn das Ich erkennen will, so muss es ein Objekt in seine Tätigkeit des Erkennens aufnehmen; im obigen wird gefordert, daß es sich selbst als dieses Objekt aufnehme. Damit es sich erkennen kann, muß es nun eine Stufe höher-steigen, um sich aber zu erkennen, müßte es um eine Stufe herabsteigen, was offenbar unmöglich ist." Die Metapher des „Aufnehmens"" geht freilich fehl, da das Bild nicht konsequent durchgeführt wird. Das Ich ,steigt hoch' während es aufgenommen wird. Wenn das erkennende Aufnehmen bildlich als ,Hochsteigen` bestimmt ist (ein traditio-nelles Bild: sich zum Geiste erheben), braucht es aber nichts Äußeres ,aufzunehmen`, und deswegen nicht um eine Stufe ,herabzusteigen` (wie etwa zur Sinnlichkeit) um sich zu finden, anzufassen und noch mal hochzuheben. Das weist darauf zurück, dass Steiner das Erkennen noch nicht fest bestimmt hat, von woher ein solches Bild allein eine klare Bedeutung erhalten kann. Er weiß diesen Punkt noch nicht zu klären und tut dazu noch einen paradox anmutenden Schritt. Er verneint anfänglich, dass das reine Ich ist, und dass es etwas ist. Danach behauptet er: „So kann es nur dasjenige sein, zu dem es sich selber macht" (z. B: zu einem wollenden, fühlenden oder den-kenden). Seine Tätigkeit hat also, Steiner zufolge, doch einen erkennbaren Charakter, ist ein bestimmtes Sein, weil die Tätigkeit im Denken, Fühlen und Wollen irgendwie aufgeht. Die Unerkennbarkeit der beziehenden, synthetischen Tätigkeit wird demnach weitgehend abgemildert. Das Ich hat jedoch keine den sinnlichen Objekten ähnlichen Gegenständlichkeit.

In den nächsten Abschnitten (Ix und x) greift Steiner den Fichte'schen Unterschied von kritischer und dogmatischer Philosophie im Verhältnis zur Wissenschaftslehre auf (WL 40_41).18 Er gibt dem jedoch eine eigensinnige Wendung. Für Fichte ist diejenige Philosophie dogmatisch, die dem Ich etwas gleich- und entgegensetzt. Ihr Gegenstand ist deshalb transzendent. Fichtes Wissenschaftslehre ist dagegen immanent kritisch, weil sie mit dem schlechthin Unbedingten (Tathandlung des Ich) anfängt. Steiner, der ohne weiteres das Nicht-Ich neben das Ich stellt, kommt mit diesem Unterschied nicht aus. Ein kritisches Verfahren wäre nach Steiner aber das Bestimmen, wie etwas zu erkennen möglich ist, ein dogmatisches Selber-etwas-Behaupten. So muss die Wissenschaftslehre beides zugleich sein, denn der Philosoph kann in der immanent kritischen Wissenschaftslehre „behaupten, daß das, was er sagt, so sein müsse, weil er derjenige ist, der es so macht" (S. 32). Das Ich selber ist also in diesem Sinne ,dogmatisch` (es behauptet). Die Wissenschaftslehre hat sich eines Prinzips bemächtigt, das weiß,

17 Die ist vielleicht eingegeben durch Fichtes bildliche Rede von dem Herabsteigen der Antithese und dem Hinaufsteigen bei der Synthesis (WL 39).

18 Vgl. aber auch Kant KDRV A 758/B 786-A 769/B 797.

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76 KAPITEL III

warum das Erkennen möglich ist, weil es sich zum Erkennenden gemacht hat.19 Gemäß dem Plan des Ganges der Untersuchung ist ein Ausgangspunkt gewonnen worden, der keinem Zweifel ausgesetzt ist: das Handeln der erkennenden Person, deren Tun selber Realität an sich hat. Wie dieses Tun ein Erkennen von einem Gegenstand darstellt, ist noch völlig unbestimmt. So geht Steiner über zur ,Lehre vom Nicht-Ich`.

Kapitel II fängt an mit der Bemerkung, dass die bisherige Tätigkeit des Ich noch leer und inhaltslos war.20 In dieser Gestalt ist sie eine sich widersprechende „tatenlose Tat". Deswegen muss sie, um überhaupt einen Inhalt zu haben, wirkliches Tun werden und ein Bestimmtes in sich aufnehmen. Die empirischen Tätigkeiten des Ich zeigen, dass dabei immer ein fremdes Element in sie eintritt. Diese Feststellung scheint dem erreichten Resultat zu widersprechen: „Tritt etwas fremdes ein, so ist das Ich nicht mehr durch sich selbst, was es ist, sondern durch ein anderes." (S. 33). Beim Vorstellen einer Rose sind wir als Subjekt tätig, ist das Objekt, die Rose, leidend (sie wird vorgestellt). Dass nicht nur vorgestellt wird (Sache des Subjekts), sondern vielmehr das Objekt vorgestellt wird, ist ebenso sehr ,Sache des Objekts', sogar bei der Vorstellung der Rose das „Erzeugnis der Rose" (S. 33). Wie kommt das Fremdartige nun ins Ich?:21 „Es muß durch das Ich eintreten, es muß umgewandelt werden von dem Ich zu seinem eigensten Wesen, damit das Ich bleiben könne, zu was es sich selbst macht. Dies geschieht in dem Bestimmen." (S. 34). Die Elemente dieses Begriffs von ,Bestimmen` entlehnt Steiner nun wieder von Fichte.22 Steiner unterscheidet: 1. die Handlung des Bestimmens, die vom Ich vollzogen wird als das „tätige Bestimmende"; 2. die bestimmenden Glieder: ein Ich und Nicht-Ich. Das Glied, welches tätig ist, ist immer das Ich.23 Nun, unterscheidet er weiter, sei das Objekt A. Dass das Nicht-Ich in seiner ganzen Ausdehnung zu A bestimmt ist, ist die tätige Bestimmung desselben durch das Ich. Weil A durch diese Tätigkeit gerade A geworden ist (und nicht Nicht-A oder B), hat insofern auch eine leidende Bestimmung dazu beigetragen. Wie sich ferner diese zur Tätigkeit des Ich verhält,

19 Nun gilt auch hier, dass ohne den Begriff des Erkennens nicht ersichtlich ist, wie die Tatsache des Sich-selber-zu-etwas-Machen, die Gültigkeit der Erkenntnis verbürgt.

20 Nicht aber für Fichte, denn Sich-Setzen im Ich will sagen, ohne Grund in sich das Prinzip haben, über sich selbst reflektieren zu können (WL 15-16 und 190-191). Steiner bemerkt hier offensichtlich das ParadoXe seiner Analyse. In seiner Dissertation wird dieser Punkt zum gravierenden Vorwurf an Fichtes Methode. Das Ich setzt sich selbst nicht unmittelbar, sondern es setzt sich selbst nur im RefleX, weil es das Erkennen setzt (GA 3\75 ff.) . Freilich wäre dabei von dem dritten Grundsatz Fichtes, als reales Erkennen aufgefasst, auszugehen.

21 Dies ist eine Fichtes Philosophie unangemessen Frage: „In dieser Wechselwirkung wird in das Ich nichts gebracht, nichts Fremdartiges hineingetragen. [ ... ] Das Ich wird durch jenes Entgegengesetzte bloß in Bewegung gesetzt, um zu handeln" (L 196). Die Kraft des Nicht-Ich, EXistenzbedingung für das handelnde Ich, wird deshalb bei Fichte nur „gefühlt" (ebd.) .

22 L, § 4, passim. 23 Fichte: „das Ich bestimmt durch Tätigkeit sein Leiden; oder durch Leiden seine Tätigkeit" (L 58). Die

Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich findet dadurch statt, dass das Ich zum Teil ein niederes Quantum von Tätigkeit in sich setzt als ein Leiden (L 79). „Tätigkeit des Ich, und Nicht-Ich sind Eins und Ebendasselbe, heißt: das Ich kann nur dadurch etwas in sich nicht setzen, daß es dasselbe in das Nicht-Ich setzt" (L 97).

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„bedarf noch einer Erörterung" (gleichsam wie Fichte bei fast aussichtslosen Antithesen und Widersprüchen ruhig bemerken würde). Steiner will hier im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre lösen, was Fichte selber im praktischen Teil sich zu verweisen gezwungen sah.24 Hier gibt Fichtes L 1794 keine Anknüpfungspunkte mehr, und das Manuskript bricht (nicht umsonst) ab.

Wir sehen Steiner in Fichtes Bahnen fortschreiten in These, Antithese und Synthese, aber noch sehr tastend und ungewiss. Schwankend sind noch die Bestimmungen vom Ich: Es ist ungreifbar, doch auch ergreifbar in seinen Wirkungen. Das Ich ist nicht, und ist doch durchaus bestimmbar als etwas durch seine Tätigkeit, usw. Steiner nimmt jedoch direkt Rekurs auf die Erfahrung des Erkennens. Er erlebt dabei das Fichte'sche Paradoxe des Begriffs des Denkens, das sich in ein Tun und zugleich in ein Leiden teilt (WL 62). Wie ,entäußert` (L 85) das Denken sich? Die eigentliche Erklärung des Erkennens steht hier noch aus. Der Ausgangspunkt für seine Philosophie war aber gefunden. In Anlehnung an und in Differenz zu Fichte, denn Steiner sucht die Konstituenten der Erkenntnis doch innerhalb des Horizontes der Erfahrung, während Fichte die Tathandlung außerhalb desselben als ihren Grund setzt.25

§ 3.2.3. Die intellektuelle Anschauung des Ich

Steiner suchte einen konkreteren Zugang zum Erkenntnisproblem als Fichte und da musste ihn schon Schelling interessieren, denn dessen Naturphilosophie erweitert den transzendentalen Idealismus zu einem konkreteren System des ganzen Wissens (sw I, 3\33o) . Der empirische Zugang zum Ich fand Steiner bei Schelling angedeutet. Anfangs war dies ein schwieriger Punkt bei Schelling selbst. In Vom Ich als Prinzip

der Philosophie (1795) wird das Ich erkannt in einer intellektuellen Anschauung. Das reine Ich ist dort nur eins für alle Menschen und absolut. Es konstituiert sich nur in der Freiheit seiner eigenen intellektuellen Anschauung, die mithin eben nur die seinige und keine empirische sein kann und nicht im empirischen Bewusstsein vorkommen kann.26

Das genügt Schelling jedoch nicht, und schon in seinen Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus (ebenfalls 1795) heißt es (vIII. Brief): „Uns wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen." Dies ist wiederum die intellektuelle Anschauung, aber jetzt wird uns ein Vermögen zugeschrieben, das nicht so sehr jenseits des Bewusstseins liege, sondern den Übergang zu der Anschauung darstellt,

24 Der Grund des Wechsels zwischen Ich und Nicht-Ich kann nach Fichte nicht nur unter dem Lehrsatz des vom dritten Grundsatzes abgeleiteten Hauptsatzes des theoretischen Wissens begriffen werden (= „das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich"; WL 47).

25 So analysiert Da Veiga Greuel (199o), S. 18-22 und 37-38.

26 sw I, 1\181-182. So kann das empirische Ich sich seiner Freiheit nicht mehr direkt bewusst werden, obgleich es wesensidentisch mit dem Ich als seine Substanz verstanden werden kann. Die Freiheit ist also hier noch nicht im menschlichen Selbstbewusstseins.

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78 KAPITEL III

die wir freilich nicht aushalten können, ohne das Bewusstsein ganz auszulöschen.27 Der Satz fesselte Steiner. In dem ersten erhalten Briefe schreibt er seinem Freund: „Mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr sei, was Schelling sagt: [ ...I" ..]" [folgt der zuvor zitierte Satz Schellings aus den Briefen] (GA 38\13) . Schon längere Zeit beschäftigte Steiner also die Frage, wie dem Ich philosophisch, aber nicht lediglich als Postulat, näher beizukommen sei. Die Erfahrung des Ich ist ihm wiederum Grundlage, die ,empirisch` möglich sei: „Ich glaubte und glaube noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben", so fährt der Brief fort, „die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir." Er will die Realität des Fichte'schen, Schelling'schen Ich, dessen schlichte Wirklichkeit, an sich entdeckt haben.

Wir brauchen hier nicht abgrundtiefe mystische Schau vorauszusetzen. In Schel-lings Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/1797) heißt es auch in milderem Ton: „Kein Bewußtsein des Objekts, ohne Bewußtsein der Freiheit."28 Schelling rügt sogar die ältere Philosophie, weil sie keinen Übergang kannte vom Unendlichen (Übersinnlichen) zum Endlichen.29 Geist ist wesentlich dasjenige, das nur sein eigenes Objekt ist, wo Angeschautes und Anschauendes identisch sind (,intellektuelle Anschauung`), was seinerseits nur möglich ist, wenn der Geist endlich (Objekt) wird, und zwar durch sich selbst. Es ist also eine ursprüngliche Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit im Geiste.30 Natur ist bewusstloses Produzieren, nur in unserer Tat werden wir der absoluten Freiheit des Geistes bewusst. Das Wol-len ist daher Quelle des Selbstbewusstseins, und in ihr haben wir die intellektuelle Anschauung unseres selbst, da die Freiheit uns in der Endlichkeit als unsere Willkür erscheint und gegenständlich wird.31

Fichte hat in seinem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/ 1798) emphatisch die intellektuelle Anschauung zu einem unfehlbaren Bestandteil

27 SW I, 1\318 ff. Vgl. X. Tilliette, Schelling, une philosophie en devenir (Paris 1970), S. 96-1o1, nament- lich auch die Anmerkungen 29 und 3o über den geistesgeschichtlichen Horizont der intellektuellen Anschauung, und R. Halblützel, Dialektik und Einbildungskraft, F. W.J. Schellings Lehre von der mensch-lichen Erkenntnis (Basel 1954), S. 31-36. Unter Heranziehung des späteren Schellings vertrat Halblützel die Ansicht, die intellektuelle Anschauung sei ,Ekstase` und der Übergang vom empirischen zum rei-nen Selbstbewusstsein, oder das Ewige, der mystische Kern der Transzendentalphilosophie Schellings (S. 34). Wir werden im vII. Kapitel aber sehen, wie eher umgekehrt das empirische Bewusstsein ,eksta-tisch' ist. Jedenfalls ist die intellektuelle Anschauung hier bei Schelling in der Tat noch Grenzübergang: Näherten wir uns der unmittelbaren Anschauung, so würde sie uns ebenso gerade schwinden wegen ihrer Gegenstandslosigkeit (VIII. Brief). Sie wäre die reine EXtension unserer Tätigkeit ohne Begrenzung und Objekt, das erst das Bewusstsein konstituiert (ebd.).

28 SW I, 1\371.

29 NB: eine verkappte Selbstkritik, denn in den Philosophischen Briefen hielt Schelling dies auch noch nicht für möglich (vgl. den vI. Brief: Es gibt nur einen Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, nämlich durch das Streben). Näherten wir uns der unmittelbaren Anschauung, wie gesagt, so entschwindet sie uns (vIII. Brief).

3o SW I, 1\366-368. 31 SW I, 1\4o1 und 438-44o.

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alles Bewusstseins gemacht. Wir können „keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen", ohne durch die intellektuelle Anschauung zu wissen, „daß wir es eben sind, die dies eine und andere tun".32 Sie ist ,Faktum des Bewusstseins`.33 Sie ist weder zu beweisen, noch aus Begriffen zu verstehen oder durch sie mitzuteilen; man muss das eigene, in sich zurückgehende Handeln einfach in sich anschauen.34 Sie war auch schon unterstellt in der L 1794, da vom empirischen Selbstbewusstsein aus man sich dem reinen nähern kann durch Abstraktion.35

Zuletzt hat Hegel in der Differenzschrift (18o1) die intellektuelle Anschauung defi-nitiv in den Bereich des Bewusstseins gebracht, indem er das transzendentale Wissen als Vereinigung von Reflexion (reines Wissen) und Anschauung darstellt, wodurch die Identität des Subjektiven und Objektiven „ins Bewußtsein tritt".36 Hegel fasst in seiner Phänomenologie des Geistes den Zusammenhang der intellektuellen Anschauung mit dem Begriff dann noch einen Grad tiefer: Die intellektuelle Anschauung ist schlechtweg „das Anschauen als Denken erfaßt", also selber Denken und Bewusstsein, nur in seiner unmittelbaren Form, von der es gilt, sie nicht in die träge Einfachheit zurückfallen zu lassen (PHDG 20), d. h. zur abstrakten Allgemeinheit herabzusetzen (nicht mehr lebendiger Anschauung, sondern abstrakter Begriff), in deren unwirklicher Nacht „alle Kühe schwarz sind" (PHDG 18-19). Der Wirklichkeit nach soll es nicht als Substanz (unmittelbares Sein), sondern als Subjekt in seiner ganzen Entwicklung zu sich selber hin verstanden werden.37

32 Neue Darstellung, Hamburg 1975, herausg. P. Baumann, S. 43 [216-217] . Ohne sie ist die Nacht des Bewusstseins und der Tod, weil sie Leben oder ,Quelle des Lebens' ist (S. 44 [217] ).

33 A. a.0., S. 46 [218]. 34 A. a. O., S. 41 [214]. Da Veiga Greuel (1990) weist gleichfalls auf diese Schrift Fichtes hin, wo dann doch

deutliche Bezüge aufzuweisen sind zu Steiners Analyse. M. Frank hält diese Arbeit Fichtes überhaupt für die erste Stelle, wo der Begriff des Selbstbewusstseins als unmittelbare Vertrautheit mit sich vor aller RefleXion und Ich-Identifikation in der Literatur auftaucht: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991, S. 25.

35 L 168 [1,244] 36 Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (18o1), herausg. H. Brockard und

H. Buchner, in: Jenaer Kritische Schriften 1, Hamburg 1979, S. 3o-31. 37 Vgl. PHDG 561: Der Geist ist weder das Zurückziehen in seine reine Innerlichkeit noch die Versenkung

in der Substanz (intellektuelle Anschauung), sondern Entäußerung und Zurückkehr aus der Substanz zu sich als Subjekt (dialektische Reflexion). Hegel soll dabei, laut Frank (1991) die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins entgangen sein (S. 160-161). Möglich ist jedoch, dass das Selbstbewusstsein der Entwicklung fähig ist und diese unmittelbare Vertrautheit sich mit dem refleXiven Begriffe zusam-menschließt. So ist es in der Tat bei Hegel, wo das Subjekt erstens unmittelbares Selbstgefühl ist (ENz §§ 407-408), dann unmittelbare Gewissheit seiner selbst als Begierde (ENZ § 426) und ein sozia-les Selbst (anerkennendes Selbstbewusstsein; ENZ §§429-430) und erst zuletzt geistiges, allgemeines Selbstbewusstsein als Intelligenz und Wille (ENZ §§ 44o ff.). Man kann also Hegels Begriff des Selbst-bewusstseins nicht verengen zum unendlich progressiven RefleXionsmodell. Wir müssen diesen Punkt hier weiter auf sich beruhen lassen. Frank schließt aber mit Sartre u. E. übereilig, dass das über das Soziale erworbene „affirmative Wissen seiner Selbst im anderen Selbst" bei Hegel alle Spuren indivi-dueller Eigentümlichkeit tilgen sollte (a. a. O., S. 458). Es handelt sich um ein entfaltendes Bewusstsein eines an sich schon seienden, sich fühlenden Selbst, das ja auch nur deswegen wieder hervortritt als „das praktische Gefühl", d. h. „unmittelbare eigentümliche Einzelheit des Subjekts" usw. (ENz

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80 KAPITEL III

Bei Steiner gibt es eine parallele Entwicklung, insofern erstens in seiner dynami-schen Auffassung die Subjektivität immer von sich hinweg sah und prinzipiell vor jedem Bewusstsein lag, dann aber klärt sie sich im empirischen Bewusstsein auf, wo sie bei sich zu verweilen lernte, und bringt sie zur festen begrifflichen Bestimmung.38 Die ,modifizierte Gestalt' des Idealismus heißt wohl, dass das noumenale Ich (Kant) sich jetzt deckt mit dem phänomenalen Ich. Diese Modifikation ermöglicht eine erneute Rezeption des Idealismus, aber grenzt zugleich von dessen Suche nach dem transzen-dentalen Absoluten vor aller Erfahrung ab.39 Auf gleicher Grundlage strebt Steiner an, die problematischen Vorstellungen des Atomismus aufzuklären, ohne den Bereich der Erfahrung zu verlassen.

§ 3.3. Die Kritik am Atomismus

§ 3.3.1. Die Möglichkeit des Naturerkennens

Das Problem, mit dem das Manuskript über die Wissenschaftslehre endet, beschäftigte Steiner als Student weiter: „Wenn der Mensch aus seinem Innern die Gedanken webt, die dann Licht in diese Sinnenwelt bringen, bringt er dann auch tatsächlich etwas Fremdes zu ihr hinzu? Das stimmt doch gar nicht zu dem Erlebnis, das man hat, wenn die Sinnenwelt vor dem Menschen steht, und er mit seinen Gedanken in sie einbricht. [ ... ] Die weitere Verfolgung dieses Nachsinnens war dazumal ein wichtiger Teil meines inneren Lebens" (GA 28\62).

Er wollte seine eigenen Gedanken vor allem an Hegels Philosophie ausbilden: „Vor-eilig einen Gedankengang bis zum Ausbilden einer eigenen philosophischen Anschau-ung zu führen, schien mir gefährlich. Das trieb mich zu einem eingehenden Studium Hegels. Die Art, wie dieser Philosoph die Wirklichkeit des Gedankens darstellt, war mir nahegehend" (GA 28\63) .

Eine wichtige Anregung zur philosophischen Stellungnahme erhielt Steiner in erster Instanz durch seine technische Ausbildung, namentlich durch die mechanische Wärmetheorie und die Wellentheorie für Licht- und Elektrizitätserscheinungen. In der

§ 471), nicht etwa lediglich um Internalisierung sozialer Kategorien der Selbstbeschreibung. Es gibt also wohl mehrere Arten der ,RefleXion`, die Hegel als immer sich erweiternde Kreise das Subjekt in und um sich ziehen lässt. Franks ,unmittelbare Vertrautheit mit sich' ist ja nur eine dieser, nur noch vor der abstrakten konzeptuellen Selbstbestimmung. Ein Anderes ist auch Steiner das Sich-Bemerken als tätiges Subjekt (GA 4\6o) und die denkende Selbstbestimmung (GA 4\9o). Vgl. Kap. IX, §9.4.

38 Wie verschlungen die historischen Wege der ,intellektuellen Anschauung' in der nachkantischen Philosophie gewesen sind, analysiert X. Tilliette in L'intuition intellektuelle de Kant à Hegel, Paris 1995. Es sind in der Parallele hier deswegen nur einige Hauptmomente derselben gemeint, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.

39 Da Veiga Greuel (199o), S. 18-2o, 51 und 72-74.

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mechanischen Wärmetheorie wurde u. a. das Gas atomistisch vorgestellt und Wärme auf reine Bewegung der Atome reduziert (Clausius und Boltzmann). Die Wellentheorie versetzte Farbe und Lichterscheinung als subjektive Empfindungen in den mensch-lichen Organismus. Diese Theoriebildung hat damit einen Dualismus von objekti-ver atomarer Welt und subjektiver menschlicher Erfahrungswelt zur Folge: „Durch die mechanische Wärmetheorie und die Wellenlehre für die Lichterscheinungen und Elektrizitätswirkungen wurde ich in erkenntnistheoretische Studien hineingedrängt. Die physische Außenwelt stellte sich damals als Bewegungsvorgänge der Materie dar. [ ... ] Sie [diese Anschauung] trieb allen Geist aus der objektiven Außenwelt heraus" (GA 28\68-69). Die Atomistik hatte andererseits alle materiellen Qualitäten in die unendlich kleine Tiefe verbannt. Die Wellenlehre konzentrierte sich gleichfalls auf die mechanische Bewegung des Lichtes und der Elektrizität. Weil ein Zugang zur Mikrowelt nicht in Aussicht stand, tat sich ein Riss auf zwischen der primären Lebenswelt und die-ser objektiven Welt der Mikroobjekte. Der Physiologe Du Bois-Reymond sprach wegen der Voraussetzungen der Wärmetheorie und Optik uns grundsätzlich jede Erkennt-nis des ,Inneren der Natur` (Goethe) ab. Unüberwindliche Grenzen sollten unserem Erkennen gestellt sein. Wegen dieser philosophischen Implikation setzte Steiner sich an eine Kritik des Atomismus. Dabei beschäftigt uns jetzt auch wieder mehr das Wie als das Was derselben. Wir fragen, ob sich Spuren des gleichzeitigen Hegel-Studiums in dieser Kritik nachweisen lassen.

§3.3.2. Aufsatz für Vischer

Zur Vorgeschichte dieser Kritik gehört, dass Steiner schon an der Realschule eine schroffe Art des Materialismus kennen lernte durch eine Publikation seiner Schuldi-rektors, Heinrich Schramm, Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinung (Wien 1872). Schramm wollte jede aus der Ferne wirkende Kraft beseitigen, und zum Beispiel die gegenseitige Anziehung der Körper nur als Wirkung von Materie in Bewegung erklären (Druck und Stoß sind zwischen den Körpern ist geringer als an deren Außenseite usw.; vgl. Descartes' Korpuskalismus). Steiner setzte sich schon als junger Schüler das Ziel, dieses Buch so gut wie nur möglich zu ver-stehen, obgleich er dabei erhebliche mathematische Hindernisse zu bewältigen hatte (GA 28\36, 42-43) . Seine Ausbildung in der damaligen, klassischen Physik ließ ihn später nicht mehr auf diese materialistische Ablehnung einer actio in distans zurück-kommen (die Wirkung in der Ferne wurde meistens einfach als Tatsache oder Postulat hingenommen). Die Erklärung der sekundären aus den primären Qualitäten war aber nicht schlechtweg als gelöst anzunehmen. Während des Studiums an der Technischen Hochschule wurde sie zur philosophischen Zentralfrage für Steiner. Er schrieb, nach dreijährigem Ringen mit der Atomismusfrage, einen kleinen Aufsatz Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe, den er mit einem Begleitbrief am 20. Juni 1882 an den Stuttgarter Philosophen Friedrich Theodor Vischer sandte, weil dessen Schriften, „die ich vollständig gelesen habe, vielfache Anregungen zu derselben gegeben haben"

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82 KAPITEL III

(GA Beiträge 63\11).4° Durch Robert Zimmermann angeregt las er Vischers Ästhetik.

Diese war dialektisch nach Hegel'scher Art, und dieser Modus des Denkens41 wird

Steiner wahrscheinlich gefallen haben (sicherlich wird das gegolten haben für Vischers

Eintreten für Goethes Farbenlehre).42 Er wollte aber auch seine eigene Denkweise dem-

gegenüber in dem Briefe an Vischer betonen: „Ich habe mich einstmals ganz in die

mechanisch-materialistische Naturauffassung hineingelebt, hätte auf ihre Wahrheit

ebenso geschworen, wie es viele andere der Jetztzeit machen; aber ich habe auch die

Widersprüche, die sich aus derselben ergeben, selbst durchlebt. Was ich hervorbringe,

ist daher nicht bloße Dialektik, sondern eigene innere Erfahrung". (GA Beiträge 63\11) .

Keine bloße Dialektik also, aber vielleicht immerhin noch Dialektik.

§ 3.3.3. Erster Erkenntnisbegriff

An der Spitze dieses Aufsatzes steht Steiners Bemerkung, dass die Erfahrung nach der

Methode der modernen Naturwissenschaft als einzige Quelle der Erkenntnis angesehen

wird (S. 5). Er zieht dazu eine Stelle aus Vischers Altes und Neues43 heran, an der

Vischer die Maxime der modernen Wissenschaft gegenüber der früheren spekulativen

Naturphilosophie44 geltend macht: erst das Objekt kennen lernen und dann darüber

theoretisieren. Unausgemacht dabei bleibt jedoch wie wir das Objekt in der Erfahrung

kennenlernen. Dem Einfluss des Kantianismus schreibt Steiner nun zu, dass die Begriffe

und Gesetze nicht länger als zur Außenwelt gehörig betrachtet (etwa der aristotelische

Standpunkt), sondern bloß für durch das Ich gegeben als leere mit sinnlichem Gehalt

auszufüllende Formen gehalten werden. Daraus hat sich ein Missverständnis in die

induktive Methode eingenistet. Dazu kommt noch die Vorstellung, dass die materielle

Welt die einzig reale sei (der Materialismus, der natürlich als solcher nicht kantisch

ist). Die allgemeinen Begriffe und Gesetze müssen in diesem Falle notwendigerweise

als etwas Unwirkliches gelten, als bloße Abstraktionen und Generalisationen von rein

40 Vgl. oben § 2.7 und GA 235, Vortrag vom 8. März 1924, in dem Steiner spricht über Vischer Ästhetik (1846-1857), die Kritischen Gänge (Stuttgart 1860-1875), Altes und Neues und Vischers Faust-Bücher, Faust. Der Tragödie dritter Theil in drei Acten (Tübingen 1862) und Göthe's Faust. Neue Beiträge zur Kritik des Gedichts (Stuttgart 1875). Durch Zimmermann auf Vischer gewiesen (GA 28\65) mögen dessen Goethe-Bücher um so mehr Steiners Interesse auf ihn gezogen haben.

41 Steiner sagt in einem Vortrag am n. Juni 1917 (GA 66), dass er angeregt wurde, diesen Aufsatz an Vischer zu schicken während der Lektüre von dessen Die Traum-Phantasie (Stuttgart 1875), als er auf den paradoXalen Satz stieß: Die Einheit des seelischen Lebens kann ganz gewiss nicht im Leibe lokalisiert sein, obwohl sie eigentlich nirgends anders als im Leibe vorkommen kann. Steiner hielt dies für einen notwendigen realen Widerspruch. (GA Beiträge 63\12). Eine dialektische Problemstellung Vischers war hier also direkter Antrieb.

42 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Reutlingen-Leipzig, 1847, Bd., S. 37-55. Vgl. M.J. Petry, Hegels Philosophy of Nature, ed. and trans. with an Introduction and eXpl. Notes, London-New York, 1970, II. Bd., S. 369.

43 Stuttgart 1882, 3.Teil, S. 51 ff. 44 Auch gegenüber seiner eigenen dialektischen Ästhetik in den Kritischen Gängen, was Steiner noch im

Vortrag vom 8. März 1924 (GA 235) besonders hervorhebt.

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subjektiver Bedeutung. Steiner wirft dieser Ansicht vor, sich nicht genügend aufgeklärt zu haben über die Frage, was denn eigentlich in der Erfahrung an den materiellen Objekten gewonnen werden kann (S. 5). Mit Johannes Rehmke45 behauptet Steiner, die sinnliche Wahrnehmung als solche liefere uns nicht das Material für die Begriffe. „Wozu noch das Begreifen, wenn schon das Anschauen genügte?" (S. 6) . Wir brauchen eine ,Realerklärung des Erkennens'. Sie besteht sowohl aus einer Betätigung des Denkens wie der der Sinne. Die Begriffe des Denkens sind immer etwas Allgemeines, während

die Sinne mit besonderen sinnlichen Qualitäten zu tun haben. Jedes besondere Ding oder jeder besondere Prozess wird in den begrifflichen Inhalt der Welt eingefügt. Was den Sinnen erscheint, wird in den allgemeinen Begriffsinhalt der Welt eingereiht. Im Erkennen eines räumlich-zeitlichen Objektes haben wir andererseits zugleich einen Begriff oder ein Gesetz auf sinnenfälliger Weise gegeben: „Man muß dem Begriffe seine Ursprünglichkeit, seine eigene auf sich selbst gebaute Daseinsform46 lassen und ihn in den sinnenfälligen Gegenständen nur in anderer Form wiedererkennen" (S. 6). Damit sei nun erst eine „Realdefinition der Erkenntnis" gegeben.

Eine ,sinnliche` Induktion reicht somit für den eigenständigen Inhalt der Begriffe nicht aus. Der Gegensatz von Begriff und sinnlichem Inhalt (Kant: leere begriffliche Form und intuitierter Inhalt der ,blinden` Anschauung) muss aufgehoben werden, sonst ist das Erkennen (freilich hier: des Wesens) unmöglich. Das Problem, „in welcher Weise die Erfahrung Begriff und Gesetz vermittelt" (S. 6), löst Steiner derart, dass das Ideelle in dem sinnenfälligen Gegenstande „in anderer Form" tatsächlich erscheint. Ohne diese Beziehung blieben Begriff und Gegenstand einander fremd. Die Maxime der Erfahrung soll nur daraus ihr Recht entlehnen. Unter dieser Voraussetzung kann man die Spekulation erst ruhig verwerfen: „Daraus sieht man zugleich, wie unfruchtbar das Unternehmen wäre, über die äußere Welt ohne Hilfe der Wahrnehmung etwas ausmachen zu wollen. Wie kann man sich des Begriffes in der Form der Anschauung bemächtigen, ohne die Anschauung selbst zu vollbringen?" (S. 7; Hervorhebung von mir, J.S.). Die Wahrnehmung bietet uns Begriff und Idee, nur in anderer Form (S. 7). Die induktive Methode (im Allgemeinen, zu denken wäre an den Empirismus von Mill u. a., oder an die empirischen Begriffe Kants, KDRV B 74 und B377) betrachtet die Begriffe als „Derivat der Außenwelt", statt „die Apriorität" (Kategorien und a priori synthetische Urteile bei Kant) neben „der Sinnenwelt nur als eine andere Form desselben" (nicht bei Kant) anzuerkennen (S. 7). Wenn der Empirismus im Induktionsverfahren beim Gegensatz von subjektivem Begriff und Sinnesobjekt verweilt, wird „die bloße Form [ ... ] zur Sache selbst gestempelt." (S. 7).

Dieser erste Erkenntnisbegriff wird, neben der Realität des Ich, die zweite Invariante von Steiners Philosophie bleiben. Sein Argument reicht nicht aus für eine selbstständige

45 Die Welt als Wahrnehmung und Begriff, Berlin 1880. 46 Diese Zufügung ist die Kritik an Kant, der wohl den Begriffen das Sinnesvermögen entgegensetzt, aber

sie nicht auf sich selbst gebaut betrachtet, sondern, insofern es die Grundstruktur der Gesetzmäßigkeit betrifft, sie als Kategorien vom subjektiven Verstand ihren Ursprung haben lässt.

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84 KAPITEL III

Begründung dieses Begriffs. Freilich kann man aus der Eigenständigkeit des Begriffs und der Tatsache einer wesentlichen Naturerkenntnis schließen, dass der Begriff das Wesen in sich birgt. Steiners ,Realerklärung` ist triftig nur unter der Voraussetzung der zweiten Prämisse im Argument. Die Dekonstruktion des Atomismus reicht dafür nicht aus. Das Faktum einer solchen Erkenntnis wäre damit noch nicht aufgezeigt. Wir halten in unserer weiteren Untersuchung an dieser Frage fest.

Steiners ,Realdefinition` hat primär große Verwandtschaft zu Hegels Idee des Erken-nens. Für Hegel ist die Natur ja „die Idee in der Form des Anderssein" (ENZ § 247). Das ist allerdings ein Widerspruch, aber ein realer, und dafür ist die Natur eben der Prozess, zum Geist zu werden und ihr Anderssein aufzuheben (ENZ § 247, Zusatz). Da die Natur sowohl Idee ist wie Äußerlichkeit, hat sie den Begriff nur noch als Innerliches,47 als Not-wendigkeit in ihrer Gesetzmäßigkeit, zwar verwoben mit der Zufälligkeit, an ihr (ENz § 248) .48 Dieses ergibt nun den Grund, die Realität für Hegels Erkenntnisbegriff (ENz § 224), worin die Idee „reines Unterscheiden innerhalb ihrer, — Anschauen" ist, und die Bewegung, „sich als äußerliches Universum vorauszusetzen" (ENZ § 223). Die Vernunft hat daher den Trieb, „den für sie an sich nichtigen Gegensatz auch als nichtig zu setzen" (ENZ § 224). Und das ist geradezu der Steiner'sche Erkenntnisbegriff: „Erkenntnis des Begriffs in Form der äußeren Erfahrung" (GA Beiträge 63\7). Die Sinnenwelt (Natur) als das ,Andere des Begriffs' und zugleich als der Begriff selbst in anderer Form, das genügte bei einem gebildeten Hegelianer wie Vischer sicherlich als Hinweis auf Hegels Erkenntnisbegriff.

§ 3.3.4. Das Atom als Gedankending

Aus dieser üblichen „Unklarheit der Begriffe" soll nicht allein das Induktionsproblem, sondern, als eine Abart von ihr, der Atomismus hervorgehen. Dass das Atom, als bloßer Gedankenpunkt angesehen, eine nützliche mathematisch-physische Vorstellung sei, ist auch für Steiner unbestritten (S. 8) . Steiner wehrt sich vielmehr gegen den mechanischen und transzendenten Atomismus, der alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Licht, Geruch, und sogar Druck in der mechanischen Wärmetheorie usw.) zum bloßen subjektiven Schein und zur Funktion der Atomwelt herabsetzt: „Das Atom allein gilt als letzter Wirklichkeitsfaktor" (S. 7). So muss man folgerichtig und konsequenterweise der Atomwelt jede sinnliche Qualität absprechen. Den Atomwelten von Schramm und Du Bois-Reymond49 haften nur noch räumliche und zeitliche Bestimmungen

47 Vgl. ENZ §§138-140: im Sein oder sinnlichen Wahrnehmen ist der Begriff das ,Innere`. 48 Oder im Zusatz zum § 246: Das „Allgemeine der Dinge ist nicht ein Subjektives, das uns zukäme,

sondern vielmehr als ein dem transitorischen Phänomen entgegengesetztes Noumenon das Wahre, Objektive, Wirkliche der Dinge selbst". Den Schleier der Isis hebt das Denken.

49 Vgl. dessen Über die Grenzen der Naturerkenntnis (die „Ignorabimus-Rede" vom 14. August 1872), die Steiner noch 192o „einen Knotenpunkt in der modernen Weltanschauungsentwicklung" nennt (GA 322\12). Darin finden sich die Sätze, „daß es in der Wirklichkeit keine Qualitäten gibt, folgt aus der Zergliederung unserer Sinneswahrnehmungen" ( Über die Grenzen der Naturerkenntnis, Leipzig

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(Masse, Ort und Bewegung) an. Das sind jedoch Abstraktionen aus der sinnlichen Erscheinungswelt. Will man dem Zirkel entgehen, ein Ding aus sich selber zu erklären (die sinnlichen Qualitäten aus sinnlichen Qualitäten), so müsse man insgesamt auf sinnliche Eigenschaften verzichten: „Die Atome müssen eine der sinnlichen Erfahrung unzugängliche Existenz haben" (S. 7) . Andererseits sollen die Atome real im Raume und nicht bloß Begriffliches sein. „Damit ist in den Begriff des Atomes eine Eigenschaft aufgenommen, die ihn vernichtet. [ ... ] In seinem Begriffe ist die Anschaulichkeit zugleich bejaht und verneint"50 (S. 8). Der moderne (transzendente) Atombegriff sei das vervielfachte Ding an sich Kants, und nichts als reiner Widerspruch.51

In gleicher Art kritisiert Hegel in seiner WDL die Auflösung des Dings in selbständige Materien. Die Dynamik der wechselnden Bestimmungen an einem wahrnehmbaren Ding wird geläufig in einem äußerlichen Auflösen gesetzt, und zwar in der Punktualität als Negation des materiellen Dinges. Der Widerspruch an ihr ist, „sich an die Wahr-nehmung halten und Dinge des Daseins vor sich haben zu wollen, und andererseits dem Nichtwahrnehmbaren durch die Reflexion bestimmtes, sinnliches Dasein zuzu-schreiben" (WDL II\146).52 In der Enzyklopädie führt Hegel den Widerspruch, dass die Materie aus Teilen besteht, die aber nicht als Atome für sich, untrennbar verschieden und zugleich kontinuierlich sind, dass also zwei Teile am selben Orte sich begegnen müssen, sogar zurück auf Zenons Paradox der Bewegung. Denkt man nicht diesen Widerspruch, so wird das metaphysische Atom oder die Pore nur „ein Gedankending neben, d. i. außer der Wirklichkeit" (ENZ § 298).53

1952, S. 445) und „stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos [ ... ] ist die Welt auch für die durch objektive Betrachtung gewonnene mechanische Anschauung" (ebd., S. 445).

5o Offensichtlich weil er diesem Satz zustimmte, hat Vischer ihn im originalen Manuskript unterstrichen (GA Beiträge 63\2).

51 Acht Jahre später wird Steiner nochmals einen kleinen ungedruckten Aufsatz schreiben: Die Atomistik und ihre Widerlegung (GA Beiträge 63\14ff.), wo es heißt: Wenn die sinnlichen Eigenschaften durch Bewegung der eigenschaftslosen Materie erklärt werden sollen, ist ein Eigenschaftsloses angenommen, das sich dann auch nicht bewegen kann (Bewegung werden wir nur an sinnlichen Objekten gewahr). Das Atom ist ein Ding, das „in Nichts zerfließt" (S. 28).

52 ENZ § 98: Die atomistische Philosophie hat durch die Moleküle sich „dem sinnlichen Vorstellen näher gebracht, aber die denkende Bestimmung verlassen". Diese Flucht Vor der Metaphysik endet doch mitten in ihr. Hegel bezeichnet diese Atomistik als „anstatt der konkreten logischen Idee, einseitige vom Verstande fiXierte Gedankenbestimmungen". Das Atom ist „in der Tat selbst ein Gedanke" und soll es doch nicht sein (Zusatz I).

53 Wir setzen voraus, Steiner kannte die Ausgabe der Enzyklopädie mit den Erweiterungen aus Hegels Vorlesungen von (soweit es die Naturphilosophie anbelangt) C.L. Michelet. Diesen verteidigt in seiner Vorrede Hegels Argument, die Atome seien nicht selbständige Wesen, sondern Modifikationen der Materie, und spricht über Atome usw. als „heuristische Begriffe". Die Metaphysik Von selbständigen Atomen verderbe aber die gesunde Auffassung der Erfahrung (ENZ [B], S. XXVII). Neu war Steiners Kritik also nicht. Wir schätzen Steiners Bemerkung, dass es ihm nicht um ,bloße Dialektik' ging, so ein, dass er davon ausging, dass Vischer mit dieser Kritik Hegels und Michelets vertraut war. Steiner behauptete, es neu ,durchlebt`, d. h. die Aktualität und Richtigkeit dieser Kritik Verstanden zu haben. Dies wollte er offensichtlich von Einem, der als einer der wenigen Philosophieprofessoren ,Altes und Neues` beherrschte (und dazu alt genug war), sanktioniert wissen.

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86 KAPITEL III

§ 3.3.5. Erkenntnisgrenzen

Dieser metaphysische Atomismus ist, Steiners Meinung nach, nicht harmlos, da er die ganze qualitative Erscheinungswelt dem bloßen Zufall preisgibt (die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit liegt ja im Atomaren) und dem Erkennen unüberschreitbare Grenzen aufrichtet (,ignoramibus`, sagt Du Bois-Reymond). Das reale Atom soll mehr sein als ein Gedankending und muss tatsächliche Eigenschaften haben, die wir lediglich wegen seiner Unwahrnehmbarkeit nicht erkennen können. Der Atomismus muss des-halb „die Unerkennbarkeit des eigentlichen Wesens des Atoms proklamieren" (S. 9) . Du Bois-Reymond hält demnach die Welt für doppelt unbegreiflich, 1.) weil unser Vorstellungsvermögen beschränkt ist durch unsere äußeren und inneren Sinne und wir deswegen das Atom, wie es an sich sein soll, weder wahrnehmen noch vorstel-len können, und 2.) weil wir aus einer hypothetischen vollständigen Kenntnis der Lage und Bewegung der Atome im Gehirn noch nicht einsehen könnten, wie das Bewusstsein aus ihm hervorgeht (das Gesetz der Erhaltung der Energie ist rein mecha-nisch, sodass ein kausaler Zusammenhang mit geistigen Vorgängen jedes zureichenden Grundes entbehrt).54 Diese zwei Grenzen der Naturerkenntnis (an der Materie- bzw. Bewusstseinsseite), hinter die sich „der vernunftwidrigste Spiritismus ebensosehr wie das unsinnigste Dogma [ ... ] verstecken" könnte, kommen in Wegfall, sobald der wider-spruchsvolle Atombegriff aufgegeben wird55 (S. 9).

Auch Raum und Zeit sind als Gegenstücke zu den Atomen, abgesehen von den Din-gen der Sinnenwelt, einfach Undinge (S. 10) . Ausdehnung in Raum und Zeit ist mit den Prozessen der Sinnenwelt immanent mitgegeben. Für sich genommen sind sie bloße Abstraktionen.56 Die Verabsolutierung beider jenseits unserer Erfahrung ist offensicht-lich für Steiner der gleiche Widerspruch wie der im transzendenten Atombegriff. Das Endergebnis ist, dass nicht das unwahrnehmbare Atom, sondern lediglich die einfache wahrnehmbar-sinnliche Qualität Grundtatsache der empirischen Naturwissenschaft sein kann.

Diese Dialektik des Atomismus ist nur schlüssig, insofern sie sich bezieht auf die ontologische Implikation in den Atomen, die Wirklichkeit zu setzen, während die Makrowelt, die sinnlichen Qualitäten und die Kontinuität der Materie nur ein Schein sei. Wenn beide ebenso real sind, hat der Atomismus lediglich den Charakter eines Aspekts des Ganzen zu sein. Bei einer solchen Auffassung würde das Arguments Steiners fehlgehen. Wir schließen auf einen Urtext von Platons Dialogen, die aber nie mehr direkt

54 Du Bois-Reymond, a. a. O., S. 448-449 und 458-459. 55 Wie wichtig dieses Thema für Steiner war, zeigt sich dadurch, dass er den von Du Bois-Reymond

gestellten Grenzen noch 192o einen ganzen Zyklus widmet: Grenzen der Naturerkenntnis (GA 322), gehalten während des ersten anthroposophischen Hochschulkursus, mit dem Das Goetheanum in Dornach als Hochschule eröffnet wurde.

56 Vergl. Hegel in ENZ §§ 254-261: der Raum ist abstrakte Allgemeinheit des Auseinander der Natur, wie die Zeit die abstrakte Negation desselben ist. Erst die Materialität, der sich behauptet und bewegt im Raume, ist Realität (Zusatz zu § 261).

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wahrgenommen werden können. Ebenso wenig ist der Beweis geliefert, es könne nie die Existenz angenommen werden von einer Entität, wofür man bis jetzt noch keine Möglichkeiten gefunden hat sie wahrzunehmen. Wir folgern daraus, dass es Steiner nur um die implizite Dialektik zu tun war, mit der ein rein ideelles Seiendes gesetzt wird, das auf ,sinnliche' (von ontologischer Wirklichkeit) und zugleich ,unsinnliche` Weise (wegen des Scheins der Sinnenwelt) Bestand haben soll, statt sich mit dem begrifflichen Status innerhalb der Erfahrung zu begnügen. Das Argument zielt also auf die Entlarvung der Ansicht, dass die Sinnenwelt Schein sei, nicht ob es ,Atome` geben könne. Das Atom könnte, Steiners Erkenntnisbegriff zufolge, nicht nur ,heuristischer` Begriff (Michelet), sondern auch ,realer` Begriff sein. Darüber entscheide aber die sinnliche Empirie.

§ 3.3.6. Der Begriff der Erfahrung

Nimmt man dieses zusammen mit dem ersten Teil des Aufsatzes, so ergibt sich Steiners Ansicht, dass unsere Naturwissenschaft auf einer Empirie beruht, in der die sinnlichen Qualitäten der Gegenstände weder übersprungen werden können noch sollen. In der Empirie treten uns die Gesetze der Objekte der Sinnenwelt, obwohl wir sie nur den-kend herausfinden, an den Gegenständen als zu ihr gehörig entgegen. Damit hat Steiner die Erfahrung als die einzige Quelle der Naturwissenschaft zur einheitlichen Bestim-mung gebracht, in der die Gegensätze von Ideellem und Sinnlichem, Quantitativem (Ausdehnung in Raum und Zeit) und Qualitativem (Ton, Wärme, Licht usw.) alle aus-geglichen werden sollten. Dieser Erfahrungsbereich ist nicht länger eingeklemmt an der Bewusstseins- oder Materienseite durch zwei ,Erkenntnisgrenzen`. Steiner war offenbar ausgegangen, um einen empirisch-monistischen Erkenntnisbegriff zu entwickeln aus der Widerlegung des induktiven Positivismus', Dualismus' und transzendenten Mate-rialismus' (u. a. Du Bois-Reymond). Die Form der Darstellung wird hier zwar noch nicht ganz beherrscht, aber hinter den einzelnen Schritten ist ersichtlich, wie Steiner die Gedankenbewegung aus den Gegenteilen zu einem Ganzen runden will, das wir auch überschreiben könnten: ,Der Begriff der Erfahrung, Bestimmung ihrer Inhalte und Grenzen'. Steiner versucht diesen Begriff in seinem ersten Buch Grundlinien einer

Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886) ausführlicher darzustellen, und das Methodische seines Denkens wird dabei noch zu gewinnen haben. Steiner sah 1917 rückblickend den Aufsatz von 1882 als „erste Keime für die Anthroposophie" an (GA Beiträge 63\12) . Und 1924: „Ich muß gedenken, welche Freude es mir machte, als Friedrich Theodor Vischer, dem ich den Aufsatz zuschickte, mir einige zustimmenden Worte schrieb" (GA 2\10-11). Es wird Steiner jene Ermutigung ersetzt haben, die ihm fehlte, als er ohne akademischen Lehrer selber seinen Weg in die Philosophie zu finden hatte. Außerdem verband ihn diese Würdigung, wenn auch indirekt, mit der idealis-tischen Tradition. Kuno Fischer, Karl Rosenkranz und Vischer galten ihm damals als „edle Veterane aus besseren Zeit" (GA 38\43).

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88 KAPITEL III

§33.7 Einfluss von Brentano und Mach

Der Aufsatz zeigt, dass Steiners erste philosophische Kritik geprägt ist von der Span-nung zwischen der damaligen Physik (besser gesagt deren philosophischer Deutung bei Du Bois Reymond u. a.) und dem Idealismus (Studium von Fichte, Schelling und Hegel). Zwar hatte Steiner Brentano und dessen Forderung eines konsequenten Empi-rismus kennen gelernt, aber Brentanos Auffassung von ,Phänomen` war ungeeignet, Steiner einen philosophischen Ansatzpunkt zu liefern. In der Psychologie vom empi-rischen Standpunkte (1874), deren Bekanntschaft wir damals bei Steiner voraussetzen dürfen, behauptet Brentano, dass die Psychologie nicht mit der Naturwissenschaft auf gleiche Stufe gestellt werden kann als Wissenschaft von den psychischen Phäno-menen neben der Wissenschaft von den physischen Phänomenen.57 Die Gegenstände der Sinne sind, so wie die Empfindung uns zeigt, in der Tat ,bloße` Phänomene, sind als Gegenstände nicht wahrhaft da und bestehen nicht wirklich: „Es liegt dem-nach für die Gegenstände der Sinnesempfindung der volle Beweis ihrer Falschheit vor".58 Und wenn es auch keinen vollen Beweis gäbe,59 dann ist zumindest nach-weisbar, dass sie nicht außer uns bestehen: „Sie sind im Gegensatze zu dem, was wahrhaft und wirklich ist, bloße Phänomene".60 Die innere Wahrnehmung der psy-chischen Phänomene verbürgt dagegen die Evidenz ihrer Wirklichkeit. Daher sind sie nur diejenigen Phänomene, denen eine wirkliche Existenz zukommt.61 Für Stei-ner ist entscheidend, dass die sinnliche Qualität als Wirkliches zur Grundlage der Physik dienen soll, und nicht lediglich als Bewusstseinsphänomen. Eine Erkenntnis-grenze nach außen (Materie) soll nicht, jedenfalls nicht auf diese Weise, aufgerichtet werden. Die Grenze nach innen (Bewusstsein) hatte Brentano selber schon durch-brochen in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt. Seine Untersuchung zeigt, dass alle Einwände, dass Psychisches doch auf etwas anderes und Unbewusstes, jedoch dem Psychischen Homologes als Ursache zurückgeht, geprüft an der Erfahrung nicht standhalten. Eine doppelte Phänomenalität, sowohl der Materie wie des Bewusstseins

57 Psychologie, S.13. 58 A. a. O. S.14. 59 Dem Versuch Lockes (Essays, 1, viii, 21), auf den Brentano zur Begründung seiner Herabsetzung der

physischen Phänomene sich bezieht (Psychologie, S. 13), hat Steiner in Zweiter naturwissenschaftlichen Kurs, 1920 (GA 321) widersprochen. Der Versuch, bei dem man die eine Hand in kaltes Wasser, die andere in warmes taucht, und dann beide zusammen in eine dritte Schale von mittleren Temperatur, zeigt nicht, dass die folgenden unterschiedenen Wärmeempfindungen in beiden Händen in der dritten Schale subjektiv sind (zugleich wärmer wie auch kälter), sondern zeigt nur, dass der objektive Wärme-Unterschied im Verhältnis zum eigenen Körper empfunden wird (ohne Korpuskulardeutung wie bei Locke). So die phänomenologische Bestätigung von Martin Basfeld: Phänomen-Element-Atmosphäre. Zur Phänomenologie der Wärme, in Böhme (1997), S. 192-196.

6o A. a. O. 61 A. a. O. 129.

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(der große Fehler von Kant, Herbart62 und F.A. Lange)63 ist an sich widersprüchlich. Die phänomenale Inexistenz des Physischen verlangt doch mindestens die phänome-nale Wirklichkeit des Psychischen (worin es als ,bloßes` Phänomen auftritt).64 Diese Untersuchung Brentanos als solche ist somit eher eine Art Gegenstück von Steiners Kritik am Atomismus, und wir können sicherlich nicht ausschließen, dass Steiner sich dadurch hat ermutigen lassen, ausgehend von der Physik, Ähnliches zu leisten für den Atombegriff.

Die sinnlichen Qualitäten sind unhintergehbare Grundlage der Physik in dem Phänomenalismus Ernst Machs. Steiner kannte nicht nur dessen Philosophie, er hörte auch eine oder mehrere seiner populärwissenschaftlichen Vorlesungen in Wien.65 Die Forderung, von den qualitativen Empfindungen auszugehen, finden wir sowohl bei Mach als auch bei Steiner. Der Atomismus-Aufsatz wurde an Vischer geschickt im Juni 1882. Der Vortrag Machs datiert vom 25. Mai 1882, also wird er auf Steiners längere Besinnung über den Gegenstand nicht mehr einen tiefgreifenderen Einfluss ausgeübt haben, da Steiner doch sagte, er habe den Gedanken „durchlebt", was längere Beschäftigung voraussetzt. Steiner sagt ferner, dass Machs Radikalismus in Beziehung auf die ,ökonomische Natur` der Begriffe „einen ganz schrecklichen Eindruck" auf ihn gemacht habe.66 Die anti-idealistische Denkweise stieß ihn ab. Machs Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) und Die Analyse der Empfindungen (190o) waren noch nicht erschienen.67 Dessen Gebrauch des Terminus ,Phänomenologie ist auch späteren Datums.68 Für den eigentlichen Gedankenprozess Steiners in den Jahren 1879-1882 wird Mach daher keine besondere Bedeutung zuzumessen sein, obgleich wir wiederum nicht ganz ausschließen, dass Steiner von Machs frühe historische und systematische Analyse des Prinzips der Erhaltung der Arbeit von 187269 entweder indirekt durch Steiners Umkreis (Technische Hochschule) oder durch direkte Lektüre Kenntnis genommen hat.

62 Psychologie, S. 233. 63 A. a. O., S. 245. 64 Diese Kritik finden wir bei Steiner an Langes Subjektivismus geübt. Lange: „Die Sinne geben uns [ .1

Wirkungen der Dinge, nicht getreue Bilder, oder gar die Dinge selbst. Zu diesen bloßen Wirkungen gehören aber auch die Sinne selbst, samt dem Hirn": ein Münchhausen-Effekt (GA 4\33), den Steiner gegen den ,kritischen Idealismus` (u. a. Hartmann) ins Feld führt (GA 4\74-79).

65 „Es war vielleicht im Jahre 1881 oder 1882, ich war bei jener Sitzung der Akademie der Wissenschaften in Wien anwesend, wo Mach seinen Vortrag über Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung [ ...1 gehalten hatte" (GA 186\222). „Man fühlte bei jedem Satze schmerzlich, wie alle Denkmethode verschwand, wie alles zusammenschrumpfte zu dem Prinzip der kleinsten Kraftaufwendung auf das Naturerkennen" (GA Beiträge 3o\12).

66 GA 182\222.

67 Beide Schriften befinden sich in der nachgelassenen Bibliothek Steiners. 68 Spiegelberg (1978), I, S. 9. Vgl. Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 1896, S. 362 ff. und dazu

Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4. Bd., 2.

Aufl. Stuttgart 1957, Reprint Hildesheim-New York 1973, S. loo. 69 Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit (Prag 1872). Sie enthält schon die

zwei Grundelemente seiner ,Phänomenologie` und den pragmatischen Status physikalischer Prinzipien.

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90 KAPITEL III

Die Kritik am Transzendentalismus im Atomismus mit seinem Komplement des reinen Vorstellungscharakters der physischen Qualitäten (Kant und Nachfolger) bleibt eine dritte Konstante in Steiners Entwicklung. Der Ausbildung dieser Kritik, die einen Grundnerv von Steiners Philosophie darstellt, werden wir hier stufenweise nachge-hen bis zum Aufsatz Goethe gegen den Atomismus, geschrieben unmittelbar vor der Jahrhundertschwelle.

§3.3.8. Die Entwicklung der Kritik in drei Kategorien von Argumenten

In seinen Goethe-Kommentaren spricht Steiner mehrfach über den Atomismus, und seine Kritik erzeigt sich als Voraussetzung seiner Würdigung von Goethes natur-wissenschaftlichen Ansichten. In Goethe und der naturwissenschaftliche Illusionismus (GA 1\252 ff.) betont Steiner, dass er vom Anfang seines Studiums der Mathematik und Physik an durch Widersprüche zur kritischen Untersuchung der Methodologie der-selben genötigt wurde. Mit Hilfe erkenntnistheoretischer Studien habe er den Grund vieler Probleme der Naturwissenschaft entdeckt „in der ganz falschen Stellung, welche die letztere den einfachen Sinnesempfindungen angewiesen hat": die sinnlichen Qua-litäten werden ins Subjekt verlegt, und außerhalb des Subjekts entspreche ihnen nichts als die, auf Grund der Empfindungen zu erschließenden, objektiven Bewegungen der Materie. Dafür gibt es drei Kategorien von Argumenten:

1) physikalische: die Objektivität einer nichtsinnlichen Materie; 2) physiologische: objektive Reize seien Ursache für die subjektiven Sinnesempfin-

dungen; 3) philosophische: die Sinnesempfindungen gehören unwiderlegbar zum Subjekt.

Ad 1. Steiner hält die Vorstellung einer diskontinuierlichen, bewegenden aber nicht-sinnlichen Materie für eine Halbheit und einen Widerspruch. Die atomare Mate-rie, deren unsinnliche, unwahrnehmbare Bewegungsvorgänge die Sinne reizen sol-len, bewegt sich, aber wir kennen nur Bewegung in der Sinnenwelt. Mithin wird ein sinnliches Attribut auf ein Nichtsinnliches übertragen. Der Materie wird ferner noch Undurchdringlichkeit, Ausdehnung (im Atome) oder Kraftwirkungen usw. beigelegt, damit man nicht völlig im Leeren bleibe. Aber auch diese sind nur (sublimierte) sinn-liche Eigenschaften. „Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das Sinnliche-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen Teil für objektiv, den anderen für subjektiv" (GA 1\253).7° Verfährt man konsequent, so muss man Atome (Steiner: „wenn

Hier kritisiert Mach schon die mechanisch-materialistische kausale Erklärungart. Alle Qualitäten haben gleichen phänomenalen und ontologischen Rang. Dazu Cassirer (1973), S. 98-100.

7o Berkeley hatte in seinem A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (1710) dieses Argument im Prinzip schon entwickelt (vgl. Part 1, Abs. 10): „eXtension, figure, and motion, abstracted from all other qualities, are inconceiVable. Where therefore the other sensible qualities are, there must these

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es sie gibt") 71 als einfache Teile der sinnlich fassbaren Materie betrachten (nur wegen ihrer Kleinheit nicht mehr direkt wahrnehmbar). Dann bilden sie nicht die objektive Welt gegenüber unserer subjektiven, sondern sind einfach nicht-priviligierte Teile der uns zugänglichen sinnlichen Welt (GA 1\253-254) .72 Bewegung der Materie und Quali-täten wie Farbe und Klang gehören zusammen dann einer gemeinsamen Welt an, und zwischen ihnen gibt es keine prinzipiell anderen Beziehungen als irgendwelche anderen Beziehungen zwischen Elementen der Sinnenwelt (GA 1\254). Damit hat Steiner seinen Ausgangspunkt gewonnen für eine Widerlegung der physiologischen Ansicht.

Ad 2. Steiner verweist auf Seite GA 1\255 von Goethe und der naturwissenschaftli-

che Illusionismus nach seiner Ausführung der physiologischen Argumente in Goethe

als Denker und Forscher, wo er die Rechtfertigung von Goethes Urphänomen seiner eigenen Ansicht voransetzt. Steiner unterzieht hier die Kausalbeziehung der physiolo-gischen Vorstellungen der Sinneswirkungen einer Kritik. Man sagt, die Reize (Licht, Schall, usw.) vermitteln Eigenschaften der Dinge, die durch die Sinne im Gehirn zur Empfindung werden. Die objektiven Sinnesreize verursachen die subjektive Empfin-dung. Steiners Analyse zeigt genau das Umgekehrte. Eine bestimmte Empfindung tritt in unserem Bewusstsein auf, z. B. ,Rot`. Wir werden normalerweise dieses Rot gewahr an der Oberfläche eines Dinges oder an einer Stelle im Raum (Regenbogen): die Emp-findung hat jedesmal ein ,Ortsdatum` (GA 1\267). Wenn wir jetzt nachforschen, was für räumlich-zeitliche Vorgänge sich abspielen an oder in dem Dinge (gesetzt das Ortsda-tum sei die Oberfläche eines äußeren Dinges), bis zum Sinnesorgan, und von da in den Nerven bis zum Gehirn, und wiederum da in den verschiedenen Partien des Gehirns: so finden wir alle möglichen mechanischen, elektrischen, chemischen Veränderungen. Das ,Rot` finden wir nur am Ortsdatum und es wird lediglich durch diese weiteren

be also", d. h., Berkeley zufolge, nur im Geiste. Steiner behauptet umgekehrt, wo die sekundären Qualitäten nicht sind (jenseits der Sinne), sind auch die primären nicht. Nirgends in der GA erwähnt Steiner diese Stelle bei Berkeley, auch nicht wenn er über Berkeleys Traktat spricht (GA 18\119), oder dies in unbekannter Übersetzung zitiert (GA 4\65-66).

71 Boltzmanns kinetische Theorie des Gases (Exponente des Atomismus) war damals noch umstritten. Die Energetik (u. a. W. Oswald) glaubte der mechanische Atomismus um 1895 schon wieder überwunden. Durch u. a. Lorentz' Elektronentheorie (1895), Einsteins Lösung der Schwierigkeiten in der kinetischen Theorie des Gases (19o5) und Rutherfords Atommodell (1911) setzte der physische Atomismus sich später wieder durch, just im Moment, als die Quantenmechanik schon im Begriff war, sie schrittweise aufzulösen durch u. a. Plancks Quantentheorie (190o), Einsteins Photonen (1905), Bohrs Atommodell (1913), DeBroglies Wellenmodell der Materie (1923) und zuletzt Heisenbergs Quantenmechanik. Steiner meinte demnach, der klassische Materialismus sei um die Jahrhundertwende in der Physik überwunden worden, da die Materie hinfort doch nichts anderes mehr sein soll als ,flüssige Elektrizität' (GA 320\161-

163). Damit sollen die Atome nicht geleugnet werden, aber „es muß [ ... ] immer phänomenologisch auf diese kleinsten Teile irgendwie hinführen" und man sollte „diese Atomstruktur [ ... ] aus einem Total-Tatbestand [ ... ] erklären." (GA Beiträge 114-115\68). Die Atome sind für Steiner mithin nur nicht die letzten für sich bestehenden Bausteine der Realität. Man vergleiche übrigens die Auffassung Schellings: „was sind denn die Körper selbst als Verdichtete (gehemmte) Elektrizität" (sw I, 3\319).

72 Die Behauptung lautet nicht, sie seien damit Objekte unserer primären Lebenswelt. Die wissenschaftlich zu erschließende Mikrowelt hat aber den gleichen ontologischen Status wie die Makrolebenswelt.

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92 KAPITEL III

Vorgänge vermittelt. In den Vorgängen ist es nirgends anderswo als das empfundene Rot vorhanden: „Die Empfindung ist an jenem Orte vorhanden, vom Erreger bis zum Gehirn, aber nicht als solche, nicht explizit, sondern so, wie es der Natur des Gegen-standes entspricht, der an jenem Orte sich befindet" (GA 1\268) . Da die vermittelnden Vorgänge (gemessene Schwingungen des Lichtes, die sinnlich wahrnehmbare Anato-mie und die Aktivität des Auges, der Nerven und des Gehirns) auf gleiche Weise in der Sinneswelt erscheinen wie die Empfindung am Ortsdatum, gehen wir schrittweise nur von Wahrnehmung zu Wahrnehmung fort (sie haben dann wie andere Empfindungen ihre eigenen gleichwertigen Ortsdata usw.) . Die Beziehung zwischen denselben kann also nicht sein, dass die Reihe vom Ding bis in das Gehirn Ursache ist für den Inhalt der Empfindung ,Rot`. Man wird nirgends die Empfindung ,Rot` entdecken, nicht in dem oszillierenden Medium, nicht im Gehirnzentrum (GA 1\256, 269) — „weil sie ein-fach nicht da sein kann" (GA 1\269) — als eben nur am Ortsdatum. Steiner schließt: die Vorgänge im Medium und in unserem Leibe sind nicht die Ursache, die erst in uns die Empfindung auslöst, sondern vielmehr Wirkung des Qualitativen am Orts-datum73 (GA 1\269). Der physikalische Subjektivismus setzt also, Steiner zufolge, eine nicht nachweisbare Kausalität in der Sinneswelt. Phänomenal ist nur jene entgegen-gesetzte Beziehung74 zwischen den Elementen, die „alle gleich subjektiv und gleich objektiv" sind, „wenn diese Unterscheidung überhaupt als berechtigt angenommen werden könnte" (GA 1\270). Das ist nun jene dritte Stufe: eine Begriffsanalyse von ,subjektiv`/,objektiv` in diesem Zusammenhang.

Ad 3. Dies ist eine rein philosophische Erwägung. ,Subjektiv` soll nur heißen, als was durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden kann.75 Zum menschlichen Subjekt gehört für Steiner nur dasjenige, was wir durch äußere oder innere Wahrnehmung an einem solchen erfassen (GA 1\255) . Einerseits ist das die körperliche Konstitution mit seinen Sinnesorganen und seinem Gehirn. Aber, wie gesehen, war die Empfindung

73 Das heißt aber wohl, sie sind ,Bedingung` der Empfindung, in gleicher Art wie etwa die Notwendigkeit, dass mit gesundem Auge hingesehen wird auf das Ortsdatum. Steiner versucht in GA 1\298 und in dem nachgelassenen Manuskript Die Atomistik und ihre Widerlegung (GA Beiträge 63\14-28) die Rolle der Vermittlung eines Inhalts am Beispiel des Übersendens eines Telegrammes zu verdeutlichen, das aber nicht sehr hilfreich ist. Der vermittelte Inhalt, der nicht Von Medien berührt oder verursacht wird, ist die symbolische Identität vom aufgegebenen und empfangenen Telegramm. Sie ist rein ideell. Bei der Empfindung soll es — so interpretieren wir Steiner — das einmalige Vorkommen des Inhalts am Ortsdatum sein, der ungeachtet seiner Vermittlung nicht selber auf eine Wanderung geht bis in das Gehirn und da sprunghaft aus organischer Bewegung zur inneren Empfindung wird.

74 Die Umkehrung der Ursache und Wirkung ist doch eine unbefriedigende Dialektik, was Steiner auch empfunden haben muss. In seiner anthroposophischen Zeit entwickelt er die Idee einer vierfach diffe-renzierten physiologischen Eigenwirkung des wahrnehmenden Menschen, wodurch die Sinnesempfin-dung entsteht (bestimmt nicht reduzierbar auf eine bloße ,Wirkung` des Qualitativen am Ortsdatum), und eine konkurrierende Ansicht über die eigentlich seelische Wirkung im Sinnesorgan (GA 115). W.J. Stein hat sie 1921 in seiner Dissertation Verarbeitet.

75 Steiner beschränkt sich also auf eine empirische, phänomenale Subjektivität. Eine transzendentale die empirisch nicht nachweisbar ist, kann keinen Aufschluss geben gemäß dem empirischen Ausgangspunkt Steiners.

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 93

,Rot` nicht dort im Körper, sondern am Ortsdatum, und nur die Vermittlung, bevor sie meine Empfindung wurde, ist teilweise im Subjekt. Dieser Vermittlungsweg ist (vom Sinnesorgan an) also subjektiv, damit aber noch nicht der Empfindungsinhalt.76 Andererseits ist das Subjekt in der inneren Wahrnehmung ein denkendes, fühlendes und wollendes. Hier erfahren wir nur, dass unser Denken sich auf diese Empfindung bezieht,77 „aber ich bin mir dessen nicht bewußt, daß ich den Inhalt der Empfindung erzeuge" (GA 1\256) . Steiner würde natürlich auch ablehnen, diese Erzeugung jenseits der Erfahrung anzusiedeln. Es gibt demnach keinen zureichenden Grund, um unsere Empfindungen als ,nur subjektiv' anzusehen. Wir können nur sagen, dass sie vom Subjekt vermittelt sind.

§ 3.3.9. Phänomenales Wesen, Raum, Zeit und Materie

Von hier aus ist der Weg freigemacht für eine erkenntnistheoretische Begründung der Begriffe ,Wesen` und ,Erscheinung` am Zeitverhältnis im Phänomenalen (GA 1\271— 276 )

Der ältere Substanzbegriff der Metaphysik fließt im Materialismus mit dem Begriff der Materie zusammen78 (GA 1\274). So glaubt man eine ,Dauer im Wechsel` (Ding an sich hinter den wechselnden Phänomenen) zu haben, weil sonst alles im Hera-klit'schen Flusse mitgerissen würde. Diese Hinterwelt ist indessen völlig unnötig. Wir unterscheiden den Inhalt einer Empfindung von seinem Auftreten. In der Wahrneh-mung sind beide nur eine. Wir unterscheiden sie ideell, da es an dem Inhalt gemessen gleichgültig ist, ob es jetzt oder nachher erscheint. Unter dem ,Wesentlichen` eines Dinges (Phänomen) „verstehen wir hier das, wodurch ein Ding eigentlich gerade das ist, als was es sich darstellt" (GA 1\272) .79 Die Wesenserkenntnis reicht hier so weit wie der Anwendungsbereich der Identität. Ihr ist also kein besonderes Gebiet vorbehalten, etwa die Naturphilosophie oder Metaphysik, neben den allgemeinen Verrichtungen

76 Freilich können wir in der Erfahrung dieser Vermittlung eine qualitatiVe Änderung der Empfindung zuschreiben, wie bei teilweise Farbenblinden (GA 4\64-65). Dabei wird die Ausnahme an dem normalen (idealen) Zustand gemessen, die wir deshalb nicht für subjektiV erklären können. SubjektiV ist nur die Anomalie.

77 Ebenso wie sie Gefühle anregt oder begehrt werden kann, usw. 78 Steiner zitiert in GA 1\305 eine damals schon geläufige Ansicht, dass die moderne Wissenschaft die

Wahrnehmungswelt beurteilt nach der Grundformel aus der dritten Meditation von Descartes, dass die Ausdehnung der Körper clairement et distinctement eingesehen und deshalb substance und durée beigelegt werden kann, die Qualitäten aber wegen ihrer obscurité und confusion problematisiert werden.

79 Die Definition ist zirkular, insofern sie Rekurs nimmt auf das ,eigentliche' ,Was` eines Dingens, das dem Begriff des Wesens schon voraussetzt. Wir meinen, sie dient hier Steiner nur als Hinweis auf Begriffe die wir de facto schon anwenden, und bestimmend ist hier die Hinzufügung „als was es sich darstellt". Das Wesen ist nur, insofern es erscheint, und ist nicht ein prinzipiell unerforschbares und Verborgenes An Sich. Vgl. die gleiche Bestimmung Von Wesen bei Hegel: „Das Wesen muß erscheinen. [ ... ] Das Scheinen ist die Bestimmung, wodurch das Wesen nicht Sein sondern Wesen ist, und das entwickelte Scheinen ist die Erscheinung." (ENZ § 131).

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des gemeinen Menschenverstandes. Der Erkenntnisbegriff Steiners (§3.4.3) erfüllt sich in allen jenen Urteilen die das Identische in wechselnden Zusammenhängen erfassen. Dies Identitätsurteil leistet der Begriff in der Erfahrung.

Das ,Was' ist eine Summe von Bestimmungen des Inhalts und geht die verschie-densten Beziehungen ein: Alle Gestalten sind in Beziehung zueinander, sie bedingen sich gegenseitig. Solche Beziehungen sind erstens ,Raum` und ,Zeit`. Der Raum ist die allerallgemeinste Beziehung von miteinander bestehenden Dingen. Sie ist rein phä-nomenales ,Nebeneinander`. Diese Beziehung, mit der wir die Sonderheit der Dinge überwinden, können wir von den konkreten Erscheinungen der Sinneswelt wieder loslösen, indem wir ausgehen von irgendwelchen räumlichen Elementen A und B, die wir aufeinander beziehen: A ist neben B. Ebenso ein gleiches Paar: c neben D. Wenn wir nun diese zwei Beziehungen (ihr ,neben`) aufeinander beziehen (nennen wir sie ,a` und ,b`), so beziehen wir nicht etwas sinnfälliges Konkretes (A, B, usw.) sondern nur „das bezogen wurde" (wir ,abstrahieren` von A, B, C und D), und diese Bestimmung ist bei a und b die gleiche. Wir gelangen so zur ideellen Einheit des Raumes und kehren damit zurück zum Ausgangspunkt (das Prinzip der Raumesbeziehung). Wir sind uns aber dabei der Idee des Raumes bewusst geworden.80 Steiner bezeichnet diese Struktur als ,Goethes Raumbegriff (die entsprechende Begriffsbildung bei Goethe bezieht sich aber nicht auf den Raum). Auf gleiche Art sollen sich alle Begriffe durch potenzierte Beziehung auf ihre ideelle Kerne zurückführen lassen (GA 1\293).

Wenn Einzeltatsachen oder Tatsachenkomplexe als von einander abhängig erschei-nen in ihrem Entstehen, erfassen wir zugleich die Idee der Zeit: „Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, daß die Tatsachen ihrem Inhalte nach von-einander in einer Folge abhängig sind." (GA 1\272-273) . Die Zeit gehört damit der Erscheinungswelt an. Das Wesen, das Was einer Sache der Erscheinungswelt ist nur ideell zu fassen. Dafür entsteht und vergeht es nicht. In der gegenseitigen Abhängigkeit bedingen die Wesen (das Was mehrerer untereinander bedingten Erscheinungen) im Gegenteil selbst die Zeit (GA 1\274).

Im Raume erscheint die Materie als phänomenal-qualitativer Zusammenhang in ihm. Sie hat keine höhere Realität als andere Phänomene (GA 1\275) . Statt der verborgene Grund der Wirklichkeit zu sein, ist ,Materie` für Steiner lediglich eine der Gesetzmäs-sigkeiten der Phänomene unter anderen. Als Resultat fasst Steiner zusammen: „Das sinnfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie" (GA 1\274).81

80 Es leuchtet jedoch nicht ein, dass damit auch die drei Raumesdimensionen gegeben sind, wie Steiner behauptet: die erste als A neben B (Beziehung zwischen Sinneselementen A und B: eine ,konkrete Vorstellung'), die zweite die Beziehung Von a auf b (eine ‚Abstraktion') und die dritte die Identität von a und b (,ideelle Einheit'); GA 1\294). Die drei Schritte sind nicht identisch mit den Raumesdimensionen (im Beispiel könnten sowohl A, B, C wie D auf einer Gerade liegen). Steiner mag hier noch Anderes im Sinne haben, das wir nicht herauslesen.

81 Gerade Von der entgegengesetzten Richtung des Sensualismus her kommt Steiner zum gleichen Resul-tat wie Ernst Mach, dass die Welt der Sinneserscheinungen, der Inhalt der ursprünglichen Phän0mene

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 95

Zuletzt ergeben sich hieraus die weiteren Ansätze für Steiners ,Phänomenologie',82

und damit die Basis für seine Goethe'sche Anschauungsweise bzw. seine Auslegung von

Goethe. Wir sahen in Steiners Einzig mögliche Kritik des Atomismus, wie Steiner Begriff und Anschauung als Einheit zu fassen suchte, als er in dem sinnlichen Gegenstand den Begriff in anderer Form wieder erscheinen sieht. Hier hat er den Punkt erreicht, wo das Wesen als das Was einer Sinneserscheinung bestimmt wird, wodurch Letztere zur ,Erscheinung` des Wesens wird. Der Sinnesinhalt ist nicht mehr nur Existenz für sich, sondern er hat offensichtlich das Was, das nur ,ideell` erfasst wird, an sich, oder

vielmehr dessen ,Schein` oder ,Reflexion` (Hegel). Steiner geht es ferner darum, dieses Verhältnis an den Erfahrungen des Erkennens

zu verdeutlichen. Kontrafaktisch setzt er: Wenn nun das wahrgenommene Weltbild im ersten Auftreten für die Sinne, ungetrübt das Wesen desselben ausleben, d. h. zeigen würde, dann war Wissenschaft unnötig und die Aufgabe der Erkenntnis mit der ersten Wahrnehmung erfüllt (GA 1\275) . Wäre andererseits das Wesen, sein Was mit den sinnlichen Qualitäten völlig erschöpft, dann sollte nicht etwas Neues in Form des Begriffes im Erkennen hinzukommen (GA 1\281). Beides beweist, dass die sinnlichen Qualitäten, das von den Sinnen Wahrgenommene, keine vollständige Totalität ist. Durch den Begriff wird uns erst klar was wir anschauen und zwar folgendermaßen. Zwei Phänomene A und B haben einen gewissen Zusammenhang. Auch dieser kommt wieder

als ,Phänomen` (c) zur Erscheinung. Nun tritt D hinzu und modifiziert das Ganze, so haben wir ein wesentliches anderes Phänomen E, usw. (GA 1\275-276). Wir fragen, welche Phänomene in Beziehung notwendige Bedingungen sind, um ein Phänomen entstehen zu lassen, und welche zufällige. So unterscheiden wir zwischen ursprünglichen

Phänomenen und abgeleiteten. Die notwendigen Beziehungen sind nichts anderes, als

unseres Bewusstseins, das unhintergehbare Fundament unseres Welterkennens sei (Kernthese Von Machs Die Analyse der Empfindungen). Ein Analogon hat dies in der Entwicklung der Philosophie Husserls. Angefangen mit der Position Brentanos überwindet Husserl die Hypostasierung des phy-sikalischen Dinges in einem objektiven Raum außerhalb unseres Wahrnehmungsraums durch die phänomenologische Reduktion und durch den Nachweis, dass in der Physik eben nur das wahrge-nommene Ding erforscht, gemessen und bestimmt wird (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Aufl. Tübingen 1922, §40). Die Konstruktionen der Physik (Atom, Ion, Kräfte usw.) entbehren ihren Anschaulichkeit nicht, weil sie ein Transzendentes bedeuten, son-dern weil es eben kategoriale Denkbestimmungen sind (Ideen, § 52). In Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie (1936) macht Husserl die ,schlimme Erbschaft' Lockes rückgängig, indem er die Lebenswelt als Vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft aufweist, was bis dahin noch weitgehend als analog Steiners Resultat gelten kann. Husserls Konzept der ,Lebenswelt` ist seitdem ziemlich allgemeiner Bestandteil der Philosophie geworden. Eine ähnliche Gedankenbewegung vollzieht Russell, anknüpfend an William James und Mach, sich abhebend Von Brentano, in The Analysis of Mind (1921). Physische und psychologische Phänomene sind aus dem-selben ,neutral stuff gemacht: sensations. Mind und matter sind darauf gebaute ,logical constructions'. Dass der Logische Atomismus preisgegeben wurde, da nicht alle ,kompleXen` Gegenstände reduzibel sind auf atomare Sensationen (Russells und Carnaps späteren ,Physikalismus`), tut dieser Analyse im Prinzip keinen Abbruch. Das phänomenale Ganze, das oftmals mehr ist als seine Teile, verweist gerade nach dem Erkenntniswert des Begriffs. Vgl. auch Husserls ,Abschattungen`.

82 Über den Terminus, vgl. § 1.2.

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was man Naturgesetze nennt. Dies ist Aufgabe der Wissenschaft: „sie hat durch die phänomenale Welt so weit durchzudringen, daß sie Erscheinungen aufsucht, die nur von notwendigen Bedingungen abhängig sind" (GA 1\276).

Dabei gilt: „Durch die begriffliche Erfassung eines in der Sinnenwelt Gegebenen gelangt erst das Was des im Anschauen Gegebenen zur Erscheinung" (GA 1\281). Da nun der Begriff über die einzelne Erscheinung hinaus auf den Zusammenhang der Dinge verweist, macht erst der Begriff ein einheitliches Ganzes aus.83 Die Sinne sind ,geborene Pluralisten', das Denken überwindet daher die Vielheit und stellt die Einheit her: Die wissenschaftliche Methodik hat daher als Endziel die monistische Naturwissenschaft (GA 1\282).

Steiner operiert mit terminologischen Unterschieden, die verschieben. Einmal soll das Phänomen rein als Sinnesqualität am ,Ortsdatum`, als ,Empfindung` erfasst wer-den, dann als ,Tatsachen` oder ,Tatsachenkomplex`, und zuletzt bringt das Denken die Beziehungen hervor, die zugleich ein neues ,Phänomen` darstellen sollen, mit fast gleichem Rang wie die Sinnesqualitäten (nur vom Denken vermittelt). Die Beziehun-gen werden begrifflich differenziert, und dadurch gliedern die Phänomene sich in ursprüngliche und abgeleitete. Unter den Phänomenen wird das Urphänomen sicht-bar. Denken und Anschauen sind einmal getrennt, dann wieder zusammengenommen. Das Gedachte wird also als Phänomen unter den Phänomenen angeschaut. Die termi-nologische Analyse reicht nicht aus, diese Doppelbedeutung des ,Phänomens` ganz zu klären. Steiner meint, eine Legitimation von Goethes Methodik geliefert zu haben. Wir werden diese Goethe'sche naturwissenschaftliche Methode, und namentlich Steiners Auslegung derselben, im nächsten Kapitel weiter untersuchen. Steiners Zugang zu ihr beruht auf den hier beschriebenen Resultaten seiner Lösung des Atomismus- und Sub-jektivismusproblems: „wer sich aber wirklich klar darüber geworden ist, daß Erklären der Erscheinungen nichts anderes heißt, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten Zusammenhang beobachten,84 der muß die Goethesche Farbenlehre im Prinzip85 akzeptieren" (GA 1\ 279). Die Phänomene selber sind jetzt die Lehre. Steiner spricht hier von ,beobachten`. Dieses beinhaltet nicht mehr einfach die Sinnesfunktion, sondern die Begriffe sollen dazu im engsten Zusammenhang mit den Sinnesqualitä-ten mit-angeschaut werden. Um diesen Punkte drehen Goethes Anschauungsweise und Steiner Philosophie. Doch bricht Steiner hier ab, wohl bewusst, die Ausführungen seien

83 Hier tut sich ferner die wahrscheinlich von Bernard Rang gemeinte Nähe zu Husserls Konstitution des materiellen Dinges im Raume auf (als res temporalis, res eXtensa und res materialis). Das Ding ist schließlich „eine Regel möglicher Erscheinungen". Die Regeln umfassen, wie Steiners Naturgesetze, die Kausalverhältnisse unter denen die Erscheinung Von Eigenschaften an den Dingen und ihre Gesamtheit als das Dinge selber stehen. Vgl. Rang, Der systematische Ansatz von Husserls Phänomenologie der Natur, in Böhme/Schiemann (1997), S. 85-119. Husserl steht hier aber näher bei Mach (Rang, a. a. O. S. 103) als bei Steiner, denn für Husserl konstituieren die Regeln ,Dingschemata` im Bewusstsein, während Steiner dieselben Begriffe im Sinne eines objektiven Idealismus deutet als die objektiven Naturgesetze.

84 Dies ist in der Systematik Steiners selber ein Akt der Vernunft. Siehe § 4.2.4. 85 Steiner ist fast nur am methodischen Prinzip der Farbenlehre interessiert: „Es fällt mir natürlich nicht

ein, alle Einzelheiten der Goetheschen Farbenlehre Verteidigen zu wollen" (GA 1\279).

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nur eine Andeutung einer Philosophie, die er anderswo leisten muss: „Die Art, wie ein sich selbst verstehendes, widerspruchsloses Denken zu dieser Weltansicht gelangt, zeigt meine Erkenntnistheorie" (GA 1\129), d. h. GA 2: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Die beiden Formen des Begriffes Gesetz und Typus hat Steiner in der Durcharbeitung von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften ausge-bildet, die wir gleichfalls im nächsten Kapitel betrachten wollen.

§ 3.3.10. Weitere Widerlegungen des Subjektivismus

Das Thema der Subjektivität der Sinnesempfindungen (alle uns gegebenen Gegen-stände seien Vorstellungen) kehrt in ihrer dreifaltigen86 Argumentationsstruktur in der Dissertation (GA 3) zurück. Die Widerlegung konzentriert sich dort jedoch auf den einzigen Punkt, der die vorherigen in abstraktere Form zusammenfasst, dass die Subjektivitätsthese in Bezug auf die Sinneserfahrung eine sich selbst aufhebende Vor-stellung ist. Steiner reduziert die These hier also auf ihre innere dialektische Struktur. Nennt man die gewöhnliche Weltansicht ,naiven Realismus' (die Dinge existieren, wie wir sie normalerweise sehen) und Kants, Schopenhauers sowie von Hartmanns Ansicht (die ,Welt ist unsere Vorstellung') eines ,transzendentalen Idealismus`, dann wird man diese Selbstaufhebung folgendermaßen zusammenfassen können: „Der transzenden-tale Idealismus erweist seine Richtigkeit, indem er mit den Mitteln des naiven Realismus, dessen Widerlegung er anstrebt, operiert" (GA 3\41). Dass die Ähnlichkeit von Emp-findung und Sinnesding in der Kette von Wirkungen vom Gegenstand zum Gehirn — alles im naiven realen Sinne aufgefasst — verloren geht, kann nicht beweisen, dass der transzendentale Idealismus Recht hat, von der Unähnlichkeit auszugehen. Es fehlen ihm die Termini des Vergleichs. Die Unähnlichkeit ist einer kausalen Deutung unter-legen, die widersprüchlich ist (siehe oben). Steiner lässt es bei dieser Selbstaufhebung bewenden, da er in der Dissertation nur die Möglichkeit einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie darlegen will.

Die letzte Zuspitzung erhält dieses Thema der Vorstellungsnatur unserer Empfin-dungen87 im Iv. Kapitel der Philosophie der Freiheit (GA 4). Hier stellt Steiner die Frage: Wie kommt das Beobachtungsobjekt ins Bewusstsein herein? Die „jetzt herrschende Kantsche Ansicht" (Liebmann, Volkelt, Hartmann) wird wieder in ihrem dreifachen Aufbau dargestellt (physisch, physiologisch und philosophisch). Steiner wiederholt, dass der ,kritische Idealismus` (vorher der ,transzendentale Idealismus`) den naiven Realismus nur widerlegen kann, wenn er selbst in naiv-realistischer Weise den mensch-lichen Organismus für einen objektiv existierenden Gegenstand hält (Argument der Dissertation). Der kritische Idealismus setzt eine naiv-realistische Physiologie voraus. Durch den Rückschluss des kritischen Idealismus auf eine unabhängige objektive Welt

86 Obwohl Steiner jetzt das psychophysische Argument (die ,spezifischen Sinnes-Energien' Müllers) Von dem physiologischen (das Verfolgen der Effekte der Sinnesreize bis ins Gehirn) abhebt.

87 Und Wahrnehmungen im breitesten Sinne des Wortes, auch Erfahrungen des ,inneren Sinnes' (GA 462).

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98 KAPITEL III

wird er zum transzendentalen Realismus (ob er nun diese Welt als Wille oder als tote corpuscula vorstellt, ist hier einerlei) . Der nächste Schritt ist dann, dass Steiner sich auf den phänomenalen Standpunkt stellt: Es geht nichts über die wahrgenommene Welt hinaus als eben nur das Denken, das innerweltlich die Beziehungen der Erscheinun-gen zustandebringt. Dadurch reduziert die Objekt-Subjekt-Beziehung sich gleichfalls zu einem rein-idealen, einem vom Denken vermittelten Verhältnis. Das physiologi-sche Argument für die Subjektivität der Sinneswahrnehmungen verwechselt somit einen ideellen Bezug von Subjekt und Objekt mit einem Prozess der Hervorbringung, worin Wahrnehmbares aus Unwahrnehmbarem hervorgeht. Dies ist nun prinzipiell unmöglich (GA 4\98) . ,Vorstellung` ist schließlich nur die Modifikation, die wir an uns selbst erfahren, nachdem wir einen Gegenstand wahrgenommen haben (GA 4\99). Dieser Vorstellungsbegriff kann nicht auf alle Wahrnehmung angewendet werden. Der transzendentale Realismus wird zum metaphysischen Realismus, indem eine Hinter-welt jenseits der wahrgenommenen Welt hypostasiert wird, die nur einige bestimmte Eigenschaften analog der Sinneswelt hat (raumerfüllende Materie, Bewegung von Mate-rieteilchen, Kraftwirkungen, unbewusster Wille usw.) . Der metaphysische Realismus ist ein versteckter naiver Realismus, denn „er wendet also eine Seinsform (das Wahr-nehmungsdasein) auf ein Gebiet an, wo ihm das Mittel fehlt, das allein über diese Seinsform eine Aussage zu machen hat: das sinnliche Wahrnehmen." (GA 4\122) . Darin liegt der Widerspruch, den Steiner im ersten Atomismusaufsatz schon aufzeigte. Jetzt vollendet der Gedankengang sich in dem Schluss: Also haben die vom Denken ver-mittelten Beziehungen (Kausalgesetze usw.) keine andere Existenzform als der Begriff (GA 4\123), und so wird der Monismus88 unausweichlich.

In einem späteren Aufsatz, Goethe gegen den Atomismus (von 1895, aufgenommen in GA 1), geht Steiner ein auf den Lübecker Vortrag des Chemikers Wilhelm Oswald Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus (Leipzig 1895), und die damals neuesten Variante des Physikalismus, die ,Energetik`.89 Oswald will im physischen Welt-bild an Stelle von Atomen (Materie) und Kraft die Energie setzen. Nach Steiner wird unverändert die Wirklichkeit für eine Abstraktion eingetauscht (wenn er auch die Über-

88 „Der Monismus setzt an die Stelle Von unwahrnehmbaren Kräften [gemeint sind u. a. solche wie in der Auffassung von Du Bois-Reymond und Hartmann] die ideellen Zusammenhänge, die er durch sein Denken gewinnt. Solche Zusammenhänge aber sind die Naturgesetze" GA 4\124.

89 Robert Mayers Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie (1845) war ein methodisch wichtiger Wendepunkt, da Mayer die Zahl-ÄquiValenz Von Wärme und mechanischer Energie behauptete ohne Rekurs auf eine materielle Identität beider (Steiner wurde übrigens als Student von Prof. Reitlinger angeregt, fast alle Schriften Von Mayer zu lesen: GA 28\68). Auch Kirchhoff wollte den Anspruch der Mechanik auf Erklärung aufgegeben wissen zugunsten einer mathematischen Beschreibung der BewegungsVorgänge (Vorlesungen über mathematische Physik, 1876). Oswalds Vortrag leitete ,einen wahrhaften Bildersturm' ein, der nach Cassirer Ausdruck war eines tiefer liegenden Überganges von einer raumorientierten Vorstellungsart zu einer Suprematie der Zahl und Auflösung des alten Substanzbegriffs: Cassirer (1973), S. 96, 102-107. Vgl. dessen Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (Berlin 1910). In der 2. Auflage (Berlin 1923) in Steiners nachgelassener Bibliothek vorhanden.

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einstimmung Oswalds mit seiner Kritik am Materialismus an vielen Punkte belegen kann). Zurückführen auf einfache, leicht überschaubaren Elemente ist alles mathema-tische und physische Begreifen (GA 1\323) . Dieses Letztere ist auch das Grundprinzip der naturwissenschaftlichen Methode Goethes. Wegen eines Vorurteils, dass mathe-matische und mechanische Verhältnisse einfacher zu verstehen seien als qualitative, schaltet die moderne Physik und in ihrer Spur die Energetik die letzteren aus. Der Fülle der Welt wird man dagegen nur gerecht mit Goethes Phänomenologie.

§ 3.3.11. Parallele mit Rickerts Kritik am Subjektivismus

Steiners dreifache Kritik am metaphysischen Atomismus oder Transzendentalismus im Allgemeinen ist, soweit wir sehen können, eine originelle Leistung, wenn auch verwandt mit anderen (wie in den Anmerkungen erwähnt). Die Kritik hat aber eine bewerkens-werte Parallele erst in Heinrich Rickerts Analyse vom ,Subjekt-Objekt-Verhältnis` in Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie (Freiburg 1892, 3.Aufl. 1915) . Rickert unternimmt es gleichfalls, die Verwirrung in dem Inein-anderlaufen von drei Bedeutungsschichten: physisch-physiologisch (Raum-Leib), psy-chologisch (realtranszendente Objekt-Vorstellung innerhalb der Seele) und geistig-erkenntnismäßig (Bewusstseinsobjekt und Erkenntnissubjekt) in dem Subjektbegriff aufzurollen.

Im ersten Verhältnis handelt es sich um den Leib (als psychophysisches Subjekt) und die ihn räumlich direkt umgebende Körperwelt (von der der Leib ein Ausschnitt ist). Beides sind Objekte im Bewusstsein. Im zweiten wird das psychophysische Subjekt gespalten: Das vorstellende Ich wird ein Inneres gegenüber dem Leib. Auch dieses Subjekt ist als Ich-Objekt ein Bewusstseinsinhalt (a. a. O., S. 16 und 42-44). Es kann ihm nicht als notwendiges Korrelat eine „Außenwelt" gegenübergestellt werden im Sinne des ersten Unterschiedes (S. 17) und schon gar nicht etwas ,im Bewusstsein`, ,im Kopfe', in der Außenwelt lokalisieren („wie sollte dann dies Phänomen eines kleinen Teils der Phänomene das Ganze sein", S. 32-33). Ein physiologischer Idealismus ist somit unzulässig (S. 73). Das Qualitative ist ebenso wie das Quantitative (Raum) Bewusstseinsinhalt mit gleichem Range (S. 74) . Abermals kann man dieses Subjekt rein gedanklich auseinander legen in Subjekt und Objekt, d. h. in Bewusstsein überhaupt und Bewusstseinsinhalt (S. 17-18). Das erkenntnistheoretische Subjekt ist das nicht-objektivierbare, daher auch nicht-persönliche „Bewußtsein überhaupt" (S. 46-47). Bewusstsein ist immer gleich Immanenz des Objekts: „Bewußtsein ist nur ein anderer Name für alles uns unmittelbar bekannte oder gegebene Sein.” (S. 52). Damit ist der ,Vorstellungs-` oder ,Traumidealismus` Liebmanns (S. 73) und von Hartmanns (S. 79) widerlegt. Es gibt zwar ein Abbildungsverhältnis von Wahrnehmung und ,Vorstellung` im engeren Sinne, doch beides ist bewusstseinsimmanent (S. 129-132). Doch gibt es die Forderung einer ,Transzendenz`, um „aus dem Haufen von immanenten Bruchstücken ein zusammenhangendes Wirklichkeitsganzes zu machen" (S. 84). Diese Transzendenz leistet nicht die Vorstellung, sondern allein das Urteil (S. 168 ff.) . Sie ist ,transzendente

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100 KAPITEL III

Geltung', die nicht im Vorstellen, sondern im Urteilen bejaht wird. Von den psychischen Akten selber ist der Gehalt des Urteils verschieden (S. 165). Das Erkennen geht nicht im Vorstellen auf (S. 363), sondern ist transzendente ,Idee` (im Sinne Kants als eine unendliche Aufgabe, ein Sollen, S. 365).

Steiner gliedert das Transzendenzproblem ebenfalls in drei Schichten. Die primären und sekundären Qualitäten sind ihm gleichrangig unmittelbar gegeben (bewusst-seinsimmanent bzw. in der Erfahrung ideell bestimmt), während Steiners ,Ortsda-tums`-Argument die räumliche Beziehung zwischen Qualität am Ding und Subjekt nur dem Objektbereich erster Stufe zuordnet, nicht dem zweiten psychologischen Subjekt-Objekt-Verhältnis. So ist Rickerts Auflösung vergleichbar, obwohl er vom Sub-jektbegriff ausgeht und Steiner negativ von dem zu widerlegenden Atombegriff. Auf der zweiten Stufe erkennen sowohl Steiner wie Rickert, dass das Innen-Außen-Verhältnis zur räumlichen Körperwelt gehört und nicht zur Relation von dem Raum und psycho-physischen Subjekt, sodass ein Reiz-Vorstellung-Idealismus hinfällig wird. Auch hier denkt Steiner immanent das zu widerlegende Argument zu Ende, während Rickert eine souveräne Begriffsanalyse ausführt. Zuletzt stimmt Steiner auf der dritten geis-tigen Stufe insofern mit Rickert überein, als beide sich fragen, was vom erkannten Subjekt in die Erkenntnis eingeht. Im Prinzip ist das Erkennen für beide dem Subjekt transzendent (wenn Steiner in unserer Darstellung dies auch nur für die Empfindung aufzeigte; vgl. dazu noch GA 4\42 und 60). Wie verschieden die systematischen Ansätze auch sind, die Gleichheiten erlauben den Schluss, dass Steiners philosophische Analyse sich in Bahnen bewegte, die im Neukantianismus zu vergleichbaren Resultaten führen sollten, wie sich bei Rickert konkret nachweisen läßt.

§ 3.4. Empirismus und Dialektik

Wir haben hier aber gesehen, wie Steiner die Brücke zu Goethe fand dadurch, dass er einige Grundvorstellungen der Physik auflöste sowohl durch einen Rekurs auf die ursprüngliche Erfahrung als auch durch das Aufzeigen des inneren Widerspruchs im transzendenten Atombegriff. Steiner hütet sich, seine Kritik als ein dialektisches Exerzitium zu präsentieren. Hegels Popularität war damals im Tiefstand. Eduard von Hartmann hatte ziemlich ungestraft die dialektische Methode als ,eine krankhafte Geis-tesverirrung' abstempeln können. Seine induktive Methode (,Empirie`) sollte die einzig mögliche für die Wissenschaften sein.90 Steiner wird dem Publikum mitteilen: „Ich bin

90 Über die dialektische Methode. Historisch-kritische Untersuchungen, Berlin 1868, Nachdruck Darmstadt 1969, S. 124 bzw. S. 111. Das Verhinderte übrigens nicht, dass Hartmann Hegels von der dialektischen Methode abtrennbare Resultate in der Logik und Geistesphilosophie anerkannte, da „Hegel [ ... ] wie jeder Denker ohne Ausnahme, lediglich durch Induction zu seinen Resultaten gelangt." (Mein Verhältnis zu Hegel in Philosophische Monatshefte, XXiV. Bd., 1888, S. 316-341, hier S. 317). Er stehe sogar keinem näher als Hegel (ebd., S. 340). Nur in der Naturphilosophie versagte Hegel die Induktion, weil es ihm dort gänzlich an der ,nötigen Vorbereitungen' fehle (ebd., S. 319). Die dialektische Naturphilosophie stand also am meisten im Verdacht, leere Spekulation zu sein.

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ERSTER ERKENNTNISBEGRIFF UND DIE KRITIK AM ATOMISMUS 101

zu meiner Weltansicht nicht allein durch das Studium Goethes oder etwa gar des Hege-lianismus gekommen. Ich ging von der mechanisch-naturalistischen Weltauffassung aus, erkannte aber, daß bei intensivem Denken dabei nicht stehengeblieben werden kann. Ich fand, streng nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrend, in dem objek-tiven Idealismus die einzig befriedigende Weltansicht." (GA 1\129). Steiner stellt hier seinen Gedankengang der naturwissenschaftlichen Methode gleich. Er hinterfragt die Voraussetzungen des Erfahrungsprinzips, stellt die Forderung einer Realerklärung der Erkenntnis auf, analysiert ihre Elemente und die Synthese derselben, prüft das Ergeb-nis an der aufgestellten Forderung, zeigt ferner den Widerspruch in der Vorstellung vom transzendenten Atom auf usw. Diese philosophische Methode ist in der Tat nicht grundverschieden von ,der` wissenschaftlichen Analyse im Allgemeinen (beide haben vornehmlich ein anderes Objekt), aber die vorsichtige ,Dialektik` in Steiners philoso-phischer Analyse müssen wir doch als Differenz zu ihr hervorheben. Mögen sie auch „durchlebt" sein (Steiner an Vischer), das Vorbild Hegels fehlte jedoch nicht. Mit einer Hegel'schen Wendung versucht Steiner zuletzt das aufgeworfene Grundproblem, wie die Objekte der Sinnenwelt das Ideelle darstellen, zu bewältigen. Erschöpft Steiners phi-losophische Methode sich in der Korrektur von widersprüchlichen Ansichten? Wie steht es dann um die ,Widerspruchslosigkeit` seiner Erkenntnistheorie, wenn ihr Grundbe-griff Hegels realem Widerspruch des Erkennens gleichkommt? Wir haben schon auf den freien und widersprüchlichen Gebrauch mehrerer Termini gewiesen. Diese Tatsa-che soll, gemäß unserem vorausgesetzten Interpretationsprinzip, nicht direkt als eine Widerlegung seiner Philosophie aufgefasst werden. Es sind vielmehr Andeutungen von den sprachlich unterschwelligen (keineswegs deswegen schon subluminalen) Denkbe-wegungen, die hiernach zu eruieren sind. Dieser Weg führt aber zunächst über Goethe.

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KAPITEL IV

Das Vorbild der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes

§ 4.1. Die Goethe-Interpretation und ihr Umfeld

§ 4.1.1. Stellungnahmen zu Steiners Interpretation

Als Steiner hervortrat mit der Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, versehen mit einem Kommentar in Kürschner Nationallitteratur, und mit den sechs

Bänden der Weimarer Sophien-Ausgabe (u. a. der ,Morphologie`, ,Mineralogie`, ,Meteo-rologie, und „Naturwissenschaft im Allgemeinen"),1 wurde ihm die Anerkennung zuteil, die wissenschaftliche Seite von Goethes Denken in seinem inneren Zusammen-hang dargestellt und als Grundlage dessen poetischen Schaffens aufgezeigt zu haben. In

den Philosophischen Monatsheften (Bd. XXII, 1886) erschien eine lobende Rezension von A. Harpf des ersten Bands der Kürschner-Ausgabe mit Steiners Kommentar zu Goethes ,Morphologie` (jetzt in GA 1): „Diese Ausgabe von Goethe's Aufsätzen über ,Bildung und Umbildung organischer Naturen' ist eine philosophische Errungenschaft, und es kann ihr in gleicher Hinsicht keine zweite ebenbürtig an die Seite gestellt werden. [ ... ] Was in Sonderheit Goethe's naturwissenschaftliche Schriften anlangt, so sind diessel-ben gleichwohl von den Philosophen eher verstanden worden, als von den Fachleuten, und so mag es kommen, dass auch die vorliegende Ausgabe mehr eine philosophisch durchdachte als bloss fachmäßige Würdigung der Verdienste Goethe's um die Organik enthält, nur dass diesselbe diesmal von einem Fachmanne ausgeht." Steiners Interpre-tation wurde also als philosophische Analyse eines naturwissenschaftlich Gebildeten gewürdigt. Zugleich galt seine Interpretation als nicht voreingenommen. E.A. Boucke: „Von älteren Behandlungen [von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, nament-lich der Farbenlehre] zeichnen sich die von R. Steiner (Goethes Weltanschauung und Einleitungen in Kürschners Ausgabe) und S. Kalischer [ ... ] durch Vorurteilslosigkeit

1 Die beide, wie gesagt, gut empfangen wurden. Vgl. § 2.4.

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104 KAPITEL IV

aus."2 In Steiners direkter Umgebung wurden seine Leistungen unterschiedlich gewer-tet. Schroer war natürlich glücklich mit dem Resultat,3 aber in dem Kreise um Eugenie della Grazie, namentlich durch Laurenz Müllner, wurde mit Skepsis auf seine Goethe-Interpretation reagiert (GA 28\129) .

Tragen wir der Lage Rechnung, in welcher die Rezeption der naturwissenschaftli-chen Arbeiten Goethes sich damals befand. Zwischen Haeckel und Du Bois Reymond, wohl zwei der bedeutendsten Naturforscher Deutschlands, war ein pro et contra zu Goethe entbrannt.4 Du Bois-Reymonds Berliner Rektoratsrede Goethe und kein Ende (1882) erklärte die Naturwissenschaft Goethes für „eine totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten", weil ihm die Bedeutung der mechanischen Kausalität völlig entgangen sei.5 Haeckel machte Goethe wegen seiner Morphologie zum Vorläu-fer Darwins, zum „Propheten des Darwinismus" (Steiner).6 Steiner meinte entdeckt zu haben, dass weder Haeckel noch diejenigen, die annahmen, Goethes Typus sei nichts weiter als ein allgemeiner Begriff im Sinne Platons,' Goethe recht verstanden haben: „Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung irgendeines positiven Standpunktes, rein aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, dass weder die eine noch die andere der erwähnten Richtungen [ ... ] seine Naturanschauung vollkommen richtig interpretiert hat." (GA 1\117) . Diese Auslegung war in der Tat ein gewisser Wendepunkt, der der Zeit eine neue Sicht auf Goe-the ermöglichte. H. Kindermann rechnet, im Rückblick über anderthalb Jahrhundert Goethe-Forschung, Steiners Kommentare „zu den wichtigsten Pioniertaten der Goe-theforschung".8 Steiner hat nämlich als einer der Ersten auf die zentrale Bedeutung der Metamorphosenlehre und Goethes besondere Geistesart („anschauende Urteilskraft”)

2 in Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage, Stuttgart 1907, S. 258, Anm. 3 In persönlicher Beziehung Verhielten ferner sich anerkennend die Philosophen Robert Hamerling und

Gideon Spicker, siehe Lindenberg (1997), Bd. 1, S. 128-130. 4 Harpf, Goethe's Erkenntnisprinzip, Philosophische Monatshefte XIX, 1883, S. 38. Harpf meinte schon,

der Streit sei auf erkenntnistheoretische Weise zu schlichten. Ebenso Steiner in Abschluß über Goethes morphologische Anschauungen (GA 1\116-120) und dem Abschnitt Ausgangspunkt in GA 2\15-22.

5 Siehe Manfred Wenzel, Goethe und Darwin, Goethes morphologische Schriften in ihrem naturwissen-schaftshistorischen Kontexte, Bochum 1982, 268-278. Steiners Kritik am Atomismus galt dieser mecha-nischen Kausalität des Atomismus eines Du Bois-Reymond wohl im Besonderen.

6 Dessen Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, Bd. 2, S. 160 und Anthropologie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1874, S. 71. Übrigens war dieser Streit Teil eines anderen über den Dualismus (Du Bois Reymond) und Monismus (Haeckel), der in aller Schärfe geführt wurde (siehe Haeckels Bericht dazu in Die Welträtsel, Volksausgabe 171-180. Taus., Stuttgart 1903, S. 74-75). Ähnlich wie Haeckel: F.A. Lange (Geschichte des Materialismus, 1866), L. Büchner (Vorlesungen über die Darwinsche Theorie, 1868), und David Friedrich Strauß (Der alte und neue Glauben, 1872). Siehe Wenzel (1982), S. 209-219, und 220-231.

7 Dies war prinzipieller gefasst als der Gegensatz zwischen Haeckel und Du-Bois Reymond. Es ist hier eher an die Stellungnahme Henry Potoniés mit Rekurs auf AleXander von Humboldt zu denken: Wenzel (1982), S. 304-306, oder an Otto Liebmanns Platonismus und Darwinismus, in: Philosophische Monatshefte, iX, 1873, S. 441-472: Der Typus Goethes sei platonische Idee.

8 Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1966, S. 68.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 105

gewiesen.9 Damit war er über den Gegensatz von Haeckel und Du Bois-Reymond hinausgegangen. Stephenson spricht einigermaßen übertrieben von „Rudolf Steiner's immensely influential formulation of Goethean perception as ,the awareness of the Idea in reality [as] the truly human communion'"10 (der Hinweis bezieht sich auf GA 1\69),

doch er trifft gerade den Punkt, wo Steiners idealistische Auslegung andererseits doch eine Sonderstellung einnahm."

Voraussetzungslos wollte Steiner Goethe zwar interpretieren, aber die vorangegan-gene philosophische Bildung am Idealismus leugnete er nicht und hielt sie sogar für notwendig für sein Ziel, „den philosophischen Kern zu erkennen, der in ihm [Goethe] lag, und davon ein Bild zu entwerfen. Wir halten für den richtigen Weg diese Aufgabe zu lösen, eine auf Grundlage der deutschen idealistischen Philosophie gewonnene Ide-enrichtung. [ ... ] Aus jener Philosophie wird sich eine Ansicht bilden lassen, als deren Konsequenz sich das ergibt, was Goethe dichterisch gestaltet, was er wissenschaftlich dargelegt hat" (GA 1\121-122). Diese idealistische Richtung ist meistens nicht mehr Horizont der jüngsten Diskussion über Goethes Naturauffassung, und das führt zur späteren Kritik an Steiners Interpretation. In der neuen ‚Phänomenologie der Natur` will Gernot Böhme die Metamorphosenlehre Goethes und seine Farbenlehre als ,struk-turalistische Phänomenologie' verstanden haben, die die Variation der Erscheinungen als Modifikationen eines Grundschemas versucht darzustellen.12 Dementsprechend sagt er von Steiner, dass er „in Anlehnung an Kant gemeint, im Urphänomen das Moment des Denkens stark machen zu müssen (Steiner, 1886/1960)" (der letztere Hinweis geht auf GA 2). Böhme macht geltend, wie Goethe im ersten Gespräch mit Schiller auf des-sen Erwiderung, das Urphänomen sei eigentlich eine Idee, antwortete: „Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe." (Glückliches Ereignis, GGA 39\177) . Goethe betont damit, so kritisiert Böhme, dass das Urphänomen (der Farbenlehre) durchaus Phänomen sei und sich als Farbe zeige.13 Falsch ist bei Böhme, dass in Glückliches Ereignis es sich um das Urphänomen handelte. Goethe zeichnete „mit manchen charakteristischen Federstrichen" eine „symbolische Pflanze" (GGA 39\177). Vielmehr noch hat Steiner sich hier nicht an Kant angelehnt, sondern — wie aus dem Zitat hervorging — an Fichte, Schelling und Hegel. Wichti-ger aber ist, dass Goethe selber sich schließlich ein philosophisches Selbstverständnis erwirbt,14 in dem er auf Seite der Idee tritt, aber auf eigentümliche Weise, ohne die Erfahrung als seine Erkenntnisquelle preiszugeben.

9 A. a. O., S. 65-68. 10 Goethe's Conception of Knowledge and Science, Edinburgh 1995, S. 29-30. 11 Wenzel (1982), S. 286, und: „Steiners Rezeption bleibt jedoch die Stimme eines Einzelnen" (S. 290).

Zuletzt auch auf Seite 502: „Insgesamt kann man Steiner einen Sonderstatus zuweisen". 12 Böhme et al. (1997), S. 31-32. 13 Ebd., S. 31. 14 „Nach diesem glücklichen Beginnen" fangen die letzten Abschnitte von Glückliches Ereignis an, „entwi-

ckelten sich im Verfolg eines zehnjährigen Umgangs die philosophischen Anlagen, inwiefern sie meine Natur enthielt, nach und nach" (GGA 39\178). Durch die Freundschaft mit Schiller, schreibt Goethe

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106 KAPITEL IV

Als Wenzel die Summe zieht aus Goethes naturwissenschaftlicher Bemühung,15 heißt es, die Farbenwelt und die grenzenlose Vielfalt in Flora und Fauna nötige zum Gebrauch eines Ordnungsmusters (Urphänomen und Typus), um die Vielfalt zu ver-stehen und auf ein Gesetz zurückzuführen.16 Sieht Steiner in Goethes empirischem Idealismus den Grund, weshalb es ihm gelang die Morphologie auf eine tiefere theore-tische Basis zu stellen, als Darwin dies vermochte mit seiner natural selection (GA 1\30-31,

104-106), betrachtet Wenzel die systematisierende Morphologie dagegen als Hemm-schuh für eine richtige Einsicht in die Tatsachen der Evolution. Nach Wenzel hat die Goethe'sche Morphologie, Haeckels Lobpreisungen an Goethes Adresse zum Trotz, die Evolutionistik eher nachteilig beeinflusst als gefördert,17 denn die Homologienfor-schung orientiert sich an der Gestalt. Ihre Systematik hätte doch nur Sinn, insofern sie Aufschlüsse geben würde über die Phylogenese. Nun dürfen Gestalthomologien nicht evolutionär gedeutet werden (eine „basale kategoriale Unlogik"), und damit sollte die ganze Goethe'sche Morphologie ihren Wert verlieren.18 Steiners Würdigung der Mor-phologie Goethes sei durch den Gang der Biologiegeschichte widerlegt.19 Nicht die

ferner in Einwirkung der neueren Philosophie, „gewöhnt' ich mich nach und nach an eine Sprache, die mir Völlig fremd gewesen" (GGA 39\185). Aber „seit Schillers Ableben hatte ich mich von aller Philosophie im stillen entfernt" (Tag- und Jahresheft 1817, GGA 30\229).

15 Goethes naturwissenschaftliche Studien — Gegenstände, Leitgedanken, Zeitbezug, in: Böhme et al. (1997), S. 44-63.

16 Also Urphänomen und Typus haben offensichtlich keinen ontologischen Eigenwert. 17 Wenzel (1982), S. 517. 18 Ebd., S. 509-517. Der neueren Biologie liege ein neues Paradigma zugrunde, in dem der Organismus

Verstanden wird als funktionelles und energiewandelndes System unter Heranziehung biomechani-schen und biochemischer Gesetzmäßigkeiten, für das die Bedeutung der Gestalt als solche zurücktritt (ebd., S. 510). Die Morphologie ist dennoch ein unentbehrliches Element der neueren synthetischen Biologie: vgl. A.C. LoVe Evolutionary Morphologie, Innovation and the Synthesis of Evolutionary and Developmental Biology, in Biology and Philosophy, 18. Jg., 2003, Nr. 2, S. 309-345, ein Plädoyer für die Morphologie im Rahmen einer evolutionären Entwicklungsbiologie (,evo-devo`). Die moderne Synthese ist präformiert in Haeckels Synthesis von Darwin und Goethe; vgl. U. Hoßfeld und L. Olsson, The Road from Haeckel: the Jena Tradition in Evolutionary Morphology and the Origins of ,Evo-Devo`, Biology and Philosophy, ebd., S. 285-307.

19 Wenzel (1982), S. 284. Das sagt natürlich noch nichts über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Steiners Interpretation Von Goethes Werk, die wir hier ausschließlich befragen. Die Ergebnisse Goethes haben sich jedoch zwei Jahrhunderte durchgeschlagen als Grundlage der Morphogenese: Vgl. D'Arcy Thomsons On Growth and Form, 2. Aufl. Cambridge 1942, das lange paradigmatisch bleiben sollte, und E.W. Sinnots The Problem of Organic Form, Yale UP-New Haven 1963 und dessen The Geometry of Life in Trends in Plant Morphogenesis, herausg. E. Cutter, London 1966, S. 88-93. Sinnot determinierte drei Grundstrukturen der botanischen Form: Polarität, Symmetrie und die Spiraltendenz um eine AXe, wovon die erste und letzte schon für Goethe Von entscheidender Bedeutung sind, wie auch die zweite als die ,Gestalt`. Der IntegrationsVersuch C.W. Wardlaws Essays on Form in Plants (London 1968) nannte Polarität, holistische Wirkung der Substanzen und Sequenzbildung als ausschlaggebende Faktoren. Eine gestaltorientierte und funktionelle Biologie im Goethe'schen Sinne wird in Nachfolge Steiners heute angestrebt u. a. von dem Biologen Wolfgang Schad et al., in: Goetheanistische Naturwissenschaft, 4 Bde., Stuttgart 1982-1985. Dagegen ist der Reduktionismus in der Biologie noch immer hauptsächlich Ideologie: „Für den biologischen Gegenstandsbereich gilt allerdings auch heute noch die Einsicht Goethes, dass sich ein Lebewesen zwar in seine Einzelteile zerlegen lässt, dass wir aber nicht in der Lage

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 107

Goethe'sche Typuslehre, sondern die Darwinistische Phylogenetik hat sich als konsti-tutive Theorie behauptet. Eine immanente Kritik Wenzels an Goethes Morphologie bezieht sich ferner auf den Typusbegriff selber. Er wirft ihm eine Unschärfe vor.20 Denn gerade das macht das Eigenartige dieses Begriffs aus, dass er in der Vergleichung mit den Sonderbildungen anschaulich und empirisch sein soll, aber zugleich in der Verknüp-fung und Vergleichung mehrerer Gebilde und Einzelbaupläne zum Allgemeinen und nur im Geiste erfassbaren Ganzen wird; eine Doppelperspektive also von Anblicken und Theoretisieren. Ein unscharfes Ordnungsmuster wäre damit der Typus. Sowohl bei Böhme als auch Wenzel ist der Status des Urphänomens und deshalb der Typus, wenn nicht schon problematisch, dann jedenfalls nicht eine Idee in Steiners Sinne. Damit sind wir an dem Grundnerv von Steiners Goethebild angelangt: der Bedeutung der Idee bei Goethe.

§ 4.1.2. Grundriss von Steiners Goethe-Interpretation

Die ,zentrale Entdeckung' Goethes ist nach Steiner die des Wesens des Organismus

(GA 1\9). Sie soll seine ganze Naturanschauung beleben. Im lebendigen Organismus wirkt in jedem seiner Organe das Ganze (GA 1\16). Das tote Nebeneinander der Glieder gibt deshalb über das Wesen des Organischen keinen Aufschluss ( „hat die Teile in der Hand. Fehlt, leider! nur das geistige Band") . Anfangs wurde diese Auffassung nicht gleich auf einzelne Organismen, sondern auf die ganze Welt angewendet (frühe Natur-mystik; GA 1\18).21 Durch praktischen Umgang mit der Natur in Weimar wurde Goethes Blick gerichtet auf die einzelnen Naturwesen. Steiner schreibt ferner dem Umgang mit Herder in Weimar einen großen Einfluss zu (deren gemeinsame Anschauung sich nie-dergeschlagen habe im ersten Teil von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte

der Menschheit, 1784; GA 1\46-48).22 Die Ideen Herders sind eine wichtige Belegstelle

sind, aus diesen Einzelteilen ein belebtes Ganzes zu konstruieren"; K. Köchy, Zwischen der ,Physik des

Organischen` und der ,Organisierung der Physik'. Überlegungen zu Gegenstand und Methode der Biologie,

in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, vol. 30 (1999), S. 59-85, hier S. 77.

20 Wenzel (1982), S. 110 und 156, und Wenzel (1997), S. 49-50. 21 Steiner interessierte hier nicht besonders die Hermetik und das Rosenkreutzertum bei dem jungen

Goethe. Vgl. z. B. E Koch Goethes Gedankenform, Berlin 1967, Kap. 1 und IIi, und R.C. Zimmermann,

Das Weltbild des jungen Goethe, München 1969. Steiner zu den alchemistischen Arbeiten des jungen Goethe (GA 1\18-19): „Doch bildet diese ans Mystische streifende Art der Weltbetrachtung nur eine Vorübergehende Episode in Goethes Entwicklung und weicht bald einer gesunderen und objektiVeren Vorstellungsweise". Steiner möchte Goethe Von der Philosophie, nicht Von der Mystik her interpretieren. W. Wieland übersieht dies in Goetheanismus und Anthroposophie. Eine Information, in Goethe Jahrbuch,

Bd. 102, Weimar 1992, S. 207-218. Wieland bringt einige Themen aus der Anthroposophie auf und fragt rhetorisch „Was hat das alles mit Goethe zu tun?" (S. 208). Will man aber Steiners Goethe-Interpretation Verständnis entgegenbringen, dann wird man nicht von der Esoterik Steiners, sondern Von seiner Philosophie (die auch für seine Anthroposophie grundlegend bleibt) her zuerst den Vergleich anstellen

müssen. 22 Goethe im Brief vom 8. Dezember 1783 an Knebel: „Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte,

wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben wir vorgestern zusammen

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108 KAPITEL IV

für die Entwicklung des Typusgedankens.23 In Italien geht Goethe die Identität der Pflanzenorgane auf: ein unmittelbarer Ausdruck des Bedingtseins der Teile durch das Ganze. Die Idee bestimmt die Variation und Aufeinanderfolge, die Metamorphose der Teile (GA 1\35). Der lebendige Begriff, der die Formen der Organe der Pflanze rückwärts und vorwärts verbindet, ist das wechselnde Ausdehnen und Zusammenziehen (als sol-che keine Folgen, sondern Ursachen für die Metamorphose; GA 1\37, 91-94) . Als die Metamorphose der Pflanze plastisch vor seinem Geiste stand, versuchte Goethe das-selbe Prinzip auf die übrige lebendige Natur anzuwenden.24 Im tierischen Organismus entdeckt Goethe die Metamorphose der Wirbelknochen zum Schädel und die Ent-wicklung durch die verschiedenen Baupläne der Tiere zum Menschen. Urpflanze und Urtier sind intuitive Begriffe, d. h. solche, worin das Besondere aus dem Allgemeinen entwickelt wird (GA 1\83), ebenso wie der umfassende Begriff ,Urorganismus`, oder der Typus. Der Typus ist als Entelechie in den realen Organismen tätig und bestimmend wirksam (GA 1\83-84). Von hier aus lässt sich das Unorganische bestimmen: Es weist in seinen Teilen eben nicht diese innere Einheit auf. Dessen Mannigfaltigkeit wird vom Begriff nur zusammengefasst, welcher Begriff als Gesetz nicht selber in Erscheinung tritt. Die Vorgänge im Unorganischen bilden daher nirgends eine abgeschlossene Reihe (GA 1\85-88). Es fehlt gleichsam die werdende Gestalt als uns unmittelbar gegenübertre-tende anschaubare Ganzheit. Aus den aufeinander folgenden Erscheinungen brauchen wir da erst die sich gegenseitig stützenden und tragenden Elemente begrifflich her-auszuschälen, die Urphänomene (zugleich die objektive Naturgesetze), und dann die anderen verwandten Erscheinungen von ihnen abzuleiten (GA 1\184-185). Das Ausein-anderlegen der Erscheinungen in ihre Grundelemente ist uns in den Phänomenen nicht unmittelbar gegeben. Wir sehen z. B. einen geworfenen Stein. Wir legen in der Mechanik gedanklich die Erscheinung auseinander in einer Kombination von den Stein und die Flugbahn bedingenden Faktoren: Impuls, Schwerkraft und Luftwiderstand. Im Versuch bringen wir die unterschiedlichen bedingenden Faktoren (variierend) selber zusammen (GA 1\185). In der Farbenlehre geht Goethe auf ähnliche Weise vor. Er stellt eine Reihe Versuche zusammen, die über das Urphänomen Aufschluss geben. In diesem erfassen wir geistig, dass die Farbe eine von Finsternis bewirkte Trübung des Lichtes oder vom Lichte im Trüben bewirkte Erhellung des Finstern sei. Was unserem Auge entgegentritt ist immer eine bestimmte Farbennuance. Unser Geist vermag diese Erscheinung in zwei geistige, aber reale, Entitäten auseinander zu legen: reines Licht und Nicht-Licht und ihre jeweiligen Zusammenhänge (GA 1\298). Aus dieser anschaulichen Idee eines

gelesen, sie sind köstlich. [ ... ] Welt und Naturgeschichte rast jetzt recht bei uns" (WA 6\224) und Frau von Stein an Knebel am 1. Mai 1784: „Herders neue Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren. [... ] Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen." (zit. in GA 1\26).

23 In der neueren Goethe-Forschung behauptet u. a. von Dorothea Kuhn in Versuch über die Modelle der Natur in der Goethezeit in: Typus und Metamorphose, Goethe-Studien, Marbach am Neckar 1988, S. 159-176, hier S. 168-169. Vgl. Koch (1967), Hauptstück In.

24 Goethe spricht aus, dass ihm die Methode, womit er die Pflanze behandelte, „als zuverlässiger Wegweiser diente" bei den übrigen organischen Naturen (GGA 39\183).

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Urphänomens werden dann andere Erscheinungen der Farbe abgeleitet. Eben weil das Erklären physischer Erscheinungen für Goethe nichts anderes heißen kann als vom Ver-stande hergestellte Zusammenhänge beobachten, muss Goethe jedem Atomismus oder mechanischen Materialismus, der über die Urphänomene hinaus noch eine Erklärung der Farbe sucht (Korpuskular- oder Undulationstheorie) entgegenhalten(GA 1\314): „Man suche nicht hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre."

Handelte Goethe in seiner Forschung früher eher ,unbewusst`, durch Schiller fing Goethe an, über seine Verfahrungsweise nachzudenken und teilte uns u. a. in an der Diskussion mit Schiller erworbenen Begriffen seine Denkweise mit (GA 1\108 und 223-224). Durch Schillers Einfluss entstand also der Wissenschaftsbegriffs Goethes. Anregungen erhielt Goethe dann auch von Schelling und Hegel, weniger von Fichte. Steiners Interpretation setzt im Allgemeinen jene idealistische Auffassung voraus, die er bei Schellings und namentlich Hegels Aufnahme Goethe'scher Ideen in ihrer Naturphilosophie begegnete. Wir werden in den nächsten Paragrafen gelegentlich auf diese Voraussetzung eingehen.

§ 4.1.3. Konkurrierende philosophische Interpretationen

Die Lage Steiners wird mehr noch als von dem Streit unter den Naturforschern (Du Bois-Reymond und Haeckel) bestimmt durch die damaligen philosophischen Deutung von Goethes Grundüberzeugungen.25 Hervorzuheben ist hier allerdings erstens Wil-helm Diltheys Aufsatz Goethe und die dichterische Fantasie von 1877. Dilthey zeigt wie Goethes dichterische Fantasie sein Fundament hat in der Erfahrung, in Selbsterlebtem, und wie sein wissenschaftliches Studium die Basis wurde für die spätere Dichtung. Als Grundprinzip formuliert Dilthey: „Das Wirken der Natur, die als ein ganzes in den Teilen sich auslebt, ist eins mit dem Verfahren des anschaulichen Denkens, das im Verhältnis des Ganzen zu den Teilen fortgeht."26 Dies ist in all seiner Abbreviatur

25 Goethe war den Philosophen meistens ,nur noch' der Nationaldichter, oftmals nach dem Schel-ling'schen Wort: „wenn irgendein Poem philosophisch heißen kann, dieses Prädikat Goethes Faust allein zugelegt werden muß", dessen ,innerliches, ideales Drama' das Volk Vereinigen konnte (Philoso-

phie der Kunst, sw 1/5,735) . Windelband: Kant (der Philosoph) und Goethe (der Dichter) sind „die beiden königlichen Geister", um die sich die andere gruppieren. „Sie sind die beiden Pole, um welche die ganze Bewegung der Geister sich dreht." (Die Geschichte der neueren Philosophie, Leizpig 1880, 6. Aufl. S. 187). Einen Kommentar zum Faust schrieben u. a. die Philosophen Friedrich Theodor Vischer und Kuno Fischer. Es fehlte übrigens in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht an philosophischen Qualifikationen für Goethe: Spinozist und Pantheist/Leibnizianer/Realist und Empiriker usw.; vgl. Harpf (1883), S. 1.

26 Das Erlebnis und die Dichtung, (in dem der Aufsatz aufgenommen wurde), 4. Aufl. Leipzig/Berlin 1913, S. 247. Dilthey betont mit neuem Akzent, dass Goethe „eine Auslegung des Daseins aus ihm selbst pflegte" (d. h. unabhängig der Religion und Metaphysik). Die ,Auslegung` vom Ganzen zum Teile fortschreitend, nennt auch Schiller: „Sie nehmen die ganze Natur zusammen um über das Einzelne Licht zu bekommen" (Brief an Goethe, 23. August 1794). Dies wurde, nach dem Vorbild der Dialektik Schleiermachers, zum Prinzip von Diltheys geisteswissenschaftlicher Methode, um Erlebtes nachzuerleben und zu Verstehen. Eine ,Zirkulation` mit doppelter Richtung Vom Teil zum Ganzen und rückwärts (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981, S. 176—

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doch Steiners Auslegung recht nahe, wenn auch erst Steiner im Einzelnen untersucht, wie Goethe als Naturforscher operierte. Direkten Bezug nimmt Steiner aber auf Adolf Harpf. Harpf wagte sich gleichzeitig daran, die philosophischen Grundprinzipien Goe-thes darzustellen. Er meinte, Goethe sei durchaus Relativist27 und opponierte gegen Helmholtz, der noch die Verwandtschaft mit Schellings und Hegels Naturphilosophie behauptete28 (Michelet im Vortwort der Ausgabe des naturphilosophischen Teils der ENZ von 1841: „Goethes Urphänomene sind die unmittelbar in der Erfahrung ange-schauten Ideen"; aus den Text geht hervor, dass Michelet hier sowohl die Farbenlehre als auch die Morphologie im Sinn hat) :29 „Die Wirklichkeit ist also für Goethe, um nochmals auf Helmholtz zu kommen, nicht der unmittelbare Ausdruck der Idee".30 Der Kern seiner Methode ist ihm der Versuch, damit wir das in den Sinnesqualitäten enthaltene rein Individuelle auf seinen generellen subjektiven (menschengebunde-nen) Gehalt zurückführen.31 Das Ergebnis sei, dass zwar die Erfahrung als Organ der Erkenntnis auftritt, aber darin eine subjektive Form der Auffassung steckt.32 Steiner sollte Harpfs subjektivistische Konklusion abweisen.33

Ferner gab es in den achtziger Jahren keine autoritative philosophische Interpreta-tion Goethes, mit der man sich unbedingt auseinanderzusetzen hätte. Es lagen einfach noch keine bedeutenden Studien vor.34 Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert,35

so konnte es aber keinen Einfluss mehr haben auf Steiners Philosophie und seinen ,Goetheanismus`.

177). Diese Deutungsstruktur sei überhaupt der geschichtliche ,Weltanschauungstypus` des ,objektiven Idealismus` (Vgl. §10.5).

27 Harpf (1883), S. 3. 28 A. a. O., S. B. 29 ENZ [B], S. XXVII.

30 Harpf (1883), S. 10. 31 A. a. O., S. 30. 32 A. a. O. S. 32. 33 So wie Harpf Steiners Auffassung ablehnte: Harpf (1886), S. 430. Harpf hat in Schopenhauer und

Goethe. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauer'schen Philosophie, in: Philosophische Monatshefte, XXI (1885-VIII), die These vertreten, dass Goethe das Wesentliche der Schopenhauer'schen Lehre ,vorgeahnt` und Schopenhauer in der Erkenntnistheorie zwar Kant, aber sonst Goethes urei-genste Ideen weiterentwickelt hat. Schopenhauers Philosophie sollte mithin die rechtmäßige Erbin der naturwissenschaftlichen Tätigkeit Goethes sein.

34 So stellt auch Vorländer um die Jahrhundertwende fest: Vorländer (1907), S. 121-123. Eine Ausnahme wie E. Caros La Philosophie de Goethe (Paris 1866) lag wahrscheinlich außerhalb von Steiners Gesichtskreis, da er, wenn überhaupt, nicht gerne Französisch las. Harpf (1883) lässt die Arbeit nicht von Bedeutung erscheinen (S. 1). Ernst Melzers Goethe's philosophische Entwicklung (Neisse 1884) ist nach Harpf nicht Viel mehr als eine wertVolle Materialsammlung (Philosophische Monatshefte, XXII, 1886, S. 392-294).

35 Kindermann macht in seinem Das Goethebild des 20. Jahrhunderts den Anfang im 19. Jh., aber die Quelle der Sekundarliteratur fängt erst im 20 Jh. wirklich zu fließen an. Dann aber auch in einer Fülle: „Was Alfred von Berger, Kalischer und Rudolf Steiner einst nur träumen konnten in ihrer Polemik gegen Du Bois-Reymonds Verächtlichmachungen des Naturforschers Goethe, reift nun auf vielen Linien." (a. a. O., S. 251).

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§ 4.1.4. Wiedergewinnung der idealistischen Interpretation

War die idealistische Goethe-Interpretation nur von einem Vorurteil beschwert oder von einer Hypothese, die bestätigt werden konnte? Eine allmähliche Bestätigung von Steiners Deutung der idealistischen Natur der Metamorphoselehre ging hervor aus der Biologie während des ,Vitalismus-Streits` (Driesch). Adolf Hansen (Prof. in der Botanik) machte den Anfang mit Goethes Metamorphose der Pflanzen (Giessen 1907). Hansen trat als Gegner einer idealistischen Deutung von Goethes Urblatt auf (tradiert von A. Braun: es sei eine platonische Idee).36 Das Urblatt ist nach Hansen einfach das grüne Laubblatt und die Metamorphose nicht eine ideelle, sondern eine reale, physische Umgestaltung, zusammengefasst in einem Schema:37 „Die Urpflanze ist nichts weiter als ein [ ... I Schema im Kantschen Sinne".38 Wilhelm Troll, gleichfalls Botaniker, trat dieser Auffassung entschieden entgegen und begründete die ,idealistische Morphologie' (Rádl u. a.) in Vergleichende Morphologie der höheren Pflanzen (Berlin 1935).39 Morphologie ist die Grundlage der Botanik. Die Phylogenese und auch die Darwinistische Anpassung setzten den Typus schon voraus, der die Einheit des Organismus bewahrt. Der Typus ist nicht ,Schema` (Hansen), sondern Idee.40 Es leitet keine äußere Methode zu dieser Idee. Der Typus ist jeweils das Ganze, das sich in Gestalten spezialisiert und in den einzelnen Gestalten ,gesehen` werden muss, denn Gestalt und Typus sind wesentlich in der Anschauung gegeben. Statt die Gestalt zu erklären, ist hier die Aufgabe die ,Ableitung` oder ,Herleitung` der Gestalt von dem Typus, der sie erst ,durchsichtig` macht.41 In Goethes morphologischer Auftrag, Versuch einer naturwissenschaftlichen Morphologie42

stellt er der Kausalursache die von Innen wirkende Gestaltursache zur Seite.43 Von

der Gestalt44 gelten besondere Gesetzmäßigkeiten: Die Gestalt hat keine Teile, hat

36 Diese Tradition in der Botanik ging zurück auf die Goethezeit, namentlich Nees von Esenbecks Handbuch der Botanik (Nürnberg, 1820-1821, 2 Bd). Vgl. GA 1\11, Anm.: Nees Von E. wird u. a. mit Carl GustaV Carus genannt als „Fortsetzer und Ausarbeiter Goethescher Ideen". Noch 1861 schrieb Carus Natur und Idee. Das Werdende und sein Gesetz. Eine philosophische Grundlage für die spezielle Naturwissenschaft (Wien) im Goethe'schen, idealistischen Stil.

37 A. a. O. S. 50-55, und 91-93. 38 A. a. O. S. 277. Vgl. der ,Schematismus der reinen Verstandesbegriffe' in KDRV.

39 Trolls Bemühungen um eine ,deutsche Wissenschaft` hat eine bedenklich enge nationalistische Signatur. Diese hat freilich keine Bedeutung für seine botanischen Ideen, denn beispielsweise die britische Arbeit Von Agnes Arbor, The Natural Philosophy of Plant Form (Cambridge 1950) kam über historische und botanische Überlegungen zu gleichen Ansichten.

40 Manfred Gädeke übt in Goethes Urpflanze und der ,Bauplan` der Morphologie (in: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Das Buch zur gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Bern zum 250. Gebuhrtsjahr Goethes, herausg. P. Heusser, Bern-Stuttgart-Wien 2000, S. 107-130) eine nicht ganz überzeugende Kritik an Troll. Letztere sollte auch nur ein „ideales Schema" im Sinn haben. Einen ausschlaggebenden Beweis dafür liefert Gädeke nicht.

41 A. a. O., S. 20.

42 Zusammen mit K. Lothar Wolf, 3. Aufl., Tübingen 1950. 43 Auch mit Ablehnung von Kants Meinung aus KDU, die ,Gestaltursache` (bei Kant: der Naturzweck) sei

keine reale, sondern nur eine regulative Idee. Sie ist zwar ideale Ursache, aber nicht weniger real (s. 30). 44 Nur meint Troll, auch ein Atom hat Gestalt usw., so dehnt sich der Begriff ,Gestalt` bei ihm sehr weit aus.

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nicht Menge, vermehrt sich durch Vervielfältigung ihrer selbst usw. Deshalb ist die Morphologie dem Wesen nach idealistisch.45

Auch von philosophischer Seite bemühte man sich gleichzeitig, die idealistische Grundlage von Goethes Naturanschauung aufzudecken. Auf breiten historischen Un-terbau stützt sich die Arbeit von Ewald Boucke zum dynamischen Weltanschauungs-typus: Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage. Ein Beitrag zur Geschichte der dynamischen Denkrichtung und Gegensatzlehre (Stuttgart 1907). Boucke, der positiv Bezug nimmt zu Steiner (S. 210), betrachtet Goethes Urform „nicht als eine Idee" im Sinne Kants: „Wenn das Reich der Noumena weltenfern und unerreichbar ist, so wächst Goethes Idee, d. h. die Urform einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen inmit-ten dieser Welt, in den Dingen." (S. 212). Nach Boucke stimmt Goethe hier überein mit dem konsequentesten Vertreter antiker dynamischer Naturphilosophie Aristoteles (S. 29-42). Innerhalb des Neukantianismus trat Elisabeth Rotten noch mit einer mehr platonisierenden Interpretation des Urphänomens und der Urpflanze hervor.46 Diese fand bald ein aristotelisches Gegengewicht in Georg Mischs Goethe, Platon, Kant, eine Kritik,47 der Simmel folgend, betonte, dass es bei Goethe immer um das Gewahrwerden der Idee immanent in der Erscheining geht.48 Auch Karl Schlechta brachte Goethes ,gegenstandsfromme Betrachtungsart` in direkte Beziehung zu Aristoteles.49 Man sah immer mehr die Distanz Goethes zu Kant.50

Das ausgleichende Endergebnis, Rechnung tragend den Entwicklungen der Biolo-gie, dürfen wir wohl in Ernst Cassirers Darstellung von Goethes naturwissenschaftli-

45 Freilich treibt er auch diesen Punkt zum EXtrem: Eine eigentliche phylogenetische Methode s0ll es nicht geben (S. 51).

46 Goethes Urphänomen und die platonische Idee, Gießen 1913. Ihre Interpretation war ausgegangen von Natorps Platos Ideenlehre (1903), die Grenze zwischen regulativer Idee und platonischer Idee Verwischend.

47 Logos y, 1914-1915, S. 276-289. 48 A. a. O., S. 285-286.

49 Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles, Frankfurt a. M. 1938, passim. 50 Vorländer (1907), der bestrebt ist, alle Äußerungen Goethes so nahe wie möglich an Kant heranzubrin-

gen, muss manchmal gestehen, dass Goethe mit einer „Weiterbildung eines kant'schen Gedankens ein bewußtes Hinausschreiten über die durch die kritische Philosophie ,unserem` Verstande gezogenen Grenzen" unternimmt (S. 225). Der Kritizismus sei „ein fremder Tropfen in Goethes Blut" gewesen (S. 258). Nachher hat man radikaler den Unterschied zwischen Kant und Goethe ausgesprochen. So empathisch Georg Simmel in Kant und Goethe, in: Allgemeine Zeitung, 1899, Nr. 125-127 (Vorländer (1907), S. 252-253) und in: Goethe, 1913 (vgl. Kindermann (1966), S. 79-84), und namentlich seinem Kant und Goethe: zur Geschichte der modernen Weltanschauung (Leipzig 1916), in dem Kant und G0ethe als Antipoden dargestellt werden. Ferner Hans Leisegang, Goethes Denken, Leipzig 1932. S. 10: womit Kant in seinem Alter endete, Haltmachen für das Abenteuer der Vernunft, damit fing der junge G0ethe an, und zwar nicht mit einer diskursiVen, sondern intuitiVen Denkweise (vgl. ebd., S. 38). Fritz-Joachim Von Rintelen am III. Internationalen Kantkongress 1972: „Goethe goes further than Kant. For him the reality of the Idea conforms with our intellect. Its inner essence reproduces itself outwardly and can be intuited directly as the result of eXperience" (Proceedings, Dordrecht 1972, S. 476). Zuletzt kontrastiert u. a. Schmidt (1984) Goethes objektiVen Idealismus mit Kants Kritizismus (ebd., S. 34-37, 47 und 111). Steiners Antwort an Vorländer, der Steiner wegen seiner These eines Gegensatzes von Kant und Goethe getadelt hatte, verkündet eine jetzt allgemeine Ansicht (GA 1\336-337).

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chen Arbeiten erkennen. In Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte (Berlin 1915) betrachtet er Goethe als Mittelpunkt nicht nur der literarischen Kultur, sondern eher noch als denjenigen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung seiner Zeit. Das Zentrale in Goethes Denken ist nach Cassirer die besondere Art, in der Goethe den allgemeinen Begriff bildet. Er ist ein konkret Allgemeines, in dem das Besondere seine Individualität bewahrt.51 Das Besondere wird nicht subsumiert unter das Allge-meine (Kants bestimmende Urteilskraft),52 sondern beide wechselseitig repräsentiert und ,symbolisiert`. Von diesem Punkte aus versteht Cassirer Goethes Verhältnis zur modernen Physik in Goethe und die mathematische Physik, eine Erkenntnistheoretische Betrachtung53 und zur Biologie im Kapitel Die Idee der Metamorphose und die ,idea-listische Morphologie`54 in seinem Das Erkenntnisproblem.55 Stets gibt Cassirer Goethes Morphologie den Vorrang über die Grundbegriffe der Farbenlehre, weil die ,fundamen-tal neue Form' im Verhältnis vom Besonderen und Allgemeinen vom ,Urphänomen des Lebens' ihren Ausgang nahm.56 Die Elemente der ,Theorie' „brauchen nicht selbst Teile und Stücke der unmittelbar uns umgebenden sinnlichen Erscheinungswelt zu sein; ja sie müssen [ ... ] über diese hinausliegen. Und doch gilt andererseits, daß wir nichts hinter den Phänomenen suchen dürfen, sondern daß ,sie selbst die Lehre` sind: sofern sie nämlich nicht in ihrer Vereinzelung, sondern in ihrem genetischen Zusammen-hang genommen werden."57 Mit der ,ideellen Grundform' der Pflanze verlassen wir nicht das Gebiet der Gestaltung überhaupt. In den stetigen Lebensreihen von Gestal-tung und Umgestaltung organischer Naturen wird sie „aus der Anschauung entwickelt und an ihr dargestellt",58 so fasst Cassirer das Grundprinzip zusammen. Angewen-det auf das Gebiet der Farberscheinungen heißt dies, dass wir die Phänomen- und Versuchsreihe der Farberscheinungen „selbst noch als Lebensphänomen, als Gesetz und Rhythmus des konkreten Gesamtlebens der Natur, anschauen und sie in diesem

51 MaXime199: „Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besondern zu fügen". Cassirer nimmt keinen Bezug auf Hegels Ansicht des Begriffes als des konkret Allgemeinen. Nach Hegel ist aber in dem wahren Begriff Vom Allgemeinen das Besondere nicht etwas dem Allgemeinen Fremdes. Der (formale) Begriff entwickelt sich als Einheit vom Allgemeinen und Besonderen zum Einzelnen. Es ist ,die niedrigste Vorstellung' Vom Allgemeinen, es als ein bloß Gemeinschaftliches (nach zusammenfassenden Merkmalen, wie der empirische Begriff bei Kant) zu betrachten (WDL II\300). In dieser Form ist das Allgemeine nur abstrakte Vorstellung und nicht nur v0m Sinnlichem, sondern eben gerade auch Vom dialektischen Begriffe abstrahiert (ENZ § 164). Diese k0nkrete Allgemeinheit Hegels ist möglicherweise gar nicht von Cassirer direkt gemeint (Vielleicht wegen seiner neukantianistischen Distanz zu Hegel), aber entspricht der angegebenen Struktur. Vgl. ENZ § 55 über den anschauenden Verstand und das Prinzip der Idee.

52 Vgl. unten Anm.109 über Hegels Bemerkungen zur KDU.

53 In: Idee und Gestalt, 2. Aufl., reprint Darmstadt 1971, S. 33-80. 54 Cassirer (1971), 4. Bd, 2. Buch, 2. Kap., S. 145-157. 55 Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, IV. Band, Von Hegels Tod

bis zur Gegenwart, Berlin 1920, Neuaufl. Hildesheim-New York 1973, 145-157. 56 Cassirer (1971a), S. 48. 57 A. a. O. 58 A. a. O., S. 49.

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Anschauen innerlich aneignen zu können".59 Auch die mathematische Physik versucht die Isolierung der Einzelanschauung zu überwinden durch eine durchgängige reihen-mäßige Verknüpfung der Erscheinungen (mit Hinweis auf Mach und Max Planck) so ist doch die scharfe Trennung mit ihr, dass die Physik dabei die Erscheinungen in Zahlen umsetzt, während Goethe sie im Sehen unverwandelt hinnimmt. Die Physik erfasst die gedanklich-strenge Einheit in Gleichungssystemen und Funktionsbeziehun-gen bei verkümmerter Anschaulichkeit: „Die mathematische Formel geht darauf aus, die Erscheinungen berechenbar, die Goethesche, sie vollständig sichtbar zu machen. Alle Gegensätze zwischen Goethe und der Mathematik erklären sich aus diesem einen Punkte heraus".,60,61 Es war nach Cassirer das Verdienst Goethes, in der Biologie die geometrische Starrheit des Typus (Cuviers und de Candolles) dynamisiert zu haben durch den Metamorphosegedanken.62 Es herrscht eine reine Wechselbestimmung vom Allgemeinen und Besonderen, von Idee und Erfahrung. Goethes ,ideelle Denkweise' denkt nicht in ruhenden geometrischen Gestalten oder in Zahlenverhältnissen, sondern in ,Zeitgestalten`, und der Typus ist selber beweglich und ein „wahrer Proteus".63 Dieser ideellen Denkweise näherte sich die Biologie erst wieder in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts: Driesch (,Entelechie` als formbildende Kraft), von Uexküll (,Form`, ,Umwelt` und ,Planmäßigkeit`) und von Bertalanffy (phänomenale ,ganzheitliche Ordnung'),64

oder knüpfte direkt an ihr an: Naef (Idealistische Morphologie und Phylogenetik, Zur Methodik der systematischen Morphologie, Jena 1919), Meyer (Ideen und Ideale der bio-logische Erkenntnis, Leipzig 1934) und der schon erwähnte Troll, der auch mitarbeitete an der Leopoldiana Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes.65

Dorothea Kuhn, Mitherausgeberin der Leopoldiana, zieht, Cassirers Ausführun-gen entsprechend, die Summe aus einem Jahrhundert Goethe-Philologie: Typus „ist nicht Summierung von Merkmalen", sondern ihre Verarbeitung vom durchschauen-den Verstand, wenn „die waltende Idee das Vielfältige auf eine ursprüngliche Ein-heit zurückbezieht", ein „Sehen mit den Augen des Geistes" wie Goethe es nennt.66

59 A. a. O., S. 51. 60 A. a. O., S. 78. 61 Mit dem Gedanken, dass ihr beide ein ,eigentümlichen Blickpunkt` und anderes ,Auswahlprinzip`

zugrunde liegt, nimmt Cassirer den späteren Inkommensurabilitätsthese Feyerabends und Paradigma-prinzips Th. Kuhns Vorweg (wie Vor ihm Whewells frühere Theorie der ,induction`).

62 Cassirer (1973), passim. 63 Cassirer (1971), S. 155. 64 A. a. O., S. 204-205, 209-210, und 220-222.

65 In diese Phase gekommen tritt dann ein neuer Gegensatz in der Wertung von Goethes Naturideen auf. So behauptet Karl Jaspers in Unsere Zukunft und Goethe (Zürich 1948), Goethe habe zwar durch seine Morphologie und Farbenlehre „UnVerlierbares geleistet" und „die Wahrheit seiner Aufstellungen [ ... ] [habe] sich heute durchgesetzt", aber diese gesamte Erkenntnis habe mit der modernen Wissenschaft nichts zu tun (S. 19). Im gleichen Sinne Werner Heisenberg, Das Naturbild Goethes und die technische-naturwissenschaftliche Welt (1967), in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 29, S. 27-42, (vgl. Wenzel [1982], S. 470-473).

66 Kuhn (1988), S. 193-194.

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Diese abgekürzte Rezeptionsgeschichte dürfte hinreichen, um die Richtigkeit von Stei-ners Goethe-Interpretation — Urphänomen und Typus sind keine Schemata sondern Ideen -67 überhaupt zu belegen.68

§ 4.2. Steiner über Goethes wissenschaftliche Methode

§4.2.1. Allgemeines Prinzip der wissenschaftlichen Methode: der Weg zur Idee

Von dem idealistischen Ergebnis der Goethe'schen Wissenschaft leitet Steiner das Prin-zip der wissenschaftlichen Methode im Allgemeinen ab. Wenn die Idee das Wesen eines Gegenstandes ist, nur sich nicht unmittelbar an diesem zeigt, ist Wissenschaft die Aufgabe, die sinnliche Erscheinung zu durchdringen, und dem Wesen die ,Hülle` abzu-streifen: „In der Entfernung dieser Hülle besteht die wahre wissenschaftliche Methode" (GA 1\133) .69 Dieser objektivierenden Bestimmung stellt Steiner eine ganz allgemeine subjektgerichtete gegenüber: „Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint." (GA 1\167) .

67 Der ganz fehlschlagende Tiefpunkt der Kritik an Steiners Idealismus findet sich bei Herbert Lindner, Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, Weimar 1960, S. 14. Lindner, der Steiners Goethebild einen ,reinen Platonismus' zudichtet, glaubt, dass Steiner die wirkliche, spinozistisch-materialistisch gefärbte Weltanschauung Goethes auf dem Kopf stellt (ein später Wiederhall von MarX's Kritik an Hegel). Er hat vielleicht sein Pendant in Th. Kiernans Who's Who in the History of Philosophy (New York 1966), der glaubt Steiner einen ,evolutionary materialism' zudichten zu müssen

(S. 161). 68 Die noch immer sich ausdehnende Goethe-Literatur setzt fortwährend neue Akzente. Ein radikal-neues

Goethe-Bild, das zur ReVision unserer Interpretation nötigte, ergibt sich jedoch nicht mehr. Vgl. Géra von Molnar, Goethes Kantstudien, Weimar 1994, eine gewissenhafte Quellenstudie nach der Kantlektüre Goethes. Ferner der Überblick von Monika Fick, Goethes Naturbegriff Neue Publikationen, in: Philoso-

phische Rundschau, Bd. 48, 2001, S. 49-68. Neues gibt es über die Parallelen Von Goethes Naturbegriff und den Realitätsbegriff der Quantentheorie, ebd., S. 68. Der Physiker J. Verhulst argumentiert in Der Glanz von Kopenhagen, Geistige Perspektive der modernen Physik, Stuttgart 1994, dass die Physik sich vom klassisch mechanischen Determinismus und Materialismus in die Richtung Von Steiners Goe-theanismus bewege. Es sind nicht mehr die klassischen Objekte (Atome, Photonen, usw.), sondern die „Elementarphänomene/Quantenphänomene" (Bohr), die die eigentlichen Bausteine der objektiven physischen Wirklichkeit darstellen (a. a. O. S. 173). Ursache dieses Umschwungs war die Widersprüch-lichkeit der Vorstellung der determinierten, unterschiedenen und ortsgebunden Teilchen im Gas und in den QuanteneXperimente. Siehe auch S. 20-25 über Bohr und Goethe. Über die künstlerische Nach-wirkung von Goethes Metamorphosenlehre siehe ferner Christa Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes; von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys, Weinheim 1990. Auf S. 69-79 eine darstellende Behandlung Von Steiners Auffassungen und auf S. 143-153 eine über den Von Steiner inspirierten Joseph Beuys (vgl. darüber die Dissertation Von Wolfgang Zumdick, Über das Denken bei JosephBeuys und Rudolf Steiner, Basel 1995). Lichtenstern insistiert auf der Aktualität von Goethes ErkenntnispraXis (a. a. O., S. 157).

69 Vgl. dazu Hegels Wortlaut: „Der wahrgenommene Stoff, wenn er durch Allgemeinheit bestimmt wird, bleibt nicht in seiner ersten empirischen Gestalt. Es wird der innere Gehalt des Wahrgenommenen mit Entfernung und Negation der Schale herausgehoben" (ENz §50).

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Dass Goethes Urphänomen und Typus nur Ideen sind, braucht wohl keinen aus-führlichen Beweis mehr (vgl. § 4.1.4). Wir weisen (stets mit unseren Kursivierungen) noch hin auf Erfahrung und Wissenschaft, wo Goethe das Verhältnis von Urphänomen und gemeinen Phänomenen näher zu bestimmen versucht. Die Phänomene sind „oft unbestimmt und schwankend, insofern sie erscheinen" (Phänomene nur als unmittel-bare Phänomene). Um „ein reines konstantes Phänomen zu erhalten" muss man aber viele „empirische Brüche" wegwerfen und „der Idee des reinen Phänomens aufopfern" (GGA 39\179). Auch die ,Urpflanze` und das ,Urtier` sind für Goethe letzten Endes Idee. In Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen (um 1795) spricht Goethe von den ,Gesetzen`, die der Bildung und Umbildung der Pflanze zugrunde liegen, und setzt die empirische Einheit der Pflanze, die wir mit Augen sehen, die ,ideale Einheit' der Pflanze entgegen: „wenn diese verschiedene Teile aus einem idealen Urkörper entsprungen und nach und nach in verschiedenen Stufen ausgebildet gedacht werden." (GGA 39\98). Goethe bezeugt zuletzt, dass er Herders mehr nach dem Sinnlichen neigendes ,Modell` zur Idee der Pflanze erhoben hat, „von dem beschränkten Begriff einer Urpflanze zum Begriff, und wenn man will, zur Idee einer gesetzlichen, gleichmäßigen, wenn nicht gleich gestalteten Bildung und Umbildung des Pflanzenlebens von der Wurzel bis zum Samen" (w II\13, 41, Paral. 43). Wenn er das Wort ,Gestalt` in der Morphologie (eine Wortbildung Goethes) einführt, mahnt er schon den Leser dabei „nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes zu denken" (Bildung und Umbildung Organischer Naturen, GGA 39\9). Die vergleichende Methode hat den Typus zum Forschungsziel: „so trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres" (GGA 39\14). In Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteo-logie (1795) schlägt Goethe vor, zur Erleichterung der vergleichenden Anatomie, der eine Norm und Folge von Grundsätzen fehlt, den anatomischen Typus zu entwickeln: „ein allgemeines Bild, worin die Gestalten sämtlicher Tiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschreibe" (LA 9\121). Kein einzelnes Tier kann dieser Vergeichskanon sein (keines ist Muster des Ganzen): „Die Erfahrung muß uns vorerst die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile verschieden sind. Die Idee muß über das Ganze walten und auf genetische Weise das allgemeine Bild abziehen" (LA 9\121).

Nur die Prämisse, dass die Idee real den einzelnen Organismus und die leblose Natur beherrscht, erklärt nach Steiner, dass Wissenschaft überhaupt möglich ist. Goethe gelangt zu „der allein befriedigenden Naturanschauung, welche die eine wahrhaft objektive Methode begründet. Wenn eine Theorie die Idee als etwas dem Objekte selbst Fremdes, bloß Subjektives betrachtet, so kann sie nicht behaupten wahrhaft objektiv zu sein, wenn sie sich nur überhaupt der Idee bedient. Goethe kann aber behaupten, nichts zu den Objekten hinzuzufügen, was nicht schon in ihnen selbst läge" (GA 1\110). Nun behauptete der Kantianismus der achtziger Jahre die Subjektivität des Ideellen. Steiner konnte eine philosophische Rechtfertigung deshalb nicht unterlassen, die er dann u. a. in dem Aufsatz Goethes Erkenntnistheorie und Wissen und Handeln im Lichte

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der Goetheschen Denkweise (beide in GA 1) darzustellen unternimmt und zuletzt in Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886; GA 2) in einem sich nicht mehr direkt auf Goethe beziehenden philosophischen Gedankengang erörtert hat.

Steiner weist erstens hin auf die Tatsache, dass das Denken und die Sinnesanschau-ung verschiedenen Inhalt haben: die Sinnesanschauung das Besondere in chaotischer, zunächst unverständlicher Vielheit; das Denken die allgemeinen Begriffe, die in diese Vielheit Ordnung hineinbringen (u. a. GA 1\147-148). Dadurch ist die Abbildungstheorie der Wahrheit eine unmögliche Annahme.70 Die Wahrheit wäre dann eine vollkommene Kongruenz von Begriff (Idee) und Anschauung, die wegen ihres Unterschiedes nicht bestehen kann (GA 1\151-154) . Der Begriff muss zweitens sich selber (,autarkisch`) im Elemente der Allgemeinheit seinen Inhalt geben: wie Goethes Urphänomene und der Typus (GA 1\144-145) . Dass die Sinneserfahrung den Begriff als ihr begriffliches Gegen-stück fordert, beweist für Steiner drittens, dass sie ihre Essenz nicht in der Besonderheit, sondern in der begrifflichen Allgemeinheit hat (GA 1\154) . Begriff und Anschauung ste-hen sich als „wesensgleiche, jedoch verschiedene Seiten der Welt" gegenüber (GA 1\154). Dieses Verhältnis werden wir näher analysieren anhand der vier Themen:

— Passivität und Aktivität; — Autarkie und Offenheit; — Verstand und Vernunft; — regulativ und konstitutiv.

§ 4.2.2. Passivität und Aktivität

Als Nächstes versucht Steiner zu erklären, warum wir von der unmittelbaren sinnlichen Anschauung nicht, vom Denken der Idee im Erkennen aber durchaus befriedigt werden (GA 1\160-163) . Die Sinneswahrnehmung gibt uns Gegenstände als etwas Fertiges (GA 1\160) . Wir stoßen auf Fremdes, an dessen Produktion wir nicht teilgenommen haben (jedenfalls nicht bewusst). Der Gedanke tritt anders im Bewusstsein auf. Es kommt nur zustande, wenn wir es aus der Wahrnehmungslosigkeit denkend aktiv heraufheben (GA 1\161). Der Gedanke erscheint als der Abschluss eines Prozesses, in dem wir mit unserer Tätigkeit aufgehen.71 Die Idee ist ferner auf sich selbst gebaut,

70 Sie wird auch jetzt, nachdem sie vom Positivismus und MarXismus im 20. Jahrhundert aufgegeben wurde, nicht mehr als philosophische Position verteidigt. Man spricht zuweilen Von einer underdeter-mination of theory by experience (Quine). Die Theorie geht immer über die unmittelbar überprüfba-ren Daten hinaus. Mithin kann die Theorie keine Abbildung Von ihnen sein. Andereseits gehen die phänomenalen Daten in die modernen Theorien mathematischer Natur nicht hinein. Die Theorie ,repräsentiere' lediglich die Struktur der Phänomene, nicht ihren Sinnesgehalt (der ,Strukturalismus`).

71 Bis zu diesem Punkt entspricht dies dem Unterschied Von Kants RezeptiVität der Sinnlichkeit und Spontaneität des Verstandes (KDRV B 75), der neuerdings in der zeitgenössischen Philosophie rehabili-tiert wurde: John McDowell, Mind and World, HarVard UP, 1994, 2. Aufl. 1996, 4. Druck 1998, S. 9-10

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und wir schöpfen die Gestaltung des Gedankens daher aus ihrem eigenen Prinzip und Zentrum. Deshalb sind Idee und Gedanke uns nicht weiter aufklärungsbedürftig72 (GA 1\163). Die Idee — als Ganzes — weist nicht mehr über sich hinaus, sodass wir bei ihr zugleich im Zentrum des Bildens und Werdens stehen. Wir werden mit ihr im Denken immer eins, sodass unsere subjektive Tätigkeit im Produzieren der Gedanken, zugleich objektiv sein kann. Das rührt nicht von der Organisation unseres Bewusstseins her, sondern von der Eigenart des Gedankens und der Idee selber (GA 1\163). Anders gesagt: Nur das Allgemeine befriedigt uns, weil wir es selber schaffen und deshalb intimer als irgendetwas anderes kennen und wegen des Umstandes, dass es uns zugleich dem Inhalt nach Aufschluss über sich selbst und über anderes gibt. Erkennen heißt in der Tat erschaffen, wie Schelling einmal sagte.73

Dieses Prinzip erweitern wir vom reinen Denken zur äußeren Erfahrung. Wenn ein Ding in den Horizont der Wahrnehmung tritt, bringt es unser Denken in Fluss, indem wir die Sinneswahrnehmung ebenso durchsichtig machen wollen wie den Gedanken. Wir arbeiten uns wieder vom Produkt zur Produktion empor74 (GA 1\161): „Daher muß der wissenschaftlichen Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst" (GA 1\162) . Mithin ist die Idee der „Kern der Welt, [ ... ] aus dem alles hervor-geht. Wir werden mit diesem Prinzipe eine Einheit, deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste ist, zugleich als das Subjektivste"75 (GA 1\163) . Eben dieses „Verhält-nis von Idee und Wirklichkeit sei im Goetheschen Forschen Tat" (GA 1\167) . So fordert bestimmt auch Goethe das ideelle Nachschaffen als Kennzeichen des Erkennens: „Wenn wir einen Gegenstand in allen seinen Teilen übersehen, recht fassen und ihn im Geiste wieder hervorbringen können, so dürfen wir sagen, daß wir ihn im eigentlichen und höhern Sinne anschauen, daß er uns angehöre, daß wir darüber eine gewisse Herr-schaft erlangen" (GGA 39\173).76 Die Erkennenden könnte man nach Goethe auch „die

und 71-78. Wichtig für Steiner war die Bedeutung dieses Unterschieds bei Fichte, wo der Gegensatz noch größere Bedeutung gewinnt. Vgl. dessen Neue Darstellung (1975), S. 18 [196] und dann Schellings Konstruktion durch den produktiVen Verstand.

72 Es ist dies selbstverständlich eine Idealisierung Von Steiner, denn sonst wäre behauptet, jeder Gedanke sei ohne weiteres klar und Verständlich, während die meisten Gedanken in ihren Beschränkung durchaus problematisch sind. Sie werden doch nur erklärt wieder durch andere Gedanken.

73 sw 1, 3\5. 74 Ein absichtlich an Schelling anlehnender Ausdruck. Vgl. (GA 1\226). 75 Die Idee als das ObjektiVste und SubjektiVste erinnert nun auch wieder an Hegel. „Insofern [ ... ] das

subjektive Denken unser eigenstes, innerliches Tun ist und der objektiVe Begriff der Dinge die Sache selbst ausmacht, so können wir aus jenem Tun nicht heraus sein, [ ... ] und eben sowenig können wir über die Natur der Dinge hinaus"; zweite Vorrede der WDL (1\25), an derer Ende die Idee sich zeigt als Einheit von ,subjektivem Begriffe' und ,ObjektiVität` (II-466) und zuletzt „das Konkreteste und Subjektivste": „die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält." (II-570).

76 Die unmittelbare Sinnesanschauung wäre also im uneigentlichen Sinne Anschauen. Die eigentliche jenes der anschauenden Urteilskraft, oder, was dasselbe ist, des Von Goethe umgedeuteten ,intuitiven Verstandes' Kants.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 119

Erschaffenden" nennen (GGA 39\96). Es ist deshalb auch mehr als eine bloße Rede-

weise Goethes ganz am Ende der Farbenlehre, dass die geistig-ideelle Betrachtung der dynamischen Farbenkreise uns gewiß in „eine geheimnisvolle Anschauung" versetzt, wobei man sich „kaum enthalten" könne, bei der Entstehung des Grünen und des Roten aus dem Gegensatz des Blauen und Gelben „dort an die irdischen, hier an die himmlischen Ausgeburten der Elohim zu gedenken": (FL § 919) . Man hat sich ja von den Produkten (Farben) zur „geistigen Teilnahme an ihren Produktionen"77 erhoben,

ihre ideelle Dynamik also im Geiste wieder nachgeschaffen. Auch Schelling suchte im Naturerkennen die von Kant gezogenen Grenzen zu über-

schreiten.78 Sein Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) und Einleitung

zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) stellen den Versuch dar, die totale Natur zu konstruieren aus der absoluten Produktivität des Verstandes, gleichsam dem dynamisierten ,intuitiven Verstand' Kants. Dieses Wissen ist für Schelling ohne anschauliche Erfahrung nicht möglich. Sie wird a priori dadurch, dass die durch die Empirie gewonnenen ,ursprünglichen Phänomene' (wohl auch zu lesen als die ,Urphä-nomene`)79 als notwendige in der systematischen Konstruktion der Natur erkannt wer-den. Die absolute Produktivität erlöscht nicht beim Produkt, sondern gestaltet es um, sodass es erscheint „als in unendlicher Metamorphose begriffen. [ ... ] Diese wird nicht regellos geschehen können. [ ... ] Diese Regelmäßigkeit wird sich durch nichts anderes als eine innere Verwandtschaft der Gestalten ausdrücken, welche Verwandtschaft wieder nicht denkbar ist ohne einen Grundtypus, der allen zu Grunde liegt".80 Alle Gestaltung ist

dabei bedingt durch die Dualität (den ,tieferen Sinn' von Kants Konstruktion der Mate-rie aus Attraktiv- und Repulsivkräfte). Schelling fordert eine a posteriori Apriorisierung der Natur und zwar in Anlehnung an Goethes Metamorphosen- und Farbenlehre.81

Damit nimmt Schelling Steiners Interpretation von Goethe insofern voraus, als er zum Erkennen der Natur einen produktiv-intuitiven Begriff vorschreibt.82

Das Entscheidende in dem Gedankengang Steiners ist bis dahin indessen die Beto-nung der Autonomie und Autarkie der Idee. Begreifen ist überhaupt für ihn nur unter

77 Anschauende Urteilskraft, GGA 39\186. 78 Alfred Schmidt Goethes herrlich leuchtende Natur (Wien 1984) behandelt, u. a. in den Spuren Von Georg

Lukács (Goethe und seine Zeit, Berlin 1953; vgl Schmidt, S. 74 und 78), ausführlich das Verhältnis Von Schelling und Goethe unter Hervorhebung ihrer beider gemeinsamen empirischen Einstellung (a. a. O., S.111-135). Schelling lieferte das ,wissenschaftlich-philosophische GrundVokabular' (a. a. O., S. 124). Die Bedeutung seiner Naturphilosophie für Goethe sei schwer zu überschätzen (a. a. O., S. 133).

79 So Steiner: GA 1\283. 80 Einleitung 1799, sw I, 3\300-301. 81 Einzelne Belegstellen finden sich bei K.J. Grün, Das Blatt, der verschlungene Zug der Seele. Schellings

philosophische Umgestaltung von Goethes ,Metamorphose`, in Philosophisches Jahrbuch, 106 Jg. (1999), 1. Bd., S. 85-99.

82 Das Vermögen, das Allgemeine im Besonderen zu lebendiger Einheit Vereinigt zu sehen, nennt Schelling in Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie intellektuelle Anschauung: „Die Pflanze in der Pflanze, das Organ im Organ und mit einem Wort den Begriff oder die Indifferenz in der Differenz zu sehen, ist nur durch intellektuelle Anschauung möglich." (sw 1,4\ S. 362). Mithin meint Schelling, Goethes Urpflanze sei erfasst in einer intellektuellen Anschauung.

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120 KAPITEL IV

der Voraussetzung möglich, dass wir dabei wissen was wir tun. Diese Aktivität des Machens und das Wissen der Begriffe ist ein und dasselbe, denn hätten wir den Begriff und stände die Erklärung seines Inhalts noch aus, so gäbe es überhaupt kein Begreifen und Verstehen. Womit sollten wir den Begriff denn begreifen, wenn nicht mit seinem Begriff selber?

§ 4.2.3. Autarkie und Offenheit

Nimmt der Begriff oder die Idee das Qualitative der Sinneserfahrung in sich auf? Diese Frage führt zuweilen zu widersprüchlichen Formulierungen, wie in Goethe gegen den Atomismus (GA 1\302-329), wo Steiner Oswalds Energiebegriff gegen Wundts älteren ,Substratbegriff verteidigt. Wundt hielt Oswalds Begriff für unmöglich, weil er einen anschaulichen und begrifflichen Bestandteil besitze: „Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß jeder Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit bezieht, notwendig einen anschaulichen und eine begrifflichen Bestandteil enthalten muß. Der Begriff ,Steinsalzwürfel` hat doch den anschaulichen Bestandteil des sinnlich wahrnehmbaren Steinsalzes und den anderen rein begrifflichen, den die Stereometrie feststellt." (GA 1\326) . Man kann schon zweifeln, ob Steiner das Paradoxe des Ausdrucks beabsichtigte: ein Begriff, der aus zwei Teilen bestehe, nämlich einem begrifflichen und einem nicht-begrifflichen. Anders gesagt: Der empirische Begriff sei Begriff und Nicht-Begriff zugleich. Begriffe können jedenfalls, seiner Ansicht nach, das Anschauliche als ein ,nicht-rein begriffliches` in sich aufnehmen.83

Wir sind hier wieder an dem Punkt angelangt, wo im vorigen Paragrafen die Analyse stockte, wie Anschauen und Denken, und Phänomen und Begriff ineinander übergehen. Es ist dies derselbe Punkt, wo das L-Manuskript abbrach: Wie kommt der objektive Gehalt des Nicht-Ich (Objekt) ins Ich (Subjekt) herein? Goethe hat in Bedenken und Ergeben diesen Punkt bezeichnet als „der unaufgelöste Wiederstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem", der den Verstand „in eine Art Wahnsinn ver-setzten" lässt (GGA 39\181). Im bekannten Jenenser Gespräch hatte Goethe versucht, Schiller gegenüber geltend zu machen, dass seine ,symbolische Pflanze' zwar eine Idee, aber aus der Erfahrung gewonnen war (Glückliches Ereignis, GGA 39\174-178). In Bedenken und Ergeben zeigt Goethe, dass er die philosophische Pointe verstanden hat ( „endlich finden wir bei redlich fortgesetzten Bemühungen, daß der Philosoph wohl möchte Recht haben, welcher behauptet, daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere", GGA 39\180),84 und „flüchtet" ironisch „in die Sphäre der Dichtkunst". Steiner bemerkt, dass hier ein Problem berührt wird, „welches zu den bedeutsamsten des menschlichen Forschens überhaupt gehört: das Problems des Zusammenhangs von

83 Übrigens gemäß der Definition Kants vom empirischen Begriff: ein Begriff heißt „empirisch, wenn Empfindung [...1 darin enthalten ist" (KDRV B 74). Vgl. McDowell (1998): über ,the unboundedness of the conceptual' (S. 24 ff.).

84 Gemeint is Kant, vgl.: KDRV B 367-368, B 377 und B 670-673. Zu dieser Stelle: Vorländer (1907), S. 225.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 121

Idee und Wirklichkeit, von Denken und Erfahrung" (GA 1\108), und unterstellt Goethe eine klassische Ansicht dieses Verhältnisses, die er philosopisch in Kürze analysiert.85

Goethe sollte klar geworden sein, dass kein empirisches Objekt seinem Typus vollkommen entspricht. Deshalb ist dann auch die Idee nicht aus der Sinnenwelt, wohl aber an derselben gewonnen (GA 1\108).86 Dass Goethe trotzdem für die Rechte der Erfahrung eintrat, illustriert Steiner mit dessen Brief an Sömmering vom 28. August 1796. Goethe wirft Sömmering vor, sich zu viel mit den Philosophen eingelassen und nicht an der Darstellung der Natur festgehalten zu haben.87 Steiner zu diesem Briefe: „Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung habe keine Berechtigung, wenn sie über diese hinausginge, wenn sie nicht im Wesen der Objekte selbst begründet ist. Bei Objekten der Erfahrung sei die Idee ein Organ, das als notwendigen Zusammenhang zu fassen, was sonst im blinden Neben- und Nacheinander bloß wahrgenommen würde." (GA 1\109) . Goethe sagt aber: „Eine Idee über die Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ,88 dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen. Die Idee kann bequem sein [ ... ] , aber es läßt sich nach meiner Vorstellungsart nur sehr schwer, und vielleicht gar nicht beweisen, daß sie wirklich mit den Objekten übereinkomme und mit ihnen zusammentreffen müsse" (GB 3\209) . Goethe traut sich hier nicht ohne weiteres zu schließen, dass die Idee, wenn sie nicht mit den Gegenständen der Erfahrung ,kongruiere', doch ihr Wesen enthält. Aus dem Denken entsprungen mag sie zuweilen auch unrichtig sein, und wenn die Kongruenz nicht den empirischen Beweis liefern kann, wie sollten wir sicher wissen, dass wir die objektiv-richtige Idee erfasst haben? Dieser Zweifel Goethes ist, wie gesagt, nicht sein letztes Wort, weil er Goethe weiter nicht daran hindern konnte, „das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen" (GGA 39\186). Goethe will letztendlich nicht „die Erfahrung der Idee entgegensetzen, wir gewöhnen uns vielmehr, die Idee in der Erfahrung aufzusuchen, überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre".89 Goethe ist der Zusammenhang mit der Erfahrung zuletzt das Wichtigste: „Vom Absoluten im theoretischen Sinne wag' ich nicht zu reden", aber er hält aufrecht „daß, wer es in der Erfahrung anerkennt und immer im Auge behalten kann, sehr großen Gewinn davon erfahren wird" (Sprüche in Prosa, Nr. 344 nach

85 Eduard May schließt u. a. aus dieser Stelle, dass Goethe sich des ,methodologischen Fundamentalpro-blems` bewusst war, dass die Idee des reinen Phänomens „als echte Idee" kein reales Phänomen restlos deckt, und deshalb immer die Frage besteht, wie man die Idee gegenüber der Erfahrung handhaben soll; Erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtungen zur Naturforschung Goethes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 1949, nr. 3, S. 501-511, hier S. 510 f.

86 Vgl. KDRV, Einleitung nach Ausgabe 1787: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung" (Bi). Goethe bejaht diese Formulierung Kants in Einwirkung der neuern Philosophie (GGA 39\183).

87 Goethes Briefe, herausg. Von Ed. Von der Hellen, Stuttgart und Berlin (Cotta) 1940, Nr. 729, 3. Band, S. 209-211. Hiernach zitiert als ,GB`-Band\Seite.

88 Vgl. auch Goethes Aussage: „Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf (GGA 39\187).

89 Schriften zur Biologie, herausg. Von K. Dietzfelbinger, München 1982, S. 47. Zit. in Schmidt (1984), S. 33.

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122 KAPITEL IV

Loeper).90 Steiner unterdrückt das Zaudern Goethes mit nahezu gleichem idealisti-schem Pathos, womit Hegel die fehlende Kongruenz beseitigt: „Wenn [ ... ] die Idee darum den Wert der Wahrheit nicht haben soll, weil sie in Ansehung der Erscheinun-gen transzendent ist, weil ihr kein kongruierender Gegenstand in der Sinnenwelt gege-ben werden könne, so ist dies ein sonderbarer Mißverstand, indem die Idee deswegen objektive Gültigkeit abgesprochen wird, weil ihr dasjenige fehle, was die Erscheinung, das unwahre Sein der objektiven Welt ausmacht." (WDL H\463). Steiner: „Daß sie [die Prinzipien] für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig." (GA 1\156) . Mag es für den Inhalt gleichgültig sein, über ihre Wahrheit ist damit noch nichts entschieden. Wie Steiner eben die objektiven Begriffe (Ideen) unterscheiden will von den nur subjektiven, und an ,ihrem Inhalt` die Wahrheit und Objektivität verbürgt sieht, wäre noch nicht abgemacht mit der Anerken-nung, dass Ideen die Sinneserfahrung schlechthin übersteigen.91 Die Sinneserfahrung kann nicht nur Anlass für selbstproduzierten Begriffe und Ideen sein. Es muss auch eine inhaltliche Beziehung zwischen Begriff und Sinneserscheinung geben, wenn Goethe die Idee nur in der Erscheinung und nicht in der Theorie anerkennen will. Steiner nimmt einerseits an, die Autarkie verhindere nicht, dass der Begriff sinnliche Qualitäten in sich aufnimmt. Der Begriff hat also eine Offenheit hinsichtlich der Sinnesqualitäten. Zweitens bezieht der Begriff sich auf ihr ,Was`, stiftet Identität in den Sinneserschei-nungen und schließt sie eigenmächtig zusammen. Diese synthetische Funktion ordnet er nicht jedem Begriff zu, sondern namentlich den Ideen der Vernunft. Vom Begriff und der Idee müssen wir uns erst hinwenden zu den mit ihnen korrespondierenden Arten des Denkens: ,Verstand` und ,Vernunft`.

§ 4.2.4. Verstand und Vernunft

Beide werden von Goethe unterschieden, sei es nicht immer mit klar gefassten Merkma-len, und um so häufiger nach seinem Kantstudium, dem er den Unterschied ,zu seinem Hausgebrauch` entlehnte. Goethe ordnet, in Nachfolge Kants,92 dem Verstand den Begriff zu und der Vernunft die Idee: „Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, diese zu erfassen Vernunft erfordert" (Sprüche in Prosa, Nr. 1016 [nach Loeper] ). Was in diesem Zusammenhang aber ,Summe` und ,Resultat` heißt, ist nicht recht klar. Goethe erweitert den Gegensatz zu einer Vierheit in Polarität: „Dualität der Erscheinung als Gegensatz: [ ... ] Sinnlichkeit und Vernunft/Phantasie und Verstand [ ...] " ..]" (GGA 39\173-174) . Der Sinn dieser Zusammenstellung ist wohl,

90 Vorländer gesteht, dass diese Aussage nicht im Sinne Kants kritischer Methode gemeint ist; Vorländer (1907), S. 251.

91 Dies war ja der Punkt Kants, weshalb er den Ideen nur einen regulativen Gebrauch zugesteht (KDRV,

B 672).

92 Kant: Der Verstand ist das Vermögen der Begriffe, die Vernunft das Vermögen des logischen Schließens. Jene bringt in den logischen Urteilsformen die Kategorien hervor, diese aus dem Prinzip des Schließens die Vernunftbegriffe oder Ideen. Vgl. KDRV B 355 und 378, wie unser § 3.1.

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subjektiv

Vernunft

,Verstandesvernunft`

Synthese

l

Verstand

Fantasie

i

/

Analyse

,Exakte sinnliche Fantasie

N

Sinnlichkeit

DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 123

dass jene die objektiven Elemente (Idee und Erscheinung), diese die subjektiven des Erkennens seien. Dieser Vierheit unterlegt Goethe eine Kritik an Kants Philosophie, worin wohl Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft aufgeführt, aber die Fantasie vergessen sein soll.93 Er bemerkt später seinen Irrtum über Kants Vermögenslehre und zählt in der Rezension von Ernst Stiedenroths Psychologie von 1824 die Vierheit auf: „Sinnlich-keit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand" (GGA 39\191). Doch ist das innere Verhältnis der Vierheit sein eigenes: Der Verstand sondert und verteilt, die Vernunft fasst alles zusammen, die Fantasie suppliert die Sinnlichkeit, legt dem Verstand die Welt-Anschauung vor und bildet Gestalten zu den Vernunftideen.94 Sie wirken alle zusammen und ineinander. In der Rezension heißt es ferner, dass „alles gleiche Rechte an einen gemeinsamen Mittelpunkt fordert", und so gibt es ebenso sehr eine ,Verstan-desvernunft` in den exakten Wissenschaften, wie eine exakte ,sinnliche Fantasie` in der Kunst.95 Die Wissenschaft braucht zur Synthesis der Erfahrung beide.

Die Vierheit ist, wenn die Kräfte ineinander spielen, ein ,abgeschlossener` und ,unendlicher Kreis`,96 was wir folgendermaßen illustrieren können:

objektiv

Analyse und Synthese: „nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft" (Analyse und Synthese, GGA 39\194). Ist die Analyse mehr eine Beziehung von Verstand und Sinnlichkeit, so ermöglicht die Fantasie der Vernunft die umfassende Sicht auf die Phänomene. Goethe ist ganz ausgesprochener Meinung über die wissenschaftliche Bedeutung der exakten Fantasie, namentlich in dem Versuch zur Methode der Botanik Ordnung des Unternehmens (LA lo\13o). Die Menschen, sagt Goethe dort, kann man zur „heiteren Aussicht" wegen ihrer Weise des Befragens der Natur einteilen in „Nutzende/Wissende/Anschauende und/Umfassende". Die Nutzen-den ergreifen das Praktische. Die Wissbegierigen „bedürfen eines ruhigen uneigennütz-

93 Goethe-Jahrbuch 1898, S. 39 f. Das Blatt von 1817, um das sich handelt, war Steiner wahrscheinlich nicht bekannt, als er seinen Goethe-Kommentare schrieb. Siehe ferner Vorländer (1907), S. 212-216.

94 Goethe-Jahrbuch 1898, S. 39-4o. 95 Sie hat von der Sinnlichkeit gewissen Gestalten bekommen, wird von dem Verstand geregelt und durch

die Ideen der Vernunft gesichert (a. a. 1o.). 96 A. a. O.

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lichen Blickes einer neugierigen Unruhe eines klaren Verstands". Die Anschauenden „verhalten sich produktiv und das Wissen indem es sich steigert fordert ohne es zu bemerken das Anschauen und geht darin über, und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen so müssen sie doch ehe sie sichs versehen die produktive Einbildungskraft zu Hülfe rufen." Die Umfassenden, oder die „Erschaf-fenden", gehen von den Ideen aus und „es ist gewissermaßen nachher Sache der Natur sich in diese Idee zu fügen".97 Der Aufstieg zur Idee (Methode) geht nach Goethe also von den Sinnen über den Verstand (Begriff) und produktive Einbildungskraft (Fan-tasie) zur Vernunft (Idee). Die vier angedeuteten Menschentypen entsprechen jeweils der Präponderanz einer der vier Erkenntniskräfte. Über die ,Imaginationen` seiner ,produktiven Einbildungskraft' hat Goethe sich beiläufig geäußert in Das Sehen in subjektiver Hinsicht (GGA 39\205).98

Steiner war sich indessen bewusst, dass es zwei Grundelemente gab in Goethes Geist, die seine Weltanschauung bestimmt haben: einerseits „den Glauben an die Idee" (GA 1\213), und andererseits seinen „plastischen Sinn" (GA 78\76) . In seinen ersten Goethe-Kommentaren, die entstanden sind in den Wiener Jahren (bis 1889), tritt dieser letztere Aspekt zurück hinter den ersten. Erst während seiner ersten Reise nach Weimar und seines Besuchs am Goethe-Archiv kommt ihm das handschriftliche Manuskript Versuche zur Methode der Botanik zu Gesicht (GA 28\151-153). Ihn interessiert dann hauptsächlich der produktive Charakter der höheren Erkenntnisformen im Fragment (ebd.). Zurück in Wien beschäftigen ihn lange die Imaginationen aus Goethes Märchen von der grünen Schlange und schönen Lilie, die er als die dichterische Antwort Goethes an Schillers ,ästhetischen Briefe' betrachtete. Für seine philosophischen Arbeiten konnte er durch dieses Märchen nicht viel gewinnen (GA 28\182). Steiners frühe Wiedergabe des naturwissenschaftlichen Denkens Goethe bezieht sich nicht direkt auf diese produktive Einbildungskraft und ist in dieser Hinsicht unvollständig. Es zeigt sich dies in seiner Beschränkung der Methode auf Verstand und Vernunft. Die ,Imagination` bleibt nur

97 Man sieht, dass die unvollkommene Kongruenz Von Idee und Sinneserscheinung Goethe letzten Endes gar nicht beunruhigt.

98 Er hatte „durch Vieljährige Betrachtung" die Imagination einer metamorphosierenden Pflanze und einer farbigen Scheibe (Art Von Farbenkreise) ausgebildet, woran „Nachbild, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee" (also die ganze Vierheit) in einem Spiel einer freien Tätigkeit beteiligt waren. Joh. Müller widmete dieser „plastischen Imagination" Goethes eine Würdigung in Über die phantastischen Gesichtserscheinungen (1826), aber weil er Goethe, dessen Meinung nach, zu Viel als eine Art Sonderfall behandelte, verhielt Goethe sich sehr distanziert. Sölch (1998) führt die Antipathie von Müllers Schüler Du Bois-Reymond sogar noch darauf zurück (S. 132). Von diesem imaginatiVen Vermögen Goethes, jetzt als Grundlage seines ganzen Schaffens, handelt auch Dilthey (1877). Ebenfalls als ausgezeichnete und zukunftträchtige Geistesanlage im Gegensatz zur Müllerschen Deutung beschreibt es Friedrich Husemann in dem Hochschulkurs, Kolisko et. al. (1920), S. 284-290. Das Interesse an dem Gegenstand erlöschte, und merkwürdig ist übrigens, dass Sartre diese Imagination Goethe insgesamt absprach, weil er sie offensichtlich nicht selber vollziehen konnte (L'imaginaire, psychologie phénomenologique de l'imagination, Paris 1940, boll. Übersetz., Meppel 1969, S. 186; angeblicher Verstoß gegen das ,Alles-oder-Nichts-Gesetz` der Änderung). Sölch (1998) macht plausibel, dass Goethes eidetische Anlage ihm die Farbenlehre ermöglichte (S. 139).

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 125

implizit im Begriff der ,anschauenden Urteilskraft`, oder des Typus als ,intuitiver

Begriff, die ,sinnlich-übersinnliche Form', obgleich die Imagination der eigentliche Mittelbegriff ist, der Sinnlichkeit und Vernunft bei Goethe verbindet. Steiner strebt vielmehr eine Vertiefung dieses Unterschiedes an, die die ontologischen Konsequenzen

freilegen kann. Die Erkenntnis fordert zu einer doppelten Denkarbeit auf: erstens den entspre-

chenden Gedanken eines Dinges zu finden, und zweitens alle Fäden festzustellen, die diesen Gedanken mit der Gesamt-Gedankenwelt verbinden (GA 1\171). Der Verstand

schafft scharf konturierte Begriffe, die Vernunft reiht sie in die Harmonie der gesamten Ideenwelt ein. Dieser Unterschied ist der von Goethe ausgesprochene. Er gleicht weni-ger der Differenz von Verstand und Vernunft bei Kant, als derjenigen bei Hegel. Bei Kant sind es gleichsam selbständige Bausteine der Erkenntnis, die der Verstand schafft und die von der Vernunft im Schließen verarbeitet werden. Für Hegel ist der Verstand eher das Vermögen der einzelnen bestimmten Begriffe. Der Verstand setzt Identität und Unterschied. Insofern aber das Denken durch Schlüsse die Unterschiede wieder aufhebt, ist das Denken Vernunft (ENZ § 467) . Verstand und Vernunft sind indessen nicht zu trennen. Der bestimmte Begriff ist wesentlicher Moment der Vernunft. Denn durch die abstrakte Bestimmtheit des Begriffs ,begeistet` der Verstand den Begriff und erhält zugleich die Fähigkeit, dessen Bestimmtheit aufzulösen und in ihr Entgegen-gesetzes überzugehen. Auf diese Weise ist der einzelne Begriff durch Vermittlung des Schlusses nunmehr Moment des Objekts und zuletzt Moment der Idee (WDL II\270-271

und 287-288).99 Steiner spricht zwar nicht vom Auflösen des Begriffs und Umschla-gen ins Gegenteil, aber die gleiche Struktur sieht er doch wirken: „In dem Inhalte der Gedankengebilde, die der Verstand schafft, ist jene Einheit [der Vernunft] schon, lebt schon ein und dasselbe Leben; nur hält der Verstand alles künstlich auseinander"

(GA 1\171). Etwas weniger bildhaft gesagt: „Das Wesen des Besonderen selbst ist in dieser Besonderheit eben durchaus noch nicht erschöpft; es drängt, um verstanden zu werden, zu einem solchen hin, welches kein Besonderes, sondern ein Allgemeines ist"

(GA 1\113). Konsequenz ist, dass der Verstand, indem er überhaupt den Begriff einer Sache erfasst, zugleich sie von dem Ganzen trennt: „Der Verstand entfernt uns von der Wirklichkeit, die Vernunft führt uns auf sie wieder zurück" (GA 1\171).100 Für eine

99 Verstand ist daher „Anfang selbst der Erscheinung der Vernunft" (WDL II\288). Der Begriff „ist überhaupt etwas Vernünftiges" (WDL II\462). Vgl. auch die Vorrede der PHDG 46-47: die bestimmte Einfachheit ist der Verstand, aber die eigene Innerlichkeit des reinen Begriffes bewegt sich und löst das Feste auf im Rhythmus des organischen Ganzen, und als dieses Werden ist/wird die Verständigkeit eben die Vernünftigkeit.

100 Von Seiten des NeomarXismus wurde Goethe gerade in dieser Hinsicht gewürdigt. M. Carrier (Goethes

Farbenlehre — ihre Physik und Philosophie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XII/2, 1981, S. 209-225, hier S. 224) weist auf den „Verblüffenden Konsens" Von Goethes Furcht vor der Abstraktion mit Adornos und Horkheimers Position: „Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung Verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: die Liquidation." (Dialektik der

Aufklärung, New York 1944, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1979, S.15). Der Verstand entfernt (,entfremdet`) sich der Natur; Horkheimer und Adorno: „disqualifiziert sie", wohl gemeint Verbaliter (Reduktion aufs

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126 KAPITEL IV

genaue Nomenklatur schlägt Steiner vor, Begriffe dem Verstand und Ideen der Vernunft zuzuordnen. Der Weg der Wissenschaft ist also dieser: „sich durch den Begriff zur Idee [zu] erheben" (GA 1\172). Obwohl das Gesamtbild jetzt klargestellt ist: Das Denken fängt an, die Sinneswelt mit Begriffen zu gliedern, die die Vernunft zu Ideen verbindet, dagegen ist es im Einzelnen gar nicht so einfach zu bestimmen, wann wir es mit einem Begriff oder einer Idee zu tun haben. Ist die ,Art` schon Idee oder noch Begriff, und erst die Gattung Idee, oder nur der Typus ,Pflanze` oder ,Tier`, oder gar erst auf höherem Niveau ,Organismus` (wie bei Hegel)?1°1

Hier tut sich eine tiefer liegende Problemschicht auf. Wenn der Verstand sich von der Wirklichkeit entfernt, woran erkennen wir, dass wir die Grenzlinie der Subjektivität in unserer Synthesis schon wieder überschritten haben und im Land der objektiven Vernunft angelangt sind? Nach Kant wäre das nie der Fall, denn dazu ist weder der diskursive Verstand noch die schließende Vernunft geeignet. Wir kennen nur die Dinge in dem von unserer Verstandesorganisation und Sinnlichkeit genötigten diskursiven Denken, nicht die Dinge an sich, wie sie für einen intuitiven Verstand ohne dazwischen-tretende Hilfsmittel der Begriffe, Urteile und Ideen sind (KDRV A 249 en B 311). Selbst wenn sich die Sache nicht so prinzipiell verhält, wäre die Frage, ob nicht die Synthesis sich ähnlich wie der Verstand von der Wirklichkeit entfernt. Es ist das moderne Bild, dass jede Theoriebildung sich weiter und weiter von der empirisch-experimentellen Basis entfernt und immer schwerer an ihre Objektivität glauben lässt.102 Ob die Ver-zweigungen in unseren Theorien in Ketten von vielen Verstandesurteilen jeweils zu einer objektiven Idee konvergieren, ist dann sicherlich höchst ungewiss. Für Steiner aber steckt die Vernunft schon in den ersten begrifflichen Teilgebilden. Hier liegt eine entscheidende Übereinstimmung mit Hegel und ein Dissens mit Kant. Dieser fasst die

QuantitatiVe irgendeiner Metrik) als im üblichen Sinne (ausgeschlossen aus der Wissenschaft als ,subjektiV`, S. 13). Von der Vernunft bleibt Horkheimer und Adorno freilich nur Hegels bestimmte Negation, denn das Wahre als positives Ganzes ist doch wieder Mythologie (S. 25).

l0i Es gibt in der Logik nur drei Ideen bei Hegel: Leben (Organismus — Lebensprozess — Gattung), Erkennen und die absolute Idee.

102 Beispielsweise sei hier Kurt Hübners Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (Freiburg/München 1978) genannt. Er meint, wir müssen „auch heute noch vom Universum als Idee sprechen", weil sie eine „apriorische Konstruktion ist, für deren Inhalt es niemals einen hinreichenden empirischen Beleg geben kann" (S. 271). Es gibt nur Wahrheit innerhalb eines historisch bedingten Systems von Voraussetzungen (,S`), sodass das Wahrheitskriterium heißen muss: ,P ist wahr in s genau dann, wenn p` (S. 276). Und folgerichtig zieht Hübner die Konsequenz, dass sein relationaler Wahrheitsbegriff (relational auf ein S) selber regulative Idee ist (S. 282). Es ist dies in der Tat eine repräsentative Erneuerung des Kantianismus, welcher Anspruch im Titel zum Ausdruck gebracht ist. Die ,internalist perspective' (Hilary Putnam, in: Reason Truth and History, Cambridge 1981, Kap. 3, Two philosophical perspectives) ist in der Philosophie überhaupt dominant. Die analytische Philosophie war zugleich auch immer schon zum objektiVistischen Physikalismus geneigt (Carnap, Quine), die auch jetzt in neuen Formen sich durchsetzt, Vgl. z. B. Robert Nozicks Invariances. The Structure of the Objective World (Harvard University Press, 2001): Die Naturgesetze sind letztendlich „the heritable structure of a universe, akin to what in biology would be an organism's genetic endowment" (S. 168).

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reinen Begriffe als Produkte unserer subjektiven103 Organisation auf, und die empiri-schen als eine Synthesis unserer Verstandesorganisation (Denken) und des Materials der Empfindung (Sinnlichkeit) . Ihre Synthesis braucht dafür eine Sicherstellung, die Kant in der transzendentalen Deduktion darin erblickt, dass die von Verstandesbegrif-fen und Vernunftidee geregelte Synthese die Bedingung einer Kenntnis der Objekte überhaupt ist. Hegel dagegen bestimmt die Welt des Verstandes zwar nicht als die wahre Wirklichkeit. Sie ist eine unwahre vorübergehende Gestalt des Geistes. Dennoch enthält sie den Geist in bestimmter Form, der den Verstand zur Vernunft und zur Wahrheit der Idee führt. So sieht es auch Steiner. Die besonderen Begriffe haben schon das Allgemeine derart in sich, dass sie von der Sache her zur Einheit streben. Dies ermöglicht einen ,relationalen Wahrheitsbegriff (Hübner), der zugleich Objektivität nicht ausschließt.104 Die einheitliche Wirklichkeit wird in einzelne Gedankengebilde zerlegt, die vernunftgemäße Zusammenfassung gelangt wieder zur objektiven Ein-heit (GA 1\173) . Die einzelnen Begriffe widersetzen sich einer willkürlichen Synthese, während die Kohärenz des Ganzen die Einheit sichern soll. Die Verschiedenheit der Anschauung verschiedener Menschen liegt in der Verschiedenheit der Verstandeswelten (GA 1\173) . Die Entwicklung der wissenschaftlichen und philosophischen Standpunkte wird dadurch erklärlich. Jeder hat ein anderes ,Erfahrungsfeld` und eine andere Ver-standeswelt, doch treffen alle Menschen zuletzt zusammen, wenn das Denken sie über ihren Sonderstandpunkt hinaushebt (GA 1\174). Dabei gilt der Unterschied, dass eine mehr oder weniger große Erfahrung unsere Weltansicht mehr oder weniger vollständig machen kann. Das hindert uns nicht, die Idee in uns aufgehen zu lassen, wenn auch nur in einseitiger Weise, weil wir immer schon „in dem Fahrwasser der Idee schwimmen" (GA 1\174). Das Subjektive steht dem Objektiven nicht exklusiv gegenüber, sondern ist vielmehr sein Bruchstück, Teil der ganzheitlichen Objektivität.105 Anders gesagt, das Paar ,subjektiv`-,objektiv` ist nicht schlechthin gleich ,unwahr`-,wahr`. Das Subjek-tive kann einem bestimmten Erfahrungfeld entsprechend innerhalb seiner Begrenzung wahr sein (Hübner ,p ist wahr in S') und nur unwahr in seiner Generalisation (außer-halb ,S`) .106 Das Objektive (als relativer Begriff) wäre die Objektivierung verschiedener

103 Das heißt subjektiv im Verhältnis zum ,Ding an sich', das in diesen Begriffen nicht selber gegeben ist. 104 Nozick (2001) verteidigt z. B. einen empirischen Relativismus, in dem immer ein empirischer Bezug

gefordert wird zur Relativierung einer Aussage. Dieses ,p ist wahr in Bezug auf S' wäre dann an sich eine (widerspruchsfreie) nichtrelatiVe Aussage (65-66). Wegen der Gebundenheit der Empirie an raum-zeitliche Beschränkungen (,Ergebnis der Quantumtheorie`) könnte man insofern von „the Copenhagen Interpretation of Truth" sprechen (S. 43). Aussagen, die eine InVarianz unter allgemei-neren, mehr umfassenden Transformationen darstellen, sind dem Grad nach objektiVer (S. 87-90). Steiners Objektivitätsbegriff beinhaltet einen ähnlichen Gedanken einer Annäherung zur Allgemein-heit der Idee, die besondere Vorstellungsarten umfasst (InVarianz in bestimmten Transformationen).

105 Gleichsam wie der Farbensinn eines einzelnen Menschen seinen Ausgleich hat in der allgemeinen CIE-Normfarbtafel.

106 Steiner meint gleichfalls, „daß die Wahrheit eines Gedankens auf seinem Gebiete nichts aussagt über die allgemeine Gültigkeit eines Gedankens. Ein Gedanke kann durchaus auf einem Gebiete richtig sein; aber nichts wird dadurch ausgemacht über die allgemeine Gültigkeit des Gedankens" (GA 151\34).

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128 KAPITEL IV

Begriffe (bzw. Urteile p und q) und ihr Anwendungsbereich (SI und S2) in einem höhe-ren Begriff, der etwas aussagt über ihren Zusammenhang.107 In den Worten Goethes: „Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahr-heit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und ist doch immer dieselbige" (Sprüche in Prosa). Man nähert sich durch eine Erweiterung der Begriffe, zugleich das Verdichten ihrer Beziehungen in Gesetzen, der Einheit der Idee und damit der Objektivität.108

§ 4.2.5. Regulativ und konstitutiv

Goethe war Kants Kritik der Urteilskraft „eine höchst frohe Lebensepoche schuldig" (GGA 39\183). Kant, und mit ihm Goethe, nimmt an, dass ein Organismus (,Naturpro-dukt` oder ,Ding als Naturzweck`) als ,organisiertes Wesen` eine bildende Kraft in sich besitzt (KDU B 292-293). Die Teile werden durch die Idee vom Ganzen bestimmt und bestimmen einander wechselseitig als Ursache und Wirkung. Die Idee als ,übersinnli-cher Bestimmungsgrund' ist für Kant freilich kein konstitutiver Begriff (bestimmende Urteilskraft), sondern ein regulativer für die reflektierende Urteilskraft (KDU B 294 ff. und 329-339) . Nur für einen intuitiven Verstand, der zugleich mit dem Begriff den Inhalt als Wirklichkeit im Anschauen hätte, wäre er konstitutiver Begriff (KDU B 347-348)

Einen Schritt über Kant hinaus macht Goethe, nach Steiner „mit entschiedenem Anklang an Schelling" (GA 1\226), wenn er in Anschauende Urteilskraft schreibt, dass es im Intellektuellen wohl sein dürfte, „daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilname an ihren Produktionen würdig machten" (GGA 39\186), damit Kants Beschränkung von unserem Denken auf einem rein diskur-siven Verstand ablehnend: „Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen" und weiter „war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt,

107 Das einfachste Beispiel wären verschiedene Ansichten eines Gegenstandes im Lichtraum, die einander gar nicht ausschließen und für sich gesetzmäßig sind, wenn man sie unter die (invarianten) Gesetze der PerspektiVe zusammenfasst. Ein KompleXes, woran Steiner gedacht haben mag: die PHDG, die alle Bewusstseinsgestaltungen (Teilbegriffe) in höheren (zuletzt die Idee des Bewusstseins im absoluten Wissen) als ihren notwendigen Momenten aufgehen lässt.

108 Das klassische Beispiel ist doch noch immer, über die historischen Differenzen hinweg, wie die einfachen Erscheinungen unter die Fallgesetze von Galilei, diese und die Planetenbahnen unter die Newton'sche Gravitationslehre und, zuletzt, diese und die Drehung der Merkurbahn in der Relativitätstheorie unter allgemeinere Gesetze gebracht werden konnten. Vgl. auch Nozick (2001), S. 76-80. Steiners Kritik an Newton und Einstein (neben der Anerkennung ihrer Resultate) wegen phänomenalem Gehaltverlust zeigt, dass er selber diese Entwicklung wohl eher als eine ,Reihe von Problemlösungen' (Laudan) betrachtete als das Paradigma für die Entfaltung der Idee schlechthin (vgl. Larry Laudans, Progress and Its Problems. Towards a Theory of Scientific Growth, London 1977 und dessen Beyond Positivism and Relativism. Theory, Method and Evidence, Boulder-London 1997).

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mutig zu bestehen." (GGA 39\186). Goethe glaubt in der Erfahrung die objektive Realität des Begriffes von ,einem Dinge als Naturzweck` ,naturgemäß` entwickeln zu können,109

obgleich nicht in der Erfahrung zu ,abstrahieren` oder ,abzuziehen` (Kant, KDU B 330, B

B 332). Der Titel Anschauende Urteilskraft (das Wort figuriert übrigens lediglich im Titel) bringt zum Ausdruck, dass Goethe meint, wir haben — nicht wie Kant will — nur eine bestimmende und reflektierende, sondern auch eine anschauende Urteilskraft. Wenn die Urteilskraft das Vermögen ist, „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" (KDU B xxv), oder „das Vermögen unter Regeln zu subsumieren" (KDRV

B 171), dann wäre anschauende Urteilskraft das Vermögen, dies in der Anschauung zu erfassen, d. h. das Besondere mit dem Allgemeinen (u. a.: Phänomen und Urphäno-men, Spezies und Typus), den Teil zusammenhängend mit und bedingt vom Ganzen (u. a.: Versuch und Versuchsreihe, Glied und ganzen Organismus) zugleich zu erfassen. Dieses Vermögen braucht Goethe, um aus der Vermannigfaltigung der Versuche das Urphänomen herauszufinden, die „möglichste Vollständigkeit der Phänomene, weil sie [ ... ] vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inne-res Gesamtleben manifestieren müssen" (GGA 39\183) . Es findet in der Morphologie (Physiologie) Anwendung in der ,genetischen Behandlung', wo Goethe erstrebt, „die Folgen einer ununterbrochenen Tätigkeit als ein Ganzes anzuschauen, indem ich das Einzelne aufhebe, ohne den Eindruck zu zerstören" (GGA 39\97), wie zuletzt im Über-blick von dem ganzen Pflanzenreich, worin erst der Typus klar wird: „Der genaueste Zusammenhang [der ,Haupt- und wesentlichen Teile' der Pflanze] und der wunder-barste Übergang eines Teils in den anderen liegen uns in dem ganzen Pflanzenreich vor Augen" (GGA 39\116) .

Mit dieser anschauenden Urteilskraft divergiert Goethe ferner von Kants Begriff der Schönheit (KDU). Während wir Kant zufolge eine Blume schön finden, weil wir eine Zweckmäßigkeit in der Wahrnehmung der Blume antreffen, die auf keinen bestimmten Zweck (Begriff) bezogen wird und also nicht vom Begriff der Vollkommenheit der Pflanze abhängt,"° sondern lediglich von der Zweckmäßigkeit in Beziehung auf unsere Einbildungskraft (KDU § 15; B 62), betrachtet Goethe eben diese Vollkommenheit als Grund der Schönheit des Tieres. In seinem Aufsatzentwurf von 1794 mit dem Titel In wiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen

109 Goethe meint hier seine botanischen Ideen (GA 6\147). Das ,Abenteuer der Vernunft` (KDU § 80) ist die Erklärung der Entwicklung Von anorganischer, zweckloser Natur zu den niedersten Stufen des Lebens, und so stufenweise zum Menschen (zweckmäßig organisierten Wesen). Eben dieses Unternehmen, ein Ziel, das Herder schon in den Ideen gesteckt hatte, aber Goethe noch nicht insgesamt gelungen war, versucht er mutig zu vollbringen.

110 „Eigentlich aber gewinnt weder die Vollkommenheit durch die Schönheit, noch die Schönheit durch die Vollkommenheit" (KDUB 51-52). Man kann aber sich ein mittleres Bild einer Naturgattung bilden, eine Normalidee, welche „die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Spezies unterlegte", aber diese ist aus der Erfahrung nicht hergenommen, sondern ihr als Regel der richtigen, schulgerechten Darstellung der Gattung vorgeschrieben (KDUB 58-59).

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angewendet werden könne", bekennt Goethe sich zu dieser völlig unkantgemäßen Vor-stellung. Schönheit kommt einem Tier nicht zu durch „irgend eine Proportion von Zahl oder Maß" (die Vorstellung Kants), sondern durch das Verhältnis der Glieder untereinander: „daß keins das andere an seiner Wirkung hindert". Vielmehr ist Voll-kommenheit ein geistiges inneres Maß, das dem leiblichen Auge gerade entschlüpft: „ja daß vielmehr durch ein vollkommenes Gleichgewicht derselbigen Notwendigkeit und Bedürfnis versteckt, von meinen Augen gänzlich verborgen worden, so daß das Tier nur nach freier Willkür zu handeln und zu wirken scheint" (LA 10\126). Nur ,scheint`, denn der Typusbegriff fasst das Notwendige mit der freien Versalität und Willkür der Natur zusammen,112 sodass zuletzt „der Begriff von Proportion, den wir immer nur durch Zahl und Maß auszudrücken glauben, dadurch in geistigern Formeln aufgestellt wird" (LA 10\127). Eben weil Goethe den Begriff des (inneren) Naturzwecks und der Vollkommenheit, konstitutiv nach innerem Maß, in der Erfahrung zu finden meinte, konnte er Kants Ästhetik nicht beipflichten.

Auch Hegel hatte Kants regulative Natur der Idee im Zusammenhang mit dem Naturerkennen kritisiert.113 Der Organismus ist für Hegel, wie für Goethe, unmittelbar Idee (ENZ § 337), und Idee ist freilich in diesem Zusammenhang nicht bloß Gedachtes (regulativ), sondern Einheit von Begriff und Objekt (konstitutiv). Weil der Zweck (in der organischen Natur) äußerliche Objektivität hat, ist die Zweckbestimmung nicht ein reflektierendes Urteilen nach Kant, sondern „Schluß des selbständigen Begriffs, der sich durch die Objektivität mit sich selbst zusammenschließt" (wDL H\444). Dass in der Erfahrung kein Ding mit der konstitutiven Idee vollkommen kongruiere, spielt Hegel nicht gegen die Idee, sondern gegen den Gegenstand aus, indem er es deutet als dessen Seite der Endlichkeit und Unwahrheit, bestimmt durch mechanische, chemische Einflüsse und äußere Zwecke (wDL II\64-65). Der Mangel an Kongruenz von Typus und Erscheinung hat auch nach Steiner seinen Grund in dem Umstand, dass der konkrete

111 Der Aufsatz ist also geschrieben worden ist, nachdem Goethe mit der KDU von 1790 vertraut geworden war.

112 In Problem und Erwiderung spricht Goethe der Natur ein ‚System' ab. Sie wirkt mit den entgegengesetz-ten Kräften einer vis centrifuga der formauflösenden Metamorphose und vis centripeta der Spezifikation und Beharrung.

113 Nach Hegel hat die KDU das Ausgezeichnete, dass Kant in ihr den Gedanken der Idee ausgesprochen hat, und zwar im Begriff des intuitiven Verstandes, der das Allgemeine zugleich als konkret denkt/anschaut. Wenn Hegel anknüpfend an die KDU sagt: „Viele, namentlich Schiller, haben an der Idee des Kunst-schönen, der konkreten Einheit des Gedankens und der sinnlichen Vorstellung, den Ausweg aus den Abstraktionen des trennenden Verstandes gefunden; andere an der Anschauung und dem Bewußtsein der Lebendigkeit überhaupt" (ENz § 55), so war mit den Anderen Vorzüglich Goethe (,anschauende Urteilskraft') gemeint; für den Sinn und die Anschauung gibt es hier schon nach Hegel die Wirklichkeit der Idee. Die RefleXionen Kants waren „besonders geeignet, das Bewußtsein in das Fassen und Denken der konkreten Idee einzuführen" (ENz § 55). Neuerdings hat E. Förster belegt, dass Goethes Meta-morphosenlehre Hegel in Jena um 1804 die Tragweite dieses Prinzips eines ,intuitiven Verstandes' hat einsehen lassen und ihm zum Durchbruch zur eigenen Philosophie geholfen hat. Vgl. dazu dessen Die Bedeutung von §§76--77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkanteschen Philosophie, in Zeitschrift für philosophische Forschung, 56. Bd., 2002, Teil I, S.169-190 und Teil II, S. 321-345.

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Organismus nicht nur dem Typus, sondern zugleich den Gesetzen des Anorganischen unterworfen ist (der Anpassung an die Umwelt und dem Kampf ums Dasein ausgesetzt ist; GA 1\93-98). Der Organismus ist von fremden Einflüssen abhängig und nicht nur sich selber folgend, deshalb ist der einzelne Organismus nicht reine Ausgestaltung seines Typus. Die Diskongruenz ist selbstbestimmtes Gesetz.

Nicht nur ist die Morphologie Goethes eine Rechtfertigung des konstitutiven Ge-brauchs der Idee, sie erlaubt nach Steiner eine Revision von Kants Begriffen ,regulativ` und ,konstitutiv` (KDRV B 536-537) . Waren bei Kant die Verstandesbegriffe, jedenfalls im transzendentalen Sinne, noch konstitutiv für die Objekte unserer Erfahrung, und regel-ten die Vernunftprinzipien nur ,regulativ`, ohne etwas über die Objekte, den Fortgang unserer Synthesis und den ,empirischen Regressus` auszusagen, so kehrt Steiner das ganze Verhältnis um. Der Verstand entwickelt Begriffe, die nicht für definitiv gehalten werden können. Sie führen uns zuerst von der Wirklichkeit ab. Die Synthese mehrerer Begriffe in der Erfahrung bringt uns durch die Idee wieder in den Bereich der Realität. Die Verstandesbegriffe sind also nur eine Durchgangsstufe, „etwas, was mich befähigt, in regulativer Weise einzudringen in die Wirklichkeit" (GA 323\93) . Man muss sie nur nicht „konstitutiv für die Wirklichkeit" annehmen (GA 323\93) . Die Idee ist jedoch, in Steiners Auslegung, die einzig mögliche Auffassung dieser Wirklichkeit und deshalb sind Ideen, oder ist die Idee, ,konstitutiv` für die Wirklichkeit. Beispiele für ,regulative Begriffe` sind für den späteren Steiner die Art- und Gattungsbegriffe, der Begriff der Kausalität und das mathematische Naturgesetz (GA 320\26-30) . Von allen dreien sollte Goethe das Gegenteil anstreben. Statt die Arten und Gattungen fixieren zu wollen, wie Linneus in seinem Systema Naturae (1768), ist für Goethe: „Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze" (GGA 39\143). Die genera lässt er wohl gelten in der Botanik, aber die Grenzen der species sind schwan-kend. Nur gibt es bei bestimmten Geschlechtern einen stärkeren ,Spezifikationstrieb` (Beharrlichkeitsvermögen der Arten) als bei anderen (GGA\143-144).114 Die Arten haben mithin nur regulativen Wert. Statt durch Experimente auf die unbekannten Ursachen einer Erscheinung zu schließen, begnügte Goethe sich mit rationaler Beschreibung der Tatsachen (den Urphänomenen), die übrigens nicht den üblichen mathematischen Formeln, den mathematischen Naturgesetzen gleichen.115 Die mathematisierte Welt ist für Goethe eine Welt der Abstraktion (vgl. Goethe und die Mathematik: GA 1\237-

241).116 Mit dem Qualitativen und einem selbstbewussten Theoretisieren hofft Goethe

114 In der heutigen Terminologie ist hier das Problem einer TaXonomie als Voraussetzung wissenschaftli-cher Erfahrung angedeutet. Thomas S. Kuhn schließt aus der Unübersetzbarkeit ,lokaler` theoretischer TaXonomien auf einen neuen ,postdarwinistischen Kantianismus`; The Road since Structure. Philoso-phical Essays 1970-1993, Chigaco-London 2000, S. 104.

115 „Wie die [Licht und Materie] zusammenwirken, das spricht er in Worten aus, das ist kein Gesetz, sondern eine Tatsache." (GA 320\30). Vgl. das Vorwort der FL. Sie ist eine Zusammenstellung von den Taten und Leiden des Lichts (S. 45).

116 Vgl. Cassirer in seinem erwähnten Aufsatz Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheo-

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132 KAPITEL IV

„die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich" zu machen (FL, Vorwort, S. 48), anders gesagt: Die Aufgabe ist, die Verstandesbegriffe zu überwinden und einzubeziehen in anschauliche Ideen, oder „der Natur ihr Verfahren ab [zu] lauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschrift nicht widerspenstig machen" (GGA 39\144).

§ 4.2.6. Verstandeswelt und Vorstellungsart

Goethe spricht vielerorts über „Vorstellungsarten", die jenen ,Verstandeswelten` Stei-ners genau entsprechen. 117 Beispielsweise in den verschiedenen Vorarbeiten zur Botanik, Morphologie und einer Physiologie der Pflanzen von 1788 bis 1795, wie auch späteren. Goethe erklärt sich die verschiedensten und oft entgegengesetzten Hypothesen dar-aus, dass Menschen die Sachen nur von einer Seite ansehen, aber er glaubt, dass die ,Vorstellungsarten` „im Grunde kompatibel sind" (GGA 39\105). So stellt er die Begriffe ,Evolution` und ,Epigenese` in der Biologie nebeneinander und notiert: „Beide Vorstel-lungsarten sind aber roh und grob gegen die Zartheit des unergründlichen Gegenstan-des". Deshalb gibt es die „Notwendigkeit, alle Vorstellungsarten zusammenzunehmen, keineswegs die Dinge und ihr Wesen zu ergründen, sondern von dem Phänomene nur einigermaßen Rechenschaft zu geben und dasjenige, was man erkannt und gese-hen hat, andern mitzuteilen" (GGA 39\90). Die Kompatibilität liegt allerdings nicht an der Oberfläche. Gleiches gilt für die ,atomistische Vorstellungsart', die „eine gewisse Nähe zur gemeinen Ansicht" hat, und die ,dynamische Vorstellungsart`, die anfänglich Schwierigkeiten macht, aber erhebliche Vorteile hat und von Goethe in der ,genetischen Betrachtung' vorgezogen wird (GGA 39\98). In Zur Farbenlehre wird nicht weniger der Anfang gemacht im vollen Bewusstsein, dass die Natur sich nicht unmittelbar in der ungeübten Erfahrung ausspricht, und man deshalb nicht die Erfahrungen ohne theo-retisches Band vorzutragen hat: „denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Anschauen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren" (FL 47).118 Schließlich wäre für Goethe „das Höchste [ ... ] zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist" (HA 13\317) .

retische Betrachtung, in: Idee und Gestalt, Berlin 1924, 2. Aufl. Darmstadt 1971, S. 33-80. R. Ziegler hat neulich ausführlich Goethes Verhältnis zur Mathematik dargestellt, mit Bestätigung von Steiners Interpretation: Goethes Ideen zur Mathematik. Materialien zu Goethes Mathematikverständnis, Dornach

1993; Vgl. S. 115.

117 Beide Termini finden wir schon in Kants KDRV und KDU.

n8 Mit Recht hat J. Blasius in Zur Wissenschaftstheorie Goethes (Zeitschrift für philosophische Forschung, 1976, S. 371-387), darauf hingewiesen, dass Goethes Wissenschaftsauffassung eine nicht-triviale Korre-spondenz aufweist mit den modernen Wissenschaftsideen Von Th. Kuhn (Structure of Scientific Revo-lutions, Chicago 1962): Es gibt für beide keine theoriefreie Empirie. Dies war übrigens seit der KDRV

(,Anschauungen ohne Begriffe sind blind') kein originaler Gedanke mehr. Kuhn geht voraus N.R. Han-son, Patterns of Discovery (Cambridge 1958, 8. Aufl. 1979). Dessen Darstellung von ,pattern in phe-nomena' oder einen nicht-induktiven, ,conceptuale' Gestalt als Grundbedingung wissenschaftlichen

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Goethes Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt reflektiert auf die ,Vorstellungsart` im Verhältnis zur Erfahrung. Eine seiner Grundthesen ist, dass die Entdeckungen in der Erfahrung „nicht sowohl durch Menschen, als durch die Zeit gemacht werden" (GGA 39\160) . Aufmerksame Menschen sollen einander in die Hände arbeiten, da ein einzelner eine Wissenschaft gar nicht tragen kann. Dadurch wird die Wissenschaft zugleich ein soziales Problem, wenn die Forschergemeinschaft nicht mehr „einer freiwirkenden Republik, sondern einem despotischen Höfe ähnlich wird" durch die Vorherrschaft einer bestimmten Vorstellungsart, die auf ungenügender Erfahrung gebaut ist (GGA 39\162). Das ist eben die Lage, die Goethe durch die weit verbreitete Newtonsche Lichtlehre vorfand. Im Allgemeinen gibt es zwei Fehler, die dazu führen können: erstens, dass man unzulänglicherweise von einem isolierten Teil der Erfahrung (konkret: an Newtons Prismaversuch, das experimentum crucis) zum Urteil (Theorie) übergeht, „wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern" (u. a. in der „Gedankenform", GGA 39\161), zweitens dass der Mensch sich „mehr an der Vorstellung als an der Sache erfreut". Ein einzelner Versuch, und sogar mehrere Versuche in Verbindung beweisen nichts (was Goethe allerdings als Paradoxon zur Aufmerksamkeit behauptet).119 Zugrunde liegt Goethes Vertrauen in die Ganzheit der Natur: „in der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen [ ... ] , so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien" (GGA 39\163) . Dieser ,Holismus` Goethes, ist Ausdruck davon, dass er die Natur als von einer einzigen, zusammenhängenden Idee (Geist) belebt, auffasst. Ein solcher Holismus könne man zwar auch haben als Materialist (Interdependenz von Kraftwirkungen der gesamten Materie), aber Goethes Dynamismus versucht, die unmittelbare Werdung der Erscheinungen aus der Idee zu

Verstehens (1979\87, 90, 109 und 157) weist zudem anerkennend auf Goethes Antizipation hin (a. a. O., S. 87, Anm. 2 über Goethes ,Aperçu`). Vgl. auch Blasius (1976), S. 371-372. Über die ,Vorstellungsar-ten' im Zusammenhang mit der Farbenlehre handelt ferner Dennis L. Seppers, Goethe contra Newton,

Polemics and the project for a new science of color, Cambridge 1988, S. 92-99. Sepper zeigt, dass Goethe nicht naiverweise gegen Newtons Theorien rebellierte, sondern dass der Streit nicht nur die falsche Vorstellung der gefärbten Lichter, sondern primär die unbewusste Vorstellungsart, und deshalb die Alleinherrschaft des ,Atomistischen` im Theoretisieren und EXperimentieren betraf. Hierin ist Goethe Newton retrospektiV gesehen überlegen: „here it is possible to see Goethe as a precursor, ca. 1800, of twentiethcentury developments in the philosophy of science" (S. 186). Gemeint sind wieder u. a. die Ansichten Hansons und Th. Kuhns. Noch spätere gleichlautende Literatur lassen wir hier uner-wähnt (vgl. Sölch (1997), Kap. 6 mit Literatur), nur Cassirer (1924-1971) sei hier zuletzt genannt, der das Thema der Vorstellungsarten schon eingehend analysiert hat. Er setzt Goethes qualitatiVes Verfahren der mathematischen Betrachtungsweise entgegen. Nur solange man auf dem Boden einer

Betrachtungsweise stehen bleibt, ist der Widerstreit zwischen beiden unlösbar (S. 80). 119 Auch M. Carrier sieht wegen dergleichen Aussagen Goethes, die sich namentlich in der Polemik gegen

Newton in großer Zahl aufzeigen lassen, eine Übereinstimmung mit Kuhn (Goethes Farbenlehre —

ihre Physik und Philosophie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XII/2, 1981, S. 209-225, hier S. 215), aber dessen Radikalismus teilt Goethe keineswegs. Er glaubt letzten Endes doch an die ausschlaggebende Erfahrung und Kompatibilität der Vorstellungsarten (nicht an absolute incommensurability oder Fragmentierung der Ideen).

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erfassen. Die Maxime ist für ihn daher, dass man ,die Verbindungen dieser Phänomene` suche, und dann erst urteile (ebd.). Übt man nur eine Vorstellungsart, so macht man hier auch wiederum „gewöhnlich nur einen Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses fassliches Verhältnis zu bringen, das sie streng genommen, untereinander nicht haben; daher die Neigungen zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens entsprin-gen." (GGA 39\162). Im Unterschied nennen wir die hier gemeinte zweite Art des Ver-suchs einen ,Gedankenversuch` (nicht ein ,Gedankenexperiment` im üblichen Sinne). Wenn wir uns also begriffliche Einzelansichten in Form einer Hypothese oder Theorie nicht ganz entsagen können,120 sie bleiben doch eine Zwischenstufe, wie Steiner her-vorhebt: „Nur Hypothesen, die aufhören können es zu sein, haben eine Berechtigung." (GA 1\195) . In Übereinstimmung mit seiner eigenen Kritik am Atomismus versteht Stei-ner hier Goethe so, dass kein prinzipiell Unwahrnehmbares zur Erklärung einer Sache hypothetisch angenommen werden mag. Ein underlying mechanism im Sinne einer unwahrnehmbaren Struktur jenseits unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten ist eine sich widersprechende Vorstellung.121 Sie lässt sich übrigens auch nur so widerlegen, denn die Erfahrung nimmt uns, weil sie schon gedeutet wurde, diese Mühe nicht ab. Goethe widersetzt sich gegen das Beweisen „irgendeines Verhältnisses, das nicht ganz sinnlich ist" durch einzelne Versuche (GGA 39\162). Gemeint ist die Vorstellung von Newton, dass ,das Licht aus farbigen Lichtern zusammengesetzt sei'. Goethes Forde-rung, dass ein Verhältnis „ganz sinnlich" ist, deutet Steiner gemäß seiner Kritik an den atomistischen Vorstellungen so, dass statt rein ideeller Bezüge Newton zu Unrecht dem reinen Licht sinnliche Eigenschaften (Farben) beilegt, die aber unwahrnehmbar sind (d. h. sinnlich-untersinnlich).122 Ein ,ganz sinnliches Verhältnis' heißt paradoxerweise genau das Gegenteil, die Verbindungen sind immer nur ideeller Natur und sollten an dieser Stelle nur dazu dienen, dass die Erfahrungen gesammelt und geordnet werden, sodass ,eine Erfahrung höherer Art' daraus entsteht (GGA 39\164-167).

Ein solches ,Urphänomen', entsteht durch „die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuchs" (was Goethe für die eigentliche Aufgabe und Pflicht eines Natur-forschers hält) und die Anordnung der Vielheit in ,Reihen`, die „nicht auf eine hypothe-tische Weise zusammengestellt" werden (wie Schritte zum Beweisen von Hypothesen; GGA 39\165). Dabei wäre ,die mathematische Methode` zu befolgen, „nur das Nächste ans Nächste zu reihen" (GGA 39\164), die Goethe vorbildlich aus Spinozas Ethik kannte.

Kurzgefasst ist Goethes Standpunkt, dass Erfahrung nur in ihrer Vollständigkeit eine sichere Basis des Wissens ist und diese Vollständigkeit eine rationale Analyse

120 Dies ist eine frühe Überzeugung Goethes, u. a. zu finden in der Studie nach Spinoza: „Wir müssen alle EXistenz und Vollkommenheit in unsre Seelen dergestalt beschränken, daß sie unsrer Natur und unsrer Art zu denken und zu empfinden angemessen werden; dann sagen wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder sie genießen" (GGA 39\156).

121 „Ein Inneres, das ich voraussetze, ohne es gewahr zu werden, ist ein vollkommener Widerspruch" (GA 1\194). Vgl. Kap. III.3.

122 Gleich Hegels Kritik an Newtons Optik in ENZ §320 und Zusatz.

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und Synthese, eine Verstandes- und Vernunftsache ist, während der Verstand, wenn er eine Teilerfahrung oder selbstfabrizierte Vorstellung zum Maß der Dinge macht, den Wissenschaftsfortschritt hemmt.123 Der Mensch soll vielmehr alle Escheinungen „mit einem gleichen ruhigen Blicke [ ... ] ansehen und übersehen und den Maßstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet" (GGA 39\158).I24 Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit eines subjektiven Erkenntniszugriffs, sodass man überhaupt vom Fleck kommt, und der Forderung, nur das Faktische zur Theorie und die Phänomene zur Lehre zu erheben, löst sich durch den Umstand, dass in den Verstandeswelten und Verstandesbegriffen schon die Idee steckt und aus der Wechselwirkung von Verstand und Sinnen, von Verstand und exakter Fantasie allmählich die objektivere Synthese der Vernunft hervorgehen soll.

§ 4.2.7. Empirische Notwendigkeit

Mir der Relativierung der ,Vorstellungsarten` ist der Weg frei für eine Neufassung des Verhältnisses von Idee und Erfahrung. Man hält empirische Methode und Idealis-mus für unvereinbar, sagt Steiner, aber nur wegen der Reduktion der Erfahrung auf das Sinnliche: „Das objektiv Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen. [ ... ] Das letztere ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte des-selben sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind" (GA 1\126).I25 Deshalb erklärt Steiner „die Ideen [ ... ] für eine induktive Methode erreichbar", jetzt ,Induktion` nicht genommen im Sinne einer Verallgemeinerung von Merkmalen einer bestimmten Versammlung von Objekten (im Sinne John Stuart Mills; GA 1\144-145), sondern als ideelles Erfassen eines Objekts in der Erfahrung. So hält er am Idealismus fest, legt aber „bei der Entwicklung desselben nicht die dialektische Methode Hegels, sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde" (GA 1\127). Der ,Erfahrungsbegriff ist hier mehrdeutig. Sinnliche Erfahrung allein kann es nach dem vorherigen nicht mehr sein. Reine Idee ist wohl auch keine Erfahrung in diesem Sinne, noch jede Syn-

123 Nicht einzelne EXperimente oder Beobachtungen entscheiden über das Gesetz als ,Theorie' (modernes Induktionsproblem), sondern die Vollständigkeit der geordneten Erfahrung. Steiner: „Bei dem im Goetheschen Sinne Experimentierenden hat jeder Versuch seine Stelle im Zusammenhange eines Ganzen. Und seine Erklärung liegt darinnen, wie er sich an die ihm Vorhergehenden anschließt. Aus dieser Reihe herausgerissen, kann er nur zu einem unstatthaften Theoretisieren führen", FL herausg. von Ott und Proskauer (1980), III. Bd., S. 41. Vgl. Anm. 121. Sepper (1988) nennt den Schlüsselbegriff ,comprehensiveness`, was heißen soll keine Eins-zu-eins-Konformität mit der Sinneserfahrung, sondern „conformity of scientific discourse and practise to experience" bei Variation der Erscheinungen und der Subjektivität (S. 187-188).

124 Diese Gedanken finden wir schon in Studie nach Spinoza (GGA 39\154): „ein lebendig eXistierendes Ding kann durch nichts gemessen werden, was außer ihm ist, sondern wenn es ja geschehen sollte, müßte es den Maßstab selbst dazu hergeben".

125 Die Terminologie Steiners ist, wie erwähnt, auch schwankend in Bezug auf ,Idee`. Es gibt ,Ideen` (umfassende Begriffe) und zugleich doch nur die eine Idee, als Weltengrund.

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thesis von Begriff und Sinneserscheinung. Wenn Erfahrung lediglich die wahre Einheit von Erscheinung und ihrem Begriff wäre, so wäre wieder unverständlich, dass man aufgrund von Erfahrung erst progressiv zu einer solchen Erkenntnis kommen sollte (vgl § 3.4.6). Der ,Erfahrungsbegriff ist deswegen ein synthetischer ohne scharfe Kon-turen, aber jedenfalls inklusive der negativen Erfahrung des Nichtübereinstimmens von Begriff und Sinneserscheinung und meint wohl die durchgehende, geordnete wis-senschaftliche Erfahrung, der eine Goethe'sche Forschung sich bewusst aussetzt. Wir versuchen nun, Steiners Begriff des Empirismus näher zu bestimmen.

Wenn Steiner so im Allgemeinen von einer ,induktiven Methode' spricht, folgte er in erster Instanz einem in seiner Umgebung herrschenden Wortgebrauch. An der Technischen Hochschule in Wien hörte er Vorlesungen von Edmund Reitlinger über die mechanische Wärmetheorie, Physik und Geschichte der Physik. Die letzteren handelten namentlich auch von den methodischen Aspekten der Physik. Reitlinger „war ein Mann der streng induktiven Forschungsart; er zitierte für alles physikalisch Methodische gern das Buch Whewells über induktive Wissenschaften.126 Newton bildete für ihn den Höhenpunkt des physikalischen Forschens" (GA 28\67). Diese Vorträge, die für Steiner „begeisternd" und „anregend" waren (ebd.),127 mussten Steiners besonderes Interesse erwecken, da die Methode des Antipoden Goethes der Fokus der Auseinandersetzungen war. Konnte man Goethe je zu verstehen glauben ohne Newton? Was bei Whewell ,induktive Methode` heißt, ist nicht die abgelehnte Mill'sche Variante. Die Entdeckung empirischer Gesetze während des Induktionsprozesses wird vielmehr geleitet von ,a new point of view` in einem Prozess von ,invention and trial'. Newton gelangte in ähnliche Weise zu den notwendigen Grundprinzipien der Mechanik, da das rein begriffliche Prinzip der Kausalität einem entsprechenden empirischen Gehalt zugeführt war: die Erfahrung lehrt, dass rohe Materie keine innere Ursache der Beschleunigung hat, Kräfte sich in bestimmter Weise zusammensetzen (Kräfteparallelogramm) und in relativer Ruhe oder Equilibrium Aktion und zugehörige Reaktion aufzuweisen sind. Newton fand die entsprechenden empirischen Gesetze der Mechanik zum Kausalitätsbegriff, die so als notwendige Wahrheiten angesehen werden konnten.128 So verstanden ist ,Induktion` gut verträglich mit einem idealistischen Resultat. Die Axiome der Mechanik werden zu begrifflich-anschaulichen ,Ur`-(d. h. ideellen)-,Phänomenen` (-Tatsachen) einer Mechanik.129 Diese Darstellung Whewells, die nicht sonderlich abweicht von

126 Gemeint ist Whewells Philosophy of the Inductive Sciences, London 1847 127 Steiner spricht über meisterhafte Vorträge über Kepler und Julius Robert Mayer. Er las dann fast alle

Werke Mayers und konnte mit Reitlinger darüber diskutieren. 128 Vgl. die Darstellung Losees (1980), S. 120-128. Whewells ,Morphologie der Wissenschaften' hat auch

einen Goethe'schen Klang. 129 Noch in der Interpretation von Whewells Philosophie tritt die Entgegenstellung von Empirismus und

Kant'schem Idealismus hervor. Larry Laudan hält Whewells Vorstellung von notwendigen Gesetzen aus Induktion für logisch unhaltbar (William Whewell on the Consilience of Inductions, in The Monist, Vol. 55 (1971), S. 369-391), während Rescher in Conceptual Idealism (OXford 1973) ihm deshalb eine imputational theory zuschreibt (S. 90, Anm. 6).

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Steiners Auffassung, wird besonders sein Verständnis der exakten Naturwissenschaft mitgeprägt haben.

Steiner versucht die Zusammenstellung der empirischen Methode mit dem idealis-tischen Resultate folgendermaßen zu erklären. Reichten die logischen Urteile zur Auf-stellung von wissenschaftlichen Gesetzen aus, so bräuchten wir die Erfahrung außerhalb des Denkens nicht. Aber das logische Schließen selber ist „nur eine formelle Tätigkeit, die zu nichts Neuem führt" (GA 1\183) . Zwar besteht die wissenschaftliche Methode darin „daß wir den Begriff einer einzelnen Erscheinung in seinem Zusammenhange mit der übrigen Ideenwelt aufzeigen" (GA 1\17o), aber dieses Aufzeigen oder „Ableiten (Beweisen) des Begriffes", diese „Hin-und Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu Begriff`, oder auch das „Hervorgehenlassen eines Begriffes aus dem andern", ist nicht rein formell motiviert, sondern durch ,sachliche Gründe`, die wir aus der Erfahrung gewinnen (GA 1\170) . Erfahrungsgegenstand und Begriff sind nicht zwei verschiedene Sachen, sondern das Erstere „ist nichts als der Begriff` (sein Was). In dem Denken sind somit „die sachlichen und nicht bloß die formellen Gründe für unsere Behaup-tungen unmittelbar gegenwärtig" (GA 1\178). Darauf beruhen die wissenschaftlichen inhaltlichen Urteile, wenn entweder zwei Begriffe verbunden werden (,Keine Wirkung ohne Ursache'), eine Wahrnehmung und ein Begriff (,die Tulpe ist eine Pflanze`), oder Wahrnehmung und Wahrnehmung (,die Rose ist Rot' ).13° Immer ist zum Urteilen ein sachlicher Grund da. Sprechen wir dem Denken den Zugang zu den Gründen dieser Urteile ab, so wäre es Dogmatismus. Wir kennten dann das Warum eines Urteils nicht

(GA 1\176) . So gibt es „das Dogma der Erfahrung", wenn wir nur bei der bloßen, von Begriffen befreiten Erfahrung stehen bleiben sollten und nur deren Veränderungen beobachten, beschreiben und systematisch zusammenstellen sollten, ohne uns zu den noch nicht unmittelbar gegebenen Bedingungen zu erheben. Die rein deskriptive Tat-sachenwissenschaft (der konsequente Positivismus) ist jene Form des Dogmatismus, der übersieht, dass „wenn wir bis zu dem Punkte vordringen, wo uns die Wesenheit einer Sache als Idee aufgeht", wir in der Idee etwas haben, „das keine Erklärung von außen mehr fordert" (GA 1\177). Diesem Dogma gemäß sollte sie sich jedoch auf die bloßen Zufälligkeiten beschränken (GA 1\156) . Steiner lehnt sich deshalb auf gegen eine Formulierung wie von G. Kirchhoff, die Mechanik sei bestrebt, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschrei-ben" (GA 1\312).131 Steiner widerspricht, denn die Grundgesetze der Mechanik sollen den Kirchhoffschen Satz widerlegen. Das stimmt freilich nur, wenn die allgemein-

130 Der Unterschied ist nicht scharf bestimmt. ,Rose` und ,rot` sind ebensosehr Allgemeinheiten, wie Wahrgenommenes. Gemeint ist sicherlich, dass Tulpen, Rosen und die Farben aus der Wahrnehmung erkannt werden, nicht dass ihnen das Begriffselement fehlt (im Gegenteil). Vgl. Steiners Beispiel des ,Steinsalzwürfels`.

131 In: Vorlesungen über mathematische Physik, Bd. I, Mechanik, Berlin 1876, S. 1. Dazu u. a. Cassirer (1973),

S. 96-97. Diese Formel Kirchhoffs war damals eine wichtige Parole für einen naturwissenschaftli-chen Phänomenalismus und stimmt überein mit Machs Konzept einer ‚phänomenologischen Physik` (a. a.0., S. 98-100).

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sten mechanischen Grundgesetze nicht bloß einfach und generell sind, wie Kirchhoff behauptet, sondern auch notwendig und einsichtlich.132 Nach Whewell (Reitlinger) ist dies aber der Fall, und gleicherweise urteilt Steiner. Ein Grund soll immer noch da sein, wenn wir urteilen: ,keine Beschleunigung irgend einer Masse ohne Kraft'. Eine gleiche Kritik übt Steiner an Richard Avenarius und dessen minimalistischer Auffassung, die allgemeinsten Regeln seien nur bequeme Zusammenfassungen, Vereinfachungen, nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Von der Bequemlichkeit und der Vereinfachung wäre keine Notwendigkeit einzusehen (außer etwa eine rein pragmatische).133

Wenn Steiner die Grundsätze als Urphänomene einem ,notwendigen Zusammen-hang von Elementen der Wahrnehmungswelt` gleichstellt (GA 1\313), schreibt er dem Urphänomen eine intelligibele Struktur zu und zugleich diesem ideellen Gehalt eine empirische Basis. Hier entscheidet sich seine Art von Idealismus.134 Ziel der Wissen-schaft ist auch für Goethe, ,das Zufällige' auszuschließen (GGA 39\180). Diese ,

empirische' Notwendigkeit, die von Steiner, jedenfalls für die unorganische Natur, unterstellt wird, ist näher zu bestimmen.

Wenn Steiner in seiner Interpretation von dem ,Notwendigen` spricht, so hat es mehrere Bedeutungen:

a) Es gibt ,notwendige` und ,zufällige` Bedingungen (GA 1\276): „Einige sind unbedingt notwendig, um überhaupt ein derartiges Phänomen entstehen zu lassen, andere hinderten wohl nicht wenn sie abwesend wären". Man kann sich fragen, ob damit etwas anderes ausgesagt ist als die Mill'sche Method of Agreement und Method of Difference. Das Mill'sche Erkennen ist „nur ein ausgebildetes sinnliches Erfahren", und deshalb „kein wahres Erkennen" (GA 1\144-145) . Wir hätten wahrscheinlich nicht die ,Notwendigkeit` dieser Kausalität verstanden, wenn sie nur eine aus Vergleich sich ergebende Tatsache ist;

b) Steiner formuliert aber auch in anderem Sinne: Das Begreifen einer konkreten Erscheinung heißt, diese Erscheinung als ,notwendige` Folge der ideellen Voraus-

132 Dazu Cassirer (1973), S. 97. 133 Goethes erste Stufe des Wissens (s. o.). Vgl. unser §3.4.7 134 Richard Avenarius, Die Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.

Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig 1876. Steiners Kritik an diesem Positivismus und Instrumentalismus (Vgl. die ökonomische Natur der Begriffe bei Ernst Mach) gilt dem Punkt, dass den Begriffen an sich ein selbständiger Inhalt, eine direkte Objektivität abgesprochen wird. So wie auch später noch in Russells Empirismus, wo der InduktiVismus zwar überwunden ist, da — mit einer gewissen Ähnlichkeit mit Kants transzendentaler Analyse — Postulate vorausgesetzt werden müssen, um wissenschaftliche Gesetze als kausal-plausible Generalisationen möglich zu machen (Human Knowledge: Its Scope and Limits, London 1948). Diese Postulate sind für Russell jedoch nur ,habits` (Hume), mit denen wir uns zum Überleben an unsere natürliche Umgebung anpassen, letztendlich jedes objektiVen (= empirischen) Gehalts bar. Dieser Gedanke ist gleicherweise objektiv verwendbar: Gemäß einer neueren Darwinistischen Kosmologie (nach Lee Smolins The Life of the Cosmos, 1997) stellen objektiVe Gesetze die „heritable traits of the uniVerse", wodurch eine Generation von Universa sich behauptet (kontingente Invarianz garantiert größere Vererbbarkeit und Wahrscheinlichkeit des Vorkommens eines von Gesetzen strukturierten UniVersum; so dann Nozick (2001), S. 166-168).

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setzungen verstehen (GA 1\71): Die konkreten Erscheinungen werden ,abgeleitet` von den Phänomenen, die nur notwendige Bedingungen im Sinne von a) enthalten (GA 1\276) . Es könnte dies also eine formal-logische Ableitung aus allgemeineren empirischen Gesetzen sein. Über die Notwendigkeit der vorausgesetzten Regeln wäre dann noch nichts ausgemacht. Eine solche Notwendigkeit als Folge wäre eine nur formale und hätte keinen Bezug auf das Objekt selber;

c) Eine andere Redewendung Steiners lautet: Die „Notwendigkeit [ ... ] , die der Geist innerhalb seiner Ideenwelt findet, diese sucht er auch in dem übrigen Univer-sum." (GA 1\263) . Diese Notwendigkeit entsteht nicht durch Beobachtung, sondern dadurch, dass ,die bloß tatsächlichen Zusammenhänge` durch „eine innere ideelle Notwendigkeit" verknüpft werden (GA 1\263). Das allgemeine Gesetz selber halten wir dann für ,notwendig`.135 Es hängt beispielsweise ein Tatsachenkomplex a1 b1

c1 d1 e1 „mit innerer Notwendigkeit" von einem anderen Komplex a2 b2 c2 d2 e2

ab (GA 1\273). Bloße Regelmäßigkeiten genügen nicht, denn „wir erkennen, daß gewisse Zusammenhänge notwendig sind". Nur diese sind die Urphänomene und

ihre Ableitungen (GA 1\312) .

Es lässt sich abermals fragen, welche Art der Notwendigkeit Steiner hier bei c) meint, denn auch hier gibt es noch mehrere:136

1. die empirisch begründete Gesetzmäßigkeit (,Allgemeinheit`) selber, die an sich doch

kontingent sein kann, entweder wegen in der Erfahrung gemessenen Werten, die im Gesetz fungieren (z. B. die Gravitationskonstante in Newtons Gravitationsgesetz, ein begrifflich-anschauliches Element, ein empirisch gemessener Zahlwert), oder weil sie insgesamt aus empirischen Größenverhältnissen bestehen (die durch Induktion gewonnenen drei Kepler'schen Gesetze);

2. die logische Abhängigkeit empirischer Gesetze von höher geordneten, allgemei-neren Gesetzen (das Fallgesetz Galileis oder die Kepler'schen Gesetze unter den Gravitationsgesetzen Newtons);

135 Dadurch unterscheiden sich die Generalisierungen durch Induktion (die Allgemeinheit haben) von

Gesetzen (Poppers pointe in The Logic of Scientific Discovery, London 1957, Kap. i und X und Ap. i0, 9.

Aufl., S. 27-44, 262-265 und 420-441). 136 H. Kiene (Grundlinien einer essentialen Wissenschaftstheorie. Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners im

Spannungsfeld moderner Wissenschaftstheorien. Perspektiven essentialer Wissenschaft, Stuttgart 1984) behauptet zu Recht, dass Steiner dem modernen Induktionsproblem (in Poppers Analyse) nicht aus-gesetzt ist wegen seines ,Essentialismus` (im scharfen Kontrast zum modernen Anti-Essentialismus Poppers), freilich ohne auf die verschiedenen Arten der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit einzuge-hen. Wenn er dann scheidet in ,Identitätserkenntnis`, ,Beziehungserkenntnis` und ,Wesenserkenntnis` (d. h. die ,essentiale Erkenntnis', auf die Steiner zielen würde; S. 110-112) übersieht er, dass für Steiner alle drei Stufen nur wegen des Begriffes Bestand haben und die Identifizierung die erste Leistung des in sich wesenhaften Begriffs ist (vgl. Steiners ZirkelVerfahren in der Interpretation Von Goethes Raum-begriff in § 4.2.8). Damit wird aber undeutlich, was die essentiale Erkenntnis bei Steiner noch anderes sein soll als eben Erkennen durch Begriffe, wie Kiene durch den angeführten Unterschied suggeriert.

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140 KAPITEL IV

3. die Notwendigkeit der rein begrifflich begründeten, aber doch anschauliche Ele-mente enthaltenden, der Erfahrung entsprechenden Gesetze (wie etwa Whewells Vorbild: Newtons K = mb).137

Nur die letzte Art ist m. E. eine Notwendigkeit, „die der Geist innerhalb der Ideenwelt findet". Ein Beispiel eines zusammenhängenden corpus von reinen Begriffsurteilen haben wir in Hegels Logik, die ihre empirische Anwendung in der Phänomenologie des Geistes und in der Naturphilosophie findet. Es gibt im Naturerkennen, wie in der Logik, für Steiner immer eine Grundlage zum Urteilen in dem Inhalt der zu verbindenden Begriffe selber: „Indem die Teile unserer Ideenwelt in den Urteilen zusammenfließen, ist es der eigene Inhalt derselben, der das bewirkt, nicht Gründe, die außerhalb liegen. In unserem Denken sind die sachlichen und nicht bloß die formellen Gründe für unsere Behauptungen unmittelbar gegenwärtig" (GA 1\178) . Man findet die innere Beziehung aus den Begriffen selber, bzw. die Beziehung ist der Inhalt der Begriffe.138 Steiner nimmt offensichtlich an, man könne dann nicht anders urteilen. Die von Erfahrung gesättigten Begriffe reichen für die Urteilsbildung aus. Der Grund liegt also nicht außerhalb des Begriffes (Induktion als Generalisation oder method of agreement and difference), wodurch das Verstehen seine Grenze erreicht haben würde.

Hier liegt mehr als eine historische Parallele zu Hegel vor, da Hegel in seiner Naturphilosophie ein Verstehen der Natur voraussetzt, worin wir die Notwendigkeit des Begriffes selber wiedererkennen: „Indem die Naturphilosophie begreifende Betrachtung ist, hat sie dasselbe Allgemeine, aber für sich zum Gegenstand und betrachtet es in seiner

137 Wir sehen hier natürlich ab von den Komplikationen der RelatiVitätstheorie, worin ein anderer Begriff der Masse auftritt. Die Bewegung (also auch die Beschleunigung ,b`) ist anschauliche Größe. Steiner versteht ebenso unter der Masse ,m` ein der ,Anschauung` entlehntes Element, jetzt das willenhaft erlebte Phänomen der Schwere (GA 320\47-50). Es demarkiert den realen Unterschied zwischen Phoronomie und Mechanik (ebd.), der freilich in der Relativitätstheorie wieder aufgehoben wird durch eine Äquivalenz Von GraVitationsfeld und Zeit-Raumeskrümmung durch Massenverteilung. Vgl. dazu ferner Georg Unger, Vom Bilden physikalischer Begriffe, Teil i, Die Grundbegriffe von Mechanik und Wärmelehre, Stuttgart 1959, S. 42-44. Unger, damals Leiter der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, zeigt, wie das zweite Newton'sche Prinzip als Erfahrungssatz aus der Statik und Dynamik gebildet werden kann, ohne sie als hypothetische Definition aufzustellen. Auch Kiene (1984) betrachtet das zweite Gesetz Newtons als eine Darstellung eines Wesenszusammenhangs (S. 66). Newton selber hielt ihn für kontingent: Losee (1980), S. 93-94, was wohl die konVentionelle Auffassung ist (vgl. E. Nagel, The Structure of Science. Problems in the Logic of Explanation, 2. Aufl. 1968, London, S. 202). Sollte es ein notwendiger Wesenszusammenhang sein, so hätte man dies erst, etwa folgendermaßen, zu begründen. Nach Steiner ist der Begriff des ,trägen (selbstlosen) Körpers` freie Konstruktion, keine empirische Abstraktion (GA 1\266). Aus diesem Begriff folgt notwendigerweise, dass die Veränderung des Bewegungszustandes eines solchen Körpers nicht aus ihm selber herVorgeht (Newtons Gesetz der Trägheit) und die Beschleunigung (Änderung) somit eine äussere Einwirkung (Kraft) voraussetzt (Newtons zweites Gesetz). So sieht es Hegel: die AXiome der Mechanik sind nur Folge des abstrakten Körperbegriffs (ENZ § 264).

138 Vgl. „Der Geist gruppiert also die Tatsachen der unorganischen Welt so, daß er in einem Geschehen oder einer Beziehung die Folge der Verhältnisse der Tatsachen erblickt. So bringt der Geist die Notwendigkeit in die Zufälligkeit" (GA 2\89).

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eigenen, immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs" (ENZ § 246) . Da die Natur für sich „anschauende Idee" (ENZ § 244) ist, d. h. in einseitiger Bestimmung der negativen Unmittelbarkeit, ist sie die in sich zurückkehrende, in sich scheinende Idee, also zugleich reflektierend in der Unmittelbarkeit (Anschauung) als Gegenteil, d. h. ein „Durchscheinen des Begriffs" in der äußeren Reflexion der Erfahrung (die Notwendigkeit in der Natur; ENZ §248). Das andere Element der Anschauung ist das nur Momentane (Zufällige), das kein Bestehen hat gegenüber dem Allgemeinen (und so noch die Macht des Begriffes zeigt; ENZ § 248, Zusatz). Es werden in der Natur „Spuren der Begriffsbestimmung" bis in die Partikularität der Erscheinungen gefunden. Das Zufällige dagegen, dem das Besondere in seiner Ausführung in Natur nun einmal ausgesetzt ist, kann man weder begreifen noch deduzieren. „Das, was die Besonderheit eines Objektes ausmacht", sagt auch Steiner, „läßt sich nicht begreifen,

sondern nur anschauen" (GA 1\154), und unmittelbar folgt bei ihm das Beispiel von W.T. Krug, der die Naturphilosophie auffordete, ihm seine Schreibfeder zu deduzieren (entlehnt aus ENZ § 250, Anm. 1). Krugs Vorwurf ist unzulänglich der, wie Steiner es nennt, „Idealphilosophie" (GA 1\154) gegenüber, wozu dann nicht nur Hegel und Schelling (,Identitätsphilosophie'), sondern auch seine eigene und Goethes Ansicht zu rechnen sind.

Die erste Art der Notwendigkeit hält die Mitte zwischen der Kontingenz und Notwendigkeit. Der Begriff nimmt die Anschaulichkeit in sich auf (Steiners Beispiel eines Steinsalzwürfels) und damit Bestimmungen, die nicht deduzierbar sind. Insofern das begriffliche Element beteiligt ist, harrt das besondere Gesetz noch der Einfügung in die Idee. Die zweite ist eine formale, die uns instand setzt, die Grundprinzipien und abgeleitete Teilphänomene zu unterscheiden und Letztere in ihrer Allgemeinheit zu „erklären". Soll das aber nicht heißen, dass es im Grunde nur Begreifen auf der letzten, dritten Stufe des immanent Notwendigen gibt und hier eine Art von Verstehen gemeint ist wie bei der Naturphilosophie Hegels? Sind wir dann nicht bei einer völligen Umkehrung von Steiners Behauptung angelangt, er gründe die Naturwissenschaft nicht auf die dialektische Methode Hegels, sondern auf einen höheren Empirismus? Ist mit der erkenntnistheoretischen Voraussetzung, die Erscheinungswelt sei nur die Idee in anderer Form, nicht doch die ernsthafte Erfahrungsbasis der Wissenschaft gefährdet?

§ 4.2.8. Der Induktionsbegriff

So wäre dann nochmals zu fragen, wie Steiner das Verhältnis von Anschauung und Denken bestimmt. Wie geht jenes in diese über? Entfernt das Denken sich nach dem ersten Anstoß der Anschauung nur von ihr, und wie kehrt es wieder in der Erfahrung zu ihr zurück?

Das Band zwischen Begriff und Sinneserscheinung ist nur vom Denken aus zu bestimmen (Bestimmen ist ja Denken, und da fangen die Voraussetzungen an; GA 1\143 und 158-159). Die erste Charakteristik war der Unterschied der Sinneserfahrung zu uns. Das Denken fordert, wie hiervor schon behandelt, unser Mitwirken, während die

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142 KAPITEL IV

Erfahrung ohne unsere Aktivität unmittelbar sich dartut.139 Steiner qualifiziert die Sin-neserscheinung zum Besonderen des Begriffs (GA 1\152-153) . Vor- und nachher (GA 1\146 und 159) bezeichnet Steiner die „unmittelbare Erfahrung" oder „das Gegebene, wie es ist" auch als ein „zusammenhangsloses Aggregat von Wahrnehmungsakten" oder „Mannigfaltigkeit" (in einer hier von Johannes Volkelt vermittelten Kant'schen Tra-dition),140 aber dies ist streng genommen widersprüchlich, da hier das Unmittelbare schon in Beziehung zu dem, diese Mannigfaltigkeit verbindenden Denken charakteri-siert ist, nicht bestimmungsfrei141 und schon verstandesmäßig in getrennten Einzelhei-ten aufgefasst. Anders gesagt, hier ist schließlich nur der Verstand im Verhältnis zu der Erfahrung, nicht diese selbst gedeutet. Steiner nennt den Bereich der Anschauung (in Bezug zum Denken) auch ,das Besondere' gegenüber dem Bereich des Begriffes als ,das Allgemeine`.142 Der Begriff des Dreiecks ist allgemein und umfasst angeschaute einzelne Dreiecke. Dies ist eben das Fundamentalverhältnis: die strenge Einheit des Begriffs, der sich nicht teilt und vermannigfaltigt, und unendlich oft vorgestellt immer ein und derselbe ist, gegenüber den angeschauten Dinge, besonderen vollbestimmten ,Diesen`, denen jeweils ebenso andere gegenüberstehen (GA 1\152). Die Einheit der Wesengleich-heit vom Begriff und Erfahrung als Besonderungsgrund ist prinzipiell unhintergehbar.

Dieses fundamentale Verhältnis ist nicht gleich Kants Gegensatz ,inhaltsvolle An-schauung und leerer Gedanke`.143 Der Begriff ist nicht leer: die Autarkie des Ideellen (§ 4.2.3) . Die Identität des Begriffes in den verschiedenen Vorstellungen von ihm, seine Einheit gegenüber den vielen besonderen Dingen, liegt nur in seinem Inhalt: „Das Bedeutungsvolle, der Gehalt muß mir die Identität bürgen" (GA 1\152).144 Deswegen ist die Anschauung nicht reich an Bestimmungen und der Begriff arm. Es wird die unendliche Anzahl der besonderen Bestimmungen in der Anschauung beim Begriff durch die allgemeinen Qualitäten kompensiert: „So wie aber im Begriffe sich die Zahl nicht findet, so fehlt der Anschauung das Dynamisch-Qualitative der Charaktere" (GA 1\155). Damit hat Steiner entschieden die Dynamik als rein Ideelles bestimmt. Die dynamische Vorstellungsart ist eine in der Vernunft gegründete, wie die atomistische eine von den Sinnen (Gewordenes) dominierte. Der Begriff — und Steiner spricht jetzt im Singular — ist ebenso individuell und inhaltsvoll wie die Anschauung: „Der

139 „Wie aus der Pistole geschossen", sagt Steiner mit einer Redewendung von Hegel: PHDG, Vorrede\26. 140 Vgl. Steiners Hinweis auf Volkelts Kants Erkenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert,

Hamburg 1879 (GA 1\146). 141 „Wir müssen, wenn wir sie [die Sinnenwelt] in ihrer Reinheit haben wollen, uns enthalten, ihr irgendein

charakterisierendes Prädikat beizulegen" (GA 1\158). 142 Nun gibt es das Allgemeine und Besondere auch rein im begrifflichen Element. Verschiedene Begriffe,

die sich nicht auf Sinnliches beziehen, unterscheiden sich als besondere gegeneinander. Steiner meint hier das Besondere als das Besondere zur zugehörigen Allgemeinheit, wie sich ergeben wird.

143 KDRV B 75: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind". Kant nennt die Kategorien „bloße Formen" der Synthesis, „ohne allen Inhalt" (Vgl. B 102-103).

144 WDL II\285: „Wenn der Begriff daher überhaupt als leer gescholten ist, so wird jene absolute Bestimmt-heit desselben verkannt, welche der Begriffsunterschied und der einzig wahre Inhalt in seinem Element ist".

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Unterschied ist nur der, daß bei der Erfassung des Inhalts der Anschauung nichts notwendig ist als offene Sinne E ...1, während der ideelle Kern der Welt im Geiste durch dessen eigenes spontanes Verhalten entstehen muß" (GA 1\155; vgl. § 4.2.2). Das ,Nur` bezieht sich hier auf den Unterschied im Inhalt. Der Reichtum des Begriffs145 zeigt sich

nicht auf einmal, sondern nur schrittweise, wenn wir denken (vgl. § 4.2.2). Bleibt, dass die Anschauung eine Besonderheit zeigt, deren Grund nicht im Begriffe

liegt: „Das, was die Besonderheit eines Objektes ausmacht, lässt sich nicht begreifen,

sondern nur anschauen". (GA 1\154). Außer Hegel146 kann hier als geschichtlicher Hin-tergrund die alte, auf Aristoteles sich stützende scholastische Tradition (Thomas von Aquin u. a.) genannt werden, wo die allgemeine Form von der Materie individualisiert wird zur partikularen Substanz, zum Einzelding.147 Von dieser Überlieferung her, hellt sich auch das angedeutete Verhältnis von Begriff und Sinneswahrnehmung und der ,induktiven Methode` weiter auf.

Steiner studierte eingehend die Analytica posteriora von Aristoteles.148 Aristoteles behauptet, dass wir nur das Notwendige und Allgemeine verstehen durch Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen (,apodeiksis`). Das Zufällige ist kein Gegenstand der beweisenden Wissenschaft und nur ein Erkennen durch die Wahrnehmung. Frei-lich kennen wir das Allgemeine nicht ohne Induktion (,epagoge`) aus der Erfahrung, und ferner sind die höchsten Prinzipien selber nicht ableitbar. Sie müssen evident sein.149 Steiner notiert in seinem Exemplar bei Kap. A-10: „Oberste Grundsätze las-

sen sich nicht beweisen" und „Dass". Am Ende von Buch A: „Wissen ist Kenntnis des Notwendigen" und „Beweises-oberster Grundsatz". Wir schließen aus diesen wohl zustimmend gemeinten Notizen, dass Steiner damit sich die hier genannte Grund-struktur von Aristoteles' Wissenschaftslehre aneignete. Die Lehre der Induktion ist bei Aristoteles allerdings sehr fragmentarisch. In diesem Zusammenhang bezieht Steiner sich mehrmals150 auf „seinen alten Freund" Vincenz Knauer und dessen aristotelischen

145 Ganzähnlich wieder Hegel: „Das Allgemeine dagegen ist das Einfache, welches ebensosehr das Reichste in sich selbst ist, weil es der Begriff ist" (WDL II\275).

146 Hegel: Die Natur (,anschauende Idee`) entsteht dadurch, dass die Idee ,das Moment ihrer Besonderheit' außerhalb sich stellt, ,aus sich entläßt` (ENZ § 244).

147 Aristoteles, Physica 1,5: „Das Allgemeine ist für die Vernunft bekannt, das Einzelne aber für den Sinn" und Thomas von Aquino Summa theologica, pars 1, quaestio 86, 1. Art.

148 Nachweisbar an der Ausgabe von J.H. Kirchmann, Aristoteles' zweite Analytiken, oder, Lehre vom

Erkennen (Leipzig 1877), im Nachlass Steiners mit vielen Lesespuren. Fast alle Schriften Von Aristoteles sind in Steiners Nachlass in einen oder mehreren Ausgaben Vorhanden.

149 Aristoteles erfasste die Induktion-Deduktion-Struktur, die sich bis heute als Grundstruktur wissen-schaftliches Erkennens erhalten hat. Dazu Wolfgang Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, Stuttgart 1998, S. 18 und 19-29. Der Terminus „Induktion" führt zurück auf Ciceros Übersetzung Von Aristoteles Ausdruck „epagoge" in „inductio"; a. a. O., S. 27. Gemeint ist ein inVentiVes Lernen aus-gehend von der ,Sicht des Gleichen` in der Wahrnehmung ,hinführend` zum noetischen Allgemeinen; W. Schmidt, Theorie der Induktion, München 1974, S. 87-102 und 126-128.

150 In: Die erkenntnistheoretische Grundlagen der Theosophie (1903; in GA 51), Anthroposophie und Philoso-

phie (1908; in: GA 35), Die Welt der Sinne, die Welt des Geistes (1911; GA 134\32-33), Von Seelenrätselen

(1917; GA 21\139) und dem dritten naturwissenschaftlichen Kurs von 1921, (GA 323\116).

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144 KAPITEL IV

Witz aus Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und teilweisen Lösun-gen von Thales bis Robert Hamerling (Wien 1892). Die Form eines Wolfes, die wir denken können, ist zugleich etwas Reales, denn wenn er auch immer Lämmer frisst und ihnen der Materie nach gleich wird, so wird der Wolf doch kein Lamm. Diese Form nehmen wir ins Denken hinüber.151 Dafür benutzt Steiner das Originalbeispiel Aristo-teles' De anima (424 a 17), das Aristoteles für die Wahrnehmung anwendet, obwohl es, mit gewisser Modifikation, auch für die allgemeine Erkenntnis gelten kann: Der Petschaftring macht einen Abdruck in Wachs; nur die Form wird übertragen, wäh-rend Ring und Wachs der Materie nach verschieden sind und bleiben. Unser Geist wird eins mit der Form des äußeren Objekts ohne seine Materie.152 Aristoteles „findet die richtige Beziehung zwischen dieser Gedankeneinheit und einem objektiv Wirkli-chen, jenem Objektiven, das zu dem Ding an sich führt — indem er zeigt, daß wir bei konsequentem Denken die Erfahrungswelt um uns herum zusammengesetzt denken müssen aus Materie und aus dem, was er die Form nennt" (GA 35\89). Steiner meint, der ,gerade Weg' von Aristoteles heraus hätte verhindert, dass in der Philosophie der Nominalismus und Subjektivismus herrschend geworden wären (GA 108\182). Dieser Weg führt im Mittelalter zum Thomismus,153 der schließlich in dem Goetheanismus „nur mit Frontänderung nach der Naturwissenschaft hin" weiterleben sollte.154 Steiner interpretiert den Universalien-Realismus von Thomas im Sinne seines Goetheanismus. Die species intelligibilis setzt er zum Beispiel gleich dem Typus ,Wolf, den der Mensch an

151 Aristoteles, De anima 429 b 29-430 a ii. 152 De anima 429 b 29-430 a 9. Hamlyn in seinem Kommentar Aristotle's De Anima, Books II and iii,

translated with Introduction and Notes, OXford 1968, S. 139-140, nennt diesen Passus „eXtremely obscure, since there is no physical counterpart as in the case of perception", aber sieht daran vorbei, dass seine hypothetische Symmetrie ein Abbildungsverhältnis im Erkennen voraussetzt, das Steiner zufolge nicht zutrifft. Dass man mittlerweile Aristoteles hier auch Verständnis entgegenbringen kann, geradezu v0n Seite der analytischen Philosophie, zeigt Rosen (1980): „Intelligence cannot be a structure in any determinate sense, because its function is to apprehend and to eValuate structures. [ ... ] This is much clearer in Aristotle than in contemporary philosophy of mind" (S. 36).

153 An der UniVersität im katholischen Wien war natürlich viel Interesse für Thomas. Der Thomismus war 1879 durch Papst Leo XIIl zur offiziellen Philosophie der katholischen Kirche erhoben. Steiner war u. a. vertraut mit den Thomas-Biografie des Wiener Theologiehistorikers Karl Werner und einer Thomas-Monografie von Vincenz Knauer. Sympathisch war ihm Jakob Froschhammer, und er besaß dessen Die Philosophie des Thomas von Aquino (im Nachlass). Auch gefiel ihm in seinen Berliner Jahren besonders Otto Willmanns (Philosophieprofessor in Prag) umfangreiche Geschichte des Idealismus (1894-1897), das neuthomistische Gegenstück zu Langes Geschichte des Materialismus (dazu L. Hänsel, Otto Willmann und die Gegenwart, in: Otto Willmann zum Gedächtnis, herausg. L. Krebs, Freiburg im Breisgau 1940, S. 45). Vgl. GA 28\128-90 und 399-400. Im Nachlass findet sich auch R. Euckens Thomas von Aquin und Kant (Berlin 1901).

154 GA 74: Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920), hier S. 92 f. Steiners Schüler Roman Boos hat diese Vorträge durch historisches Material zu ergänzen versucht in Thomas von Aquino. Übersetzungen, Aufsätze, Vorträge, Schaffhausen 1959 (die Übersetzungen mit Einleitung von Boos erschienen 1930 als Anhang einer GA-74-Ausgabe). Boos hält die philosophische Terminologie des deutschen Idealismus für eine Weiterbildung des Sprachgutes von Thomas, das durch Meister Eckhart ins Deutsche übersetzt wurde und seitdem bis zum Goetheanismus sich erhalten haben soll; Boos (1959), S. 190-191.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 145

der sinnlichen Erfahrung „herausbildet".155 Eine Art psychologischen Abstraktionsme-chanismus (Locke und Hume) nimmt Steiner nicht an156 und sieht auch keine Ursache, sich hier von Thomas zu distanzieren.157 Er würde Thomas dagegen zustimmen, die Universalien in Rebus und die Universalien post res sind der Form158 nach verschieden,

aber innerlich, inhaltlich diesselben (GA 74\62-63). Der ideelle Zusammenhang irgend-welcher Erscheinungen „entspringt [ ... ] seinem Inhalte nach aus der Objektivität, wie

er seiner begrifflichen Form nach aus dem Bewußtsein entspringt" (GA 1\149).159 Hier greift Steiner mit Goethe zurück auf Aristoteles. Der frühe Aufsatz Über das Wesen

und die Bedeutung von Goethes Schriften über organische Bildung (GA 1\7o ff.) gipfelt in dem Unterschied, womit das Organische abgehoben wird von dem Unorganischen. Hier kann man sagen, die notwendigen Bedingungen für das Eintreten irgendeiner Erscheinung sind selber Erscheinungen (z. B. Masse und Distanz bei dem Beschleu-ningungsmaß einer Gravitationswirkung). Dort ist das Ganze des Organismus mitbe-

155 Steiner sagt nicht ,abstrahiert` wie in der Summa theologica, pars 1, quaestio 85, Art. 1.

156 Wie auch Aristoteles nicht. In De anima ist die einfachste Gedankenbestimmung (,simbebekos`) schon ein bei der Wahrnehmung Hinzukommendes, und wird nur uneigentlich perzipiert (anders als die koina: Bewegung, Figur, Einheit, Größe, usw.: 418 a 17-25), weshalb wir uns darüber irren können (428 b 17-25) .

157 Dass die intelligible species in der Abstraktion durch ,illuminatio` aus den ,phantasma` gewonnen werden, heißt noch nicht, sie sind ein Überrest einfach durch Auslassung bestimmter Sinnesbestim-mungen (Abstraktion im Sinne von Locke und Hume). Nicht Von den Sinneserscheinungen als solchen (den spezifischen und gemeinsamen Objekten der Sinne bei Aristoteles) sind die species ein geistiges

Gleichnis (,similitudo`), sondern von der Natur der Arten, der UniVersalien in re (Vgl. S. Th., pars 1, questio 85, 1. Art., ad 4). Abstrahiert wird von der Materie: die Sinnlichkeit wird fallen gelassen. Jedenfalls scheint dies Steiners Lesung Von Thomas zu sein. Auch heute wird noch verteidigt, dass eine unmittelbare Kombination Von Denken und Anschauen unumgängliches Fundament des Erken-nens ist. Rosen (1980) Verteidigt, in Abhebung Von Quine und DaVidson, eine ähnliche Interpretation und die Aktualität von Aristoteles Voraussetzung der Urteilslehre (S. 52-64). Jede Analyse unterstelle die Intuition von Essenzen mit ,phenomenological presence' (S. 59). Eine Absage dieser vorwissen-schaftlichen Erfahrung untergräbt sowohl conceptual analysis (S. 63) als auch jede Art Von reference

(S. 67). Auch von Seiten des neueren Konzeptualismus ist klar, dass es kein „Außerhalb der Idee" gibt, weshalb Konzept und Intuition gleichen Beitrag zur Erkenntnis liefern können. So McDowell (1996), S. 26.; „That things are thus and so is the conceptual content of an eXperience" (mit Hinweis auf Hegels ,Unbegrenztheit des Begrifflichen' auf S. 44). Noch ein strenger ,coherentism` setzt heute

den input der Erfahrung Voraus: M. Carrier, The Completeness of Scientific Theories, Dordrecht 2000,

S. 215. 158 Jetzt als Gegensatz zum Inhalt, statt zur Materie. Scholastisch „der Begriff ist formaliter begründet im

Subjekt und fundamentaliter im Objekt" (GA 35\93). 159 Die Möglichkeit dazu liegt darin, dass die Form Geistiges ist: „Wir können das Wesen aber in jedem

Augenblick erkennen, denn es liegt im Geiste. Der Geist fließt in den Stoff, in uns ein, wie der Name, der auf dem Petschaft steht, in den Siegellack hinübergeht" (GA 52\136). So stimmt er a. a. O. Johannes Baumann (Ordinarius der Philosophie in Göttingen) zu, ,daß wir nur eine Sache erkennen, wenn wir drinnenstehen` (Quellenhinweis Von den Herausgebern Von GA 52). Wir sind hier schon an der Grenze, wo Steiners Philosophie übergeht in Theosophie bzw. Anthroposophie. Der Materialismus ist dieses Resultat, oder auch Voraussetzung, unmöglich und daher ,unintelligible` (vgl. Hamlyn (1968), S. 140).

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146 KAPITEL IV

stimmend, und das Ganze ist nur Idee, oder nach Goethe Entelechie:160 „Entelechie ist also die sich aus sich selbst in das Dasein rufende Kraft" (GA 1\83). Die Aristotelische Form ist auch ontologisch als Aktivität (,energeia`) präsent, und hieran knüpft sich Steiners Betonung, Goethes Typus sei Entelechie.161 Andererseits wird die Asymmetrie von Idee und Entelechie erklärt: „Die Idee des Organismus [ ... ] ist als Entelechie im Organismus tätig, wirksam; sie ist in der von unserer Vernunft erfaßten Form nur die Wesenheit der Entelechie selbst." (GA 1\85) . Wirkend ist sie nicht in unseren Begriffen, sondern nur im Organismus, sodass die Idee ihr Gleichnis ist (Thomas: ,similitudo`), ohne selbst ein Wirkendes (oder: wirkender Geist) zu sein. Dem Inhalt nach ist sie für Steiner diesselbe. Dann ist „im Typus [ ... ] Ideelles und Reales zur Einheit geworden." (GA 1\87). Wollen wir ihn in seiner eigenen Form verstehen, so haben wir also freilich noch unsere subjektive Form zu substrahieren.

§ 4.2.9. Induktion und ,reines Phänomen'

Steiner hat im ,Goethe'schen Raumbegriff diesen Induktionbegriff methodisch geglie-dert (vgl. § 3.4.9) . Diese Methode der Konstruktion des Raumbegriffs, wodurch Steiner die Dreidimensionalität konstruieren will, „ist eigentlich nur ein spezieller Fall der von uns immer angewendeten Methode, wenn wir an die Dinge betrachtend herantreten" (GA 1\292). Es ist dieses Vorgehen u. E. nichts anderes als die erweiterte Aristotelische Induktion. Sie verfährt in drei Schritten:

1. Die intelligible ,Form` erhalten wir weder durch passives Abwarten noch durch Selektion von Sinnesdaten, denn die erste Stufe ist: „Wir stellen konkrete Objekte unter einen allgemeinen Gesichtspunkt" (GA 1\292). Das Wort ,Gesichtspunkt` deutet wohl an, dass wir schon einen Begriff haben, aber uns dieser nicht als solcher bewusst ist und nun auf anderes bezogen wird, das wir anschauen. Zum Bewusstsein dient der Widerstand der Sinneserfahrung,162 worauf wir den Begriff

160 Bei Aristoteles der Akt, welcher das Ziel, sein ,telos` in sich hat, und deshalb nur die Wirklichkeit oder Aktualität der Form in der Materie sein kann (Metaphysik 1X, 1050 a 15-24 und 1050 b 1-4).

161 Über den Aristotelismus bei Goethe Vgl. Karl Schlechta, Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles, Frankfurt am Main 1938: Sowohl in der Farbenlehre als auch in der Morphologie und der dynamischen Naturlehre im Allgemeinen entsprechen Goethes Vorstellungen denjenigen von Aristoteles. Über ,Ente-lechie` siehe ebd., S. 67. Neuerdings haben Vernon Pratt und Isis Brook diesen inneren schöpferischen Aspekt des Goethe'schen Typus betont (Goethe's Archetype and the Romantic Concept of the Self, in: Studies in the History of Philosophy and Science, 1996, Bd. 27, S. 351-365).

162 Dieser Widerstand heißt eine Umkehrung unserer Willensbetätigung. Über diesen Punkt die Disser-tation Friedemann Schwarzkopf über Steiner The Metamorphosis of the Given. Towards an Ecology of Consciousness, New-York 1995, 11. Kap. The Reversal of the Will: instructed Not-Knowing, S. 125-134. Schwarzkopf nimmt Rekurs auf Cusanus' docta ignorantia, um das Moment des Nichts (Nicht-Ich) im Ich zu deuten. Die ganze Arbeit ist von der Logos-Philosophie des Anthroposophen Georg Kühlewind durchtränkt, die ihr einen religiösen Tiefgang, jedoch zugleich eine philosophische Unterbestimmtheit gibt.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 147

anwenden: „Dadurch gewinnen wir Begriffe von den Einzelheiten" (GA 1\292). Das Resultat ist ein zum Objekte vereinzelter Begriff.

2. Die zweite Stufe ist derselbe Vorgang, jedoch mit dem Resultat des ersten als Objekt zum Ausgangspunkt: „Diese Begriffe betrachten wir dann selbst wieder unter den gleichen Gesichtspunkten" (GA 1\292). Das Resultat sind die Begriffe von diesen vereinzelten Begriffen („Begriffe dieser Begriffe"; GA 1\292), Begriffe zweiter Potenz.

3. Wenn wir nun diese Begriffe verbinden unter dem gewählten Gesichtspunkt, so tritt die ideelle Einheit hervor: „Dann verschmelzen sie in jene ideelle Einheit, die mit nichts anderem mehr als mit sich selbst unter einen Gesichtspunkt gebracht werden konnte" (GA 1\293) .163 Es gibt stets nur den einen Gesichtspunkt, der jetzt selber als ideell erfasst wird, als Begriff bewusst wird: „Ich bin wieder zu dem zurückgekehrt, wovon ich ausgegangen bin” (GA 1\293).

Dieser Zirkel164 ist nicht einer, worin der Begriff erzeugt wird aus anderem, sondern worin er bewusst wird. In Hegels Sprache: ,An sich` hat der Geist den Begriff schon, aber dieser ist noch nicht ,für sich', noch nicht für den Geist bewusst geworden, solange er noch ,Gesichtspunkte` ist, der von sich weg sieht. In drei Schritten kommt das Denken zu sich. 1: Es erkennt im Objekte den Begriff (den ,Gesichtspunkt`) wieder. Da ist er ,Form` eines konkreten Objekts der Erfahrungswelt. 2: Die unmittelbare Beziehung dieser Formen in einem neuen Begriff ist dem ursprünglichen Begriff schon ähnlicher, nur die Termini der Beziehungen sind nicht-begrifflicher Natur. 3: Wird nur auf die Identität dieser Beziehungen geachtet, so ist auch dieser Rest fortgelassen und der Begriff als Objekt fällt mit dem ,Gesichtspunkt`, mit dem anfänglich nur subjektiv verwendeten Begriff zusammen. Es stellt dies die ,Abstraktion` von der Materie der Sinnlichkeit dar.165

163 Das konkrete Beispiel Steiners: Unter dem Gesichtspunkt der ,Freundschaft` merken wir die Personen A

und B als Freunde an, wie auch B und C. Dann betrachten wir die zwei Freundschaften (a und b) zwischen den Paaren. Schließlich, wenn wir ganz absehen Von A, B, C und D und nur die Relationen a und b beachten, haben wir den Begriff der Freundschaft vor uns (GA 1\293).

164 Über den verwandten hermeneutischen Zirkel vgl. Anm 26 und 137 und Bortoft (1996), 74-75. Steiners Version ist idealistischer als die hermeneutische Variante des ,Zirkel des Verstehens' (Heideggers Sein

und Zeit, § 32, S. 148-153, und H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 250 ff.). Der investierte Gesichtspunkt kann sich durch die Erfahrung dermaßen bestätigen, dass wir sie als das Wesen der Sache ansehen dürfen. Heidegger deutet ,epagoge` bei Aristoteles als „das Sehen und Sichtbarmachen dessen, was [ ... ] schon im Blick [auf das Sein des einzelnen Seienden] steht", und was missverständlich für eine unzulässige ,petitio principii` gehalten wird (Vom Wesen und Begriff der

physis. Artistoteles, Physik B, 1, in: Gesamtausgabe Bd. 9, Wegmarken, S. 244). In Gadamers Hermeneutik wird das Wesen der Erfahrung Vorgestellt als der Umschlag ins Gegenteil, ins im produktiVen Vorurteil nicht Mitgedachte, wodurch die Auslegung der Erfahrung ein ins Offene fortgehendes, zirkelhaftes Geschehen wird, das nicht in der Allgemeinheit zur Ruhe kommt; Vgl. Gadamers (1975) Kritik an der Induktion und Erfahrungsbegriff Von Aristoteles (a. a. O., S. 355-339).

165 Wie Thomas sagt: Von der besonderen Materie, nicht Von der Materie als Allgemeines (Summa

theologica, pars 1, quaestio 85, Art. 2). Diese nimmt der Begriff in sich auf und ist auch notwendiger Bestandteil in empirischen Begriffen wie Steiners ,Steinsalzwürfel` (GA 1\326).

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148 KAPITEL IV

Goethe hat nicht eine solche Abstraktionstheorie im Allgemeinen. Wohl hat er in Erfahrung und Wissenschaft vom 15. Januar 1798, worin er am weitesten in methodische Probleme der Wissenschaft eingedrungen ist, seine Methode beschrieben und in drei Stufen eingeteilt. Im Allgemeinen beschreibt Goethe seine Methode folgendermaßen:

„Wenn ich die Konstanz und Konsequenz der Phänomene bis auf einen gewissen Grad erfahren habe, so ziehe ich daraus ein empirisches Gesetz und schreibe es den künftigen Erscheinungen vor. Passen Gesetz und Erscheinungen völlig, so habe ich gewonnen; passen sie nicht ganz, so werde ich auf die Umstände der einzelnen Fälle aufmerksam gemacht und genötigt, neue Bedingungen zu suchen, unter denen ich die widersprechenden Versuche reiner darstellen kann; zeigt sich aber manchmal, unter gleichen Umständen, ein Fall, der meinem Gesetze widerspricht, so sehe ich, daß ich mit der ganzen Arbeit vorrücken und mir einen höhern Standpunkt suchen muß" (GGA 39\179).

Das „empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur gewahr wird" (GGA 39\180) macht den Anfang (Steiners unmittelbare Objekte A, B, C, usw.; schon begriffliche Einzelheiten). Die Konstanz und Konsequenz weisen auf den Begriff dieser Phänomene hin, das „wissenschaftliche Phänomen", das „durch Versuche erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen, als es zuerst bekannt gewesen, und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt" (GGA 39\180). ,Konstanz und Konsequenz' sind noch die konkreten Beziehungen (bei Steiner als a, b, usw. symbolisiert). Gelingt es, das Identische in dem variierten Versuche zu entdecken, so haben wir, nach Goethe, „das reine Phänomen", das als „Resultat aller Erfahrung und Versuche" dasteht, und sich „zeigt [ ... ] in einer stetigen Folge der Erscheinungen". Das ,Unreine' ist da zu sondern von dem ,Reinen` (GGA 39\180). Das heißt wohl nicht anders, als das ,Zufällige' (Goethe), das nicht denkbare, sondern nur anschaubare Besondere ist weggefallen und die ideelle Einheit bleibt übrig (Steiner: dritte Stufe: das reine Phänomen). Da es „niemals isoliert sein kann" ist es „in einer stetigen Folge" zu erkennen (GGA 39\180) . Hat man einmal den reinen Begriff, so ist sie auf dieser Weise darzustellen, zu ,zeigen` (Goethe). Eine solche Darstellung ist auch die Farbenlehre im Ganzen, wo die Vermannigfaltigung der Phänomene dazu dient, die Urphänomene der Farben zu ,zeigen`. Ersetzt man die Anreihung der Versuche durch die vergleichende Methode, so hat man die Methode der Botanik. Das reine Phänomen ist hier der Typus.

Steiner analysiert (in GA 1\186-19o), wie Schiller in einem Brief an Goethe, wenige Tage später (am 19. Januar 1798), sich dieser Struktur annähernd, drei wissenschaftli-che Methoden unterscheidet: 1. der gemeine Empirismus, der sich beschränkt auf die bloße Beschreibung der Einzelheiten, 2. der Rationalismus, worin der Verstand, zum wissenschaftlichen Phänomen fortschreitend, nach Erklärungen und (hypothetischen) Ursachen sucht (eine „leere Einheit des Verstandes", gleichsam schwebend zwischen Erscheinung und Idee), und 3. der rationelle Empirismus, der sich dergleichen Erklärun-gen entsagt und die innere, ideelle Einheit der Erscheinungen erfasst, worin „Phäno-men und Geistvermögen einander entgegenkommen und in eins aufgehen" (GA 1\190) .

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149 DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES

Goethe: „Hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen" (GGA 39\180). Schiller betrachtet den gemeinen Empirismus und den Rationalismus als einen Weg zum rationellen Empirismus. Schil-ler betont, wie in seiner Wortbildung, die innere Dialektik der drei Stufen: „Die dritte Kategorie entsteht jederzeit aus der Verknüpfung der ersten mit der zweiten, und so finden wir auch, daß nur die vollkommene Wirksamkeit der freien Denkkräfte mit der reinsten und ausgebreitetsten Wirksamkeit des sinnlichen Wahrnehmungsvermögen zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis führt.".166 Die ersten Stufen sind nur „Durchgangs-punkte, die überwunden werden müssen" (GA 1\189). Die vollständige sinnliche Erfah-rung von der Vernunft organisiert, „wodurch die Phänomene gleichsam ein großes Phänomen werden, dessen Teile sich aufeinander beziehen" (GGA 39\168), lässt sowohl der Sinnlichkeit als auch der Idee Recht widerfahren. Sie ist Ziel der Naturwissenschaft Goethes und fordert eine strenge Disziplin, die mit romantischer Naturschwärmerei nichts zu tun hat.167

§ 4.3. Das Verhältnis zu Hegels Naturphilosophie

§ 4.3.1. ,Beobachtende Vernunft': Gesetz, Leben und Bewusstsein

Wir haben schon gesehen, in welchem Maße Steiner Hegels Naturphilosophie die Angemessenheit an Goethes Naturanschauungen zugesteht: „Mit Hegels empirisch-idealistischer Auffassung der Natur steht die Goethesche Farbenlehre in vollkommener Übereinstimmung. Hegel sieht in der Natur eine besondere Äußerung desselben Welt-prinzips, das sich in unserem Bewußtsein in Form von Begriffen, Ideen usw. auslebt. In der Natur lebt es sich in der Form aus, die wir durch die Sinne wahrnehmen. Steiner beruft sich auf „zahlreiche Stellen von Hegels ,Naturphilosophie"", die die Über-einstimmung mit Goethe bestätigen.169 In Goethes Weltanschauung heißt es, Hegel sei „der Philosoph der Goetheschen Weltanschauung", aber hier weil er die verschiedenen Ideen auf eine Grundform zurückführt (GA 6\205) . Steiner hält „den Grundgedan-ken der Hegelschen Philosophie [für] eine Konsequenz der Goetheschen Denkweise" (GA 1\227). Stets hat Goethes Naturwissenschaft den Primat. Die Philosophie soll sie zum Ausgangspunkt nehmen und ausbilden in der Richtung des Idealismus. „So bie-tet denn die Goethesche Weltansicht genugsam Anhaltspunkte zur philosophischen Ausgestaltung. Diese sind aber zunächst nur von den Schülern Hegels aufgegriffen worden". Steiner spricht hier von Leopold Henning (Farbenlehre) und Michelet, und

166 Für Goethe heißt diese ,reinste und ausgebreiteste Wirksamkeit' eben die ,eXakte-sinnliche Fantasie'. Vgl. § 4.2.4.

167 Vgl. über Goethes Methodik: Schmidt (1984), S. 27, 29 („Wissenschaft ist für ihn begrifflich durch-drungene, offen gehaltene Empirie"), 33, 34, 37, 48, 51, 52, 63, 69,102-103 und 134.

168 Steiners Kommentar in Kürschners Ausgabe der Farbenlehre, herausg. von Ott und Proskauer, Stuttgart 1980, 2. Bd., S. 226.

169 A. a. O.

"168

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150 KAPITEL IV

vielleicht von Carus. Wie verhält sich nun Steiners Ausgestaltung zu jener, die schon von Hegel geleistet war?

Im Gesichtskreises von Steiner ist die Darstellung Hegels der ,Beobachtung der Natur` aus der Phänomenologie des Geistes dem gewonnenen Begriff der ,anschauenden Urteilskraft` oder Goethes phänomenologisch operierender Vernunft wahrscheinlich am nächsten. Hegels prägnante Formel für diese Beobachtung lautet: „Die Vernunft will sich als seienden Gegenstand, als wirkliche, sinnlichgegenwärtige Weisen finden und haben" (PHDG 186). Die beobachtende Vernunft erhebt sich über das gedankenlose Anschauen der Natur, sucht das Allgemeine in ihr, erhebt sich so über die bloße Beschreibung hinauf zum Unterschied vom Wesentlichen und Unwesentlichen und dem Gesetz. Der Prüfstein bleibt die Erfahrung: „Es gilt darum als Gesetz, weil es in der Erscheinung sich darstellt und zugleich an sich selbst Begriff ist" (PHDG 191). Das Gesetz ist für Steiner nur eine der Formen, in der der Begriff sich in der Natur dartut: „Die Art nun, wie der Begriff (die Idee) in der Sinnenwelt sich auslebt, macht den Unterschied der Naturreiche" (GA 1\282). In der anorganischen Natur steht das sinnenfällige Wesen ,völlig außerhalb des Begriffes'. Der Begriff ,erscheint` ,außerhalb der sinnenfälligen Mannigfaltigkeit' als Gesetz. Das Gesetz ist abstrakt. Erscheint der Begriff ,in` derselben als Prinzip, als ,das sie Durchsetzende`, zwar ,nicht mehr sinnlich Wahrnehmbare', dann ist er Typus, Objekt der organischen Naturwissenschaft, der sinnenfällig angeschaut werden kann, und in diesem Sinne in wahrnehmbarer Weise in der Natur vorhanden ist. Tritt der Begriff als Begriff auf, dann erscheint er als Bewusstsein im selbstbewussten Menschen. Der Begriff wird selber wahrnehmbar, d. h. Idee und Anschauung decken sich. Hier erscheint, was auf den unteren Stufen des Anorganischen und Organischen zwar ,ist`, aber nicht ,erscheint`, ,erscheinende Wirklichkeit`.170 Die Entwicklung dieser Gestalt hat bei Hegel die drei Momente Gesetz, Leben und Selbstbewusstsein (PHDG 221). Der Begriff wird von der Naturbeobachtung gefunden, als Gesetz ,realisiert` in den anorganischen Natur. Seine Momente sind „Dinge [ ... ] welche sich zugleich als Abstraktionen verhalten" (ebd.) . Hier waltet also dieselbe Doppeldeutigkeit, dass das Gesetz ,abstrakt` ist, d. h. sich außerhalb der unmittelbaren Sinnesanschauung befindet, doch ,zugleich` die beobachtbaren Dinge der Natur (etwa Licht, Farbe, Schwere, Materie usw.) mitkonstituiert. Der Begriff wird konkret im Leben der organischen Natur (ebd.). Statt Vielheit tritt hier Einheit auf. Die Reproduktion „ist eigentlich der reale organische Begriff oder das Ganze, das entweder als Individuum durch die Hervorbringung der einzelnen Teile seiner selbst oder als Gattung durch die Hervorbringung von Individuen in sich zurückkehrt" (PHDG 200). Der ,freie' Begriff (Steiner: der Begriff als Begriff, als selbst wahrnehmbar) findet die Beobachtung „nur in dem als Begriff existierenden Begriffe selbst, oder in dem Selbstbewußtsein" (PHDG 221). Steiner: ,in seiner Begriffsform` tritt der Begriff auf als ,Bewusstsein` (GA 1\283). Er ist diesem Bewusstsein. Daher decken sich hier Anschauung und Idee, weil es „eben das

170 Aus dieser Paraphrase von GA 1\283-284 und dem Vorherigen Angeführten GA 1\275-276 geht ummit-telbar herVor, wie Steiner ringt mit den Ausdrücken ,Erscheinen` und ,Anschauen`.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 151

Ideelle ist, welches angeschaut wird" (GA 1\284) . Steiners Dreiteilung des erscheinenden

Begriffes in Gesetz, Typus und Bewusstsein171 entspricht also genau jener Hegels des

beobachteten Begriff (Vernunft) in Gesetz, Leben und Selbstbewusstsein.172

§ 4.3.2. ,Gesetz`

Ein Vergleich der Betrachtungen von Steiner und Hegel über die drei Planetengesetzen Keplers wird uns Steiners Unterschied zwischen ,Naturnotwendigkeit` und Unterord-nung empirischer Gesetze unter mehr abstrakte Regeln (Newtons „Erklärung" der Kepler'schen Gesetze) deutlich machen können. Die Gesetze von Kepler sind für Hegel und Steiner von paradigmatischer Bedeutung.173 Wenn Erkennen der Notwendigkeit nur heißen soll, dass empirische Gesetze der allgemeineren mathematischen Theorie untergeordnet werden, dann steht die Gravitationstheorie Newtons selbstverständ-lich auf höherer Stufe als die Gesetze Keplers. Wenn Keplers Gesetze dagegen von höherer Ordnung sind, dann ist abstrakte (mathematische) Allgemeinheit, etwa Kirch-hoffs Prinzip der einfachsten (mathematischen) Beschreibung, offensichtlich nicht der gesuchten Naturnotwendigkeit gleichzustellen.

In den Gesetzen von Kepler werden die Prinzipien eines konkreten (empirischen) Ganzen ausgesprochen: unseres Planetensystems. Die Freiheit der Form (Begriff) be-herrscht nach Hegel die Planetenbahnen (ENZ § 271) . Bei Steiner ist es nicht anders: Die Planetenbewegungen sind nicht unmittelbar auf allgemein mechanische Ursachen (Anziehung) zu reduzieren (GA 323\67-74) . Die Kepler'schen Gesetze sind für Hegel deswegen in einem nicht nur formalen Sinn der Newton'schen Gravitationslehre überlegen. Hegel weist darauf hin, dass die Newton'sche Gravitationsformel aus dem dritten Kepler'schen Gesetz abgeleitet ist (ENZ § 270).174 Gleicherweise betont es Steiner

in GA 323\72. Newton hat, Hegel zufolge, die Gesetze verwandelt „durch die Verdrehung und Umkehrung der auf halbem Wege stehenden Reflexion" (ENz § 270) . Steiner: „Newton hat dann das ganze Gesetz getötet" (GA 323\72).

171 „Die konkrete Idee ist es, was Goethe unter den drei Formen: Urphänomen, Typus und ,Idee im engeren Sinne` anspricht" (GA 1\233).

172 M. Kirn (1989) hat die Unterschiede zwischen Steiners Antroposophie und dieser Stelle in der PHDG her-

vorgehoben in Kap. V., „Vernunft", 2. Interpretation des Haupttextes, A. „Beobachtende Vernunft", S. 264-276. Wir können Kirn zustimmen, dass Hegels Begriff des Lebens nicht den späteren Steiner'schen Idee des Ätherleibes gleich kommt. Wir können jedoch wir nicht vorbeisehen an der Bedeutung von Hegels Begriffsgliederung für Steiners frühe Philosophie.

173 Steiner nennt sie „ein Musterbeispiel" der Naturgesetze (GA 320\28). Auch für Hegel sind sie „Vom Schönsten, was wir in den Naturwissenschaften haben, am Reinsten, Ungetrübtesten Von heterogenem Stoffe" (ENZ § 270). Und beide halten sie für ,Induktionen`: GA 329\79 und ENZ § 270, Zusatz.

174 Eine damals allgemein erkannte Tatsache (Hegel verweist auf den „Mathematiker" und im Besonderen auf Francoeur), die heute noch gilt. Vgl. die moderne Herleitung Von P. Van de Kamp, Elements of

Astromechanics, San Francisco-London 1964, 5.19-29. Newton hat dann auch tatsächlich sein GraVitati-onsgesetz aus Keplers Gesetzen abgeleitet; vgl. Hanson (1979), S. 105-107. Newtons GraVitationstheorie ist jedoch allgemeiner, sodass Keplers Gesetze auch als Sonderfall aus dieser hergeleitet werden können.

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152 KAPITEL IV

In der freien Bewegung treten, nach Hegel, räumliche und zeitliche Bestimmungen in ein qualitatives Verhältnis,175 welches sich in der Einheit der differenten Radien in der Ellipse ausdrückt (erstes Kepler'sches Gesetz; ENZ § 270) . Steiner: In dem ersten Gesetz liegt das Zugeständnis Keplers, dass man es zu tun hat mit einem Lebendigeren als bei der Kreisbewegung (GA 323\71). Die Kurve ist eine Rückkehr zu sich in der zweiten Dimension, meint Hegel. In dem zweiten Gesetz tritt die zweite Dimension hervor, indem der Begriff der bestimmten Bewegung in der Kurve aussagt, dass in gleichen Zeiten gleiche Sektoren von den Radien beschrieben werden (ENz § 270). Auch für Stei-ner ist der Übergang von der Linie zur Fläche, von der ersten zur zweiten Dimension an dem zweiten Gesetz eine wesentlich intensivere Beziehung; ein geistiges Dazugehören der ganzen Fläche zur Planetenbewegung (GA 323\72). Schließlich wird die Zeit nicht als willkürliche Einheit (,gleiche Zeiten` im zweiten Gesetz), sondern als konkrete Einheit an der Planetenbahn erfasst in der Form der Umlaufszeit. Als sich auf sich beziehende Totalität ist sie für Hegel notwendig ein Maßverhältnis im Quadrat,176 wie der Raum als Totalität drei Dimensionen hat und als Maßverhältnis zu sich im Kubus erscheint. So lautet das dritte Gesetz, dass die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten sich ver-halten wie die Kuben der große Halbachsen ihrer Bahnen (ENz § 270). Ebenso ist die Zeit im Quadrat etwas Innerliches für Steiner (GA 323\73) und sind die drei Gesetze drei Stufen: erstens die eigene Bewegung des Körpers für sich, dann in seinem Verhältnis zur Sonne, und schließlich als inneres Erlebnis das Verhältnis zur den übrigen Planeten im Raum (GA 323\74) . Für Hegel stellen die Gesetze, namentlich das dritte „unmittel-bar die Vernunft der Sache dar", denn die Planetenbahn soll das Wesen des Planeten ausdrücken, d. h. die Einheit der Gegensätze von Selbständigkeit (Rotation um die eige-nen Achse) und Unselbständigkeit (Rotation um einen anderen Köper, die Sonne; ENZ

§ 270). Steiner sieht offensichtlich in diesen Gesetzen auch mehr als eine reine Induk-tion aus den Daten der Planetenbahnen. Kepler hat die Himmelsbewegungen nicht nur äußerlich mathematisch beschrieben, sondern ihre ideelle Struktur aufgeschlos-sen. Keplers Induktionen werden von Seiten einer Naturphilosophie interpretiert, die einen höheren ideellen Zusammenhang zu Tage fördern kann. Keplers Gesetze sind also nicht lediglich die induktive Zwischenstufe zu Newtons Axiomen der Mechanik. Durch die höhere Abstraktion in Newtons Gravitationsgesetz geht ihr Zusammenhang wieder verloren, und das erste Gesetz Keplers verliert seine ,Notwendigkeit`, denn die Planetenbahnen könnten dem Gravitationsgesetz nach auch Zirkel sein.177 Ob Keplers Gesetze damit den Status der Urphänomene haben, ist allerdings noch nicht ausge-

175 Vgl. das ,umgekehrte quantitatiVe Verhältnis' aus der L I\376 ff., wo der EXponent (Resultat) eine qualitatiVe Grenze gegen die beiden Quanta ist, nur das bleibende Verhältnis beider.

176 Das nächstfolgende Verhältnis zum ,umgekehrten Verhältnis' ist das ,Potenzverhältnis`, in dem Einheit und Anzahl unterschieden und doch einander gleich sind, die Einheit beider zum Ausdruck kommt (WDL I\382 ff.).

177 Vgl. Van de Kamp (1964), S. 42-44 und J. KoValevsky, Introduction to Celestial Mechanics, Dordrecht 1967, S. 11-13. Die Deduktion der Form der Bahn Von einer Punktmasse um eine stationäre zweite ist immer ein Kegelschnitt, nicht notwendig eine Ellipse.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 153

macht. Diese werden wir jedoch besser am Beispiel der Farbenlehre betrachten. Ist das Urphänomen hier rein empirisch, oder wird es von der Naturphilosophie mitgetragen?

Aus der Deutung des phänomenologischen Idealismus ergibt sich die Möglichkeit Goethes Urphänomen, dass Licht und Finsternis zusammen die Farbe bewirken, nicht nur versuchsmäßig anzuschauen, sondern auch in seiner Notwendigkeit zu verstehen. Freilich hat Steiner sich scheinbar widersprüchlich geäußert. Einmal hört bei Urphä-nomen als Prius der Naturerklärung alles Denken auf, zum andern erlaubt erst die Evidenz des Urphänomens ein wirkliches Naturverständnis: So heißt es u. a.:

a) Die Naturgesetze sind die ursprünglichen Phänomene, d. h. solche, die die not-wendigen Bedingungen zum Entstehen eines Phänomens darstellen (GA 1\276; vgl. § 4.2.7);

b) Goethes Urphänomen „folgt unmittelbar aus den in Betracht kommenden Faktoren in durchsichtiger, klarer Weise" und „ist identisch mit dem objektiven Naturgesetz" (GA 1\185);

c) „Keine Naturerklärung kann als solche über die Urphänomene hinausgehen. Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, die Urphänomene beweisen oder weiter erklären zu können [ ... ] Auch die Philosophie kann nicht über die Urphänomene hinausgehen" (Komm. zur FL § 175-177, S. 115);

d) Im ,reinen` oder ,Urphänomen` haben wir „einen ideellen Zusammenhang sinn-licher Wahrnehmungen, der sich durch sich selbst erklärt". Goethe „sieht es als müßige Spekulation an, über das Urphänomen weiter nachzudenken" (GA 6\169) .

An der Farbenlehre hoffen wir nun klarzustellen, was denn die unmittelbar eingese-hene Notwendigkeit in einem Urphänomen eigentlich ist. Sie ist jedenfalls mit den sinnlichen Bestandteilen der Farbbegriffe nicht mitgegeben. Denn diese sind verall-gemeinerte Farbennuancen, nicht Beziehungen, wie ,Bedingung` und ,Existenz` oder etwa Qualifikationen dieser, wie ,notwendig` oder ,akzidentell`.

Steiners erste frühe Entdeckung in der Optik war, dass im Gegensatz zum Begriff „Schall", der nur eine abstrakte Zusammenfassung der einzelnen Vorkommnisse in der tönenden Welt sei, Licht wirklich ein Allgemeines sei. ,Licht` ist zwar auch Begriff, aber dazu für sich ein Konkretes gegenüber den Erscheinungen in der beleuchteten Welt. ,Schall` ist nominalistischer, ,Licht` realistischer Begriff (GA 28\95-96). Wir sehen nicht das Licht als solches, sondern nur dessen Wirkungen, die Farben an den Gegenständen. Das Licht ist konkret, aber nicht sinnlich anschaubar. Es ist unsinnlich und wirklich. So ist es ideell oder geistig und real.178 „Ich trat mit dieser Orientierung an die Optik der Physiker heran. [ ... ] Da gelangte ich zu Anschauungen, die mir den Weg zu

178 Steiner beschreibt die EXperimente in GA 320 und schließt auch dort, dass wir das Licht selber nicht sehen, nur das Farbige (GA 320\52), und dass das Licht nicht als mechanisch-stofflich aufzufassen sei, sondern als ein uns mit den farbigen Körpern gemeinsames, verbindendes, übersinnliches Element (GA 320\100).

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154 KAPITEL IV

Goethes Farbenlehre bahnten. Von dieser Seite her öffnete ich mir das Tor zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften." (GA 28\96). Zwar sagt er, dass er „abgeneigt war, über diese Dinge sich bloß in philosophischen Denkvorgängen zu bewegen", und es ihm vielmehr darum ging, die Tatsachen der Natur richtig zu lesen in den Experimenten, die er ausführte179 (GA 28\98), aber das verhinderte nicht, dass er, nicht „bloß", aber doch hier sich auch schon mit Hegel auseinandersetze. Denn auch Hegel meint: „wir können kein Klingen ,als solches' hören, sondern nur immer einen bestimmten, höheren oder tieferen Ton [ ... ] ; nur das Licht selbst existiert als die reine Manifestation, als diese abstrakte unvereinzelte Allgemeinheit. [ ... ] Es ist der einfache Gedanke selbst, auf natürliche Weise vorhanden." (ENZ [B] , § 276, Zusatz, S. 376-377).

Das Urphänomen der Farbe war also vom phänomenalen Zugang her zu rekonstru-ieren. „Eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. [ ... ] Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten." (FL, Vorwort, S. 45).180 Steiner konnte wegen seiner Kritik am Atomis-mus und an der Subjektivierung der Qualitäten das Licht nicht als unwahrnehmbare objektive Veranlassung (sei es in energiehaften Teilchen oder Wellen) einer subjektiven Empfindung deuten.181 Die Tätigkeit (Taten) des Lichts wie der Finsternis (Nicht-Licht; verantwortlich für das Leiden des Lichts), sollen selber phänomenale Tatsache sein. Damit soll es sich nicht anders verhalten als mit dem allgemeinen Begriff der Kraft, der auch seine phänomenale Legitimation hat: „Man stellt sich vor, daß die Erde

179 Steiner kaufte sich damals die Instrumente, um an optischen Versuchen seine Ansichten zu prüfen (GA 28\97). Aus Erster naturwissenschaftlicher Kurs (GA 320) von 1919/1920 lässt sich schließen, dass es wahrscheinlich um EXperimente mit Prismen und den Fresnelschen Versuch (Interferenzerschei-nungen) handelte. Der Kirchhoff-Bunsen'sche Versuch (Spektrallinien brennender Gase) war ihm aus Reitlingers Laboratorium bekannt.

180 Von Steiner entsprechend gedeutet in GA 6\180. Die neuere Goetheforschung betont die „erzählerische Modalität" in der Farbenlehre (Vgl. John Neubauer, Goethe-Jahrbuch, Nr. 114, Weimar 1997, S. 167-173). Die FL hat autobiographische Momente. Alles Erkennen hat bei Goethe eine geschichtliche Dimension. Diese hat nunmehr das Interesse der Goetheforschung auf sich gezogen, sodass man von einem Paradigmawechsel spricht: ,Geschichte statt ,Natur` (vgl. das Goethe-Handbuch, herausg. B. Witte et al.,II, 4.1, S. 427). Vgl. hier ferner K. Fink, Goethe's History of Science, Cambridge University Press 1991, passim.

181 Unter dieser Voraussetzung Newtons (Vgl. aber auch J. Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien) kann man allerdings noch die Hauptzüge Von Goethes Farbenlehre für zeitgemäß halten, denn die Phy-siologie (schon 1880-1882 E. Hering und 1881-1884 F.C. Donders) ist auf eine evolutionäre Entwicklung des Farbensehens in Polaritäten gekommen (Von Gelb-Blau bzw. Rot-Grün). Youngs, MaXwells und Helmholtzs physiologische Dreifarbentheorie ist 1920 durch E. Schrödinger schon widerlegt (aus drei Farben A, B und C ergeben sich nur die Farben innerhalb des Dreiecks ABC in der Farbtafel). Siehe Sölch (1988), S. 45-66. Die Phänomene der Farbkonstanz und des Bezold-Brücke Effekts verhindern eine Newton'sche Eins-zu-eins-Zuordnung Von Wellenlänge und Farbempfindung (a. a. O. S. 15-19). Vgl. übrigens dazu auch Sepper (1988) über die EXperimente Gehrckes und Lands (S. 14). Die dynamische Betrachtungsart, Polarität, Entwicklung und Steigerung (Mäßigung des Lichts) in den Farben haben mithin auch heute noch ihre Rechtfertigung; Sölch (1998), S. 149-150.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 155

das Gewicht anzieht. Die Kraft selbst kann man nicht sehen. Sie ist ideell. Sie gehört aber doch dem Beobachtungsgebiete an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen Bezüge der Wahrnehmungen untereinander anschaut" (GA 6\179). Die Kraft ist also die reale Beziehung die man sonst mathematisch (rein ideell) im Gravitationsgesetz erfasst.

Gleichfalls ,beobachtet` man geistig das Licht, wenn die Farbe entsteht. Während man

jeweils die wirkliche Farbe sieht und nicht reale Elemente Licht und Finsternis zusam-men, ist „das Licht selbst [... ] in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben." (GA 6\180).

Nur der Idealismus kann von dem Licht im Singular als der allgemeinen Entität reden,

die in realen Beziehungen anwesend ist, und zwar dies ohne Bezug auf die materi-elle Gestalt ihrer Energie (Wellen, Teilchen usf.) . Gleichfalls kann nur der Idealismus die Negation des Lichts für eine wirksame Kraft halten („Die Finsternis tritt für die Beobachtung ebenso als Erscheinung auf als das Licht.") .182

Ausgangspunkt Goethes ist für Steiner demnach die Frage gewesen sein: „Wel-che geistige Einheit liegt der Mannigfaltigkeit der Farbenwahrnehmungen zugrunde?"

(GA 1\297) . Das „allen Farbenempfindungen Gemeinsame” (GA 1\297)183 ist die not-

wendige Bedingung der Farbe, das Licht:184 „Keine Farbe ohne Licht" (GA 1\297). Das

nicht-sinnliche Licht erscheint als stetig sichtbare Helle in der Farbe. Deshalb muss es auch ein zweites Gemeinsames geben, das das Licht zur Farbe modifiziert: „Die Farben aber sind die Modifikationen des Lichts. Und nun mußte er [Goethe] jenes Element

182 Das reine Licht, „höchstenergisch", ist „blendend und farblos" (FL § 150, S. 108). Das Auge sieht deshalb das reine Licht nur, insofern es zugleich geblendet wird. Das ringsum strahlende mäßige Licht einer Flamme sieht man ebenso wenig, nur die glühenden, zum dunklen Rauch bald abkühlenden, aufsteigenden Teilchen. Goethe: „Jedes gemäßigte Licht kann als farbig angesehen werden, ja wir dürfen jedes Licht insofern es gesehen wird, farbig nennen" (FL § 690). Sichtbares Licht ist schon Farbe. Andererseits das Finstre: „Das Auge, das in die Nacht hinausblickt, Vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis" (GA 6\181). Steiner kommentiert aber zu § 22 von Goethes Beiträge zur Optik (1791): „Das Licht an sich ist ebensowenig sichtbar als die absolute Finsternis" (FL, 2. Bd. Herausg. Ott & Proskauer, S. 23). Der Widerspruch löst sich, indem man das Schwarze, das man sieht, nicht der Finsternis als solches gleichsetzt. Goethe: „Wenn wir die Augen innerhalb eines ganz finstern Raums offen halten, so wird uns ein gewisser Mangel empfindbar." (FL § 6) und „Den Zustand des Raumes um uns, wenn wir mit offenen gesunden Augen keine Gegenstände erblicken, nennen wir die Finsternis. Wir denken sie abstrakt ohne Gegenstand als eine Verneinung" (Beiträge zur Chromatik § 22). Das Schwarze ist nach Goethe also nicht die ,Finsternis`, sondern dieser Mangel,' die ,Verneinung` in diesem Zustand, also die Privation des Lichtes, kurz: etwas, das Prinzip, das man denkt, nicht die einzelne dunkle Qualität, die man dabei gewahr wird. Das blendende Licht und den Mangel am Lichte sehen wir nicht gleich wie die sinnlichen Farben. Sie sind die ideal-realen Grenzen des Farbensehens: Man hat das ungetrübte energische Licht in der Blendung und die Finsternis im Nicht-Sehen. Verständnis für diese Idealität Von Licht und Finsternis zeigten 1924 auch H. Glockner und 1927 H. Wohlbold; vgl. Kindermann (1966), S. 252-253.

183 Im Kommentar zur FL, Enthüllung der Theorie Newtons: „So wie es eine Urpflanze, ein Urtier im Sinne Goethes geben muss, so musste es ein allen den unzähligen Lichterscheinungen zu Grunde liegendes ,Licht an sich` geben. Dieses kann modifiziert, in dieser oder jener Weise abgeändert werden, aber es darf nicht zum leeren Abstraktum herabsinken, wie es bei den Gegnern Goethes der Fall ist", Ausgabe Ott und Proskauer (1980), III. Bd., S. 23.

184 „Wenn Goethe das auch nirgends klar ausgesprochen hat, so ist doch seine ganze Farbenlehre so angelegt, daß nur dieses darunter verstanden werden darf` (GA 1\297).

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156 KAPITEL IV

in der Wirklichkeit suchen, welches das Licht modifiziert, spezifiziert. Er fand, daß dies die lichtlose Materie, die tätige Finsternis, kurz das dem Licht Entgegengesetzte ist" (GA 1\297). Dies ist also nach Steiner die Grundstruktur der Lichterscheinung: Das Licht ist das tätig Allgemeine, das spezifiziert wird erstens vom lichtleeren Raum (die reine Finsternis) — ausstrahlend von einem Punkte ergießt das Licht sich unbe-schränkt im Raume — und dann von finsterer Materie (zur Farbe getrübt). Dieses zweite Element ist also das Besondere. Dadurch stellt sich die Finsternis gleichfalls als ein Täti-ges heraus. Es wäre deshalb eine Missdeutung eine mechanische Erklärung für diese Zusammenwirkung zu suchen, denn so hätte man doch zwei physisch-körperliche, besondere Elemente, die ineinander spielen sollten. Steiner betont die idealistische Auffassung Goethes: „Man darf Goethes Theorie nicht so auffassen, als wenn nach ihr in jeder Farbe Licht und Finsternis real enthalten wären. Nein, sondern das Wirkliche, das unserem Auge gegenübertritt, ist nur eine bestimmte Farbnuance" (GA 1\298) . Man kommt nur darauf, wenn a) das Licht als Allgemeines gesetzt wird und b) die Finsternis als wirksames Prinzip dem Licht, dessen Gegenteil, also individualisierend, ebenbür-tig zur Seite gestellt wird.185 Newton sah im Licht eine physische Zusammensetzung von Farben und mithin nicht ein ideell Allgemeines. Die physikalische Anschauung denkt sich die Finsternis als unwirksame physische totale Abwesenheit von besonde-rem Licht (Farbenreize) und kann deshalb auch nicht auf eine Wechselwirkung von Licht und Finsternis kommen (GA 6\181). Die von Goethe gemeinte Wechselwirkung von Licht und Finsternis ist mithin dem physikalisch-mechanischen Bereich enthoben: „Die äußeren Veranstaltungen, wodurch dies geschieht, die materiellen Vorgänge in der Materie, werden davon nicht im mindesten berührt. Das ist eine ganz andere Sache" (GA 1\298).I86

185 Das indiVidualisierende Element findet man in den EXperimenten modifiziert. Das allgemeine Prinzip muss man dabei schon mitbringen. Vgl. Anm. 179.

186 Eine Anerkennung dieser Tatsache tritt unter veränderten Verhältnissen bei Wittgenstein hervor in seinen Bemerkungen über die Farben (herausg. G.E.M. Anscombe, Berkeley-Los Angelos 1978): „Die phänomenologische Analyse (wie sie z. B. Goethe wollte) ist eine Begriffsanalyse und kann der Physik weder beistimmen, noch widersprechen." (Abs. II, §16). Das Physikalische ist ein anderer Bereich: „Soviel kann ich Verstehen, daß eine physikalische Theorie (wie die Newtons) die Probleme, die Goe-the bewegten, nicht lösen kann, wenn auch er selbst sie nicht gelöst hat" (Abs. III, § 206). Das Licht ist begrifflich der Farbe in der Tat nicht gleichzusetzen: „,Das Licht ist farblos'. Wenn, denn in dem Sinne, wie die Zahlen farblos sind" (Abs. I, §35). Es entspricht aber Wittgensteins Nominalismus (,linguistischer Idealismus` ), dass die ,Logik der Farbe` („Farbenmathematik”) ins Unbestimmte der Sprachspiele ausläuft: „Es gibt nicht den reinen Farbbegriff." (Abs. III, §73), eben weil unser Begriff von Farbengleichheit unbestimmt sein soll (Abs. I, §56). Nun gibt es diese Bestimmtheit sicherlich wohl in der modernen Farbenmathematik. Nicht nur gibt es das Farbendiagramm der Commission International d'Eclairtage (CIE), der Normtafel nach DIN 5033 und die identifizierende Gleichung der FarbValenz F = xA + yB + zC, es lässt sich in der längst entwickelten Disziplin der Farbenmetrik der Farbenmannigfaltigkeit (Farbraum) eine Metrik zuordnen. Nach einem auf E. Schrödinger zurück-gehenden Versuch kann man phänomenologisch (d. h. ohne Bezug auf die unterliegenden Wellen oder Photone) dem Farbraum eine Riemann'schen Metrik eines gekrümmten Raumes zuerteilen, in dem die Geodäten jeweils die Zumischung Von Weiß darstellen: vgl. P. Gschwind, Mass, Zahl und Farbe, Dornach 2000, S. 39-42 und 157-164. Während Wittgenstein (1978) meint, das Entwirren von

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 157

Die Farben sind also „Modifikationen des Lichts" (GA 1\297). Die Farbe ist ,im` Lichte, aber nicht im unmittelbaren und reinen Licht, das ja allgemeines ist. Indem Goethe als das modifizierende Element die Finsternis oder das Nicht-Licht aufdeckte, hatte er damit dasjenige, was das allgemeine Licht ,spezifizierte`. Diese Spezifikation ist nicht logische Operation, sondern ebenso real-energisch wirkend wie die Kraft der Anziehung: „Die Finsternis kann das Licht in seiner Wirkungskraft schwächen. Umge-kehrt kann das Licht die Energie der Finsternis beschränken. In beiden Fällen entsteht die Farbe" (GA 6181). Goethe hat die Modifikation an dem Entstehen der Farbe ablesen wollen. In der Abstufung verschiedener Arten der Farben: physiologische, physische (dioptrische, katoptrische, paroptische, epoptische) und chemische Farben, ist ihr Ent-stehen am leichtesten zu erhaschen bei der Mittelklasse der dioptrischen Farben (bei einer Wechselwirkung von Licht und einer durchsichtigen Materie). Die physiologi-schen Farben sind stets flüchtige Reaktionen des Auges auf Licht und Farbe und die chemischen zeigen sich fertig und dauerhaft am Körper ohne die Spuren ihres Entste-hens.187 Das Prisma zeigt die Brechung des Lichts beim Durchgang durchs Medium. Dies ist schon ein Sonderfall (,dioptrische Farben zweiter Klasse` ), sodass Goethe das Urphänomen entwickelt aus der allgemeinen Erscheinung der Verdunkelung des Lich-tes durch ein durchscheinendes Medium (ein ,Trübes'): Licht durch ein trübes Medium gesehen wird gelb; Finsternis durch ein durchleuchtetes Medium blau.188 Diese beiden

Sprachspielen sei das einzige Vernünftige: „Es gibt zwar nicht Phänomenologie, wohl aber phänome-nologische Probleme" (Abs. 1, §53) und es sei „die Versuchung sehr groß, an eine Phänomenologie, ein Mittelding zwischen Wissenschaft und Logik, zu glauben" (Abs. II, §3), hat sich doch herausgestellt, dass die methodische Vorgehensweise Goethes an sich (obwohl nicht unfehlbare) Wissenschaft heißen kann. Vgl. u. a. G. Böhme, Ist Goethes Farbenlehre Wissenschaft?, in Studia Leibnitiana Jg. 9 (1977), S. 27-54, übersetzt erschienen in Goethe and the Sciences: a Reappraisal, Ed. F. Amrine, F.J. Zucker und H. Wheeler, Dordtrecht 1987, S. 147-173, und vgl. dazu Sepper (1988), S. 18-21. Namentlich will es Wittgenstein nicht gelingen zu enträtseln, warum wir nicht von einem transparenten Weiß sprechen. Mittlerweile entscheidet hier nicht die Regel der Sprache, sondern die phänomenologische Tatsache, dass es nur eine weiße Farbe an einer Oberfläche gibt, wenn das Licht überwiegend reflektiert wird und die Oberfläche nicht penetriert; „Die vollendete Trübe ist das Weiße" (FL §147). Sieh die Analyse von J. Westphal, Whiteness, in Goethe and the Sciences: a Reappraisal, S. 319-339. „The grammatical inquiry is a dead end" (a. a. O., S. 319). Die Von Wittgenstein herVorgehobene graVierende ,Unbe-stimmtheit unseres Begriffs der Farbengleichheit', die Goethes Farbenlehre untergraben sollte (Abs. I, § 56), war damals schon aufgerollt worden durch EXperimente Von MacAdams (1942) und Brown

(1949). Diese zeigten, dass Farben unterschieden werden ab den Grenzen bestimmter der Normtafel einzutragenden Diskriminationsellipsen; Vgl. Gschwind (2000), der die Diskriminationsellipsen als örtliche Kennzeichen für den gekrümmten Farbenraum hält (S. 202-204).

187 Jedenfalls damals nicht, wo die Absorption und Streuung des Lichts an der Oberfläche der Materie noch völlig unbekannt waren.

188 Was hier undifferenziert von Goethe und Steiner hingenommen wird, ist die Wechselwirkung Von Licht und Stoff im Medium. Hier liegt die Verbindung zwischen der Chromatik und Optik. Die geläufige Optik betrachtet die Farbenerscheinungen als Resultat einer Streuung/Dispersion des Lichts durch das Medium. Das einfache Urphänomen ist für diese Optik etwas höchst Kompliziertes (man erklärt das Himmelsblau durch die Raleighstreuung). Vgl. Sepper (1988), S. 129-152 und 197-200. Es tut Abbruch an der Reinheit des Grundphänomens Goethes, wenn man etwa fragen darf, ob es die hinterliegende Finsternis ist, welche zum Blau erhellt, oder nur das verdunkelte, abgeschwächte Licht im Medium

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158 KAPITEL IV

Grundfarben vermischen sich im Grün und steigern sich beide ins Rote (einen ,Far-benton`): ein äußerliches und intensiveres Verhältnis von beiden (GA 6\185). Ableiten aus dem abstrakt-allgemeinen Begriff des Lichts lassen sich diese Qualitäten nicht, aber ihr Zusammenhang mit dem Licht und Finstern lässt sich so doch verstehen. Das Gelbe ist eben heller als das Blaue, und deshalb ist es verständlich, dass Gelb die erste Modifikation des Lichtes und Blau jene der Finsternis ist. Diese Ordnung der Farben untereinander zum Farbenkreis ist eine Beziehung, die nicht anders sein kann. Diese Notwendigkeit folgt aus der stetigen Abwandlung der Verdunkelung von Weiß zum Gelb und Rot und Erhellung von Blau zum Violett, welche Polarität sich überbrücken lässt im Grünen, gleich nahe an Blau und Gelb, oder an der rötlich gesteigerten Seite über das Purpur. Grün und Rot können im Farbkreis nicht etwa die Stelle wechseln. Das sinnlich Qualitative daran kann man zwar nur anschauen, das Notwendige zeigt sich an ihr und hat mit dem Aufrechterhalten der Stetigkeit der Modifikation zu tun. 189

Rein als Ordnung der Farben untereinander behandelt Goethe sie in dem Versuch, die Elemente der Farbenlehre zu entdecken (1794), in dem noch nicht die Rede ist von dem eigentlichen Urphänomen der Farbe im Sinne der FL 181o. Dieser enthält noch ein Mehr gegen eine solche Ordnung: die Erklärung ihres Entstehens, das Nebeneinander geht in ein Durcheinander von Licht und Finsternis über; Farben sind Modifikationen des Lichts.

Der Modifikationsbegriff selber kann in diesem ,einleuchtenden` Grundphänomen schwerlich selber einen dunklen Untergrund bilden. Es kann die Frage nach der Art dieser Modifikation keine müßige Spekulation sein, wenn die Rede des Urphänomens sich nicht reduzieren soll auf eine Anwendung der schematischen Natursprache einer

einen blauen Schein erzeugt vor einem dunklen Hintergrund. Für Steiner ist diese Frage aber sekundär gegenüber der Tatsache, dass, wie auch die Wechselwirkung materiell ausgestaltet sei, das reine Licht sich mit dem Prinzip der Finsternis im Stoff auseinander setzt und beides dort zusammen eben die Farbe erzeugt und nicht etwa ein Graues. Dieses lässt sich nie ,ableiten` aus einer rein quantitativen Analyse, es sei denn, man setzt die Beziehung Von Quanta und Farben voraus (petitio principii der Zuordnung Wellen und Farben). Goethe fragt sich bei den chemischen Farben eben nicht, wie dann Licht und Finsternis sich an der Körperoberfläche synthetisieren, was sich bei den dioptrischen noch einigermaßen nachweisen lies (,Säurung` und ,Entsäurung`, woVon Goethe gelegentlich redet — vgl. FL § 492-493, 512-516, 520, 525-529 und 533 — kommt die Erhellung und Verdunklung nicht ohne weiteres gleich). Nur „auf einer höheren Stufe des Denkens kann untersucht werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammenhängen [dem qualitativen der Farbenlehre] und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbwelt" (GA 6\175-176). Vgl. J. Kühl Zum Goethe'schen Urphänomen der Farbentstehung und zu einem Zusammenhang mit Beugung und Brechung in Elemente der Naturwissenschaft 1988, Heft 2, S. 85-95. und dazu auch Gschwind (2000).

189 Die jetzt in der CIE-Farbtafel objektiViert und festgelegt ist. In der schiefen ,Schuhsohlen`-Form dieser Farbtafel ist doch leicht der Farbenkreis Goethes hinzuprojizieren, sodass der Durchmesser der Kurve in der Normfarbtafel die Komplementärfarben, die zusammen Weiß (bei Graupigmenten) ergeben, anweist (entsprechend zu Goethes Kompensationgesetz der physiologischen Farben im Auge). Das analoge deutsche DIN 6164 Farbensystem führt sogar insofern auf Goethe zurück, dass der Goethe-Verehrer Wilhem Oswald die Farbenkreise Goethes durch einen detaillierteren Farbenatlas zu erweitern suchte. Um dessen Mangel zu Verbessern wurde das DIN-System entwickelt (nach B.J. Jäkel-Hartenstein, Anthroposophie und Farbenlehre, in: Elemente der Naturwissenschaft, 1984, Heft 2, S. 32).

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 159

universellen Gegensatzlehre (Systole-Diastole) auf die Farbenwelt (Goethe deutet es nur scheinbar selber so: FL, Vorwort 47, § 739,I90 ist sich aber der unumgänglichen Metaphorik seiner Sprache und der allgemeinen Formeln bewusst § 751-757).I9I Es

muss darüber hinaus zum mindestens noch aufzuhellen sein, was diese Modifikation beinhaltet.

Das Grundverhältnis des Erkennens (das tätige allgemeine Denken findet in der Sinneswelt die zu ihm gehörige Besonderheit vor) sieht Steiner ebenso wirksam in der Farbenlehre: Das Allgemeine vereint mit dem Besonderen, denn das Licht erscheint als Allgemeines an seinem Gegenteil, der spezialisierenden finsteren Materie. Ohne die Materie ist wohl das reine Finstere, das ebenso sehr allgemein heißen kann. Es tritt aber nicht in Wechselwirkung mit dem Lichte: Der völlig leere Raum wäre nach Goethe an sich das homogene Finstere. Wenn das Licht ihn erhellt, verschwindet die Finsternis ohne Farbenspur (Beiträge zur Chromatik § 22-24). Es ist jene prinzipielle Vorausset-zung, die Goethes Anliegen unterscheidet von dem Verfahren Newtons: „Wegen seiner ,der Idee gemäßen Denkweise' muß er die Newtonsche Ansicht ablehnen. [... ] Weil am Lichte die Farben sich entwickeln, also der Idee nach schon in demselben enthalten sein müssen, glaubt sie [die Newton'sche Ansicht] , sie seien auch tatsächlich, mate-riell in demselben enthalten und werden durch das Prisma und die dunkle Umgren-zung nur hervorgeholt" (GA 6\167). Die Idee ist in der anorganischen Natur nicht auf (quasi- )materielleWeise vorhanden, sondern nur als Gesetzmäßigkeit. Die Modifika-tion von der Idee ,Licht` durch die ,Finsternis` in der konkreten Materie ist mithin eine ideelle Beziehung, keine mechanische: eine Differenzierung oder Spezialisierung. Es sind nur wenige Stellen, wo Goethe sich annäherend darüber ausspricht, wie in § FL 695: „Entstehen der Farbe und Sichentscheiden ist eins. Wenn das Licht mit einer allgemeinen Gleichgültigkeit sich und die Gegenstände darstellt und uns von einer bedeutungslosen Gegenwart gewiß macht, so zeigt sich die Farbe jederzeit spezifisch, charakteristisch, bedeutend". Das Licht ist der Farbe die einheitliche „mitwirkende Ursache ihres Erscheinens, [ ... ] die Unterlage ihres Erscheinens" (FL § 964). Dass es die Körper (die Trübe) zu dieser Entscheidung braucht, ist ihm klar:

„Und so bleibt auch in ewigem Frieden Die Finsternis Vom Licht geschieden. Daß sie mit einander streiten können, Das ist eine bare Torheit zu nennen. Sie streiten mit der Körperwelt, Die ewig sie auseinander hält." (Sprüche in Reimen, FL, Bd. 3, S. 272).

190 Weswegen vielleicht Wittgenstein (1978) darin nichts anders erblicken kann als ein ,Vages Denkschema' (Abs. I, 70).

191 Vgl. Stephenson (1995), S. 68-80. Goethes didaktische Prosa ist absichtlich ambigue, oXymorisch, para-doX und selbstdekonstruktiV, damit die Sprache das ursprüngliche Erlebnis nicht verdecke. Zugleich aber ,holophrasis`: als ein Ganzes bildlich hinweisend (S. 68-69).

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160 KAPITEL IV

Dieser Begriff der Wechselwirkung von allgemeinem Licht mit der spezialisierenden Materie, den wir bei Steiner finden, ist vorgebildet bei Schelling und Hegel. Für Schelling ist das Licht die Identität oder Indifferenz in der Natur.192 Die Körper sondern sich von der Totalität ab, sind besondere und stellen sich als Differenz dem Licht entgegen.193

Das Licht kann nur an ihnen als relativ-Ideales erscheinen: als getrübtes Licht oder Farbe.194

Diese Bestimmung des Lichts und der Farbe wird von Hegel weiter entwickelt. Ent-sprechend diesem Unterschied des Lichtes von der Farbe behandelt Hegel die fraglichen Phänomene in zwei Teilen: das Licht unter dem Titel der ,Physik der allgemeinen Indivi-dualität` und die Farbe unter dem Titel der ,Physik der totalen Individualität` und dem Subtitel der ,Besonderung des individuellen Körpers'. In der Physik geht die Schwere der Mechanik, das wesentliche Streben der Materie nach Identität, in die Manifestation dieses Wesens über: Die erste qualifizierte Materie ist das Licht, das existierende all-gemeine Selbst der Materie (ENZ § 275) . Licht ist real, hat absolute Geschwindigkeit195

(ENZ § 275, Zusatz). Es ist reine Manifestation (Sein für Anderes), weil es als materielles noch keine geistige Subjektivität (bewusstes ,Selbst`) hat, ist es keine Manifestation für sich (Sein für sich) und also nur eine offenbarende Expansion im Raume (ohne Rück-beziehung auf sich). Es manifestiert daher nur Anderes (die individualisierte Materie). Diese zerfließende Hingabe des Lichts bewirkt, dass seine bestimmende Begrenzung notwendigerweise von Außen kommen muss. Weil abstrakte Identität, hat das Licht seinen Unterschied außer sich: das Nicht-Licht oder die Finsternis. Das Licht muss an seine Grenze kommen, um sich zu manifestieren: „Erst nachdem sich das Licht gegen das Dunkel als Licht unterscheidet, manifestiert es sich als Licht.". So der Zusatz (ENZ § 275, Zusatz und v. a. S. 114) . Die Finsternis als allgemeine Negation oder Grenze des Lichts weicht ihm aber aus. Der bestimmte Inhalt muss die Grenze real setzen. Daher befindet sich der zweite Teil der Farbenlehre in der Physik des individuellen Körpers (ENZ § 32o).

192 „Licht = Begriff, ideale Einheit, aber ideale Einheit innerhalb des realen" (sw 1\5, S. 506), „der erste Durchbruch des Idealismus" (sw I\5, S. 507), und: „Das Licht ist reine Identität, schlechthin einfach" (sw I\6, S. 357) . Es entsteht auch nicht physisch erst in der Lichtquelle, die es aussendet: „Das Licht erscheint, wie die Bedingungen dieser Erscheinung gegeben sind; es entsteht also nicht erst in diesem Augenblicke, sondern es ist, unVeränderlich gegenwärtig, wie die Schwere" (sw 1\6, S. 361).

193 „Alle Differenz ist durch das Nicht-Licht oder den Körper gesetzt" (sw I\5, S. 512). 194 „Das Farben-Phänomen ist die aufbrechende Lichtknospe; die Identität, die in dem Lichte ist, wird

mit der Differenz, die durch das Nicht-Licht in sie gesetzt ist, verbunden zur Totalität" (sw 1\5, S. 514) und „Das Licht oder das Identische im Licht wird daher in der Refraktion wahrhaft synthetisiert mit der Privation oder der Differenz im Körper, und alle transparenten Mittel sind zugleich trübende Mittel. Jene Synthese der Identität mit der Differenz, der Position mit der Privation ist es, was als Farbe erscheint" (sw I\6, S. 363).

195 D. Wandschneider hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier mehr als eine triviale Korrespondenz mit Einstein vorliege. Die Absolutheit geht bei Hegel hervor aus der unkörperlichen Natur des Lichts, weil jede endlich-körperliche Bewegung relativ ist: Relative und absolute Bewegung in der Relativitätstheorie und in der Deutung Hegels, in: Horstmann-Petry (1986), S. 350-362.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 161

Der individuelle Körper ist finster, insofern er dem Lichte widerstrebt und es aufhält. Der individuelle Körper ist sich auf sich beziehende Form (,totale Individualität`) und hat individuelle ,Gestalt`. Diese individualisierte Materie hat nun ein dreifaches Verhältnis zum Licht. Indem sie ihm wesentlich gleich ist, ist sie ,durchsichtig` und Medium für das Licht (ENZ §317), indem sie gegen Anderes besondert ist (Wasser gegen Luft, oder Luft gegen Glas), entsteht die Brechung (ENZ §§318-319), indem sich aber das Fürsichsein der Form durchsetzt, hat sie Farbe (ENZ §320). Materielle Individualität ist „Verfinsterung in sich, weil sie sich der ideellen Manifestation für Anderes verschließt." (ENz § 317) . Indem das Durchsichtige unmittelbar individualisiert ist und in die Punktualität übergeht, zeigt sich nur das Prinzip der Verdunkelung, die weiße Trübe (wie bei verpulvertem Glas oder Schnee u. dgl.). Ist das Finstere, das in sich zum Fürsichsein Individualisierte, nicht nur punktualisiert, sondern als ,Kraft` gegen das Helle gesetzt, so ergibt sich aus der Einheit beider die Farbe (ENz §320): „Sie sind getrennt und ebenso scheint eines im Anderen, eine Verbindung, die somit Individualisierung zu nennen ist. [ ... ] Es ist die Weise des Begriffs überhaupt." (ENZ § 320).

Aus dieser Darstellung geht zweierlei hervor: erstens, dass die Bestimmungen von Licht und Materie, die Steiner aus Goethe herausliest, diejenige Schellings und nament-lich Hegels sind, und zweitens, dass diese Bestimmungen die ideelle Seite des Urphäno-mens erhellen. Man sollte nicht auf halbem Weg stehen bleiben und die ideellen Ele-mente im Urphänomen, die nicht mehr sinnlicher Natur sind, unbestimmt lassen. Wenn man mit Goethe das reine Licht und das Finstere als unsichtbare ideelle Fakto-ren bestimmt, so stecken in denselben schon allgemeine Kategorien. Nur von diesen spricht Hegels Naturphilosophie, aber ganz gemäß Goethes Farbenlehre. Wenn Goe-the sagt: „Das Licht hingegen können wir uns niemals in abstracto denken, sondern wir werden es gewahr als die Wirkung eines bestimmten Gegenstandes, der sich in dem Raume befindet und durch eben diese Wirkung andere Gegenstände sichtbar macht." (Beiträge zur Chromatik § 23), so legt Goethe dem Licht nur diese Eigenschaft bei, Anderes zu manifestieren. Daher ist es selber von „allgemeiner Gleichgültigkeit". Auch Hegel entwickelt die Kategorien des Lichts nur aus dieser Eigenschaft in seiner Einheitlichkeit Anderes zu manifestieren. Die Entgegensetzung zum Nicht-Licht ergibt sich aus dieser Eigenschaft. Die Farbe ist das Besondere gegenüber dem allgemeinen Licht. Der räumlich begrenzte Körper haftet für diese Spezialisierung. Daher muss im Urphänomen der Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem geschlichtet wer-den. Der Erkenntnisbegriff liefert das Modell: Die Bestimmung des Lichts durch den finsteren, besonderen Körper ist Individualisierung des Allgemeinen, nun nicht als subjektiver Bewusstseinsprozess, sondern als realer Vorgang in der Natur.196 Steiners Interpretation geht gleichfalls aus von der allgemeinen Natur des Lichts, kommt auf die rein geistige, unsinnliche Natur von dem begrifflich-realen ,Licht` und ,Finsternis`

196 Und entspricht in den Begriffen Licht und Farbe dem von allgemeinen zum konkreten Bestimmungen fortschreitenden Aufbau von Hegels Naturphilosophie.

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162 KAPITEL IV

und schließt ebenfalls auf die Individualisierung durch den materiellen Körper. Diese Farbenlehre ist Ausfluss von einem Goethe, Schelling und Hegel gemeinsamen Idealis-mus, den Steiner der modernen Naturwissenschaft entgegenstellt.197 Die Interpretation und Rezeption von Goethes Naturanschauung bei Steiner setzt daher den erkenntnis-theoretisch begründeten Idealismus voraus und ist ohne ihn nicht verständlich.

In Steiners Darstellung ist Goethes Methode so angelegt, dass das ,reine Phäno-men' zuletzt zirkelhaft entspringt aus dem Gesichtspunkt unter den wir den Gegen-stand stellten (vgl. § 4.2.9) . Das Urphänomen macht dementsprechend die Schritte von gemeinen Phänomenen, zum ,empirischen Gesetz`, zuletzt zum ,wissenschaftlichen Phänomen`.198 Ausgangspunkt Goethes war das Licht als manifestierende Tätigkeit: Die Sonne erhellt die Gegenstände. Die Darstellung des Lichts anhand der beleuchte-ten farbigen Gegenstände ist das Grundproblem der Malerei (Goethe bewegte während der Italienischen Jahre lebhaft die Frage des Kolorits). Farbe erscheint da, wo Licht verdunkelt wird. Diese Phänomene hat er geordnet, unter dem klassisch-dynamischen Gesichtspunkt betrachtet, entlehnt dem 1788 gelesenen Traktat über die Malerei Da Vin-cis, ihre Gesetze formuliert (erst über das Blau, farbige Schatten, dann über das Prisma usf. )199 und das Allgemeine von dem Abgeleiteten unterschieden, und das ,Urphäno-men` als explicans vorangesetzt. Am Ende wird der dynamische Gesichtspunkt als Idee im Urphänomen rein herausgeschält.200 Jetzt hat er aber einen festen Erkenntniswert. Ihre Evidenz bezieht sich nicht nur auf den rein sinnlichen Teil bzw. die Reihenfolge der Farben (Weiß-Gelb-Rot, Schwarz-Blau-Violett, usf.), sondern auch darauf, dass wir das Licht beobachten, aber es nur in den Farben sinnlich sehen; dass das Licht sich zur Farbe begrenzen muss aus seinem Gegenteil, dem finsteren, sich dem Licht widersetzenden Körper (Trübung, Brechung, undurchdringliche Oberfläche). Beides zusammen, die sinnlich-phänomenale und dynamisch-dialektische Seite, macht erst das ,einleuchtende`, ,sich selbst erklärende, reine Phänomen'. Freilich nicht in der Art einer unmittelbaren Evidenz in dem ersten Aperçu, wohl als eine in der Versuchserfah-rung sich durchsetzende Einsicht: also als ,wissenschaftliches Phänomen'. Das idealis-tische Element aufgeben, hieße das Urphänomen zum bloßen ,Schema` (G. Böhme) rein kontingenter Natur herabsetzen.

197 Dadurch unterscheidet sich Steiners Auslegung Goethes entschieden von den modernen. Vgl. z. B. Sep-pers (1988) eingehende Analyse, die nur eine physische Differenzierung des Lichts behandelt. Zwar führt er an, dass Goethes Farbenlehre besser übereinstimmt mit dem modernen ,modificationism`: das weiße Licht enthält nicht alle Frequenzen und die Farben können aus monochromatischem Licht erzeugt werden (S. 14). Dass das Verhältnis von Licht und Farbe bei Goethe ein rein ideelles sein konnte, und die Spezifizierung des allgemeinen Lichts zieht er nirgends in Betracht.

198 Wenn Wittgenstein (1978) behauptet, das Urphänomen sei „eine Vorgefaßte Idee, die Besitz von uns ergreift" (Abs. III, 230), so ist das insofern richtig, als man die Idee schon mitbringen muss. „Das ,Licht` im Goethe'schen Sinne kennt die moderne Physik nicht; ebenso wenig ,die Finsternis'" (GA 1\301).

199 Zu dieser Entwicklungsgeschichte siehe Sölch (1998), S. 84-123. 200 Eine Struktur, die Emil Staiger im Leben Goethes als Ganzes wirken sieht: Goethe. 1786-1814, Zürich

1956, S. 125-126, aber nicht als Einwand gelten lässt, denn „alles menschliche Erkennen spielt sich in einem Zirkel ab" (mit Hinweis auf Heideggers hermeneutischen Zirkel).

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 163

Schließlich wäre das ,reine Phänomen` nicht ,Urphänomen`, wenn nicht aus ihm die abgeleiteten Phänomene sich entwickeln ließen. Da in den chemischen Farben Goethe diese Deduktion schuldig bleibt, ist sie eigentlich nur an den prismatischen Farben, dioptrischen zweiter Klasse, aufzuzeigen. Da braucht Goethe selber eine zusätzliche Theorie der Refraktion (FL §§ 218 ff.) . Ein begrenztes Bild soll ein Nebenbild im Prisma erzeugen, dessen Kennzeichen die Halbdurchsichtigkeit sei (FL § 238), mithin eine ,Trübe', wie bei der ersten Klasse von dioptrischen Farben. Nun lässt sich diese Halb-trübung nicht anders nachweisen als durch die Farbe, und so hat Goethe Grund und Folge umgekehrt. Weil er das Prisma zu erklären sucht, unterstellt er eine Verschiebung von Licht über Trübes in dem Prismakörper.201 Zuletzt hat diese Erklärung Goethe selber nicht mehr überzeugt (Brief an Christian Dietrich von Buttel, 3. Mai 1827).202

Das Urphänomen wollte er daher ,nach Analogie als eine ,Grunderscheinung` anse-hen und nicht mehr als ein Grundsatz, „aus dem sich mannigfaltige Folgen ergeben" (ebd.). Hegel war nicht willens, das Urphänomen als explicans einfach preiszugeben, aber musste doch gestehen, die Wirkung des Prismas sei „noch nicht hinlänglich geklärt" (ENZ § 320, Zusatz) . Steiner dagegen handhabt Goethes Theorie des Prismas an der Frontseite unbeschränkt: „Das Prisma dient nur dazu, Hell und Dunkel über-einander zu schieben" (GA 6\166), muss in einer Fußnote aber zugeben, dass gerade in diesem Punkt „die Goethesche Farbenlehre einer wesentlichen Ergänzung und Verbes-serung bedarf `.203 Indessen sei es nach einem der Hauptvertreter „auf dem Hauptfeld der goetheanistischen Physik, der Farbenlehre, nicht gelungen [ ...1, die Bedeutung des Urphänomens wirklich herauszuarbeiten".204 Die Ironie der Sache ist, dass Goethe bei seiner Erklärung dioptrischer Erscheinungen, während er, nach Steiner, sich auf das Qualitative beschränkt haben soll (GA 1\241), sich in eine quantitative Erklärungs-weise der Optik verstrickte (die Doppelbilder). Hegel hat richtig gesehen, dass Goethe „sich auf sinnliche Weise so ausdrückt, daß beim Prisma das Helle ,über` das Dunkle oder umgekehrt hergezogen wird" (ENZ § 320) . Worauf es nach Hegel ankommt im Urphänomen, ist eben, dass dieses nicht ein „bloß quantitatives Verhältnis ist, also Ver-minderung oder Vermehrung der Helle oder Dunkelheit" (wie im Kontinuum Weiß-Grau-Schwarz), sondern dazu ein qualitatives Verhältnis von Grund und Medium: ein „dem Begriffe gemäßes Zusammenhalten Unterschiedener"205 (ENZ § 32o, Zusatz). Die bloße Vermehrung und Verminderung macht einem qualitativen Verhältnis innerhalb

201 Sie ist physisch aufgefasst ein Fehler Goethes. Sepper (1988), S. 149. 202 WA IV, 42. Bd., S. 167. 203 Kommentar in Materialen zur Geschichte der Farbenlehre (Kürschners Ausgabe), zit. in dem Anhang

der FL, 1. Bd. S. 330. G. Ott hat in Zur Entstehung der prismatischen Farben, Basel 1965, Versucht diese Erklärung aufrechtzuerhalten. Kühl (1998) hat auf das Unbefriedigende seiner Behandlung gewiesen

(S. 94-95)• 204 Kühl (1988), S. 86. 205 Hegel vergleicht es dem ,umgekehrten quantitatiVen Verhältnis' aus der L I\376 ff., wo der EXponent

(Resultat) eine qualitative Grenze gegen die beiden Quanta ist, nur das bleibende Verhältnis beider.

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des quantitativen Platz: die rein additive und substraktive Mischung und Entmischung von Licht der qualitativ-gesetzmäßigen Bestimmung.206

Daraus ergibt sich, dass das Urphänomen nicht länger Axiom ist für eine Deduktion nach dem Muster der Mechanik, wie es Steiner haben will (GA 1\276-277, GA 2\93-94,

GA 6\175-176 und GA 322\45), sondern ,Grunderscheinung`, wie Goethe es einsichtig nannte. Eine alles umfassende Farbenlehre mit axiomatischem Aufbau kann es hier deswegen nicht geben. Steiners Formulierungen sind vielleicht auch vergleichsweise gemeint, denn er setzt voraus, Goethes physikalische Betrachtungen seien eine Kon-sequenz seiner organischen Naturanschauung (GA 1\133) . Goethe versucht weniger, in axiomatischem Aufbau eine Farbenlehre darzustellen, sondern vielmehr in syste-matischem Zusammenhang die Fülle der Erscheinungen zu durchlaufen, damit ihre Grundform hervortritt, eine auf die physikalischen Erscheinungen angewandte Mor-phologie.207 Steiner: „Aufgabe des Naturforschers wird es also sein, eine Reihe von Phänomenen nebeneinanderzustellen, die immer nur durch eine Änderung der Bedin-gungen Modifikationen einer Grunderscheinung sind" (Komm. zu FL §175). Diese Modifikation einer zukommenden Bedingung braucht aber nicht einer Deduktion oder einem Beweis mit dem Gesetz der Grunderscheinung und der Bedingung als Prämis-sen gleichzukommen, wie es in der klassischen Mechanik durchaus zutrifft, weshalb sie als eine hypothetisch-deduktive Wissenschaft gilt. Die mechanischen Wirkungen und Gesetze behalten ihre unveränderliche Gestalt in der mathematischen Behandlung. So nicht die qualitativen Wirkungen von Licht und Finsternis und ihre Wechselwirkung in der Farbenlehre. Es ist nicht einerlei, ob die Farbe im Auge, im durchscheinen-den Medium oder an einer undurchsichtigen Oberfläche entsteht. Was Goethe jedoch behauptet, ist eine durchgehende Grundfigur, die zwar modifiziert, aber der Idee nach dieselbe ist. Darum kümmert er sich nicht um die optisch-mathematische Ableitung der Phänomene. Die zusätzlichen modifizierenden Bedingungen sind bei physiologi-schen, dioptrischen und chemischen Farben grundverschieden. Im Auge ist es ,das ruhende Licht' (FL, Einleitung, S. 57), das passiv auf den äußeren Lichtreiz reagiert durch das Nachbild. Hier ist ein zeitliches Verhältnis von Licht (Reiz) und Finsternis (Abwesenheit des Lichtreizes), vermittelt durch das passive Licht im Auge, das die Stelle des ,Trüben` einnimmt. Im Durchsichtigen schwebt die Farbenerscheinung transparent im raumhaften Medium (die Tiefe ist in der Transparenz notwendige Vorbedingung). An der Körperoberfläche wird sie immanenter Bestandteil der Fläche (verliert also

206 Sepper(1988) schließt, Goethe wäre im Recht gewesen, wenn er es auf der blurring of boundaries im Prisma hätte bewenden lassen. Diese Tatsache ist kompatibel mit der neueren Optik (S. 197-200). Mehr will Hegel u. A. nicht sagen mit seiner ,Zusammensetzung Unterschiedener'. Wenn wir richtig Verstehen, hat auch die neuere goetheanistische Farbenlehre indessen ihre Hoffnung auf eine neue Interpretation der mathematischen Ergebnisse der modernen Optik gesetzt, in der statt von Wellen erzwungener Schwingungen der Atome oder Moleküle die Rede ist Von schwingungsartigem Verwandeln von punkthaften Qualitäten in ebenenhafte und zurück, zahlenmäßig durchgeführt im Raum der Dualzahlen (gekrümmter Farbraum); Gschwind (2000), S. 118.

207 Vgl. Sepper (1988), S. 71: Diese Darstellungsweise ist „morphological in nature".

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 165

eine Dimension), die durch die Qualität des jeweiligen Stoffes bedingt ist. Dies ist die Hauptstruktur der FL. Eine Deduktion aller Arten der Farbe aus dem dioptrischen Urphänomen kommt gar nicht in Betracht.208 Nur sind bei den dioptrischen Farben-erscheinungen die ideellen Elemente Licht und Finsternis in der realen Farbe leichter zu analysieren und zu erfassen. Eben dies ist die Ansicht Hegels zur Einteilung der Farbenlehre, wenn er über die Kategorie der wissenschaftlichen Einteilung spricht in der WDL.209

Diese zu wenig kritische Auslegung der Farbenlehre brachte Steiner, angeregt durch Goethes Bemerkungen (FL §§177 und 716-721), zu einer unzulänglichen Deutung des Verhältnisses der Farbenlehre zu Hegels Naturphilosophie. „Der Philosoph [ ... ] nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erstes wird." (FL § 720) . Hegel denkt im Sinne von Goethes Weltanschauung, weil er die Metamorphose der Ideen darstellt (vgl. ENZ § 249: „die Metamorphose kommt nur dem Begriffe als solchem zu"). Die verschiedenen Ideen werden zurückgeführt auf eine Grundform. Dies billigt Steiner (GA 6\205), aber trennt dieses Geschäft von der Physik: „Auch die Philoso-phie kann nicht über die Urphänomene hinausgehen; sie hat nur die Aufgabe, die durch die Naturforschung festgestellten Urphänomene in ihrer ideellen Folge ausein-ander zu entwickeln. Während der Naturforscher die Phänomene nebeneinanderstellt, damit sich in ihnen das Urphänomen ausspricht, stellt der Philosoph die Urphäno-mene nebeneinander, damit sich darinnen die Naturideen aussprechen" (Komm. zu FL § 175, S. 115) und „Leitet uns der Physiker zu den Urphänomenen, so leitet uns der Philosoph zur Idee" (Komm. zu FL § 717, S. 259). Freilich übergeht Steiner hier die Tatsache, in welcher Weise das Urphänomen selber schon Idee ist. Die Kategorien der Logik und Naturphilosophie gehen schon in sie hinein: Nicht nur die abstrakteren von ,bestimmtem Grund`, ,Bedingung`, ,Wesen`, ,Gesetz der Erscheinung' usf., die Goethes und Newtons Naturwissenschaft unterscheiden (GA 1\274, 300-301 und Komm. zu FL, 2. Bd., S. 226, wo Steiner auf Hegels WDL hinweist),210 sondern auch die Kategorien der Naturphilosophie: das Licht als Idee, als Selbstmanifestation der Materie, die Finsternis als sein ideell-tätiges Gegenteil, die individualisierte Materie im Körper. Sonst hätten die Begriffe nur heuristische Bedeutung, keine für die Natur konstitutive. Bei Goethe implizite Notionen werden bei Hegel dialektisch aufgeklärt. „Hegel hat die Bedeu-tung des Urphänomens am tiefsten begriffen" (GA 1\226), aber in dessen Auffassung sind die Hauptbeziehungen seiner Physik der allgemeinen und totalen Individuali-tät konstitutiv, wie hiervor gezeigt.211 Aus Hegels Perspektive wird ersichtlich, warum

208 Nur in beschränkterem Bereich, wie bei den farbigen Schatten, paroptischen Farben usw. 209 „Allein für das Erkennen ist die allgemeine und hiermit wahrhafte erste Form die mittlere unter den

genannten, wie die Farbe auf der Schwebe zwischen der SubjektiVität und Objektivität als das bekannte Spektrum steht, noch ohne alle Verwicklungen mit subjektiVen und objektiVen Umständen" (WDL II\522).

210 Der oben erwähnte Passus WDL II\552 und wahrscheinlich ist auch gemeint WDL II\100—101 über den Grund und die abgeleiteten Phänomene.

211 Wir meinen nicht, Hegel sei einfach durch Goethe auf einen Holzweg geführt (M.J. Petry, Hegels

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die Gesetzmäßigkeit der dioptrischen Farben erster Klasse als ,Grunderscheinung` qualifiziert werden. Im Bereich der üblichen Physik, namentlich wenn die Optik und Chromatik zusammengenommen werden, ist dafür kein Grund vorhanden. Wenn aber die Kategorien allgemeine ,Form` (ENZ § 271) und individualisierter Körper oder ,Stoff vorausgesetzt werden, bildet sich die Reihe: Schatten-Beugung (Interferenz)-Streuung (Trübe)-Brechung (Dispersion: Durchsichtigkeit mit Absorption)-Absorption (che-mische Farbe), in deren Mitte Goethes Urphänomen auftritt.212 Die Metamorphose des Begriffs fängt nicht erst an in der Philosophie, und damit erst nach der Physik (,meta ta physika`), sondern mitten in ihr. Steiners innovative Tat der Interpretation war gerade dies bei Goethe nachgewiesen zu haben, während Goethe sonst zu wenig erkenntnistheoretisch und zu viel physikalisch gelesen wurde. Das Urphänomen der Farbenlehre ist dafür nur das eklatanteste Beispiel.

Es gibt deshalb nicht zwei getrennte Metamorphose-Reihen: eine der Phänomene (aus der das Urphänomen hervortritt) und eine der Urphänomene (in der die Naturi-deen sichtbar werden), sondern jene ist eine besondere von dieser. Die Farbenlehre ist Teil einer dialektisch bestimmten Naturphilosophie. Es kann dann aber keine goethea-nistische, phänomenologische Physik in der Interpretation Steiners betrieben werden ohne Bezug auf die fundamentalen Kategorien einer idealistischen Naturphilosophie, wenn diese auch, wie es bei Steiner der Fall ist, nur in Form eines Kommentars und einer Deutung Goethes auftritt.

§ 4.3.3• Typus und ,Leben`

Der Goethe'sche Typus wurde in seiner Wirkungsgeschichte meistens nur als ,Bau-plan` verstanden. Von Haeckel u. a. wurde der Typus beispielsweise nicht als Entelechie aufgefasst, weshalb Goethe nur als der Vorläufer Darwins erscheint. Die Realität der Entelechie war, wie oben gezeigt, nun aber entscheidend für Steiners Idealismus. Stei-

Verteidigung von Goethes Farbenlehre gegenüber Newton, in: Hegel und die Naturwissenschaften, herausg. von M.J. Petry, Stuttgart 1987, S. 323-340, hier S. 338), denn Licht als die unmittelbare Idealität der Materie ist vielmehr ein in der Systematik Hegels gegründeter Gedanke, ebenso wie Farbe als das Physische, das auf die Oberfläche herausgetreten und nichts Inneres mehr für sich hat, nun die reine Erscheinung ist, der phänomenale ,Tiefpunkt` der Natur. Die Auffassung Hegels einfach für widerlegt zu halten wegen des Wellen- und Photoncharakters des elektromagnetischen ,Lichtes` der modernen Physik (Petry (1987), S. 332-333) wäre eine ,metabasis eis allo genos` in Hegels Denken: „Das Licht hat also das Physikalische noch außer sich" (ENZ [B], S. 485). Vgl. Petry (1970), S. 368-369 und 380-382: Hegel sollte Goethes Farbenlehre derjenigen Newtons Vorgezogen haben, nur weil es leichter sei sie dialektisch zu interpretieren.

212 Kühl (1988), S. 93. Man kommt Von Makroverhältnissen (Licht und Schatten) allmählich in kleinere (Absorbtion). In der Mitte kommt die Bedingung der Farbentstehung — das Zusammenwirken von Licht und Finsternis an der verfeinerten Materie — zur Erscheinung: „Ideell erfaßte Gesetzmäßigkeit und Phänomen fallen zusammen" (S. 93). Idealiter gleichentfernt von Form und Stoff tritt die Wech-selwirkung, die sonst verborgen bleibt, in Erscheinung. Es ist dies eine andere Mitte als jene zwischen physiologischen (,subjektiven`) und chemischen (,objektiVen`) Farben, eben die Mitte dieser Mitte.

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ner kam ,auf seiner Art' durch ein nebenher betriebenes Studium der vergleichenden Anatomie213 auf Goethes Metamorphosenlehre (GA 28\98). In intuitiver Form wird der Typus von uns als Idee erfasst, und für Steiner war wichtig, dass Typus im rea-len Organismus „als Geistgestalt im Sinnlich-Anschaubaren waltet" (GA 28\99). Als er während der Wiener Studienjahre von einer dreigegliederten ,sinnlich-übersinnlichen Form`,21 4 die er so aufgefunden hatte, etwas andeutete, so reagierte man als sei sie nur ,eine philosophische Idee` (GA 28\100). Verständlich ist dies allerdings, da u. a. bei Platon (Timaios),215 Herder,216 Goethe, Schelling und bei Hegel die Idee des tieri-schen und menschlichen Organismus schon entsprechend dreigeteilt ist. Bei Goethe z. B. von der Gestalt her gedacht u. a. in Erster Entwurf einer Allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie (1795; LA 9\119 ff., hier S. 122: Allgemeinste Darstellung des Typus). Goethe bestimmte die gemeinsamen Teile folgendermaßen: „Alle einigermaßen entwickelten Geschöpfe zeigen schon am äußern Gebäude drei Hauptabteilungen [ ...1, das Haupt, der Mittel- und Hinterteil, die Hülfs-organe findet man unter verschiedenen Umständen an ihnen befestigt" (LA 9\123). Die genetische Ableitung beinhaltet, „daß die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher ent-springt, daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern zugestanden ist". Dies führt zum Kompensationsgesetz: „daß keinem Teil etwas zugelegt werden könne, ohne daß einem andern dagegen etwas abgezogen werde, und umgekehrt" (LA 9\124) . Jede Art hat einen vorgeschriebenen ,Etat` zur Verfügung, die Verwendung steht, bis auf einen gewissen Grad, frei (LA 9\125) .217 Nur bis zu einem gewissen Grad, denn die mannigfaltigen Spezialisierungen werden von Umständen hier induziert: „das Tier wird durch Umstände zu Umständen gebildet; daher seine innere Vollkommenheit und seine Zweckmäßigkeit nach außen" (LA 9\126). Zum Beispiel Wasser schwellt die Körper auf, die Luft trocknet sie aus usw. Es ist dieser ,Etat` ein geistiges Maß (vgl. § 4.2.5). Dies galt es nicht als ,nur philosophische Idee` gegenüber dem Darwinismus zu verteidigen, sondern auch als wirksame, reale Gesetzmäßigkeit aufzuweisen.

Ohne die Stationen dieser Studien Steiners nachzeichnen zu können, vermuten wir, dass namentlich Ed. von Hartmann für Steiner von Bedeutung gewesen sei, der mit seinem ,objektiven Idealismus` für Steiner „ganz auf dem Boden Goethescher Weltanschauung stand" (GA 1\231). In seinem Wahrheit und Irrtum im Darwinismus, eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungstheorie (Berlin 1875)218 nimmt

213 Steiner erwähnt davon nur „ein eingehendes Studium Von Haeckels Genereller Morphologie der Orga-

nismen" (GA 28\57).

214 Erst in 1917 publiziert in Von Seelenrätsel (GA 21\150-163) in Anknüpfung an Brentano. 215 Vgl. 44 d-44 e, 69 c-70 e, 87 a, 89 e und 91 e-92 c. 216 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), Ausgabe B. Suphan, Nachdruck

Wiesbaden o. J., I. Teil, 2. Buch, § IV, S. 75. 217 Wie Schlechta (1938) schon bemerkt, hat Aristoteles dasselbe Gesetz aufgestellt (S. 71-82). Kullmann

(1998), S. 239-240, wie Schlechta, haben wohl Recht, Aristoteles, neben Goethes eigener Erfahrung, als Quelle anzuführen.

218 Vgl. Hartmanns Die Philosophie des Unbewußten, Berlin 1869, Bd. III, S. 403. In GA 18\518 heißt es über

die Monografien (darunter Wahrheit und Irrtum im Darwinismus) bei Steiner: „Diese Schriften bergen

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er die Kritik Steiners an Darwin vorweg. Die Deszendenztheorie wird an sich richtig befunden219 (so Steiner: GA 1\31). Die natürliche Zuchtwahl dagegen ist ein viel zu beschränktes Prinzip um die Deszendenz erklären zu können. Die Variabilität reicht nicht aus für eine Entstehung aller Arten aus einem Kampf ums Dasein, denn die Variation ist nur „Undulation um das Zentrum des normalen Typus" (S. 98), womit der Goethe'sche Typus schon vorausgesetzt ist. Die Variationstendenz ist eher spontan in einer ,teleologisch vorgezeichneten Richtung' (S. 100/101), d. h. sie ist eingegeben von innen heraus, d. h. durch den Typus. Es gibt ferner korrelative Änderungen, die einen inneren Zusammenhang zeigen (Goethes Kompensationsgesetz innerhalb den Grenzen des Typus). Zuletzt ist die Zuchtwahl kein zureichender Grund, denn „alle morphologischen Haupttypen erweisen sich als gleich nützlich oder gleich indiffe-rent in Bezug auf die Anpassung an die Lebensbedingungen" (S. 87). Es gibt zwar die Anpassung an die Umgebung, aber dies sei mehr als eine innere Antwort zu verste-hen (S. 116-117). Goethes Typus erweist sich als notwendige Grundlage einer richtig verstandenen Deszendenztheorie. Steiner nennt ihn deswegen eine erst zu schaffende „sichere Basis" für die Deszendenztheorie (GA 1\31). Die Form des Organismus ist von dem Typus herzuleiten. Die äußeren Umstände sind nur Veranlassungen zur Entwick-lung dieser Form. Im Kampf ums Dasein werden dann die am besten angepassten Wesen sich erhalten, nachdem sie sich dem Typus gemäß gebildet oder umgebildet haben (GA 97-98). Kürzer gefasst als bei Hartmann, behauptet Steiner gleicherweise den Primat des Typus und die Überlegenheit von Goethe über Darwin.

Die innere Notwendigkeit im Typus bleibt in den philosophischen Texten von Stei-ner unangerührt.220 Der Grund dafür ist nicht ganz klar. Steiner beschränkt sich auf das Empirische, indem er als Methode der organischen Wissenschaften nur Goethes ver-gleichende Methode vorschreibt (GA 2\114). Der Vergleich von einzelner Form und Typus ist aber nur eine Seite dieser Wissenschaft. Der Vergleich zeigt eben die Regelmäßigkeit der Bildung. Es gehört da auch das Aufstellen von allgemeinen Gesetzen innerhalb der Morphologie dazu, wie Goethe sie versuchte festzustellen in drei Gesetzen in Gesetze der Pflanzenbildung (LA 10\55-63): die drei Gesetze von Hervorbringung (die Pflanze als Vielheit von Pflanzen), Metamorphose (Ausdehnung und Zusammenziehen und Kompensationsgesetz) und Abschluss durch den Kelch. Sie werden von Hegel in ENZ

geistige Schätze von hervorragender Bedeutung in sich." Hartmanns Gedanke über die Anpassung des Organismus würde man heute wahrscheinlich als die Lehre von ,adaptiven Mutationen' bezeichnen; Vgl. J. Wirz, Typus und Genetik, in: Heusser et. al. (2000), S. 313-336 und dessen Quellen: P.L. Foster, Adaptive Mutations: The Uses ofAdversity, in:Ann. RevMicrobiol., Jg. 47 (1993), S. 467-499 und J. Shapiro, Genome Organization, Natural Genetic Engineering and Adaptive Mutations, in: Trends Genet., Jg. 13 (1997), S. 98-104.

219 Die Deszendenztheorie ist nicht mehr ausgeschlossen, wie dies bei Hegel noch der Fall ist: „Es ist eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen" (ENz § 249).

220 Nicht nur das Goethe'sche Kompensationsgesetz, auch Hegels Darstellung der ,Notwendigkeit des Begriffes' in dem dreigegliederten Organismus (ENz §§ 352-355) bleibt unerwähnt.

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DAS VORBILD DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN GOETHES 169

§§ 345-346a und Zusatz in seiner inneren begrifflichen Notwendigkeit entwickelt.221

Steiner berührt nur Vergleichbares, indem er z. B. die Ausdehnung und Zusammen-ziehung behandelt. Diese sind nicht Folgen, sondern Ursache der Metamorphose222

(GA 1\94). Woraus erklärt sich ihre Struktur?: „Die Verschiedenheit [der identischen Pflanzenorgane] kann bei dem ganz in der Äußerlichkeit liegenden Leben der Pflanze auch nur auf äußerlichen, d. h. räumlichen Momenten beruhen." (GA 1\91) . Aus dem Begriff des vegetabilen Lebens folgert Steiner also die Grundstruktur des Abwechselns von räumlichen Momenten: Expansion im Raume, Konzentration auf den Punkt. Die-sen Begriff des Lebens umschreibt er indessen folgendermaßen: „Das Lebendige ist ein in sich beschlossenes Ganze, welches seine Zustände aus sich selbst setzt." (GA 1\34). Nicht einmalig, denn „als stetige Unruhe in sich selbst" (GA 1\13). Keine wörtlichen Zitate, dennoch nach Hegel'schem Schnitt (PHDG 22: die Kraft zu bewegen ist das Fürsichsein, wo der Anfang Zweck ist ... „eben diese Unruhe ist das Selbst"; die vege-tabilische Organismus ein Außersichkommen des Individuums in seinen Teile:223 ENZ

§ 343). Vielleicht dass Steiner hier am meisten vermeiden möchte missverstanden zu werden, indem die Erfahrung gelehrt hatte, dass goetheanistische Wissenschaft leicht für Spekulation gehalten werden könnte, namentlich „bei denen es mir am meisten leid tun würde, von den reinen Empirikern. [ ... ] Ich baue gerade auf sie einen Teil meiner Hoffnungen, weil sie die Hände noch frei haben." (GA 1\119).

Wie dies auch sei, mit dem Typus, dem Begriff des Organismus, hatte Goethe „die philosophische Grundlage für ein wissenschaftliches System des Organismus geschaf-fen" (GA 1\100). Inwiefern diese ,philosophische Grundlage' nun inhaltlich zusammen-stimmt mit den §§343-349 (zur Pflanze), 354 (Hauptunterschiede am tierischen Orga-nismus, u. a. Goethes Metamorphose der Wirbel im Zusatz) und § 370 (über ,Typus` und Individuum), und den Einfluss Herders und Schellings zu bestimmen vermag, sprengt hier den Rahmen unserer Untersuchung. 224 Der Grundbegriff ist jedoch sichtlich ein-gebettet in den gemeinsamen Idealismus, der den Organismus selber als individuell

221 „Goethes ,Metamorphose' der Pflanze hat den Anfang eines Vernünftigen Gedankens über die Natur der Pflanze gemacht" (ENZ §345).

222 Eine dynamische Morphologie verträgt keine Typen als hypothetischen Urschemata. Eine bloße Reihe von Transformationen harrt noch ihrer Erklärung. Wenn das zeitliche Element der Dynamik in der ,Bildung` (statt Form) aufgenommen wird, dann ist die Einheit der dynamischen Gestalt selber Erklärungsgrund: „since this notion of form unifies the distinctions of time (even as spatial form unifies those of space), it also lends necessity to the eVents by which it unfolds. But necessity in time — in sequal events — is casual necessity", R. Brady, Form and Cause in Goethe's Morphology, in Armine, Zucker und Wheeler (1987), S. 257-300, hier S. 292.

223 Die vegetabilische Natur ist nur eine Zwischenstufe für die tierische. Hegel entlehnte an Schelling und Kielmeyer drei Bestimmungen des tierischen Organismus: Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion, die das Entwicklungsziel des Stufengangs der organischen Natur darstellen; Vgl. K. Düsing, Die Idee des Lebens in Hegels Logik in: Hegels Philosophie der Natur, Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis, heraug. R-P. Horstmann und M.J. Petry, Stuttgart 1986, S. 285. Vgl. jene ,Dreigliederung` Steiners.

224 Vgl. dazu u. a. Petry (1970). Steiner stimmt Hegel zu, dass der menschliche Organismus der allgemeinste Typus sei, von dem aus die anderen Typen (Tiere) zu verstehen seien (ENZ §352, Zusatz).

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170 KAPITEL IV

lebende Idee bestimmt. Der Metamorphosengedanke wird von einer schwankenden Homologienerforschung (Wenzel) zur festen Grundlage nur indem die Homologien in den Wechselbezügen ihren Fokus in dem realen Typus haben. Diesen nicht nur vor-auszusetzen, sondern auch in seiner Gesetzmäßigkeit zu denken, haben Goethe und (in Bezug auf die vegetabilische Natur) in seiner Spur Hegel unternommen. Steiner streift nur diese Bestimmungen (in GA 1 und GA 6).225 Die zugrunde liegende ,Metamorphose der Naturideen', die als Möglichkeit schon anerkannt war, bleibt im Einzelnen hier unerwähnt. In den anthroposophischen Werken und der anthroposophischen Medizin kehren die Grundbegriffe, namentlich die Dreigliederung des Organismus, in ande-rer Form wieder. Aber auch diesen Bereich lassen wir den methodischen Richtlinien unserer Arbeit gemäß beiseite.

§ 4.3.4. Bewusstsein

Goethe hat seine wissenschaftlichen Bemühungen der Natur gewidmet, nicht der Psychologie. Steiner stand doch eine gleichfalls phänomenologische Psychologie vor Augen, für die es an Vorbildern nicht fehlte. Eine der ersten systematischen Behand-lungen der Psychologie, die Steiner las, war Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkte, den er auch später noch für den bedeutensten Psychologen/Philosophen seiner Zeit hielt. Die Psychologie sollte, Brentano zufolge, nach naturwissenschaftlicher Methode aufgebaut worden. Wir haben schon auf die Verwandtschaft von Steiners frü-hen phänomenologischer Naturwissenschaft und Brentanos Psychologie hingewiesen, wie auf Steiners fundamentale Kritik an Brentano. Neu war der Gedanke einer empi-rischen Psychologie nicht. In Steiners Bibliothek findet sich u. a. auf diesem Gebiete von Moritz Wilhelm Drobisch eine Empirische Psychologie nach naturwissenschaftli-cher Methode (Leipzig 1842). Drobisch widersetzte sich namentlich der Herbart'schen Schule, die u. a. an den Österreichischen Lehranstalten in Steiners Studienzeit herr-schend wurde,226 und strebte „die Ausscheidung aller Metaphysik und Herstellung einer des Namen werten empirischen Psychologie" an (S. 33). Die wichtigste Erkennt-nisquelle sei die Selbstbeobachtung (S. 8 ff.) . Ihr methodisches Muster ist nicht die Physik, sondern die Biologie (S. 14), wobei sie den Vorteil hat, „die Phänomene des Bildens von innen heraus zu beobachten" (S. 29) .227 Eine dynamische Vorstellungsart,

225 In der goetheanistischen Botanik liegt das Schwergewicht noch immer auf das Lesen der Phänomene. Vgl. F. Amrine, Goethean Method in the Work of Jochen Bockemühl, in: Amrin, Zucker und Wheeler (1987), S. 301-318. Wie Figur n in diesem Aufsatz zeigt, kann man zwei inVerse Rhythmen in der Ausbildung des Stengelblattes ,sehen` (S. 316-317). Auch zu deuten als Illustration des dritten Gesetzes: der Gattungsprozess hemmt als Rückkehr zu sich das für sich unangemessene Hinaussprossen von Knospe (Knoten) zu Knospe (ENz §348; Vergleichbares in GA 108\23).

226 Wie Steiner schon an der Realschule erfuhr. Er las damals schon Von dem Herbartianer Gustav Adolf Lindner dessen Psychologie (Wien 1858); GA 28\46.

227 Eine andere ,empirische' Psychologie war z. B. Fortlages System der Psychologie als empirische Wissen-schaft aus der Beobachtung des inneren Sinnes, Leipzig 1855. In Steiners nachgelassener Bibliothek.

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nahe an Goethe, sollte deswegen der Psychologie angemessen sein. Brentano, mit weit mehr ausgebildeten methodischen Überlegungen operierend, gründet die Psycholo-gie erstens auf ,Induktion` im Sinne einer stufenweisen Erhebung von an Individuen aufgefundenen Eigentümlichkeiten zum allgemeinen Gesetz.228 Diese sind ,nur empi-rische Gesetze', d. h., sie dringen nicht zum eigentlichen Grundsatz des Psychischen vor, weil dazu der psychophysische Zusammenhang erkannt werden sollte, bei dem wir aber, Brentano zufolge, an eine Erkenntnisgrenze stoßen.229 Hier liegt natürlich ein Unterschied zu Steiner vor, auf den wir gleichfalls schon eingegangen sind (bzw. auf die Kehrseite, die phänomenale Unwirklichkeit physischer Erscheinungen). Im Übrigen erreichen wir durch Induktion die höchsten Gesetze des Psychischen, die nur man-gels einer genauen Messbarkeit der Intensität nicht präzise und nur qualitativer Natur sind.230 Brentano schließt übrigens gar nicht aus, dass wir neben dem induktiven Ver-fahren auch eine Deduktion aufgrund einiger Gesetze der Metaphysik benötigen, die durch Induktion zu verifizieren wären.231

Brentanos Psychologie des Aristoteles (1867), die Steiner besaß, hat ihn möglicher-weise dazu veranlasst sich mit Aristoteles De Anima auseinander zu setzen.232 Es gab da auch ein anderes Stimulans, denn Hegel sagt in ENZ §378 über die empirische Psy-chologie: „Die Bücher des Aristoteles über die Seele [ ... ] sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegen-stand". Steiner wird gleichfalls behaupten „daß wir in der Seelenlehre des Aristoteles etwas haben, was die Besten auf dem Gebiete der Seelenlehre zu geben vermochten" (GA 52\149). ,Seele` ist bei Aristoteles reale Form, die wir als Begriff in unser Denken eingehen lassen.

In seiner frühen Begriffsbestimmung fügt Steiner all dem hinzu, was er an dem Ich entdeckt hat (vgl. §§3.2.2 und 3.2.3). Vergleicht man dann Natur und menschliche Handlung, so ergibt sich, dass das Naturprodukt in der Erfahrung keineswegs die ideelle Gesetzmäßigkeit mit sich führt. Wir müssen sie denkend hinzufügen. Im Bewusstsein tritt die Idee selber in die Erscheinung und in dem (bewussten) menschlichen Handeln „erscheint die Idee selbst als verursachend" (GA 1\197). Der Wille, der Kern des Bewusst-seins, „ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt" (GA 1\197).233 Auf völlig empirischer Grundlage soll sich zuletzt hier die Realität der Idee bestätigen. Sie erweist sich als das Agierende selbst in unserem Bewusstsein. Wir werden noch sehen, wie dies alles von Steiner gemeint ist. Im Voraus ist klar, dass sich der Kreis hier schließen soll. Die ontologische Basis in der Psychologie ist nicht das Vorstellungsleben mit unbekannten

228 Psychologie vom empirischen Standpunkte, I. Bd., herausg. O. Kraus, 2. Aufl., Darmstadt 1973, S. 62. 229 A. a. O., S. 66. 230 A. a. O., S. 96-102. 231 A. a. O., S. 104-106. Dieser Rekurs auf die Metaphysik ist natürlich das Gegenstück zur postulierten

Erkenntnisgrenze. Vgl. § 3.4, Anm. 88. 232 In deutscher Übersetzung (Drei Bücher über die Seele) in Steiners Bibliothek vorhanden. 233 Hegel: Die Idee ist nicht etwas Ohnmächtiges, sondern das Wirkende selbst (ENZ [B] § 142, Zusatz,

S. 190).

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172 KAPITEL IV

Ursachen, doch die Idee als Tätiges. Die Erkenntnistheorie weist ferner auf das tätige erkennende Ich hin, das sich auch in anderen Formen im Handeln betätigt. Damit rückt die empirische Psychologie bei Steiner unmittelbar in die Nähe von Hegels Phä-nomenologie des Geistes,234 wo Bewusstsein und Wissen, oder Selbstbewusstsein (Ich) und Begriff einander gleichgestellt werden. Die Entwicklung des Bewusstseins erhält ihre immanente Dynamik von der fortlaufenden Prüfung, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht, also „eine Vergleichung seiner mit sich selbst", wobei uns nur „das reine Zusehen bleibt" (PHDG, Einleitung\71-72). Die ersten philosophischen Schritte Steiners wiederholen in verkürzter Form die Entwicklung vom Objekt zum Ich, indem er ausgegangen war von der mechanisch-materialistischen Naturauffassung, „auf deren Wahrheit er [ ... ] geschworen hatte", ihre Widersprüche „selbst durchlebt" hatte (GA

Beiträge 63\11) und zuletzt auf das Ich als festen Grund des Wissens gestoßen war (§ 3.2.3 und 3.4.2). Die Übereinstimmung von Hegels Psychologie und Steiners Begriff des erkennenden Geistes werden wir in reichlichem Maße im dritten Teil aufweisen können.

Wir runden ab. Nicht nur die Einteilung der Kategorien ,Gesetz`, ,Leben` und ,Bewusstsein`, auch ihr Inhalt und die konkrete Ausführung Hegels stimmen mit ,Urphänomen`, ,Typus` und ,Bewusstsein` bei Steiner überein. Sogar dermaßen, dass Steiners Vorstellung nicht ohne weiteres mehr zutrifft, wonach Goethe und Hegel kom-plementär wirkten und Hegels ,Metamorphose des Ideellen` beginne, wo Goethe auf-höre, also Hegels Grundgedanke nur eine ,Konsequenz der Goethe'schen Denkweise' (GA 1\227) sei. Vielmehr sind die Grundgedanken, die wir bei Hegel finden, konstitutiv für Steiners Interpretation der Anschauung Goethes.235 Wir beschränken uns auf diese allgemeine Feststellung. Es findet sich im Rahmen unserer Untersuchung kaum eine Möglichkeit, Bestimmteres über den Einfluss von Hegel auf den jungen Steiner zu entdecken. Wir müssen es bei der ideellen Übereinstimmung und dem Nachweis von Spuren der Hegel-Lektüre bewenden lassen. Steiner hatte seine eigene philosophische Entwicklung, die von der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen im Weltbild des mechanisch-materialistischen Denken, der Entdeckung der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes, sowie von einer Rezeption des nachkantischen Idealismus und — wie wir nachgewiesen haben — namentlich von Hegel gefördert wurde. Bei der Entfaltung seiner systematischen Philosophie werden wir Grundbestimmungen Hegels in verän-derter Gestalt wiederbegegnen. Vorerst wenden wir uns der Logik zu, einem Bereich, in dem, wenn überhaupt, die Bedeutung der Dialektik für Steiner sich deutlich zeigen müsste.

234 Diese handelt zwar weder von der Seele im Allgemeinen (ENZ §§388-412) noch von den Vermögen des Geistes (ENZ §§ 440-482), sondern Vom Bewusstwerden des Geistes.

235 Die Möglichkeit dazu liegt in der historischen Entwicklung selber. Hegel ist entschieden von Goethe angeregt worden und hat ja Goethes Polaritäts- und Metamorphosenlehre zu seiner Dialektik vertieft: Förster (2002), S. 333-342.

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KAPITEL V

Ideen zur Logik

§5.1. Einleitung

§ 5.1.1. Bedeutung der Logik

Steiner hat einige prinzipielle Ansichten zur Logik entwickelt, namentlich aus erkennt-nistheoretischer Perspektive, die wir in diesem Kapitel behandeln werden. Wir werden sehen, dass der Logik eine zentrale Bedeutung zukommt, weil sie eine direkte Einsicht in die Methodik gewährt. Statt die Logik als tautologisches Instrument der Ordnung der Erkenntnis zu betrachten, wird der Idealismus der Logik eine weit größere Bedeu-tung für alles Erkennen zumessen, da die Logik von der inneren Gesetzmäßigkeit des Ideellen handelt. Steiner hatte nicht nur sich der Logik Rechenschaft zu geben und einen Begriff derselben zu entwickeln, sondern diesen noch konsequent zu verwenden.

Erstens werden wir basal die Quellen, die Steiner für das Studium der Logik benutzte, auflisten (§ 5.2). Zweitens werden wir eine Zwischenbetrachtung über seine Bemerkungen zur Sprache einfügen, soweit sie als Voraussetzung für das Verständnis seiner Philosophie, seiner Ansichten zur Logik und von seinem philosophischen Stil her erforderlich sind (§ 5.3).

Danach wird es unsere Aufgabe sein, Steiners Bestimmung der Aufgabe und Metho-de der Logik zu analysieren (§ 5.4) . Hier werden wir vergleichenderweise vorgehen, da wenig Material vorliegt und dieses auslegungsbedürftig ist. Die Funktion des Begriffs kann anhand von Steiners Ansichten über die Gattung und die Realismus- und Nomi-nalismusfrage dargestellt werden (§ 5.5) . Aus diesen Ansichten wird Steiners Kritik am Mill'schen Induktionsverfahren zu betrachten sein (§ 5.6). Steiner erweitert die Logik schließlich zu einer Dialektik, deren Begriff zuletzt zu untersuchen sein wird (§ 5.7)

§ 5.1.2. Studien zur Logik

Steiner wird seine logischen Kenntnisse aus der Literatur geschöpft haben. Der Umfang dieser logischen Studien Steiners lässt sich ableiten aus der Bibliografie philosophischer Literatur in der Einleitung seiner Dissertation (GA 3) und aus dem Verzeichnis der Publikationen zur Logik in der nachgelassenen Bibliothek Steiners (GA Beiträge 114-115) . Ferner geben seine Werke und Vorträge Aufschluss über diese Studien. Aus dem Schnitt der Ergebnisse dieser Quellen ergibt sich, dass Steiner sich wahrscheinlich insbesondere

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174 KAPITEL V

orientierte an Kuno Fischer (System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre, 2. Aufl. 1865), Rudolf Hermann Lotze (System der Philosophie, 1. Teil: Logik, 1874), John Stuart Mill (System of Logic, 1843, deutsch 1849), Christoph Sigwart (Logik, 1878), Adolf Trendelenburg (Logische Untersuchungen, 2. Aufl. 1862) und Wilhelm Wundt (Logik, I. Bd.: Erkenntnislehre, 1880). Steiner studierte auch die weniger bedeutenden Logiker: Heymans, Horwicz, Seydel, Ueberweg — deren Publikationen zur Logik in der Bibliografie von GA 3 erwähnt sind — F. Lauczizky — dessen Lehrbuch der Logik Steiner rezensierte —, wie Bilharz, Dittes, Dühring, Elsenhans, Lehmens, Lindner, Loewe, Lucka, Ulrich, Wertheimer, Saliger und F.J. Zimmermann, deren Schriften, meistens mit Lesespuren, sich in der nachgelassenen Bibliothek befinden. Dazu kommen die geschichtlichen Darstellungen und die eigentlichen Klassiker: hier vor allem Platon und Aristoteles, sowie Kant und Hegel, auf den er immer wieder zurückgriff. Ein besonderes Interesse für die Logik kann man Steiner sicherlich unterstellen.

Steiners Ansichten zur Logik sind, soweit sich nachweisen lässt, wahrscheinlich erst ausgereift in den Jahren, als er an seiner Dissertationsarbeit arbeitete. Zu dieser Zeit studierte er Sigwart, Wundt und Mill. Er wird sich während seiner Lehrjahre in Wien in privaten Studien schon die Grundbegriffe und Grundlehren der Logik angeeignet haben. Er befasste sich wahrscheinlich ziemlich früh mit Hegels Wissenschaft der Logik, vielleicht erst mit der ,kleinen Logik` aus der Enzyklopädie. Seine Zuneigung zu Hegel spricht Steiner in Grundlinien (1886) aus.1 Zusammengehalten mit einigen autobiografischen Bemerkungen deutet dies auf eine sympathisierende Hegel-Lektüre hin.

Die Logik tritt zum ersten Mal in seiner Dissertation in den Vordergrund. Dem liegt eine, eventuell neue, Auseinandersetzung mit der damaligen Logik zugrunde. Von den Zeitgenossen sind Sigwart und Wundt die bedeutendsten Autoren,2 die er während der Vorbereitung zur Promotion las. Eine Stellungsnahme Sigwarts wird er fast dreißig Jahre später noch kritisieren (GA 293\85). Ein Exemplar der Logik von Wundt in Steiners Nachlass zeigt Spuren intensiver Beschäftigung mit dem Text. Sie ist sicherlich eine der Hauptquellen Steiners gewesen.' Wir sehen auch, contra Sigwart und Wundt, Übereinstimmung mit Fischer und Trendelenburg (über die Natur der hypothetischen Urteile; GA 208\211) und Lotze (über die klassischen Paradoxen; GA 108\206-217).4

1 „Am klarsten tritt diese Einsicht in die innere Gediegenheit und Vollkommenheit des Denkens in dem wissenschaftlichen Systeme Hegels auf. [...] Hegel hat ein absolutes Vertrauen auf das Denken" (GA 2\50-51).

2 Nach Heinrich Scholz, Abriß der Geschichte der Logik (1931), 2. unVeränd. Auflage, S. 17, die beiden bekanntesten Logiken aus dem letzten Drittel des 19. Jhs.

3 Von der skizzenhaften Darstellung der formalen Logik im Jahr 1908 (GA 108\197 ff.) folgen die ersten Schritte weitgehend der Spur der ersten Kapitel Von Wundts Logik.

4 Ueberwegs System der Logik und Geschichte der logischen Lehren (1882, neu herausgegeben von Jürgen Bona Meyer; erwähnt in GA 3\20), und das vierbändige Standardwerk von Karl Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande (1855-1870), das damals doch kaum zu übersehen war, dürfen seine wichtigsten historischen Quellen gewesen sein.

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IDEEN ZUR LOGIK 175

Die grundlegenden Werke der modernen Logiker um die Jahrhundertwende (Frege, Peano, Russell und Whitehead) fehlen im Register zur Gesamtausgabe. In der nachge-lassenen Bibliothek befinden sich schon einige Werke von Bernhard Bolzano ( Wissen-

schaftslehre, 1, und 2, Bd, 1837), Gottlob Frege (der Aufsatz Über Sinn und Bedeutung,

1892), und Edmund Husserl (Logische Untersuchungen, erster und zweiter Band, in der 2,.

Auflage von 1913),5 doch hat Steiner sich darüber nicht geäußert. Es sind auch nur spär-liche Randnotizen in den genannten Schriften zu finden. Bolzanos Wissenschaftslehre

kommt noch nicht vor in der Bibliografie der Dissertation, und mag später erworben und gelesen sein. Steiner wird sogar ein besonderes Interesse für Bolzanos Werk und Person gehegt haben, denn es finden sich einige Aufsätze über ihn in seiner Biblio-thek.6 Es lässt sich aber nicht feststellen, ob Steiner Werke der symbolischen Logik (Boole, Schröder, Frege oder Russell) zur Kenntnis genommen hat. E silentio ist eher das Gegenteil wahrscheinlich.

§ 5.2. Wort und Gedanke

Der Darstellung von Steiners Gedanken zur Logik schicken wir einleitend eine kurze Darlegung seiner Ansichten über den Zusammenhang von Wort und Gedanke voraus. Im 20. Jahrhundert hat sich der linguistic turn vollzogen,' demzufolge man, statt unmittelbar den Gedanken zu untersuchen, sich an der Sprache und den konkreten Aussagen orientiert, was zuweilen bis zu einer causal theory of meaning führt, in der die Bedeutung von Aussagen ganz durch materielle Ursachen, die die Praxis der Sprache beherrschen, erklärt werden soll. Es gibt in diesem Physikalismus keinen Raum mehr für irgendwelche für sich bestehende ,intelligibilia`. Steiner hat dagegen noch die klassische Auffassung: Der Gedanke ist im Geiste des Menschen eine selbstständige Entität, mittels der wir zugleich das Wesentliche und das Akzidentelle der Gegenstände außer und in uns erfassen. Das Wort ist Werkzeug des Denkens. Seine ,Bedeutung` ist ein allgemeiner Begriff oder konkretes Ding, das ebenfalls durch den Begriff konstituiert wird. Das Wort soll ürsprunglich und auch jetzt noch einen Rest von einer unmittelbaren Beziehung

5 Wie mehr allgemein erkenntnistheoretische Schriften von Emile BoutrouX ( Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie, deutsch 1907), Hermann Cohen (System der Philosophie, Erster Teil: Logik der reinen Erkenntnis, 1902), Henri Poincaré (Wissenschaft und Hypothese, deutsch 1918), Moritz Schlick (Allgemeine Erkenntnislehre, 1918) und Ernst Cassirer (Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, in 2. Auflage von 1923), die alle auf seine philosophische Entwicklung schon keinen Einfluss mehr ausüben konnten.

6 Nämlich: Hugo Bermann, Das philosophische Werk Bolzanos (Halle, 19°9), Josef Hoffmann, Bruchstücke zu einer künftigen Lebensbeschreibung des seligen Prof Bernard Bolzano, (Wien 1850), und Anton

Wisshaupt, Skizzen aus dem Leben Bernard Bolzano's. Beiträge zu einer Biographie von dessen Arzte (Leipzig, 1850).

7 Diese Wende wird noch zu Steiners Lebzeiten scharf markiert durch den logischen Atomismus Von

Russells Our Knowledge of the External World (1914) und Wittgensteins lapidarischen Tractatus logico-philosophicus (1918). Der Gedanke wird in dem Tractatus reduziert auf den „sinnVollen Satz" (§ 4) oder

„das angewandte Satzzeichen" (§ 3.5).

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176 KAPITEL V

zum Ding oder dem Vorgang haben, wovon es spricht.8 Das Wechselverhältnis von Wort und Gedanke ist kompliziert, und nur historisch zu verstehen.9

Im modernen Zeitalter aber hat der Gedanke sich weitgehend vom Worte eman-zipiert, und das Denken ist sich der Beschränkung der Sprache bewusst geworden. Es wäre nunmehr unrichtig, die Sprache als objektiven Spiegel der Außenwelt anzusehen. Steiner wirft deshalb Fritz Mauthners „Kritik der Sprache",10 die am Jahrhundertan-fang Aufsehen erregte," dann auch vor, sie mache die falsche Voraussetzung, dass man Kritik an der Sprache deswegen üben könne, weil sie die Wirklichkeit nicht wiedergibt. Das leistet die Sprache jedoch überhaupt nicht, sie ist gar nicht geeignet, die Wirk-lichkeit direkt abzubilden.12 Die Sprache ist vielmehr zu verstehen in Analogie zum Kunstwerk. Die Sprachbildung ist eine durch und durch künstlerische Tätigkeit, die an dem beschränkten Material, mit dem sie arbeiten soll, ihre Grenze hat. Sie ist nicht mehr oder weniger objektiv wie ein gemaltes Bild, das die Wirklichkeit darstellen soll. Kein einziges Wort kann den Gedanken auf einmal ausdrücken. Reste der Nachahmung des Sinnlichen, die Notwendigkeit der Symbolisierung und die Subjektgebundenheit (Gefühlsausdruck und Sprachpragmatik) in der klanggebundenen Sprache erklären, warum in diesem fremden Material der Worte die Begriffe und Ideen nicht unmittelbar durchscheinen. Ideen und Begriffe können nie in einzelnen Wörtern befriedigend zum Ausdruck gebracht werden. Mauthners Kritik an der Sprache, so führt Steiner in einer Fragebeantwortung 1918 aus, sei also nur teilweise richtig. Der Mensch habe sich schon losgelöst von einer unmittelbaren Verbundenheit mit der Sprache, die nun einmal zu etwas Äußerlichem geworden ist. Nur dem Eigennamen entspreche noch eine unmittel-bare Wirklichkeit: „Sobald man allgemeine Namen verwendet, seien sie Eigenschafts-oder Hauptwörter oder was immer, drücken sie nur ungenau dasjenige aus, was sie ausdrücken sollen. Sie sind abstrakt, sie sind Allgemeinheiten gleich." (GA 73\368) . Unsere Erfahrung, behauptet Steiner, ist immer schon von mannigfaltigen Begriffen durchsetzt (GA 3\47-51), weshalb wir Dinge und Verhältnisse usw. ,sehen`, nicht nur die

8 Die beiden Dimensionen der Sprache: Konventionalität und Bildhaftigkeit, werden schon durch Platon in dessen Kratylos thematisiert. Im Altertum lehrte auch die Stoa eine Nachahmungstheorie (vgl. A.A. Long, Hellenistic Philosophy, London 1974, S. 133-134) . Hans Georg Gadamer hat noch im 20. Jh. betont, das Wort sei mehr als nur ein Zeichen. „Es hat von sich Bedeutung und ist in irgendeinem schwer zu erfassenden Sinne [ ... J etwas wie ein Abbild", und dadurch der Sache zugehörig ( Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Auflage, 1974, S. 394).

9 Hier kommen bezüglich der Philosophie in Betracht die Ausführungen aus den Vorträgen Die Geis-teswissenschaft und die Sprache (20. Januar 1910), Das Reich der Sprache (17. Juli 1915; in GA 162), Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen. Eine Anregung für Erzieher (26. Dezember 1919 — 3. Januar 1920; GA 299) und Sprachwissenschaft (7. April 1921; GA 76).

10 Siehe dessen Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Stuttgart 1901-1903 und Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zur Kritik der Sprache, 2 Bde., München 1910.

11 Nicht ohne Wirkung. Obwohl Wittgenstein noch im Tractatus seine Art Philosophie zu treiben von Mauthners kritisch abhebt (Vgl. § 4.0031), ist seine „Sprachkritik" in den Philosophischen Untersuchun-gen dessen Philosophie durchaus Verwandt (Vgl. § 109). Das Bild der wegzuwerfenden Leiter (§ 6.54) könnte z. B. wortlich an Mauthner entlehnt sein (Hao Wang, Reflections on Kurt Gödel, 1995, S. 61).

12 Vgl Tractatus, § 3.0.

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IDEEN ZUR LOGIK 177

reinen Wahrnehmungsqualia. Folglich spechen wir im Grunde mit Worten nur diese begriffliche Dinghaftigkeit und ihre gegenseitigen Verhältnisse aus. Das Wort drückt also weder den reinen Wahrnehmungsinhalt aus noch die Idee. Es ist scheinbar immer Bruchstück: „abstrakt" (GA 73\368) . Nun resigniert Steiner aber weder angesichts dieser problematischen Lage der Sprache gegenüber dem Gedanken, noch auch will er einfach in tradierten Abstraktionen sprechen.13 Seine Lösung ist, dass man die eine Sache von verschiedenen Seiten schildert, dass mehrere gleichsam „künstlerische Reflexbilder" entworfen werden, und durch das Gesamtbild erst annäherend die Sache zum Aus-druck gebracht wird. Und da das Wort nicht nur formales Zeichen ist, gibt die Sprache das reichliche Material für eine künstlerische Gestaltung von Reflexbildern her.14 Die Sprache ist insgesamt von gebärdenhaftem Charakter und diese ihre Möglichkeit so wie auch ihre Beschränkungen sind hinzunehmen, wie sie sind.15 In seiner Eurythmie greift Steiner den mimetischen Bewegungswert der Buchstaben, mit dem Platon in seinem Kratylos gespielt hatte, wie kaum ein anderer wieder auf.

Konsequenterweise kann man über Denken und Vorstellungen nicht sprechen ohne Versinnbildlichung.16 Diese Versinnbildlichung ist, wie eben hervorgehoben, zum Teil in der Sprache veranlagt. Die Philosophie hat ihre Termini immer schon aus der anschaulichen Alltagssprache genommen und zum mehr geistigen Gebrauch umgeprägt.'' Sogar die Charakterisierung ,Versinnbildlichung` ist, wie die ganze Ideen-und Bedeutungslehre, im Grunde ein metaphorischer Sprachgebrauch,18 der allerdings verschieden gewertet wird.19

13 In Bezug auf die Philosophie der Freiheit schreibt er an Rosa Mayreder: „Was die Darstellungsart betrifft, so habe ich mich bemüht, mich selbst Von jeder Art Von Schule zu emanzipieren" (GA 39\198 f.).

14 Steiner nimmt also Rekurs auf die „natürliche Begriffsbildung" der Sprache, wie sie Gadamer (1974) charakterisiert hat (S. 404 ff.). Goethes bildhafter, biegsamer und paradoXaler Wortgebrauch wird ihm sicherlich dabei zum Vorbild gedient haben. Vgl. Stephenson (1997), S. 68-69.

15 Der Aufbau einer rein formal-logischen oder technischen Sprache lag deshalb außerhalb seiner Inte-ressen.

16 Vgl. GA 115 \1931-87.

17 Vgl. Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924, und Kurt von Fritz, Philosophie und sprachlicher Ausdruck bei Demokrit, Plato und Aristoteles, 2.

Aufl., Darmstadt 1966.

18 J. Derrida meint, die Philosophie könne gar nicht anders als metaphorisch sein. Deshalb ist auch ,Metapher` eine unumgängliche Metapher, gleich wie die ganze idealistische Bedeutungslehre selber, aus der sie hervorgeht (La mythologie blanche. La métaphore dans le texte philosophique, in: Marges de la philosophie, Paris 1972, 247 ff.). Emanzipation Von der Sprache wäre demnach eine Illusion. Steiner zieht die andere mögliche Konsequenz aus dieser Tatsache, nämlich dass die Wahrheitsfrage sich nur auf die Ideen beziehen kann, nicht auf die immer mehrdeutigen Wörter, die grundsätzlich als unzureichendes Darstellungsmaterial Dienst tun.

19 Die analytische Philosophie und der Pragmatismus sprechen Metaphern jeden Wahrheitswert ab; vgl. Donald Davidson, What Metaphors Mean, in Enquiries into Truth and Interpretation, OXford 1984, S. 247 f. und Richard Rorty, Philosophical Papers, Volume 2, S. 210: Die Metaphern Von dem Übersinnlichen, von den Ideen usw. sind ,tot`, d. h. jetzt ohne pragmatischen Gebrauch. Ein spätes Echo von Bacons Lehre der idola fori, wie Von der Kritik Nietzsches, die Wahrheit sei nichts mehr als „ein bewegliches Meer Von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" ( Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, ww III, S. 314).

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In seiner Philosophie will Steiner auf das Erleben eines jeden Einzelnen hinweisen und beabsichtigt eine „einfache Beschreibung dessen, was jedermann in seinem eigenen Bewußtsein erlebt" (GA 4\34). Diese Beschreibung stößt aber sofort an die Grenzen der Sprache. Zum Beispiel „was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daß er Begriffe habe" (GA 4\57).

Mehr noch als die Begriffe entzieht sich das Denken selber der unmittelbaren normalen Beschreibbarkeit. Über die unvermeidliche Metaphorik der philosophischen Sprache spitzt sich das Problem also noch zu, wenn statt äußerer Gegenstände das Bewusstsein oder das Denken beschrieben werden 50ll.20 Steiners philosophische Sprache ist daher ohne viel Termini technici, eher plastisch und variierend.21 Aus Anlass des Erscheinens der Philosophie der Freiheit schrieb Eduard von Hartmann an Steiner: „Die Darstellung und Stil ist anziehend und gewandt, wie ich das von Ihnen gewöhnt bin; es war aber zu konstatieren, daß Ihre Darstellungsgabe auch hier bei diesen zum Teil recht abstrakten Dingen nicht versagt." (GA 4a\346) .

§ 5.3• Steiners Begriff der Logik

§5.3.1. Formale Logik und Erkenntnistheorie

Unter ,Logik` versteht Steiner erstens formale Logik,22 d. h. eine Logik, die sich konzen-triert auf die „Form des Denkens" (GA 1o8\197). Steiner beschränkt mit Kant die Logik darauf, dass das Denken „es mit nichts weiter, als sich selbst und seiner Form, zu tun hat" (KDRV B IX). Es wird sich noch herausstellen, dass Steiner von Kant abweicht bei der Bestimmung der Natur dieser Form. Jedoch ist die Bezeichnung ,formale Logik` bei Steiner offenbar in diesem Kant'schen Sinn aufzufassen.

Kants Bestimmungs der Logik war damals mindestens problematisch. In Nachfolge Hegels hat Kuno Fischer eine Logik aufgestellt, die sich von der formalen oder Schullo-gik unterscheiden sollte, sofern sie primär Wissenschaft der Kategorien und deshalb

20 Vgl. E. Lask in Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Tübingen 1911, S. 180: Wegen der bekannten Unumgänglichkeit der bildhaften philosophischen Ausdrucksweise neigen wir ständig dazu den eigentümlichen philosophischen Gehalt zu übersehen; Vgl. auch Eugen Finks Bemerkung über die ParadoXie des phänomenologischen Satzes: Es besteht immer ein Widerstreit zwischen mundaner Wortbedeutung und phänomenologischem Sinn, weshalb keine phänomenologische Analyse adäquat darstellbar ist; Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik, in: Kant-Studien, Bd XXXVIII, 1933, S. 382.

21 Als 20jähriger schrieb Steiner an einen Freund, er hoffe einen Teil „seiner lieben Freiheitsphilosophie" zu Papier zu bringen in schlichtem Prosastil. Schillers Aufsatz Über naive und sentimentale Dichtung sollte dafür das Vorbild sein. Form und Inhalt müssen einander so nahe kommen, dass „man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest." (GA 4a\503).

22 „Etwas Materielles, Inhaltvolles kann die Logik als solche gar nicht als ihren Gegenstand begreifen." (GA 108\197). Wie wir sehen werden, wird Steiner den Begriff der ,Logik` auch noch über das Nicht-Formale ausdehnen zu einer Kategorienlehre.

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Metaphysik (Ontologie) ist.23 Die Kategorien sind die ursprünglichsten Begriffe, die allen empirischen, in der formalen Logik vorausgesetzten Begriffen zugrunde liegen. Als Lehre von der Begriffsbildung wird die Logik zugleich psychologisch, und hört auch deshalb auf, bloß formal zu sein.24 Es wird sich zeigen, dass Steiner ähnlich neben der formalen Logik auch die Kategorienlehre als Teil der Logik, oder vielmehr die formale Logik als Teil der Kategorienlehre anerkennen wird.

Trendelenburg hat die formale Logik Kants scharf kritisiert.25 Die Trennung von Form und Inhalt scheide, was natürlicherweise zusammengehört. Das Formale in der Logik reicht nicht aus, um den Sinn verschiedener ,Formen` zu verstehen. Die Form weist ja über sich hinaus auf den Inhalt, den Gegenstand. Logik soll darum auch für Trendelenburg mit Metaphysik zusammengehen. Zu Unrecht wird diese formale Logik der Aristotelischen gleichgesetzt, denn Aristoteles beging diesen Fehler nicht. Trendelenburgs aristotelische Logik befindet sich übrigens wegen ihrer Ablehnung der Dialektik im Gegensatz zu der Fischers.26 Steiner versucht dieser Seite einer inhaltlichen Logik gerecht zu werden.

Die ,formale Logik' hat sich dennoch, dank des neu aufkommenden Kantianismus, durchgesetzt und war zur Zeit Sigwarts und Wundts die herrschende Form der Logik.27 Sie hatte aber erkenntnistheoretische Elemente in sich aufgenommen und wurde so zur ,Methodenlehre'. Sie suchte sich von der Metaphysik fern zu halten.28 Die Rede von ,formaler Logik` war also geläufig und bezog sich auf die ,Formen` des Denkens. An diese Kant'sche Tradition schließt Steiner an. Wie wir noch sehen werden, teilt er dennoch das Bedenken Volkelts: „Am weitesten von dem richtigen Wege liegt die formale Logik ab. [ ... ] Die formale Logik verdankt ihr Dasein einer natur- und sachwidrigen Abstraktion".29 Die formalen Elemente im Denken sind nicht aus dem Denken selber zu verstehen, da die formalen Strukturen erst von der Erkenntnis her ihren Sinn erhalten.30 Steiner fängt ebenfalls mit den formalen Elementen an

23 System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre, 3. Auflage Heidelberg 1909, S. 8. Fischers System der Logik ist nach bibliografischer Angabe in der Dissertation (GA 3\17) durch Steiner gelesen worden.

24 Fischer (1909), S. 6. 25 Logische Untersuchungen (1840, 2. erweiterten Aufl. 1862, 3. Aufl. 1870), Nachdruck: Hildesheim 1964,

S.15-35. In der Fassung der erweiterten 2. Auflage in der Bibliografie Von Steiners Dissertation (GA 3\20). 26 Er widmet der Bestreitung von Fischers Dialektik etwa sieben Seiten und kommt zu dem Schlussergebnis

über die nachhegelschen Dialektiker, mitunter Fischer: „Sie bessern ohne zu heilen" (Trendelenburg [1964], S. 127).

27 Sigwart (1904), S. 11 und Wundt (1906), S. 2-3. 28 Vgl. die Erörterung Johannes Volkelts in Erfahrung und Denken, Hamburg-Leipzig 1886, S. 551-553.

Volkelt teilt die Kritik Von Trendelenburg an der formalen Logik, aber Logik soll keine Metaphysik sein. Er würdigt die Bestrebungen Von Lotze, Sigwart und Wundt die erkenntnistheoretischen Erörterungen in die Logik mit einzubeziehen, obwohl die Logik eigentlich umgekehrt nur Teil der Erkenntnistheorie sein kann. Volkelts Buch wird erwähnt in GA 3\20 (Bibliografie), sogar anerkennend (GA 3\15); vorher hieß es schon lobend: „die bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem Gebiete" (GA 2\39).

29 A. a. O., S. 551. 30 A. a. O.

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und führt sie nach erkenntnistheoretischen bzw. ontologischen Überlegungen auf die Wirklichkeit zurück.

§ 5.3.2. Bestimmung der Aufgabe der Logik

Eine nähere Bestimmung der Logik und ihrer Aufgabe finden wir bei Steiner erstmals in seiner Dissertation. Diese Bestimmung wird aus der Erkenntnistheorie abgeleitet. Prinzip seines allgemeinen Erkenntnisbegriffs ist, dass „das Denken von sich aus den Inhalt des Weltbildes ordnet" (GA 3\59) . Steiner formuliert in Anlehnung an Kant, dass diese Tätigkeit des Denkens selber nur eine formale Tätigkeit sei (GA 3\62). Diese Tätigkeit sagt aber, anders als bei Kant, a priori über die Dinge nichts aus, sondern „stellt jene Formen her, durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkei-ten der Erscheinungen zum Vorschein kommen" (GA 3\63) . Die „synthetische Einheit der Apperzeption"31 geht aus einer vorbereitenden, rein synthetischen Tätigkeit des Denkens hervor, die formal heißt, weil sie nicht die objektiven Gesetze der Erfah-rung liefert, sondern nur deren Formen produziert (etwa den Begriff der Kausalität), denen ein konkretes Verhältnis zwischen a und b in der Erfahrung entsprechen kann. Eben dieses letztere Urteil über die Entsprechung der Formen und das Verhältnis zwi-schen Gegenständen ist die Erkenntnis eines kausalen oder sonstigen Zusammenhangs zwischen a und b. Gewissheit „über diesen Zusammenhang gewinnen wir aus dem Gegebenen selbst" (GA 3\60-61). Außer der formalen Tätigkeit des Denkens muss es also noch ein anderes Erkenntnisvermögen geben: die ,Beobachtung`.32

Die Begriffe sind nur relativ ,Form`: „Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen [nach einer Formulierung Kants], sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien) die aber für den übrigen Weltinhalt Form sind" (GA 3\66) . Sie sind nur Form in Bezug auf den beobachteten Inhalt, aber für sich ebenso Bestimmung und Inhalt.33 Als solche sind sie Gegenstand der ,formalen` Logik. Wenn auch die Formen des Denkens und der Inhalt des Erkennens sich fortwährend im Erkennen gegenüberstehen, so nicht mehr, wenn wir nur auf das Denken selber hinsehen. Es bringt dann seinen eigenen Inhalt (die Formen der übrigen Erkenntnis) hervor. Hier hört der Gegensatz von Denken und Anschauen auf (GA 3\59) : Hier brauchen wir bloß zu beobachten, und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben. Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens. Die Logik sollte nie etwas anderes gewesen sein als eine Beschreibung der Denkformen, nie eine beweisende Wissenschaft. „In der Logik ist alle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt es nur Beobachtung." (GA 3\59).

Die formale Logik erscheint so betrachtet als reine Empirie, sogar als die reine Empirie par excellence, die es in der Wissenschaft sonst nicht gibt, weil deren Erkennt-

31 Vgl. KDRV B 136. 32 Vgl. § 2.7 und 2.8. 33 Eine Bemerkung Hegels in der Wissenschaft der Logik, Bd. I, S. 36.

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IDEEN ZUR LOGIK 181

nisse sonst im Ausgang von der Beobachtung erst durch das Denken vermittelt sind. Wollte man das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten From handhaben, in der die Gegenstände der Erfahrung in der Wissenschaft rein so belassen werden, wie sie unmittelbar auftreten, so fände dieses Prinzip nur in der Logik strenge Anwendung, da in allen anderen Fällen die begriffliche Form die Erkenntnis irgendeines Weltinhaltes vermittelt: „Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden" (GA 2\45). Denn im Denken ist die Form selber Inhalt

der „unmittelbaren Erfahrung" (GA 2\44).

§ 5.3.3. Empirische Logik?

Über den reinen Phänomenalismus kommt eine so verstandene Logik scheinbar nicht hinaus. Die moderne symbolische Logik ist primär eine künstliche Sprache mit streng definierten semantischen und syntaktischen Regeln. Carnap über das System der sym-bolischen Logik: „Ein solches System ist nicht eine Theorie, d. h. ein System von Behaup-tungen über irgend welche Gegenstände, sondern eine Sprache, d. h. ein System von

Zeichen und von Regeln zur Verwendung dieser Zeichen".34 Der Impetus hinter der

neueren symbolischen oder algebraischen Logik im 19. Jahrhundert war die Entwick-lung der Mathematik, namentlich die nicht-euklidische Geometrie, die algebraische Abstraktion und die Arithmetisierung der Analyse. Für die erste hat Steiner sich lebhaft

interessiert,35 für die andere schon weniger, und dass er die Resultate der Grundlagen-forschung die u. a. aus Problemen der mathematischen Analyse und Funktionslehre hervorging, zur Kenntnis genommen hat, lässt sich nicht nachweisen. Lotze widmete den Arbeiten von George Boole,36 E. Schröder37 und W.S. Jevons38 in der zweiten Auf-

lage seiner Logik (1880) einen größeren Zusatz. Da Steiner die Erstauflage von 1874 in

der Bibliografie seiner Dissertation (1892) aufführt, ist nicht sicher ob Steiner diesen

Zusatz kannte. In Wundts Logik (188o) wird aber in längeren Paragrafen die „Symbolik der Urteilsfunktionen", die „Symbolik der Schlussoperationen", sowie die „Entwick-lung der Schlüsse in Gleichungen" unter Hinweis auf Leibniz und Boole behandelt.39

Sie vermittelten nicht eine klare Einsicht in den erst später sich durchsetzenden axio-matischen Aufbau der symbolischen Logik. Der Name Gottlob Freges mag Steiner in Weimar vertraut geworden sein, denn er hat von dort aus versucht, eine Stelle zu erwerben an der philosophischen Fakultät in Jena. Freges Über Sinn und Bedeutung

(1892) fand sich in Steiners Bibliothek. Nun besagt beides nicht, und weitere Belege

34 Rudolf Carnap, Symbolische Logik, Wien 1954, S. 1.

35 Vgl. den umfangreichen Stellennachweis in Renatus Ziegler, Rudolf Steiner und die nichteuklidische

Geometrie, in: GA Beiträge 114-115\62-63.

36 An Investigation of the Laws of Thought (1854).

37 Der Operationskreis des Logikcalcüls (1877).

38 Pure Logic, or the Logic of Quality apart from Quantity (1864) und Principles of Science(1877).

39 Wundt (1906), S. 233-286 und 358-376, siehe namentlich S. 235.

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dafür fehlen, dass Steiner sich mit der Logik in symbolischer Gestalt befasst hat.40 Der Umfang des Bruchs, den die moderne Logik mit der älteren Schullogik vollzogen hat, ist Steiner also wahrscheinlich nicht bekannt gewesen. Für ihn bleibt die Aristotelische Logik paradigmatisch, die eine Beschreibung logischer Formen beinhaltet. So behaup-tet Steiner nun, die Logik beweise das Beweisen nicht, sie beschreibt nur was ein Beweis ist (GA 3\59) . Seine Darstellung lässt allerdings keine Entscheidung darüber zu, ob nun die Logik ihrem ganzen Umfang nach nur Beschreibung ist, was bei dem Auffinden der syllogistischen Figuren bei Aristoteles mehr oder weniger der Fall sein sollte. Eine derartige extreme Auffassung der Logik wäre von Anfang an widerlegt. Aristoteles begnügte sich nicht, die Figuren aufzulisten, sondern zeigte (bewies damit) in der Ana-lytica priora, dass die verschiedenen Figuren auf die erste (,Barbara`) zurückzuführen sind.41 Gleicherweise ist die moderne Logik axiomatisch-deduktiver Art überwiegend eine nicht-empirische und beweisende Wissenschaft.

Steiners Konzeption der Logik als nur empirischer Wissenschaft wäre also in die-sem Sinne keineswegs adäquat für die Logik, weder klassisch noch modern. Seine kurze Darstellung der formalen Logik von 1908 (in GA 108\197-207) kommt zwar über eine Beschreibung kaum hinaus, aber sollte nicht als Steiners letztes Wort über die formale Logik genommen werden. Die darin enthaltene Notiz Steiners, dass die erste syllogis-tische Figur die „Urform des Schlusses" sei, weist darauf, dass ihm die Konversionregel der Schlussfiguren vertraut waren. Er behandelt dort nach Aristoteles auch einige allge-meine Gesetze der Syllogistik. Wenn er schließlich von einer „Arithmetik des Denkens" spricht, weiß er, dass in der Ausführung der Logik die kalkulatorische Methodik benützt werden kann. Rein deskriptiv ist die Logik also nicht. Sie konstruiert die allgemeinen Beweisformen. Aber der Grund der Rechtfertigung der logischen Formen beruhe in der schlechthin aufzufindenden Tatsache ihrer Anwendung.

Steiners ,Empirismus` bezieht sich ferner darauf, dass der Beweis „bereits das Denken voraus setzt" (GA 3\59). Nicht nur in dem logischen Sinn, dass jedes Argument die Anwendung der Beweisregel voraussetzt, sondern vielmehr das Denken dabei seine eigenen Formen hervorbringt (GA 3\59) . Dieses Produzieren kann man nicht hinterfragen, da das Fragen bereits das Denken voraussetzt. Wo man mit einem Urteil anfängt zu argumentieren, ist nach Steiner sekundär angesichts der Tatsache, dass jedes Urteil und jeder Begriff schon dem Denken entspringt. Wir verfügen über Denkformen, die wir logisch anwenden können (eben das Prinzip des Beweisens), aber es gibt keinen äußeren Standpunkt, auf dem wir stehen könnten, um die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Formen oder das sie hervorbringende Denken zu beurteilen: „Das

40 Einmal spielt Steiner auf den Gedanken an, dass es innere Gesetze des Denkens gibt, gleich wie die Mathematik ihre Gesetze hat, sodass man sprechen kann von einer „Arithmetik des Denkens" (GA 108 \206). Über eine Formalisierung im algebraischen Sinne erfahren wir dabei jedoch weiter nichts. Diese einzelne Bemerkung reicht nicht aus, um daraus auf eine Zustimmung zu der mathematisch-symbolischen Logik zu schließen. Im Gegenteil, er spricht in diesem Zusammenhang nur von der Aristotelischen Logik, was sich damit nicht Vereinbaren lassen würde.

41 An. Pr. I.7 (29b1) und 1. 23 (40b17).

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Denken ist eine Tatsache; und über die Richtigkeit oder Falschheit einer solchen zu sprechen, ist sinnlos. Ich kann höchstens darüber Zweifel haben, ob das Denken richtig verwendet wird " (GA 4\54)42 Nicht gemeint ist die psychologische Tatsache, dass wir die subjektive Betätigung nicht umgehen können, sondern die erkenntnistheoretische, die sich auf den Erkenntniswert des Denkens bezieht.43

Dieses Argument setzt natürlich das Denken als eine (empirische) Tatsache voraus. Eine solche ist es aber auch für Steiner in der Tat.44 Die Philosophie des 20 Jahrhunderts

hielt die moderne Logik zuweilen für Konvention (Konventionalismus),45 doch gab

es auch einen Objektivismus, der meinte eine ursprüngliche Intuition nicht entbehr-

en zu können.46 Der Rekurs auf das Denken impliziert, weder bei Steiner, noch bei den modernen Logiker, einen dogmatischen Evidentialismus, der sich jedem überzeu-genden Gedanken ausliefert.47 Ein anderes ist, dass die Analyse ohne Intuition nicht

auskommt.48 Wenn wir der Logik und Mathematik gerecht werden wollen, sollen wir ihre intuitive Basis durchaus anerkennen.49 Steiners Charakterisierung der Logik als

42 Vgl. Kant, KDRV, B 145-146: es lässt sich für die Eigentümlichkeit nur Vermittelst Kategorien die Objekte vorzustellen keinen Grund angeben; ebenso wenig als wir die logischen Urteilsfunktionen unseres Verstandes definieren können ohne zu urteilen (A 245).

43 Die Zufügung Steiners, es sei ihm also unbegreiflich, wie jemand die Richtigkeit des Denkens bezwei-

feln kann (GA 4\54), kostete ihm einen Verweis von Eduard Von Hartmann: der Begriff der Richtigkeit wäre hier ebenso unanwendbar wie der der Unrichtigkeit, ohne jedes Vergleichsobjekt und Vergleichs-

maßstab (GA 4a\358). Gewiss. Steiner hält die Anwendung beider Begriffe daher für ,sinnlos`, wie aus der zitierten Stelle herVorgeht. Dennoch ist es nicht gleich, ob wir wegen seiner Unüberbietbarkeit dem Denken vertrauen oder es aus Skepsis unterlassen. Dieser letztere Zweifel wäre eben unbegreiflich (wenn auch nur für das Denken), weil jede Vernünftigkeit dabei ausgeht.

44 Siehe darüber ferner Teil III dieser Untersuchung. 45 A. a. O., S. 635-651; Vgl. Quines Truth by Convention (1936), in: Bernacarref and Putnam, Philosophy of

Mathematics, 2. Aufl. Cambridge 1983, S. 329-354. 46 Vgl. Hao Wang, Reflections on Kurt Gödel, MIT 1995: Die Logik ist für Gödel die Untersuchung von reinen

Begriffen, nur fehlt eine Theorie über reine Begriffe auf dem Niveau der Aussagenlogik, Prädikatenlogik oder Mengenlehre (S. 194). Wir haben Zugang zu den reinen Begriffen eben nur durch ,Intuition` (§ 7.1

Conceptual realism, S. 188-192). Gödel spricht Von Intuition als einer Erweiterung von Kants Konzept

der ,Anschauung` (S. 189). 47 Vgl. Hilary Putnams Mathematics without foundations (1967), in: Bernacarref and Putnam (1983),

S. 295-311. Mathematik ist ,empirisch` in dem Sinne, dass sie auf Intuition beruht, wofür es dann auch immer offen steht, AlternatiVen zu entwickeln (ebd., S. 303). Eine kritische Untersuchung der mehrdeutigen ,Intuition` siehe Charles Parson, Reason and Intuition in Synthese (2000), Vol. 125, S. 219-

315. Jedenfalls sind Intuition und EVidenz zu trennen. Meistens sind unsere Notionen erst durch ihre Konsequenzen plausibel (S. 304 und 309). Statt EVidenz spricht Parson mit Rawls Von einem ,reflectiVe

equilibrium' (J. Rawls, A Theory of Justice, reV. ed., OXford (oup)-New York (HuP), 1971/1999, Kap. I,

§ 9). 48 Vgl. Stanley Rosens The Limits of Analysis, 1980, Kap. I (Intuition and Analysis) und II (Essences),

S. 66-67: Sogar der Konventionalismus setze den Essentialismus Voraus, da jedes Argument gewisse für sich sprechenden Notionen anwenden muss.

49 Vgl. Hao Wang, Beyond Analytical Philosophy. Doing Justice to What We Know, MIT 1986, S. 17-22:

über Quines holism und Intuition (weder Carnaps Formalismus noch Quines Pragmatismus hat ein adäquates Konzept der Mathematik, da z. B. der modus ponens und die Zahlen schließlich auf einer Intuition beruhen) und § 19.3: „Intuition and new disciplines", S. 206-208. Ebenso Charles Parson,

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einer empirischen Wissenschaft bedeutet u. A. vorwiegend, dass die Logik letztlich eine intuitive Wissenschaft sei.50

Einen anderen Sinn kann man schließlich noch verbinden mit der Behauptung Steiners, dass alle Theorie in der Logik Empirie sei. Nämlich den, das eine Theorie nicht etwas aussagt über anderes, sondern nur über sich selbst spricht. Eine Theorie bezüglich der Frage, wie die Syllogismen geordnet sind, ist eben nichts anderes als Darstellung dieser Syllogismen und ihrer Ordnung selbst, anders als eine Theorie über die Sterne, die nicht selber aus den durch das Teleskop zu beobachtenden Sternen besteht. Logik besteht nicht aus Begriffen über die Syllogismen, die jenseits vom Denken existieren, sondern die Begriffe der syllogistischen Figuren sind diese selbst: „Hier brauchen wir bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar intuitiv gegeben" (GA 3\59). Begriff und Objekt sind ein und dasselbe. Der motivierte logische Aufbau (was man sicherlich eine Theorie nennen könnte) ist zu gleicher Zeit Beschreibung dieser Begriffe und Begriffsbezüge, was Steiner für Empirie hält.

§5.3.4. Psychologismus

Es stellte sich nun zweitens die Frage, ob durch den Rekurs auf Intuition, eine Erfahrung des Subjekts also, die Logik nicht in einem Psychologismus endet, und, wie Steiners Auffassung sich zum Psychologismus Sigwarts und Wundts verhält. Sigwart und Wundt waren schließlich die Autoritäten der Logik, mit denen Steiner sich auseinanderzuset-zen hatte. Er tut das allerdings nirgends sehr explizit. Wenn Steiner aber spricht von der Logik als „Beschreibung des Denkens", erinnert das an ihre Logik, und es ent-spricht prima vista ihrem Psychologismus, wenn die ,Beobachtung des Denkens' diese Beschreibung liefern sollte. Steiners Charakterisierung der Logik als Empirie könnte auch erinnern an John Stuart Mills empirisches System of Logic. Mill hat zusammen mit Jakob Fries und Friedrich Beneke den Anstoß gegeben zum Psychologismus in Deutschland, wie er dann bei Sigwart und Wundt auftritt. Teilt Steiner nicht, trotz ihrer übrigen Differenzen, Mills Methode der Logik, indem er die Logik gleichfalls für eine empirische Disziplin hält? Beide haben verschiedene Ansichten über die Funktion und Kapazität des Denkens. Bei Mill liegt die induktive Grundoperation zugrunde, die die empirische Grundlage für die Prinzipien der Logik, wie zum Beispiel den Grundsatz des Widerspruches, und so für alle ratiocination abgibt;51 bei Steiner die Beobachtung des Denkens, das sein Wesen unmittelbar der intuitiven Beobachtung zeigt. Der Unterschied stellt sich klar heraus in ihren verschiedenen Wertungen der

anschließend an Gödel: Platnism and Mathematical Intuitin in Kurt Gödel's Thought in: The Bulletin of Symbolic Logic, 1. Bd, 1995, S. 44-74. Für seine Diskussion mit Wang über Intuition de dicto und de re vgl. Parsons What is the iterative cnceptin of set?, in: Bernacerraf ed. (1983), S. 503-529.

50 Lask (1911): „Wie man mit Recht Von einem unmittelbaren Leben auch in der Wahrheit reden darf, so ist auch das Verhalten zum Theoretischen ,Empirie' oder ,Intuition` im weitesten Sinne" (S. 218).

51 „All inference is from particulars to particulars", System of Logic, London 1843, II, iii. 4.

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Induktion.52 Steiners Phänomenalismus der Logik ist inklusiv die Erfahrung (Intui-tion) des Begriffsmäßigen, das ideelle Allgemeine geht also in sie ein. Johannes Volkelt, aus dessen Erfahrung und Bewußtsein Steiner einen Passus entlehnt über „die Intuition als wissenschaftliches Prinzip",53 sagt: „Das Denken kann sich also nicht in verstandes-klarer Weise rechtfertigen, es beruht schließlich auf einer Innererfahrung intuitiver Art. Die reine durchsichtige Erfahrung besagt nur soviel, daß gewisse Vorgänge in meinem Bewußtsein anwesend sind; [ ... ] Ich halte es deshalb für einen großen Vorzug der Logik von Sigwart, daß er diese Einsicht gleich zu Anfang nachdrücklich ausspricht."54 Volkelt zögert sogar nicht zu schließen, dass das klare, diskursive Denken auf einem „mysti-schen Glaubensgrunde" beruhe.55 Heißt das nicht, dass gerade des ,Intuitionismus` wegen der Psychologismus unvermeidlich wird? Wir werden den Umweg über Hus-serls Kritik am Psychologismus und an Sigwart einschlagen, um die Position Steiners hier weiter zu beleuchten.56

Bekanntlich hat Husserl den Psychologismus in seinen Prolegomena zur reinen Logik (1900)57 einer Kritik ausgesetzt, von der dieser sich lange nicht zu erholen wusste.58 Hus-serl greift zurück auf die Kant'sche Kritik am Psychologismus,59 dass nicht der zufäl-lige, sondern nur der notwendige Vernunftgebrauch entscheidend ist für die Regeln der Logik.60 Die Beobachtung der zufälligen psychischen Prozesse würde nur zufällige Gesetze liefern und nicht die notwendigen, die der Logik ihren normativen Charakter geben. Wir haben am Anfang dieses Kapitels schon gesehen, dass Steiner von Kant die Charakterisierung der Logik als einer formalen Wissenschaft entlehnt, wo dieser die psychologischen und anthropologischen Kapitel kritisiert, die zur Aristotelischen Logik hinzugesetzt waren (KDRV B VIII; GA 108\226). Dies ist eben die Kritik am Psychologis-mus auf die Husserl sich später beziehen kann.61 Nicht die Realgesetze des Psychischen sind für die Logik von Bedeutung, sondern nur die Idealgesetze. Nur diese können

52 Siehe unten § 2.8.1.

53 Vgl. GA 2\109-110 und Volkelts Erfahrung und Bewußtsein, S. 520-524.

54 Erfahrung und Denken, S. 183-184.

55 A. a. O., S. 184.

56 Husserl würdigt Wundt keiner selbständigen Widerlegung, weil seine Logik „die letzten prinzipellen

Zweifel kaum berührt" (Prolegomena, 2. Aufl., Nachdruck Niemeyer Verlag 1980, S. 137). Wir werden

Wundt deswegen an dieser Stelle nicht mehr selbständig behandeln.

57 Erster Band der Logischen Untersuchungen, Von dem Steiner ein EXemplar besaß.

58 Vgl. Th. Seebohm, Psychologism revisited in Phenomenology and the Formal Sciences, ed. Th. Seebohm,

D. Follesdal und J.N. Mohanty, Dordrecht-Boston-London 1991, S. 149-182. Seebohm weist darauf

hin, dass die Argumente Husserl ein petitio principii darstellen, dennoch das ParadoX der mundanen

Subjektivität (selber in der Welt seiend die Welt objektivierend) unentrinnbar sei. EVa Picardi, Sigwart, Husserl and Frege on Truth and Logic, or Is Psychologism Still a Threat, in: European Journal of Philosophy,

1997, S. 162-182, nennt Quines ,naturalized epistemology' als Vorbild eines moderneren Psychologismus

in einer behaViouristischen Variante (ebd., S. 164).

59 Zum Psychologismus rechnet Husserl aber auch „Kants formalen Idealismus", jedenfalls „im Sinne der

Vorherrschenden Interpretation desselben", Prolegomena, S. 93.

60 Prolegomena, S. 53. 61 Obwohl sich Husserl direkt nur auf eine Stelle aus der ,Jäscher`-Logik bezieht.

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erklären, warum die Logik nicht eine Wahrscheinlichkeitslehre ist, und weshalb sie eine apriorische Einsicht in die Wahrheit logischer Gesetze gestattet. Sigwart nimmt dagegen als Grundlage für die Logik überall Bezug auf das Denken als ,Vorstellungs-tätigkeit', von der wir nicht wissen, ob sie uns die existierende Welt wiedergibt (weil sie eben von unserer subjektiven Konstitution abhängig ist) .62 Nun will auch Sigwart die Objektivität „retten und [ ... ] in dem subjektivistischen Phänomenalismus nicht untersinken lassen".63 Sigwart versucht die Objektivität dadurch aufrecht zu erhalten, dass er für die Normativität des Denkens das „Erlebnis der Evidenz",64 irgendeinen „logischen Zwang" in unserem Denken postuliert. Dies ist für Husserl die widersin-nige und sich im Kreis drehende Lehre des ,Anthropologismus`: Die Wahrheit, dass die Wahrheit von unserer Konstitution abhinge, wäre ja auch nur eine von unserer Konstitution bedingte. Dieser Relativismus scheitert völlig an der Tatsache des Selbst-bewusstseins und der logischen Evidenz.65 Die Wahrheit löst sich nicht, wie Sigwart glaubt, in Bewusstseinserlebnisse auf, sondern sie ist Idee und als solche überzeitlich.66

Diese Idee ist zugänglich aufgrund einer Ideation oder intuitiven Vergegenwärtigung.67 Sie ist „nicht Phänomen unter Phänomenen, sondern ist Erlebnis in jenem total geän-derten Sinn, in dem ein Allgemeines, eine Idee Erlebnis ist."68 Die Fähigkeit, ideierend den Begriff als Allgemeines und die logischen Gesetze zu erfassen, ist Voraussetzung für die Erkenntnis überhaupt,69 also ein Archimedischer Punkt in der Erkenntnis.70 Die logischen Gesetze verneinen ist einfach ,widersinnig`.71 Die erkannte ideelle Not-wendigkeit ist gegründet in dem Inhalt der Begriffe selber, und von anderer Art als irgendein psychologischer Zwang der Überzeugung.72 Die Wissenschaft, die selbstän-dig die Begriffe erforscht, die zur Idee einer systematischen Einheit oder theoretischen

62 Sigwart (1904), S. 1 bzw. 6-7. 63 Prolegomena, S. 130. 64 Sigwart (1904), S. 15-16. 65 Prolegomena, 5.121-122. Bis zu diesem Punkt (diesen zwei Quellen der Gewissheit) dringt auch Volkelt

vor in Die Quellen der menschlichen Gewißheit (1906), S. 3. Übrigens heißt auch bei Husserl dieser ,Intuitionismus` nicht, dass jede Ideation eine unerschütterliche Evidenz mit sich bringt. ,Evidenz` ist eine ideelle Bestimmung, die nie ganz erfüllt wird. Husserl ist m. a. W. kein ,foundationalist`, der behauptet, mit einem privilegierten Blick auf den ideellen Inhalt eines Satzes werden wir seiner Wahrheit inne. Die EVidenz beruht auf einem progressiVen Gesamturteil. Dazu D. Føllesdal, The Justificatin of Logic and Mathematics in Husserl's Phenomenology in Seebohm, Føllesdal und Mohanty (1991), 5. 25-34.

66 Prolegomena, S. 128. 67 A. a. O., S. 129, 229-230 und 244. 68 A. a. O., S. 128. 69 A. a. O., S.101. 70 Das heißt ein „Punkt, den ich entweder als den archimedischen gelten lasse, um von hier aus die Welt

der Unvernunft und des Zweifels aus den Angeln zu heben, oder den ich preisgebe, um damit alle Vernunft und Erkenntnis preiszugeben", a. a. O., S. 143.

71 Vgl. Bolzanos Wissenschaftslehre, Sulzbach 1857, §§19 und 25. Es muss nach ihm mindestens eine Wahrheit an sich geben: denn das Gegenteil ist widersprüchlich § 31). Durch Iteration dieses Verfahrens erzeugt sich eine unendliche Menge solcher Wahrheiten an sich (§ 32). Husserl teilt mit Bolzano und Leibniz diesen ObjektiVismus logischer Sätze (Prolegomena, § 60, S. 219-222).

72 A. a. O., S. 134.

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IDEEN ZUR LOGIK 187

Einheit konstitutiv gehören, sei die reine oder „absolute", Logik.73 Man spricht darin besser von Begriffen statt von Vorstellungen, von Sätzen statt von Urteilen, usw., wegen der Vermeidung der äquivoken, psychologisch tangierten Termini.74

Obwohl die Logik empirische Wissenschaft sein soll (GA 3\59), hat sie auch für Steiner ihre Aufgabe darin, im Denken durch unmittelbare Beobachtung die logischen Gesetze zu finden, nicht diejenigen des zufälligen Vorstellungsverlaufes im Bewusstsein, sondern lediglich die ,Formen` des reinen Denkens. Letzteres heißt für Steiner nichts anderes als die ideellen Wesen, d. h. Begriffe und Ideen im Denken: da brauchen wir nur zu beobachten; wir haben das Wesen unmittelbar gegeben (GA 3\59). Der ,Intuitionismus` Steiners ist, wie bei Husserl, kein Psychologismus, weil es ihm um die subjektunabhängigen Begriffe zu tun ist.

Nun ist das Subjekt an der Intuition mitbeteiligt. Das reine Denken ist eine Tätig-keit, die „die ideelle Welt zur Erscheinung bringt", weil „das, was wir tätig ins Dasein rufen, auf seinen eigenen Gesetzen beruht" (GA 2\52). Demnach heißt es in der Disserta-tion: „Nur die Begriffe und Ideen sind uns in der Form gegeben, die man intellektuelle Anschauung nennt. Kant und die neueren an ihn anknüpfenden Philosophen spre-chen dieses Vermögen dem Menschen vollständig ab, weil alles Denken sich nur auf Gegenstände beziehe und aus sich selbst absolut nichts hervorbringe." (GA 3\55). Kant spricht dem Menschen die intellektuelle Anschauung deshalb ab, weil die Objekte der Anschauung schon da sind, und unser Subjekt affizieren, während nur dem Urwe-sen die intellektuelle Anschauung im Hervorbringen der Gegenstände zuzukommen scheint.75 Wir sollten lediglich über eine sinnliche Anschauung verfügen, die uns das Material liefert, das in die intellektuelle, formale Synthesis eingeht. Für Steiner ist das Hervorbringen der Gedankenformen an sich eine Selbstbetätigung, ein Hervor-bringen der Formen, die das Subjekt in sich anschauen kann (vgl. auch Wundt).76 Eine humane ,intellektuelle Anschauung' also.77 Die Begriffe beziehen sich aber nicht auf unser Subjekt, sondern vielmehr aufeinander. Ihre Vielheit gliedert sich zu einer Einheit (Gedankensystem). Ein ganz abgesonderter Begriff ist ein Unding (GA 2\56—

73 A. a. O., S. 161 und 238.

74 A. a. O., § 47, S. 173-177. 75 KDRV, B 72.

76 Wundt (Allgemeine Logik, 1906, S. 74-75): „Wir erleben das Denken unmittelbar als eine von MotiVen bestimmte innere Tätigkeit, und so bleibt uns [ ... ] nur übrig, dasselbe als eine Willenshandlung und demgemäß die logischen Denkgesetze als Gesetze des Willens aufzufassen" (S. 75). Sigwart lässt diesen Punkt unentschieden (Logik, 1904, S. 3).

77 Man kann hier natürlich einwenden, diese Qualifikation treffe nicht zu, da das Denken Von Steiner nur als Erscheinungsursache genommen wird und eben das Sein der Ideen als solche nicht durch die Anschauung gesetzt wird. Das meinte jedenfalls Fichte nicht mit ,intellektueller Anschauung'. Für Fichte ist sie die Intelligenz, die sich selber anschaut und setzt. Die Begriffe sind nichts anderes als diese Tätigkeit des Anschauens in ihrer Ruhe aufgefasst (Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, (1797/1798) ed. P. Baumanns, Hamburg 1975, S. 110-113). Diese Differenz zu Fichte betont auch Da Veiga Greuel (1990), S. 56-59. Es wird mangels einer Analyse der ,Erscheinungsursache' bei ihm nicht deutlich, wo sich Steiners Intuition Von der Selbstanschauung Fichtes abhebt.

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57) . Sieht man nach wie diese Einheit zustande kommt, dann zeigt sich: „Alle unsere Gedankenoperationen sind Vorgänge, die sich vollziehen auf Grund der Einsicht in die Wesenheiten der Gedanken und nicht nach Maßgabe eines Zwanges" (GA 2 \53).

Soweit schon das Denken eine subjektive Tätigkeit ist, ist es aber eine solche, die ideell motiviert ist. Indem Husserl die Objektivität der Logik rettete durch eine radikale Zäsur zwischen Idealgesetz und Realgesetz (Kausalität), wurde wieder unbegreiflich, dass die Kausalgesetze uns je dahin steuern, wo wir ein Wissen von den Idealgeset-zen haben.78 Bringen die Realgesetze das Wissen nicht zustande, dann verfehlte die Unterscheidung ihre Aufgabe, die Logik als Wissen zu scheiden von dem kausierten Bewusstsein zufälliger Vorstellungserlebnisse, und wäre das Phänomen der Evidenz noch immer unverständlich. Für Steiner sind die Gesetze der Logik auch Gesetze des wirklichen formalen Denkens, wie auch der Psychologismus meint, aber nur weil und insoferne das aktuelle Denken sich nach diesen objektiven, für sich bestehenden Geset-zen richtet.79 Das Letzte ist die reale Potenz des Denkens, weshalb sie dem Subjekt einen Einblick in die objektiven Ideen gewähren kann: „Es ist ja ganz selbstverständlich, dass die aufeinanderfolgenden Stadien des Gehirnprozesses im organischen Stoffwechsel ihre Quelle haben, wenngleich der Gehirnprozess selbst Träger jener Gedankengebilde ist. Aber warum der zweite Gedanke aus dem ersten folgt, dazu finde ich in diesem Stoffwechsel nicht, wohl aber in dem logischen Gedankenzusammenhang den Grund. In der Welt der Gedanken herrscht somit außer der organischen Notwendigkeit eine höhere ideelle." (GA 1\263) .80

Diese Ansicht stellt sich nicht nur dem alten und neuen Materialismus gegenüber (die mechanischen, chemischen und physiologischen Gesetzmäßigkeiten, nach denen das denkende Gehirn funktionieren soll, sind nicht logische Gesetze und können die-sen schwerlich untergeordnet werden), sondern auch dem dualistischen Immaterialis-mus Eduard von Hartmanns. Dieser kritisierte an Steiner, dass dieser das Denken für eine transparente, sich selbst erkennende Tätigkeit hielt, den Archimedischen Punkt (GA 4\41). Der Unterschied von Idealgrund und Realgrund (Kausalität), wie ihn Husserl

78 Prolegomena, S. 68: „Die psychologistischen Logiker verkennen die grundwesentlichen und ewig unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Idealgesetz und Realgesetz [ ... ], zwischen logischem Grund und Realgrund". Husserl gibt aber zu, dass „die Urteile gesetzlichen Inhalts des öfteren als Denkmotive [wirken], welche den Gang unserer Denkerlebnisse so bestimmen, wie es eben jene Inhalte, die Denkgesetze, vorschreiben" (ebd., S. 66). Der Gedankeninhalt bestimmt den Gedankenprozess dann ebensosehr wie unsere Tätigkeit, und beide verhalten sich etwa als causa formalis (oder auch finalis) und causa efficiens. Aber wie diese Kongruenz zwischen den ewig unterschiedenen Realgesetzen und Idealgesetzen überhaupt zustande kommen kann, bleibt bei Husserl unklar.

79 Was nicht immer der Fall sein wird, denn Denken ist ein freies Tun für Steiner. Deshalb spricht er von „das Idealbild des richtigen Denkens", indem alle Begriffe nach den Gesetzen der formalen Logik gebildet sind (GA 108\206). Nur dieses Ideal beschäftigt die Logik und nicht, ob dieses oder jenes Individuum es erreicht.

80 Es soll dies eine Tatsachse sein, die ohne weitere Erklärung jedenfalls hinterher festzustellen wäre. Steiner hat es insofern leichter als Husserl, dass in seinem Idealismus es sich nur um die Verdrängung von einer konstitutiVen Gesetzmäßigkeit durch eine andere handelt. Ideal- und Realgesetze sind demnach jedenfalls nicht „ewig unüberbrückbar" (Husserl).

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IDEEN ZUR LOGIK 189

in seinen Prolegomena gegen den Psychologismus gebrauchte, ergibt sich bei Hartmann aus den Grundlinien seiner Metaphysik. Indem zwei aus der einen Ursubstanz hervor-quellende Tätigkeiten sich treffen und nicht wie in der Natur sich nach außen richten, sondern nach innen ineinander eine Passivität erzeugen, soll ein psychisches Phäno-men entstehen oder ,Bewusstsein`. Das Bewusstsein ist mithin immer nur Produkt, und für es bleibt ihre kausale Bedingtheit unbewusst. Bewusstsein und unbewusste Tätigkeit schließen einander in diesem Sinne schlechthin aus. Es ist konsequenterweise Täuschung, wenn man in dem Wechsel der psychischen Phänomene eine Tätigkeit unmittelbar wahrzunehmen glaubt.81 Hartmann bemerkte in den handschriftlichen

Glossen zur Steiners Philosophie der Freiheit, wo dieser behauptet, das Ich beobach-tet im Denken seine eigene Tätigkeit, dass es nur eine Täuschung sei, was man als hervorbringende Tätigkeit zu beobachten glaubt (GA 4a\357) . Steiner erwidert, dass die Beobachtung, der phänomenologische Tatbestand zeige, dass das Ich in der eige-nen Tätigkeit stehend, diese beobachten kann. Sonst wären das Ich und das Denken zwei Dinge, was eben nicht der Fall ist.82 Also ist die Transparenz im Denken auch „ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Den-

kens" (GA 4\44). Die Logik kann sich beschränken auf die ideellen Notwendigkeiten in den ausgeführten Gedankenoperationen, ,die Präsenz haben im Bewusstsein'.83

Steiner opponiert gegen einen subjektivistischen Kantianismus, welcher Denken und subjektive Vorstellungstätigkeit gleichsetzt, wie Sigwart dies tut. Kant selber mag dem Psychologismus entgangen sein, doch haftet seiner Logik der transzendentale Sub-jektivismus an. Unsere Erkenntnisweise erlaubt keine andere Logik, doch wir sehen das Denken nicht bis in seinen Grund hinein; es verbirgt sich unserer inneren Anschau-ung. Die logischen Formen sind Funktionen eines transzendentalen Ich. Auch diesen Kantianismus lehnt Steiner ab. Steiners Logikauffassung hat über den ideierenden Objektivismus (Husserl) und introspektiven Subjektivismus (Wundt) hinaus noch am meisten Verwandtschaft mit Hegels idealistischer Logik, in der gleichfalls die Bewe-gung des reinen Denkens nicht in eine psychologische Sphäre herunterfällt, sich selbst transparent ist, und zuletzt wesensidentisch ist mit der Selbstbewegung der Idee.84 Die

81 Vorwort zur 11. Auflage der Philosophie des Unbewußten, Leipzig 1904. Es ist dies eine Fortsetzung der

Schopenhauer'schen Ansicht, dass wir Von unserem Geiste im Bewusstsein nur die bloße Oberfläche kennen und nicht den im Geheimen treibenden Wille, der eins ist mit dem Gehirn (Vgl. Die Welt als Wille

und Vorstellung, 2. Band (1844), § 14: Über die Gedankenassoziatin, und §19: vom Primat des Willens im

Selbstbewußtsein). Eine Bekämpfung dieses Dualismus Schopenhauers, ähnlich wie der Steiners, finden wir bei Wundt (1906): Die innere Wahrnehmung zeigt eine „Völlig unteilbare Tätigkeit des Denkens und Wollens". Das denkende Subjekt ist ein ,Ding an sich', aber „Gegenstand unmittelbarer Realität"

(S. 545). 82 Hartmann hält in der Tat das Ich (die Monade) nicht für ein in sich Bestehendes, sondern nur — nach

Schopenhauer — die monistische Substanz (Kategorienlehre, Leipzig 1896, III, 3 Kap.). 83 So in Anlehnung an Husserl auch die Formulierung Alexander Pfänders in seiner Grundlegung einer

phänomenologischen Logik: Logik, 1921, 3. Auflage, Tübingen 1963, S. 19-20. 84 Vgl. Hegel im Schlusskapitel der WDL über die ,Die absolute Idee` (WDL II\549). Vgl. auch Phäno-

menologie des Geistes, V. A. b. (1952): über das Verhältnis Von Denkgesetzen und der Einheit des

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Möglichkeit einer reinen Logik erklärt sich letztendlich dadurch, dass der Geist in den abstrakteren Formen sich selbst anschaut. Die Logik ist Selbstreflexion der reinen intellektuellen Anschauung. „Der Begriff ist [in der Natur] auf wahrnehmbare Weise vorhanden. Im menschlichen Bewusstsein ist der Begriff selbst das Wahrnehmbare. Anschauung und Idee decken sich. Es ist eben das Ideelle, welches angeschaut wird" (GA 1\284). Das tuende Bewusstsein ist selber der Begriff, der sich also in abstrakter Form in der Logik denkt oder reflektiert. Nur die Identifizierung von Bewusstsein mit dem Begriff unterscheidet diesen Standpunkt vom Psychologismus.

§ 5.4. Gattung und Abstraktion

§5.4.1. Gattung

Die formale Logik setzt den Inhalt des Begriffs voraus. Die formale Behandlung der Begriffe ist also ergänzungsbedürftig. Zu einer ,inhaltlichen` Logik des Begriffes gehört Steiners Ansicht über die Gattung und die Abstraktion. Der Platonismus soll insofern Recht haben, als er dem Inhalt der Ideen eine Selbständigkeit im Vergleich zur Sin-neswahrnehmung, zur Empfindung zuschreibt. Die Sinne liefern nicht die Begriffe. Aber der Platonismus würde irren, wenn er behaupten würde, von der allgemeinsten Idee könne man die Gattungen der Natur rein spekulativ ableiten. Gegenüber einem solchen spekulativen Platonismus verteidigt Steiner in Goethes Weltanschauung (GA 6) den Aristotelischen Hylemorphismus: „die Gattungen existieren nur innerhalb der Sphäre, der auch die Individuen angehören; und der Geist kann sie anderswo gar nicht finden. Hat ein sogenannter spekulativer Geist wirklich Gattungsideen, so stammen diese aus der Beobachtung der wirklichen Welt" (GA 6\58-59).85 Wenn nun die Gat-tungen nur innerhalb derselben Sphäre existieren wie die Individuen der Gattung, ist die Absonderung von dem Allgemeinen vom Individuellen die Abstraktion, eine Ein-seitigkeit. So können zwei „Abirrungen" von dem normalen, „naturgemäßen Wege" entstehen: einmal, wenn die Anschauung des Individuellen überwiegend ist und man nicht zum Begriffe kommt, und zum andern, wenn das abstrakte Denken dominiert. Im letzten Fall werden die Begriffe inadäquat zum Verstehen der „lebendigen Fülle des Wirklichen", im ersten Fall dringt man nicht in den tieferen Grund der Wirklichkeit ein (GA 6\61). Exempel des letzten Extrems „ist in dem Philosophen gegeben, der die reine Vernunft anbetet und der nur denkt, ohne ein Gefühl davon zu haben, daß Gedanken ihrem Wesen nach an Anschauung gebunden sind" (GA 6\61).

Die Zusammengehörigkeit von Denken und Anschauung versteht Steiner nicht als Beziehung von Inhalt und Form im Sinne Kants.86 Der Begriff ist nicht allen Inhalts

Selbstbewusstseins, dem tuenden Bewusstsein (S. 222-223), welches sich in dem Geiste zur Einheit aufhebt (S. 256 f. und 313-315).

85 Die ,Beobachtung` schließt hier den Akt der Intuition mit ein. 86 „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", (KDRV B 75).

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IDEEN ZUR LOGIK 191

bar. Die Trennung der Gattung vom Individuellen findet innerhalb des Ideellen statt. Der individuelle Gegenstand ist ohne Gedanken gar nicht zu erfassen. Man trennt also von dem im Anschauen auf den erscheinenden Gegenstand bezogenen Begriff den allgemeinen Bestandteil in der Abstraktion ab. Abstraktion ist immer die Loslösung eines Begriffs aus einem ideellen Zusammenhang, nicht etwa nur ein Abziehen seiner Sinnesmaterie. Über diesen Zusammenhang von Individuum und Gattung sagt Steiner in einem anderen Kontext, der aber auch seine Ansicht vom Logischen erhellt: „Das Erkennen ist keine allgemeine Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Erklärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach den Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existieren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen" (GA 4\ 115) .87 Nicht nur für uns wäre ein Ding kein bestimmtes Ding ohne die Gattung, von der es Exemplar ist, sondern auch an sich wäre das Ding ohne die Gattung nicht, denn die Gattung ist die Gesamtheit der Gesetzmäßigkeiten, die seine Existenz bedingen. Die allgemeine Idee (Gesetz oder Typus) erscheint so verteilt über die vielen Individuen.88

Die Absonderung der Gattung, als wäre sie in ihrer abstrakten Form eine den sinnlichen Dingen ähnliche Entität, ist für Steiner dagegen rein subjektiv. Im Nachwort zur zweiten Auflage von Goethes Weltanschauung heißt es: „Es ist allerdings bequemer, an die Stelle einer Ansicht des vollen Lebens einen schematischen Begriff zu setzen; man kann mit solchen Begriffen eben leicht schematisch urteilen. Man lebt aber durch einen solchen Vorgang in wesenlosen Abstraktionen. Die menschlichen Begriffe werden gerade dadurch zu solchen Abstraktionen, daß man meint, man könne sie im Verstande so behandeln, wie die Dinge einander behandeln" (GA 6\215). Die Abstraktion mit der Gattung gleichzusetzen, ist mithin unwirkliche Reifikation.89

§ 5.4.2. Subjektivität der Begriffsform

Die Abstraktion begründet dagegen die Subjektivität des Denkens: „Ein abstrakter Begriff hat für sich keine Wirklichkeit, ebenso wenig wie eine Wahrnehmung für sich." (GA 4\247). Der Wirklichkeitsgehalt des Denkens geht dadurch aber nicht verloren, dass man der Abstraktion als solche die Wirklichkeit abspricht, da lediglich die Abtrennung von der anschaubaren und denkbaren Wirklichkeit nach Steiner unser subjektives

87 Vgl. auch: „Wenn gesagt wird, das Tier oder der Mensch sei nicht bestimmt durch eine in der Luft

schwebende Idee, so ist das schief ausgedrückt und die Verurteilte Ansicht Verliert bei der Richtigstellung des Ausdrucks Von selbst den absurden Charakter. Das Tier ist allerdings nicht durch eine in der Luft schwebende Idee, wohl aber durch eine ihm eingeborene und seine gesetzmäßige Wesenheit ausmachende Idee bestimmt. Gerade weil die Idee nicht außer dem Dinge ist, sondern in demselben als dessen Wesen wirkt, kann nicht Von [äußerer] Zweckmäßigkeit gesprochen werden" (GA 4\186).

88 Das klassische Problem aus Platons Parmenides (130 e-135 c). Die in diesem Dialog entwickelte Dialektik sollte die raumhafte Verdinglichung des Ideellen überwinden.

89 Vgl. WDL II \284, wo Hegel den besonderen Begriff Von dem abstrakten unterscheidet: „Das abstrakte Allgemeine ist somit zwar der Begriff, aber als Begriffloses, als Begriff der nicht als solcher gesetzt ist."

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Tun ist: „Nur solange wir die die Wahrnehmung durchdringende und bestimmende Gesetzmäßigkeit in der abstrakten Form des Begriffes betrachten, solange haben wir es in der Tat mit etwas rein Subjektivem zu tun. Subjektiv ist aber nicht der Inhalt des Begriffes, der mit Hilfe des Denkens zu der Wahrnehmung hinzugewonnen wird. [ ... ] Er ist der Teil der Wirklichkeit, den das Wahrnehmen nicht erreichen kann. Erfahrung, aber nicht durch das Wahrnehmen vermittelte Erfahrung." (GA 4\247) . Der Inhalt der Begriffe entspringe mithin aus der Objektivität, wie die Form aus der subjektiven Bewusstseinsform (GA 1\149).90 Das begrenzte Subjekt ist nicht mehr als ein Teil des Weltganzen: „Für uns aber ist es eine Notwendigkeit, gewisse Ausschnitte aus der Welt herauszuheben, und sie für sich zu betrachten. Unser Auge kann nur einzelne Farben nacheinander aus einem vielgliedrigen Farbenganzen, unser Verstand nur einzelne Begriffe aus einem zusammenhängenden Begriffssysteme erfassen. Die Absonderung ist ein subjektiver Akt, bedingt von dem Umstand, daß wir nicht identisch sind mit dem Weltprozeß, sondern ein Wesen unter anderen Wesen" (GA 4\89) . Das ist der Grund, weshalb Steiner den Unterschied von Verstand und Vernunft gleichsetzen konnte mit dem von Subjektivität und Objektivität. Subjektiv ist der abgezogene Teil, objektiv die Integration im Ganzen. Hier stimmt Steiner wieder mit Hegel überein: Begriff ist abstrakte Allgemeinheit, die Idee ist der Begriff in seiner Einheit mit dem Objekt (wDL

II\253 und 462-467) .

§ 5.4.3. Idee

Begriffe stehen nicht vereinzelt da: Begriffe wie ,Organismus` und ,Entwicklung` schlie-ßen sich einander an, während andere an Einzeldingen gebildete Begriffe in eins, in der Gattung, zusammenfließen. Sie verbinden sich zu einem einheitlichen Ganzen (GA 4\57) . Dieses Ganze kann selber nur abstrakterweise angedeutet werden. Mit Goethe nennt Steiner es einfach „die Idee".91 „Die Idee ist [ ... ] an allen Orten der Welt, in allen Bewußtseinen eine und dieselbe" (GA 1\164). Ist ja das Bewusstsein nichts anderes als eine Manifestation der Idee. Steiner zitiert mehrmals Goethes Spruch:92 „Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural gebrauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff` (Sprüche in Prosa). Die Idee selbst ist nach Goethe nie auf einmal auszusprechen. Daher spricht

90 Steiner knüpft hier bei Aristoteles an. Vgl. GA 108\182-183. Der Gattungsbegriff eXistiert zwar als Abstraktion in der Seele, aber ihr liegt die Realität der Gattung (die Form) zugrunde: „Durch den gera-den Weg von Aristoteles her würden wir über den SubjektiVismus hinausgekommen sein" (GA 108 \185). Vgl. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, S. IX—X: Hätte ein Geist wie Schelling mit Aristoteles angefangen, statt in umgedrehter Ordnung von Fichte und Kant rückwärts zu gehen, um mit Aristoteles zu enden, so wäre „ein Stück deutscher Philosophie anders ausgefallen, größer, dauernder, fruchtbarer".

91 Die Idee ist „Urgrund des Weltendaseins" (GA 1\126) und „das gemeine Urwesen, das alle Menschen durchdringt" (GA 4\250).

92 Vgl. GA 1\231, GA 2 \78, GA 6\54 und 206.

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man über sie wie über einen vereinzelten Begriff. Die Idee sollte dem Begriff überlegen sein, aber sie ist selbst nur mitteilbar als ein Begriff. Folglich wäre ihr Begriff nicht die Idee, mithin etwas anderes als die Idee selber. Gibt der Begriff sonst das Wesen, dann wahrscheinlich nicht diesmal, da das Wesen der Idee erst als Resultat aus dem Ganzen hervorgehen sollte. Der Gang durch die Welt ist unumgänglich, weil wir die Idee nicht spekulativ entwickeln können.

§ 5.4.4. Realismus und Nominalismus

Auf der Subjektivität der Abstraktion bildet Steiner den nächsten Unterschied auf zwi-schen denjenigen Begriffen, die realistisch und denjenigen, die nominalistisch zu deuten sind. Als Beispiel für beide Arten gibt Steiner den Begriff ,Katze` bzw. den Begriff von Katzen mit einem Eigennamen ,Mufti` (GA 151\32-33) . Wie ist nun auszumachen, ob ein Begriff realistisch oder nominalistisch ist? Der nominalistische Begriff ist ein durch die Abstraktion ermöglichter allgemeiner Name, womit Einzeldinge zusammengefasst werden nach bestimmten unterschiedenen Merkmalen der Dinge (z. B. alle Katzen mit gemeinsamen Namen wie etwa ,Mufti'; Kants ,empirischer Begriff) . Bei dem realisti-schen Begriff soll außer dem Einzelding auch die allgemeine Gattung existieren. Nun ,gibt` es einzelne Dreiecke, spitzwinklige, stumpfwinklige und rechtwinklige (definier-bar und vorstellbar). Gibt es außerdem ,das allgemeine Dreieck` als eine Gattung? Gibt es über dem einzelnen Löwen ,den allgemeinen Löwen` oder ,den Löwen im Allge-meinen'? Lassen sich diese allgemeinen Dingen ,zeigen`? (GA 151\14). Steiner meint, was das ,allgemeine Wort' (vgl. § 5.2) nicht leistet, die Präsentation des Allgemeinen, kann man sich doch vorstellen, wenn man sich ein Dreieck vornimmt und die Seiten nach Länge variiert. Dann stellen sich in dieser Bewegung alle möglichen Dreiecke vor. In der (gesetzmäßigen) Bewegung ist „wirklich das allgemeine Dreieck darinnen" (GA 151\16) . Die Gedanken müssen versatil werden, um das Allgemeine verbunden mit den speziellen Gedanken (den Einzeldingen oder Unterarten) vorzustellen. Damit wäre die Allgemeinheit in der ,exakten Fantasie (Goethe) als anschaulicher Gegen-stand aufgefunden.93 Die Bewegung in der Variation ist motiviert und begrenzt von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit und keine willkürliche (dann wäre sie Assoziation). Steiner führt diesen Gedanken nicht aus für den Begriff ,Löwe`, „denn schließlich

93 Eine Parallele zu Husserls ,eidetischer Variation'. Sie ist bei Husserl nicht nur Darstellungsprinzip, denn man kann sie umgekehrt als Gedankenversuch anwenden, um an der Variation die wesentlichen Bestimmungen zu entdecken. Spiegelberg (1994), S. 105. Vgl. Husserls Erfahrung und Urteil. Untersu-chungen zur Genealogie der Logik, herausg. L. Landgrebe, Hamburg 1948, S. 409-436. Der Unterschied zu Steiners Versatilitätsprinzip scheint uns zu sein, dass bei Husserl die Variation konstitutiver Teil der Ideation ist und die beliebige Variation zum Akt der Ideenschau mitgehört (a. a. O., S. 422), während bei Steiner jede Allgemeinheit bewusst wird durch ,Intuition`, die in der Variation aufleuchten kann, aber von ihr nicht nowendig abhängig ist (im Gegenteil, so lautet ,das klassische Argument' gegen die eidetische Variation: „Um sie vollziehen zu können, müssen wir jeweils schon einen Vorbegriff dessen haben, was variiert werden soll", W. Biemel, Husserls Encyclopaedia-Brittannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Tijdschrift voor Philosophie, 1950, 12. Jg., S. 260).

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ist es für die allgemeine Sache gleichgültig, ob wir uns die Sache am Dreieck, am Löwen oder an etwas anderem klarmachen" (GA 151\14). Nach dem vorigen wäre der Test für den ,Löwen im Allgemeinen', ob alle einzelnen Löwen durch Variation der Merkmale ineinander übergeführt werden können. Diese Metamorphose lässt sich in Goethes Metamorphose der Tiere allerdings vorstellen (GA 151\17). Der Übergang ist keine reale zwischen Exemplaren, sondern die typische Gestalt kann unter Beibehal-tung der wesentlichen Eigenschaften ideell individuell variiert werden. Auch die Spezies von ,Löwe` und ,Katze` können kontinuierlich unter Beibehaltung einer bestimmten Hauptstruktur ineinander übergeführt werden. So ist zuletzt die Idee des Urtiers dank der Metamorphosenlehre ein realer Begriff (Typus) . ,Alle Katzen mit Namen ,Mufti" ist dagegen eine Menge, die durch Auswahl aus der Extension einer Gattung zustan-dekommt. Die Auswahl nach dem Namen hat mit dieser Gattung als solcher nichts zu tun, sondern ist nur äußeren Umständen zu entnehmen.94

Steiner gibt noch ein zweites Kriterium. Unmöglich wäre in dem Ausdruck ,Zahl` etwas anderes zu finden als eine Zusammenfassung mit einem gemeinsamen Namen nach allgemeinen Merkmalen: „Denn die Eins geht nie in die Zwei über; man muß immer eins dazugeben" (GA 151\33).95 Das Übergehen der Einzelzahlen ineinander gelingt nicht wie in dem Beispiel der Dreiecke. Daher „existieren nur einzelne Zahlen, nicht die Zahl im allgemeinen" (GA 151\33) . Natürlich gibt es die Regel, nach der die Zahlen gebildet werden, aber offensichtlich sind Regel und Gattung nicht gleichwertig. Steiner formuliert noch ein ganz anderes Kriterium für den realistischen Charakter der Tiergattung: „Für das, was in den Zahlen vorhanden ist, ist der Nominalismus absolut richtig; für das, was so vorhanden ist wie das einzelne Tier gegenüber seiner Gattung, ist der Realismus absolut richtig. Denn unmöglich kann ein Hirsch und wieder ein Hirsch und wieder ein Hirsch existieren, ohne daß die Gattung Hirsch existiert." (GA 151\34). Eine ähnliche Charakterisierung des Nominalismus gibt Steiner in Philosophie der Frei-heit. Der Nominalismus wäre eine Art naiver Realismus, dem das Wahrgenommene, sagen wir Tulpen, real ist und die Idee ,Tulpe` nur ein Abstraktum, eine Zusammenfü-gung gemeinsamer Merkmale. Aber die Erfahrung soll diesen Standpunkt widerlegen,

94 Der Unterschied wäre allerdings eine ,Simplifikation` in der PerspektiVe moderner Sprachtheorien, wenn es sich um Semantik der Allgemeinwörter handeln sollte; Vgl. H. Putnam, Is Semantics Possible?, in: Naming, Necessity and Natural Kinds, ed. S.P. Schwarz, New York 1977, S. 102-118. Eine ,natural kind' hat meistens nur ein unscharfes Stereotyp und eine gewisse vertraute EXtension in sich (ebd., S. 117). Steiner bezieht sich aber nicht auf die alltägliche Sprache, sondern auf die wissenschaftlichen Begriffe. Trendelenburg hat eine ähnliche Auffassung, und dessen Logische Untersuchungen mögen für Steiner von Bedeutung gewesen sein. Trendelenburg greift auch auf Goethes Naturanschauungen zurück (a. a. O., II., S. 20). Die konstruktive Bewegung soll im Denken den Gedanken das Sein vermitteln (a. a. O., I., S. 138-150). Das Denken sieht zu, wie in der Bewegung die Erscheinungen nachkonstruierbar sind (a. a. O., S. 338-343).

95 „Die Zahl bleibt als Eins in sich zurückgekehrt und gleichgültig gegen andere. Diese Gleichgültig-keit gegen andere ist wesentliche Bestimmung derselben." (wDL I\233) und „Fünf ist allerdings in der Anschauung gegeben, d. h. ein ganz äußerliches Zusammengefügtsein des beliebig wiederholten Gedankens ,Eins`." (wDL I\238).

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IDEEN ZUR LOGIK 195

denn die Tulpen vergehen rasch. Was sich behauptet, ist nur die Gattung. Der Wider-spruch ist, dass für den naiven Realismus das Reale fortwährend verschwindet und nur das Unwirkliche bleibt (GA 4\12o) . Auch an dieser Stelle entscheidet über eine erkennt-nistheoretische Frage also die Ontologie. Das Argument soll durch den Darwinismus nicht widerlegt sein (auch Arten entstehen und vergehen), da die Deszendenz noch den Typus voraussetze (GA 1\3o-31 und GA 2\103).96

Die Versatilität der Vorstellung wird gefordert, weil wir die Subjektivität der Begriffs-form überwinden sollten. Die Abstraktion war notwendigerweise ein subjektiver Akt, die Fixierung auf ein unbewegliches Totes ein aufzuhebendes, zufälliges Moment. Durch die Beweglichkeit wird die subjektive Bedingung des Erfassens eines Begriffes, die nur die Form des Begriffes betrifft, neutralisiert. Gibt man die subjektive Form auf, so lässt sich der allgemeine Gedanke wieder einfügen in den kontinuierlichen, jetzt aber im Denken nachvollzogenen Weltprozess: Das gesetzmäßige Ineinanderübergehen der vorgestellten Dinge zeigt erst das Allgemeine, das vorher der Beobachtung oder Wahr-nehmung entzogen war. So wird in der Vorstellung repräsentiert (GA 4\108), wie in der Welt Individuum und Gattung derselben Sphäre angehören, und die Hypostasie-rung des Allgemeinen als einzelnes Ding für sich vermieden. Auch hier gilt also Goe-thes Reihebildungsvorschrift oder das Vollständigkeitsprinzip der Erfahrung (Sepper: ,comprehensiveness`). Die vereinzelnde Abstraktion muss aufgehoben werden (Meta-morphosenprinzip). Bei denjenigen Abstraktionen, bei denen das nicht gelingen will, haben wir es eben in der Tat nur mit reinen Abstraktionen, d. h. subjektiven Begriffen zu tun. Der Idealismus Steiners behauptet eine reale Dynamik im Begriff. Was sich nicht dynamisch denken lässt, gehört folgerichtig nicht zur objektiven Idee, sondern nur der subjektiven Vorstellung an (etwa die Verteilung des realen Kontinuums zwi-schen Gefrierpunkt und Siedepunkt des Wassers in hundert Graden). So ist ,Schall` nur die Zusammenfassung der einzelnen Geräusche und Töne, ,Licht` dagegen in kon-tinuierlicher Abänderung modifizierbar zur individuellen Farbe. ,Schall` ist deswegen ein nominalistischer, ,Licht` ein realistischer Begriff §4.3.2).

§ 5.5. Induktion und Intuition

§ 5.5.1. Induktion bei Mill

Mill lehrte einen Empirismus, in dem alles Erfahrungswissen auf Induktion beruht. Diese Ansicht unterzieht Steiner in mehreren Schriften nebenbei einer kritischen Ana-lyse, denn die „Millsche Schule" (GA 1\144) war damals im Aufstieg begriffen. Das Mill'sche induktive Denken ist für Steiner etwas Widersprüchliches. Mills sensualis-

96 Sonst könnte man einwenden: Zuletzt entsteht und Vergeht doch die gesamte Gattung. Das längere Fortbestehen als solches ist kein Kriterium, wenn nicht der relatiV unbedeutende Unterschied von eini-gen Millionen Jahren über die ontologische Grundstruktur der Welt entscheiden soll. Das Argument

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196 KAPITEL V

tische Denkart ist nicht Konsequenz der Erfahrung, sondern einer Hypothese und steht im Widerspruch zur Grundtendenz von Steiners induktivem Empirismus. Sie beinhaltet die Annahme, dass die abstrakten Begriffe nichts anderes seien als „bloße Zusammenfassungen einzelner Dinge in Gruppen" (GA 1\144). Das Erkennen soll „ein ausgebildetes sinnliches Erfahren" sein (GA 1\145) . Dies „läßt die Dinge so, wie sie Augen und Ohren liefern" (GA 1\145) . Das heißt, die Sinne bringen die einzige Vermittlung zwischen unserem Geist und der Welt zustande. Wir stehen sozusagen geistig ganz außerhalb von ihr. Deshalb kam Mill nicht weiter als bis zu einer „Zuschauerlogik" (GA 18\453): „Zuletzt kommt es bei dieser Anschauung darauf an, daß ihr Bekenner sich nicht entschließen kann, sein eigenes selbsttätiges Denken mit zu der Welt zu rechnen" (GA 18\456). Aus diesen allgemeinen Überlegungen ergibt sich eine Kritik an Mills Induktionslogik.

Der Induktionsschluss ist das Herzstück von Mills System of Logic (1843). Die Technik der Induktion, einschließlich der Kritik von Jevons an Mill, dass dem Induk-tionsschluss eine Deduktion (ein Syllogismus) zugrunde liege, hat Sigwart im dritten Teil seiner Logik eingehend dargestellt.97 Sigwart vetritt selbst eine ähnliche Position wie Mill. Alle Erfahrungwissenschaft ist zwar durch Hypothesen gefunden und deduktiv entwickelt und systematisiert, aber zuletzt ein durch Induktion legitimiertes, also nur wahrscheinliches Wissen. Induktion allein genügt nicht für Wissenschaft. Sie reicht nicht aus für die Aufstellung allgemeiner Regeln. Diese müssen ergänzt werden durch die Erklärung dieser Regeln aus kausalen Prinzipien. Die fundamentalen Kausalgesetze sind jedoch wieder hypothetische Annahmen, die nicht direkt mit der beobachtbaren Wirklichkeit verglichen werden können. Auch diese erhalten ihre Rechtfertigung durch Induktion. Sigwart verfeinert dazu u. a. Mills method of difference.

Wundt urteilt in seiner Logik kritischer über den Wert der Induktion. Zwar ist die Induktion von Bedeutung bei der Begriffsbildung und Generalisierung, aber die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Kausalitätsgesetze stellen eine Anwendung des Satzes vom Grunde auf den Inhalt der Erfahrung dar, die die Induktion nicht leisten kann.98 Dazu müssen wir aus der Substanz der zu erklärenden Tatsachen die Gründe herleiten, meint Wundt.99

Hegel hatte zuvor die Induktion schon einen subjektiven oder Reflexionsschluss genannt. Die Zusammenfassung der Einzelnen zur Allgemeinheit ist eine äußerliche Reflexion. Die Allgemeinheit ist unendliche Aufgabe der Erfahrung (schlechter unend-licher Progress). Diese generalisierende Induktion setzt den Schlusssatz voraus, obgleich die Rechtfertigung der Erfahrung unvollendet ist. Sie ist deshalb ein Schluss, der kein

Steiners lautet daher besser: Das Individuum ist nur vorübergehender Teil einer gesetzlichen Entwick-lung der Gattung. Diesem Gesetz gegenüber ist das Individuelle deshalb nicht das allein Wirkliche. Das moderne ÄquiValent dieses Gesetzes ist die Vorstellung der DNA.

97 Sigwart (1904), S. 406-706. Also Steiner bekannt. 98 Wundt (1906), S. 348-353 und 603-606.

99 A. a. O., S. 606 ff.

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IDEEN ZUR LOGIK 197

Schluss ist. Nur in den Schlüssen der Notwendigkeit werden Subjekt und Prädikat zuletzt durch die objektive Gattung zusammengeschlossen.100

In der Dissertation schließt Steiner sich dieser Kritik an, wenn er über Humes Kau-salitätsvorstellung und Mills Induktionsverfahren ( „die komparative Allgemeinheit") spricht (GA 3\62-64). Gewohnheit (Hume) begründet kein Kausalverhältnis: „Begegne ich durch eine Reihe von Tagen immer demselben Menschen, wenn ich aus dem Tore meines Wohnhauses trete, so werde ich mich zwar nach und nach gewöhnen, die zeit-liche Folge der beiden Ereignisse zu erwarten, aber es wird mir gar nicht einfallen, hier einen Kausalzusammenhang [ ... ] zu konstatieren." (GA 3\62). Der Kausalzusam-menhang wird dagegen bestimmt nach „der inhaltlichen Bedeutung der als Ursache und Wirkung bezeichneten Teile des Weltinhaltes" (GA 3\62).101 Es ist keine ,subjektive Maxime, nach der wir a und b in der Erfahrung verbinden, sondern wir verbinden nach den Naturgesetzen, die „aus dem Gegebenen stammen" (GA 3\68). Das Naturgesetz ist nichts anderes als „der Ausdruck eines Zusammenhanges im gegebenen Weltbilde, und es ist ebenso wenig ohne die Tatsachen da, die es regelt, wie diese ohne jene da sind" (GA 3\64). Deshalb sind wir nicht, wie beim induktiven Schluss, dem Zweifel ausgesetzt, ob a und b heute nach diesem, morgen nach jenem Gesetze verbunden sind. Unsere Erfahrungswissenschaft beruht also nicht auf der Induktion. Wenn ein späterer Fall das aufgestellte Gesetz umstößt, dann nicht wegen des Umstandes, dass es durch Induk-tion gewonnen oder begründet war, sondern eben weil „es dazumal nicht vollkommen richtig gefolgert war" (GA 3\64) .

§ 5.5.2. Alternative Induktion

Diese Haltung zum Induktionsproblem ist eine Illustration von Steiners Rückkehr zur Aristotelischen Version der ,Induktion`, in der wir durch den ,nous` das Allgemeine in

der Erfahrung ergreifen:102 „Auch die Ideen sind für eine induktive Methode erreich-bar" (GA 1\126) . An dieser Beobachtung des Allgemeinen in der Erfahrung knüpft das Denken seine Urteile an. Aristoteles zeigt, dass der ,Scharfsinn` zum Beispiel aus den Observationen, wie die helle Seite des Mondes immer der Sonne zugewandt ist, folgert, dass der Mond das Sonnenlicht zurückwirft.103 Nicht weil wir gewöhnt sind,

100 WDL II, 2. Teil, 3. Kap., B und C, V. a. S. 386. 101 Ein zweites Beispiel gibt Steiner in GA 4 in Bezug auf Spencer (S. 58-59). Auch diese Kritik gipfelt darin,

dass Steiner meint, Spencer habe unser normales Denken nicht richtig beobachtet. 102 Vgl. Analytica posteriora, 100 a—b; Jonathan Barnes übersetzt ,nous` hier mit ,comprehension` statt der

traditionsgemäßen ,Intuition` (Aristotle's Posterior Analytics, Oxford 1975, S. 81-82, und Anmerkung S. 256-257). Doch was Steiner mit der ,Beobachtung` der Gegenstände in ihrer Eigentümlichkeit meint, die die Grundlage für ein Wahrnehmungsurteil (Vereinigung Von Begriff und Wahrnehmung) abgibt, ist wohl am ehesten dieses Vermögen. Wir können es in diesem Sinne ,intuitiv` nennen. Komprehension ist Ergreifen oder Einsehen des Allgemeinen. Vgl. W. Schmidt (1974), S. 92 und 124: Es gelingt dem Nous, das Analoge „in einem Blick zusammenzuschauen", in dem das zeitliche Fortgehen aufgehoben, die fließende Erfahrung zum Stehen gebracht wird (S. 124) . Vgl. § 4.2.8.

103 Analytica posteriora, 89 b 10-20.

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198 KAPITEL V

beide leuchtenden Körper so zusammenzusehen, sondern weil wir einsehen, dass ein Licht beide erleuchtet. Diese intuitive ,Induktion` beansprucht keine Infallibilität, wie aus Steiners Bemerkung hervorgeht.104 Weder zur Entdeckung von Gesetzen noch zur Rechtfertigung ist aber die Mill'sche Induktion geeignet. Steiners Induktion setzt eine Intuition oder Beobachtung des Allgemeinen in der Erfahrung voraus, die die Existenz mit dem Wesen verbindet; sie vermittelt das ,Wahrnehmungsurteil': „Durch das Wahr-nehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt" (GA 2\65). Die Mög-lichkeit dieses Urteils, das hier als vollzogenes und wahres bestimmt wird, ist Bedingung von Steiners ,empirischem Idealismus`. Wir müssen direkt in der Beobachtung auf das Wesen stoßen können, denn sonst könnten wir nicht erkennen, dass Gegenstand und Begriff einander entsprechen.105 Wäre die Anschauung für immer blind (Kant), dann gäbe es keine Alternative, als den Gegenständen ihr Wesen vorzuschreiben. Die Ein-sicht, dass es die Induktion gibt, erklärt aber noch nicht, wie das Wahrnehmungsurteil zustande kommt.106

§ 5.6. Dialektische Logik

§ 5.6.1. Dialektik und Widerspruch

Schon früh betont Steiner, dass sein empirischer Idealismus keine Dialektik sei. Auf Ideen solle man rein aposteriori, durch empirische Forschung kommen: „Wir halten an dem Idealismus fest, legen aber bei der Entwicklung desselben nicht die dialek-tische Methode Hegels, sondern einen geläuterten, höheren Empirismus zugrunde" (GA 1\127). In seiner Dissertation sagt Steiner, dass Hegel die Vermittlung von Sein und Begriff in einer objektiven Weltdialektik, er selber sie in einem subjektiven Erkennt-nisprozess begründet sieht. Ob das Letztere damit auch ein dialektischer Prozess sei, ist damit nicht entschieden. Wenn Steiner in der für den Druck bestimmten Ausgabe der Dissertation in der Vorrede sagt: „Die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels stehen ohne Fundament da" (GA 3\10), so lässt sich daraus doch folgern, dass er die dialektische Methode dieser Idealisten nicht als Fundament für die Philo-

104 Vgl. die spätere Kritik Karl Poppers am Induktionsprinzip in dessen The Logic of Scientific Discovery, 17. Aufl. London 1977, S. 27-30. Die entsprechende ,Kritik der intuitiVen Vernunft` von Hans Albert, in: Traktat über kritische Vernunft, 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 21-28, setzt einen anderen Intuitionsbegriff voraus, nämlich die „passiVe Schau", was auf Steiner jedenfalls nicht zutrifft.

105 Vgl. Rosen (1980): Sogar die Ablehnung von „phenomenological looks", die den Dingen eigentümlich anhaften, kommt ohne sie nicht aus, und mithin ist ihre Verneinung unmöglich (S. 60-61): „the import-ant point is this: the presence of the look to the looker allows the transition from the phenomonological to the logical aspects of the look. In this sense logical analysis is rooted in intellectual intuition" (S. 61). Der Gedanke einer intellektuellen Intuition in der Erfahrung, wie Steiner sie annimmt, setzt sich hier wieder einmal durch.

106 Auch Rosen sieht die Schwierigkeit, diese Intuition klar zu fassen: „There is [ ... ] something intrinsically ambiguous about the notion of intuiting a form", a. a. O., S. 62.

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IDEEN ZUR LOGIK 199

sophie akzeptiert. Dementsprechend setzt Steiner in seinen Erläuterungen zu Goethes

Farbenlehre ,Dialektik` und bodenlose Spekulation einander einfach gleich, nämlich im Kommentar zum 32. Kapitel der Ergänzungen zur Farbenlehre, Entoptischen Farben,

wo Goethe sich einen Paradoxen Seitenblick auf die Astrologie erlaubt. Steiner bemerkt dazu, dass die ganze Ausführung ein Beweis dafür sei, „daß Goethe sich dem freien Spiele (der Dialektik) von Gedanken überlassen konnte, die mit seinen Überzeugungen

nichts zu tun haben".107 Von diesem Sprachgebrauch lässt sich dennoch nicht unmit-telbar auf ein tiefer steckendes Urteil schließen. Dieses tritt ohne expliziten Hinweis nach der Dialektik öfter hervor, namentlich in den schon erwähnten Darstellungen von

Hegels Philosophie in Goethes Weltanschauung und in Rätsel der Philosophie. In einer

der Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Ausgabe heißt es ja, „daß der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie eine Konsequenz der Goetheschen Denkweise ist" (GA 1\227). Dass es aber namentlich Hegels Wissenschaft

der Logik war, die Steiner an ihm schätzte, spricht er erst viel später aus, namentlich in einem Vortrag zu Hegels 150. Geburtstag (27. August 192o; GA 199) . Hegel habe den Mächten der Schwere die abstrakte Logik entrissen. Diese Logik ist für Steiner etwas

Aktuelles, sogar ,Ewiges`,108 das man immer brauchen wird, um das Gleichgewicht zu halten zwischen schwärmerischer idealistischer Mystik und trockenem intellektuellem Materialismus. Diese Logik gibt einem nicht die reiche Fülle der realen Welt oder den lebendigen Geist. Sie erlaubt dagegen die Entwicklung einer Kategorienlehre im reinen

Denken. Wir wollen zuerst eingehen auf den methodischen Punkt des Widerspruchs, den

Kern von Hegels Dialektik. Wenn Steiner die ideelle Metamorphose bei Hegel ästi-mierte, heißt das denn, dass er auch Hegels Ansicht über den Widerspruch akzeptierte? Das eine ist nicht notwendig mit dem anderen verbunden. Zwar muss man im Vor-tragswerk Steiners lange nach einer Besprechung gerade dieser Frage suchen, aber sie fehlt zuletzt nicht, obgleich der Widerspruch nicht unter den philosophischen Gegen-ständen erörtert wird. Dem Anschein nach verwirft Steiner Hegels Grundauffassung einer Selbstbewegung der Begriffe als die eigentliche Ursache aller Entwicklung: „Hegel redet von einer Selbstbewegung des Geistes und meint die Selbstbewegung der Begriffe, die in ihrer Gesetzmäßigkeit nichts zu tun hat mit der äußeren Welt, die Selbsttat des

Geistes ist" (GA 115/1931-178). Von dem Geist, dessen ,Selbsttat` (autonome Schöpfung) die Welt ist, unterscheidet Steiner das menschliche Bewusstsein, worin die Begriffe gebildet werden. Es sind zwei verschiedene Bereiche. Dies ist eine Grundüberzeugung

Steiners, die wir schon in der Philosophie der Freiheit finden: „Weil der Mensch [ ...1

107 Johann Wolfgang Goethe, Farbenlehre. Mit Einleitungen und Kommentaren von Rudolf Steiner, herausg.

Von G. Ott und H.O. Proskauer, Stuttgart 1980, Band 2, Anmerkung **, S. 204-205.

108 Wohl auch eine Anspielung auf Benedetto Croces Cie che è vivo e cio che è morte di filosofia di Hegel

(1907). Steiner kannte mehrere Schriften Croces wie etwa dessen Hauptwerk Filosofia come scienza dello

spirito, von dem er in einer Kritik zu Croces Goethe das erste Buch (deutsch: Ästhetik als Wissenschaft

des Ausdrucks) erwähnt (1919; GA 36, S. 187f.) Es ist wahrscheinlich, dass Steiner jene Publikation über

Hegel, oder jedenfalls den populären Titel, kannte.

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200 KAPITEL V

zunächst das Wirken dieses ,Ich` in der gedanklichen Ausgestaltung der Ideenwelt wahrnimmt, kann sich die spiritualistisch gerichtete Weltanschauung beim Hinbli-cke auf die eigene menschliche Wesenheit versucht fühlen, von dem Geiste nur diese Ideenwelt anzuerkennen. Der Spiritualismus wird auf diese Art zum einseitigen Idealis-mus" (GA 4\32). Der abstrakte Begriff führt aber auf ein objektiv Geistiges zurück: ,die Idee`. „Das gemeine Urwesen [Gott], das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken" (GA 4 \25o) . Steiner wendet hier den Vergleich Platons von der Grotte109 an. Der (subjektive) Begriff ist als ein Schatten das Negativ seines realen Urbildes (der objektiven Gattung), jedoch ihm deswegen noch ähnlich: „Der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele" (GA 1o8 \241). Eine Geistlehre, sagt Steiner deshalb, hat man eigentlich nicht in der Philosophie „außer etwa in der Hegelschen Philosophie, aber auch dort wird sie nicht ganz mit Recht so genannt, da sie eigentlich eine Seelenlehre ist" (GA 115\1931-162), und: Hegel schrieb „seine Phänomenologie des Geistes, die aber eigentlich eine Phänomenologie des Bewußtseins ist" (GA 199\1958-1957) . Hegel hat seine Phänomenologie des Geistes tatsächlich selbst als ersten Teil eines ,Systems der Wissenschaft` überschrieben: Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins (Vorblatt vor der Einleitung) .1 0 Die Behauptung Steiners ist offensichtlich, dass auch das weitere System der Enzyklopädie zu wenig über den Begriff, in der subjektiven Form, in der er sich zunächst im Bewusstsein hervortut, hinausreicht.

Ist der Widerspruch demzufolge nicht nur ein Reflexionsbegriff, der nur in der formalen Logik seine Anwendung hat, während der Geist, die Idee, seinen Bestand jen-seits dieser abstrakt-begrifflichen Sphäre, jenseits dieser Verstandesregion hat? Steiner verneint. Der Widerspruch ist nicht nur formaler Art. Er ist auch in der Wirklichkeit vorhanden. 1919 spielt Steiner einmal versteckt auf Hegel an: „Würde man niemals glie-dern, so bliebe die Welt immer in einem Unbestimmten, wie in der Nacht alle Katzen grau sind. Menschen, die daher alles in abstrakten Einheiten erfassen wollen, sehen die Welt grau in grau. Und würde man nur gliedern, nur trennen, alles auseinanderhalten, so würde man niemals zu einer wirklichen Erkenntnis kommen [ ... ] . Aber aus Wider-sprüchen besteht die Wirklichkeit. Wir begreifen die Wirklichkeit nicht, wenn wir nicht die Widersprüche in der Welt schauen." (GA 293\124). Steiners Worte sind ein Widerhall der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, wo es über den einfarbigen Formalismus, den leeren spekulativen Absolutismus (die Identitätsphilosophie des A = A) heißt, dass er sein Absolutes für die Nacht ausgebe, „worin [ ... ] alle Kühe schwarz sind" (PHDG, S. 18). An dieser Einheit würde die „Arbeit des Negativen" fehlen (PHDG, S. 20). Das Wahre ist aber das als System gegliederte Ganze. 111 Die Entwicklung ist es, die nach Hegel den Widerspruch herbeiführt. So bei Steiner: „Was in der Welt sich entwickelt, ist

109 Politeia, y,,. Buch, 514-518. 110 PHDG 3. 111 „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nur das durch seine Entwicklung sich Vollendende

Wesen" (PHDG 21).

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IDEEN ZUR LOGIK 201

nicht so flach und trivial wie das, was der menschliche Verstand, die gewöhnliche Intel-ligenz als Widerspruchslosigkeit empfindet. Man muß eben tiefer in die Untergründe menschlicher Betrachtung hinuntertauchen, dann verschwinden schon die Wider-sprüche. Derjenige, der eine Pflanze betrachtet, wie sie wächst von der Wurzel bis zur Frucht, wie das grüne Blatt sich verwandelt in das Blumenblatt, das Blumenblatt in die Staubgefäße und so weiter, der kann sagen: Hier haben wir widersprechende Gestalten, das Blumenblatt widerspricht dem Stengelblatt. Wer aber tiefer sieht, wird die Einheit erblicken, die tiefere Einheit im Widerspruch" (GA 194\249-250) . Steiner bringt hier Entwicklung und Widerspruch in direkten Zusammenhang, genau wie Hegel112 Das Beispiel ist freilich nur verständlich vor dem Hintergrund der Metamorphosenlehre Goethes (Identität des metamorphosierenden ,Blatts`) .113 Der Entwicklungsbegriff ist ohne Widersprüchlichkeit nicht denkbar. Steiner: „Die Sache ist aber so, daß in der Tat das Leben, das lebendige Gefüge unserer Weltenwunder überall durchzogen ist von dem Widerspruche, ja daß überhaupt in der Welt ein Werden gar nicht möglich wäre, wenn nicht in allen Dingen auf dem Grunde ihres Wesens der Widerspruch ruhte. Denn warum ist denn die Welt heute anders als gestern, warum wird denn etwas, warum bleibt denn nicht alles, wie es war? Weil in der Gestaltung der Dinge gestern ein Widerspruch gegen sich selbst vorhanden war und durch die Realisierung dieses Widerspruches, durch die Austreibung desselben aus der gestrigen Gestaltung die heu-tige entstanden ist. Wer die Dinge, wie sie wirklich sind, betrachtet, der darf gar nicht sagen: durch den Nachweis von Widersprüchen zeigen wir die Unwahrheiten auf. Denn in den Wirklichkeiten ruhen die Widersprüche" (GA 129\122-123). Steiners Zugeständ-nis der Realität des Widerspruchs lässt keinen Zweifel, dass es die Dialektik nicht nur im rein Formellen gibt, sondern dass sie objektiv ist. Freilich liegt dies dem Idealis-mus überhaupt nicht ferne, da die Struktur der Gegenstände im Grunde eine ideelle ist. Kuno Fischer hat 1852 Hegels Wissenschaft der Logik neu zu schreiben versucht als Begriffssystem der ,Entwicklung`. ,Entwicklung` ist der höchste Vernunftbegriff, nach dem die logische Entwicklung selber zielt.114 Sie hat den Widerspruch in sich, denn Anlage ist Widerspruch.115 Deshalb sagt er: „In dem Begriff des Widerspruches treffen wir den Mittelpunkt des Systems".116 Dem kann Steiner beipflichten: Entwicklung, d. h. Metamorphose, ist Widerspruch. Sowohl die reale Metamorphose als auch die ideelle.

112 Vgl. a. a. O., aber auch die Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, A.2.a, Der Begriff Entwicklung u. a.: Die Pflanze hat im Keim den Trieb, sich zu entwickeln: „Der Trieb ist der Widerspruch, daß er nur an sich ist und es doch nicht sein soll" (Werke Bd. 18, S. 41), und die WDL,

Werke Bd. 6, S. 76: „Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten." Dies ist „die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt" (ebd.).

113 Wie auch schon von Hegel Verwendet: PHDG 10.

114 System der Logik, S. 189. 115 A. a. O., S. 171. 116 A. a. O., S. 303. Trendelenburg kritisiert an ihm, dass er nur den nie rastenden Trieb des Widerspruchs

herVorhebt „mit fast epigrammatischem Stachel" und die „einander jagenden Begriffe in schnurgerader Fortbewegung zeichnet" (Logische Untersuchungen, 5.121-122).

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202 KAPITEL V

§ 5.6.2. Dialektische Methode und Kategorienlehre

Steiner hält es wegen eines rein ideellen Entwicklungsprinzips durchaus für möglich, ein Begriffsnetz zu schaffen unabhängig innerer und äußerer Wahrnehmung, rein durch innere Konstruktion im Denken (GA 108\ 244): „Dieses Bewegen in reinen Begriffen nennt man nun im Sinne des großen Philosophen Hegel die ,dialektische Methode, wobei der Mensch nur in Begriffen lebt und sich fähig macht, einen Begriff aus dem anderen hervorgehen, gleichsam hervorwachsen zu lassen." (GA 108\245). Noch mal sehr explizit über die Metapher des ,Wachsens` der Begriffe: „Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel enthält die ganze Pflanze [ ... ] . So steckt in jedem Begriff etwas drin, was aus ihm herauswachsen kann" (GA 108\248) .

Entwicklung ist für Hegel charakteristisch für den Begriff11' Die Analogie des Wachstums liegt somit nahe. In der Art, wie Steiner nun die dialektische Methode nach dem Vorbild Hegels bei der Entwicklung der Kategorien ,Sein`, ,Nichts`, ,Werden`, ,Dasein`, ,Wesen`, ,Erscheinung` usw. anwendet, zeigen sich doch Unterschiede zu Hegel und Fischer. Es seien zum Vergleich hier einige Schritte skizziert.

Den Anfang macht Steiner mit dem einfachsten Begriff, der notwendig den gerings-ten Inhalt und den größten Umfang haben muss (nach dem Gesetz der Reziprozität von Inhalt und Umfang; GA 108\247). Es ist der Begriff des Seins. Nur der erfüllt das aufgestellte Kriterium (ist dieses Kriterium). Steiner introduziert den ersten Begriff also anhand der formalen Logik (Lehre vom Begriff). Im nächsten Schritt behauptet er, dass unter den größten Umfang alles Mögliche fällt, also auch das Gegenteil des Seins: das Nichts (GA 108\248). Das Nichts sei ein realer Faktor in der Welt, also im Sein. Etwas entsteht aus seinem Nichtsein, wie zum Beispiel jemand dadurch, dass ihm zwei Menschen gegenübertreten, einen neuen Begriff über das Verhältnis beider fasst. Dieser Begriff ist nicht notwendigerweise veranlagt in einem der zwei Menschen. Ebensowenig braucht der Anlass immanent in der denkenden Person zu finden zu sein. Ein solcher Begriff kann aber ein realer Faktor werden, der fortwirkt (GA 108\249) .118

Dieser Nachweis des Nichts ist ein empirischer Einschub in der Dialektik. Die These ist jedoch nicht: Sein und Nichts sind gleich, sondern: Das Sein schließt das Nichts mit ein, ist mithin das Nichts. Das ,Werden` wird gefunden durch die Verbindung von ,Sein` und ,Nichts`, den reicheren Begriff ihres fortwährenden Übergangs. Das Starrwerden des Werdens ist ,Dasein`. Dasein ist abgeschlossenes Werden (GA 108\250).

117 „Das Fortgehen des Begriffs ist nicht mehr Übergehen noch Scheinen in Anderes, sondern Entwicklung", ENZ § 161.

n8 Es wird im Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff im Kapitel IV noch darauf zurückzukommen sein. Bekanntlich hat Kant die Hypostasierung des Nichts bestritten ( Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen). Mit dem realen Widerspruch wird auch die Realität der Negation gesetzt. Steiners Aperçu gleicht aber vor allem jener ,conception phenomenologique du néant` von Sartre. Durch das Bewusstsein kommt das Nichts real in die Welt (meine Feststellung der Abwesenheit meines Freundes kann unmittelbar reale Effekte meines Handelns nach sich ziehen; vgl. L'être et le néant, Paris 1949, 18. Aufl., S. 44-45 und 52ff.).

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IDEEN ZUR LOGIK 203

Jetzt, sagt Steiner, könnte man aus dem Begriff ,Dasein` wieder „alle möglichen Begriffe heraussprießen lassen" (GA 108\25o), oder auch in anderer Weise vorgehen (GA 108\251). Er überspringt ferner Hegels Logik des Seins und geht weiter mit der Logik des Wesens, denn „das ,Sein` läßt sich nach zwei Seiten herauswachsen" (GA 108\251). Das Dasein ist offensichtlich eine Entwicklung in eine Richtung, während es auch noch eine andere, entgegengesetzte gibt: „Es ist etwas da, was vor dem Hineinschießen des Seins in die Realität schon da ist" (GA 108\251). Dies ist „der reine Gedanke des Seins" (GA 108\251), dadurch wird es „in sich selbst Inhalt", ist es „das in sich aufgehaltene Sein, das sich selber durchdringende Sein", „im Inneren arbeitende Sein" oder „das überhaupt durch Arbeit sich erhärtende Sein" (GA 1o8\251). So gliedert das ,Wesen`

sich „unmittelbar" an das ,Sein` an. Das Gegenteil des Wesens ist die Erscheinung. Beide sind „kontradiktorisch", und

„es ist in gewisser Beziehung ein Widerspruch zwischen innerer und äußerer Erschei-nung" (GA 108\252), so streift Steiner den Widerspruch im Prozess. Die Verbindung von ,Wesen` und ,Erscheinung`, wenn das Wesen in die Erscheinung „überfließt" und in ihr enthalten ist, stellt die „Wirklichkeit" dar (GA 1o8\252).

Eine letzte Stufe resultiert daraus, dass das Sein nicht nur zu sich selber kommt und sich manifestiert (Wesen), „sondern auch noch etwas anderes auszudrücken versucht" (GA 1o8\252). In dem Begriff haben wir noch anderes als ihn selber: „Er umspannt die Außenwelt". In sich selber „waltet" der Begriff, subjektiv, in der logisch-formalen Schlussfigur (GA 108\253). Gibt er uns die Natur der Dinge wieder, so haben wir „objektive Begriffe" (GA 1o8\253). ,Begriff und ,Objektivität` verhalten sich wie ,Wesen und Erscheinung` und ,Sein und Nichts'. Die Verbindung ist diesmal ,die Idee` (GA 108\254). Auch viele andere Begriffe hätte man entwickeln können, sagt Steiner, aber diese zehn Begriffe reichen als „ein kleines Beispiel" (GA 1o8\254)

Hegel fängt seine WDL an mit dem Willen, das Denken als solches zu betrachten (wDL I\68), ohne jede Voraussetzung, also mit dem Denken als Unmittelbarkeit oder mit der Unmittelbarkeit selber als Begriff (wDL I\68), dem leeren Denken des Seins. Steiner fasst den Anfang schon objektiv aus dem ganzen Bereich der Begriffe, wo er anhand eines formales Kriteriums (ärmster Inhalt, größter Umfang) den Begriff des Seins auffindet. Für Hegels Dialektik führt das Sein in das Nichts über. Beides sind das Gleiche. Deshalb ist nicht nur Werden, sondern hebt noch das Werden sich auf: ,Dasein`. Steiner erwähnt diese Bewegung nicht. Das Sein umfasst nur auch das Nichts. Es ist die These aus dem Dialog Sophistes von Platon, der Vatermord an Parmenides,119 die Anerkennung des

Sokrates: das Nichtssein ist. Das Werden ist gleichsam eine Zusammenstellung von Sein und Nichts, wie das später der Fall sein wird bei der Wirklichkeit als Vereinigung von Wesen und Erscheinung und der Idee als Einheit von Begriff und Objektivität. Die Notwendigkeit der zugrunde liegenden Bewegung eruiert Steiner nicht. Wegen Zeitmangel im Vortrag, oder muss sie vielleicht für sich sprechen? Das Wesen wird

119 Platon, Sophistes 241 d.

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204 KAPITEL V

ferner nicht wie bei Hegel aus dem ,Maß` und der Seinslogik entwickelt, sondern schon mit Hilfe einiger weiterer Bestimmungen der Reflexionslogik, mit denen er zurückkehrt zum reinen Sein und in ihm eine neue Dimension aufschließt. Steiner operiert ontologisch: An das Sein gliedert sich realiter der Begriff des Wesens an. Inneres und Äußeres, Gedanke und Wille, werden dabei vorausgesetzt, obwohl sie als Kategorien im dialektischen Prozess bei Hegel noch weit hinter dem Horizont verborgen sind.

Zuletzt ist der Begriff bei Hegel das Freieste. Er hat sich als Einheit von Sein und Reflexion von der Notwendigkeit der Substanz befreit, weil er an und für sich seiende (Sein) Identität (Reflexion) ist. Er ist einfache Beziehung auf sich (wDL II\251). Die vielfachen Naturgattungen sind dagegen nicht viel mehr als nichtige, willkürliche Einfälle des Geistes in seinen Vorstellungen (wDL II\282-283). Steiner fasst den Begriff dagegen als in unseres Denken hinübergenommes Wesen der Erscheinung, etwas, das in uns nach außen weist und die Außenwelt umspannt (GA 108\253) . Dies ist entweder von Hegels Reflexionslogik her gedacht, zu der das Subjekt jetzt hinzukommt, oder von der Idee her als Einheit der Subjektivität und Objektivität (erst das Resultat von Hegels Dialektik), und so das Gegenteil des Begriffs ,Begriff bei Hegel, als zum Subjekte befreite Substanz, als nur in sich scheinendes Wesen.

Kern seiner Logik ist bei Hegel die dialektische Methode, der Fortgang der einfachen Beziehung auf sich, dessen Negativität der Widerspruch „den Wendepunkt der Bewe-gung des Begriffes" ausmacht: „Sie ist der einfache Punkt der negativen Beziehung auf sich, der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dia-lektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat" (wDL II\563). Wir haben gesehen, dass Steiner den Widerspruch als reales Strukturelement im Werden anerkennt. Damit ist er noch nicht zum ideellen Mittelpunkt der ganzen Welt erhoben, auch nicht zum Motor der Dialektik. Wenn aber die Begriffe auseinander ,herauswachsen`, wird freilich dem Widerspruch sein Tribut zu zahlen sein, gleich wie in der Natur. Ob sie nicht Begleiter-scheinung ist, statt eigenmächtiger Quelle aller Bewegung, ist damit nicht ausgemacht. Steiner spricht von der „Kraft, die ihn forttreibt von Begriff zu Begriff [ ... ] [und] lässt den einen Begriff aus dem anderen hervorgehen. Diese Methode nennt man die dialek-tische Methode, die Methode des sich selbst bewegenden Begriffes" (GA 108\245). Was diese „Kraft" ist, erfahren wir nicht. Es hätte nahe gelegen, den Widerspruch zu erwäh-nen, wenn nur dieser gemeint wäre. Wir halten die Auslegung für wahrscheinlich, dass der gesamte Inhalt der Begriffe, also die vollbestimmte Negation des Widerspruchs, uns von dem einen zu den anderen führt. Die angeführte „Kraft" ist demnach der zur Ganzheit strebende Begriff selber („Selbstbewegung") .120

120 Hegels Theorie der ,autonomen Negation' soll nach D. Henrich auch nicht schlüssig sein (Hegels Logik der Reflexin, in: Hegel im Kntext, Frankfurt a. M. 1971, S. 145 ff. Vgl. ferner dessen Hegels Logik der Reflexin. Neue Fassung in den von Henrich herausgegeben Hegel-Studien, Beiheft 18, Bonn 1978, Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexin, S. 203-324. Wenn wir aber die WDL am besten von ihrem Schlussteil her interpretieren, ist von dem am Schluss eXplizierten Begriff her die einheitliche Dynamik in der WDL zu Verstehen (die dialektische Methode ist ein Syllogismus, in dem der Begriff

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IDEEN ZUR LOGIK 205

Es fällt ins Auge, dass Steiner die Dialektik als ,Konstruktion` reiner Begriffe prä-sentiert. ,Konstruktion` und ,Dialektik` sind geschichtlich different. Kant bestimmte ,Konstruktion` als die apriorische Darstellung einer dem Begriff korrespondierenden Anschauung (KDRV B 741). Entsprechend verwendete Schelling diesen Terminus in seinem Projekt der Konstruktion der intellektuellen Anschauung der Natur. Hegel distanzierte sich von dieser Terminologie.121 Vermutlich distanziert Steiner sich hier mit diesem Terminus wieder ein wenig von Hegels eigensinniger Sprache. Wir mei-nen, dass der eigentliche Unterschied zu Hegel auf einer anderen Wertung der Empirie beruht. Hegel fängt die Wissenschaft der Logik an mit dem leeren, wenn auch selbst-bewussten (also nicht ganz leeren) Denken. Anfang (Sein als leeres Denken), Mitte (,autonome Negation' in der Reflexionslogik) und Ende der Hegel'schen Logik („die höchste, zugeschärfteste Spitze": „die reine Persönlichkeit", deren Natur die absolute Dialektik ist; WDL II., 570), wie auch ihr Fortgang, sind bestimmt von der subjektiven Form des Begriffes, die Hegel in die abstrakte Subjektivität einlösen will. Hegel setzt die subjektive Form dem Inhalt der Logik gleich. In der Einleitung zur Logik heißt es, dass die reine Wissenschaft (die mit der Logik beginnt) die Befreiung von dem Gegensatze des Bewusstseins voraussetzt (Phänomenologie des Geistes): „Als Wissenschaft ist die Wahrheit das reine sich entwickelnde Selbstbewußtsein und hat die Gestalt des Selbsts" (WDL, I.\43).122 Dieser Begriff im selbstbewussten Ich ist nach Steiner aber zunächst eine subjektive Form, und diese Beschränkung haftet ihm dann auch an bis zum Ende der Logik.123 Steiners Version der Kategorienlehre setzt das Kennen der Welt voraus. Steiner meint ja, dass es ein Irrtum wäre zu glauben, „solche [allgemeinen] Ideen könn [t] en in der Vernunft auch ohne Erfahrung entstehen. Die Bekenner dieser Meinung bezeich-nen eine Summe von abstrakten Gattungsideen als Inhalt der reinen Vernunft, weil sie die Fäden nicht sehen, mit denen diese Ideen an die Erfahrung gebunden sind. Eine solche Täuschung ist am leichtesten bei den allgemeinsten, umfassendsten Ideen möglich. Da solche Ideen weite Gebiete der Wirklichkeit umspannen, so ist in ihnen manches ausgetilgt oder abgeblasst, was zu diesem Gebiete gehörigen Individualitäten zukommt. Man kann eine Anzahl solcher allgemeiner Ideen durch Überlieferung in sich aufnehmen und glauben, sie seien dem Menschen angeboren, oder man habe sie aus der reinen Vernunft herausgesponnen" (GA 6\59) . Ein solcher Bekenner ist schein-bar Hegel. Dessen WDL enthält für Steiner zuletzt doch noch zuviel ‚Abstraktion': „Also

sich auseinanderlegt und zusammenschließt; R. Schäfer, Die Dialektik und ihre besnderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen, Hamburg 2001, S. 291).

121 Hegel kritisiert die „leere Anwendung der Formel, die Konstruktion genannt” (PHDG 42), aber hat

dabei im Auge, dass Analogien getrieben werden mit sinnlichen Vorstellungen. 122 Vgl. Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn, 1976, hier S. 339. Düsing analy-

siert, dass Hegels Logik auf einer Theorie der Subjektivität gründet, die Hegel manchmal voraussetzt, um überhaupt die Argumentation des Übergangs von der einen Kategorie zur anderen konstruieren zu können.

123 Hegel erinnert am Ende der Logik daran, dass die logische Idee noch in der Subjektivität eingeschlossen

Ist (WDL II, S. 572).

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206 KAPITEL V

dasjenige, was Hegel zunächst in seinem Glauben erlebte von dieser Logik, das kann sie natürlich nicht sein; sie ist eine Summe von Ideen, die beginnt bei dem Sein, geht durch das Nichts zum Werden und so weiter, durch lauter solche Begriffe, und endet bei der ihren Zweck in sich selber tragenden Idee, also bei dem, was das gewöhnliche Bewusstsein auch noch eine Abstraktion nennt. Also gewiss, die Welt erschaffen aus solchen Ideen hätte man nicht können, und dasjenige, was lebendiger Geist ist, [ ...1 ist diese Logik auch nicht [...]. Man könnte nimmermehr die reiche Fülle der Welt irgendwie erfassen aus diesen Gedanken heraus".124 Eine dialektische Methode, die sich im reinen Denken bewegt, braucht sich dagegen das Begriffsmaterial der Erfahrung nicht zu versagen, wenn die Begriffe ihrem Wesen nach mit der Sphäre des anschaubar Individuellen zusammengehören (GA 6\58) .

Eine so verstandene ,dialektische Methode` deckt sich nicht ohne weiteres mit der Idee einer absoluten Dialektik, wie Hegel sie zu rechtfertigen unternommen hat,125

kann aber durchaus mit der Entwicklung der Kategorien, mit Hegels Resultat, über-einstimmen. Sie wird von Steiner eine ,Metamorphose der Ideen` genannt (GA 6\206):

„Hegel verfolgt die Metamorphosen der Idee von dem abstrakten Sein bis zu der Stufe, in der die Idee unmittelbar wirkliche Erscheinung wird" (GA 6\206). Das Prinzip der Identität und gesetzmäßigen Variation bis zur vollständigen Reihebildung, kurz eine Morphologie, findet auch auf dem höchsten Niveau eine entsprechende Anwendung. Eine rein ,negative Dialektik' der subjektiven Form (die Form ist unmittelbar der Inhalt) ist dagegen für Steiner scheinbar nur ihre Abstraktion von der Wirklichkeit.

A forteriori unterscheidet sich die Methode von Steiners Kategorienlehre von derjenigen Fischers, die dazumal als eine ernst zu nehmende Revision der WDL auftrat. Fischers Kategorienlehre steht noch einen Grad tiefer in der abstrakten Subjektivität als Hegel. Er setzt zwar das Identitätsprinzip von Denken und Sein voran,126 aber der Erzeugungsprozess der Begriffe ist eine „fortschreitende und zunehmende Bildung, in welcher jeder Begriff eine notwendige Denkform und zugleich ein notwendiges Denkproblem ausmacht, das zu seiner Auflösung einen neuen und höheren Begriff fordert".127 Subjektive Denkprobleme und inhaltliche Bestimmungen sollten ein und dasselbe sein. Damit hat Kuno Fischer die Dialektik noch enger an die Subjektivität gebunden.

124 Das Ewige in der Hegelschen Logik und ihr Gegenbild im Marxismus, Dornach 1958, S. n. 125 Auch Stanley Rosens Analyse der WDL (G. W.F. Hegel, An Introductin to the Science of Wisdom, New

HaVen and London, 1974) kulminiert unter dem Titel „Hegel and Intellectual Intuitin" in einer kritik, in den er behauptet, die Entwicklung der Form solle bei Hegel auf Kosten der Intuition durch den diskursiVen Intellekt allein begriffen werden. Das führt zu dem unanflösbaren Widerspruch, dass das Aktuelle entstanden ist durch den Diskurs, der aber nur nach der Präsenz des Aktuellen (in einer Intuition) möglich ist (S. 273). Der Fehler dabei ist die Verwerfung der intellektuellen Intuition (S. 277). Das heißt aber doch nichts anderes als: Das Denken bleibt belastet mit der Vorausgesetzten Subjektivität der begrifflichen Form, der Abstraktion.

126 System der Logik, S. 165. 127 A. a. O., S. 169.

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IDEEN ZUR LOGIK 207

Greifen wir zurück auf Steiners grundlegende Bestimmung der Aufgabe der Logik:

Sie soll Beschreibung der Formen des Denkens sein. Ist diese dialektische Entwicklung

noch Beschreibung zu nennen? Nur in dem Sinn, dass sie Darstellung dieser Kategorien

in ihrer Entwicklung beinhaltet, die auf ihren eigenen Gesetzen beruht. Die Dialektik

ist insofern nicht im Widerstreit mit dem allgemeineren Konzept der Logik. Eine

Konstruktion wie diese Kategorienlehre könnte man anders doch schwerlich eine

empirische Wissenschaft nennen. Sie ist aber gleichzeitig Begriff, Konstruktion und

Darstellung des Begriffs. Diese logische Kategorienlehre ist zugleich Ontologie und

hat sich im vorigen Kapitel schon als konstitutiv für das Naturerkennen erwiesen. Im

nächsten Kapitel wird die Bedeutung der Dialektik in ihrer Anwendung noch weiter zu

untersuchen sein. Zum Schluss fassen wir die behandelten Auseinandersetzungen in einer Tabelle

zusammen:

Kant

Hegel

K. Fischer

Übereinstimmung Steiners

Logik der reinen Formen

dialektische Kategorienlehre (wDL) und Anerkennung der Wirklichkeit des Widerspruchs: ideelle Metamorphosenlehre

Hegels Kategorienlehre

Steiners Dissensus:

intellektuelle Anschauung der Begriffe (Intuition)

Überwindung der Subjektivität der Begriffsform durch Rekurs auf die Erfahrung (Goetheanismus)

Realismus

Trendelenbrug Realismus einer inhaltlichen Logik Anerkennung der Dialektik

Mill Empirismus intuitive statt komparative Induktion

Sigwart Kritik an Mills Induktion Ablehnung des Psychologismus

Volkelt Intuitionismus Ablehnung des Psychologismus

Wundt Kritik am Induktionsverfahren Ablehnung des Psychologismus

Husserl (hier liegen keine Äußerungen Steiners über Husserl vor)

Ablehnung des Psychologismus, Technik der eidetischen Variation

Realgesetze des Denkens sind den Idealgesetzen untergeordnet; eidetische Variation nicht konstitutiv für die Gattung

Das unterschiedliche Verhältnis von Steiner zu den Anderen wird einsichtlicher werden,

nachdem wir Steiners philosophische Systematik behandelt haben in Kapitel x.

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KAPITEL VI

Das Paradigma der Mathematik

§ 6.1. Einleitung

Zwischen der rein qualitativen Phänomenologie Goethes und der reinen Logik situiert sich die Mathematik. Bemerkenswert ist, dass Steiner in seiner Darstellung von Hegels WDL die ,Quantität` und das ,Maß` unerwähnt gelassen hat, als ob sie von minderer Bedeutung wären. Nun hat Steiner gerade die Mathematik nicht gering geschätzt. Die mathematische Naturbetrachtung ist nicht allein notwendiges Komplement einer phänomenal-qualitativen Betrachtungsart, sie hat darüber hinaus noch eine wichtige philosophische Bedeutung.

Steiners Kritik am Atomismus impliziert nicht eine Verwerfung der mathemati-schen Naturwissenschaft. Steiner denkt sich den Goetheanismus eher als eine Erwei-terung derselben. Goethe soll ein am Vorbild Spinozas erlerntes, ,metamorphosier-tes Mathematisieren` in seiner ,Phänomenologie, namentlich in seiner Farbenlehre, gehandhabt haben (GA 322\45) . Steiner wollte den Goetheanismus zu einer exakten ,qualitativen Mathematik` erweitern (GA 324\67). Sollte Steiner dabei an die axioma-tisch-deduktive Methode des Mathematisierens gedacht haben, dann trifft der Ver-gleich nur mangelhaft zu, wie wir in § 4.3.2 gesehen haben. Er strebte aber auch noch eine andere Art qualitativer Mathematik an. Die klassische mathematische Naturwis-senschaft, ausgehend von Newton, stand Goethes Ansichten scheinbar unversöhnlich gegenüber. Steiner grenzt beide Gebiete voneinander ab: „Die Mathematik abstrahiert die Größe und die Zahl von den Dingen, stellt die ganz ideellen Bezüge zwischen Größen und Zahlen her und schwebt so in einer reinen Gedankenwelt. [ ... ] Die Natur ist eben nicht bloß Quantum; sie ist auch Quale, und die Mathematik hat es nur mit dem ersteren zu tun" (GA 1\24o). Wenn Quale und Quantum beide zur Natur gehören, wird es eine Synthese geben müssen zwischen der mathematischen und der Goethe'schen Naturwis-senschaft: „Es müssen sich die mathematische Behandlung und die rein auf das Qua-litative ausgehende in die Hände arbeiten" (GA 1\240) . Die Synthese der Goethe'schen und der rein quantitativen Naturwissenschaft wäre von vornherein auf zweierlei Weise zu erreichen. Einmal durch eine komplementäre Strategie: „Sie werden sich am Dinge, von dem sie jede eine Seite erfassen, begegnen" (GA 1\24o). Zweitens dadurch, dass man das Qualitative im Quantitativen, im Mathematischen, aufdeckt und zur Erfassung der anderen Qualitäten anwendet. Das Mathematische ist dann dem Qualitativen nicht länger antithetisch nebengeordnet. Hier wäre die Mathematik selber zuerst in eine

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210 KAPITEL VI

dem Goetheanismus entsprechende Form zu bringen. Die Metrik, die zwar unseren Beherrschungstrieb in der Technik außerordentlich befriedigt, aber zu den Qualitäten keinen Zugang erlaubt (GA 324a\169-171), hätte dabei freilich zurückzutreten.1

Die Mathematik war andererseits von Anfang an eine wichtige Stütze von Steiners philosophischen Ansichten. Die mathematische Erfassung der Natur ist für Steiner nicht weniger als eine Propädeutik zum Idealismus. Er ist sich anhand der Mathe-matik bewusst geworden, wie wir rein im Geiste scheinbar selber etwas erzeugen, das trotzdem eine von uns ganz unabhängige Bedeutung hat (GA 28\20) . Die Mathematik wurde paradigmatisch für das wissenschaftliche Wissen überhaupt: „Die Mathematik behielt für mich ihre Bedeutung auch als Grundlage meines ganzen Erkenntnisstre-bens" (GA 28\163). In welchem Sinne das der Fall war, werden wir in diesem Kapitel weiter untersuchen. Zur Interpretation setzen wir dabei eine Kontinuität von Ansich-ten voraus, die wir aber nur durch späte Quellen belegen können. Die intensive frühe Beschäftigung mit der Mathematik und die sonst nachzuweisende Konstanz der Auf-fassung Steiners führen wir zur Rechtfertigung dazu an.

Zuerst werden wir uns umsehen nach der mathematischen Ausbildung Steiners, um den Horizont seiner mathematischen Kenntnisse einigermaßen zu bestimmen (§ 6.2). Dann werden wir das Prinzip der mathematischen Abstraktion in Beziehung setzen zu ,Goethes Raumbegriff, Steiners Abstraktionstheorie und das Thema der Begriffs-bildung im Mathematischen berühren, damit sein paradigmatischer Wert erkenntlich wird (§ 6.3) . Im Besondern sind die mathematischen Begriffsbildungen des Unendlich-Kleinen und Unendlich-Großen geeignet, den Schritt ins Ideelle zu markieren (§ 6.4 und § 6.5). Es zeigt sich dabei, dass die freie Begriffsbildung sich nicht von jeder Erfahrung zu emanzipieren habe (Mannigfaltigkeitslehre und transfinite Zahlen). Das Unendlich-Ferne der projektiven Geometrie ist für Steiner ein solcher Begriff, der zugleich ideell und erfahrungsgemäß sein soll (§ 6.5) . Diese allgemeine Geometrie

1 Wir interpretieren hier ,Qualität` als dasjenige, was nicht unmittelbar mit der Größe (dem Mehr oder Weniger) zu tun hat. R. Ziegler hat in Mathematik und Geisteswissenschaft. Mathematische Einführung in die Philosophie als Geisteswissenschaft in Anknüpfung an Plato, Cusanus, Goethe, Hegel und Steiner, Dornach 1992, (die ausführlichste Studie zum Thema bei Steiner) behauptet, die mathematischen Gesetze erfassten als solche immer die Qualitäten der mathematischen Gegenstände (etwa die Kon-stanz des Abstandes Von Mittelpunkt und Peripherie im Kreise ist dessen Bestimmung, oder etwa die Bestimmung Von 17, dass sie eine Primzahl sei). Diese Bestimmungen lassen ja kein ,Mehr 0der Weniger' zu und sind mithin keine direkten quantitatiVen Bestimmungen (a. a. O., S. 179). Insofern hat die Mathematik fast gar nichts mit dem QuantitatiVen zu tun, sondern nur mit dem Qualitativen des QuantitatiVen. Denn von den Elementarlehren der Arithmetik und Geometrie zur höheren Algebra, Funktionenlehre, Topologie usw. interessiert sie nicht das Mehr oder Weniger der variablen Werte, son-dern die invariablen Gesetzmäßigkeiten. Daneben gibt es noch ein ,Qualitatives` im Mathematischen. Dazu Ziegler in den §§ VII-7 und XI-7: Das QualitatiVe kommt zu den rein formalen (,quantitativen`) Strukturgesetzen der Mathematik hinzu durch ihre anschauliche Deutung (a. a. O., S. 168-170). Da ist eine zusätzliche qualitative Betrachtungsweise erforderlich, die sich an der Bewegung orientiert (a. a. O., S. 125-128). Die Entwicklung der geometrischen Figuren hat ihre eigene ,Qualität` (a. a. O., S. 170), so bei der Entwicklung Von Cassinischen Kurven (§ XI-2: Qualitativ-geometrische Eigenschaften Cassinischer Kurven, V. a. S. 259). Siehe ferner unten § 6.5.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 211

bewahrt einen anschaulichen Raumbegriff und erlaubt es, das bewegliche Qualita-tive in die mathematische Form hineinzubringen, womit das Metamorphosenprinzip und der Polaritätsgedanke in die Mathematik eingeführt werden können. Eine solche Mathematik kann Steiner nun anwenden zur Erweiterung von Goethes naturwissen-schaftlichen Ansichten in die Richtung der moderneren exakten Naturwissenschaft. Das Bindeglied ist eine projektive Dynamik (§ 6.6). Steiners Raumbegriff wird sich als ein dialektischer erweisen, da die Dimensionen des Raumes als polar-dynamische Struktur zu fassen sind (§ 6.7) . Auch in diesem Kapitel wird sich mithin eine Verwandtschaft Steiners mit Hegel herausstellen.

§ 6.2. Steiners mathematische Ausbildung

Nicht nur hatte der junge Steiner in der Volksschule am Pythagoreischen Lehrsatz ,zum ersten mal das Glück erkannt`, auch in der Realschule war der Mathematiklehrer wohl nicht umsonst von den Lehrern der meistgeliebte und das geometrische Zeichnen mit Zirkel, Lineal und Dreieck die Lieblingsbeschäftigung des Schülers (GA 28\37). An der Technischen Hochschule dachte er sich zum Mathematiklehrer für die Realschule ausbilden zu lassen. Von der Mathematik ging das berufliche Interesse aber allmählich über zur Philosophie.

Steiner begnügte sich nicht mit den Vorlesungen über Mathematik an der Techni-schen Hochschule. Manchen Vortrag konnte er auslassen, da er durch Selbststudium schon eingeführt war in die Differential- und Integralrechnung. Er hörte stattdessen mehrere Vorlesungen an der Universität, zum Beispiel eine Reihe von Leo Köningsber-ger, Ordinarius für Mathematik, über elliptische Funktionenlehre.2 Er bildete sich u. a. die Meinung, es könne doch hyperkomplexe Zahlen geben, was Köningsberger wegen des Auftretens von Nullteilern verneinte.3

Steiner hatte um 1887 in Wien die persönliche Bekanntschaft gemacht mit dem Mathematiker Oskar Simony (1852-1915, Professor der Physik und Mathematik an der Wiener Hochschule für Bodenkultur). Dieser beschäftigte sich unter anderem mit Topologie und der Widerlegung der Hypothese, der Raum habe mehr als drei Dimen-sionen. Simony widerlegte dabei Johann Karl Friedrich Zöllners (1834-1882) spiritisti-sche Ansicht, der Raum habe eine vierte Dimension, während die sämtlichen dreidi-

2 Vgl. GA 174b\192, wo Steiner diese Vorlesungen erwähnt. Die publizierten Vorlesungen Köningsbergers sind in der nachgelassenen Bibliothek Steiners vorhanden (GA Beiträge 114-115\106). Von der Interesse für dieses Kapitel der Mathematik zeugen ferner ein EXemplar des Sitzungsberichtes der preuß. Akad. d.

Wiss. v0n L. Kronecker Zur Theorie der elliptischen Functinen (Berlin 1890) und das Buch Theorie

der elliptischen Functinen, Leipzig 1878, Von H. Durège im Nachlass Steiners (GA Beiträge 114-115\106).

3 Die hyperkompleXen Zahlen haben bekanntlich doch Eingang gefunden u. a. durch die Quaternionen von R.W. Hamilton (1843) und die Ausdehnungslehre von H. Graßmann (1844). Sie wurden anfänglich nur wenig beachtet und erst im 20. Jh. in der Algebra geläufig. Vgl. Edna E. Kramer, The Nature and Growth of Modern Mathematics, Princeton 1982, S. 71 ff. und 673.

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212 KAPITEL VI

mensionalen Gegenstände nur Projektionen von Gegenständen der vierten Dimension seien. Simony stellte ferner topologische Experimente zur Erforschung des empirischen Raumes an.4 Die diesbezüglichen Schriften Simonys finden sich in Steiners Nachlass.' Zu der Zeit schrieb Steiner den Aufsatz Goethe als Denker und Forscher (GA 1\258 ff.), in dem er aus erkenntnistheoretisch-logischen Gründen konkludiert: „Daher kann der Raum nur drei Dimensionen haben" (GA 1\292; siehe dazu oben § 4.2.9). Er stellt sich implizit auf die Seite Simonys in der damals allgemein aufgekommenen Diskussion über die vierte Dimension. Der Raum hat nur drei Dimensionen, das bedeutet eine Ablehnung der vierten (an andere konkrete Möglichkeiten dachte man damals wohl nicht) . Simony schenkte Steiner mit persönlicher Widmung ein Exemplar seiner Schrift Über zwei universelle Verallgemeinerungen der algebraischen Grundoperationen (Wien, 1885). Die Arbeit handelt vom System hyperkomplexer Zahlen und u. a. auch vom oben erwähnten Problem der Nullteiler.

Gebiete, die Steiner besonderes interessierten, waren offensichtlich die analytische und synthetische Geometrie und die Funktionentheorie. So gibt es zur Letzteren Publi-kationen im Nachlass über die Bessel'schen Funktionen (lineare Differentialgleichungen über komplexe Zahlen).6 Seine Lektüre galt nicht lediglich den Handbüchern. Neben vielen Lehrbüchern und allgemeinen Darstellungen zur Zahlentheorie, Geometrie, Analysis und Funktionenlehre hatte er von mehreren bedeutenden Mathematikern Texte: von J.B. Biot (1774-1862), B. Bolzano (1781-1848), E. Borel (1871-1956), G. Can-tor (1845-1918), W.K. Clifford (1845-1879), E. Dühring (1833-1921), F. Klein (1849-1925), H. Poincaré (1854-1912) und J.A. Schouten (1883-1971), neben den erwähnten Publikationen von Kronecker (1823-1891).' Ferner besaß er einiges zur Geschichte der Mathematik und biografisches Material zu Pythagoras, Archimedes, Galilei, Euler (1707-1783), W. und J. Bolyai (1775-1856 bzw. 1802-1860), Lagrange (1736-1813), Clif-ford und Boole (1805-1864).8 Man darf annehmen, dass Steiner bewandert war in den mathematischen Grundlehren und sich ferner einige spezifische Kenntnisse der höhe-ren Mathematik erworben hatte. Während der mündlichen Prüfung zur Promotion wurde er im Nebenfach Mathematik examiniert und geprüft auf seine Kenntnisse der Grundlagen der Differential- und Integralrechnung und der Geometrie der Kegel-schnitte.9

4 Siehe dazu die Anmerkungen R. Zieglers in GA 324a, S. 232-236. 5 GA Beiträge 114-115\116-117, die Hinweise Von R. Ziegler in GA 234a\235-236 und dessen Rudolf Steiner

und der mehrdimensinalen Raum, in: GA Beiträge 114-115\2-7. 6 Es sind: L. Gegenbauer, Über die Bessel'schen Functionen, in: Sitzungsberichte der K. Ak. der Wiss. in

Wien, Bd. 88, II. Abt., NoV. 1883, E. Lommel, Studien über die Bessel'schen Funktinen, Leipzig 1868, und C. Neumann, Theorie der Bessel'schen Functinen. Ein Analogn zur Theorie der Kugelfunctinen, Leipzig 1867; GA Beiträge 114-115\l00, 107 und 111.

7 GA Beiträge 114-115\89-121. 8 GA Beiträge 114-115\122. Die geschichtlichen Werke und Aufsätze handeln von der ägyptischen, griechi-

schen, indischen und neueren Mathematik (ab 1700). 9 So das Protokoll Vom 23. Oktober 1891, in: Rudolf Steiner Studien, Bd. V, S. 202.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 213

Besonders die algebraischen Fragen über höhere Zahlenarten (imaginäre und über-imaginäre) haben Steiner noch lange interessiert. Auch das Problem der Nullteiler wurde später noch erwähnt,10 und Simony wurde noch einige Male in Vorträgen ange-führt.11 Man spürt, dass Steiner sich noch gerne mit diesen mathematischen Themen beschäftigt hätte, doch er kam nach seiner Wiener Zeit nicht mehr dazu.12 Die neuere Axiomatik von D. Hilbert (1862-1943) in der Geometrie und von G. Peano (1852-1938) in der Arithmetik, die Grundlagenforschung (Logistik) von Frege und Russell, die neueren Integrationstheorien von Lebesque (1875-1941) und die abstraktere Alge-bra von E. Steinitz (1871-1928) und Emmy Noether (1882-1935) gehören überwiegend einer neuen Epoche des 20. Jahrhunderts an, deren Entwicklung Steiner nicht mehr nachweisbar verfolgt hat. Den rigoroseren Aufbau der Mathematik hat er also, wenn überhaupt, nur noch sehr beschränkt zur Kenntnis genommen. Von den Tendenzen der Arithmetisierung und Formalisierung der Mathematik, die am Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts überhand nehmen sollten, finden wir bei Steiner kaum eine Spur.

§ 6.3. Mathematik und Abstraktionstheorie

Im Rückblick auf seine Studien an der Hochschule hieß es über den Wert der Mathe-matik, über die geläufigen philosophischen Deutungen jedenfalls: „Daher konnte auch der, welcher zum Beispiel seine naturwissenschaftlich theoretischen Studien etwa in der theoretischen Physik und Chemie gegen das Ende des 19. Jahrhunderts machte, so sehr das Gefühl haben: an den Mathematikern liegt es nicht. [ ... ] Soweit man rein innerhalb des Mathematischen bleibt, fühlt man überall Sicherheit. Sobald man zur philosophischen Charakteristik dessen kommt, was man eigentlich berechnet, ist der Boden überall schwankend" (GA 125\78).13 Wir werden nun diese Charakteristik des Mathematischen bei Steiner hinterfragen.

Wichtig war für Steiner vor allem die Mathematik als Erziehungsmittel zum sinn-lichkeitsfreien Denken, wie es Platon gefordert hatte (Politeia 525 a-527 c) . Platon soll die Forderung, sich in der Geometrie auszukennen, über die Tür des Lehrsaals seiner Akademie geschrieben haben.14 Die Mathematik gewöhnt einen daran, das Denken

10 Steiner weist einmal hin auf das Problematische der Induktion, aus den algebraischen Grundgesetzen der reellen Zahlen (Kommutation, Assoziation, Distribution; das Nullelement ist kein Produkt anderer Zahlen) für höhere Zahlenarten das Verbot der Nullteiler zu postulieren: GA 176 \87-93.

11 GA 324a\ 23, 129 und 166.

12 Es sollte 1920 „schon eine lange Zeit her" sein, dass er „die Fortschritte der formalen Mathematik verfolgen konnte" (GA 324a\154-155).

13 So empfand noch um 1890 der junge Husserl, als er sich daran setzte „wenigstens in einigen Grundpunk-ten der wahren Philosophie des Kalküls, diesem Desiderat Von Jahrhunderten, den Weg zu bahnen": Husserl, Philosophie der Arithmetik. Logische und psychologische Studien, Husserliana, Bd. Xu, Den Haag

1970, S. 7 und S. 369-373. Das Gefühl der Unsicherheit trieb dann im 20. Jahrhundert zum rigoroseren Aufbau der Mathematik in allen Zweigen.

14 Zu diesem locus bei Steiner siehe Ziegler (1992), S. 32-47 und 212-218.

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214 KAPITEL VI

aus der natürlichen Einstellung auf die Sinne zur reinen Idee zu erheben, denn „die mathematischen Gebilde schweben an der Grenze zwischen der sinnlichen und der rein geistigen Welt" (GA 35\8). Dessen ungeachtet hat die Mathematik für Steiner eine phänomenale Basis (vgl. §3.3.9). Steiner beschreibt in seiner Erörterung des Goe-the'schen Raumbegriffes eine stufenweise Erhebung von der Sinneserfahrung zur Idee (des Raumes) (vgl. § 4.2.9).

Steiner setzt nach seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen voraus: Die be-griffliche Einheit, die wir in der Erfahrung herstellen, ist den Objekten nicht äußerlich, sondern entspricht im Prinzip ihrer inneren Wesenheit (GA 1\288) . Der Raum ist nur ihre einfachste und „alleräußerlichste" (GA 1\288) oder „allerallgemeinste Beziehung" der Dinge selbst (GA 1\290). Setzen wir zwei „einfache Elemente der Erscheinungswelt" voraus: „z. B. zwei leuchtende Punkte" (sagen wir A und B), von deren besonderen Qualitäten wir jetzt absehen und die zugleich wahrgenommen werden (GA 1\289) . Wenn A und B nicht ,jedes eine Welt für sich ist`, gehören sie einer Gemeinsamkeit an: dem Raume; „dies ist der Sinn des Nebeneinander" (GA 1\291). A ist neben B (Beziehung a). Gesetzt, es gibt noch andere leuchtende Punkte, c und D, dann ist auch c neben D (Beziehung b). Werden a und b aufeinander bezogen, dann ergibt sich eine Beziehung von Beziehungen. Die Identität der Beziehungen ist drittens die vorausgesetzte Gemeinsamkeit:" der Raum (GA 1\291-292). Gibt es neben diesem Raum als Verhältnis von A, B, C usw. noch einen absoluten Raum, „eine absolute Ortsbestimmung"? (GA 1\294). Steiner verneint es. Ein ganz bestimmtes ,Da` ist jeweils nur möglich in Beziehung auf ein benachbartes Objekt (GA 1\294). Es gibt also nicht den absoluten Raum.16

Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur Akzeptanz der allgemeinen Relativität von Bewegung, wie Steiner Einsteins Relativitätstheorie darstellt: „Für sie ist die Entfernung zweier Dinge etwas, das diesen Dingen selbst zugehört. [ ... ] Die Geometrie wird ein Teil der Physik. [ ... ] Kein Ding hat irgendeinen Ort im Raume, sondern nur Entfer-nungen im Verhältnis zu anderen Dingen. Ein gleiches wird für die Zeit angenommen" (GA 18 \590-591). Wenn dies ihr Prinzip sei, so hat Steiner sich schon im Voraus zu ihr bekannt. Auch die Streichung des Begriffs der Gleichzeitigkeit als physisch nicht verifizierbar hat sein Pendant in Steiners Voraussetzung, dass es zur Raumesbeziehung mindestens zwei durch ein Wahrnehmungsorgan zusammen wahrgenommene Elemente (Dinge) gibt (GA 1\289). Nicht das absolute simultane Bestehen zweier Elemente (Dinge) im Raum, sondern nur ihre gleichzeitige Wahrnehmbarkeit an einem zu ihnen relativen

15 Steiners ungeschickte Symbolisierung bringt diese Identität nicht zum Ausdruck. Anders wenn wir ,A neben B` symbolisieren würden als ,aNb` und dementsprechend C neben D als ,cNd` (nach elementarer Relationslogik). Dann würde sich ergeben die symbolische Identität der Relationen, da beides (durch a, b, c und d) IndiVidualisierungen sind Von einer allgemeinen Relation ,XNy`.

16 Steiner scheint hier dem damals bekannten Gedanken zur RelatiVität der Raumesbeziehungen von Ernst Mach beizupflichten.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 215

Ort bildet den Ausgangspunkt der Raumvorstellung:'' „Der Relativitätstheorie für die physische Welt wird man nicht entkommen" (GA 18\592).18

Die Ausdehnung kommt also den phänomenalen Dingen selber zu. Sie wird als etwas rein Ideelles erfasst in der Abstraktion. Wollen wir die übrigen Abstraktionen der Mathematik für sich ins Auge fassen, so hätten wir sie gleicherweise zu abstrahieren aus ihren konkreten Anwendungen im Zählen und Messen. Das leistet die Abstrakti-onstheorie mühelos: Die Zahl ist das Identische im Zählen, wie die variable Größe im Messen. Sind nun aber die höheren mathematischen Strukturen gleichfalls durch die Abstraktion zu bilden?

Ein Mitarbeiter Steiners, der Mathematiker Dr. Ernst Blümel, hat 1920 versucht, die drei Schritte von dessen Abstraktionstheorie (1. Dimension: Beziehung von Wahrge-nommenem, 2. Dimension: Beziehung dieser konkreten Beziehungen, 3. Dimension: ideelle Identität der Beziehungen) in der Tat auszudehnen auf den weiteren Aufbau der mathematischen Gebilde. Die drei Stufen mathematischer Gebilde sind dementspre-chend:

1. mathematische Objekte wie Zahlen (L), Punkte (y), Vektoren (A) als Gegebenheiten: Sie sind dabei an sich schon Beziehungen im Konkreten;

2. ihre Relationen: mathematische Operationen (Funktionen) und geometische Transformationen; entsprechend den Vorstellungen: die konkreten Beziehungen aufeinander bezogen (die algebraischen Operationen oder die Abbildungen VxV, VxL oder VxA usw.);

3. die Relationen dieser Relationen: Gesetzmäßigkeiten der Transformationen aus der Gruppen- und Invariantentheorie19 (entsprechend der Idee. Die Gegebenheiten

entfallen).

Bei den linearen Transformationen VxV (oder den Koordinationen LxL) zum Beispiel kehren diese Stufen wieder mit dem Unterschied:

1. Parallelverschiebung (x + a) : Abstände als Gegebenes invariant; 2. Ähnlichkeitstransformation (x • a): Abstandsverhältnisse invariant;

17 Die spezielle und allgemeine RelatiVitätstheorie fordern daneben natürlich noch die physikalischen V0rstellungen der Konstanz der Lichtesgeschwindigkeit, der EquiValenz Von inerter Masse und Energie, der Tensorrechnung, des AquiValenzprinzips usw. Man könnte aber dessen ungeachtet sagen, die durchgängige RelatiVität, also der Beziehungscharakter des Raumes, werde, trotz aller übrigen Kritik Steiners an der Relativitätstheorie, voll anerkannt. Siehe Steiners Texte zur Relativitätstheorie, herausg. W. Viersen, Dornach 1982, und die Zusammenfassung Zieglers als Anmerkungen in GA 324a\259-263. Ferner Unger (1967), S. 100-121.

18 Vgl. GA 324a\210-211. Nicht jede Bewegung ist übrigens relativ, z. B. wenn sie dem Organismus entspringt oder vom Willen verursacht wird. Daher hat die RelatiVität der Bewegung für Steiner nur beschränkte Geltung.

19 Damals im Aufstieg begriffen durch F. Klein (1872: Erlangener Programm) und Sophus Lie (1873: Gruppentheorie) u. a.

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216 KAPITEL VI

3. Inversion (1/x): invariante Doppelverhältnisse von Abständen (Verhältnis von Ver-hältnissen).

Als vierte Transformationgruppe ist die Projektion (ax + b/cx + d) die umfassende, meist allgemeine, von der die anderen Spezialfälle sind (setze a = d und c = 0, b = c = 0 und d =1 bwz. a = d = o und b = c). Die Doppelverhältnisse sind bei Projektion invariant. Die Projektion ist daher die allgemeinste geometrisch-lineare Transformation.20

Die Abstraktionstheorie beschreibt angeblich nur den Gang des Bewusstwerdens der Begriffe, nicht deren Entstehen: Wir setzen die Gesetzmäßigkeiten (etwa des Zählens) im konkreten (gezählten) Objekt voraus. Die physischen Raumverhältnisse belegt man unproblematisch mit den positiven Zahlen.21 Das Konzipieren neuer Strukturen wie negative, irrationale, imaginäre und überimaginäre Zahlen usw. ist zwar freie mathema-tische, d. h. intuitive Schöpfung (Blümel), aber doch nichts anderes als Definition durch vorgängige Abstraktion. Die höheren Zahlenarten sind ja entstanden durch Anwendung des ,Permanenzprinzips`:22 Die abstrahierte, unbeschränkte Operation der Inversion der Addition definiert die negativen Zahlen, das abstrahierte unbeschränkte Gesetz der Inversion des Potenzierens die imaginären, die definierte Gruppe von Operationen (dritte Stufe der Abstraktion), also jeweils den Umfang der Elemente.23 Die Abstraktion ist daher wesentliches Moment der Neukonzeption. Die Rückwendung zur Erfahrung ist, nach Steiner, notwendig, um diesen Operationen einen realen Sinn zu unterle-gen. Die Bedeutung und elementaren Verhältnisse der Zahlenarten seien mithin nicht

20 E. Blümel, Hauptprobleme der Mathematik, in: Anthroposophische Hochschulkurse, erster und zweiter Band, S. 83-106. Die Klassifikation Verschiedener Stufen war dem Erlangener Programm (Invarianten-theorie) geläufig, und der Gruppenbegriff hatte die Analyse und die analytische Geometrie auf eine höhere Ebene der Abstraktion gehoben. Vgl. Cassirer (1973), S. 33-43. Bertrand Russells An Essay on the Foundatin of Geometry (2. Aufl. 1897, herausg. durch M. Kline, New York 1956) zieht den Schluss aus der Entwicklung der Metageometrie Von Gauß bis Klein, dass die projektiVe Geometrie die allgemeinste A-priori-Form der Geometrie sei.

21 Steiners Bestimmung der natürlichen Zahl ist klassisch: Zahl setzt diskrete Größe voraus als das Viele einer Einheit („eine so und so oftmalige Wiederholung der Einheit"; GA 2\75). Steiner nennt ,die natürliche Zahl` einen nominalistischen Begriff, da es keinen kontinuierlichen Übergang der Zahlen ineinander gibt (s. o. § 5.4.4). Die Zusammenfassung in Zwei, Drei, Vier usw. ist deswegen ein äußerliches Hinzukommen von je einem für sich Getrennten ,+ f. Als Husserl (1970) in seinen psychologischen und semiotischen Untersuchungen 1887-1891 (ebd., S. 226-227) die symbolische Zahlbildung auf eine sukzessive Addition +1 gründete, war dies schon die allgemeine Einsicht über die Definitin der natürlichen Zahlen (Leibniz, J.St. Mill, Frege u. a., Vgl. Kneale & Kneale [1962], S. 445), jedoch ohne gemeinsames philosophisches Verständnis, was nun der Zahlbegriff beinhalte (Husserl contra Frege usw.). Peanos Induktionsmethode (Schließen von n auf n + 1) machte diese Frage für die mathematische PraXis überflüssig (Vgl. B.E. Landau, Grundlagen der Analysis [1929], Darmstadt 1970, für einen lückenlosen Aufbau der natürlichen bis zu kompleXen Zahlen nur aufgrund der fünf Peano'schen AXiome). Steiners Auffasung der natürlichen Zahlen war mithin eine geläufige.

22 Unter anderem so genannt von H. Hankel (1867): Vgl. G. Kowol, Gleichungen, eine historisch-phänome-nologische Darstellung, Stuttgart 1990, S. 115-116. Vgl. ferner Peacocks The principle of the permanence of equivalent forms (1883): dazu Kneale & Kneale (1962), S. 398.

23 Vgl. dazu Kneale & Kneale (1962), S. 390-403. Blümel verbindet diese bekannten Begriffe nur neu mit Steiners ,Abstraktionstheorie.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 217

formal, sondern empirisch-wirklichkeitsgemäß zu lösen, worüber Steiner damals aber nichts „Abschließendes" sagen wollte, denn „ich habe mich damit nicht beschäftigt".24

Wir dürfen annehmen, da Steiner seinerseits mit Interesse an Blümels Arbeit teil-nahm und zur gleichen Zeit über verwandte Themen sprach,25 dass diese Gedanken Blümels in der Tat Steiners Abstraktionstheorie entsprechen und deren logische Potenz beweisen sollten. Sie illustriert die Kombination von phänomenologischen und idealis-tischen Elementen, da die Abstraktion an der Erfahrung die in der Erfahrung investierte (,angeschaute`) Idee voraussetzt.26

Weil die Mathematik die Anwendung dieses Abstraktionsprinzips in voller Klarheit zeigt, erweist sie sich als Muster für wissenschaftliche Begriffsbildung im Allgemeinen. Im Prinzip sollten sich die anderen Wissenschaften nicht anders verhalten. Die Mathe-matik ist deshalb nicht nur disziplinierende, sondern auch inhaltlich-paradigmatische Vorschule des Idealismus.27

§ 6.4. Das Differential und das Unendliche

Es sind insbesondere zwei mathematische Begriffe, die eine Emanzipation der Sin-neswelt erfordern: das Unendliche im Differential und das Unendlich-Große. Steiner meint, die Mathematik habe „einen wichtigen Schritt ins Übersinnliche vollzogen: mit der Analyse des Unendlichen, die wir Newton und Leibniz verdanken, ist das geschehen" (Mathematik und Okkultismus; GA 35\11-12) . Die sinnliche Anschauung wird nämlich im Differential „zum Verschwinden gebracht" und ist „das wirkliche Unendliche-Kleine" (GA 5\12). Das Bestehen des Infinitesimalen wird von Steiner nicht als subjektive Kon-struktion oder nur rechnungstechnisches Hilfsmittel, sondern als Tatsache gedeutet: „Für die geistige Erfassung [ ... ] wird der Punkt lebendig,28 die Null wird zur Ursache"

(GA 35\13). Man sieht den Formulierungen an, dass Steiner sich eher auf die Form des Infinitesimalen bezieht, zu der Newton, Leibniz und dann Euler29 es gebracht haben, als

24 GA 324a\149-156. Mehrmals weist er in diesem Zusammenhang hin auf E. und U. Dührings Neue Grund-mittel und Erfindung zur Analysis, Algebra, Functinsrechnung und zugehörigen Geometrie (Leipzig 1884). Siehe GA Beiträge 114-115\96. Nachher hat eine Reihe Von anthroposophischen Mathematikern sich mit diesen Angaben auseinandergesetzt: E. Blümel, G. Adams, E. Bindel, L. Locher-Ernst, P. Gschwind, R. Ziegler und G. Kowol. Die geometrische Deutung des Imaginären Von E. und U. Dühring (aus-gehend Von C. von Staudt) ist u. a. von Locher-Ernst wieder aufgegriffen worden. Kowol (1990), S. 117-127.

25 Vgl. GA 176 \90-93. 26 Die schrittweise Abstraktion in der mathematischen Begriffsbildung geschichtlich Von hier aus aufzu-

klären, haben dann u. a. E. Bindel in Die Grundlagen der Mathematik im Lichte der Anthroposophie, Stuttgart 1928, sowie Kowol (1990) Versucht. Vgl. auch, mehr historisch-philosophisch orientiert, Zieg-ler (1992).

27 Vgl. für die aufgelisteten Quellen in der GA zu diesem Thema bei Steiner Ziegler (1992), S. 208-219. 28 Das heißt lebendig in der Vorstellung, denn Steiner sieht in der differentiellen Betrachtung als solcher

eine Atomisierung der Erscheinungen, gerade den Zerfall der natürlichen Zusammenhänge, deren Integral nur ein totes Schema darstellen würde (GA 326\65-67).

29 Dazu: H.J.M. Bos, Newtn, Leibniz and the Leibnizian Traditin, in: From the Calculus to Set Theory

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218 KAPITEL VI

auf die strengere Handhabung der Differentiale als Limite (Cauchy und Weierstraß),30

die er u. a. beim Studium der Funktionentheorie kennen gelernt haben dürfte. Das Unanschauliche der Differentiale hält sich an der Grenze des Ideellen im Raume auf: „Die Ausdehnung selbst wird zum Erzeugnis des Ausdehnungslosen" (GA 35\13). Auf die „gebräuchlichen philosophischen Spekulationen über die Natur der Differentialgrö-ßen" lässt Steiner sich nicht ein.31 Man kann jedoch der Terminologie entnehmen, dass Steiner sich doch auf sie eingelassen hat. Es hat Steiner wohl nicht entgehen können, dass Hermann Cohen einige Jahre vorher32 die Logik der Infinitesimalrechnung zum Hauptprinzip der Logik der Naturwissenschaften gemacht hatte in seiner Logik der reinen Erkenntnis.33 Das Unendliche-Kleine wird Cohen zum „leuchtendsten Beispiel" des „Urteils des Ursprungs", d. h. der Begriffsbildung über den Umweg des Kant'schen ,unendlichen Urteils`.34 Das endliche Quantum wird durch die Synthesis des Denkens „erzeugt" aus dem Unendlichen-Kleinen und der Allheit des Unendlichen (der Reihe), die beide außerhalb der Wahrnehmung zu situieren sind:35 „Nur das Denken selbst", sagt Cohen, „kann erzeugen, was als Sein gelten darf. Und wofern das Denken nicht in sich selbst den Grund des Seins zu graben vermag, kann kein Mittel der Empfindung die Lücke ausfüllen".36 Der Terminus ,Erzeugnis 3̀7 bei Steiner mag auf diese Auffas-sung Cohens deuten. Steiner: „Mit der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Naturvorgänge in Mechanik und Physik vollziehen wir in der Tat nichts anderes, als dass wir Sinnliches aus Übersinnlichem errechnen" (GA 35/12). Ganz neu war diese Ansicht immerhin nicht und der Hinweis auf Cohen ist deswegen nicht sicher. In zwei

1630-1910. An Introductory History, herausg. I. Grattan-Guinness, London 1980, S. 49-93, y. a. S. 58, 69 und 78.

30 Die Infinitesimalrechnung wurde im 19. Jh. gerade dort, wo es um deren praktische Anwendung ging, nicht in der rigorosen, von den Infinitesimalen gereinigten Form Von Cauchy und Weierstraß vorgetragen, sondern in dem Stil von Euler. Siehe Grattan-Guinness (1980), S. 115-116. Steiner hat sie wahrscheinlich auch zuerst in dieser Gestalt während seiner Wiener Zeit kennen gelernt (vgl. die nachgelassenen mathematischen Bücher in GA Beiträge 114-115\88-121, oder auch die Bücher v0n Lübsen und J.P. Herr).

31 Er erwähnt anderswo nur die Kritik Berkeleys an der Unbestimmtheit der Newton'schen Vorstellungen Von fließenden Größen (,fluents` oder ,fluxions`): GA 326\65. Vgl. zu Berkeleys Kritik: Bos, in: Grattan-Guinness (1980), S. 88-89.

32 Mathematik und Okkultismus ist ein Autoreferat von 1904. 33 Berlin 1902. Ein EXemplar des Buches findet sich mit Anstreichungen und Randbemerkungen in Steiners

nachgelassener Bibliothek (GA Beiträge 114-115\94). 34 Cohen (1902), S. 124. Cohen hebt herVor, dass das Infinitesimale nicht so sehr Grenzwert sei als

Ursprung, der intensiV im Punkte konzentriert gedachtes Gesetz bedeute: Natorp, Die logischen Grund-lagen der exakten Wissenschaften, 1. Aufl. 1910, 3. Aufl. Leipzig und Berlin 1923, S. 220.

35 A. a. O., S. 179-184. 36 A. a. O., S. 28. Der erste Satz gefiel Steiner besonders gut, und er zitiert ihn in GA 18 als Beweis, dass in

dieser philosophischen Bewegung trotz des Kantianismus die „Tragkraft des Gedankens durchbricht" (GA 18\582-583).

37 Cohen wählt den bildlichen Ausdruck ,erzeugen`, um damit die schöpferische Souveränität des Denkens zu betonen: Cohen (1902), S. 28. Wir bringen das Unendliche-Kleine als rein begriffliches Element (Steiner: „übersinnlich") aus unserem Denken herVor.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 219

langen Anmerkungen über die Begriffsbestimmung des mathematisch Unendlichen und den Differentialkalkül in der WDL hatte Hegel zum Beispiel ausgeführt, wie in der Newton'schen Darstellung in den Differentialen die endlichen Werte (des Quantums) verschwinden und nur das reine quantitative Verhältnis dy/dx als ein qualitatives (limit oder ultimate ratio) übrig bleibt, oder umgekehrt das Quantum als erzeugte Größe aus den erzeugenden Größen oder ,Prinzipien` entsteht, und wie dann das Quantum gleichfalls, jetzt nicht im Verschwinden, sondern umgekehrt in seinem Werden, in sei-ner qualitativen Bestimmung oder Begrifflichkeit erkannt wird (wDL I \300-301). „Die unendliche Differenz ist Null nur des Quantums, nicht eine qualitative Null" (wDL

I \303). Ebenso Steiner: „Für die sinnliche Anschauung ist das Differential ein Punkt oder die Null. Für die geistige Erfassung aber wird der Punkt lebendig, die Null wird zur Ursache" (GA 35\13) . Cohen oder Hegel: Das Quantum in seinem Entstehen oder Verschwinden hat unverkennbar die reine Idealität an sich. Diese Einsicht dürfen wir Steiner wohl früher als 1904 zuschreiben, gemäß dem Duktus seiner idealistischen Philosophie und seiner frühen Vertrautheit mit diesem Gegenstand.

Wichtiger als die philosophische Diskussion ist für Steiner die einfache Tatsache, „daß dieses geistige Leben in übersinnlichen mathematischen Größenverhältnissen für die Mathematiker in neuerer Zeit ein kräftiges Erziehungsmittel geworden ist" (GA 35\13). Dass Gauß (1777-1855), Riemann (1826-1866) usw. den Raumbegriff über die Dreidimensionalität erweitert haben, „ist ein Ergebnis des durch die Infinitesimalrech-nung von der Versinnlichung emanzipierten mathematischen Denkens" (GA 35\13-14) . Steiner hat hier die Differentialgeometrie im Sinne, eine Schöpfung von Gauß (Flä-chentheorie), die von Riemann erweitert wurde zu einer Mannigfaltigkeitslehre (Habi-litationrede 1854). Steiner wird später die nicht-euklidische Geometrie (Gauß, Riemann und Labotschewski) als eine Emanzipation von der Sinneswelt feiern (GA 125\78-81, GA 76\63-65), aber zur gleichen Zeit meint er, hier drohe die Gefahr, dass die Mathe-matik den Halt an der Wirklichkeit verliert, und nur ein formales Wissen übrig bleibt. Steiner zitiert z. B. ablehnend H. Poincaré, der, gleich Ernst Mach, die mathematische Struktur nur als eine bequeme (konventionelle) formale Weise des Erfassens der Tatsa-chen betrachtete (GA 324a\130-131 und GA 125\80-81). Der Wert der nicht-euklidischen Geometrien ist allerdings, dass sie die Apriorität der Euklidischen Geometrie umgesto-ßen hat und die Wahrheit mathematischer Sätze nunmehr a posteriori bewiesen werden muss. Die mathematischen Urteile und geometrischen Sätze bedürfen ebenso einen empirischen Verifizierung wie sonst eine ,Phänomenologie`, etwa Goethes Farben-lehre (GA 324a\164-166). Denn formal-logisch sind die nicht-euklidischen Geometrien schon gültig, es fragt sich nur, ob sie auch „wirklichkeitsgemäß" sind (GA 324a\202). In welchem Sinne eine mathematische Theorie empirisch zu prüfen sei, bleibt dahin-gestellt, doch eine „empirische Verifikation" sollte es doch geben. Freilich nicht im Sinne einer Messung, ob denn die Geraden durch die Eckpunkte und die Mitte der Seiten eines Dreiecks sich in einem Punkte schneiden. Ein solches gilt es allerdings zu beweisen. Wohl lässt sich das Krümmungsmaß des Raums empirisch untersuchen (wie bekanntlich Gauß es getan hat und es in der neueren Physik auch Sinn ergibt) . Die

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Euklidische Voraussetzung im Beweis, dass alle Dreieckswinkel einem gestreckten Win-kel gleichen (die Parallelität), ist somit überprüfbar. Wäre der Raum stark gekrümmt (z. B. ,elliptisch`), so müsste ein Objekt oder etwa das Licht, das sich in einer Richtung bewegt, nach einem Kreisgang von der entgegengesetzten Richtung wieder zu demsel-ben Ort kommen.38 Dies meint Steiner im physischen Raum nicht feststellen zu können (GA 324a\123) . Ein andermal lässt er diese Frage offen (GA 324a\195) .39

Dass nach Steiners Auffassung die mathematische Begriffsbildung durch Abstrak-tion zuletzt wieder eine phänomenologische Basis braucht, damit sie nicht rein theore-tisch, d. h. ohne Wahrheitswert bleibt, illustrieren auch Steiners Bedenken zu ,Unend-lichkeiten` in der Form der Ausdehnungslehre H. Graßmanns (1809-1877) und Can-tors Lehre vom Transfiniten. Den mehrdimensionalen Raum nach der Ausdehnungs-lehre Graßmanns, eine ,n-dimensionale Mannigfaltigkeit', hielt Steiner nur für ein empirisch-unwirkliches mathematisches Gebilde, eine reine Generalisation, und dazu einen regressus ad infinitum ohne Halt (GA 324a\2o7). In der Mengenlehre Cantors, die Steiner dank seiner persönlichen Beziehung zu Georg Cantor (1845-1918) bekannt wurde,40 sah er „eine Auflösung des mathematischen Prinzips in sich selbst, eine Auf-lösung der Zahl in sich selbst" (GA 324a\184), weil da von der Zahl als Einheit (Anzahl) einer Vielheit (von Einheiten) nur die Äquivalenz der äußerlichen Zuordnung von Ele-menten der Menge (Gleichmächtigkeit) übrig bleibt. Die von Cantor darauf aufgebau-ten Unendlichkeitstheorien sind lediglich Abstraktionen und erfassen keine konkrete Wirklichkeit (GA 324a\184).41 Man behält nur das Prinzip des Abzählens, des Zuord-nens bei, die unvollendbare sukzessive Synthesis Kants.42 Ihre Unendlichkeit ist eine

38 Bekannt war damals die krasse Aussage Von Helmholtz, dass man in der elliptischen Geometrie den eigenen Hinterkopf Vor sich sehen müsste. Die empirische Nachweisbarkeit, ob eine Lichtquelle wie die Sonne im elliptischen Raum ein Gegenbild erzeugt hängt u. a. Von der Absorption des Lichtes auf seinem Rundgang ab. So war der empirische Nachweis Schwierigkeiten ausgesetzt, deren Lösung nicht in Aussicht stand; Vgl. Klein (1928), S. 209-211.

39 Da würde er sich einzulassen haben auf die Diskussion über eine Theorie der Messung, die V0raus-setzung der starren Körper (Helmholtz) usw., der am Anfang des 20. Jhs. entgegengetreten wurde. Jedenfalls war Von einem einfachen experimentum crucis schon damals nicht die Rede; vgl. Nagel (1968), S. 258.

40 Cantor publizierte 1900 einen Aufsatz über Shakespeare und Bacon in der Von Steiner redigierten Zeitschrift Magazin für Litteratur. Cantor schenkte Steiner zum Dank ein EXemplar Von Zur Lehre vom Transfiniten. Siehe R. Ziegler, Georg Cantor und Rudolf Steiner, in: GA Beiträge 114-115\53-61.

41 Auch dazu R. Ziegler, a. a. O., S. 59-60. 42 P. Schulthess hat zu belegen versucht, dass Kants Synthesis durch Urteilsfunktionen sich am mathe-

matischen Funktionsbegriff (V. a. bei Euler) orientierte (Relatin und Funktin. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants, Berlin 1981, Kantstudien Ergänzungshefte Nr. 113.). Wie Euler die ,transzendenten Funktionen' (trigoniometrische und loga-rithmische) durch unendliche Iteration algebraischer Operationen darzustellen wusste, so gibt es in dem ,transzendenten` Gebrauch der Vernunft gleicherweise eine unendliche, unvollziehbare Synthesis (a. a. O. S. 313-315). Die unvollziehbare quantitatiVe Zusammensetzung schließt aber die Bestimmung einer unendlichen Summe nicht aus, wie das Beispiel der Limiten zeigt. Eine unendliche Addierung ist nach dem Archimedischen Prinzip, wegen der ,Unvollziehbarkeit`, nur eine ,Annäherung` an den Grenzwert (die Limite), aber dieser ist zugleich doch restlos und eindeutig (vernünftig) bestimmbar.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 221

Menge ,größer als alle Zahl' (KDRV B 460). Die transfiniten Zahlen ermangeln indes-sen nicht jeder Bestimmtheit, wie Steiner anzunehmen scheint, da Cantor gerade den vagen allgemeinen Unendlichkeitsbegriff differenziert in Unendlichkeitsklassen.43 Für die Vermutung, dass Steiner in der Cantor'schen Lehre vom Transfiniten dessen unge-achtet nicht eine wirkliche Lösung von Unendlichkeitsparadoxien gesehen hat, spricht, dass er seine gelegentliche Behandlung vorgeführter Paradoxien des Unendlichen aus-münden lässt in eine positive Wertung der Kant'schen Antinomien. Man kann nicht einfach die an der Sinneserfahrung gewonnenen Begriffe ins Unendliche extrapolieren und auf das Übersinnliche anwenden. Insofern hatte Kant Recht (KDRV B 552-553). Die Reihe von natürlichen Zahlen kann zum Beispiel eins zu eins der Reihe der doppelten (geraden) Zahlen zugeordnet werden. Anders als eine endliche Menge, hat, scheinbar widersprüchlich, ein Teil der unendlichen Reihe nicht weniger Elemente, als sie selbst hat: Der Teil ist ,gleich` dem Ganzen, d. h., unsere Begriffe von ,Teil` und ,Ganzem` versagen bei der unendlichen Menge.44 Steiner erwähnt dabei nicht einmal die Mög-lichkeit eines logisch-konsequenten Aufbaus der transfiniten Zahlen (GA 165\205-208 und GA 166\13-15).45 Es scheint also, dass Steiner die Tragweite der (iterativen) Men-genlehre als Grundlage der Analyse (wofür Cantor sie ja entwickelte) und weiterer Gebiete der Mathematik nicht (an)erkannte. Steiner kritisierte Cantor indessen nicht aus formal-logischen Gründen, sondern nur deswegen, weil bei ihm die Beziehung zur Erfahrung verloren geht.46 Wie nicht die formale Richtigkeit der reinen Logik allein entscheidet über Wahrheit, so ist auch widerspruchslose Idealität der Mathematik für sich noch keine Realität.

Ebenso im Differential und in Eulers transzendenten Funktionen. Diese Bestimmungen finden in der Erfahrung adäquate gegenständliche Anwendung (als eXtensive oder intensiVe Größen).

43 Natorp (1923) feiert gerade deshalb in der Lehre der transfiniten Zahlen die Krönung des Zahlenbegriffs, weil nicht das Endliche (messbare Quantum), sondern die ideelle Beziehung im Begriff der Zahlen, der veränderlichen Größe (im Vergleich des Mehr und Weniger) hier am reinsten herauskommt (S. 197-198). Zahl ist nicht einfaches Quantum (nur eine Abstraktion: S. 262), sondern nur Funktion und Relation (also ,autonome Beziehung'). Das Unendliche ist nicht wegen dessen Unmessbarkeit das Aufheben der Zahl, sondern Vielmehr reiner Ausdruck Von deren ,Ursprung`: S. 188-190.

44 Blümel (1922) fügte S. 87-88 dem schriftlichen Niederschlag seines HochschulkursVortrags, der stattfand

am 4. Oktober 1920 und somit einige Tage Vor Steiners Fragebeantwortung am 15. Oktober 1920

(GA 324a\177-189), aus der wir soeben zitierten, eine Anmerkung über Cantors Mengenlehre hinzu, in der auch er das Mächtigkeitsparadox Vorführte (ob schon im Orginal oder erst aus Anlass der Äußerung Steiners, ist nicht auszumachen).

45 Hinter einem zweiten Beispiel in GA 165\206-207 - die unendliche Oberfläche zwischen zwei parallelen Linien ist ebenso unendlich ausgedehnt wie die doppelte Fläche — steckt Vielleicht die Popularisierung der Feststellung Cantors, dass die Punkte einer Geraden (Kontinuum) eins zu eins der Ebene zugeordnet werden können (die ,Breite hat keinen Einfluss auf ihre Mächtigkeit).

46 Dies war übrigens eine weit Verbreitete Kritik unter den Mathematikern (vgl. Grattan-Guinness [1980], S. 188-189 und 199-203). Denn die Hierarchie der transfiniten Zahlen kommt zuletzt zustande durch ein Argument ad absurdum (Diagonaliserungsmethode), das für einen Beweis der mathematischen ,EXistenz` weniger überzeugend sein soll (Kneale & Kneale [1962], S. 443). Verwandt mit Blümels Kritik ist auch die bekannte Opposition L.E.J. Brouwers (1881-1966): Die Mächtigkeit Von N ist uns in der

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222 KAPITEL VI

§ 6.5. Die synthetische, , fließende` Geometrie

Der Gedanke einer möglichen Verbindung der rein ideellen Mathematik mit der phä-nomenologischen Methodik, und einer solchen, die, entgegen der Ausdehnungslehre und der Lehre vom Transfiniten, zugleich zur Anschauung und Erfahrung das Gleich-gewicht behalten soll, kam Steiner im Zusammenhang mit der modernen Geometrie. „Ein ausschlaggebendes Erlebnis", schreibt er über seine ersten Jahre in Wien, „kam mir damals von der mathematischen Seite. [ ... ] Durch die neuere (synthetische) Geo-metrie, die ich durch Vorlesungen und im Privatstudium kennen lernte, trat vor meine Seele die Anschauung, dass eine Linie, die nach rechts in das Unendliche verlängert wird, von links wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkommt. [ ... ] Mir kam vor, dass man mit solchen Vorstellungen der neueren Geometrie den sonst ins Leere starrenden Raum begrifflich erfassen könne" (GA 28 \1975-45-46).47 Die von Desargues eingeführten ,unendlichen`, rein ideellen Elemente der synthetischen Geometrie ermöglichen eine einheitlich-zusammenfassende Anschauung des Raumes. An Stelle der Unabgeschlos-senheit des Euklidischen Raumes tritt der durch die Fernebene ergänzte projektive Raum, der zwar noch immer als Ganzes unbegrenzt, aber doch auch geschlossen ist.48 Er hat kein ,Jenseits` im Unendlichen mehr. Die umfassende Einheit ist auf ideell-anschauliche Weise gewonnen.49 So kommt Steiner dann über die erste Kant'sche Antinomie der Unendlichkeit des Raumes (KDRV B 454) hinaus nicht dadurch, dass der Raum als subjektive Anschauungsform und ihre Unendlichkeit als regulative Totalität (KDRV B 536 ff.) genommen werden, sondern dadurch, dass die ideell-unendlichen Ele-mente in die Gesetzmäßigkeit des Raumes einbezogen werden und der Raum sich jetzt widerspruchslos als „eine in sich geschlossene Sphäre" erweist (GA 324a\122-123).50 Mehr

(von Brouwer als Kant'sche Anschauungsform der Zeit gedeuteten) ,Intuition` oder Anschauung nicht konstruierbar, ebenso wenig wie die Mächtigkeit des Kontinuums. Mithin haben Cantors transfinite Zahlen zwar logische Konsistenz, jedoch damit noch keine EXistenz (Over de Grondslagen der Wiskunde, Amsterdam 1907, herausg. D. Van Dalen, Amsterdam 1981, Nachdruck von 1907, S. 62, 142-150).

47 Unsere Hypothese ist, dass Steiner die projektive Geometrie im Rahmen der Vorlesungen über ,dar-stellende Geometrie an der Technischen Hochschule kennen gelernt hat.

48 Zur Riemann'schen Definition Von ,unbegrenzt` (Ausdehnungsverhältnis) und ,unendlich` (Maßbe-stimmung) siehe GA 324a\194-195 und GA Beiträge 114-115\49.

49 Steiner schildert seine Entdeckung des Wesens des Raums u. a. in GA 324a\90 ff., Vortrag, gehalten am 7. NoVember 1905: „Da begriff ich, was es für eine Bedeutung hat, wenn man von einem Kreis in eine Linie übergeht. Im intimsten Denken der Seele eröffnet sich die Welt" (ebd., S. 91). Die Wirklichkeit des Raumes ist nämlich dieser Begriff der ideellen inneren Einheit von Fernelementen des Raumes, von den unendlichfernen Punkten links und rechts oder der Fernebene (ebd., S. 92). Siehe weiter unten.

50 ,Sphäre` ist hier Metapher (Vgl. §5.3), denn nicht im topologischen Sinne mit einer dreidimensionalen Kugel äquivalent (wie der Herausgeber R. Ziegler bemerkt; GA 324a\255, zu Anm. 7). Steiner n0tiert: „Eine in sich ruhende Geschlossenheit ist eine Sphäre" (GA Beiträge 114-115\43). Die Metapher der Sphäre ist altem Ursprungs und während der Goethe-Zeit häufig verwendet worden. Vgl. D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt (Halle 1937), bei dem das Verkommen der unendlichen Sphäre u. a. bei Schelling und der Theosophie Von Oken schließlich zurückgeführt wird auf den Neuplato-nismus und den Timaios (33b). Die innere Identität der unendlichen Sphäre und des Punktes — vgl. Mahnke, S. 13 (L. Oken) und S. 218 (Plotin) — finden wir auch bei Steiner: „Die Grenze des Raumes

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 223

noch als die Infinitesimalrechnung versprach die projektive Geometrie eine Erweite-rung der Naturwissenschaft in die Richtung der Goethe'schen Phänomenologie. Weil sie für Steiners philosophische Entwicklung daher eine grundlegende Bedeutung hatte, wird sie hier noch weiter zu erörtern sein.

Der projektive Raum hat nicht nur einen axiomatischen Bestand und ist nicht nur Folge einer theoretischen Wahl. Die Axiome der reinen Mathematik sind im Verhältnis zur Physik nur Postulate, die empirischer Verifizierung bedürfen. Ob eine elliptische, hyperbolische oder Euklidische Geometrie den Gesetzmäßigkeiten des phänomena-len Raumes entspricht, ist Sache der Erfahrung. Indessen kann man zur Allgemein-heit der Geometrie emporsteigen von einer konkreten Metrik über die hyperbolische, affin-euklidische oder elliptische zu der rein projektiven Geometrie, einer reinen Bezie-hungslehre ohne Metrik. Die allgemeinste Geometrie entbehrt dabei ebenso wenig der Anschaulichkeit wie der Raumbegriff selber. Hier ergibt sich die Möglichkeit einer ,qualitativen` Mathematik. In der analytischen Geometrie kommt man mit den Glei-chungen eigentlich nicht an die Kurven heran. Die Analyse rechnet mit Verhältnissen der Abszissen und Ordinaten usw.51 In der projektiven Geometrie52 operiert man dage-gen mit den geometrischen Gebilden selber, ihrem Schneiden und Projizieren. Man kommt hier erst in die Gebilde als solche hinein. Das führt zum Begriff der unendlich fernen Elemente (Punkte, Grenzlinien und Grenzebenen), die nicht auf analytische Weise gefunden werden.53 Die anschauliche Kontinuität fordert die unanschaulichen

ist ein auseinandergelegter Punkt" (GA Beiträge 114-115\43). Vgl. auch als Quelle Proklos' Kommentar

zum ersten Buch Euklids 153-155 (Ausg. und Übersetzung ins Englische Von G.R. Morrow, Princeton

1970, S. 121-123) . 51 Steiner notiert: „Man kann in der analytischen Geometrie das Koordinatensystem Verschieben, und man

erhält eine Veränderung der Gleichungen — die geometrischen Gebilde werden daVon nicht berührt. Man hat ein solches äußerliches Verhältnis nicht zu den geometrischen Gebilden in der synthetischen Geometrie" (GA Beiträge 114-115\49) und „Ausdehnung verschwindet in den Gleichungen" (ebd., S. 45). Die Ausdehnung wird auf die ZahlenVerhältnisse reduziert. Vgl. GA 324\84-86.

52 Nicht in der ,Hilbert'schen` aXiomatischen Variante, sondern in älteren Darstellungen von Jacob Steiner (dem Begründer der ,synthetischen` Geometrie: Systematische Entwicklung der Abhängigkeit

geometrische Gestalten vn einander, Berlin 1832), K.G.C. von Staudt (Geometrie der Lage, Nürnberg

1856-1857) und Th. Reye (Die Geometrie der Lage, Leipzig 1866). Unter dem Steiner'schen Gesichtspunkt

besprochen von Georg Adams in: Strahlende Weltgestaltung (2. Aufl. Dornach 1965). Welche Literatur über projektive Geometrie Steiner im Einzelnen gelesen hat, ist nicht bekannt.

53 Und da als konventionelle Definitionen eingeführt werden (Von J. Plücker 1829), Vgl. E Klein, Vorlesun-

gen über nicht-euklidische Geometrie (Berlin 1928), S. 2: „Wir schreiben hierzu zwei Parallelen Geraden [ ... ] einen uneigentlichen, d. h. einen unendlichfernen Schnittpunkt zu. In diesem Satze soll keine Behauptung liegen; es wird nur eine Redeweise eingeführt, die uns gestattet, viele Sätze außerordent-lich zu vereinfachen." Der unendlichferne Punkt wird der Koordinate X = Xl: X2 und X2 = 0 zugeordnet. Das Unendlichferne einer Gauß'schen imaginären Zahlenebene sei dagegen nicht eine Gerade, son-dern nur ein einziger unendlicher Punkt. Die Auffassung des Unendlichfernen ist deswegen wieder für Klein „nicht eine Wiedergabe der in Wirklichkeit bestehenden Verhältnisse, sondern eine (in gewissen Grenzen) willkürliche Verabredung" (S. 50). Steiners Erfassung der unendlichen Elemente soll intuitiv an der Konstruktion der Gebilden gewonnen sein: laut seiner Notiz „wenn man Von dem unendli-chen fernen Punkt einer Geraden spricht, so tut man dies auf Grund einer Anschauung" (GA Beiträge

114-115\49).

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224 KAPITEL VI

Elemente gemäß dem ,Permanenzprinzip`, wie es genannt wurde in der Algebra. Diese Kontinuität bringt nun die ,Bewegung`, das ,Fließen` in die Vorstellung, was näher zu erläutern wäre.

Wir erinnern an die Weise, wie Steiner im logischen Bereich anhand des versa-tilen Dreiecks illustrierte, wie zufällige räumliche Konfiguration (Berkeleys Dreieck) durch Variation in der Vorstellung hinaufgehoben wird zur Darstellung der allge-meinen räumlichen Gesetzmäßigkeit des Dreiecks (vgl. § 5.4.4) . Steiners Version der methodischen (Husserl: ,eidetischen`) Variation beabsichtigt, in der freien Variation gewisse allgemeine Bestimmungen beizubehalten, sodass das Allgemeine (allgemeines Dreieck) sich in der Mannigfaltigkeit zeigt oder aus der metamorphosierten Gestalt der Typus (Goethe) hervortritt. Von einer konkreten Gestalt (z. B. einem gleichseiti-gen oder rechtwinklichen Dreieck) werden die endlichen Bestimmungen variiert (zum Beispiel die Länge der Seiten des Dreiecks), und die Grenzen dieser Variation zeigen, was zum Begriff der Sache gehört (,drei in einer Ebene liegende, in drei Punkten sich schneidende Geraden`) . Man gelangt zum Begriff erst dann, wenn eingesehen wird, dass die unendlichen Möglichkeiten der Variation der Identität des Dreiecks keinen Abbruch tun. Der kontinuierliche Übergang einer Serie von Variationen unter Beibe-haltung der Identität kann nach Steiner eine Beziehung der Vorstellung genannt wer-den. Übersehen wir sämtliche unendliche Möglichkeiten, dann erfassen wir den reinen Begriff (einen möglichen Begriff des Dreiecks). Die Identität in den Beziehungen dieser konkreten Beziehungen (in der variierten Vorstellung), ihre rein ideelle Einheit (die vorausgesetzt war im Einzelfall des ,Dreiecks`), ist also nichts anderes als ein konkretes Beispiel der schrittweisen Erhebung zur Idee anhand der Methode, wie Steiner sie im ,Goethe'schen Raumbegriff darstellt und die Blümel als eine allgemeine Struktur der mathematischen Begriffsbildung nachgewiesen hat. Diese Methode gleicht dem, was Poncelet, der Begründer der projektiven Geometrie, das principe de continuité genannt hat. Es lautet: Wenn die eine geometrische Figur durch kontinuierliche Variation in eine andere allgemeine übergeführt werden kann, gelten die Gesetze der ersten auch für die letztere.54 Man hat dabei zu denken an Eigenschaften der Kegelschnitte, die inva-riant sind gegenüber der variablen Projektion, wodurch Zirkel, Ellipse, Parabol und Hyperbol ineinander übergeführt werden können usw.55 Im Allgemeinen sind Doppel-verhältnisse invariant bei projektiver Transformation56 (wie in § 6.3 gezeigt). Darauf hat F. Klein 1871 eine projektive Metrik aufgebaut, unabhängig von dem Parallelenaxiom

54 D. Struik, Cncise History of Mathematics, New York 1948, Neuausg. und übers.1988: Geschiedenis van de Wiskunde, Utrecht 2001, S. 221.

55 Klein (1928) nennt dieses Prinzip ,instinktiV` und ,logisch nicht rein zu fassen' und hat ihm in seiner Invariantentheorie eine strenge Gestalt gegeben (S. n). Es geht also darum, was man unter ,kontinuierlicher Variation' verstehen will.

56 Bei den Punkten A, B, C und D also: AC/BC : AD/CD. Wenn das Doppelverhältnis —1 ist, sind die Punkte zueinander in harmnischer Lage, die in Maßbestimmung dann ein Fundament der Verhältnisse abgibt: Klein (1928), S. 40-45.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 225

(orthogonales Koordinatennetz) .57 Diese Doppelverhältnisse deutet Blümel tatsächlich als eine Entsprechung zu Steiners Abstraktionstheorie.

Die formal-logische Bedeutung des Kontinuitätsprinzips ist dennoch beschränkt auf einen heuristischen Wert. Man beweist nicht die Gesetze des Parabols durch die Transformation aus der Ellipse. Es handelt sich also nicht um ein logisch-deduktives Prinzip, das die Theoriebildung beabsichtigt. Die allgemeinen Eigenschaften können dagegen als Invarianten in der Transformation aufgezeigt werden. Adams nennt es zu Recht ,ein Metamorphosenprinzip`.58 Es bildet die Brücke zwischen abstrakter Theo-rie und phänomenaler Anschauung und erfordert eine ,exakte Fantasie (Goethe) im mathematischen Bereich. Die konkreten mathematischen Objekte bilden eine Zwi-schenstufe zwischen äußeren Gegenständen, die wir nur im Abbild (d. h. in deren Wahrnehmung, ohne ihre Materie) haben können, und den „unmittelbaren Seinsin-halten, die wir innerlich erleben". Zu diesen zählen unsere geistige Tätigkeit und die in ihr sich auswirkenden reinen Gesetzmäßigkeiten jener Vorstellungen oder ihren ,Urbildern`59 (GA 324a\158). Es konstituiert den Zwischenzustand, dass die Gebilde „unter dem Begriffszusammenhang" vorgestellt werden, d. h. in gesetzmäßigen Varia-tionen und Kombinationen, ohne welche sie schlechthin „bodenlos beliebige Abbilder" wären. An diesem Ort will Steiner eine „fließende Geometrie" situieren (GA 324M159).60

Die projektive Geometrie entspricht dieser Forderung. Die Grundstruktur der projektiven Geometrie entspricht aber auch in anderer,

noch mehr entscheidender Weise der ,Goethe'schen Raumidee` (Beziehungen von reinen Raumesbeziehungen).61 Innerhalb der projektiven Maßbestimmungen gilt das Gesetz der Dualität, d. h. dass alle Beziehungen zwischen Punkt und Ebene im Raum oder zwischen Punkt und Linie in der Ebene auch für das polare Verhältnis von Ebene und Punkt bzw. Linie und Punkt gelten (entdeckt von Poncelet, publiziert 1822; der Satz von Pascal ist z. B. ,dual` zum Satz von Brianchon).62 Ein qualitatives Mathematisieren kann gerade dort einsetzen, wie Steiner an der dualen Umkehrung des Pappos'schen

57 Klein (1928), S. 45,161-167. Diese Arbeit fußt auf Staudts Geometrie der Lage. 58 Adams (1962), S. 76-77 59 Diese Wendungen entsprechen der Terminologie der projektiVen und darstellenden Geometrien,

die durch Projektionen aus einem Bildpunkt einen Zusammenhang darstellen Von Urbildern und Abbildern. Sie hat indessen dazu eine klassische Konnotation (Platons Ideenlehre).

60 Diesen Begriff einer ,fließenden Geometrie' hat Ziegler (1992) eingehend behandelt anhand Steiners spärlichen Angaben. Er führt aus, wie im Sinne der modernen Mathematik die aXiomatisch aufgebau-ten geometrischen Strukturen ganz neutral sind gegenüber ihrer Deutung im ,Raum` (ihren Modellen) und mithin die (theoretische) Mathematik der eigentlichen Raumesqualität als Anschauungselement entbehrt (S. 169-170). Ein qualitatives Mathematisieren bezieht die Entstehungs und Verwandlungs-bedingungen der konkret gedeuteten Strukturen als die ,Funktionsgesetzmäßigkeit` ihres Erscheinens in eine dynamische Betrachtungart mit ein (S. 270-272). Die indiViduellen KurVenformen ,entstehen` (erscheinen) in der gesetzlichen Bewegung als Formmomente (Kreis, Ellipse, Parabol und Hyperbol in den Kegelschnitten, die Lemniskate in Cassinischen KurVen und dergleichen mehr).

61 Vgl. G. Adams (1962), S. 22-23, der in diesem Zusammenhang auf seinen Freund E. Blümel hinweist. 62 Das klassische Beispiel der Dualität. Siehe u. a. Klein (1928), S. 33-40.

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226 KAPITEL VI

Satzes63 verdeutlicht (GA 76\63-69). Die drei Verbindungsgeraden der sechs Schnitt-punkte (dual zu sechs Verbindungslinien beim Pappos'schen Satz) laufen zusammen in einem Punkt P (dual zu den drei Schnittpunkten auf einer Gerade 1). Wie die Bewegung entlang 1 ein Verhältnis der Schnittpunkte von ,vorn, mitten und hinten' aufweist, so kann man auch eine innere Differenzierung von ,vorn`, ,mitten` und ,hinten` wegen der drei Geraden in P denken.64 Diese innere Differenzierung wäre geometrisches Pendant des zahlenmäßigen Differentials, der qualitativ bestimmten ,Null`. Eine der projektiven Geometrie Rechnung tragende Ausbildung dieses Ansatzes Steiners für eine qualita-tive Geometrie finden wir u. a. bei Adams und L. Locher-Ernst. Nach Adams gibt es eine vollwertige Geometrie der Linien und Ebenen im Punkt (eine ,Punktgeometrie`) wie eine Geometrie der Linien und Punkte in der Ebene.65 Locher-Ernst unterscheidet ferner qualitativ vier Bewegungsformen in der wechselseitigen Beziehung der geo-metrischen Grundgebilde untereinander, vier elementare Metamorphosentypen, die Gegensätze Dehnen und Verdichten im Punktraum und das duale Umschließen und Weiten im Ebenenraum (,Gegenraum`),66 entsprechend der Goethe'schen Polarität von Systole und Diastole. Er definiert dazu die Metamorphose von Punkt in Gerade, von Pol in Polare auf geometrischexakte Weise.67

In dem kurzen Zyklus Über die vierte Dimension, Mathematik und Wirklichkeit (GA 324a) von 1905 hebt Steiner mehrmals die grundlegende Polarität im Raum hervor, z. B. mit der Aussage: „ein Punkt, wenn er sich ausdehnt oder hinausstrahlt, kommt als Sphäre aus dem Unendlichen zurück [ ... ] Im Punkte lebt der Raum. Der Punkt ist das Gegenteil des Raumes" (GA 324a\31). Steiner fordert in diesem Zyklus grundsätzlich dazu auf, geometrisch zu denken in diesen Gegensätzen. Adams führt zuletzt diese Behandlungsart Steiners zurück auf sein Konzept der Goethe'schen Raumidee und bringt es auf eine Formel: sei F (P, l,zt) eine beliebige geltende funktionale Beziehung (Satz: F) von Punkten (P), Linien (1) und Ebenen (st), dann gilt das Dualitätsprinzip: F (P, 1, t) E--* F (n, 1, P). Es soll dies nichts anderes sein als die Idee des Raumes: die allge-meine, einheitlich-ideelle gegenseitige Bedingung der Raumesbeziehungen.68 Die Idee

63 Die drei Schnittpunkte auf den sechs Verbindungslinien durch zweimal drei Punkte auf zwei Geraden einer Ebene sind kollinear.

64 Diese Vorstellung, die Steiner wahrscheinlich am mathematischen Seminar in Basel vortrug, erhielt wenig Respons. Dazu Ziegler, GA Beiträge 114-115\23 und 38.

65 Adams (1962), § 137, S. 241-243. Man muss allerdings das Euklidische AXiom ,das Ganze sei größer als der Teil` fallen lassen (ebd., S. 113).

66 In: Raum und Gegenraum, Einführung in die neuere Geometrie, 2. Aufl. Dornach 1957, Abschnitt n, S. 89-97. Hinweis zur GA 76 von Ziegler in GA Beiträge 114-115\52, Anm. 27. Diese Betrachtungsart ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung der dynamischen Denkweise Von Jakob Steiner (1832) und Theodor Reye (1866).

67 In: Geometrische Metamorphosen, Dornach 1970, S. 22-34. Vgl. ferner Ziegler (1992), S. 124-139. 68 Adams (1962), S. 310-311. Obwohl das Buch Von Adams erst 1933 fertig wurde, gilt hier, dass auch durch

den persönlichen Kontakt und auch durch Vermittlung von Blümel diese Folgerungen den Steiner'schen Gedanken sehr wahrscheinlich entsprachen. Adams hatte bei Russell studiert. Der frühe Russell hielt die projektive Geometrie ebenfalls für die allgemeinste Geometrie Von einer unVermeidlichen Zirkularität (Dualität), die die RelatiVität des Raumes, seinen reinen Beziehungscharakter, offenlege (Russell [1897],

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 227

des Raumes ist ja die allerallgemeinste und einfachste ,Beziehung von Beziehungen'. Da Steiner zuerst der projektiven Geometrie begegnete und erst später die Goethe'-sche Raumesidee formulierte, kann diese Interpretation Blümels und Adams zusätzlich zur historischen Ableitung dieser Raumesidee als eine Verallgemeinerung des Prinzips des invarianten Doppelverhältnisses und der projektiven Dualität betrachtet werden. Steiner schreibt ja erst nach dieser Entdeckung der projektiven Geometrie über den allgemeinen Raumbegriff.

Die neuere formal-axiomatische Behandlungsart der projektiven Geometrie hatte sich übrigens um die Jahrhundertwende von der älteren synthetischen Geometrie wie-der zu entfernen begonnen.69 Im Wintersemester 1920\1921 hielt Steiner einen Vortrag über das Verhältnis von analytischer und synthetischer Geometrie im Mathematischen Seminar der Universität Basel. Er berichtet darüber, dass er, u. a. am Beispiel der Asym-ptoten einer Hyperbel, der qualitativen Umstülpung der Kurve nach dem Durchgang durch die unendlich fernen Punkte der beiden Asymptoten (Schnittpunkte mit der Hyperbel), eine ,konkrete Behandlung des Raumes' versucht habe, die dann aber auf wenig Verständnis gestoßen sei: „Man findet sogar eine gewisse Abneigung vielfach bei reinen Analytikern gegen die synthetische Geometrie" (GA 324a\209-210) .70 Das Zeitalter war seit den achtziger Jahren vorgerückt zu einer hauptsächlich analytisch-algebraischen (Hamilton, Riemann, Graßmann) und axiomatischen (Hilbert) Behand-lungsart der Geometrie.

§ 6.6. Projektive Dynamik

Der nächste Schritt Steiners ist die Erweiterung des Dualitäts- oder Polaritätsprinzips zu den dynamischen polaren Verhältnissen. So verbindet Steiner die projektive Denk-weise mit Goethes Naturwissenschaft. Damit entfernt sich Steiner von den üblichen Vorstellungen der klassischen Mechanik und Physik. Die Bewegung wird in der New-ton'schen Dynamik als aus linear wirkenden Kräften hervorgegangen vorgestellt. Eine neue dynamische ,Dimension` lässt Steiner dadurch entstehen, dass eine Kraftbewe-

§ ii6) . Russell versucht, den dialektischen Antinomien dieser RelatiVität zu entgehen, indem er der reinen Potentialität der Teilbarkeit der Raumesbeziehung die qualitatiVen materialen Atome, die ,units of differentiation`, entgegensetzt, wodurch eine widerspruchslose eXterne ,spacial order' ohne diese Antonimien entstehe (Russell [1897], §199 und §§2O6-2O8). Hylton (199O) zeigt, dass Russell hier Bradleys Dialektik Von Appearance and Reality (1893) anwendet (S. 72—lOi).

69 Steiner bemerkte 1921 über die die Formeln begleitende ,wirklich kontinuierliche Vorstellung': „Ich habe auch noch niemals gesehen, daß in der Behandlung des mathematischen Lehrstoffes ein großer Wert darauf gelegt wird, solche Vorstellungen auszubilden" (GA 323\174). Hilberts und Cohn-Vossens Anschauliche Geometrie (Berlin 1932) war eine Ausnahme. „Die Entwicklung der letzten Dezennien hat es aber mit sich gebracht, daß in Deutschland Vielfach die abstrakten logischen Untersuchungen der Geometrie in den Vordergrund des Interesses traten, während die Ausbildung der zugehörigen Anschauung vernachlässigt wurde", sagt auch Klein (1928, S. 32).

7O Vgl. zu diesem Vortrag Steiners R. Ziegler, Über einen mathematischen Vortrag Rudolf Steiners in Basel, GA Beiträge 114-115\2O-52.

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228 KAPITEL VI

gung nicht in eine Richtung fortgesetzt, sondern dass ihr polar begegnet wird: „Erst durch die Vorstellung, dass Sie zwei einander entgegenkommende Kräfterichtungen haben, die sich dann in einem Punkte stauen, erst dadurch haben Sie eine neue Dimen-sion" (GA 324a\84).71 Eine Bewegung, die von zwei Seiten dem Unendlichen entquillt, begegnet sich im Endlichen, also ,in der Mitte, und bildet dann senkrecht zur ersten Richtung eine Fläche: „Ich fasse also eine Dimension als in sich polaren Kräftestrom auf, so dass sie eine positive und negative Dimensionskomponente hat, und die Neu-tralisation [ ... ] , das ist die neue Dimension" (GA 324a\84) . Steiner kommt es hier auf ein ins Ideelle gehobenes Kräfteverhältnis an. Die Bewegung ist nicht materiell, doch willenhaft, dynamisch gemeint.72 Diese Vorstellungsart erfordert den Begriff des Gegensatzes (GA 324a\44) : „Ohne Polaritäten kommen wir nicht aus, wenn wir uns die Welt kraftvoll dynamisch vorstellen wollen" (GA 324a\31) . Die Polarität einer aus beiden Enden der Gerade entgegenlaufenden, in sich polaren, treibenden Bewegung gibt in diesem Zusammenhang Aufschluss über den Übergang vom Ideellen zum Räumlichen (Physischen). Der unendlichferne Punkt einer Linie ist projektiv nur einer, nach links sowohl wie nach rechts. Steiner lässt deswegen die polare Bewegung hervorgehen aus einem, in sich differenzierten, unendlichen Ursprung.

Eine wichtige Eigenschaft der projektiven Ebene ist ihre Einseitigkeit. Ziehen wir einen sich drehenden Kreis durch die unendlichferne Gerade hindurch, so erscheint er auf der entgegengesetzten Seite der Ebene mit umgekehrtem Drehsinn. Man kann in einer endlichen Fläche dasselbe durch Verschiebung nur mit einem ,Möbiusband` erreichen, das nur eine Seite hat.73 Plus und Minus können bei den projektiven Trans-formationen in einer Ebene immer ineinander überführt werden, nicht aber auf einer begrenzten Geraden oder im endlichen Raum. Auch die unendlichferne Ebene hat also nur eine Seite, wie Klein entdeckt hat.74 Das heißt, es gibt bei ihr, wie bei jeder Ebene mit einer unendlichfernen Geraden (anders als bei einer gekrümmten Fläche wie etwa einer Kugel), keine Innen- und Außenseite. Es gibt mithin auch kein ,Außen` in Beziehung zur unendlichfernen Grenzebene.75 Da Links und Rechts, Oben und Unten, Vorn und Hin-ten dort aufgehoben sind, gibt es tatsächlich eine coincidentia oppositorum (Cusanus)

71 Steiner stellt dementsprechend die Seiten eines Quadrats vor als Stauungen zwischen einer Bewegung vom Mittelpunkt aus in die Richtung zur Peripherie und einer eXakt entgegengesetzten vom Unendli-chen her, die sich treffen im Schnittpunkt in der Mitte der Seiten. Senkrecht auf den entgegengesetzten Richtungen (Linien) entsteht in der Stauung jeweils die nächste Dimension, i. c. die orthogonale Linie (Seite), sodass das ,mentale Bild' eines Quadrats (d. h. wohl das Bild ihrer ideellen Dynamik) aussieht wie ein Kreuz Von gegenläufigen Bewegungen (GA 324a\42-46).

72 Steiner denkt den Willen als dynamische Idee, nicht umgekehrt Bewegung und Kraft als ein Unbe-kanntes, dem Ideellen Entgegengesetztes: „Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt" (GA 1\197), wie auch Hegel es tut: Die Idee ist nicht etwas Ohnmächtiges, sondern das Wirkende selbst (ENZ § 142, Zusatz).

73 Klein (1928), S. 14-16. Dreidimensional ergibt sich der einseitige Klein'sche Schlauch; Klein (1928), S. 262.

74 Briefwechsel mit Schläfli. Siehe Adams (1962), S. 39o.

75 Adams (1965), S. 393-395.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 229

im geometrisch Unendlichen.76 Wir sahen schon, dass Steiner die beiden Kräfterich-tungen, die eine neue Dimension konstituieren, aus dem Unendlichen hervorgehen lässt. Steiner wendet diese Verschlingung im Unendlichen weiter zum Verständnis ein-facherer Raumesverhältnisse an (die Quelle ist hier wahrscheinlich Simony).77 Stellen wir uns statt des Möbiusbandes ein zweimal (d. h. um 360°) verdrehtes Band vor und zerschneiden wir es in der Mitte, so haben wir zwei verschlungene Bänder. Ähnlich solten wir uns die actio in distans vorstellen, denn Steiner gibt als Beispiel solcher ver-schlungenen ,Dimensionen` die Bahn des Mondes um die Erde und Sonne an, die als eine innere Abzweigung zu verstehen sei (der Erde und des Mondes von der Sonne und des Mondes von der Erde) und offensichtlich nicht als eine äußere Zusammensetzung von zentrifugaler Bewegung und zentripetaler Anziehung (GA 324a\23-24 und 93) . Die Physik des 19. Jahrhunderts kennt lediglich Zentralkräfte, die aus einem Punkt wirken und ein Maß (einen Potentialwert) besitzen. Man kommt in der lebendigen, aber auch schon in der unlebendigen Natur nicht ohne die entgegengesetzten ,Universalkräfte aus, die ohne berechenbaren Potentialwert aus der Peripherie (dem Unendlichen) wir-ken (GA 320\38-40). Als Ergänzung zu einer atomaren Betrachtung der Mechanik muss es eine umfassende projektive geben. In einer solchen ist die Beziehung auf die einsei-tige, in sich polare projektive Ebene fundamental.78 Steiner hat sie nur im Einzelnen angedeutet, u. a. in Beziehung auf die Wärmelehre und das Licht, womit er sich an der Hochschule grundlegend beschäftigte: „Durch die mechanische Wärmetheorie und die Wellenlehre für die Lichterscheinungen wurde ich in erkenntnistheoretische Studien hineingedrängt" (GA 28\68) .

In der Wärmelehre war Steiner bei Edmund Reitlinger (1830-1882) an der Techni-schen Hochschule von der Clausius'schen Theorie ausgegangen, die das Gas atomisch und die Wärme als Bewegung der Partikel (kinetische Energie) erklärte (GA 28 \1975, 47-48) . Seiner Kritik der atomaren Begriffe entsprechend versuchte Steiner, der Wärme rein

76 Adams (1965), § 227 über den Ausgleich der Gegensätze durch die unendliche Ferne, S. 399-4O2. 77 Simony, Gemeinfaßliche, leicht cntrolierbare Lösung der Aufgabe: In ein ringförmig geschlossenes Band

einen Knoten zu machen, und verwandter merkwürdiger Probleme, Wien 1881 (GA Beiträge 114-115\116). Hinweis Ziegler in: GA 324a\235-236, Anm. 14.

78 Erst G. Adams, Universalkräfte in der Mechanik (Dornach 1996: S. 15-86), hat sie 1956-1959 zu skizzie-ren unternommen, wobei er u. a. die gerade Translation als Rotation um eine unendlichferne Achse auffasst und die eindimensionale Kausalität durch ein polares, funktionelles Verhältnis von Bewegung und Impuls ersetzt. P. Gschwind hat sogar eine projektive Interpretation einiger Gleichungen der Quantenphysik Vorgeschlagen (unter Voraussetzung eines Gebrauchs der Quadriquaternionen, die der projektiven Geometrie des Raumes algebraisch entsprechen sollten: Methodische Grundlagen zu einer Projektiven Quantenphysik, Dornach 1979, S. 72 ff.). Die projektiVe Geometrie und die Clifford'sche Algebra sind zusammengebracht worden in Projective Geometry with Clifford Algebra Von D. Hestenes und R. Ziegler (in Acta Applicandae Mathematicae, Bd. 23, 1991, S. 25-63). Neuerdings hat O. Conradt ihre Anwendung in der Physik gezeigt in Mechanics in Space and Counterspace, in: Journal

for Mathematical Physics, Bd. 41, Nr. io, Okt. 2OOO, S. 6995-7O28. Eine Darstellung und Beurteilung dieser Ansätze liegen selbstverständlich außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung. Sie zeigen jedoch, dass Steiners Angaben sich jedenfalls mathematisch konsequent Verwenden lassen.

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230 KAPITEL VI

phänomenologisch beizukommen.79 Da zeigt die Wärme sich als eine neue Dimension gegenüber den drei Dimensionen des Raumes. Steiner stellt sie als ein von außen, aus der vierten Dimension Wirkendes vor, das den rein dreidimensionalen, mechanisch-kausalen Vorgängen von Stoß und Bewegung nicht einfach gleichzusetzen ist (GA 321\64-69). Die drei Phasen der Materie, fest, flüssig und gasförmig, sind alle räumlich. Der schwere, feste Körper hat Gestalt, d. h. der Körper behauptet eine ,Indi-vidualität` gegenüber seiner Umgebung (GA 321\126). Das Wesen der Wärme erscheint als die Negation der Schwerkraft und hebt die Gestalt auf, zuerst im Flüssigen und dann im Gasförmigen.80 Diese beiden gehen stufenweise stets mehr auf die Wärme ein und werden ihr immer ähnlicher (GA 321\128-129). In Analogie zur projektiven Gerade führt Steiner aus, dass dieses scheinbar lineare Spektrum von materiellen Zuständen vom Festen zur Wärme sich in Wirklichkeit im Menschen rundet, freilich unter der Voraussetzung, dass die Phasen entmaterialisiert in den Menschen hinein fortgesetzt werden: Wille soll nur innere Wärme (also „mit negativen Vorzeichen") und Vor-stellung „entmaterialisierte" Raumesgestalt der Außenwelt sein. Beides begegnet sich in uns, da Wille und Vorstellung, innere Wärme und materielose Gestalt, in unserer Selbstbetätigung ständig ineinander übergehen (GA 321\158-161).

Zuletzt interpretiert Steiner die Erscheinungen des Lichts mit Hilfe von projektiven Begriffen. Er deutet den Grundgegensatz der Goethe'schen Farbenlehre als Gegensatz von strahlendem Licht und dunklem, unendlichem Raum. Steiner stellt sich vor, dass der Punkt nach allen Seiten Licht ausstrahlt und aus der Unendlichkeit herkommend seinem Gegenteil, der Dunkelheit, begegnet (GA 324a\30-31). In der Farbenlehre gibt es nicht nur das lineare Spektrum des Lichts mit Grün in der Mitte, sondern auch dessen Umkehrung (Steiner: das Spektrum aus der Dunkelheit) mit der Farbe der Pfirsichblüte (Goethe „Purper") in der Mitte (FL § 216) . Beides zusammen ergibt den Farbenkreis (FL § 707). Das normale, linienhafte Spektrum wäre eine projektiv-endliche Metamorphose des ganzheitlichen, ideellen Kreisspektrums, das sich in räumlichen Verhältnissen bruchhaft und linear abbildet (GA 321\164-166).

Über die direkten Naturerscheinungen hinaus ermöglicht es diese qualitativ-mathe-matische Betrachtungsart, namentlich ihr qualitativer Begriff der Dimensionalität, noch die Zeitstruktur des Bewusstseins zu erfassen, wie Steiner es, anknüpfend an Brentano, in seiner Psychosophie (1910; GA 115) versucht. Die Zeit wird in der Mechanik

79 L. Boltzmann hatte sich zum Ziel gesetzt, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (der Entro-piezunahme) aus der Mechanik abzuleiten. Dies ist unmöglich geworden, seit man sich genötigt sah, den Determinismus der klassischen Mechanik aufzugeben. Damit wurde die Wärme nicht länger mechanisch ableitbar und deshalb wieder ein selbständiges qualitatives Phänomen, u. a. bei Bohr und Heisenberg, statt ,Epiphänomen`. Vgl. dazu: Verhulst (1994), S. 63-68, der darin eine Berechtigung von Steiners Phänomenologie der Wärme sieht. Vgl. auch in Böhme/Schiemann (1997): M. Basfeld, Phänomen — Element — Atmosphäre. Zur Phänomenologie der Wärme, S. 19O-212.

8o Steiner sieht in den Stufen: feste Gestalt, Flüssiges, Gas, ein schrittweises Abstreifen der Dimensionen der Gestalt: Von fester Raumes-Gestalt, zur allseitigen flächenhaften Begrenzung (Flüssigkeit) und linienhaften, zentrifugalen EXpansion der Gase. Die Wärme ist wieder dimensionslos.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 231

räumlich vorgestellt, aber die Unumkehrbarkeit der Zeit in realen Prozessen zeigt, dass sie eine eigene, vom Raum nicht determinierte Natur hat. Zum Erfassen der Zeit werden wir deshalb den Raum zu verlassen und auf unser Seelenleben zu reflektieren haben, das sich aus seinen Zeitverhältnissen aufbaut (GA 324a\215) .81 Nach der dritten Dimen-sion kommend, ist die vierte Dimension der Zeit wieder „zweidimensional" und lässt sich daher mit der unendlichfernen Grenzebene vergleichen. Sie ist gleichsam ,Zeit-ebene, aus den drei Dimensionen herausgehoben und räumlich „ebenso nirgendwo wie überall" (GA 324a\218) . Die Zeit hat zwei einander entgegengesetzte Richtungen, die aus der Vergangenheit bzw. aus der Zukunft herkommen und sich im aktuellen Bewusstsein begegnen. Das Bewusstsein ist eben das „Übereinanderschlagen dieser Strömungen" (deshalb die neue fünfte Dimension; GA 115\1931-141). In der linearen fünften Dimension fehlt die Ausbreitung (d. h. die Fläche). In dem Selbstbewusstsein, einer sechsten Dimension, die aus dem Zusammenstoß von Denken und Empfindung hervorgeht, fehlt dazu noch das Analogon der ersten Dimension. Das Ich ist zuletzt wie-der punkthaft und räumlich dimensionslos (GA 324a\220).82 Steiners Bewusstseinslehre ist Gegenstand der nächsten Kapitel. Hier soll gezeigt werden, dass die mathematischen Grundvorstellungen in diesem Bereich analog Anwendung finden. Die abstraktere, rein quantitative Dimensionenlehre (Mannigfaltigkeitslehre) wird dabei ersetzt durch eine qualitative Dimensionsstruktur. Der Aufstieg zu ,höheren` Dimensionen ist nicht nur qualitätslose Addition einer neuen Variablen, sondern nach drei Dimensionen Sub-straktion und endet zuletzt in der Dimensionslosigkeit. Steiner invertiert die entfaltete Dreidimensionalität und biegt sie zirkelhaft zum Anfang zurück. Fasst man die mate-rielle Welt als fertige Extension auf und setzt ihr die geistige Welt des Denkens und Empfindens entgegen, so stehen beide einander wohl unversöhnlich fremd gegenüber (gemäß dem Dualismus von Descartes). Mit der dynamischen Auffassung versucht Steiner, sowohl das ,Entstehen` des Raumes (der Extension) als auch seine Inversion in Zeit, Empfindung und Selbstbewusstsein ideell einsichtig zu machen.83 Die Polarität im projektiven geometrischen Raum liefert dafür die Grundstruktur. Es bleibt noch übrig, mit philosophischen Begriffen tiefer in diese Struktur einzudringen.

81 Für Kant ist Zeit bekanntlich die Form des inneren Sinnes (KDRV B 54). Die Zeit wurde Von Heidegger und Sartre später, nach den Angaben Husserls, als Grundprinzip der endlichen SubjektiVität überhaupt (,Dasein` oder ,EXistenz`) betrachtet.

82 Den Geist oder das noch ,übergeistige` Eine als allgegenwärtigen Mittelpunkt finden wir namentlich bei Plotin, aber ebenso bei Cusanus, Bruno, Baader und Schelling. Vgl. Mahnke (1937), v. a. S. 215-221.

In der Neuzeit schrumpft dieser Punkt zur Monade (Ich) im Raume, so u. a. in Leibniz' Mnadologie

(Mahnke, a. a. O., S. 17-19). 83 Vgl. Anm. 79. Es stellen die materiellen Phasen im Raume schon eine solche Dimensionsstruktur

dar. Die feste kristallische Materie hat Dreidimensionalität (und mittelpunktgerichtete Schwere). Das Flüssige ist strömende Flächenbildung, Gas die linienhafte EXpansion und Wärme dimensionslose, im Raum ausstrahlende intensive Größe. Sie schließen sich nach Steiner, wie im HauptteXt erwähnt, der vierten Dimension, entzweit in Vorstellung und Wollen, an beiden Seiten (Raumgestalt und Wärme) an. In der fünften Dimension des Bewusstseins sind beide zusammen Vorhanden, und im Ich

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232 KAPITEL VI

§ 6.7. Mathematik und Dialektik

§ 6.7.1. Qualitative Mathematik und Dialektik

Die vorherigen Beispiele mögen ausreichen, um zu zeigen, dass Steiner innerhalb der Mathematik einen Übergang ermöglicht sah von einer metrischen, rein quantitativen zu einer „qualitativen Mathematik" (u. a. GA Beiträge 114-115\28), die von einer atomis-tischen, materialistischen Mechanik zu einer phänomenologischen Betrachtungsweise hinüberführen sollte. Mit einer „qualitativen Mathematik" hat Steiner, dieser Ausfüh-rung nach, sich nicht auf das Formale, die logisch-deduktive Natur der mathematischen Methode, beschränken wollen. Nach diesem Modell auch Goethes Phänomenologie zu strukturieren, hat er nicht nur nicht unternommen, sondern es war auch nicht die Absicht seiner Mathematisierung der Phänomenologie. Vielmehr sollten die Grund-begriffe und Einsichten der projektiven Geometrie für die Phänomenologie fruchtbar gemacht werden. Aber damit wäre lediglich jene in diese gleichsam importiert worden. Umgekehrt wurde jedoch zugleich die Umgestaltung der Mathematik unternommen mit Elementen von Goethes Phänomenologie: der Metamorphose und der Polarität. Wir haben aber Kapitel Iv gesehen, dass diese sich vertiefen ließen mit Hegels Dialektik, was sogar Voraussetzung sei für die Interpretation von Goethes Resultaten (§ 4.3) . Stellt sich dasselbe auch in diesem Bereich heraus?

Ziegler behauptet, dass Steiners Auffassung des Mathematisierens im Grunde dieje-nige Hegels sei.84 Wenn Steiner sagt, die Mathematik operiere mit Abstraktionen („Die mathematischen Urteile sind keine Urteile, die die wirklichen Objekte voll umfas-sen, sondern sie haben nur innerhalb der ideellen Welt von Abstraktionen Gültigkeit, die wir selbst als eine Seite der Wirklichkeit von der letzteren begrifflich abgesondert haben"; GA 1\239-240), so ist dies eine Kritik an der Mathematik, die vor ihm auch Hegel an ihr geübt hat, in der Vorrede der PHDG (S. 35-39). Die Mathematik beschäftigt sich, Hegels Ansicht nach, mit dem „Prinzip der Größe, des begrifflosen Unterschiedes und [dem] Prinzip der Gleichheit, der abstrakten unlebendigen Einheit" (PHDG 39).

Entsprechend sieht Ziegler eine doppelte Unvollkommenheit in der mathematischen Theorie. Sie abstrahiert vom Qualitativen, und methodisch bestimmt sie in konstrukti-ver Art durch deduktive Beweise ihren Inhalt in der Form reiner ,Beziehungsgefüge. Sie spricht namentlich von den Strukturgesetzen, den Modellen, weniger von der Eigen-art ihrer Grundelemente (die ,Grundlagenkrise` sollte sie davon abhalten). Gerade die ,Arithmetisierung` und ,Formalisierung` der Mathematik haben seither versucht, die Reduktion auf das Quantitative (die Zahlen- oder algebraische Struktur) und auf den formalen Kalkül zu leisten. Es bleibe eine doppelte Unvollständigkeit: die Größe dem

(sechste Dimension) schließt sich den Kreis, wenn sie nicht nur in Wechselwirkung treten, sondern in die höheren Einheit Von Denken und Wollen eingehen (Vgl. dazu Kap. IX).

84 Ziegler (1992), Kap. VIII, Hegel und die inhaltslogische Bestimmung der Mathematik, v. a. S. 178.

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 233

phänomenalen Qualitativen zu verbinden und auf der ideellen Seite die Abstraktionen auf die inhaltliche Begriffe (Ideen) zurückzuführen. Das Erstere ist namentlich die Auf-gabe der ,fließenden Geometrie, wie Ziegler darstellt. Das Allgemeine wird in seinen Modifikationen dem Anschaulichen und damit dem Wirklichen nahe gebracht. Das Zweite „harrt noch ihrer Ausführung. Seit Hegel sind nur wenig Fortschritte in Rich-tung einer Philosophie der Mathematik auf idealistischer (oder gar ideenrealistischer) Grundlage geleistet worden" (Ziegler).85

Die zweite Unvollständigkeit liegt nach Hegel in der Abstraktion der Mathematik selber, nämlich in der Abstraktion nicht von den sinnlich-anschaulichen Qualitäten, sondern eher von dem konkreten Begriff. Hegel: „Denn es ist die Größe, der unwe-sentliche Unterschied, den die Mathematik allein betrachtet. Daß es der Begriff ist, der den Raum in seine Dimensionen entzweit und die Verbindungen derselben und in denselben bestimmt, davon abstrahiert sie; sie betrachtet z. B. nicht das Verhältnis der Linie zur Fläche; und wo sie den Durchmesser des Kreises mit der Peripherie vergleicht, stößt sie auf die Inkommensurabilität derselben, d. h. ein Verhältnis des Begriffs, ein Unendliches, das ihrer Bestimmung entflieht" (PHDG 38). Die Lösung der zweiten Auf-gabe, diese ‚Abstraktion vom Begriff rückgängig zu machen, soll eben die Dialektik leisten.86

§ 6.7.2. Zahl und Rechnen

Erstens fragen wir uns, ob wir in den Grundbestimmungen der Zahl (,das Eins') Spuren Hegel'scher Dialektik bei Steiner nachweisen können.

In GA 2 kritisiert Steiner Kants synthetische Urteile a priori der Mathematik wie ,7 + 5

= 12' und ,die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten` (KDRV B 15-16). Kant meint, wir appellierten dabei an die Anschauung, um das Subjekt mit dem Prädikat verbinden zu können. Nach Steiner ist dies ein ‚künstliches Gedankengebäude, denn der Subjektbegriff und Prädikatbegriff „sind von meinem Verstande gewonnen und das an einer Sache, die in sich einheitlich ist" (GA 2\75) . Erstens wäre also zu erkennen,

85 A. a. O., S. 183. Von philosophischer Seite wären aber um die Jahrhundertwende doch Cohen und Natorp zu nennen wie andererseits Rickert (dessen Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlsbegriffs, in Unmittelbarkeit und Sinndeutung, Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie, Tübingen 1924).

86 Man würde ja die TeXte Hegels hier missVerstehen, würde man die fiXierte Abstraktion für das Schlechte halten. Nicht nur soll der Mathematik ihr toter Stoff „gelassen werden", da er ihr eigentümlich ist (PHDG 4o), Denken ist zunächst überhaupt „Sichselbstgleichheit oder die reine Abstraktion" (PHDG 45). Mathematik ist Denken und deshalb Abstraktion, nur geht sie den Weg nicht zu Ende, denn reine Abstraktion ist auch noch die Abstraktion von sich selbst, mitunter von den konkreten Inhalten wie den mathematischen Gedanken, und ihre „Auflösung" (PHDG 45) „in das immanente Selbst des Inhalts" (PHDG 46). In der WDL werden die mathematischen Stoffe also zu ihrer selbst bewussten (d. h. dialektisch entwickelten) Abstraktionen. Die Zahl, die abstrahiert Von der sinnlichen Mannigfaltigkeit und Qualität, wird z. B. erkannt als „der reine Gedanken der eigenen Entäußerung des Gedankens" (wDL I\244).

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234 KAPITEL VI

aus welcher Einheit beide Begriffe sich ausgegliedert haben, wovon sie also abstrahiert sind: „Die mathematische Einheit, welche der Zahl zugrunde liegt, ist nicht das erste. Das erste ist die Größe, welche eine so und so oftmalige Wiederholung der Einheit ist. Ich muss eine Größe voraussetzen, wenn ich von einer Einheit spreche. Die Einheit ist ein Gebilde unseres Verstandes, das er von einer Totalität abtrennt" (GA 2\75) . So haben wir zweimal eine abgetrennte Menge, einmal in zwei Teilen und das andere Mal auf einmal gedacht: „So ist das ganz dieselbe Sache" (GA 2\75), also kein rein synthetischer Satz: „Diese Identität spreche ich in dem Urteile 7+5 = 12 aus" (GA 2\75).

Statts Kants kompositiver Synthesis setzt Steiner einen inneren Zusammenhang, der aus den zu synthetisierenden Begriffen hervorgehen soll, denn sie sind nicht so sehr Synthesen als vielmehr Abstraktionen eines einheitlichen Begriffs der ,Größe, nämlich Bestimmungen oder Teile derselben. Dies ist auch Hegels Auffassung.

In der WDL ist die Grundlage der Bestimmungen der Quantität: die allgemeine Größe (WDL I\211-213), die „als Einheit des Außersichseins Einheit mit sich selbst ist" (wDL I\212), daher „aufhebende Beziehung auf sich selbst" und „erzeugendes Fortfließen seiner selbst" (WDL I\213). Dann differenziert die Größe sich in ein diskretes Quantum: die Zahl, eine zusammengezählte, ,gesetzte Einheit vieler Einsen (WDL I\231). Das Bilden der Einheit ,12` ist ein Nummerieren, ein äußerlicher, und zwar der gleiche Vorgang wie das Addieren von ,7+5`. Hegel zu Kants Beispiel des a priori synthetischen mathematischen Urteils ,7+5 = 12': „Die Summe von 5 und 7 heißt die begrifflose Verbindung beider Zahlen. Das so begrifflose fortgesetzte Numerieren von Sieben an, bis die Fünf erschöpft sind, kann man ein Zusammenfügen, ein Synthetisieren, gerade wie das Numerieren von Eins an, nennen, das aber gänzlich analytischer Natur ist" (WDL I\238). Der Schnitt nach 7 im Durchnummerieren ist also unwesentlich und deshalb das Urteil ,analytisch`. Die Urteilsgrundlage (unterliegende wesentliche Struktur und unwesentliche Einteilung) ist für Hegel und Steiner dieselbe.

Beider Zahlbegriff ist auch derselbe. Steiner nennt zwar die natürliche Zahl einen ,nominalistischen Begriff, weil es keinen kontinuierlichen Übergang derselben geben könne (Hegel: diskrete Größe). Die Zahlen entstehen allein durch das Nummerieren bzw. das jeweilige Addieren von eins. Eine Zahl, sagt auch Hegel, ist nicht ,Begriff im eigentlichen Sinne: „Was Vier, Fünf usf. ist, kann nur gewiesen werden" (WDL I\236), denn sie sind nur ein „ganz äußerliches Zusammengefügtsein des beliebig wiederhol-ten Gedankens, Eins" (wDL I\237-238). Es scheint bei Steiner nicht die ,Größe als solche ein nominalistischer Begriff zu sein, sondern nur ,die Zahl` als das Zusammen-fassende der natürlichen Zahlen: 1, 2, 3 usw. Die Zahlenarten entstehen nicht mehr durch einfaches Nummerieren, sondern — wie erwähnt — durch Abstraktion und Ver-allgemeinerung der Rechnungsarten, die für Hegel folgendermaßen eine stufenweise Reflexion der Zahl darstellen. Die Addition ist das Zusammenfassen willkürlicher, ungleicher Zahlen, die Multiplikation das Zusammenfassen durch die Anzahl (das Zählen) gleicher Faktoren (Einheiten), somit nichts anderes als die Grundstruktur der Zahl (Anzahl Einsen), und zuletzt ist das Potenzieren die Gleichheit von Anzahl und Einheit, die Reflexion der Zahl in sich. Hegel geht auf die Verallgemeinerung der

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 235

,negativen Rechnungsarten' (Subtrahieren, Teilen und Radizieren) nicht ein, da diese „keine immanente Entwicklung des Begriffs" sind (WDL I\243). Der Fortgang hat hier eine äußerliche Form der Gleichheit und Ungleichheit von Anzahl und Einheit. Aus einzelnen Bemerkungen Steiners geht hervor, dass er doch meinte, die höheren Zah-lenarten seien nicht nur weitere Abstraktionen, sondern höben in ihrer Allgemeinheit die verstandesmäßige Abstraktion der natürlichen Zahl wieder auf (GA 324a\149-156).87 Der letzte sinnlich-anschauliche Rest, der noch der ersten Abstraktion der natürlichen Zahl anhaftet (bei Kant: beim Abzählen an den Fingern oder an vorgestellten Punkten), wird abgelegt, und das Prinzip des Zahlbildens (Operation oder Gesetz) wird mit dem mathematischen Objekt unmittelbar eins (wie in s/-1). Die stufenweise Abstraktion wäre somit weder als eine extensionale Synthesis noch als ein Aufeinanderhäufen von logischen Konstruktionen zu verstehen, sondern als eine ,Abstraktion` zurück zum reinen Begriff der Zahl: die Operation der Zusammenfügung oder Zergliederung von Größen in Größen, d. h. die diskrete Quantität als Einheit in seiner Vielheit eines ,Außersichseins` oder ,Außersichkommens` (die qualitativen geometrischen Deutun-gen, wie Abstand, Richtung, Drehsinn usw. beschränken zudem die an sich qualitätslose Zahl nicht).

§ 6.7.3. ,Auflösung der Zahl'

Die Allgemeinheit, die nicht zur Einheit wird, sondern nur die Tendenz dazu hat, das über jedes begrenzte Quantum Hinausgehende, ist die ,schlechte Unendlichkeit

des Progresses' (Hegel, WDL I\288). Als solche ist sie der unaufgelöste Widerspruch (WDL I\262, vgl. ENZ § 94). Wir sahen in Steiners Kommentar zur Ausdehnungslehre Graßmanns („regressus ad infinitum ohne Halt") und zur Lehre vom Transfiniten Cantors („eine Auflösung der Zahl in sich selbst") eine Art Nachhall dieser Kritik an Unendlichkeitsvorstellungen. Das Unendliche hat für Steiner in seiner Bestimmtheit als Infinitesimale andererseits wieder eine positive Bedeutung, wie dies bei Hegel der Fall ist. Als Negation des Fürsichseins (Qualität) hat die unmittelbare Quantität diese fort-treibende Bestimmtheit nicht. Der unendliche Progress stellt dieses Außersichkommen dar und ist deshalb eine wesentliche Bestimmung des Quantums. Indem das Quantum ,über sich hinaus' geht, ist es Negation der an sich negierten Qualität und deren Wie-derherstellung durch die Bestimmtheit des Unendlichen: „Das Unendliche [ ... ] ist in der Tat nichts anderes als die Qualität" (WDL I\278). Das Unendliche als Begriffsbestim-

87 Kowol (199o) stellt es so dar (S. 128-129). Im geometrischen und arithmetischen Sinn liefern die kom-pleXen Zahlen erst eine Ganzheit. Arithmetisch: Denn alle Operationen sind ausnahmslos auszuführen. Geometrisch: Wie Kreis und Gerade in einer Ebene ausnahmslos zwei Schnittpunkte haben, nämlich reelle auf der Peripherie des Kreises und imaginäre auf der gegenseitigen Hyperbel (mit zur Gerade senkrechter Hauptachse). Namentlich ist die kompleXe Zahl als Einheit der positiven und der nega-tiven (aus der ersten negatiVen Rechnungsart hervorgehenden) Zahl aufzufassen, da nur sie auch die Inversion der Potenzierung über die negatiVe, ,rein substrahierte, erlaubt. Nach Kowol ein Beispiel einer Synthese von These ( + ) und Antithese (—) im Hegel'schen Sinne (a. a. O., S. 129).

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236 KAPITEL VI

mung ist quantitatives Verhältnis oder Bestimmtheit durch Beziehung von Quanta auf Quanta (wDL I\279). In der transzendenten Zahl t, dem inkommensurablen Verhältnis von Kreisperipherie und Durchmesser, ist eine solche Bestimmung einer unendlichen Reihe unmittelbar vorhanden (PHDG 38) wie in der Summe einer unendlichen Reihe (wDL I\289-290) oder auch im Differentialverhältnis von dy/dx (wDL I\316). Bei Hegel und Steiner sind die Differentialen ein Beispiel, wo das äußerliche Messen (mit der Zahl) ein inneres Bestimmen wird. Steiner hebt zwar den emanzipatorischen Effekt der Infinitesimalrechnung hervor und lässt es scheinbar dabei bewenden (vgl. § 6.4).

§ 6.7.4. Dialektik der Raumesdimensionen

Die Übereinstimmung der Funktion der Abstraktionstheorie Steiners mit Hegels Dia-lektik ist deshalb klarer beim Raumbegriff festzustellen. Steiner stellt den Raum dar als die „allerallgemeinste Beziehung" (GA 1\29o), womit die Sonderung von miteinan-der bestehenden Dingen durch den Geist überwunden wird, mit der Bestimmung des „Nebeneinander" (GA 1\291). Jede andere (konkrete) Beziehung nimmt Rücksicht auf die unterschiedenen qualitativen Bestimmungen der Dinge (GA 1\290). Davon abstra-hiert die Raumesbeziehung, und deshalb tritt an ihr auch direkt ihre ideelle Struktur zutage.

Auch für Hegel ist der Raum ,reine Quantität'. Nicht in der Form einer logischen Kategorie, „sondern als unmittelbar und daseiend": das ,Außersichsein` des ,Neben-einander` (ENZ § 254).

Steiner und Hegel betonen beide die Unzulänglichkeit der analytischen Behand-lung der Raumesbestimmungen. Steiner meint, dass man in die geometrischen Gebilde durch das Rechnen mit den Koordinaten (oder etwa Vektoren) nicht hineinkommt (vgl. § 6.5) . Nach Hegel sind Zahl und Raum unabhängige Begriffe. Indem die Ausdehnung des Raumes in das Quantum aufgehoben, d. h. gezählt und gemessen wird, verschwindet die einheitliche Ausdehnung in die Zahl hinein und wird sie reine Bestimmtheit einer diskreten Anzahl von Einheiten. Die Ausdehnung wird zahlenmäßiger Unterschied, wird reine Differenz (wDL I\231-237). Dazu kommt, dass die analytische Behandlungs-weise überwiegend den „mathematischen Schluss" anwendet: ,Wenn a = c, und b = c, dann a = b` (wDL II\371-373). ,c` ist hier das Vermittelnde, der medius terminus, dem nicht wesentlich die Extreme des Schlusses gleich sind (in der Dialektik von A-B-E),

sondern nur in abstrakter Gleichheit der nicht-qualitativen Größe (A-A-A): „Linien, Figuren, die einander gleichgesetzt werden, werden nur nach ihrer Größe verstanden; ein Dreieck wird einem Quadrate gleichgesetzt, aber nicht als Dreieck dem Quadrat, sondern allein der Größe nach usf. Ebenso tritt der Begriff und seine Bestimmungen nicht in dieses Schließen ein; es wird damit überhaupt nicht begriffen" (wDL H\372). Die quantitative Gleichheit, die der analytischen Behandlung zugrunde liegt, nützt also gar nicht zum eigentlichen Begreifen der Raumesbeziehungen.

Wir haben gesehen, wie Steiner die Raumesdimensionen auffasst als eine stufen-weise Abstraktion (vgl. § 6.3) . Diese drei Dimensionen sind nicht ,Höhe, Breite, Tiefe

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 237

oder, abstrakter, die Richtung von drei senkrechten Achsen. Es sind vielmehr die Abstraktionsstufen von einem konkreten ,a Neben b` (aNb) bis zur Idee der reinen Raumesbeziehung, ,das Nebeneinander': von 1. aNb über 2. den Vergleich zu cNd zu 3. xNy. Diese drei Dimensionen beziehen sich lediglich auf „die Natur des Begriffs", wie es Hegel zur Deduktion der Notwendigkeit der drei Dimensionen fordert (ENz § 255) . Nach Hegel ist die Natur des Begriffes, dass er die Momente: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit enthält (ENz § 163). Die drei Dimensionen Steiners sind scheinbar der völlig individualisierte Begriff (aNb), der erkannte allgemeine Begriff (xNy) und die vermittelnde Zwischenstufe des Vergleichs. Vergleichen ist „äußerliche Reflexion" (wDL II\50), verschwindender Unterschied, gleichsam wie bei Hegel das Besondere im Allgemeinen. Da der identische Begriff als solcher im Raum angeschaut wird, sind diese Dimensionen dessen ungeachtet nicht rein logische. Die Beziehung ,aNb' ist selber räumlich. ,a` und ,b` werden als Punkte gedacht. Ihre Beziehung ist die Gerade im Raum. Die Beziehung von Beziehungen ist das Nebeneinandersein von

Geraden im einen, identischen Raum.88 Von der ,allgemeinsten Beziehung` des Neben-einanders kommen wir auch umgekehrt auf den schon individualisierten Begriff, den einen Raum.

Der Raum hat in den Dimensionen noch „qualitative Unterschiede" an sich: Punkt, Linie, Fläche, abgeschlossene Oberfläche (Raumgestalt) (ENz § 256). Diese Qualitäten hat Steiner im Visier mit seiner dynamischen Version der projektiven Geometrie. Es galt, den Polaritätsgedanken in der allgemeinsten (projektiven) Geometrie wiederzu-erkennen und das qualitative Überspringen der endlichen Verhältnisse (Metrik) mit ihr zu verbinden, ein doppeltes Qualitatives also, wegen der raumhaften Kontinuität und des Unendlichfernen. Die Dualität der projektiven Geometrie mag eine formal-logische Trivialität darstellen, auf ihre qualitative Grundlage kommt es Steiner eben an. Raum und Punkt sind einander polares qualitatives Gegenteil: Nur im Raum ist der Punkt, und dieser legt sich auseinander zum Raum.

Steiner fordert eine fließende Geometrie. Geometrie soll dynamisch behandelt werden. Aber auch die Vorstellung der Raumesdimensionen selber entwickelt Steiner durch die Bewegung. Der Punkt „hat null Dimensionen. Wenn ein Punkt sich bewegt und eine Richtung einhält, so entsteht eine gerade Linie, ein eindimensionales Gebilde. Wenn Sie sich die Linie weiterbewegt denken, so entsteht eine Fläche mit Länge und Breite. Wenn Sie schließlich die Fläche bewegt denken, so beschreibt sie ein dreidimensionales Gebilde" (GA 324a\90). Da es sich hier um die Vorstellung handelt, ist dies wahrscheinlich nicht so aufzufassen, als bekenne Steiner sich zu der antiken fluxion

88 Wegen seiner Anschaulichkeit ist der Raum nicht Newtons ,absoluter Raum' (Vgl. § 6.3). Hegel hält den ,absoluten Raum` gleicherweise für eine unwahre Abstraktion: „Der relative Raum ist aber etwas viel Höheres, denn er ist der bestimmte Raum irgend eines materialen Körpers. [ ... ] Man kann keinen Raum aufzeigen, der Raum für sich wäre, sondern er ist immer erfüllter Raum und nie unterschieden von seiner Erfüllung." (ENz § 254, Zusatz).

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238 KAPITEL VI

theory.89 Diese galt bei Proklos schon als überwunden.90 Die Bewegung stellt nur das Allgemeine dar 05.4.4), sodass wir hier wieder Hegels Vorbild voraussetzen können: Die Notwendigkeit des Übergangs vom Punkt zur Linie usw. wird ,vorgestellt` in der Definitionsweise, dass, wenn ein Punkt sich bewegt, die Linie entsteht usw. (ENZ § 256).91

Dieser notwendige Übergang ist die Dialektik des Raumes: Der Punkt ist Negation des Raumes, aber doch zugleich im Raum. Als diese (sich aufhebende, sich abstoßende) Beziehung wird er zur Linie. Die Negation dieser Negation ist die Wiederherstellung des Raumes mit einem negativen Moment: der Fläche, die den Raum teilt (ENZ § 256).92

Negation ist hier als Prinzip des Begrenzens zu deuten. Das Endliche hat seine Grenze in sich: wie der Punkt das Prinzip und die Grenze der Linie ist usw. (wDL I\138). Das Endliche wird dadurch in Fluss gebracht, dass es durch sein Ende bestimmt wird (wDL i \140) . Es ist der Widerspruch, der es über sich hinausschickt: „So ist der Punkt diese Dialektik seiner selbst zur Linie zu werden, die Linie die Dialektik, zur Fläche, die Fläche die, zum totalen Raume zu werden" (wDL I\138). Ob dies nun ganz Steiners Idee gewesen ist, ist nicht mit Sicherheit auszumachen, aber wenn die Bewegung auch hier das Allgemeine darstellen und eine ideell-qualitative Metamorphose zum Ausdruck bringen soll, so wäre doch Hegels Raumesdialektik das nahe liegende Vorbild. Steiner macht mit Hegel (nachdem der Raum selber in die Zeit übergeht; ENZ § 257) den Schritt zur vierten Dimension der Zeit: „Lassen wir nun den dreidimensionalen Raum sich bewegen, so haben wir Wachstum und Entwicklung. Sie haben dadurch den vierdimensionalen Raum, die Zeit hineinprojiziert in den dreidimensionalen Raum als Bewegung" (GA 324a\98-99).93 Steiner begreift jedenfalls gleicherweise den Raum in der ideellen Bewegung des Ponierens und ,Aufhebens` der fließenden Grenze, die nach

89 Nomoi 894 a. Der Ursprung der Bewegung ist dabei nach Platon freilich die Seele, das Selbstbewegende Prinzip, das die äußere Wachstumsbewegung Verursacht (896 a; Vgl. T.M. Robinson, Plato's Psychologie, 2. Aufl. Toronto 1995, S. 147-152); und De anima 4O9 a3. Zur ,fluxion theory' ferner: W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Cambridge 1962, Vol. I, S. 262-263.

9O A Commentary on the First Book of Euclid's Elements, übersetzt und erläutert durch G.R. Morrow, Princeton 197O, S. 79. Der bewegende Punkt ist für Proklos die Generation der materiellen Linie, nicht die der allgemeinen Linie. Hegel sieht in der Bestimmung des Punktes als Prinzip oder Anfang der Linie (immanente Grenze) die Zufälligkeit der Bewegung schon „zurückgenommen", sodass die Bestimmung eher das „Übergehen und Übergegangensein" des Punktes in die Linie, der Linie in die Fläche und der Fläche in den Raum ist, während nur der Raum Dasein hat (nicht so der Punkt usw.; WDL I\137-138).

91 Rein begrifflich bei Hegel: Die Quantität ist „sich aufhebendes Beziehen auf sich selbst, perennieren-des Außersichkommen" und daher „das erzeugende Fortfließen seiner selbst", das seine Kontinuität bewahrt (wDL I\213). Dieses Außersichkommen der Einheit stellt sich als ein ,Fortfließen`, ein Abstoßen Von sich dar.

92 Vgl. die Kategorie der ,Grenze` in WDL I\137-139. 93 Die Bewegung war also nicht ,zeitlich` gemeint, wenn erst in der 4. Dimension die Zeit ,entstehe`. Die

äußere Bewegung Vom Körper im Raume führt den Körper nicht aus dem Raum heraus, wie Punkt, Linie und Fläche sich in einer höheren Dimension bewegen und zugleich behaupten. Bewegter Raum bleibt im Raum (GA 324a\14). Aber die Bewegung ist nicht die Raumesform selbst: Wir werden uns eines anderen Elements (einer anderen Dimension) bewusst, der Zeit. Im Wachstum erscheint sie nicht

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 239

seiner Extension den Charakter von Prinzip und Ende (Grenze) beibehält: „Die Grenze des Raumes ist ein auseinandergelegter Punkt" (GA Beiträge 114-115\43).94

§ 6.7.5. Ganzheit des Raumes

Wie zur Ganzheit der Begriffsentwicklung der Zahl für Steiner die moderne Algebra unentbehrlich war, so zu der Begriffsentwicklung des Raumes die neuere synthetische Geometrie. Die Geschlossenheit des Raumes, oder der Durchgang durch das Unend-lichferne, ist für Steiner die weitaus fruchtbarste Grundfigur. Der projektive Begriff des Unendlichfernen erweist sich als der Ort, wo eine Teilung der idealen Einheit des Begriffs und ihre negative Beziehung auf sich, das Auseinandergehen in Spezialisierung und Individuation der Erfahrung, vor sich gehen und mathematisch vorgestellt werden kann. Die philosophische Signifikanz des geometrischen Unendlichfernen, für andere nur eine bequeme Konvention, ist für Steiner deshalb nichts weniger als der Übergang von dynamischer Idee zum Raume.95

Den totalen Raum umfasst Hegels Raumesdialektik nicht. Hegel beugt diesen Progress von Punkt zum Raum nicht auf sich zurück. Dies leistet die konkrete projektive Beziehung des Endlichen auf das geometrisch Unendliche, die Hegel nur bildhaft deutet: „Das Bild des Progressus ins Unendliche ist die gerade Linie, an deren beiden Grenzen nur das Unendliche ist und immer nur ist, wo sie — und sie ist Dasein — nicht ist, und die zu diesem ihrem Nichtsein, d. i. ins Unbestimmte hinausgeht; als wahrhafte Unendlichkeit, in sich zurückgebogen, wird deren Bild der Kreis, die sich erreicht habende Linie, die ganz geschlossen und ganz gegenwärtig ist, ohne Anfangspunkt und Ende" (WDL I\164). Beides, Kreis und Gerade, erweist sich in der projektiven Geometrie als ein und dasselbe, und die Vorstellung der schlechten Unendlichkeit des Raumes ist in der Tat eine unzureichende Verstandesangelegenheit. Eben im projektiv-geometrischen Unendlichen ereignet es sich, dass die Gerade nicht ins leere Jenseits ausläuft, sondern sich mit sich zusammenschließt, also sich von zwei Seiten her begrenzt: Der Punkt ist Grenze der Linie, auch im Unendlichen, sodass der unendlichferne Punkt auf ideelle

Weise die Linie mit sich selbst begrenzt (ein ,Wiederfinden in seinem Jenseits`; WDL I\162). Die unendliche Ebene ist indessen ebenso sehr Grenze (Negation) des Raumes wie der Punkt (als Negation des Raumes), nun aber nicht ,im Raume, sondern ,um` den Raum als dessen ideelle, umfassende Einheit.

Diese geometrische Deutung des Unendlichen gibt es bei Hegel noch nicht. Die projektive Geometrie ist der Hegel'schen Raumesdialektik (ENZ § 256) deshalb über-

von der räumlichen Form bedingt, wie in einer Machine. Die Zeit ist im Wachstum und Bewusstsein selber etwas Reales (GA 324a\217).

94 Hegel: „Der Raum ist also Punktualität, die aber eine nichtige ist, vollkommene Kontinuität" (ENz, § 254, Zusatz).

95 Insofern eine Rehabilitierung der platonisch-aristotelischen Ansicht, dass wir das rein Geistige in der ,Peripherie` des Raumes zu suchen hätten.

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240 KAPITEL VI

legen, da diese das Negative an der Fläche nicht zu ihrer ideellen Einheit aufzuheben weiß. Für Hegel bleibt die Unendlichkeit die „schlechte quantitative Unendlichkeit" des endlosen Progresses (L I\262) und ,nichtige Nacht und Nebel` (L I\276). Hegel drückt das Grenzlose des Raumes, das dessen reine Äußerlichkeit ist, aus mit dem Worte: „Die Welt ist nirgends mit Brettern zugenagelt" (ENZ § 254, Zusatz). Steiner deutet dies in entgegengesetzte Richtung um (ohne Hegel namentlich zu nennen): „So kann man nicht sagen, daß der Raum irgendwo mit Brettern verschlagen ist, son-dern: der Raum ist geschlossen; denn man kommt immer wieder zum Ausgangspunkt zurück" (GA 324a\123). Nach zwei Richtungen, zur Erfahrung und zum Darstellen der Raumesidee hin, soll die projektive Geometrie wenigstens Hegels Dialektik verbessern und ergänzen.

§ 6.7.6. Ergebnis

Wie in der Kritik am Atomismus und in seinem Aufbau einer phänomenologischen Naturwissenschaft (Kap. III), wie in der Interpretation von Goethes Farbenlehre und Morphologie (Kap. Iv) und in der reinen Logik (Kap. v) finden wir auch jetzt, dass Steiner, wenn er ihn auch nicht unmittelbar zum Vorbild genommen, seine Ansichten doch jedenfalls zum Teil an Hegels Philosophie entwickelt hat. Auch hier macht sich geltend, dass Steiner mehr als Hegel der Erfahrung gerecht werden will. Die Lücke zwischen Sinnlichkeit und abstraktem Gesetz wird ausgefüllt mit der ,fließenden Geo-metrie', der mathematischen Form der ,exakten Fantasie Goethes. Statt nur Kritik an der Abstraktion der Mathematik zu üben, hat Steiner versucht, die neuere Entwicklung in seine Begriffsbildung zu integrieren und damit Vorstellungen der Mathematik nicht in jener abstrakten Gestalt zu lassen, worin Hegel sie betrachtete, sondern die Abstrak-tion durchzusetzen derart, dass die verstandesmäßige Trennung wieder zum vernünf-tigen reinen Begriff der (imaginären) Zahl oder zum dualen Beziehungsgesetz des ganzen Raumes (inklusive der projektiven, unendlichfernen Ebene) aufgehoben wird. Die neuere Mathematik war dazu geeignet, da sie zur allgemeineren Theoriebildung strebte. Damit sollte eine ,qualitative` Mathematik entstehen, die eine exakte Behand-lung von Goethes Dynamik erlauben würde (vgl. § 6.6). Die geometrisch-qualitative Dynamik fehlt in Hegels Naturphilosophie nicht ganz, Steiners polare Dynamik hat mitunter auch hier ihre Parallele.96 Dominant ist bei Hegel das Bild der Mathematik als

96 Gestalt z. B. ist für Steiner und Hegel IndiVidualisierung der allgemeinen Materie. Vgl. über die Gestalt als ,totale Individualität` der Materie ENz §g 3O9-31O sowie unseren § 6.6. Die Wärme ist jeweils als eine diese Gestalt auflösende Kraft gedacht. Auch bei Hegel hat die Wärme eine Sonderstellung gegenüber den drei ,Elementen` Luft, Wasser, Erde (ENz §§ 281-285) und ist Wiederherstellung der Materie (die Schwere) in ihrer Formlosigkeit. Die Wärme erscheint als ,daseiende Auflösung', daher sich ausdehnend, d. h. die beschränkende Spezifizierung des Raumes aufhebend (ENz §3O3). Die Ausdehnung ist also kein Auseinandertreiben der atomaren Teile ins Leere (modern: Entropie), sondern im Gegenteil ihr bestimmungsloses Einswerden (ENz § 3O3, Zusatz), in projektiver Terminologie: Anziehung von der unendlichfernen Grenzebene her (,negative Schwere`).

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DAS PARADIGMA DER MATHEMATIK 241

ein Corpus von toten Sätzen, die ihre Evidenz der rein äußerlich formalen Schlussform verdankt (PHDG 35-39). Die ,Sackgasse` von Hegels Naturphilosophie (GA 322\126) will

Steiner nicht durch eine mathematikfeindliche Strategie, sondern gerade durch deren Gegenteil vermeiden, wozu seine mathematische Ausbildung beigetragen haben mag.

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DRITTER TEIL

Die philosophische Methode

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KAPITEL VII

Die Methode der Grundlinien

§ 7.1. Einleitung: Die Phänomenologie Goethes und die philosophische Methode

Goethes wissenschaftliche Bestrebung galt der sichtbaren Natur. Über seine eigentüm-liche Art seiner Naturbetrachtung nachzudenken war Goethe durch Schiller und durch seinen Gegensatz zu Newton angeregt worden. Aber viel mehr als eine tastende Refle-xion auf seine eigenen wissenschaftlichen Resultate sind Goethes kurze Fragmente und Aufsätze zur Wissenschaftstheorie nicht. Goethes Verfahrensweise, so fand der junge Steiner, fehlt daher eine selbständige, philosophische Begründung: „Wir vertre-ten die Goethesche Weltansicht, aber wir begründen sie den Forderungen der Wissen-schaft gemäß" (GA 2\23). So tut sich gleich die Frage auf: Reicht die bisher entwickelte und beschriebene Methode der Goethe'schen Induktion, der Variation (Metamor-phose) in der Erfahrung und Vorstellung zum Auffinden des Invarianten in ihr usw. aus zur Begründung dieser empirisch-idealistischen Anschauungsart, die wir im vori-gen Kapitel kennen lernten? Und was heißt hier ,den Forderungen der Wissenschaft gemäß'? Braucht Steiner eine spezifisch philosophische Methode zur „Verständigung des Bewußtseins mit sich selbst" (Untertitel von GA 3), anders als die wissenschaftliche? Diese Fragen werden wir in diesem dritten Teil untersuchen. Die inhaltliche Grundlage haben wir im vorigen Teil dargestellt. Was das Erkennen dem Prinzip nach leisten soll, ist behandelt worden. Es gilt jetzt zuzusehen, wie Steiner das Selbstverständnis des eigenen Erkennens systematisch und methodisch analysiert. Diese Frage gilt der Methode von Steiners Philosophie.

Zuerst wollte Steiner eine „Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" geben, indem er die Goethe'sche Betrachtungsweise auf das Phänomen des Erken-nens anwandte (das Resultat war GA 2) . Wir werden in diesem . Kapitel zeigen, dass diese Gestalt seiner Philosophie, obwohl sie der Substanz nach unverändert beibe-halten wurde, noch unbefriedigend war. In seiner Dissertation (GA 3) sollte Steiner einer radikaleren methodischen Strategie folgen, die eine größere innere Konsistenz gewährleisten sollte (Kap. vl i l) . Die reifste Form erlangt Steiners Philosophie erst in seiner Darstellung der Idee der Freiheit: Die Philosophie der Freiheit (GA 4). Hier folgt Steiner lediglich seinem eigenen Gestaltungswillen. Wir werden interpretierend versu-chen, seine Systematik rein herauszustellen in Kapitel ix. Diese Systematik wird Steiner schließlich, ohne auf Details einzugehen, in großen Zügen darstellen in Vorträgen aus dem Jahr 1914, Der menschliche und der kosmische Gedanke (GA 151). Wir werden in

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246 KAPITEL VII

Kapitel x zeigen, dass die Phänomenologie von einer dialektischen Systematik ergänzt wird. Diese Systematik greift zurück auf Hegels Wissenschaft der Logik, obwohl sie nicht deren rigide Form hat. Der Unterschied zu Hegels Dialektik der ,absoluten Idee` wird die eigene Form dieser Systematik erklären.

§ 7.2. Goethe und Schellings Stufen der Selbstanschauung

Wenn Goethe sagte: „Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ" (GGA 39\182; Einwirkung der neuern Philosophie), so ist dies nicht so zu verstehen, als wäre es für Goethe dabei geblieben. Zwar hatte er keinen Sinn für ,das Labyrinth' der Kant'schen Philosophie (KDRV), er war immerhin der Kritik der Urteilskraft schon „eine höchst frohe Lebensepoche schuldig" (GGA 39\183). Durch Schiller gewöhnte er sich „nach und nach an eine Sprache, die mir völlig fremd gewesen" (GGA 39\185), und der ältere Goethe bedachte, was er Niethammer, Fichte, Schelling und Hegel usw. zu verdanken hatte (GGA 39\185). Goethe versuchte dieses ,Organ` an den Meinungen der Philosophen „eben auch als wären es Gegenstände" auszubilden (GGA 39\182). Ein spe-zifisches Organ braucht man, nach Goethes Auffassung, nicht unbedingt schon fertig mitzubringen, denn „jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf (GGA 39\187). So verhielt sich denn auch Goethe zur Philosophie. Zeugnis davon legt u. a. auch sein skizzenhaftes Fragment Zur Philosophie ab (GGA 39\217-221). Goethe versucht darin, die Erfahrung zu erweitern zu einer „potenzierten Selbstan-schauung" (GGA 39\217). Das Fragment datiert wahrscheinlich von 1800, als Goethes Verhältnis zu Schelling, der ihn damals öfter besuchte, „ein tätiges mitteilendes" war (GGA 30\56). Aus einem Brief vom 19. April 18001 von Goethe an Schelling geht hervor, dass dieser für Goethe ein Exemplar seines Systems des transscendentalen Idealismus (1800) mitgebracht hatte. Goethe bedankt sich und fühlt, soweit er es gelesen, sogleich „die Nähe zu dem Werke", macht aber den Vorbehalt, dass die Zeit lehren muss, ob diese Empfindung sich „zu einer wahren Teilnahme, zu einer tätigen Reproduktion desselben steigern wird".2 Er stellt die Hauptgedanken dieser Schrift zusammen im Fragment Zur Philosophie. Goethe konzentriert sich auf die ,Potenzierung` der Selbstanschauung, wie wir sie bei Schelling finden.3 Der Grundsatz Schellings, den Goethe zum Ausgangspunkt nimmt, lautet: „In der intellektuellen Anschauung wird das Sehende das Gesehene" (GGA 39\220). Goethe notiert sich sieben Stufen dieser Potenzierung4 (GGA 39\217-218):

1 GB Nr. 9OO. 2 Sein Freund und Philosoph Niethammer hielt bei Goethe in diesen Monaten private ,philosophische

Colloquia' (Vgl. den Brief an Schiller; GB Nr. 9O8 und 9O9), namentlich die Schrift Schellings wurde behandelt: „Die Einsicht in das System des transscendentalen Idealismus hat Herr Doktor Niethammer die Gefälligkeit mir zu erleichtern" (an Schelling, GB Nr. 91O).

3 Schelling: das Organ der Transzendentalphilosophie ist das ,Selbstanschauen` im Handeln der Intelli-genz (sw I\3, 345), sodass produktive Einbildungskraft erfordert ist. Das Organ der Philosophie ist der innere ästhetische Sinn, d. h. intellektuelle Anschauung (sw I\3, 35O-351).

4 Schellings sieben Potenzen sind: 1. Selbstanschauung überhaupt, 2. Empfindung, 3. das Ich als ein Objekt empfindendes, 4. Das Ich schaut sich als produktiV an. Die nächsten Potenzen gehen über die

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 247

1. das ,Sich-selbst-Begrenzen` (a: das Setzen des Fichte'schen Nicht-Ich durchs das Ich im Ich );

2. das Anschauen (b) der Begrenztheit (a): die Empfindung und Erscheinung des Objekts;

3. die Anschauung (c) des Anschauens (b) der Begrenztheit (a); d. h. „Ich soll mir im inneren Sinn bewußt werden", „mich als empfindend anschauen";5

4. die absolute Reflexion: „Das Ich wird sich des bewußtlosen Produzierens bewußt". Diese Reflexion (d) erstreckt sich offensichtlich nur auf das Urteilen: Begriffe werden auf Anschauungen bezogen. Das Nächste ist, dass eingesehen wird, wie das Objekt durch den Begriff (e) zustande kommt (dessen „Weise wie es zustande kommt") . Durch diese Einsicht entsteht ,das Schema`;

5. die absolute Selbstbestimmung (f) : „Das Ich wird sich als handelnd und bewußt-seiend bewußt". Also ein „Bewußtsein eines bewußten Handelns, des freien Produ-zierens", und von der „Bedingung: Intelligenz außer dem Ich";6

6. das Bewusstsein (g) des absoluten Selbstbestimmens (f): Dieses „muß ins Objekt übergehen, freies Handeln unser Objekt";7

7. das Bewusstsein der Identität der bewussten (g) und bewusstlosen (f) Tätigkeit: „Der Gedanke und Objekt sind eines (identisch), sie werden zugleich abgeleitet." Hier gilt: „Das Objekt ist selbst ein Handeln und zwar das bewußtlose Handeln."

Goethe behauptete doch Schelling gegenüber, trotz aller Nähe, seine eigene Denkweise. Er schreibt in dieser Zeit an Schiller, wie er Distanz halte: „Mit Schelling habe ich einen sehr guten Abend zugebracht. Die große Klarheit, bei der großen Tiefe, ist immer sehr erfreulich. Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie stört bei mir die Poesie und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt."8 Man kann aus dem Fragment Zur Philosophie zwar nicht auf eine dauernde Überzeugung Goethes schließen, dennoch ist dieser Text aber von beson-derem Interesse. Eine Aussage Steiners zu diesem Fragment Goethes lässt sich nicht

Natur hinaus als: 5. absoluter Willensakt (freie Tätigkeit), 6. absoluter Wille (mit Bewusstsein freie Tätigkeit), 7. schaffendes Bewusstsein (Genie) (sw I\3, 631-624).

5 Goethe meint: sich bewusst werden, dass die Erscheinung ,für einen' (für ein Ich) ist. Die Frage ist, „wo die Beschränktheit herkommt". Wir finden sie nach Goethe offensichtlich nicht in (b) und (c).

6 Die Intelligenzen haben nicht nur eine gemeinsame Anschauung („die einzige Objektivität, welche die Welt für das IndiViduum haben kann, ist die, daß sie von Intelligenzen außer ihm angeschaut worden ist", sw I\3, 556), das Wollen meiner Intelligenz ist überhaupt dadurch bedingt, dass ich Bestimmtes will und anderes nicht. Dieses Andere, was schon da ist, ist nur zu Verstehen als Handlungen Von Intelligenzen außer der ersten, als Grund und Boden von dessen Handlungen (sw I\3, 547).

7 Goethe sieht hinweg Von der inneren AktiVität des Ich zu einer höheren Stufe, wo wir diesem freien Handeln schon in der Welt begegnen (Schellings Naturbegriff): „Wie ist zwischen freiem Selbstbestim-men und der Natur (oder Objekt) eine Übereinstimmung möglich? Schicksal-Vorsehung. Respekt Vor dem Objekt. Religion." Schon bei (f) war vorausgesetzt, es gäbe Intelligenz außerhalb des Ich. Umso mehr in der objektiven Natur.

8 Brief vom 19. Februar 18O2, in: Schiller-Goethe Briefwechsel, herausg. P. Stapf, München o. J., Nr. 845. Vgl. dazu auch den Brief an Schiller über dessen Kritik an Schellings Kunstbegriff vom 6. März 18O2, Nr. 81o.

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248 KAPITEL VII

finden. Der Einfluss Schellings ist im Frühwerk Steiners überhaupt noch unausgespro-chen. Jedoch enthält das Fragment zwei Elemente, die bei Steiner wiederkehren: erstens den Einstieg in die spekulative Philosophie des deutschen Idealismus in der Form einer Selbstanschauung oder Selbstbeobachtung: „In der intellektuellen Anschauung wird das Sehende das Gesehene" (vgl. § 3.2.3); zweitens die stufenweise Progression, ausge-hend vom Naheliegenden und aufsteigend zum Selbsterfassen der Selbstbeobachtung. Steiners frühe Systematik weist eine ähnliche Grundstruktur auf wie diese Siebenglie-derung bei Goethe und Schelling.9 Wir werden sehen, wie diese Struktur allmählich von einer impliziten Abstufung des Gedankengangs in GA 2 vorrückt zum expliziten Formelement in GA 4.

§ 7.3. Eine Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung

§ 7.3.1. Allgemeine Methode

Die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschaung (GA 2) trägt, wie Steiner in der Vorrede zur Neuauflage von 1924 schreibt, „in der Art der Darstel-lung die Kennzeichen eines Denkens, das sich in die Philosophie der Zeit vor vierzig Jahren eingelebt hat." Er nennt dazu Liebmanns Analysis der Wirklichkeit (1876; das Ergebnis der Analyse: Wir kennen die Wirklichkeit eben nicht), Volkelts „gedankenvolle Bücher über Kants Erkenntnistheorie10 und über Erfahrung und Denkens'" und Eduard von Hartmann,12 der den Standpunkt vertrat, den Volkelt ausführlich dargestellt hat (GA 2\8). Wie sich erweisen wird, lässt Steiner sich in den Grundlinien namentlich auf eine Diskussion mit Volkelt ein: „Wir müssten auf die Schrift von Volkelt [Erfah-

9 Hegels Phänomenologie des Geistes ist die erste nächste Etappe in der Entwicklung der idealistischen Philosophie, worin der Stufenbau systematisch ausgearbeitet worden ist. Sie strebt nur ganz im Allge-meinen dasselbe Ziel an wie Schellings System, lässt sich jedoch nicht auf dessen sieben Potenzierungen zurückführen. Sie zieht weit mehr aus der Natur und Geschichte in ihren Systemlauf ein. So ist die PHDG

als Modell des Stufenbaus weniger geschickt. Wohl aber ist für Steiner richtungweisend, dass die PHDG

Vom wirklichen Wissen ausgeht, Schellings Transzendentalsystem hingegen von einem Fichte'schen Apriori der Einheit Von Subjekt und Objekt in der intellektuellen (Selbst-)Anschauung. Werner MarX hat in Schelling: Geschichte, System, Freiheit (München 1977, S. 9O ff.) Übereinkunft und Unterschied angegeben: gleiches Ziel, aber unterschiedliche Methode, hier Konstruktion der Selbstanschauung, dort RefleXion des Begriffes. Steiner setzt ebensowenig eine überempirische Selbstanschauung wie eine dialektische Struktur des Bewusstseins voraus. Dennoch haben die Stufen in GA 2 eine unVerkenn-bare Ähnlichkeit mit Schellings Potenzierungen. M. Kirn (Hegels Phänomenologie des Geistes und die Sinneslehre Rudolf Steiners, Stuttgart 1989) legt der PHDG eine Von Steiner entlehnte Siebengliederung seiner ,esoterischen Anthropologie zugrunde. Gemäß unserem methodischen Ansatz (vgl. § 1.4) liegt diese Interpretation dadurch außerhalb des Rahmen unserer Untersuchung. Wenn Steiner in GA 4 das sittliche Handeln beschreibt, weist er auch eher hin auf Hartmanns Phänomenologie als auf diejenige Hegels (wo es auch entsprechende Kapitel zu diesem Gegenstand gibt). Dass die PHDG für Steiners Philosophie methodisches Vorbild gewesen sei, läßt sich nicht direkt belegen.

1O Immanuel Kants Erkenntnistheorie, Hamburg 1879. 11 Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie, Hamburg und Leipzig 1886. 12 Dazu GA 28\1O8-11O.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 249

rung und Denken] besondere Rücksicht nehmen, weil sie die bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem Gebiete ist, und auch deshalb, weil sie als Typus für alle erkenntnistheoretischen Bemühungen gelten kann, die der von uns auf Grundlage der Goetheschen Weltanschauung vertretenen Richtung prinzipiell gegenüberstehen" (GA 2\39). Aber eine Diskussion mit dem angesehenen Erkenntnistheoretiker ist, wie eine einfache Beschreibung von Goethes Naturwissenschaft, unzulänglich im Hin-blick auf das gesteckte Ziel: eine selbständige Begründung einer Erkenntnistheorie in Übereinstimmung mit Goethes ,zarter Empirie'.

Steiners methodische Überlegungen stehen nicht gleich am Anfang von Grund-

linien, und dies ist eine methodische Schwäche, die er in der Promotionsarbeit zu überwinden versucht. Hinweise über die Methodik fehlen aber nicht ganz. „Eine im Sinne der Goetheschen Weltanschauung begründete Erkenntniswissenschaft legt das Hauptgewicht darauf, daß sie dem Prinzip der Erfahrung durchaus treu bleibt. Nie-mand hat so wie Goethe die ausschließliche Geltung dieses Prinzips erkannt" (GA 2\45). Dieses Prinzip der Erfahrung aber „wird zumeist in seiner Tragweite und eigentlichen Bedeutung verkannt" (GA 2\44). Als ,rein methodisches Prinzip' sagt es über den Inhalt der Empirie nichts aus (GA 2\44). Die allgemeinste Beschreibung der Methode Goethes ist die, dass Goethe überall „den Weg der Erfahrung im strengsten Sinne" geht. „Er nimmt zuerst die Objekte, wie sie sind, sucht mit völliger Fernhaltung aller subjektiven Meinung ihre Natur zu durchdringen; dann stellt er die Bedingungen her, unter denen die Objekte in Wechselwirkung treten können und wartet ab, was sich hieraus ergibt" (GA 2\56). Steiners Hinweis zu Seite 94 zeigt, dass er dies dem ihm lange Zeit nur aus den Briefen Schillers bekannten Aufsatz über Erfahrung und Wissenschaft entlehnte.13 Die allgemeinste Methode ist der rationelle Empirismus, der „die Bedingungen schafft, unter denen die Erfahrung ihr Wesen enthüllt" (GA 2\135) . Eine reine konsequent-deskriptive Phänomenologie (eine ,gemeine Empirie': „bei den Phänomenen stehen bleiben") würde nicht ausreichen.14 Wenn man etwas „in die Tatsachenwelt hinein-liest", übt man dagegen den einseitigen Rationalismus (GA 2\134) : „Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ungoethesch, von einer Behauptung auszugehen, die man nicht in der Beobachtung vorfindet, sondern selbst in das Beobachtete hineinlegt" (GA 2 \55-56). Auf der dritten Stufe des rationellen Empirismus handelt man im Sinne Goethes, wenn man dem Gegenstand Gelegenheit gibt, seine Gesetzmäßigkeit unter besonders cha-rakteristischen Umständen, die wir herbeiführen, zur Geltung zu bringen, „gleichsam ihre Gesetze selbst auszusprechen" (GA 2\56). Steiners Begriff ,Beobachtung` muss also beides umspannen: die unmittelbaren Phänomene und die Gesetze. Dies wäre das ein-

13 Daher soll Schiller das Vorbild liefern für die Methode, weil sein Blick auf Goethes Geist gerichtet war, wie hervorgeht aus seinen philosophischen Briefen an Goethe und seinen ,Briefen` Über die ästhetische Erziehung des Menschen und Über naive und sentimentalische Dichtung (GA 2\23).

14 Womit eigentlich schon gesagt ist, dass man ein erweitertes Verhältnis zur Erfahrung hat. Geistig passive Deskription ergäbe nichts anderes als einen bloßen Phänomenalismus, keine sinnVolle Phänomenologie, und würde keinen Aufschluss über das Erfahrene geben (vgl. § 1.2.3).

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250 KAPITEL VII

zig akzeptable Ergebnis einer Goethe'schen Erkenntnistheorie: Die ,Phänomene selbst` sind die ,Lehre` (vgl. § 4.1.2), freilich nur als ,reines Phänomen' (§ 4.2.9).

Was ist der Gegenstand der Erkenntnistheorie? Steiner knüpft hier an den Satz Goethes über wissenschaftliche Theorien an: „Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht." Jede Wissenschaft sucht Zusammenhang in den Erscheinungen zu stiften. Wenn sie dies geleistet hat, dann bleibt immer noch der Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Theorien und den Erscheinungen, zwischen der idealen und realen Welt, kurz: zwischen Denken und Erfahrung. Wie verhalten sich beide? „Es muß auch eine Wissenschaft geben, die auch hier die gegenseitigen Beziehungen klarlegt" (GA 2\26).15 Um diese Aufgabe im Sinne Goethes zu lösen, wird die „nächste Aufgabe [ ... ] sein, jedes von den zwei bezeichneten Gebieten, Erfahrung und Denken, scharf zu umgrenzen. Wir müssen erst die Erfahrung in bestimmter Zeichnung vor uns haben und dann die Natur des Denkens erforschen" (GA 2\27). Dann wird der Zusammenhang von Erfahrung und Denken zu erforschen sein: „Im Sinne Goethes handelt man nur, wenn man sich in die eigene Natur des Denkens selbst vertieft und dann zusieht, welche Beziehung sich ergibt, wenn dann dieses seiner Wesenheit nach erkannte Denken zu der Erfahrung in ein Verhältnis gebracht wird" (GA 2\56). Daher Steiners Einteilung der Arbeit in drei Teile (nach ,A. Vorfragen`): B. Die Erfahrung — c. Das Denken — D. Die Wissenschaft. Darauf wird das allgemeine Prinzip des Erkennens befragt nach seiner Spezialisierung in Natur-Erkennen und Erkennen des Geistes (Psychologie, Völkerkunde und Geschichte).

Weshalb in dieser Reihenfolge vorzugehen sei, erklärt Steiner nicht. Sie entspricht aber methodisch dem Prinzip der Erfahrung. Man sollte doch erstens wissen, was man an der Erfahrung selber hat. Kann man die Erfahrung rein ,erfahren`, oder ist sie in der Erkenntnistheorie nur zu ,denken`, ihr Begriff zu bestimmen? Mehr noch, wie soll dies aufgrund der Erfahrung ihr selber möglich sein? Ist das Denken in die Erfahrung ohne eine Verstellung der beiden einzufügen? Und inwiefern ist das Prinzip der Erfahrung auf das Denken anzuwenden? Das sind im Voraus Fragen, die dabei zu bedenken sind. Sie sind aber nicht sinnvollerweise zu stellen und zu beantworten, ohne irgendeine Ansicht über Denken und Erfahrung vorauszusetzen, weswegen man besser medias in res anfangen sollte,16 was Steiner dann auch tut.

15 Das Prinzip Von Steiners Erkenntnistheorie wird hier also Vorausgesetzt in der Methode. Die erkennt-nistheoretische Betrachtung ist ja selber auch eine Weise des Erkennens. Steiner nimmt ferner die Naturerkenntnis Goethes, die seiner Meinung nach das Wesen der Sache trifft, als Faktum hin. Es hat wohl auch keinen Zweck, eine Erkenntnistheorie des Nichtwissens schreiben zu wollen. Man orientiert sich an einer paradigmatischen Erkenntnis.

16 Klassisch bei Hegel in ENZ § 1O: Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen. Sonst gleiche man dem Scholasticus, der sich nicht ins Wasser wagen wollte, ehe er schwimmen gelernt hatte. Das ganze Problem des Zirkels und dieser Hinweis auf Hegel, wie Fichtes wi, und Lotzes Logik, findet sich bei Volkelt (1886), S. 24-26, und war Steiner also bekannt.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 251

§7.3.2. Reine Erfahrung

Es wird nützlich sein, Steiners Erfahrungsbegriff neben denjenigen Volkelts zu stellen, zumal es Volkelt „vorzüglich gelungen" sein soll, „in scharfen Umrissen zu zeich-nen, was wir reine Erfahrung nennen" (GA 2\33) . Erfahren ist für Volkelt „umittelbares, scheidewandloses Innewerden".17 Deshalb kann etwas außerhalb des Bewusstseins nicht ,erfahren` werden. Daraus zieht er den weiteren Schluss, dass das aus reiner Erfahrung bestehende Wissen sich nur auf die eigenen Bewusstseinsvorgänge bezieht.'$ Volkelt geht mit Otto Liebmann und Eduard von Hartmann19 darin einig, dass die ,reine Erfah-

rung' nur ungeordnetes, zusammenhangsloses Aggregat diskontinuierlicher Wahrneh-mungsfragmente ist.20 Wenn man das Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung als posi-tivistisch bezeichnet, so ergibt sich nach Volkelt, dass Positivismus und Vorstellungs-idealismus dasselbe sind. Dieser Standpunkt, gleich dem Hume'schen ,Phänomenalis-mus`, ist freilich eine dürftige Beschränkung alles Wissens auf die Beschreibung reiner Bewusstseinsvorgänge, eine Verzweiflung an aller Wissenschaft, also Skeptizismus.21 Es muss, wenn es ,transsubjektives` Erkennen geben soll, noch ein anderes Erkenntnis-prinzip geben. Wir finden im Bewusstsein auch ein ,Bewusstsein der logischen oder sachlichen Notwendigkeit', wodurch es die Überzeugung gibt, dass ein Urteil wie ,die Sonne scheint` oder ,die Erde ist ein Planet' sich auf Transsubjektives bezieht. Durch Selbstbesinnung finden wir, da mit diesen Urteilen Transsubjektives mitgesetzt ist, und zwar in der Forderung der Allgemeingültigkeit, dass sie beruhen auf einer für sämt-liche Subjekte gemeinsamen Gesetzmäßigkeit und dass sie ,Seinsgültigkeit` haben.22

Volkelt spricht hier von einem in unserem Bewusstsein vorhandenen Glauben unmit-telbarer Gewissheit an einen sachlichen und logischen, überpersönlichen ,Zwang`. Die Wahrheit dieses Glaubens lässt sich nicht beweisen. Das Denken, denn darüber redet Volkelt hier, ist als stellvertretende Funktion tragisch angelegt, denn „es beansprucht innerhalb seiner eigenen bewußten Tätigkeit, mehr zu leisten, als es leisten kann".23

Jedes Urteil fordert einen unrealisierbaren Bewusstseinsvorgang, wodurch es Trans-subjektives erkennen soll: „Ich kann keinen Bewußtseinsvorgang hervorrufen, der das Verknüpftsein der Subjekts- und Prädikatsvorstellung als solches, ihr Zusammenhän-gen als solches mir zeigte." Wir sehen die Sache folglich so an, „als ob die Forderung erfüllt wäre"24.

17 Volkelt (1886), S. 64. 18 A. a. O., S. 65. 19 Erwähnt werden Liebmanns Die Klimax der Theorien. Eine Untersuchung aus dem Bereich der Wissen-

schaftslehre (Strassburg 1884) und Von Hartmanns Kritische Grundlegungdes transzendentalen Realismus (2. Aufl. Berlin 1875), beide in der Literaturliste in GA 3\18-19.

2O Volkelt (1886), S. im. 21 A. a. O., S. loo. Husserl wird später in dieser ,Ttoxii` des Skeptizismus nur einen rein methodischen

Punkt sehen. 22 A. a. O., S. 244-345 und 256-258. 23 A. a. O., S. 19o. 24 Ebd. Vgl. Vaihingers Die Philosophie des ,Als-ob` (2911).

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252 KAPITEL VII

Das Denken ist selber Bewusstseinsvorgang: „Es beruht schließlich auf einer Innen-erfahrung intuitiver Art".25 Das Denken ist also Erfahrung mit einem ,Plus` an Uner-fahrbarem.

Steiner fasst den Begriff der Erfahrung grundsätzlich anders, wie sehr er auch betont, dass hinsichtlich des Inhalts der reinen Erfahrung Volkelt, Hartmann und Liebmann Recht hätten.26 Die Erfahrung sei in der Tat in ihrer Unmittelbarkeit ein zusammenhangsloses Neben- und Nacheinander, ein Aggregat zusammenhangsloser Einzelheiten (GA 2\30), sowohl die sinnliche, äußere, als auch die innere Erfahrung (GA 2\29) . Begrifflich ist sie zu bestimmen als „die Form der Wirklichkeit, in der diese uns erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres Selbstes entgegentreten" (GA 2\28). Unser Fragen, wie z. B. ein konkretes Tier sich zu seiner real vorhandenen Umwelt verhält, was die mechanische Ursache eines ins Rollen gekommenen Steins sein könnte usw., ist schon unsere eigene Tätigkeit, die nicht mehr reine Erfahrung heißen kann, denn sie hat einen doppelten Ursprung: die Erfahrung und das Denken (GA 2\28). Damit ist die Erfahrung als solche negativ charakterisiert: als Nicht-Denken, aber als Nicht-Denken für das Denken. Sie ist dasjenige, was ,erscheint`, wenn das Selbst nicht etwas hinzutut. Es erinnert in der Formulierung eher an Fichte als an Volkelt, wenn von einem ,Entäußern` gesprochen wird. So bestimmt Fichte die Wechselwirkung von Ich und Nicht-Ich. Das Setzen ist eine Handlung des Ich. Auch noch das Nicht-Setzen des Nicht-Ich ist als solches ein ,Entäußern` der Tätigkeit des Ich. Es wird ein Teil „gesetzt als nicht gesetzt" (wL 85-86). Ebenso begreift Steiner die Erfahrung grundsätzlich von der Tätigkeit des Denkens her:27 „Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewußtseins ins Auge faßt, Betrachtung, d. h., es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte" (GA 2\29). Das ,Uns`, an dem etwas erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als das denkende Ich, das die Eigentümlichkeit hat, nicht in sich zu bleiben und für sich Gedanken zu produzieren, sondern aus sich herauszugehen und auf ein Gegenüberstehendes sich zu beziehen. Die Grundstruktur des Denkens ist mithin nach Steiner die einer sich überschreitenden subjektiven Tätigkeit. Diesen Anfang macht Steiner nicht ex hypothesi, sondern er soll selber unmittelbares Erlebnis sein: „Jedermann ist sich dessen bewußt, daß sein Denken im Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird" (GA 2\27). ,Mit der Wirklichkeit' heißt hier wohl nicht viel mehr als ,mit einem Nicht-Rein-Gedachten'. Das Denken erweist sich sogleich als Tätigkeit, und es tritt dem Denken

25 Volkelt (1886), S. 183. Volkelt betont hier seine Übereinstimmung mit Sigwarts Logik und dessen „unmittelbarem Bewußtsein der EVidenz" (S.184; Vgl. § 5.3.4)

26 Hinzu kommt auch noch ein Hinweis auf den heute unbekannten Richard Wahle (dessen Gehirn und Bewußtsein, Wien 1884).

27 Vgl. § 3.2.2 für Steiners erste Auseinandersetzung mit Fichte.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 253

etwas gegenüber, an dessen Zustandekommen das Denken im Moment keinen Anteil hat28 (GA 2\27) .

Der erste Schritt, den Steiner in der Erkenntnistheorie macht, ist mithin die Bestim-mung des Begriffs der Erfahrung von dem des Denkens aus. Diese Bestimmung wäre bodenlos, oder jedenfalls nicht ,goethesch`, wenn nicht das Denken selber doch Erfah-rung wäre. Die Erfahrung wäre sonst von einem völlig Unbekannten als dessen Gegen-part abgegrenzt: das Negative eines Unbekannten, und der Anfang gleich verfehlt. Mit Volkelt weist Steiner aber auf die innere Erfahrung des Denkens hin: „Auch das Den-ken selbst erscheint uns zunächst als Erfahrungssache" (GA 2\29). Denn „wir setzen

es uns gegenüber" (GA 2\29) . Dies nicht nur als bloßen Gedanken. Steiner muss hier meinen, das Denken werde selber Erfahrung. Kann es aber in der ,reinen Erfahrung'

vorkommen? Die Dialektik, die Steiner an dem Begriff der reinen Erfahrung vollzieht, ist nun

diese, dass die reine Erfahrung bestimmt wird als Voraussetzung jedes Denkens, dass das Denken seinerseits vorausgesetzt wird nicht nur als das Andere der Erfahrung, sondern

als selber anwesend in der Erfahrung. Die reine Erfahrung stellt sich vor das Denken hin als dessen Gegenteil, aber das Denken als solches soll auch wieder nur innerhalb der reinen Erfahrung aufzufinden sein, und zwar als Teil derselben. Es ist immerhin nur etwas ,für` das Denken, wenn das Denken ,für` sich selber gegeben werden kann. Es soll nicht nur vorausgesetzter Bezugspunkt bleiben, sondern Erfahrung werden und seinen Status als Voraussetzung ablegen. Das Denken findet sich nun nicht ,denkend`, sondern angeblich in seiner Entäußerung in der reinen Erfahrung, die nur solange bestehen soll, als wir nicht denkend unsere subjektive Tätigkeit mit ihr vermischen. Das Denken hält gleichsam den Atem an und findet so erstens das, was ihm gegenübersteht, wie zweitens auch sich selbst.

Der Sinn dieser Dialektik ist wohl der, dass das Denken als Tätigkeit ein Gegebenes darstellt, wenn wir von dem Inhalt seiner Begriffe abstrahieren. Auch ein falsches Urteil kann wirklich gedacht werden und als solches als Erfahrungstatsache gelten. Das Denken hat man dabei nicht zu ,bedenken`, es ist immer schon da, wenn wir mit dem Erkennen anfangen.

Diese Dialektik verschärft sich insofern, als Steiner dieses Ergebnis keine begriff-liche Konstruktion sein lassen will: „Wir haben uns dieser Begriffe nur bedient, um den Blick des Lesers auf die gedankenfreie Wirklichkeit zu lenken; wir bedienen uns ihrer nur, um die Aufmerksamkeit auf jene Form der Wirklichkeit zu lenken, die jedes Begriffes bar ist" (GA 2\40). Das Denken wird mit Hilfe dieser Begriffe der ,reinen Erfahrung' und des ,zusammenhangslosen Aggregats von Einzelheiten' instruiert, von seinen Urteilen hinwegzusehen auf die von ihm unterschiedene Wirklichkeit, in der es sich aber selber als Tätigkeit eingebettet findet. Mithin wird erstens gefragt, um jedes Urteil zurückzuhalten, und zweitens, um die Begriffe und Urteile von der Erfahrung

28 Mag es auch Produkt einer früheren subjektiven Tätigkeit sein oder aus der Wechselwirkung unseres Organismus mit der molekularen Außenwelt entspringen (GA 2\28-29).

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254 KAPITEL VII

abzuziehen, während sie sonst immer in diese einfließen. In dieser Resignation des Urteils findet Steiner dann das Denken (Begriffe wie Urteile) selber als Erfahrungstat-sache und drittens die Grundstruktur des Denkens als ,Betrachtung`, d. h. die ideelle Beziehung des Denkens und seinem ihm gegenüberstehenden Erfahrungsgegenstand als gegenseitig aufeinander bezogen. Nur so glaubt Steiner die Erkenntnistheorie auf reine Erfahrung gründen zu können.

Der Unterschied zu Volkelt ist klar. Volkelt macht den Schnitt zwischen Subjekt und Objekt in dem Erfahrungsbegriff ganz bestimmt anders als Steiner. Bei Volkelt ist jede Erfahrung eine Vorstellung im subjektiven Bewusstsein. Dies mag ein Endergeb-nis der Psychologie sein, aber am Anfang des Erkennens kann es für Steiner nicht als Grundwahrheit gelten (GA 2\36) . Schon die Erwägung, dass der naive Mensch die wahr-genommenen Dinge für Realitäten hält, zeigt, dass wir in der unmittelbaren Erfahrung einen Baum vor dem Fenster oder einen konkreten Tisch, an dem wir arbeiten, nicht als ein Vorstellungsbild auffassen. Was daran subjektiv und objektiv ist, wäre immerhin durch nähere Untersuchung auszumachen. Volkelt stellt jedoch die subjektive Natur jeder Erfahrung als Grundsatz der Erkenntnistheorie voran. Das „scheidewandlose Innewerden der Erfahrung" wird verstanden als ein Hineinbringen in die subjektive Sphäre, wo es kein Außen, keine ,Scheidewand` mehr gibt. Steiner folgert: Volkelt „schließt sich dadurch in seine Individualität ein und ist nicht imstande, aus dersel-ben herauszukommen" (GA 2\38). Steiner teilt dagegen nur die Tätigkeit des Denkens dem Subjekte zu, da wir das Denken als von unserer Tätigkeit abhängig erleben. Das Transsubjektive liegt dadurch nicht außerhalb der Erfahrung, wie bei Volkelt, sondern nur außerhalb dieser denkenden Tätigkeit.29 Diese Transsubjektivität ist also im Gan-zen der reinen Erfahrung und geht sogar noch in die Erfahrung der eigenen Tätigkeit oder Subjektivität ein. Es ist in der unmittelbaren Erfahrung kein Grund vorhanden, im Voraus die Erfahrung zur bloß subjektiven Vorstellungswelt zu erklären. Volkelt gerät deshalb in Widerspruch mit seinem eigenen Prinzip der reinen Erfahrung. Diese sei ein zusammenhangsloses Aggregat ohne gedankliche Bestimmungen, an dem wir also nicht unmittelbar die gedankliche Bestimmung ,nur bestehend in der Vorstellung' ablesen können (GA 2\38) .

§ 7.3.3. Das Denken als höhere Erfahrung in der Erfahrung

Ist das Denken nun durch Steiner nach der ersten Gegenüberstellung zurückgenom-men in die allgemeine Grundlage der Erfahrung, gliedert es sich schon bald wieder aus in neuer Ausnahmestellung. Die einzelnen Erfahrungen stehen in der unmittelbaren Erfahrung jede für sich da, zum Beispiel ein Brenner, darüber eine Flüssigkeit in einem Kolben, die erst ruhig ist, dann in Bewegung gerät und schließlich in gasförmigen Zustand übergeht. Den Zusammenhang der Tatsachen findet man nicht unmittelbar

29 Die Erfahrung wird nicht so vorgestellt, dass etwas in unsere SubjektiVität hineingenommen wird, sondern umgekehrt so, dass das Denken aus sich herausgeht.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 255

durch die Sinne. Beim Denken dagegen verhalten sich die Einzelheiten, die Gedanken, schon anders: „Wenn ich zum Beispiel den Gedanken der Ursache fasse, so führt mich dieser durch seinen eigenen Inhalt zu dem der Wirkung" (GA 2\43). Daraus schließt Stei-ner nun: „Ich brauche die Gedanken nur in jener Form festzuhalten, in der sie in unmit-telbarer Erfahrung auftreten, und sie erscheinen schon als gesetzmäßige Bestimmun-gen" (GA 2\43) . Was den anderen Erscheinungen, namentlich den Sinneserscheinungen, fehlt, was sie nicht an sich zeigen: ihr gesetzmäßiger Zusammenhang ist im Denken „schon in seinem allerersten Auftreten vorhanden" (GA 2\43) . Damit geht Steiner von der Tätigkeit des Denkens zum Inhalt über. Er charakterisiert das Denken als eine Tätig-keit wie auch ein unmittelbares Erfassen, eine unmittelbare Erfahrung des Gedankens. Die Erfahrungsform, die das Denken zuerst nur als Ganzes beanspruchen konnte und im Übrigen als Domäne der subjektiven Tätigkeit der reinen Erfahrung gegenüberge-stellt wurde, wird jetzt ins Innere der Tätigkeit des Denkens verlegt. Nicht nur das Den-ken als Ganzes, sondern auch im Denken ist reine Erfahrung, und zwar auf besondere Art, denn wenn in ihr nicht willkürlich gedacht wird, dann gibt der Gedanke uns seinen Inhalt völlig her und ändert sich dabei zugleich in gesetzmäßiger Weise: Der Begriff der Ursache führt zum Begriff der Wirkung usw. Im Denken ist dadurch der Zusammen-hang, den wir bei der übrigen Erfahrung suchen, unmittelbare Erfahrung (GA 2\44).

Dies ist eine Umkehrung des Ausgangspunktes unseres vorigen Paragrafen. Waren dort Erfahrung und Denken zwei gegensätzliche Bereiche, wird jetzt der Unterschied aufgehoben: Nicht nur vor dem Denken, auch im Denken ist reine Erfahrung. Das Verhältnis kehrt sich erneut um. Wenn nur im Denken unmittelbar gesetzmäßige Zusammenhänge gefunden werden können, kann nur dort das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden (GA 2\45) . Wenn wir sonst dem Prinzip der Erfahrung gemäß angesichts der zusammenhangslosen Erscheinungen gebannt stehen bleiben müssten (so Volkelts Position), ,erscheint` hier im Denken der gesetzmäßige Zusammenhang als die eigene Natur der Begriffe selber: „Die ganze Sache geht ohne Rückstand in dem mir Gegebenen auf [ ... ] , hier ist Hülle und Kern eine ungetrennte Einheit" (GA 2\44) . Anders gewendet: Steiner stellt hier fest, dass gesetzmäßiger Zusammenhang immer nur die Form eines Begriffes hat, dieser als solcher im Denken zu seiner Erklärung nie etwas anderes braucht als eben den Begriff; der Begriff also nur durch sich selbst verstanden werden kann.30 Jetzt erst kann

das Erfahrungsprinzip in seiner vollen Tragweite erkannt werden. Nach Goethe sollen alle Ansichten über die Natur lediglich in der Erfahrung gefunden werden. Die reine Erfahrung vor dem Denken gibt sie nicht her. Aber mit Hilfe des Denkens können sie als ,Erfahrung` und zwar ,Erfahrung höherer Art` (Goethe) gefunden werden, denn das Gebiet der ,Erfahrung überhaupt' ist mit dem Denken als solches nicht überschritten (GA 2\45) : „Die Erfahrung wird [ ... ] mit Hilfe ihrer selbst vertieft" (GA 2\44) . Dazu muss die innere Gesetzmäßigkeit der übrigen Erfahrung an einer anderen Stelle der

3o Vgl. § 5.3.3 über die empirische Logik.

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256 KAPITEL VII

Erfahrung als solche auftreten: im Denken (GA 2\44). Hatte Volkelt die zwei Prinzipien ,Erfahrung` und ,Denken` einander entgegengestellt, ohne Vermittlung (das Denken sei prinzipiell über die Erfahrung hinausschreitend und daher bestenfalls ein ,Glauben`), sucht Steiner in der Erfahrung das Denken und im Denken die Erfahrung, also die höhere Synthese beider.

Steiner prägt für das Denken das Charakteristikum: „die höhere Erfahrung in der Erfahrung".31 Er setzt dabei freilich noch voraus, dieser begrifflich-gesetzmäßige Zusammenhang sei der übrigen Erfahrung zugehörig. Weil es den erkannten Zusam-menhang nur im Begriff gibt, kann er auch nirgendwo sonst als im Denken auftreten.32

Wie können wir dann sicher sein, dass der Begriff das Wesen eines erscheinenden Gegenstandes ist? Auch hier nimmt Steiner das Resultat seiner Erkenntnistheorie vor-weg. Wieder ist der Kreis durchlaufen, aber nun in umgekehrter Folge. Ausgehend vom Denken fanden wir in ihm die reine Erfahrung, und in ihr dasjenige, was der übrigen Erfahrung fehlt. So werden beide in Zusammenhang gebracht: Im Denken erscheint, was sonst an den Gegenständen nicht zur Erfahrung wird, nicht erscheint: ihre Gesetz-mäßigkeit. Die Erscheinung vollzieht sich nur teilweise, ohne ihre Gesetzmäßigkeit. Das ist jedenfalls jetzt die These: Erst im Denken erscheint das Wesen der Erscheinung. Also gerade dort, wo anfänglich die reine Erfahrung vermeint wurde (im Denken), stellt sich heraus, dass ihr eigentliches (vermitteltes) Erscheinen stattfindet, für das die unmittelbare Erfahrung folglich nur Vorstufe war. Erst jetzt ist der Unterschied von Erfahrung und Denken völlig aufgehoben.

Schwieriger als diese Dialektik der Erfahrung ist zu verstehen, wie Steiner die subjek-tive Tätigkeit des Denkens auffasst. An dieser Stelle ist der Akt-Charakter des Denkens marginalisiert. Der Begriff selber führt uns zu seinen gesetzmäßigen Relationen mit anderen Begriffen. Der Bezugspunkt der Tätigkeit des Selbst droht hier verloren zu gehen, und mit ihm der Halt für den Begriff der Erfahrung selber. Wie verhält sich die Tätigkeit im Denken zu der unmittelbaren Erfahrung, wenn das Denken auch reine Erfahrung sein soll?

§ 7.3.4. Denken und Bewusstsein

Steiner gibt zu, dass es widersprüchlich erscheint (GA 2\51-52), dass eine Sache zwei Seiten hat: Der ,Gedankengehalt der Welt' erscheint einmal als „Tätigkeit unseres Bewußtseins", das andere Mal als „unmittelbare Erscheinung einer in sich vollendeten Gesetzmäßigkeit" (GA 2\48) . Es ist sogar widersprüchlich, dass die Form des unmittel-baren Auftretens einer Erfahrungssache scheinbar immer zu überwinden sein soll zum

31 Der herkömmliche Begriff des Empirismus wird geradezu auf den Kopf gestellt, wenn die höchste Form der Empirie im Denken über den Erscheinungen gesucht wird. Steiner Versteht seine Begriffs-entwicklung als eine Grundlegung für die rationelle Empirie Goethes, die auch schon den ,gemeinen Empirismus' hinter sich gelassen hat. Vgl. Kap. iV, § 4.2.9.

32 Im Steiner'schen Beispiel: Durch Begriff der Ursache den Zusammenhang finden des Abgebens der Wärme an die Flüssigkeit durch den Brenner, weshalb sie beweglich wird und in Gas übergeht.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 257

Behufe der Erkenntnis, allein dies nicht im Denken, wofür sie aber nicht mehr als ein rein uns Gegebenes auftritt (GA 2\47). Dieses Paradox ist aber genau der Punkt, den Steiner treffen will. Denn die Tätigkeit des Denkens greift unmittelbar vom Wesen her an, sonst wäre sie nur eine leere Gedankenproduktion. In diesem eigenen Tun lernen wir zugleich das ideelle Wesen kennen, hinter dem es dann auch nichts mehr gibt: „Deshalb nun, weil wir innerhalb des Gedankeninhaltes stehen, denselben in allen sei-nen Bestandteilen durchdringen, sind wir imstande, dessen eigenste Natur wirklich zu erkennen" (GA 2\48) . Es gibt im Denken keinen ,Gedanken an sich' gegenüber einem ,Gedanken für uns' (sodass wir irgendwie außerhalb des Begriffes stehen könnten). Beides kann nach Steiner immer nur zusammenfallen, sonst wäre das Denken nicht unsere Tätigkeit. Umgekehrt können die Gedankenverbindungen auch nicht ein rein subjektives Produkt sein, ein Selbsterzeugtes oder Willkürliches. Da würden wir im Denken nach subjektiven Gesetzen operieren, die uns bekannt sein müssten (derselbe Widerspruch in anderer Form; GA 2\50) oder die wegen ihrer Willkür nichts bedeuten würden. Wir wissen darum, wofür wir die Begriffe zu halten haben, was sie sind, denn das ist zugleich ihr Inhalt, nur dasjenige, was wir in ihnen gedacht haben.

Wie verhalten sich bei Steiner der Gedankeninhalt als unmittelbare Erfahrung und die subjektiven Tätigkeit zueinander? Diesen kardinalen Punkt behandelt Steiner nur durch einen Hinweis auf die Praxis des Denkens: Wenn wir auch einen Einfall haben, dessen Unmittelbarkeit dem Sehen einer Farbe fast gleichkäme, so ist uns gewiß, daß wir unsere Tätigkeit in Anspruch nehmen müssen, „um den Einfall zur Tatsache werden zu lassen" (GA 2\47) . Anders formuliert: „Ich muß den Gedanken durcharbeiten, muß seinen Inhalt nachschaffen, muß ihn innerlich durchleben bis in seine kleinsten Teile, wenn er überhaupt irgendwelche Bedeutung für mich haben soll" (GA 2\47). Das Bild, das Steiner hier vom Denken entwirft, ist ein solches, dass wir darin unsere Einfälle und von der Bildung und Tradition angebrachten Begriffe und Urteile haben mögen, sie aber doch erst dann ,Bedeutung` (d. h. einen Erkenntniswert) für uns haben, wenn wir selber ,wissen`, wie sie konstruiert oder gefolgert sind. Wir konstruieren sie beim Denken zugleich neu und schaffen sie dadurch nach. Unterlassen wir das, so verschwinden sie wieder, ohne eine Bedeutung für uns zu erlangen. So hat das Denken wohl immer diese zwei Seiten in sich: Einmal ,sieht` man etwas ,ein`, das andere Mal prüft man das Eingesehene genau auf seinen Wert und begrifflichen Zusammenhang mit seinen übrigen Erkenntnissen.33 Bald nimmt Steiner diesen Punkt in seiner Exposition wieder auf, indem er ihn begrifflich weiter zu bestimmen sucht: Das Denken ist ein Produzieren, aber nicht so, dass wir den Inhalt mitbestimmten. „Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, daß sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann. Wir fassen den Gedanken a und den Gedanken

33 Ob nun der Blick durch Büttners Prisma oder das Studium Von Leonardo da Vincis Traktat vn der Malerei Goethe auf die Spur des Polaritätsgesetzes der Farben brachte (Vgl. Sölch [1998], S. 95-1O4), er hatte immerhin sein ,Aperçu` sorgfaltig systematisch zu entwickeln beVor es zum Grundgedanken seiner Farbenlehre werden konnte.

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258 KAPITEL VII

b und geben denselben Gelegenheit, in eine gesetzmäßige Verbindung einzugehen, indem wir sie miteinander in Wechselwirkung bringen"34 (GA 2\49). Das Denken wird hier noch anders gefasst, nicht als Nachschaffen eines Gegebenen, sondern in zwei Momenten auseinandergelegt als die geistig-aktive Vorbereitung eines im rein passiven Zusehen sich darstellenden Zusammenfügens der Begriffe untereinander: als objektives Erscheinen eines neuen Begriffes. Dadurch hat Steiner den Begriff des Denkens nicht nur in seinem Verhältnis zur dem Denken vorgelagerten Erfahrung als ,Betrachtung` gekennzeichnet, sondern innerhalb des Denkens dieses Verhältnis wiederholt. In der Vorbereitung, indem es über schon ,durchlebte` Begriffe verfügt, ist das Denken von sich aus bestimmend, während es die bekannten Begriffe nebeneinander stellt. Dann soll es in reiner Betrachtung abwarten, was sich aus der Zusammenstellung ergibt.35 Steiner kann hier nicht vom alltäglichen Denken sprechen, das durchsetzt ist mit willkürlichen Gedankenverbindungen und falschen Schlüssen, sondern er redet ausschließlich von dem idealen Fall, in dem strengstens dem Prinzip der Erfahrung gemäß gedacht wird.

Mithin finden sich bei Steiner mindestens vier Aspekte der denkenden Tätigkeit, die nur im Vorübergehen erwähnt und nirgendwo systematisch thematisiert und jeweils als ,Denken` angesprochen werden:

1. aus sich herausgehend auf den sinnenfälligen Gegenstand blicken, auf ein dem Denken Gegenüberstehendes: das Denken als äußere Betrachtung;36

2. das Denken als unmittelbare Erfahrung eines Begriffes oder Urteils (gleichviel ob als Aperçu oder Ergebnis eines Gedankenversuches), gleichsam die Blickwendung nach Innen: innere Betrachtung;

3. das Denken als vorbereitendes Disponieren über Begriffe in einem ,Gedankenver-such`;

4. das Denken als Nachschaffen und während dieses Tuns das Durchleben eines erfah-renen Gedankeninhaltes, das Prüfen und Urteilen.

34 Steiner Vergleicht diese Tätigkeit mit der eines eXperimentierenden Mechanikers (GA 2\52). Es handelt sich nur nicht um das ,Gedankenexperiment sondern um einen ,GedankenVersuch` im Sinne von §3.6. Ein Vergleich, der öfter gemacht wurde, z. B. durch W.M. Drobisch in Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, Leipzig 1842, S. 4: „Was ist es anderes als ein geistiges EXperiment, wenn der Mathematiker die unbekannten Größen einer Aufgabe durch Rechnung oder Konstruktion aufsucht, ohne Vorauszusehen, wie das Resultat beschaffen sein wird, oder wenn der Metaphysiker, Von seinen Prinzipien auslaufend, mit gespannter Erwartung die Konsequenzen nachgeht, die sich an jenem entwickeln."

35 Etwas später im TeXt heißt es: „Sobald unser Geist zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich, daß sie eigentlich in eins miteinander verfließen" (GA 2\56). Wir meinen, ,Entsprechen` ist wohl gleich ,Verfließen`. Der Unterschied ist ein subjektiVer; dies mag noch nicht eingesehen sein.

36 Man könnte fast sagen: das Denken als ,Nicht-Denken`, denn es beschäftigt sich nicht direkt mit dem Begriffe, sondern mit den ihm gegenüberstehenden Gegenständen in der Erscheinung.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 259

Die Aspekte 1 und 2 verhalten sich zueinander gegensätzlich, wie 3 und 4, die beide jene ersteren Stufen voraussetzen.37 Das Selbst, das sich zum Behuf der Erfahrung auf der ersten und zweiten Stufe entäußert, versucht sich auf der vierten Stufe vielmehr die Gedankeninhalte anzueignen, die es in der Erfahrung als Ganzes vorfindet. Auf das Nähere einer angedeuteten Psychologie des Denkens lässt Steiner sich nicht ein. Klar ist immerhin, dass das Verbindende die durchgehende Aktivität des Selbst ist, das jetzt etwas betrachtet, dem etwas dazu einfällt, das darüber reflektiert und sich das Gefundene im Nachschaffen zueignet, während es fortwährend Gedankenversuche macht. Diese Vorstellung der Subjektivität beruht auf der Grundlage eines Begriffe pro-duzierenden Selbst. Das kommt aber nicht einem rein autonomen Ich gleich, das auf seinem privaten Olymp sich nach der Willkür seiner Subjektivität eine Gedankenwelt erschaffen würde. Steiner entwirft das Bild eines in den Strom des Geistigen unter-tauchenden Ich, das erst allmählich seine Selbständigkeit durch prüfende Zueignung der Begriffe erwirbt. Die Referenztätigkeit des Ich im Erkennen, mehr als die Produk-tion der Gedanken, ist die Tätigkeit des Ich, außer sich zu gehen, sich vom objektiven Geiste befruchten zu lassen:38 „Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, daß sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann" (GA 2\49).

§ 7.3.5. Innere Natur des Denkens

Das Prädikat ,subjektiv` verliert seine Bedeutung für die Gesamtheit der untereinander gesetzmäßig zusammenhängenden Begriffe innerhalb des Denkens. Der Zusammen-hang der Begriffe ist keine subjektive Angelegenheit. Ob der Begriff a dem Begriff b unter-, neben- oder übergeordnet ist, hängt lediglich von dem Inhalt von a und b ab.39

Das entscheidende Argument Steiners für die Objektivität der Begriffe lautet: „Unsere Gedankenwelt ist also eine völlig auf sich selbst gebaute Wesenheit, eine in sich selbst

37 Die Ordnung ist gewissermaßen arbiträr, und an Verschiedene, für sich stehende ,Vermögen` oder ,Funktionen` ist dabei wohl nicht zu denken.

38 Wir beziehen uns damit auf die Metaphorik der späteren theosophischen Periode, die im Prinzip hier schon vorbereitet ist. So heißt es in Die Mystik (GA 7) Von der bewussten Erkenntnis, sie sei ,eine geistige Wiedergeburt der Dinge der Welt', denn „aus mir heraus leuchtet dem Baume erst entgegen, was er ist" (GA 7\22). In Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums deutet Steiner die antiken Mysterien im Sinne einer Bildsprache des Erkenntnisprozesses: „Die Seele ist die Mutter, die das Göttliche aus der Natur empfangen kann. [ ... ] Der Vater bleibt ruhig im Verborgenen; dem Menschen ist der Sohn aus der eigenen Seele geboren" (GA 8\36-37). Gott — Seele — Geist-Erkenntnis sollen sich in den griechischen Mysterien und dem Mythos darstellen, wie zum Beispiel in Zeus — Semele — Dionysos. Im ägyptischen Mythos in Osiris — Isis — Horus (ebd., S. 97-1OO). Bei Platon ist das mütterliche Prinzip im Symposin dargestellt als Diotima (GA 8\71), die Sokrates hilft, in seiner Seele die Weisheit zu erfassen. Die Authentizität der Grundstruktur dieser Deutung der Antike belegt Steiner namentlich mit Platon (Phaidn 229 d-23O a) und Philo Von Alexandrien (allegorische Deutung des Alten Testaments). Als direkte Quellen können wir hier an Schellings Über die Gottheiten vn Samothrake (1815) und Philosophie der Mythologie (1842) und an O. Willmann, Die Geschichte des Idealismus, Bd. z., Vorgeschichte und Geschichte des antiken Idealismus (Braunschweig 1894) denken.

39 Vgl. § 5.3.4 über den Psychologismus in der Logik.

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260 KAPITEL VII

geschlossene, in sich vollkommene und vollendete Ganzheit" (GA 2\50). Die Begriffe zei-gen eine eigene Gesetzmäßigkeit auf. Diese ist unverträglich mit einem rein subjektiven Hervorbringen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Steiner hier die wissenschaftlichen Systeme Hegels als Beispiele anführt (GA 2\50). Ferner charakterisiert Steiner das Den-ken ,für sich' genommen durch seine Tendenz, die Vielheit von Gedanken miteinander zum Ganzen, zur Einheit und Harmonie zu verbinden: „Alle Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere Begriffswelt nennen" (GA 2\57) . Es ist dies wieder nur eine Idealisierung, diesmal der Begriffswelt, denn es wird sich die innere durch das Ganze hindurchziehende Einheit der Begriffswelt erst am Ende des Wissens oder jedenfalls am Ziel einer Vollendung im System herausstellen.40 Aus der Tatsache, dass ein „Sonderbegriff, abseits von meiner übrigen geistigen Welt [ ... ] mir ganz und gar unerträglich [ist] ", und wir uns bewusst sind, „daß eine innerlich begründete Harmo-nie aller Gedanken besteht" (woraus sich die eben genannte Unerträglichkeit erklärt), folgert Steiner, dass wir uns „im Besitz der Wahrheit fühlen" bei einer durchgän-gigen „Zusammenstimmung aller Begriffe, über die wir verfügen" (GA 2\57) . Dieses Streben nach Einheit und diese Gefühle der Harmonie und Disharmonie im Denken sind für Steiner Indizes einer natürlichen Voraussetzung der Einheitlichkeit unserer Begriffswelt. Ob es diese Einheitlichkeit der Begriffswelt auch wirklich gibt, ist auf dieser Stufe der Erkenntnistheorie gar nicht definitiv auszumachen. Dies hat sich an der Entwicklung der Wissenschaft zu bewähren und fordert konsequenterweise eine empirische Wissenschaftslehre. Die philosophische Erkenntnistheorie Steiners geht bis zu einer Methodologie der Wissenschaften. Eine Logik im Hegel'schen Sinne ermög-licht einen kategorialen Überblick über die Grundbegriffe der Wissenschaften. Wenn diese entsprechend zu einem System der Wissenschaften geordnet werden könnten, auch wenn sie sich noch nicht vollendet hätten, (vgl. ENZ), dann wäre sie schon ver-nünftige Annahme. In Kapitel y über die Logik hat sich gezeigt, dass Steiner in der Tat eine Kategorienlehre nach Hegel'schem Muster anvisiert. In Kapitel IV und VI haben wir gesehen, dass Steiner, oftmals nur implizit, Goethes Naturanschauung zu einer Entwicklung im systematisch-dialektischen Sinne fähig glaubt.

Die Vorstellung einer in sich vollendeten Totalität der Begriffswelt wirft die Frage auf, ob das Denken „abgesehen von aller anschaulichen Wirklichkeit, von der sin-nenfälligen Erscheinungswelt" diesen Inhalt hat. Ist sie letztendlich nicht doch nur Reflex eines außerhalb des Denkens liegenden Gebietes? Ist die Begriffswelt ohne den sinnlichen Inhalt nicht gar „die vollständige Leere" (GA 2\57)? Steiner bemüht sich hier, die Kant'sche Ansicht: „die Außenwelt müsse den Stoff liefern, welcher in unsere Begriffe einfließt [ ... ], sie sind um ihrer willen da" (GA 2\58) zu widerlegen. Es ist das bekannte Schema von Kant: Gedanken (Begriffe) ohne Anschauung sind leer, Anschau-

4O Demgegenüber ist im 2O. Jahrhundert eher die Diskontinuität in der Theoriebildung (Popper, Feyer-abend, Kuhn, Hübner, Foucault, Derrida) herVorgehoben worden. Bei aller festgestellten Disparität Verzweifelt man eher an der ObjektiVität und inneren Harmonie der Gedankenwelt.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 261

ungen ohne Begriffe sind blind.41 Steiner: „Man könnte diese Ansicht die Verneinung des Begriffs nennen" (GA 2\58), insofern dieser nur ein Adjektiv zur Sinneserschei-nung darstellt ohne eigenständige Bedeutung. Die Begriffe wären nur „Vermittler eines Inhaltes, der nichtbegrifflicher Natur ist". Der nichtbegriffliche Inhalt könnte nun ent-weder aus der Sinneserfahrung kommen oder anderswoher. Im ersteren Fall wäre das Denken, entweder ganz oder zum Teil, die Wiederholung der Sinneserfahrung. Wenn ganz, so genügte das Steiner bereits, um Kant zu widerlegen (GA 2\58) . Wenn zum Teil, so wählte es offensichtlich zum Begriff aus der Sinneserfahrung die Merkmale, die wir als die wesentlichen bezeichnen. Da zur Selektion der Merkmale die Sinnes-erscheinung die Norm nicht abgeben kann (die Auswahl setzt eine Norm voraus)42,

ist der Selektion der Charakter der Wesentlichkeit abzusprechen und stattdessen nur von sich wiederholenden Merkmalen auszugehen (das eine nicht ,wesentlicher` als das andere), da doch mindestens die Voraussetzung besteht, es gäbe gleiche Merkmale, gleiche sich wiederholende Eigenschaften an den Dingen. Dieses, geprüft an der Sin-neserscheinung, bestätigt sich nicht. An einem Beispiel von zwei Figuren von Dreiecken illustriert Steiner, dass wir sie zwar beide als Dreieck bestimmen, aber durchaus nicht wegen sichtbarem Gleichen daran, sondern wegen nicht direkt sichtbaren gleichen (gesetzmäßigen) Verhältnissen, wie dass beide Figuren konstruiert sind aus drei in einer Ebene liegenden, in drei Punkten sich schneidenden Linien usw. (GA 2\60) . Man könnte hinzufügen, auch die Gleichheit unterstellt Gleichheit in einer Hinsicht, was aber im Grunde nichts anderes heißt als eine selektive oder schon vorher bestimmte Gleichheit, mit Rekurs auf die Norm einer wesentlichen Gleichheit. Steiners Induk-tionsprinzip des Goethe'schen Empirismus (§ 4.2.9) nahm seinen Ausgang in einem „allgemeinen Gesichtspunkt". Der Gesichtspunkt brachte die Gleichheit zustande.43

Wenn der Inhalt der Norm nicht-sinnlicher Natur ist, so ist sie entweder ganz mit dem Begriffe gegeben oder etwas den Begriff Transzendierendes. In beiden Fällen muss der Begriff aus sich Inhalt haben, denn auch zu einem Transzendenten haben wir nur Zugang durch den Begriff44 (GA 2\61). Damit ist für Steiner bewiesen, dass das Denken aus sich selber seinen Inhalt hervorbringt.

41 Unter den Begriffen haben wir dann namentlich die empirischen Begriffe zu verstehen. Die Kategorien haben schon einen Inhalt von den Urteilsfunktionen, denen sie entspringen.

42 Steiner führt weiter im Text das Beispiel an, das BeharrungsVermögen der Dinge sei keine sinnliche Eigenschaft derselben. Unsere Begriffe der Ursache und Bewegung modifizieren den Begriff des Körpers: Wir unterscheiden solche, die sich selbst in Ruhe und Bewegung versetzen können, von solchen, deren Bewegungszustand nur von äußeren Einflüssen verändert wird. Diese sind die anorganischen,

jene die organischen. Wir prüfen nun jeden Körper, den wir wahrnehmen, ob die eine oder die andere Begriffsbestimmung mit ihm Verbunden werden kann. Dann setze ich ihn anderen, ebenso eingeteilten Körpern gleich (GA 2\67-68). Die Norm für Gleichheit ist mithin eine Begriffskonstruktion. Im Altertum und Mittelalter sah man ja kein BeharrungsVermögen in den Körpern. Die Neuzeit dachte sich diese Eigenschaft erst aus (Galilei und Newton) .

43 Diese Ansicht wird auch jetzt noch als schlüssig gehandhabt. Vgl. Rosen (198O), S. 62 und 65-67. 44 Vgl. das Argument vom dritten Mann im Parmenides 132c-133a. Die Norm der Gleichheit kann nicht

außerhalb des Begriffes sein ohne regressus ad infinitum.

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262 KAPITEL VII

Ferner setzt Steiner anschließend zu einer Kritik an Kants Unterscheidung von ana-lytischen und synthetischen Urteilen und von den Funktionen Verstand und Vernunft an. Der Verstand hält, nach Steiner, den einzelnen Begriff fest. Der Begriff ist abgetrennt, unterschieden von den anderen, Ursache von Wirkung, Mechanismus von Organismus, Idee von Wirklichkeit usw. (GA 2\69) . Die Begriffe, in Wechselwirkung gebracht, gehen ineinander über und bilden in der Vernunft eine neue Totalität, die wir Ideen nennen: Kausalität, Objekt usw. (GA 2\71). Diese Totalität ist aber „vor allem Denken" vorhanden und wird nur durch die Vernunft zur Erscheinung gebracht (GA 2\73). Im Urteil ,Jeder Körper ist schwer` (das Beispiel Kants in KDRV\B11-12) haben wir vom Standpunkt der vereinzelten Begriffe eine willkürliche Verbindung. Kant: „Das Prädikat [ist] etwas ganz anderes, als das, was ich in dem bloßen Begriff eines Körpers überhaupt denke" (KDRVB 11). Nur ,die Erfahrung', fährt Kant fort, bringt Subjekt (,alle Körper') und Prädikat (,schwer`) ,a posteriori' oder ,empirisch` (durch Induktion der komparativen Allgemeinheit) zusammen ohne Einsicht in diesen Zusammenhang. Erst die Vernunft ist das Vermögen der ,apriorischen` Prinzipien, vermittels welcher die Begriffe und Urteile des Verstandes zur Einheit der Prinzipien zurückgeführt werden (KDRVB 356-

359). Der Preis dieser apriori Einheit der Vernunftbegriffe ist die Beschränkung auf einen regulativen Gebrauch. Steiner sieht aber in jedem Urteil schon eine Vernunfttä-tigkeit:45 „Wenn wir in dem Urteile: Jeder Körper ist schwer, den Subjektsbegriff mit dem Prädikatsbegriff verbinden, so liegt darinnen schon eine Vereinigung von zwei Begriffen, also die einfachste Tätigkeit der Vernunft" (GA 2\73) . Diese Vereinigung geht aus dem Inhalt beider Begriffe hervor: „Es ist unmöglich, daß ich im Subjektsbegriffe gar keinen Anhaltspunkt habe, der mich zum Prädikatsbegriffe führt" (GA 2\75), denn beide Begriffe sind nur Stücke einer zusammenhängenden, einheitlichen Begriffswelt.46

In dieser finde ich den Zusammenhang, nicht in der Sinneserscheinung als solcher. Der Unterschied zwischen ,a priori' und ,a posteriori' wird hinfällig. Die mathematischen Urteile ,7 + 5 = 12' und ,Die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten` gelten in diesem Sinne nicht a priori, weil der Verstand zum Urteil komme nicht nur aufgrund der apriorischen Anschauungsform, jenseits des Begriffs, sondern gleichfalls dadurch,

45 Anders als Kant, für den der Verstand nicht nur das Vermögen, Begriffe zu bilden, sondern auch das Vermögen zu urteilen ist (KDRVB 94), und zudem das Vermögen zu unvermittelten Schlüssen, den Verstandesschlüssen (KDRVB 36O).

46 Steiner erläutert diese Behauptung nicht weiter, aber wir können sie folgendermaßen interpretie-ren: Wir bilden an dem Körper Verschiedene Begriffe aus in der Geometrie (Form), Mechanik (Stoß und Widerstand), Optik (Durchsichtigkeit, Reflexion) und Dynamik (Schwere). Diese Perspektiven mit ihren eigenen Begriffen sind Verstandesmäßig zu trennen. Das hindert uns aber nicht daran, die verschiedenen Eigenschaften wieder zusammenzubringen im Begriff ,Körper`, von dem sie eine Fortbil-dung in einer bestimmter Richtung sind. Die Art des Zusammenhangs ist jeweils mit dem spezifischen Subjekt und Prädikat gegeben. Nicht jeder Körper mit derselben Form hat gleiches Gewicht. Diese Verbindung vom geometrischen Körper (des Raumesform) und der ,Schwere` geht über den differen-zierten Begriff der Materie (u. a. ,spezifisches Gewicht') und die dynamischen Begriffe (,räumliches Verhältnis der Körper untereinander', ihre Anziehung) usw. Diese Verbindung ist deswegen nicht eine bloße komparative Induktion aus Sinnesdaten.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 263

dass die Vernunft die Identität einsieht von den 12 mathematischen Einheiten, einmal

zusammengefasst als 7 und 5 und ein andermal als 12 oder als die Identität einerseits

der einfachen Richtung von Punkt A nach Punkt B und andererseits als die quantitativ bestimmbare, variable Menge, den Weg von A nach B.47 Die Identität beruht jedes mal auf einer inhaltlich-ideellen Beziehung von Subjekt und Prädikat und ist keine äußere (wenn auch keine ,a priori') Zusammenstellung. Wie bei Hegel48 geht das Urteil aus dem Inhalt der Begriffe hervor, und in einem wahren und notwendigen Urteil sind Subjekt und Prädikat nur eins; sie gehen in einen Begriff zusammen:49 „Alles Urteilen, insofern die Glieder, die in das Urteil eingehen, Begriffe sind, ist nichts weiter als eine Wiedervereinigung dessen, was der Verstand getrennt hat" (GA 2\75; vgl. § 4.2.4) .50

Das Denken hat die Tendenz, die Gesetzmäßigkeit nicht nur in sich, sondern auch in der übrigen Erfahrungswelt zu sehen. Denken ist nur auf Begriffe und Ideen beschränkt. Es hat nicht den geringsten Anlass, etwas anderes in der Welt herauszulesen als eben den Begriff. Diesen gibt es in der Erfahrung des Denkens, und dieses ist „eine Totalität in sich, das sich selbst genug ist, das sich nicht überschreiten darf, ohne ins Leere zu kommen" (GA 2\80). Das Denken ist in sich transsubjektiv, weil es mehr als subjektive Tätigkeit ist. Es ist sogar transzendent in dem hier erwähnten Sinne, dass es seine Gesetzmäßigkeit auch außer sich in der übrigen Erfahrung sucht. Es kann jedoch nicht über das Bewusstsein, das Erfahrungsfeld hinaus: „Unser Denken ist an das Diesseits gebunden und weiß nichts vom Jenseits" (GA 2\82). Es findet im Diesseits die Idee, die zur Erklärung der Gesetzmäßigkeit der Welt ausreicht.

47 Diese Kritik an Kants mathematischen, d. h. synthetischen Urteilen a priori entspricht fast genau denjenigen Hegels in WDL I\236-239 und ENZ § 256. Vgl. § 6.7.2.

48 Vgl. WDL II über das Urteil im Allgemeinen (u. Teil, erster Abschnitt, 2. Kapitel) und ENZ §166.

49 Deswegen beruft Hegel sich, nach Hölderlin (Urteil und Sein), auf die (Vermeintliche) etymologische Bedeutung des ,Urteils` als einer ursprünglichen Teilung (und Aufhebung derselben): ENZ §166.

5O Der Begriff des ,Denkens` differenziert sich abermals. Im Vergleich zu der Differenzierung der vier Tätigkeiten im Denken in § 5.2.4 ist die Differenzierung ,Verstand — Vernunft` zwar eine traditionellere, die damals im neukantischen Klima auf einiges Verständnis zählen konnte, aber sie bleibt ferner unterbestimmt und damit problematisch, zumal sie die Hegel'sche Umbildung aufgreift, ohne jedoch hierüber genügend Klarheit zu schaffen. Das Problematische ist ferner der Unterschied Von ,Begriff und ,Idee`. Nur die Letzteren sind Von der Vernunft geschaffene Gebilde, in denen die Sonderbegriffe des Verstandes als aufgehobene Teile weiterleben (GA 2\71). Steiner nennt aber die Unterschiede: Ursache und Wirkung, Mechanismus und Organismus, Freiheit und Notwendigkeit, Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur, alle durch den Verstand herbeigeführt (GA 2\69). Diese Begriffe sind jeder für sich schon konstruiert, was auf die Rechnung der Vernunft geschrieben werden könnte. In Hegels WDL sind sie stets das Ergebnis einer dialektischen Entwicklung, die schon ihre logische ,Geschichte hat. Sie sind für sich dann folgerichtig als Ideen zu qualifizieren. Der Begriff ,schwerer Körper` wäre ferner, Steiners Exposé nach, von der Vernunft erfasst und deshalb schon Idee? So wären die allgemeinsten Gedanken eher Verstandesbegriffe und die spezialisiertesten Gedanken Ideen, konträr zu der Vorstellung, dass gerade die allgemeinsten und umfassendsten Gedanken Ideen sind (Vgl. GA 4\57). Es kommt Steiner aber auf die innere Dynamik des Denkens an: das Trennen und Verbinden als „geistige Tendenzen", ,scharf umrissene Konturen zu schaffen` und die so erzeugten Einzelgebilde ,zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen` (GA 2\68).

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264 KAPITEL VII

Ein zu berichtigender ,Irrtum` wäre die Behauptung, dass das Denken nicht hin-reiche, die Welt in der Idee zu rekonstruieren, ohne dass noch ein anderes Element als Kraft oder Wille für die Realisierung der Ideen hinzukommt. Die Erwiderung lautet, dass „sich alle solche Faktoren als nichts weiter ergeben, denn als Abstraktionen aus der Wahrnehmungswelt, die selbst erst der Erklärung durch das Denken harren" (GA 2\81). Es ist widersprüchlich, die Welt verstehen zu wollen durch die Idee und dazu einen anderen, nicht-ideellen Faktor beiziehen, den wir im Erkennen doch wieder nur durch einen Begriff erfassen51 (GA 2\82).

Der Objektivität der Gedanken steht schließlich die Ansicht im Wege, „daß es so viele Gedankenwelten gibt als menschliche Individuen" (GA 2\52) . Diese naheliegende Vorstellung, die dadurch entsteht, dass wir uns beim Denken in Tätigkeit versetzen, ist nach Steiner „ohnehin nichts weiter als ein althergebrachtes Vorurteil" (GA 2\52) . Steiner formuliert die Alternative: „Es gibt überhaupt nur einen einzigen Gedankeninhalt, und unser individuelles Denken sei weiter nichts als ein Hineinarbeiten unseres Selbstes, unserer individuellen Persönlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt" (GA 2\52). Sie ist möglich dadurch, dass die Begriffe inhaltlich keinen Bezug nehmen auf die Person, die denkt. Die Idee, der Zusammenhang der Begriffe, sie sind aus sich heraus bestimmt: „Was hat dieser durch sich selbst bestimmte Inhalt mit der Vielheit der Bewußtseine zu tun?" (GA 2\78) . Steiner folgert daraus: „Es gibt nur einen Gedankeninhalt der Welt. Unser Bewußtsein ist nicht die Fähigkeit, Gedanken zu erzeugen und aufzubewahren, wie man so vielfach glaubt, sondern die Gedanken (Ideen) wahrzunehmen" (GA 2\78) . Steiner stellt diese Konklusion als weiter nicht ergänzungsbedürftig einfach hin mit Hinweis auf das Goethe'sche Wort aus den Sprüchen in Prosa: „Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan." Der menschliche Geist ist also „Bürger zweier Welten, der Sinnen- und der Gedankenwelt, die eine von unten an ihn herandringend, die andere von oben leuchtend" (GA 2\79) . Wir meinen, dass Steiner hier keine Theorie des geistigen Ideenwahrnehmens darlegt nach Analogie der Sinneswahrnehmung. Sie würde dem bisherigen Gedankengang widersprechen. Vielmehr ist Steiners philosophische Erklärung der Objektivität der Idee, dass die auf sich gebaute Identität und der innere Zusammenhang der Begriffe als solcher keine inhaltliche Verteilung und Zersplitterung über endliche Bewusstseine zulassen. Der Begriff ist reiner Inhalt. Das Übrige ist Metapher.52

§7.3.6. Denken und Wahrnehmung

Da nun die Erfahrung ,vor` dem Denken nur als ein zu erkennendes, zusammenhangs-loses Erfahrungsgebiet zu bestimmen ist, zieht Steiner den Schluss, dass die Gesetzmä-ßigkeit der übrigen Welt auch schon im Denken eingeschlossen liegen muss (GA 2\48).

51 Um etwas in der Welt zu bewirken, braucht es den Willen, um sie zu Verstehen, sie zu denken, nur die Idee.

52 Vgl. Parmenides 133b.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 265

Auch dazu gibt es scheinbar keine Alternative. Die These Liebmanns, Hartmanns und Volkelts, dass unser Denken, eben weil es unsere subjektive Tätigkeit ist, die Welt außer-halb seiner selbst nicht erkennt, überlegt sich Steiner hier nicht. Das Denken ist zuerst die Tätigkeit des Suchens, des Aufstellens von Hypothesen und Quelle von unrichti-gen, subjektiven Urteilen. Daher haben wir die ungewöhnliche Frage zu stellen, ,was wir denn wirklich erfahren', und die Halbfabrikate unserer Erkenntnis überspringen (GA 2\34). Goethes Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt läuft pri-mär darauf hinaus aufzudecken, welche möglichen Faktoren dem objektiven Urteil die Aussicht auf das reine Urphänomen versperren. Das ist Goethe sogar wichtiger als die philosophischen Voraussetzungen seiner These, die wir hier bei Steiner eruiert finden. Steiner muss seinem Goethe'schen Erfahrungsprinzip gemäß noch immer zeigen, dass das Denken nicht allein die innere Gesetzmäßigkeit in sich hat, sondern dass diese auch die Gesetzmäßigkeit der übrigen Erfahrungswelt ist.

Steiner erwähnt dazu die Schwierigkeit, die aus seiner Darstellung der inneren Totalität und Selbstgenügsamkeit der Idee und des Denkens hervorzugehen scheint. Macht sie als ,innere Widerspruchslosigkeit` nicht jeden Übergang zur Wahrnehmung unmöglich?53 Wenn die Begriffe sich zusammenschließen und im Denken eine Einheit bilden, so wäre das Denken in sich abgeschlossen, ohne Beziehung auf anderes (GA 2\63). Mit dieser Fragestellung geht Steiner auf Distanz zu Hegel, der die Vollendung der reinen, absoluten Idee in sich selber zugleich deren logische ,Entschließung` sein lässt,54

d. h. das Heraustreten des Moments der Besonderheit der Erfahrung.55 Nach Steiner gibt es scheinbar nicht diesen Übergang in der Schöpfung aus der Idee wegen eines inneren Widerspruchs.56 Er weist aber auf eine andere Entwicklung der Bestimmungen des Denkens hin. Das Denken macht einfach Platz für ein anderes Element, weil die allgemeinen Bestimmungen der Begriffe auf mannigfache Weise erfüllt werden können, wie es dann in der (Sinnes-)Erfahrung tatsächlich geschieht. Die Gedankenbestimmung ,Die Erde zieht jeden Körper an', lässt die Möglichkeit offen, in verschiedenster Weise

53 Das heißt Wahrnehmung außerhalb des Denkens.

54 Wie Hegel sagt, geht die Idee nicht ins Leben über (Weise des Fortschritts in der Seinslogik) und scheint nicht nur in der Natur (Logik des Wesens: Reflexion in Anderes), sondern entschließt sie sich in ihrer Unmittelbarkeit als Selbstanschauung (Anundfürsichsein) und als Wiederschein der Natur zu entlassen (ENz § 244). Dies ist offensichtlich als ein originäres Verhältnis zu deuten, wofür die anderen Übergänge nicht maßgebend sind. Es ist die Voraussetzung der Erkennbarkeit der Natur, die durch die Naturphilosophie bewährt wird.

55 In der Logik ist die Idee nur in der Allgemeinheit bei sich selbst (der Logos als ewiger Sohn Gottes nach Philo). Nur als endlicher Geist, der sich zur absoluten Idee erhebt, also in der Philosophie, verwirklicht sich bei Hegel diese Selbstanschauung in der Kategorie der Einzelheit (die Vollendung des Begriffes). Diese Einzelheit entsteht als Rückkehr aus der Kategorie der Besonderheit, aus der Natur (ENz § 247, Zusatz), deren Prozess zum Tod der Natur führt und das Werden des Geistes ist (ENz §376).

56 Bekanntlich hat Schelling an diesem Punkte Hegel kritisiert: „Ein bloßer Begriff kann sich nicht entschließen" (sw I,io\154). Vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, Frankfurt a. M. 1975, S. 142-146.

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266 KAPITEL VII

erfüllt zu werden.57 Steiner bringt das Verhältnis auf die Formel: „Die Wahrnehmung bietet eine solche Art der Spezialisierung der Gedankenbestimmungen, die von den letzteren selbst offen gelassen ist" (GA 2\64). Es gibt in diesem Sinne, vom Begriff aus beurteilt, grundsätzlich eine Kontingenz in der Wahrnehmungswelt. Wie weit denn diese Kontingenz des Wahrnehmungselementes reicht, wird auch hier nicht klar (vgl. § 4.2.7) .ss

Bis hierher hat Steiner nur die Möglichkeit der Parallele von Wahrnehmungswelt und Idee erklärt. Dass diese sich in jener widerspiegelt und ein wirkliches Verhält-nis der Spezialisierung auftritt, stellt Steiner als eine Tatsache hin, die wir in jedem ,Wahrnehmungsurteil` anerkennen: Das Subjekt sei eine Wahrnehmung, das Prädikat dabei Begriff. Schon im Beispiel Steiners zeigt sich, dass diese Unterscheidung sich nicht ohne weiteres aufrechterhalten lässt: „Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund" (GA 2\65). An der Subjektstelle haben wir hier nicht eine bloße Wahrnehmung, sondern einen durch die Wahrnehmung spezialisierten Begriff: ,dieses bestimmte (durch die Wahrnehmung spezialisierte) ,Tier` (Begriff). Als Prädikat haben wir ,Hund` als species. In der Speziesbildung haben wir nicht mehr den reinen Begriff vor uns, sondern schon durch viele Wahrnehmungen hindurch spezialisierte Begriffe. ,Hund` ist als wissenschaftlicher Begriff immerhin als eine an der Erfahrung gewonnene Unterart vom Begriff ,Tier` zu verstehen. Eine solche Bestimmung hat de facto schon eine Menge ,Wahrnehmungsurteile hinter sich. Man hätte sich vielleicht auch eine sol-che species ausdenken können, nur aufgrund von Begriffsurteilen, aber dies wird doch nicht der Normalfall sein. Wenn das Prädikat ,Hund` als bekannt vorausgesetzt wird, ist das Urteil ,Dieses bestimmte Tier ist ein Hund` Ausdruck der Bestimmung eines mit dem allgemeinen Begriff identifizierten, aus dem allgemeinen Wahrnehmungsbe-stand hervorgehobenen Gegenstandes durch einen schon bekannten, spezialisierteren Begriff. Mit anderen Worten, man erkennt den Begriff dieser Spezialisierung, die das Einzelne der Wahrnehmung mit dem allgemeinen Begriff vornimmt. Man erkennt also nicht reine Wahrnehmung (Subjekt) durch einen Begriff (Prädikat), sondern die in der einzelnen Wahrnehmung gefundene Spezialisierung (Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum allgemeinen Begriff, z. B. ,Tier`) durch den spezialisierten Begriff (das Besondere). Hierin kehrt aber nur das ursprüngliche Problem wieder. Die Spezialisie-rung ist durch die Wahrnehmung gleichsam als Frage aufgegeben. Sie entsteht nicht im rein gedachten Begriff (die Idee an sich wäre nicht hinreichend, um in uns den Begriff ,Hund` zu bilden, dazu braucht es Erfahrung). Der ,entsprechende besondere Begriff ist ein Begriff, dem die Spezialisierung der Erfahrung irgendwie angemessen ist. Steiner: „Wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt haben, jenes gesuchte Wesen

57 Die GraVitationskonstante ist also keine ideelle Notwendigkeit und kann diesen oder jenen rein empirischen Wert haben.

58 Irgendeine Art der Kontingenz ist seit der antiken Philosophie immer Begleiterin des Idealismus. Nach Hegel ist es die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Kontingenz den äußeren Bestimmungen zu überlassen (ENZ § 25O).

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 267

der Wahrnehmung ist" (GA 2\64). Dafür gibt es keine andere Erklärung, als dass uns dies tatsächlich gelingt:59 „Die stumme Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns ver-ständliche Sprache" (GA 2\64). Wird das Wahrnehmungsurteil also durch den Begriff vermittelt (der besondere Begriff vermittelt den allgemeinen Begriff mit dem Einzel-nen, auf den der allgemeine Begriff zutrifft), so schließt das gar nicht aus, dass zugleich die Wahrnehmung den Grund abgibt für das Urteil. ,Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe', kenne ich nicht im voraus, sondern eben nur durch die Wahrnehmung. Das Was desselben, „die Wahrnehmung als bestimmter Begriff" (GA 2\65), ist freilich nur Begriff, der „in uns vorgebildet sein muß" (GA 2\64). Zwar nicht im Sinne eines frü-her schon gedachten Begriffs, sondern „ableitbar" aus der Welt der erreichbaren (d. h. ,wahrnehmbaren`) Begriffe (GA 2\66). Das Objekt „veranlaßt" die Begriffsbildung. Den Inhalt holt das Denken doch nur aus sich (GA 2\66). Ist das Wahrnehmungsurteil Wirk-lichkeit, so ist damit gezeigt, dass das Denken in sich den Begriff des Wesens der in der Wahrnehmung auftretenden Objekte hat. Sein gesetzmäßiger Inhalt (der Begriff) ist zugleich Wesen der Erfahrungswelt (ihr Was).

Nun hat Steiner den Begriff und die Sinneserfahrung scharf getrennt im Argu-ment für den eigenständigen Inhalt der Begriffe (GA 2\60-61). Das vollbestimmte Einzeldreieck ist ,dieses bestimmte` Dreieck „durch Elemente, die ganz außerhalb des Begriffes liegen: Länge der Seiten, Größe der Winkel, Lage usw." (GA 2\61). Eben ,dieses Bestimmte erscheint jetzt aber als die Spezialisierung eines allgemeinen Begriffs, die wir mühelos in dem besonderen Begriff erfassen. Die von Steiner unausgesprochene Lösung liegt wohl darin, dass ,die Bestimmung` eine relative, fließende Grenze ist. Im Dreieckbeispiel nennt Steiner nicht die Spezialisierung, die nur der Wahrnehmung zugänglich ist, sondern die allgemeinen Eigenschaften des Dreiecks: Länge der Seiten, Größe der Winkel, Lage (zueinander). Als solche gehören sie nicht der Sinneserfahrung an. Sie haben ihrerseits in der Sinneserfahrung einen bestimmten konkreten Wert, der nicht mehr rein ideell ist, der nur gemessen (d. h. untereinander verglichen) und gezeigt60 werden kann. Steiner illustriert sie deshalb mit einer Figur im Text auf Seite 60. Einzelne Längen, einzelne Größen der Winkel, einzelne Lagen sind eine unmit-telbare Einheit von Erfahrung und Denken, von Sinneserfahrung und Begriff. Die Sinneserfahrung (oder jede andere unmittelbare Erfahrung) erfüllt den Begriff. Es ist dies das klassische Verhältnis vom Allgemeinen und Individuellen (Einzelnen). Die Erscheinung individualisiert das allgemeine Wesenhafte. Steiner erkennt die inhärente Spannung der Identität und Differenz beider Elemente: „Durch das Wahrnehmungs-urteil wird erkannt, daß ein bestimmter Binnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt" (GA 2\65). Es wird durch ein Urteilen, also durch das Denken, erkannt, mithin nicht nur ,gesehen` oder anders unmittelbar

59 Wie Quine einmal treffend bemerkte: „We newly establish the projectability of some predicate, to our satisfaction, by succesfully trying to project it. In induction nothing succeeds like succes" (Natural

Kinds, in: Schwarz [1977], S. 167). 6o Nicht ,demonstriert`, sondern nur ,monstriert`, wie Hegel sagt (wm, II\3oo).

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268 KAPITEL VII

erfahren. Der Gegenstand fällt nur seiner Wesenheit nach mit dem bestimmten Begriff zusammen, also nicht ohne weiteres. Wenn man sagte, der Gegenstand falle dem Begriffe nach mit einem bestimmten Begriffe zusammen, so wäre es eine Trivialität und das entsprechende Urteil eine Tautologie.61 Damit müssen wir schon vorausset-zen: Steiner meint, dass das Denken hier nicht nur im Hinblick auf die Idee urteilt, sondern auf die unmittelbare (Sinnes- oder andere Art der) Erfahrung, die, wenn wir sozusagen die ideelle Substanz der Begriffe anbieten, bestimmte Begriffe festhält: „Das einzige Wahre an der Sache ist, daß sie [die Anschauung] den immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form festhält, ohne daß wir nötig haben, zu diesem Festhalten tätig mitzuwirken" (GA 2\67). Sie ist dessen ungeachtet „nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes" (GA 2\67). Die Erfahrung, sei es die Sinneserscheinungen, sei es innere Erfahrung, ist nicht totes Material, das wir in die Formen unserer Gedan-ken zwingen, noch zeigt sei ihre ideellen Gesetze, die sie „beherrschen" (GA 2 \77). Jede Erscheinung hat aber, im Lichte des Denkens gesehen, ein ideell-geistiges Ant-litz.62 Das innere Wesen, das wir in dem Begriff erfassen, er-scheint in der Erfahrung, oder — was dasselbe ist — spiegelt in der Erfahrung unmittelbar zurück. Es ist also in der Erfahrung irgendwie außerhalb des zu denkenden Begriffs getreten, ohne den Zusammenhang mit ihm je zu verlieren. Die Grenze zwischen Innen und Außen ist dadurch aufgehoben: Die Wissenschaften stehen „mit der Wahrnehmung in keiner anderen Verbindung [ ... ], als daß sie im Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes sehen" (GA 2\68). Folge dieser Ansicht ist, dass die zeitliche Priorität von Erfahrung im Verhältnis zum Denken in eine logische Posteriorität zurückgenommen wird: „Psychologisch ist das das Erste, was sachlich genommen das Abgeleitete ist" (GA 2\64). Die logische Abhängigkeit ist ohne Zweifel bei Steiner als eine ontologi-sche zu deuten. Wir betrachten die Welt als hervorgehend aus der Idee, d. h. die Idee spezialisierend.

61 Deshalb ist die Rede von einer Einheit der qualitatiVen Identität und quantitativen Differenz, wie bei Schelling, oder von einer Identität der Identität und Differenz (vgl. Frank [1991], S. 123-148). Vgl. auch Hegels ,Identität der Identität und Nichtidentität', d. h. die Identität nur als ,Verschwinden der Andersheit` (wDLII\45)•

62 Die moderne Analyse hat diesen Punkt u. e. auch nicht geklärt. Rosen (1981) rekurriert auf Aristoteles, wenn er ihn erläutern soll: „The indiVidual has a definite look that identifies it as belonging to such-and-such a family, and that is the basis of essential predication" (S. 6o) und „the denial of the significance of initial looks is finally impossible" (S. 61). Der Ansatz Von Kripkes rein formalem Essentialismus ist nach Rosen noch unzulänglich, weil „no coherent account is offered of the unity of being and thinking" (S. 64). Ein ,phenomenological model' wäre auch jetzt noch ein Desideratum. „Aristotle does not provide such a model, but he does admit the capacity of intellectual intuition. This capacity is peculiar in the sense that it has no formal structure. We cannot construct a picture, model, or blueprint of the actiVity of seeing essences" (S. 64).

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§ 7.3.7. Ontologischer Anthropomorphismus

Zum Abschluss dieses Gedankenganges ergeben sich für Steiner einige ontologische Konsequenzen seiner Erkenntnistheorie: „Unsere Erkenntnistheorie führt zu dem posi-tiven Ergebnis, daß das Denken das Wesen der Welt ist und daß das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens ist" (GA 2\79). Steiner hielt bis jetzt die Idee für das Wesen des Gegenstandes gegenüber der wahr-nehmenden Aktivität des Denkens. Jetzt wird implizite gefolgert, die Entstehungsweise des Begriffs im Denken gehöre mit zum Wesen. Wir haben im Denken nicht einen zwar wahrgenommenen, aber passiven Begriff. Man gewinnt die Idee nur durch die nachschaffende Tätigkeit. Diese ist der Idee offensichtlich nicht äußerlich. Gerade in dieser Tätigkeit erfassen wir den tätigen, wirkenden Charakter der Idee. Das Denken ist selber Erscheinungsform der Idee. Mit Schelling und Goethe (ohne Namensnen-nung) schließt Steiner: „Durch unser Denken erheben wir uns von der Anschauung der Wirklichkeit als einem Produkte zu der als einem Produzierenden" (GA 2\84) .

Steiner schreckt nicht davor zurück, seinen objektiven Idealismus hier als ,Anthro-pomorphismus' zu bezeichnen (GA 2\85), da nur durch die ,Brille der Subjektivität` das Wesen der Welt zur Erscheinung kommt: „Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist" (GA 2\84) . Dieser Anthropomorphismus wäre somit kein bloß ,subjektiver`, sondern Bezeichnung der höchsten Einheit von Objekt und Subjekt. Das objektive Gesetz erscheint im subjektiven Produzieren. Die Wissen-schaft ist das Spiegelbild unseres Geistes in der Erfahrung oder eine ,Selbstanschauung` (Schelling), weil in ihr die Welt sich selber betrachtet. Die Idee, wie sie ,an sich` ist, wird, laut Hegel ,für sich', deshalb ,an und für sich` (so auch Steiner).

§7.3.8. Stufen des Erkennens

Fassen wir die verschiedenen Stufen der Gedankenfolge zusammen. Methodisch soll-ten wir den Weg der Erfahrung im strengsten Sinne gehen (§ 7.3.i). Eine Goethe'sche Erkenntnistheorie bleibt der Erfahrung treu. Der Weg von der Erfahrung von rei-ner Phänomenalität (gemeine Empirie) zu der höheren Erfahrung des Wesenhaften (rationelle Empirie) sollte philosophisch aufgefunden werden. Dazu wird die Erkennt-nistätigkeit, eben das Denken, in seiner Wirksamkeit ,angeschaut`. Stufenweise wird der Begriff dieser Tätigkeit entwickelt, indem der nächste Schritt den vorigen reflektiert:

1. Ausgangspunkt des Erkennens ist ,die reine Erfahrung' (a) in ihrer extremsten Form: vgl. § 7.3.2. Die reine Erfahrung erscheint uns als das Negative des Denkens, wenn dieses der gegenständlichen Welt gegenübertritt „mit vollständiger Entäußerung seines Selbstes" (d. h. mit Verzicht auf eigenes Denken).

2. Das Denken (b) ist Antithese der reinen Erfahrung (a), eben dasjenige, was in der Entäußerung zurückgehalten wird. Es befragt durch subjektive Tätigkeit die reine

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270 KAPITEL VII

Erfahrung, urteilt über sie, fügt ihr Begriffe hinzu. Es ist aber zugleich dasjenige, wodurch überhaupt reine Erfahrung da ist, wofür diese Erfahrung da ist. An sich ist die reine Erfahrung beziehungs-, bedeutungs- und zusammenhangslos, d. h., sie ermangelt dessen, was das Denken stiftet. So reduziert sich die reine Erfahrung auf einen Ausgangspunkt für das Denken. Das reine Erfahrungsprinzip wäre deswegen auf reine Deskription und äußere Zusammenstellung von Erfahrenem beschränkt, und die Methode geriete in eine Sackgasse (Phänomenalismus), wenn das Denken nicht mit einbezogen würde.

3. Näher betrachtet ist das Denken (b) durch eine Ausnahmestellung nur ,höhere Erfahrung' (c) innerhalb der Erfahrung (a); vgl. § 7.3.3. Nur im Denken ist dem Prinzip der Erfahrung völlig Genüge zu tun, denn die Gesetzmäßigkeit, die wir im Erkennen suchen, wird hier unmittelbare Erfahrung. Im Denken hebt sich nicht nur der Gegensatz von Erfahrung (a) und Denken (b) auf, der Erfahrungsbegriff hat sich erweitert von einem ,Vor-dem-Denken` zum ,Vor-und-im-Denken` und umfasst jetzt ,den Zusammenhangslosen` wie den ,inhärierenden Zusammenhang'. Ebensosehr bleibt der Gegensatz bestehen durch die Forderung, dass das Denken erfahrungsgemäß vorgehen soll, also mit Entäußerung seines (subjektiven) Selbst. Das Nächste ist damit die Aufklärung des Verhältnisses von Denken und subjekti-vem Bewusstsein (§ 7.2.4) .

4. Das Ich oder Selbst (d) ist bislang nur negativ, als seine Subjektivität zurückhaltend aufgeführt (a). Das Denken als individuelle Tätigkeit innerhalb des Bewusstseins hat die Form der Betrachtung, die ,Form des Gegenüberstellens (GA 2\29). Es ist ek-statischer63 Natur. Zugleich gilt, dass die Erscheinung der Begriffe nur durch die individuelle Tätigkeit (des Ich) zustande kommt. Die höhere Erfahrung in der Erfahrung (c) tritt nur dadurch auf, dass das Ich die Tätigkeit ansetzt am Kern der Begriffe (Antithese zur Gegenüberstellung b). Vermittelt durch die Tätigkeit des Ich (d) wird der Begriff ,unmittelbare Erscheinung` (c). Das Ich hat somit eine Sonderstellung außerhalb des Erscheinenden, innerhalb des Begriffes, zwischen beiden und beide umfassend;

5. Das Denken zeigt sich mithin als eine mehrfach vermittelnde Tätigkeit. Es ist zuerst nach außen und dann nach innen gewandte Betrachtung, die ihrerseits abhängig ist von einer über Begriffe verfügenden vorbereitenden Tätigkeit (zur Leitung des

63 Das heißt, es ist ,außer` sich, bei anderem. Mit der erwähnten Anspielung auf Heidegger und Sartre möchten wir hier von einer ekstatischen Struktur sprechen. Heidegger hält die ekstatische Zeitlichkeit für das ursprüngliche ,Außer-sich` (Sein und Zeit § 65, S. 329). Bei Sartre ist die Zeit in der Negati-onsstruktur des Bewusstseins gegründet, denn der Sinn der Ek-Stasis ist das Fürsichsein (L'être et le néant, 18. Aufl., Paris, 1949, 5. 183). Schelling hat aber die Bezeichnung ,Exstasis` schon ähnlicherweise philosophisch verwendet, indem das Ich außer sich, außer seiner Stelle als Subjekt gesetzt wird im ,Erstaunen` (sw I, 9229-23o). Diese Exstasis bei Schelling ist Folge der ,Unvordenklichkeit` des Seins, das sich nicht in der Reflexion auflösen lässt. Das Wesen ist entäußert, ehe es sich reflexiv denkt. Vgl. Frank (1975), S. 154. Diesem ,Exstasis`-Begriff schließen wir uns hier an, um die historische Linie zu zeigen.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 271

,Blickes' zu einem Erfahrungsgegenstand oder Gegenstand eines ,Gedankenver-suchs'). Im prüfenden ,Nachschaffen` der Begriffe eignet das individuelle Denken sich diese an. Das tätige, denkende Ich (d) erweist sich lediglich als ,Gelegenheits-ursache' (e) der Gedanken.

6. Die innere Natur des Denkens (§ 7.2.5) ist durch den Inhalt der Gedanken eine auf sich gebaute, vollendete Totalität (f), in die sich die einzelnen Gesetzmäßigkeiten (aus c) sich organisch und harmonisch eingliedern (Kohärenztheorie). Es gibt nur eine Gedankenwelt, die Idee, die individuelle Subjekte gemeinsam denken bzw. wahrnehmen.

7. Die Gesetzmäßigkeit, die wir im Denken haben, finden wir in der Wahrnehmungs-welt (a) wieder. Diese stellt sich heraus als eine Spezialisierung oder Individualisie-rung von jener (im ,Wahrnehmungsurteil'). Anschauen ist spezialisiertes Denken, es hat den individualisierten Begriff vor sich (§7.3.6). Die Idee (f) ist zureichender Erklärungsgrund der Erkenntnis. Außerhalb derselben gibt es keine andere welt-mitkonstituierenden Faktoren 07.3.6). So spiegelt unser Geist sich in der übrigen Erfahrungswelt. Das anschauende Denken (g), als (e) und (f) umfassend, erschließt den ,Kern der Welt' (GA 2\80), versetzt uns ins Zentrum (§7.3.7)•

So erheben wir uns denkend von der Anschauung vom ,Produkte (Stufe 1) zur Anschauung ,als einem Produzieren` (Stufe 7). Die Reihefolge ergibt sich somit als eine potenzierte Selbstanschauung, nicht eines privaten Ich, sondern des Geistes, an dem das Ich durch das Denken teilhat. Auf der letzten Stufe findet es sich als Produzierendes und betrachtet die Erscheinung als sein Produkt. Der Übergang ist keine lineare Potenzierung, sondern eine dialektische Entwicklung, worin die Begriffe ,Erfahrung` und ,Denken` aus den Antithesen (a) und (b) synthetisiert werden in (c): Denken innerhalb der Erfahrung. Im Ich (d) wird inhaltlich der schärfste Widerspruch gefunden und allmählich aufgelöst durch einen neuen Gegensatz im Denken von innerer vorbereitender Tätigkeit (e) und geistiger wahrnehmungsartiger Erfassung der Idee (f) (Erfahrung innerhalb des Denkens). Die Idee wird zuletzt selber als tätig aufgefasst. Sie ist Erklärungsgrund der Wahrnehmungswelt (Letztere die Erfüllung des Begriffes). Das Denken wird umfassendes Produzieren der Erfahrungswelt. Der Inhalt der reinen Erfahrung (a) wird, obwohl nur dem Wesen nach, zum Produkt des gesteigerten Denkens.

§ 7.4. System der Wissenschaft

Dieser allgemeine Erkenntnisbegriff wird erweitert für die verschiedenen Wissenschaf-ten. Bisher war nur die Rede von der Gesetzmäßigkeit im Allgemeinen. Steiner unter-sucht ferner in den Wissenschaften der unorganischen und organischen Natur, in der Psychologie und Geschichtswissenschaft, welche besondere Form das Gesetzmäßige, der Begriff, jedes Mal annimmt. Aus diesen Formen folgen vier Methoden: die bewei-sende, die vergleichende, die reflexive und die beschreibende Methode.

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272 KAPITEL VII

§ 7.4.1. Beweisende Methode

Die anorganische Natur definiert Steiner vom Kausalitätsbegriff her: Sie ist das Sys-tem von Wirksamkeiten, in dem die Zustände der vorgefundenen Dinge als Folge der Zustände der anderen erscheinen (GA 2\86). Die Tatsachen, die an einem Vorgang betei-ligt sind, versuchen wir so in ein Verhältnis zueinander zu setzen, dass ersichtlich wird, wie der Vorgang aus ihnen hervorgeht. So haben wir zunächst nebeneinander die Bahn eines geworfenen Steins, die Geschwindigkeit (Stoßkraft), sein Gewicht, die Anziehung der Erde und den Luftwiderstand usw. Wir finden, dass die Größe des Gewichts kei-nen wesentlichen Einfluss hat auf die Bahn, wohl dagegen die Anziehung der Erde, die anfängliche Geschwindigkeit des Steins (Stoßkraft). Der Lufwiderstand modifiziert die Bahn usw. (GA 2\90). Das Gesetz, das wir dabei suchen, erklärt den Vorgang als notwendige Wirkung seiner Bedingungen. Die Zusammenstellung von Faktoren zu einer Gesamterscheinung, sodass diese eine notwendige Folge von jenen ist, ist das objektive Naturgesetz (GA 2\91). „Jedes Naturgesetz hat daher die Form: Wenn dieses Faktum mit jenem zusammenwirkt, so entsteht diese Erscheinung" (GA 2\93). Alle Naturgesetze sollen sich in diese Form bringen lassen (wenn sie nicht schon als hypo-thetischer Satz formuliert sind; GA 2\93) . Ein Phänomen, worin dieser Zusammenhang durchsichtig ist, nennt Steiner (mit Goethe) ein Urphänomen oder eine Grundtatsache (GA 2\91). Diese ergibt sich entweder ,rein in Gedanken` oder wird künstlich hergestellt durch den Versuch (vgl. Goethes Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt; GA 2\93) . Stellt man ein Phänomen in verschiedenen Modifikationen her, dann finden wir ein Konstantes innerhalb der Kombinationen als das Wesentliche des Phänomens (GA 2\94). Steiner stellt dieser Methode die gemeine induktive entgegen, die nur Ver-allgemeinerungen von einzelnen Tatsachen liefert (GA 2\92) . Eben das Konstante ist es aber, das Mill aus den Erscheinungen herausschält mit der Method of Agreement und der Method of Difference (vgl. dazu § 3.6.7). Auch hier klärt Steiner den Unterschied leider nicht weiter auf, aber bedeutend ist die Gleichstellung dieser Art der Empirie mit der axiomatischen Methode der Mathematik. Beide sind nach Steiner nur eines, die beweisende Methode (GA 2\107-108) . Ihre Grundform lautet ja:

,Wenn die Bedingungen a, b und c da sind, dann tritt die Erscheinung d ein` (Regel); ,Nun sind a, b und c da' (in der Erscheinung); ,Also muss d erscheinen'. Statt die Urphänomene hat man in der Mathematik als maior die mathematischen

Axiome, und angeblich ist es kein wesentlicher Unterschied für Steiner, ob ein Phäno-men sich mit der sinnlichen Erfahrung ,deckt` oder mit einer rein ideellen. Die logische Form entspricht jeweils der ,Notwendigkeit` der ,Natur` der zusammengestellten Ele-mente (d. h., sie ist mit dem Begriff konform): „Die Dinge werden sich natürlich, in den Verhältnissen, in den sie durch den Verstand gebracht werden, ihrer Natur gemäß verhalten" (GA 2\88).

Wie wir diese ,Natur` finden, ist der unaufgeklärte Schlussstein dieser Erkenntnis-theorie (vgl. § 5.5.2). Es ist dies einfach Tatsache: „Wir sehen, daß wir ganz innerhalb

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 273

der Phänomene stehen bleiben können und doch das Notwendige antreffen" (GA 2\91). Steiner zählt das Ideelle mit zu den Erscheinungen. Dann verschwindet der Unter-schied zwischen den Elementen innerhalb des Gesetzes der Winkel der Dreiecke (deren Summe 180° beträgt) oder des Wurf- und Fallgesetzes (GA 2\89-90). Wegen des äqui-voken Begriffs der Notwendigkeit (§ 4.2.7) werden die rein logische Deduktion und Ableitung der Erscheinungen aus dem Grundphänomen zusammengeworfen, wäh-rend sie doch eigentlich unterschieden werden sollten. Wir haben gesehen (in § 4.3.2), dass Goethes Urphänomen sich nicht, oder nur in beschränktem Maße, eignet für eine deduktive Farbenlehre. Es ist ein uneingestandenes dialektisches Moment in dieser Erklärung der Natur aus den Urphänomenen, die dieser Phänomenologie gegenüber der mechanischen Naturerklärung ihre Selbständigkeit gibt. Die zwei konkurrieren-den Modelle der Mechanik (Newton) und der Morphologie (Goethe) konfundieren in Steiners ,beweisender Methode. Da mag auch das Vorbild der aristotelischen Wis-senschaftslehre hineinspielen, nach der die beweisende Wissenschaft des Notwendigen sich von den rein empirischen Individualerkenntnissen des Zufälligen abgrenzt (vgl. § 4.2.8).

§7.4.2. Vergleichende Methode

Die organische Natur geht über diese Art der Kausalität hinaus. Ihre Art von Kausalität beinhaltet, dass wir den Einwirkungen der äußeren Umstände im Organismus etwas zugrunde legen, was sich nicht passiv von seiner Umgebung bestimmen lässt, sondern sich aktiv aus sich selbst unter dem Einflusse jener bestimmt (GA 2\102). So reicht die beweisende Methode nicht aus, denn die Wirkungen sind dort notwendige Folge, d. h. unabänderlich nach bestimmten Regeln festgelegte Konsequenzen, die sich eben nicht unterschiedlich manifestieren können; sonst wären sie ja nicht ableitbar. Damit entsteht eine Lücke zwischen den Bedingungen und der Folge als (Ein-)Wirkungen auf den Organismus. Die Lücke wird im Denken ausgefüllt durch die Idee des Organismus (Goethe: den Typus), aus der die einzelnen Formen sich als Folge erweisen. Der beson-dere Organismus wird ,in der Form der Allgemeinheit' aufgefasst. Das Besondere wird durch das Allgemeine bestimmt, nicht auf dem Umweg der realen Bedingungen (wo die Bestimmung das ideell hinzukommende Verhältnis der Bedingungen ausmacht), sondern direkt als Grund des inneren Zusammenhangs des Organismus und seiner Art der Reaktion auf die äußeren Einwirkungen (GA 2\102) . Wir müssen zur Erklä-rung einer organischen Erscheinung diese also nicht aus einer Regel beweisen, sondern unmittelbar aus der Idee, aus der allgemeinen Typusgestalt heraus ableiten oder entwi-ckeln (GA 2\105 und 108). Die organische Natur entspricht der entwickelnden Methode. Weil sie jede einzelne Form mit dem Typus vergleicht, spricht Steiner auch von der von Goethe angewendeten vergleichenden Methode (GA 2\114). Diese ist nicht so zu verste-hen, als handle es sich lediglich um die Methode der vergleichenden Anatomie oder Ähnliches. Da beschränkt man sich auf den Vergleich einzelner Organismen unterein-ander, hier aber vergleicht man die einzelne Form mit dem Typus. Goethe hat mit der

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274 KAPITEL VII

Urpflanze und dem Urtier den ideellen Teil des üblichen vergleichenden Verfahrens expliziert.

Der Typus ist „das allgemeine Bild des Organismus", das unser ,vernunftgemäßes Denken` imstande ist, aus den Erscheinungen als allgemeines Bild abzuziehen (GA 2\103) . Es ist daher etwas durchaus Flüssiges, aus dem man die besonderen Arten und Gattungen, die Untertypen, entwickeln kann (GA 2\103). Diese Ableitung ist keine formallogische, wo die Regel als fertig und bestimmt vorausgesetzt wird und in der das Gesetz nur die ideelle Form hinzutut zu den Elementen der unorganischen Natur. Noch ist nicht eindeutig bestimmt, dass unter gewissen Bedingungen eine besondere Erscheinung eintritt. Der Typus regelt die Gesetzmäßigkeit, das innere Verhältnis seiner Teile im einheitlichen Organismus. Daher muss das Denken intensiver Wirken als beim Erfassen eines Naturgesetzes. Dort bringt das Denken die sinnlichen Elemente in ein gesetzmäßiges Verhältnis, in eine begriffliche Form. Die Gestaltung in dem Typus bis zur Ableitung zum speziellen Organismus muss das Denken selber vornehmen und daher „eine Tätigkeit auf sich nehmen, die in der unorganischen Naturwissenschaft die Sinne besorgen" (GA 2\11o). Steiner nennt sie ,Anschauung`: „Auf dieser höheren Stufe muss also der Geist selbst anschauend sein" (GA 2\110). Steiner weist dann auf Goethes anschauende Urteilskraft hin (vgl. §3.5.4). Diese anschauende Urteilskraft nennt er ,Intuition` (wohl nach Kants ,intuitivem Verstand'; vgl. § 4.2.4 und 4.2.5, und nach Volkelts Bestimmung des Denkens als Intuition; vgl. § 5.3.4) . Unterbeleuchtet bleibt auch hier, dass die ,Gestalt` nur ein Moment der Gesetzmäßigkeit des Organischen darstellt (vgl. § 4.3.3)

§ 7.4.3. Reflexive Methode

Die Geisteswissenschaften haben insgesamt eine andere Bedeutung und Aufgabe für uns als die Naturwissenschaften. Diese bringen die der Natur entsprechenden Begriffe erst hervor, die ohne die Wissenschaft nicht da waren (jedenfalls nicht in der Form des Begriffes). Jene haben es in der Kultur, Literatur, der Entwicklung der Wissenschaft usw. unmittelbar mit geistigem Inhalt zu tun, der aber auch ohne die geisteswissenschaftliche Arbeit existiert. Menschen denken schon vor ihrer wissenschaftlichen Betätigung. Der einzelne Mensch braucht die Geisteswissenschaft, um frei seine Stellung zu bestimmen (GA 2\116-118) . Zum Wesen der Natur gehört das vorher erwähnte Auseinanderfallen von Gesetz und wahrnehmbarer Naturtätigkeit. Das Wesen der Freiheit ist dagegen, dass Gesetz und Tätigkeit eins sind; das Wirkende lebt unmittelbar im Bewirkten, und dieses gibt somit sich selber das Gesetz seiner Tätigkeit (GA 2\116-117) . Die Geis-teswisenschaften sind Freiheitswissenschaften. Der Geist (die Idee) wirkt hier immer individuell. Die Geisteswissenschaft hat nicht den Typus,64 sondern das Besondere zum

64 Jene Fortbildungen der Goethe'schen Naturanschauung im historischen Bereich wie bei Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922), die vom Typischen in der Geisteswissenschaft ausgeht, sind aus Steiner'schen Sicht abzulehnen.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 275

Ziel, das als solches das Gesetzgebende ist. Die Methode der Geisteswissenschaft ist in der Psychologie zunächst ,die Selbsterfassung` (GA 2\119). Für Steiner ist das Objekt der Psychologie unmittelbar der Geist selbst, nicht die unbewussten Verhaltungsweisen des Menschen.65 Die psychologische Methode ist „das Vertiefen des Geistes in seiner eigenen Tätigkeit": Selbsterfassung oder Reflexion auf sich selbst (GA 2\199-121). Die Idee wirkt hier nicht als allgemeiner Typus, sondern insofern sie als individueller Menschengeist existiert. Die besondere Form desselben ist eine unmittelbare Ausgestaltung der Idee, nicht wie das Besondere in der Natur ein ihr Gegenüberstehendes ist (GA 2\120-121). Man erfasst dieses Handeln des Geistes nur wieder allgemein und ,lauscht`, wie der Geist allgemein und nicht in dieser oder jener zufälligen Situation handelt (GA 2\120).66

Nicht jede seelische Introspektion ist Psychologie. Hier schließen sich die Soziologie und Staatswissenschaft an, in der damaligen

Gestalt der ,Volkskunde`,67 die zu erforschen hat, „wie sich die Individualität innerhalb der Volksgemeinde darlebt" (GA 2\123). Diese als eine „vernünftige zu begreifen"68, ist die Methode der Volkskunde (GA 2\123) . Hier spricht Steiner auch von der ,Volksidentität` (GA 2\123) . Eine Staatsverfassung eines Volkes (beim Individualstaat) ist keine rein rationale Deduktion, sondern „nichts anderes, als sein individueller Charakter in festbestimmte Gesetzformen gebracht".69

§ 7.4.4. Historische Methode

Zuletzt ist die Geschichte „nichts anderes denn die Entwicklung menschlicher Hand-lungen, Ansichten usw." (GA 2\127). Der Geschichte ist kein Zweck zu unterstellen, und sie kann nicht apriori konstruiert werden.70 Das Besondere (das Individuum) tritt hier voll in sein Recht. Seine Ziele, seinen Beitrag zur Entwicklung gilt es zu erforschen. Die Gesetze der Geschichte entsprechen nicht der Ordnung von Ursache und Wirkung. Ideelles wird durch Ideelles bestimmt. Geschichte treiben ist eine Idealwissenschaft:

65 Psychologie ist grundsätzlich keine Verhaltenswissenschaft, wenn diese prinzipiell abstrahiert von dem im Innern tätigen Geistigen. Steiner verwirft also eine ,Seelenlehre ohne Seele` (Lange, vgl. GA 2\121), in deren Bahnen die Philosophie der Psychologie sich im 2O. Jh. bewegen sollte (Russell, Wittgenstein, Ryle, Quine, Dennett).

66 Nicht die Einzelpersönlichkeit ist maßgebend, sondern „die Persönlichkeit überhaupt" (GA 2\117). 67 Schon in Hegels PHDG 341, 494, 5O6 und ENZ §§548-552, vgl. Wundts bekannte Elemente der Völkerpsy-

chologie (1912). 68 Eine Anspielung auf Hegels Vernünftigkeit des Staates (vgl. u. a. ENZ §537). Das Vernünftige besteht bei

Hegel darin, dass der Staat sich organisiert nach der Natur des Begriffs (Grundlinien der Philosophie des

Rechts [182O], § 272) und zwar in den drei Gewalten von gesetzgebender (Allgemeinheit), regierender (Besonderheit) und fürstlicher Gewalt (Einzelheit; ebd., § 273). Für Steiner ist allerdings nicht die konstitutionelle Monarchie die Vernünftigkeit, sondern eine allgemeinere Dreigliederung des sozialen Organismus, worin Kultur, Politik und Wirtschaft als die drei selbständigen Momente funktionieren und die Macht des Staates dementsprechend weitgehend beschränkt sein soll. Vgl. dazu Hegge (1992).

69 Ebenso Hegel: vgl. ENZ § 54O und Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274. 7o Also hier gegen Hegels Dialektik der besonderen Völkergeister und geschichtlichen Epochen (a. a. O.,

§§352-358, ENZ § 548) und seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.

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276 KAPITEL VII

„Ihre Wirklichkeit sind schon Ideen" (GA 2\127-128) . Man braucht sich diesen nur hin-zugeben; „jedes Hinausgehen über dasselbe ist unhistorisch" (GA 2\128) .71 Also einzig und allein hier ist eine bloß beschreibende Phänomenologie möglich.72

So differenziert sich zuletzt das allgemeine methodische Prinzip, dass der Inhalt der Wissenschaft lediglich Gedankeninhalt ist und die Wahrnehmungsobjekte nur eine besondere Form des Begriffes sind (GA 2\68). Auf den verschiedenen Wissenschaftsge-bieten nimmt die Idee in der Wahrnehmung jeweils eine andere Gestalt an, und zwar die von:

— dem allgemeinen Gesetz in den unorganischen Wissenschaften; — dem Typus in den organischen Wissenschaften; — der tätigen individuellen Persönlichkeit in der Psychologie und der ,vernünftigen

Organisation' in der ,Volkskunde` (u. a. Staatswissenschaft); — deer durch Individuen ausgestalteten Idee in der Geschichte.

Diese Gliederung lässt die Frage nach einer philosophischen Methode jedoch unbe-antwortet. Die Philosophie sollte aufklären über das Verhältnis zwischen den Wis-senschaftsgebieten (Natur und Geschichte) und der Wissenschaft als solcher. Diese beinhaltet zuletzt eine vierfache Beziehung zwischen Idee und Erscheinungswelt. Die philosophische Methode ist deshalb nicht schon im Voraus auf eines dieser Gebiete zu reduzieren. Sie hat ja ihr eigenes Ergebnis: „Auf keinem anderen als auf dem Wege der Erkenntnistheorie kommt man zu der Ansicht, daß das Denken der Kern der Welt ist" (GA 2\80). Der Kreis schließt sich also nicht. Die philosophische Methode wird nur im Vorübergehen erwähnt und nicht wieder selber thematisiert.

Steiner will erstens den „Weg der Erfahrung" gehen im Sinne Goethes (GA 2 \55-56)

und ,beruft` sich daher „auf die Erfahrung jedes einzelnen Lesers" (GA 2\39). Ist sie die ,Selbsterfassung` der Psychologie oder noch in anderem Sinne ,Selbstanschauung`?

Steiner scheut zweitens die Diskussion (namentlich mit Volkelt) nicht, denn „durch nichts wird eine Anschauung besser beleuchtet als durch die Aufdeckung der ihr entge-genstehenden Irrtümer" (GA 2\53), und auch hier spricht Steiner von einer ,Methode` (ebd.). Es handelt sich hauptsächlich um das Aufzeigen des ,Widerspruchs` im Stand-punkt von Volkelt (GA 2\38 und 53) : eine negative Dialektik, ein negativ ,beweisendes

71 Nicht dass es nur eine history of ideas (Lovejoy) geben könne. Es gibt ja auch die historischen Fakten. Die treibenden Kräfte sind nicht jenseits der individuellen Handlungen zu suchen, die zusammen die Geschichte bilden. Menschen machen die Geschichte, indem sie von Ideen ausgehen. Diese Ideen ver-stehen heißt die Geschichte begreifen. Alles andere in den historischen Wissenschaften ist offensichtlich für Steiner nur von untergeordnete Bedeutung.

72 Die Beschreibung von Ideen historischer Individuen und von deren Auswirkungen in der Geschichte ist selbstverständlich kein willkürliches Sammeln ,bloßer` Phänomene. Man sollte ja nur die wesentlichen und bedeutenden Ideen auffinden, ihren Einfluss auf Kultur, Politik und Wirtschaft und ihre Verbände dartun. Vgl. Windelbands Gegensatz von nomothetischer und idiografischer Kulturwissenschaft, und Rickerts Kontrast zwischen generalisierender (Naturwissenschaft) und individualisierender Methode.

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DIE METHODE DER GRUNDLINIEN 277

verfahren'. Ein drittes Element in seiner Methode, die positiv-dialektische Entfaltung des Prinzips der Erfahrung (§ 7.2.8) bleibt ganz unerwähnt.

So haben die Grundlinien (GA 2) in methodischer Hinsicht keine befriedigende Form. Als Steiner diese Schrift zur Promotion an der philosophischen Fakultät Rostock einreichte, erwiderte Heinrich von Stein, dass es einer besonderen Promotionsschrift bedürfe mit „streng wissenschaftlicher Gestalt"73. Darunter verstand von Stein eine ,recht vollständige Auseinandersetzung mit der Literatur` und ,methodische Beweis-führung'. Steiner schrieb dazu eine neue Promotionsschrift,74 die eine „Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst" liefern sollte. Diese hatte in den Grundlinien mit seiner implizit gebliebenen Methodik noch gefehlt.

73 Brief an Steiner vom 15. November 199o, in: Rudolf Steiner Studien, Bd. V, S. 188.

74 Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besnderer Rücksicht auf Fichte's Wissenschaftslehre. Prolego-mena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst. Als GA 3 neu herausgegeben

unter dem späteren Titel Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer „Philosophie der Freiheit" (1832).

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KAPITEL VIII

Die Dissertation: die voraussetzungslose Erkenntnistheorie

§ 8.1. Wissenschaftliche Forderungen an eine Erkenntnistheorie

§8.1.1. Methodische Aufgabe

Im Vergleich zu GA 2 fügt Steiners Dissertation, Wahrheit und Wissenschaft (GA 3),

inhaltlich Neues zur philosophischen Methode hinzu. Steiner schreibt in der Einlei-tung zu GA 3, dass die vorliegende Untersuchung sich methodisch wesentlich von den

Grundlinien (GA 2) unterscheide. Es fehlte in diesem letzteren Werk das Zurückge-hen auf die letzten Elemente der Erkenntnis (GA 3/16). Die Methode ist also primär nicht verschieden von der in GA 2 wegen des Zurückgehens auf die ersten Elemente. In

Grundlinien war die Methode nur ganz nebenbei erwähnt, und es handelte sich um eine systematische Analyse der vorausgesetzten Erkenntnis in der Form der Goethe'schen Naturwissenschaft, ergänzt durch eine an Fichte orientierte Auffassung der Geisteswis-senschaften. Der Promotor Heinrich von Stein hielt die Grundlinien möglicherweise deshalb für den Anforderungen einer Dissertation nicht angemessen und verlangte von Steiner eine streng wissenschaftliche Gestalt mit vollständiger Auseinandersetzung mit der Literatur des betreffenden Gegenstandes und methodischer Beweisführung. Auch sollte Steiner seinen Dissensus mit Kant strenger erörtern.1 Die erwähnte Versicherung Steiners einer neuen Methodik könnte also dieser Forderung Rechnung getragen haben. Ihr folgt direkt ein ausführliches Literaturverzeichnis (GA 3\16-21), das bezeugen sollte, dass Steiner sich in der damaligen philosophischen Literatur auskannte (es enthält die wichtigsten damaligen deutschen Titel über Erkenntnistheorie oder jedenfalls eine repräsentative Auswahl derselben).

Welcher Methode nun im Besonderen zu folgen sein würde, war nicht von vorn-herein ausgemacht, da es einen festgelegten Kanon, damals wie heute, nicht gab. Eine rein dialektische konnte es aber nach dem philosophischen Klima wohl nicht sein. Das Interesse an Hegel war seit dessen Tod nie so gering gewesen wie in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts.2 Die dialektische Struktur der Grundlinien zu

1 Brief an Steiner vom 15. November 189O, in: Rudolf Steiner Studien, Bd. V, S. 188.

2 C. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen

Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 381-383 und 4O1-4O3.

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280 KAPITEL VIII

betonen, kam deshalb nicht in Betracht. Diese blieb daher implizit, während Steiner sich andererseits auseinander setzen sollte mit dem Neukantianismus als letzter Gestalt der damaligen „wissenschaftlichen Philosophie" (Liebmann, Cohen, Riehl, Paulsen, Volkelt, Windelband). Auch der Positivismus hatte einiges Ansehen erworben (Helm-holtz, Avenarius, Mach), und es gab empiristische Stimmen, wie jene Brentanos, doch um 1890 machte sich vor allem der Neukantianismus breit. Heinrich von Stein sagte Steiner über das Resultat: „Ihre Dissertation ist nicht so, wie man sie fordert; man sieht ihr an, daß Sie sie nicht unter der Anleitung eines Professors gemacht haben; aber was sie enthält, macht möglich, daß ich sie sehr gerne annehme."3 Kritischer war eine Rezension von Erich Adickes in der Deutschen Litteraturzeitung.4 Nach Adickes ist Stei-ners Grundprinzip „dem alten, abgelebten vorkantischen Rationalismus entlehnt". Es wird sich schon herausstellen, dass Adickes Steiner hier jedoch nicht gerecht wird, weil er die methodische Struktur der Dissertation übersieht, jedenfalls nicht darauf eingeht. Steiner nimmt nicht ohne weiteres den Idealismus Hegels und Schellings an, weniger noch den Rationalismus eines Leibniz oder Wolff. Es wird in unserer Analyse erfor-derlich sein, mehr noch als bei der Behandlung von Grundlinien und Philosophie der Freiheit (die mehr für sich stehen) Steiners philosophische Umwelt einzubeziehen und die Dissertation zu situieren in der damaligen nach- und neukantischen Entwicklung.5

§ 8.1.2. Volkelt als methodisches Vorbild

In der Vorrede zur Neuauflage der Grundlinien von 1924 beschreibt Steiner, wie ihn damals namentlich die „gedankenvollen Bücher Johannes Volkelts" beschäftigten, wie auch Eduard von Hartmanns Philosophie, dessen erkenntnistheoretischen Standpunkt er bei Volkelt besser und ausführlicher dargestellt fand (GA 2/7-8). Der heute kaum noch bekannte Volkelt galt damals als hervorragender Erkenntnistheoretiker.6 Sein Werk Erfahrung und Denken' wurde besonders geschätzt.8 Eduard von Hartman hielt Volkelts Immanuel Kants Erkenntnistheorie (1879) für nichts weniger als den Abschluss

3 A. a. O., S.187. 4 A. a. O., S. 227-228. 5 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Das Literaturverzeichnis der Dissertation enthält schon über hun-

dert Titel. Wir glauben uns dabei auf die für Steiner bedeutendsten Autoren beschränken zu können: von den Klassikern abgesehen Volkelt und E. von Hartmann, und um ein Bild der inhärenten Ent-wicklungstendenzen im Neukantianismus zu vermitteln: Cohen, Natorp, Rickert und Lask. Brentano (obgleich Steiner ihn um 189O bereits gelesen hat) spielt keine Rolle (fehlt sogar im Literaturverzeich-nis). Wir werden aber einiges aus Husserls Logischen Untersuchungen und Ideen anführen, insofern dies anschließt an Volkelts erkenntnistheoretische Analysen, und aus Heideggers Kant-Interpretation, und wir werden damit zeigen, in welche Richtung die Thematik sich entwickelte.

6 Er hatte damals eine Professur für Philosophie an der Universität Basel inne, später in Leipzig. 7 Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie, Hamburg und Leipzig 1886. 8 So spricht Heinrich Rickert in Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in der Transzendentalphilo-

sophie (1892, III. Auflage Tübingen 1915, S. 357-358) von „einer der umfassendsten und eingehendsten Darstellungen des Transzendenzproblems [ ... ] aus der neuesten Zeit."

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 281

der neuesten Kant-Interpretation. Volkelt lieferte seine an Kant sich orientierende Erkenntnistheorie in Erfahrung und Denken. Auch dieses Buch wurde von Hartmann gepriesen: „Wie ich [ ... ] Volkelt's Buch über Kant's Erkenntnistheorie als das beste Werk seiner Art und als einen vorläufigen Abschluss der Kant-Literatur empfehlen konnte, so auch hier die systematische Grundlegung der Erkenntnistheorie desselben Verfassers als die beste Arbeit, welche bisher auf diesem Gebiete vorliegt."9 Da andererseits Steiner Hartmanns Philosophie als die „bedeutendste philosophische Erscheinung der Gegenwart" (GA 1\229) anerkannte, ist es wohl kein Wunder, dass Steiner, um dem Stand der Forschung gemäß vorzugehen, sich hauptsächlich an Volkelt orientierte. Wir halten es für wahrscheinlich, dass Steiner Volkelts Erfahrung und Denken benutzt hat als Vorbild einer strengen philosophischen Methodik, der er nachfolgen konnte. Er gesteht in der Einleitung seiner Dissertation „daß ohne die grundlegenden Vorarbeiten Volkelts («Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie») mit ihren gründlichen Untersuchungen über den Erfahrungsbegriff die präzise Fassung des Begriffs des «Gegebenen», wie wir sie versuchen, sehr erschwert worden wäre" (GA 3\15). Diese Art der Anerkennung der Analyse Volkelts gibt in wenigen Worten schon die Richtung an, in der Volkelt Steiner förderlich sein konnte. Es wird vor allem der Erfahrungsbegriff sein, den Steiner übernimmt: „Will man nach dem Vorgange Volkelts u. a. diese gegebene Welt die Erfahrung nennen" (GA 3\81).I0 Wir werden nun kurz den Aufbau und die Struktur der Erkenntnistheorie Volkelts betrachten, die zu derjenigen Steiners mehrere Parallelen aufweist. Uns interessiert freilich dabei mehr die Methode Volkelts als seine Ausführungen und seine Resultate.

§ 8.1.3. Volkelt über Erfahrung und Denken

Den Anfang macht Volkelt damit, dass er verlangt, dass die Erkenntnistheorie vor-aussetzungslos sei. Wurde zwar schon allgemein dem Grundsatz gehuldigt, dass die Erkenntnistheorie keine Voraussetzungen der Metaphysik annehmen solle, „die For-derung der Voraussetzungslosigkeit ist", nach Volkelt, „nur äußerst selten vollständig erfüllt".11 Da kein Wissen vor Zweifel geschützt erscheint, weil das Erkennen eine subjektive Angelegenheit ist, wird es die Aufgabe der Erkenntnistheorie sein, unsere Erkenntnis zu hinterfragen nach dem Absolut-Selbstverständlichen, das ihr zugrunde liegt und die Objektivität unserer Erkenntnis verbürgt.12 Es können keine wissenschaft-lichen Ergebnisse (etwa der Psychologie) in der Erkenntnistheorie als Voraussetzung

9 In: Kritische Wanderungen durch die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 189o, S. 182. Übrigens ästimierte Volkelt seinerseits Hartmanns Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus (die 2. Auflage von Das Ding an sich und seine Beschaffenheit, Berlin 1875). Vgl. Volkelt, a. a. O., S. sm.

so In Abweichung vom Wortgebrauch Kants. Siehe unten, Anmerkung 63. 11 Erfahrung und Denken, 1886, S. 42. Als Ausnahme wird genannt J.J. Baumann mit seiner Philosophie als

Orientierung über die Welt (Leipzig 1872). Diese Schrift findet sich auch in der Bibliografie zu Steiners Dissertation (GA 3\16).

12 A. a. O., S. 3-16.

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282 KAPITEL VIII

dienen. Eine solche Voraussetzung würde eine dogmatische Erkenntnistheorie nach sich ziehen, in der auf eine höhere Instanz verwiesen wird, statt dem Erkennen „unmit-telbar ins Gesicht zu sehen"13. Freilich sind manche faktischen und psychologischen Voraussetzungen hinzunehmen, denn man muss schon einen ganzen Bildungsgang hinter sich haben, um das Erkenntnisproblem aufgreifen zu können, und nicht zuletzt auch ein Wissen über wissenschaftliche Erkenntnis selber besitzen. Verboten sind als Voraussetzungen lediglich diejenigen Sätze, derer die Erkenntnistheorie zu ihrer Gel-tung bedarf, die ihre Prämissen darstellen. Als ungeprüfte Voraussetzungen betrachtet Volkelt nicht die Sätze, i. dass jedes Erkennen „ein durch und durch subjektiver Akt" sei, und 2. dass in jedem Erkenntnisakt die objektive Geltung seiner Inhaltes vorge-stellt werde.14 Gerade aus diesen Selbstverständlichkeiten ergibt sich die Notwendigkeit einer Erkenntnistheorie. Die realen, zu erkennenden Gegenstände sind jenseits unseres Bewusstseins. Wenn das Erkennen der Gegenstände mit deren Erzeugung durch die Erkenntnis identisch wäre, wenn unser ideelles Erkenntnisobjekt mit der realen Exis-tenz zusammenfiele oder wenn die Wahrheit unbezweifelbar „durch Flammen und Sternenschrift unserem Bewußtsein verkündet" wäre, gäbe es nicht die Ungewissheit unserer Erkenntnis, die die Frage nach der Begründung der Wissenschaft aufkommen lässt. 15

Methodisch löst Volkelt die Aufgabe der Voraussetzungslosigkeit in der Erkennt-nistheorie dadurch, dass ihre Sätze nur das Aufweisen von Selbstverständlichkeiten im Bewusstsein beinhalten:16 „Der einfachste Blick auf mein eigenes Bewußtsein lehrt mich, daß ich ein Wissen von meinen eigenen Bewußtseinsvorgängen besitze."" Es wird dies gefunden durch eine künstliche Veranstaltung, aber es tut sich zugleich kund als ein voraussetzungsloses, absolut unbezweifelbares Wissen, das zur voraussetzungs-losen Prüfung der Möglichkeit des Erkennens dienen kann.'$ Die subjektiven Motive des Nachweisens bestimmter Bewusstseinsinhalte beeinträchtigen nicht die Gewissheit, mit der wir die sich unmittelbar darbietende Beschaffenheit des Bewusstseins aufzeigen können.19

Die leitenden Gesichtspunkte der weiteren Erkenntnistheorie, die Ziel und Weg bestimmen, sind nicht so evident. Es sind Annahmen und Forderungen (Postulate), die darauf abzielen zu fragen, ob durch das Aufzeigen gewisser Bewusstseinstatsachen auch das objektive Erkennen sich rechtfertigen lasse. Die weitere Methode ist also auch kein Beweisen, sondern ein empirisches Aufzeigen, und zwar nicht das Aufzei-gen eines Verborgenen, sondern eines schon im Bewusstsein Vorhandenen, das jetzt ins klare Bewusstsein gerückt wird. Die Erkenntnistheorie durchforscht das vorhan-

13 A. a. O., S. 14 A. a. O., S. 4. 15 A. a. O., S. 17.

16 A. a. O., S. 13 und 28. 17 Ebd.

18 A. a. O., S. 29. 19 A. a. O., S. 32.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 283

dene Bewusstsein bei der Suche nach der Evidenz des Objektiven.20 Hat sie die letzten Erkenntnisprinzipien21 gefunden, so hat der Erkenntnistheoretiker weiter zuzusehen bei der Anwendung dieser Prinzipien im Aufbau jeglicher Erkenntnisakte. Das Bewusst-sein hat sich im weiteren Aufzeigen von Bewusstseinstatsachen selber zu betätigen und sich dabei aufmerksam zuzusehen. Die Methode des Aufzeigens geht daher in die „Methode der denkenden Selbstbetätigung des Bewußtseins" über.22 Zuletzt wird es darum gehen, anhand der aufgewiesenen Bewusstseinstatsachen zu prüfen, ob und inwiefern die gestellten Forderungen nach objektiver Erkenntnis auch wirklich im subjektiven Bewusstsein erfüllt sind (d. h. aufgewiesen werden können).

Erstens untersucht Volkelt mit dieser Methode das unmittelbare Wissen von den eigenen Bewusstseinsvorgängen. Dieses Wissen hat den Charakter absoluter Selbst-verständlichkeit. Die Gewissheit dieses Wissens ergibt sich „ohne weiteres und von vornherein"23. Wir sind damit „auf die nicht weiter ableitbare Quelle des subjekti-ven und absolut selbstverständlichen Wissens gestoßen"24. Diese „Selbstgewißheit des Bewußtseins" ist nicht an anderem zu messen, sondern „an sich selbst Kriterium der Wahrheit"25. Volkelt fragt sich, ob es noch anderes gleichartiges sicheres Wissen gebe.

2O A. a. O., S. 38-39. 21 A. a. O., S. 18. 22 A. a. O., S. 4o-41. 23 A. a. O., S. 54-55. 24 Ebd. 25 A. a. O., S. 58. Einen ähnlichen Standpunkt wird Husserl später in den Lu einnehmen und ihm damit

allgemeine Bekanntheit geben: Lu II\1, § 7. Er setzt das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit dem Prinzip einer Phänomenologie der Erkenntnis gleich, die bestehen soll in einer reinen Wesensintuition der unmittelbaren erkennenden Erlebnisse, in einem Aufklären der Erkenntnis statt einem theoretischen ,Erklären`. Die dem unmittelbaren Erlebnis transzendenten Gegenstände (als Objekte der Metaphysik) sind dabei auszuklammern. Das Aufweisen von Volkelt wird hier methodisch um das Prinzip der Wesensintuition erweitert (,eidetische Reduktion'). Das Aufweisen bei Volkelt ist im Vergleich dazu noch relativ naiv. Vgl. die Kritik Rickerts an Volkelt, hierunter Anmerkung 62. Auch eröffnet Brentanos Begriff der ,Intentionalitat des Bewusstseins' einen neuen Zugriff beim Aufweisen von Bewusstseinser-lebnissen. Husserl erwähnt Volkelts Erfahrung und Denken nur ganz nebenbei in einer Anmerkung, wo es ihm um das Detail der ,Bekanntheitsqualität` von Zeichen geht (Lu II\1, S. 74, Anm. 3). Es setzt dennoch ein eingehendes Studiums dieses Werkes voraus. Husserl ist überhaupt zurückhaltend mit Literaturverweisen in den Lu. Doch erscheint es uns wahrscheinlicher, dass Husserls Zwischenbemer-kung „wie man schon oft betont" in Beziehung auf die Forderung der Voraussetzungslosigkeit (Lu II \1, S. 19) hinweist auf die bekannte gründliche philosophische Behandlung dieses Themas in Erfah-rung und Denken (S. 3-5O) als auf die Geläufigkeit dieses Prinzips wegen der universitätspolitischen Kontroversen; vgl. Spiegelberg (1994), S. 83. Andererseits hat Volkelt explizit Bezug genommen auf Husserls phänomenologisches Prinzip und dieses seiner erkenntnistheoretischen Voraussetzungslosig-keit gleichgesetzt (vgl. Gewißheit und Wahrheit. Untersuchung der Geltungsfragen als Grundlegung der Erkenntnistheorie,1918, 2. Aufl. München 193o, S. 26-27). Eine offensichtliche Übereinstimmung beider Prinzipien der Voraussetzungslosigkeit behauptet auch T. Neumann in Gewißheit und Skepsis. Unter-suchungen zur Philosophie Johannes Volkelts, Amsterdam 1978, S. 28, Anm. 71. Indessen geht das Wort ,Voraussetzunglosigkeit` ironisch genug zurück auf ENZ § 78, während die Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie gerade polemisch gegen Hegel ausgespielt wurde; vgl. Köhnke (1968), S. 5o-51.

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284 KAPITEL VIII

Ein Transsubjektives und Objektives tut sich nicht mit gleicher Gewissheit im Bewusstsein kund. Eine selbstverständliche Einsicht ist aber, dass ich die Grenzen mei-nes Bewusstseins, meines Ich, nicht überspringen kann: Ich komme deshalb nie an die Dinge als solche heran, sonst hätte ich mich in das Transsubjektive zu verwandeln.26

Es gibt deshalb „für die Philosophie keinen prinzipielleren Gegensatz als den zwischen den eigenen Bewußtseinsvorgängen und dem Transsubjektiven".27 Da es also „wider-sinnig" ist, dass wir etwas außerhalb unseres Bewusstseins ,erfahren` (,unmittelbar, scheidewandlos innewerden'), können wir das erste Erkenntnisprinzip bestimmen als die ,reine Erfahrung': „Das Erkenntnisprinzip des Wissens von den eigenen Bewußt-seinsvorgängen ist einerlei mit dem Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung."28

Jetzt gilt es zu sehen, ob sich in der Erfahrung ein Objektives, das logische und sachliche Notwendigkeit verlangt, aufweisen lässt. Das Erfahren besteht bei genauerem Hinsehen nur „aus Successionen und Koexistenzen von Einzelnem, damit ist das in der Erfahrung Enthaltene in erschöpfender Weise bezeichnet"29. Es enthält zwar Wieder-holungen, aber ohne Spur von sachlicher Notwendigkeit. Diese ist für die Erfahrung ein Transsubjektives. Die Erfahrung als solche ist diskontinuierlich, kausalitäts- und regellos.30 Wenn objektive Erkenntnis nicht unmöglich oder beschränkt sein soll auf die Beschreibung und Aufzählung unserer Bewusstseinszustände, muss es noch ein anderes, zweites Erkenntnisprinzip geben.

Volkelt postuliert dabei ein transsubjektives Minimum, d. h. die Grenze des Objek-tiven (logischer und sachlicher Notwendigkeit) nach unten.31 Mit jedem objektiven Urteil wird ein transsubjektiver Gegenstand gemeint. Ein solches Urteil beansprucht Allgemeingültigkeit und Seinsgültigkeit.32 Mit beidem ist zugleich eine außerhalb des Bewusstseins für sich bestehende, unveränderliche Gesetzmäßigkeit gemeint, die allen anderen Subjekten, wie dem urteilenden Ich, zu erkennen aufgegeben ist („transsubjek-tiv” und „intersubjektiv"33).34 Diese Verknüpfung der logischen und sachlichen Not-wendigkeit ist nichts anderes, als was man Denken nennt.35 Neben dem Erkenntnisprin-zip der Erfahrung steht also das Prinzip des Denkens oder der Denknotwendigkeit.36

26 A. a. O., S. 59. 27 A. a. O., S. io3. 28 A. a. O., S. 64-65. 29 A. a. O., S. 78. 3o A. a. O., S. 83-1O3. 31 A. a. O., S. 143. 32 Ein Gedanke, den Rickert in Der Gegenstand der Erkenntnis zum Ausgangspunkt seiner Transzenden-

talphilosophie machen wird. Das objektivierende Urteil hat deswegen Geltung. Es wird herauszustellen sein, in welchem Sinne diese Geltung ,transsubjektiv` ist. Da scheiden sich Volkelts und Rickerts Wege. Vgl. unten Anm. 62.

33 A. a. O., S. 42. 34 A. a. O., S. 144-145 und 156-157. 35 A. a. O., S. 163. 36 A. a. O., S. 167.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 285

Die Eigentümlichkeit dieses Prinzips, das als Bewusstseinstatsache nachgewiesen werden kann, ist seine Unableitbarkeit aus der Erfahrung. Wir müssen uns energisch zum Denken entschließen und können seines Inhalts nicht auf andere Weise inne-werden. Das Denken hat nun die subjektive Überzeugung in sich, dass in ihm „eine transsubjektive Stimme spricht".37 Wir geben uns beim Denken einem sachlichen, überpersönlichen ,Zwange hin. Solange wir diesem Zwange gehorchen, haben wir das Gefühl, dass das Denken uns die objektive Wahrheit vermittelt. Das ist aber nur ein unwiderstehlicher Glaube. Die Analyse zeigt, dass die Erfahrung dafür nicht die Grundlage abgibt. Der Glaube tritt jedoch mit unmittelbarer Gewissheit auf: „Das Denken kann sich also nicht in verstandesklarer Weise rechtfertigen, es beruht schließ-lich auf einer Innenerfahrung intuitiver Art."38 Die Gewissheit darf man daher als eine „intuitive Gewißheit bezeichnen. So ruht die klare, diskursive vermittelnde Tätigkeit des Denkens schließlich auf einem mystischen Glaubensgrunde"39. Dieser Glaube wird

nie zur erkannten Gewissheit, da das Denken im Grunde genommen nur eine nicht in der Erfahrung erfüllbare Forderung nach Objektivität, nach Ordnung und Einheit,

beinhaltet.40 Das Denken bildet den Stoff der Erfahrung zwar nach eigenen Formen und

Prinzipien (,Kategorien`) .41 Als solche sind die Kategorien subjektive Formen. Dass sie zugleich eine transsubjektive Forderung erheben, macht die dualistische Beschaffenheit des Denkens aus.42 Die Forderung nach transsubjektiver Objektivität ist erfahrungsge-mäß prinzipiell nicht zu erfüllen.

Die beiden Grundfunktionen des Denkens sind, nach Volkelt, Begriff und Urteil. Der Begriff ist der logische Elementarfaktor, der Gemeinsames in der Erfahrung fixiert. Der allgemeine Begriff ist aber schon ein unvollziehbares Ideal. Die Urteile, die Vol-kelt einteilt in ,Wahrnehmung-` oder ,Anschauungsurteile (Subjekt ist Einzelnes aus der Erfahrung) und ,Begriffsurteile (Subjekt ist schon ein Allgemeines),43 haben als Verknüpfung von Vorstellungen den Zweck, die eigentliche transsubjektive Erkenntnis hervorzubringen. Das gemeinte Transsubjektive in der Erfahrung bleibt dabei freilich immer gebunden an den umgeformten Erfahrungsstoff. Wenn das Denken die Erfah-rung überschreitet und von der Erscheinung der Dinge zu ihrem Wesen vordringen will, verstrickt es sich in den Antinomien der Metaphysik.44 Kantisch gehalten ist auch die einzige metaphysische Konsequenz der Erkenntnistheorie, an die Volkelt sich den-noch wagt, dass nämlich Denken (Subjekt) und Wirklichkeit (erkannter Gegenstand)

37 A. a. O., S. 182. 38 A. a. O., S. 183. 39 A. a. O., S. 184. 4O A. a. O., S. 188, 19O und 224.

41 A. a. O., S. 252-253. 42 A. a. O., S. 284-285. 43 A. a. O., S. 299-3Oo und 32O-321. Diesen Unterschied hat Steiner übernommen u. a. in GA 2. Vgl. oben

§ 7.3.6. 44 A. a. O., S. 428.

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286 KAPITEL VIII

„irgendwie in dem Urquell des Seienden zusammengehen",45 welches Zusammengehen mit Kant ebenfalls teleologisch aufzufassen sei.46 Weil „das subjektive Denkapparat" notwendigerweise in subjektiven Formen aufgrund des subjektiven Erfahrungsstoffes dem Transsubjektiven beizukommen sucht, ist seinem Streben die Ungewissheit eigen-tümlich.47 So endet Volkelts Erkenntnistheorie, die sich auch eine „Gewißheitslehre" nennt,48 mit der Einsicht in die Ungewissheit, die allem menschlichen Erkennen anhaf-tet, sobald es von der unmittelbaren Erfahrung durchstoßen will zur Seinswelt. Die Forderung nach objektiver Erkenntnis ist letztlich nicht erfüllbar.

Steiner wird an diese Analyse anknüpfen und sie kritisieren und so auch indirekt seinen Dissensus zu Kant darstellen. Von Volkelt wird er einiges übernehmen, d. h., er wird mit ihm übereinstimmen in Bezug auf:

1. die Forderung einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie; 2. die Methode des Aufweisens von Tatsachen im Bewusstsein; 3. die Zerlegung der Erkenntnis in die zwei Grundelemente ,Erfahrung` (,Bewusstsein

eines Unmittelbaren') und ,Denken`; 4. die methodische Einführung eines Postulats, dessen Erfüllung im Bewusstsein es

nachzuweisen gilt.49

Freilich werden der erste und letzte Punkt bei Steiner zu einem Resultat führen, das demjenigen Volkelts gerade entgegengesetzt ist, denn Steiner will mit diesen Mitteln den Subjektivismus von Volkelt überwinden.

§8.2. Voraussetzungslosigkeit

§ 8.2.1. Reale und theoretische Voraussetzungen

Eine kritische Erkenntnistheorie hat jedenfalls, wie jede Theorie, reale Vorausetzungen, weil sie ein Erkennen sein soll. Steiner unterscheidet allerdings die theoretische Priorität von der realen. „Nicht vom Bewußtsein aus wollen wir das Erkennen bestimmen, sondern umgekehrt: vom Erkennen aus das Bewußtsein" (GA 3\51). Das heißt aber nicht, das Erkennen gehe dem Bewusstsein realiter voran, wie er in GA 4 formuliert: „Wenn der Philosoph das Bewußtsein begreifen will, dann bedient er sich des Denkens; er setzt

45 A. a. O., S. 21O.

46 Ebd. 47 A. a. O., S. 293. 48 A. a. O., S.17. 49 Steiner setzt sich im zweiten Teil der Disseration mit Fichtes L auseinander. Nun gibt es auch dort

die Methode des Postulierens und Aufweisens der Tatsachen im Bewusstsein. Steiner wird sogar von einem „Machtspruch" reden (GA 3\54). Vgl. Fichtes „absoluten Machtspruch der Vernunft" (L 65). Das Vorbild ist angesichts des Zusammenhanges doch eher Volkelt als Fichte. Zum ,Postulat` vgl. ferner schon KDRV B 285-287.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 287

es insoferne voraus; im gewöhnlichen Verlaufe des Lebens aber entsteht das Denken innerhalb des Bewußtseins und setzt also dieses voraus" (GA 4\52).50 Vorausgesetzt ist auch die Möglichkeit des Erkennens überhaupt zum Preis des Widerspruchs; Hegel: „Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen"

(ENz § 10) .51 Volkelt stimmt Lotze zu, dass man hier den Zirkel ,reinlich` begehen müsse.52 Volkelt zieht daraus den Schluss, dass objektiv-transzendentes Erkennen nicht vorausgesetzt werden dürfe und man sich beschränken müsse auf das mit unmittelbarer Gewissheit in unserem subjektiven Bewusstsein Vorgefundene. Die Entlarvung dieser theoretischen Voraussetzung in diesem Anfang ist Steiners erstes Anliegen. Er weist im III. Kapitel nach, dass hierin schon eine nicht aufgeklärte Voraussetzung steckt über Transzendenz und Immanenz. Dies liefert ihm das erste Resultat: den Neuanfang ohne diese Voraussetzung. Wie ,rein` begeht Steiner den erkenntnistheoretischen Zirkel?

In Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit Kant soll, der Aufgabe nach, die Dissertation jetzt eine kritische Arbeit sein. Der Begriff des Naiven und Kritischen kennzeichnet schon den methodischen Standpunkt Steiners, sowohl in der Disserta-tion wie später in der Philosophie der Freiheit (GA 4). In einer ,präziseren Fassung`

des Begriffes ,Naivität` als z. B. A. Döring in Über den Begriff des naiven Realismus

ihn formulierte,53 unterscheidet Steiner die „Tätigkeit selbst und das Wissen um deren Gesetzmäßigkeit. Wir können in der ersten vollständig aufgehen, ohne nach der letzte-ren zu fragen." Dies wäre das naive Verhalten. Es gibt eine Art von Selbstbeobachtung, die nach der Gesetzlichkeit des eigenen Tuns fragt und für die soeben geschilderte Naivität ein Bewusstsein des Erkennens eintauscht. „Diese wollen wir kritisch nennen"

(GA 3\44). Gerade die Erkenntnistheorie muss eine solche kritische Wissenschaft sein.54

Alle Naivität soll von ihr ausgeschlossen sein. Anders Goethe mit seiner (angeblichen) Abneigung gegen die philosophische Selbstreflexion und seinem Ausspruch, er habe es „klug gemacht", weil er „nie über das Denken gedacht" (GA 3\44) . Goethe spielt übrigens in der Dissertation keine Rolle mehr („Mit dieser Schrift hoffe ich aber gezeigt zu haben, daß mein Gedankengebäude eine in sich selbst begründete Ganzheit ist, die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht", GA 3\13) . Die Dissertation liefert nicht mehr eine philosophische Rechtfertigung der Goethe'schen Weltanschauung, sondern eine Deutung und philosophische Rechtfertigung der Wis-senschaft überhaupt. Die Analyse selber kann somit auch nicht mehr naiv sein, wie das gewissermaßen noch der Fall war mit der darstellenden Vorgehensweise in den

5o Steiner war dieser Punkt auch aus Volkelts Auseinandersetzung mit W. Schuppe hierüber vertraut: vgl. Schuppes Zur ,voraussetzungslose Erkenntnistheorie', in: Philosophische Mnatshefte, Bd. XVIII, 1882,

S. 375-386, und Volkelts Erwiderung in Erfahrung und Denken (1886), S. 13. 51 Vgl. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis (1915), S. 7-8. 52 Erfahrung und Denken (1886), S. 24-29.

53 Philosophische Mnatshefte, 189O Bd. XxVI, S. 385-399. 54 Vgl. Kants drei Kritiken. Dessen Begriff von ,kritisch` ist die Untersuchung des Organs des Erkennens

statt eines dogmatischen Gebrauchs desselben ohne diese vorangehende Analyse. KDRV B XXXV-XXXVII.

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288 KAPITEL VIII

Grundlinien.55 Die kritische Haltung bezieht sich bei Steiner nicht primär auf Argu-mente, sondern sie besteht in einer Art ,Selbstbeobachtung`. Insofern hat diese be-stimmt noch die Konnotationen von Fichtes ,Selbstbeobachtung` in dessen Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre,56 von Hegels ,reinem Zusehen' der dialektischen Bewegung des Wissens (PHDG, Einleitung\72) oder Schellings ,Selbst-anschauung` (vgl. §7.2). Nicht gemeint ist offensichtlich eine passive Empirie von Bewusstseinstatsachen, sondern ein aktives Sich-Versetzen in die erkennende Tätig-keit des denkenden Bewusstseins, um in der direkten Reflexion ihre Gesetzmäßigkei-ten festzustellen (wie auch Volkelt angenommen hatte). Nicht völlig klar jedoch ist zunächst die Methode dieser Selbstbeobachtung. Steiner geht mit Kant darin einig, dass für uns neue Erkenntnisse in synthetischen Urteilen erfasst werden (GA 3\27).

Urteile a priori erkennt er nicht an (GA 3\63). Wenn er also die neue Vorgehensweise dadurch kennzeichnet, dass zur didaktischen Verständigung die Erkenntnistheorie zum Anfang „in rein selbstverständlichen analytischen Sätzen" verläuft (GA 3\32), muss er notwendig Bekanntes voraussetzen, das uns in analytischer Form selbstverständlich erscheinen wird. Steiner hält die Voraussetzungslosigkeit für gewährleistet, wenn die Erkenntnistheorie ihren Anfang nimmt beim Anfang aller Erkenntnis, da hier noch keine besonderen Erkenntnisse vorausgesetzt sind und die Erkenntnistheorie belas-ten könnten (GA 3\45) . Es darf zwar als analytisches Urteil angesehen werden, dass vor dem Erkennen es noch keine Erkenntnisse gibt. Aber wenn wir im Erkennen den Punkt aufsuchen sollen, wo alles Erkennen anfängt, kann dies nur ein konkre-ter sein, und dann wird auch schon ein konkreter Erkenntnisbegriff vorausgesetzt. Dies wird abermals klar, wenn Steiner versichert, die Vorstellungen von einem ,Ich` oder ,persönlichen Subjekt` seien nur zweckmäßige stilistische Wendungen, bevor sie erkenntnistheoretisch legitimiert seien. Wenn ,Selbstbeobachtung` die Methode sein soll, muss es aber doch ein reales Selbst geben, das sich im Erkennen selbst zusieht.57 Wäre das ,Ich` nur eine grammatische Fiktion,58 dann gäbe es weder das Tun, noch

55 Die Neufassung der Erkenntnistheorie hat als Ausgangspunkt nicht nur den Begriff der Erfahrung wie in GA 2, sondern auch das kritische Bewusstsein, dass die Analyse nicht ohne weiteres mit einer unmittelbaren ,Erfahrung` oder Beschreibung der Erkenntnis anfangen kann. Das Prinzip der Erfahrung hat bereits impliziert, dass man in der Erfahrung (Beobachtung) nicht nach Maßstab des Vorgefassten vorgeht, sondern nur das unmittelbar Erfahrene hinnimmt und nicht irgendeine Meinung, oder versteckte Annahmen, hinzuträgt.

56 Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/1798), S. 5 ff., von dem Steiner in GA 3\75 den ersten Paragrafen der ersten Einleitung zitiert („Merke auf dich selbst", a. a. O., S. 5; es ist dies kein äußerliches Verfahren bei Fichte, denn „die Intelligenz als solche sieht sich selbst zu", a. a. O., S. 18). Steiner bezeichnet diesen Vorgang als den zweiten Weg Fichtes (GA 3\72).

57 Wie für den Idealimus von Fichte, Schelling und Hegel nicht bezweifelbar ist. Steiners frühes Studium dieser Philosophen brachte ihn zur Anerkennung des selbsttätigen Ich, an dem ,nicht zu rütteln war' (vgl. §3.2.2).

58 Diese Meinung war damals durchaus weit verbreitet, sodass Steiners Ausgangspunkt alles weniger als selbstverständlich war. Herbart und Mach hielten das ,Ich` für ein bloßes Aggregat, wie Hume es charakterisiert hatte (weil ihm die Selbstbeobachtung das Ich nicht hergab). Dem schließt sich auch Volkelt an in Erfahrung und Denken, S. 86 („Meine Erfahrung zeigt nirgends in meinem Bewußtsein

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 289

die Beobachtung desselben. Dessen Realität wird jedoch mit dem ersten Schritt der Gewinnung des Begriffes des rein Unmittelbaren als auch mit dem zweiten Schritt des erkenntnistheoretischen Postulats praktisch und theoretisch angenommen.

§ 8.2.2. Die Voraussetzungen Kants und der Neukantianer

Das zweite und dritte Kapitel sind aufzufassen als eine Erweiterung des dritten Kapitels im ersten Abschnitt von Volkelts Erfahrung und Denken: Die üblichen Voraussetzungen in den Erkenntnistheorien der Gegenwart. Im zweiten Kapitel gibt Steiner eine kurze Skizze von Kants Argument in der Kritik der reinen Vernunft, die wir hier übergehen können. Seine Darstellung läuft darauf hinaus, dass Kant zwei Voraussetzungen macht, die er nicht begründet: 1. dass neben der Erfahrung, dem Wissen a posteriori, wir noch ein Wissen a priori besitzen, 2. dass die Erfahrungserkenntnis a posteriori nur bedingte Gültigkeit (keine Notwendigkeit) hat. Kant setzt also die Apriorität der Mathematik und reinen Naturwissenschaften voraus und spricht der Erkenntnis a posteriori die Notwen-digkeit ihrer Urteile ab, gemäß der Hume'schen Analyse der empirischen Induktion. Steiner nennt eine Reihe von Kommentatoren (E. von Hartmann, K. Fischer, A. Hölder, O. Liebmann, F. Ueberweg, J. Volkelt und W. Windelband), die alle schon erkannten, dass es sich hier bei Kant nur um Voraussetzungen handle. Eine weitere Behandlung dieser Voraussetzungen wird für Steiner damit überflüssig. Der Neuanfang Steiners lässt sie beiseite. Aus dem Resultat wird sich herausstellen: erstens, dass alle Erkenntnis ausschließlich a posteriori erworben wird, und zweitens, dass dieser Art der Erkenntnis die Notwendigkeit nicht zu fehlen braucht (alles im Steiner'schen Sinne genommen).

Im dritten Kapitel geht es grundsätzlich um Volkelts Vorstellung, die zugleich diejenige der nachkantischen Erkenntnistheorie (namentlich E. von Hartmanns und O. Liebmanns) widerspiegelt,59 dass alle Erkenntnis, der Wahrnehmung sowie der Refle-xion, sich ausschließlich auf unsere Vorstellung der Gegenstände beschränkt (GA 3\34).

Diese Widerlegung Steiners haben wir schon dargestellt in § 3.3.8 und § 3.3.10. Kern des Arguments war, dass die Voraussetzung sich aufhebt, indem es mit Mitteln operiert, die dem (negierten) naiven Realismus entlehnt sind. Für Steiner kommt dem Unterschied ,subjektiv` und ,transzendent` (objektiv) im Erkenntnisprozess eine andere Bedeutung

eine solche konstante aktive Potenz"). Dies wurde auch die Ansicht von James, dann von Russell und Wittgenstein. Sie dominierte in der analytischen Philosophie. Der Bann über das Bewusstsein (etwa Ryle, Sellars, Quine, Dennett und Rorty) scheint neuerdings gebrochen (vgl. M. Frank [1991], S. 165-165), aber die neue Philosophy of mind hat noch vielfach ein James'sches Konzept vom Bewusstsein: Es gibt in ihr keine mind ,r` (vgl. O.J. Flanagan, Consiousness Recnsidered, MIT 1992, S. 177-183). Andere moderne Konzepte wie „consciousness is the brain's common knowledge" (Nozick (2OO1), S. 197) erlauben immerhin noch kein zentrales ,Agens`. Vgl. dazu die Bemerkung zu Volkelt und Husserl über die Phänomenalität von Begriff und Denken, Anm. 98.

59 Die Volkelt in diesem Zusammenhang an seiner Seite fand. Vgl. Volkelt, a. a. O., S. 1O1-1O2.

6o Ferner werden die Axiome oder Ausgangspunkte von J. Rehmke, J.H. von Kirchmann, E.L. Fischer und C. Göring genannt ohne weitere Erörterung.

60

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290 KAPITEL VIII

zu als für Volkelt (GA 3\46 und 51). Das Unmittelbare ist nicht per se subjektiv, wie der Gegenstand erst durch die an sich ebensowenig subjektiven ideellen Bestimmungen des Denkens zustande kommt. Dass die Erkenntnis ein Begreifen des subjektiven Cha-rakters des Bewusstseins darstellt, ein „Sprungbrett aus dem Subjektiven ins Transsub-jektive" (GA 3\51, nach Volkelt)61 sein soll, bestätigt sich in der Analyse Steiners nicht.62

Das im Bewusstsein Vorhandene ist nicht von vornherein als subjektiv abzuwerten.

§ 8.2.3. Steiners reiner Anfang

Im vierten Kapitel geht es um die Reflexionen über die Ausgangspunkte und die Voraussetzungslosigkeit von Steiners eigener Erkenntnistheorie. Er hält die Vorausset-zungslosigkeit nur für gewährleistet, wenn die Erkenntnistheorie den Anfang nimmt bei einem Punkte, der allem Erkennen vorangeht und von diesem noch unberührt ist (GA 3\45) . Dieser Anfang ist das unmittelbar Gegebene63 vor allem Erkennen, also

61 Erfahrung und Denken, S. 25O. 62 Zu gleicher Zeit regten sich schon im Neukantianismus die Tendenzen zur Überwindung dieses

subjektivistischen Neukantanismus (O. Liebmann, A. Lange, H. Helmholtz), freilich in verschiedenen Richtungen. Gemeinsam war dem Marburger Neukantianismus und der Badenschen Schule die Betonung der Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie (keine Spezialerkenntnisse dürfen vorausgesetzt werden) und der objektivierenden Gegenständlichkeit des wissenschaftlichen Urteils. In Steiners Kritik stecken freilich schon Elemente, die hier in vollem Umfang zur Geltung gelangen, u. a. bei Natorp und Rickert; vgl. zu Rickert § 3.4.11. Für Natorp fängt die Erkenntnis mit objektiven ideellen Einheiten an und ist das ihnen vorangehende rein Subjektive der Unmittelbarkeit nicht erkenntnismäßig fassbar. Die Erkenntnis ist prinzipiell objektiv und gegenständlich durch „das Gesetz der Gesetzlichkeit": Über objective und subjective Begründung der Erkenntnis, in: Philosophische Mnatshefte 1887, xxIIi, S. 257-286. In der Badenschen Schule behauptet Rickert nicht länger nur die subjektive Einsperrung im eigenen Bewusstsein wie Volkelt. „Bewußtsein ist nur ein anderer Name für alles uns unmittelbar bekannte oder gegebene Sein." (Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 52). Hier wird der Neukantianismus den ,Vorstellungs`-, oder ,Traumidealismus` von Liebmann (S. 73) und von Hartmann (S. 79) los. Volkelts Prinzip der Voraussetzungslosigkeit erleidet, nach Rickert, Schiffbruch, wenn wegen des ,Vorstellungscharakters` der Erkenntnis wir auf den Glauben angewiesen sind (S. 128) . Jedoch ist Volkelts Forderung einer ,Transzendenz`, um „aus dem Haufen von immanenten Bruchstücken ein zusammenhängendes Wirklichkeitsganzes zu machen" (S. 84, wo Rickert hinweist auf die „erschöpfende Weise", in der Volkelt diesen Bedarf dargestellt hat in Erfahrung und Denken, eben das ergänzungsbedürftige Prinzip der ,reinen Erfahrung') nicht abgetan. Diese Transzendenz leistet nicht die Vorstellung, sondern allein das Urteil. Der „prinzipielle Gegensatz zu Volkelt" ist, dass Volkelt den eigentlichen Denkakt des Urteilens ignoriert (nicht nur ,Glaube an ein Transzendentes) und übersieht, dass auch die ,Erfahrung` ein ,Denken` ist (S. 357-359). Nach Rickert hat Volkelt den Dualismus von Denken und Erfahrung nicht rein genug durchgeführt. Seine ,Erfahrung` ist schon ein ,Denken`, sein ,Denken` zu sehr vorstellungshafte ,Erfahrung`. Sein Subjekt unterliegt dem Paralogismus der reinen Vernunft, ist aber erkenntnistheoretisch nur ,Idee`.

63 Jetzt hält Steiner den Terminus ,Erfahrung`, wie Volkelt ihn verwendet (GA 3\81), wohl für zu belastet. Bei Kant heißt ,Erfahrung` schon das Produkt von der Verstandestätigkeit in der Bearbeitung der rohen Stoffe der sinnlichen Eindrücke zu einer allgemeinen empirischen Erkenntnis der Gegenstände, KDRV

u. a. B 1 und 147. Zu Recht oder Unrecht wurde dieser Ausdruck bei Kant als zweideutig empfunden. Bald in Gegensatz zur Wahrnehmung und Empfindung, bald auf gleicher Stufe (wenn nur Resultat, so könnten keine Begriffe ,aus` ihr gewonnen werden; vgl. KDRV B 3). Vgl. Rickert, Der Gegenstand der

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 291

das unmittelbar gegebene Weltbild, das vorliegt, bevor es durch das Denken seine Bestimmungen erhält.

Dies ist freilich eine praktisch unmögliche Aufgabe, zumal wir am Nullpunkt der Erkenntnis immer schon vorbei sind.64 Steiner meint ja, dass in keinem Augenblick seines Lebens dem Menschen das schlichte, unmittelbare Weltbild wirklich in die-ser reinen, unberührten Gestalt der unmittelbaren Erfahrung vorliegt (GA 3\47) . „Die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem wird überhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern sie muß künstlich gezogen werden" (GA 3\48) . Steiner stellt sich vor, dass wir diese Grenze ziehen und damit den Begriff des unmittelbaren Weltbildes bestimmen können, indem wir, statt uns posi-tiv und real in die Anfangsposition zu versetzen, negativ vorgehen und aus unserem Weltbilde alles eliminieren, was der erkennenden Bearbeitung entspringt, bis man den Anfang im gegenwärtigen Bewusstsein rekonstruiert hat (GA 3\48) . Anders gewendet: Das rein Unmittelbare, die ,reine Erfahrung` (GA 2) vor allem Erkennen, ist uns in der ,Erfahrung` selber nirgends unmittelbar gegeben. Es ist also erstens Begriff, und dann erst zusätzlich ein Erlebnis, insofern wir diese Negation des Erkennens als ,reine Unmit-telbarkeit' aushalten können, ohne gleich wieder eine Erkenntnistätigkeit an ihr aus-zuüben. Es ist fraglich, ob wir dieser künstlichen Erfahrung ohne weiteres innewerden können, ohne uns darauf durch besondere Übung einzustellen (vgl. die langjährigen Bemühungen Husserls, das Sinnesfundament der Lebenswelt aufzudecken). Steiner stellt die Implikationen seiner Methode nicht klar heraus. Statt eines voraussetzungs-losen Anfangs haben wir hier in der Tat einen solchen, bei dem, obwohl in negativer Weise, der Begriff der Erkenntnis schon vorausgesetzt wird. Eben alles Erkenntnismä-ßige soll herausgeschält werden, was wir ohne dessen Begriff nicht schaffen können. Auch ist der Vorgang nicht empirisch, sondern setzt das Resultat voraus, das wir aus den vorherigen Analysen Steiners kennen. Das Erkennen ist Tätigkeit des Denkens. Die ,Erfahrung` war bestimmt von diesem sich darauf beziehenden Denken her. Sie ist, was dem Denken vorliegt, dessen reale ,Voraussetzung`. Die Grundbegriffe ,unmittelbar` und ,vermittelt` beziehen sich lediglich auf die Tätigkeit des Denkens. Folgerichtig wäre diese Tätigkeit erst zu erfassen und klarzustellen.65 Diesen methodischen Schritt macht Steiner erst in zweiter Instanz, und dann noch viel zu wenig ausgesprochen.

Erkenntnis, S. 383-384 und 41O und H. Ratke, Systematisches Handlexikn zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1929, S. 62: „Erfahrung bezeichnet sowohl den Gegenstand als die Methode der Erkenntnis." Bei Volkelt (und in seiner Nachfolge auch Steiner in GA 2, wenn er spricht über ,Erfahrung und Denken') ist die unmittelbare Intuition gemeint, bei Kant hingegen, jedenfalls meistens, die Synthese von Intuition und Begriff in der empirischen Erkenntnis, d. h. a posteriori.

64 Man kann, nach dem Witze Wittgensteins, einfach „nicht vor dem Anfang anfangen" (Philosophische

Bemerkungen, Oxford 1964, § 68). 65 In der Philosophie der Freiheit wird Steiner die Reihenfolge wahrscheinlich aus diesem Grund umkehren

und beim Denken anfangen und diese Schwierigkeit umgehen. Rickert hat vor allem diesen Punkt gesehen und in Vom Anfang der Philosophie, (1925 erschienen in Logos und postum in Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie, Tübingen 1939, S. 9-5o. Vgl. v. a. S. 18-19) betont, das unmittelbar Gegebene sei nur relativ zu einem Ich. Das Ich sei also die

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292 KAPITEL VIII

Dass nicht nur die Voraussetzung des subjektiven Vorstellungscharakters der Er-kenntnistheorie Volkelts, sondern auch das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit nicht haltbar war, sah Rickert bald ein. Der Vergleich wird uns auch Steiners etwas unglückli-chen Ausgangspunkt einsehen lassen. In Der Gegenstand der Erkenntnis gesteht Rickert, dass seiner Erkenntnistheorie, wie jeder anderen auch, eine petitio principii zugrunde liege, denn etwas Transzendentes, d. h. Nicht-Subjektives wird immer in der Voraus-setzung wahrer Erkenntnis unterstellt. Nur die Theorie erläutert, wie dieses verstanden werden kann. Durch methodische Zweifel und Analyse wird man nur die falschen Vor-aussetzungen 105.66 Nach Rickert ergibt sich, dass jede Erkenntnis einen dem Subjekt transzendenten Sinn als wahr (gültig) voraussetzt.67 Die Wahrheit eines Urteils erklärt man weiter nicht durch irgendeine Abbildung eines Seiendes, sondern nur durch die-sen Wert der Wahrheit, das Sollen des Bejahens, selber.68 Der Weg führt bei Rickert unabänderlich von den Erscheinungen und Deutungen des Wissens zu diesem Punkte, von dem aus der ganze Gang einsichtig wird. Die (theoretische) Voraussetzung der Wahrheit ist also unumgänglich. Steiner will umgekehrt, um zum wahren Erkennen zu gelangen, zuerst den reinen Anfang desselben bestimmen und kann es nur dadurch, dass er die Grenze zwischen ,Gegebenem und Erkanntem' zieht. Aber allein vom Ende her, wie Rickert einsah, also von der erkannten Erkenntnis ausgehend, weiß man, wo diese anhebt und am Anfang ihrer Entwicklung steht. Nicht wie etwa eine Vorstel-

notwendige Voraussetzung einer voraussetzungslosen, d. h. nur mit einem unentbehrlichen Minimum wirkenden Erkenntnistheorie (S. 35 ff.)

66 Zum Beispiel der Relativismus der Wahrheit, die Verneinung der Objektivität als solcher, ist immer wieder selbstaufhebend, vgl. Rickert, Die Gegenstand der Erkenntnis, S. 3O9-313. Nach einem relati-vistischen Zeitalter der analytischen Philosophie wurde die Signifikanz dieses Argumentes u. a. durch Putnam neu ins Feld geführt in Why Reasn Can't Be Naturalized (in: Synthese, Jg. 52, 1982, S. 1-23 und After Philosophy. End or Transformatin, herausg. K. Baynes, J. Bohman und T. McCarthy, MIT 1987, S. 222-244). Die Herausgeber von After Philosophy können Putnams Wahrheitsbegriff daher mit Recht als „Kantian" qualifizieren. Das Argument eines ,selfrefuting relativism` verliert seine Überzeugungs-kraft allerdings, wenn man die Epistemologie radikal ,naturalisiert` (Quine) wie zum Beispiel Nozick (2OO1), I. Kap. Truth and Relativism, S. 5-74. Seine Copenhagen Interpretatin of Truth betrachtet jede Aussage zeit- und raumgebunden (a. a. O. S. 43). Seinem Naturalismus entsprechend nimmt er an, es müsse doch eine Korrespondenztheorie der Wahrheit geben, wenn auch jetzt noch die Ontologie aussteht, die sie begründen soll (a. a. O., S. 67-74). Im Unterschied zu einer solchen Auffassung arbeitet der Neukantianismus, und in diesem Zusammenhang auch Steiner, mit einem idealisierten Wahrheits-begriff (Naturalismus gilt als zirkulär: die Epistemologie wird abhängig gemacht von einer Ontologie, die es doch zu erkennen gilt), wo die Wahrheit — wenn es sie gibt — Raum und Zeit enthoben sein muss. Dass konkrete Aussagen nicht endgültig wahr sind ohne Revisionsmöglichkeit, beeinträchtigt diesen idealisierten Wahrheitsbegriff, der sich versteht als (unendliche) Aufgabe, selbstverständlich nicht. Eine Korrespondenztheorie, die die Wahrheit nachträglich von einer Ontologie abhängig macht, erkennen u. a. Volkelt, Natorp und Rickert wie auch Steiner nicht an.

67 A. a. O., S. 249-251, 254 und 264. 68 „Erst muß man urteilen, dann weiß man, was wirklich ist, und nicht umgekehrt", a. a. O., S. 216. Rickerts

,Wertphilosophie schwebt mit seinem normativen Transzendentalismus zwischen subjektivem und objektivem Idealismus. Von hier aus konnte eine „Kritik des Kritizismus", wie auch eine „Erneuerung des Hegelianismus" unternommen werden. Vgl. M. Pascher, Einführung in den Neukantianismus, München 1997, S. 63.

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lung entsteht, eine Empfindung zustande kommt, man sich an etwas erinnert oder wie eine Regel gelernt und befolgt wird, sollen wir ja betrachten, sondern wie man den Erkenntnisakt vollzieht. Wir betrachten sie von innen her und gehen so weit als möglich rückwärts bis zu ihrem ersten Anfang.

Eben weil Steiner den Erkenntnisakt versteht als ein Anwenden von Kategorien auf das Gegebene, bis das abwechselnd denkende und beobachtende Ich beides in ein entsprechendes Verhältnis gebracht hat (GA 3\6o-63), kann diese Art Erkenntnis nur anfangen mit dem unmittelbar dem beobachtenden Ich Gegebenen vor jeglicher begrifflichen Bestimmung. Das bringt Steiner zum paradoxen Ausdruck: Wir haben alle bereits unsere Erkenntnisse, aber es gilt, „aus diesen alles zu entfernen, was durch die Arbeit des Erkennens gewonnen ist", was „nur durch begriffliche Erwägungen geschehen kann" (GA 3\48). Im Erkennen stehend, sollen wir das Erkennen rückgängig machen, und zwar nicht dadurch, dass wir etwa aufhören zu denken, sondern dadurch, dass wir die Erkenntnis gleichsam überbieten, indem wir sie als Erkenntnis durch-schauen bis zu ihrem Grundstoff aus der unmittelbaren Erfahrung. Diesen Grundstoff kann man sich vorstellen, sagt Steiner, als ob der erste Eindruck eines Wesens „mit vollentwickelter, menschlicher Intelligenz plötzlich aus dem Nichts geschaffen würde und der Welt gegenüberträte" (GA 3\46). Das können wir uns noch weniger ausdenken, wenn nicht unsere eigene Erkenntnis (die uns den Standort einer voll entwickelten, menschlichen Intelligenz anweist) mit eingebracht werden darf. So wird ,die unmittel-bare Erfahrung' alles weniger als eine Erfahrung, vorwiegend nur reiner Grenzbegriff von Steiners Erkenntnistheorie: Sie ist die theoretische Aufhebung aller Erkenntnis, also die erkennende Negation alles Erkennens von sich selber.

So schlimm, wie es jetzt aussieht, steht es jedoch um diesen Begriff des Unmittel-baren bei Steiner auch wieder nicht. Das eigentliche Problem in Steiners Darstellung ist die Gleichstellung des unmittelbar Gegebenen mit der Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie. Wohl ist, obwohl nur scheinbar, gewonnen, dass keine inhaltliche Bestimmung der Erkenntnis gemacht worden ist, aber dabei hat Steiner Erkenntnis-theorie und Erkenntnisprozess auf gleiche Ebene gestellt, was alles weniger als evident ist. Die Theorie entfaltet sich auf einer Metaebene. Die Ambiguität ist im Wort ,vor-aussetzen` angelegt. Einmal ist es im logischen Sinne gemeint, im Sinne von Prämissen der Erkenntnistheorie, ein anderes Mal bezieht es sich noch auf reale Bedingungen des Erkenntnisprozesses. Indem Steiner den Anfang machen will mit der realen Vorausset-zung der Erkenntnis im Bewusstsein (Erfahrung vor der Erkenntnis), verfehlt er gerade den Punkt, dass dies nicht ohne theoretische Voraussetzung möglich ist. Sieht man die Beispiele und Bestimmungen an, die Steiner gebraucht, angeblich nicht, um zu charak-terisieren, sondern nur, um den Blick zu jener Grenze zu lenken, „wo sich das Erkennen an seinen Anfang gestellt sieht" (GA 3\48), aber in Wirklichkeit doch den bestimmten Grenzbegriff des Unmittelbaren aufstellend, so ist klar, dass mit dem Unmittelbaren nicht der einmalige Anfang alles Erkennens gemeint ist, sondern die durchgehende, sich immer wieder zur weiteren Bestimmung aufdrängende Erfahrungsgrundlage, die im Erkennen schon bearbeitet wird, jedoch deshalb darin nicht etwa verschwindet. Die

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294 KAPITEL VIII

Empfindung von etwas ,Rotem` macht nicht einfach dem Begriff ,rot` Platz, als ob die Erkenntnis der Farben uns zwar wissend, aber dennoch gleichsam farbenblind machen würde. Die farbigen Eindrücke erhalten durch die Erkenntnis einen Zusammenhang. Uns werden die Verhältnisse und gesetzmäßigen Modifikationen an ihnen klar usw. Innerhalb des Erkennens kann man unterscheiden zwischen dem begrifflichen Teil und dem nicht-begrifflichen, sobald man sich über die Begriffe im Klaren ist. Aus den immer weiter vollziehbaren Erkenntnisakten, wobei jedes mal ein Etwas in Sub-jektstellung, wenn auch schon von Begriffen durchsetzt, dem Denken entgegengesetzt und zum Gegen-Stand weiterer Bestimmung gemacht wird, können wir ableiten, wie das relative Verhältnis vom unmittelbar Gegebenen und der vermittelten Bestimmung beschaffen ist. Dieses relative Verhältnis kann man extrapolieren. Aber man kann nicht umgekehrt außerhalb seiner Erkenntnis einen Standort einnehmen. So ist der Reali-tätsgehalt des Steiner'schen Begriffs des ,unmittelbar Gegebenen' zu erhärten durch eine methodische Umkehrung, die schon im „künstlichen" Gewinnen des Begriffs des Unmittelbaren angelegt worden ist.69 Dadurch versetzen wir uns nicht an einen Ort außerhalb des Erkennens, wohl aber an ,den voraussetzungslosesten Standpunkt` (Rickert).70 Denn dort hebt das Erkennen immer aufs Neue an, und dort wird es — wie zu zeigen sein wird — geprüft.

§ 8.3. Form und Stoff der Erkenntnis: das Unmittelbare

Kants Schema von Rezeption und Spontaneität (KDRV B 74-75) ist von Steiner modi-fiziert worden dadurch, dass die Einschränkung der Rezeptivität auf die Sinnlichkeit (Vorstellungen durch Affizierung) fallen gelassen wurde, indem an die Stelle der ,Rezep-tion` das Unmittelbare als reine Negation des spontanen Denkens gesetzt wurde. Wie das Unmittelbare, das nicht durch das gegenwärtige Denken Hervorgebrachte, zustande kommt, ist sekundär. Der Begriff des ,unmittelbar gegebenen Weltbildes` als Korrelat einer voll entwickelten Intelligenz, im Moment, wo sie aus dem Nichts der Welt gegen-übertrete (GA 3\46), ist daher eher dem Hegel'schen Begriff der ,Anschauung` in ENZ

§ 449 gleich. Diese Anschauung ist nicht die ,sinnliche Gewissheit' (PHDG) oder das ,sinnliche Bewusstsein' (ENZ § 418) . Sie ist das Moment der Intelligenz, wo diese ihre geistlose Einheit mit dem Empfundenen zerbricht, sich von ihm trennt und sich darauf als auf ein Anderes bezieht (es ,erfasst` in der ,Aufmerksamkeit`).71 Die Vorstellung ist

69 Diese Interpretation berührt auch H. Witzenmann im Zusammenhang mit Steiners Begriff der ,reinen Wahrnehmung', d. h. des rein unmittelbaren Gegebenen: „Vielmehr ist die reine Wahrnehmung eine dem Denkblick stets exponierte und als solche auch stets beobachtbare Gegebenheit. Sie ist das jeweils noch Unverbundene innerhalb der Komplexe des schon Verbundenen" (Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens, Dornach 1988, S. 43).

7O In Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (19O2; S. 49O) heißt es bei Rickert, dass als „der voraussetzungsloseste Standpunkt [...] der [Standpunkt] der reinen Erfahrung gelten kann."

71 Noch kantisch gehalten ist die Bemerkung Hegels, dass die Tätigkeit der Anschauung dabei die Empfindungen räumlich und zeitlich setze, wenn auch diese Formen des Außersichseins für Hegel

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 295

die ,erinnerte Anschauung`,72 da wo sie innerlich und der Intelligenz zu eigen gemacht wird (und sich stufenweise steigert zur freien ,Einbildungskraft`). Die Anschauung geht der Vorstellung voraus, womit Volkelts Subjektivismus der unmittelbaren Erfahrung umgangen wird. „Die Anschauung ist [ ... ] nur der Beginn des Erkennens" (ENZ [ B ] § 489, S. 946) : eben der von Steiner gesuchte Anfang des Erkenntnisprozesses. Das Unmittelbare als ihr Korrelat ist „gefundener Stoff` (ENZ § 451) .73

Als a-logische Materie stellt es sich dem Denken (dem Logischen) entsprechend dem Form-Materie-Schema wieder bei Rickert und Lask gegenüber. Ohne Annahme eines ,Vorstellungscharakters' (Volkelt) wird die alogische Materie zum Fundament der Erkenntnis, das bei jedem Stand des Erkennens, wenn auch partiell, zu erreichen sein wird.74 In einer funktionellen Betrachtung ergibt sich, dass Gegenstände (die immer schon Einheit von Form und ,Materie` sind) in der Materialstellung zu den Formen neuer Bestimmungen stehen. Zum Abschluss eines sonst infiniten Regresses „bedarf [es] eines nicht mehr über sich hinausweisenden materialen Abschlusses"; dieser ist das „Nur-Material, das Urmaterial, das unterste Material".75 Als Grenzbegriff der Analyse ist mithin ,dem unmittelbaren Weltbild vor dem Erkennen` dieser bestimmte und klare Sinn beizulegen.76 Das Unmittelbare hat man in jedem Erkenntnisakte, so dass dieses

nicht ,subjektiv` sind (ENZ [B] § 448, S. 944). Für Steiner und Hegel handelt es sich aber bei diesen Formen um die ersten Begriffsbestimmungen. Der philosophische Begriff ,Anschauen` bei Hegel und Steiner kommt daher nicht dem ,Schauen` im üblichen Sinne als sinnliche Tätigkeit gleich. ,Anschauen` heißt hier ja denkend sich wenden an das Unmittelbare. Es ist ein Denken, dass sich dem Sinnlichen oder sonstiger unmittelbarer Erfahrung hingibt. Das Auge erschließt die Farbe. Nicht unmittelbar ist klar, wie das Auge das tut. Das Denken aber schaut die Farbe an, findet sie vor.

72 Hier bricht Hegel mit Kants Gleichsetzung von ,Anschauung` und ,Vorstellung`: KDRV B 33, die u. a. Volkelt und Hartmann noch als Voraussetzung der Erkenntnistheorie gelten lassen.

73 Von Kant her kommt das Form-Materie-Schema der ,Erscheinung', in dem ,Materie das mannigfaltige Material der Sinnesempfindung bedeutet und ,Form` die Ordnung ist, die synthetische Einheit des Materials. Vgl. KDRV B 34•

74 Rickert (19O2), S. 139-145 (ohne Abbildungsvoraussetzung verleiht die Form Erkenntnischarakter an einem uns gegebenen, letzten Endes an sich logisch indifferenten und unsagbaren Inhalte) und S. 383-385 (obwohl es keine ,Erfahrung` ohne ,Denken` gibt — und die Aufspaltung in zwei Grundprinzipien bei Volkelt falsch war — ist die Kategorie der Gegebenheit notwendiges Korrelat zum ideellen Sollen) und E. Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form, Tübingen 1911, v.a. S. 47-5o (in einer ,transzendentalen Topografie erweist das Seinsgebiet sich als das, was nach Abzug aller Deutung und Geltung von der Erkenntnis übrig bleibt. Es kann kein direkter Gegenstand der philosophischen Betrachtung werden, nur ein indirekter) und S. 85 (von dem ,Material` geht die Unmittelbarkeit des a-theoretischen Erlebens in dem Erkennen verloren). Lask spricht jedoch, wie Steiner, von einem (sinnlichen/nicht-sinnlichen) ,Anschauen`, das in das Erkennen mit einfließe (S. 218).

75 Lask (1911), S. 49. Vgl. Husserl, LU II\12, S. 18O, über ,primäre Inhalte, die in dieser Hinsicht gleich unmittelbar sind. Natorp meint inzwischen, ,ein dem Denken Vorhergehendes' sei nur ein leeres Spiel mit Worten, denn beschreiben kann man es doch nur in Begriffen des Denkens (Die logischen

Grundlagen [1923], S. 49). 76 Husserls phänomenologische Reduktion in Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo-

gischen Philosophie (1913) stellt sich im ersten Ansehen zwar als etwas ganz anderes als die künstli-che Versetzung ins Unmittelbar-Gegebene heraus: Sie ist nur das Einklammern oder Umwerten der

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296 KAPITEL VIII

Element in aller Erkenntnis aufbewahrt bleibt, nur verschlungen mit wechselnden Denkversuchen und Urteilen. Es bleibt immer ein Element des Anschauens in die fortschreitende Erkenntnis einbezogen. Wir brauchen uns deshalb nicht außerhalb der Erkenntnis zu begeben, um das Unmittelbare und das Anschauen im normalen Bewusstsein aufzuweisen."

Was wir als einzelne Gegenstände betrachten, sind keine Ausschnitte einer unmittel-baren Welt vor allem Erkennen, doch irgendwie durch Begriffe Bekanntes: eine farbige Oberfläche, ein Baum, eine Melodie, ein Text, eine mathematische Struktur usw. Der erste Schritt des Erkennens nach Steiner: „Es werden zunächst gedanklich gewisse Ein-zelheiten aus der Gesamtheit des Weltganzen herausgehoben. Denn im Gegebenen ist eigentlich kein Einzelnes, sondern alles in kontinuierlicher Verbindung" (GA 3\60) . Die Einzelheiten werden durch Begriffe konstituiert.78 Der Begriff verhindert nicht, dass das Einzelne doch „der Gesamtheit des Weltganzen" zugehörig und fernerer Bestimmung zugänglich ist.79 Nur wenn wir das sonst Vermittelte in seinen Erkenntnisprätentionen

Generalthesis der natürlichen Einstellung, dass die in der Erfahrung vorgefundene Welt auch ein selbständiges Daseiendes ist. Der naive Realismus wird hier aber zugleich mit dem subjektiven Vor-stellungsidealismus (Volkelt) überholt. Die Welt erweist sich als Korrelat des Bewusstseinsstromes. Damit sind wir nicht versetzt in die Sphäre der Unmittelbarkeit, denn alle Erkenntnis einschließlich der suspendierten Generalthese ist diesem Bewusstseinsstrome zugehörig. Entsprechend ist immerhin ,das Prinzip aller Prinzipien': die originär gebende Anschauung. Wir brauchen keine ,Theorie, um hinzunehmen, was sich in der Intuition originär, d. h. unmittelbar darbietet (Ideen § 24). So sucht Husserl die vorausgesetzte Forderung einer voraussetzungslosen phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis zu erfüllen, die eine Erkenntnistheorie überflüssig machen kann (Lu II\1 §7). Vgl. Anm. 1OO.

77 Die spätere Kritik am ,myth of the given', die es für unmöglich hält, wissenschaftlich verifizierbare Aussagen über eine immer schon überholte Informationsphase zu machen, wird hier umgangen. Eine andere Kritik (im Sinne Wittgensteins) lautet, dass es ,the given' überhaupt nicht gebe: Mit einem linguistic turn ist dies der Natorpsche Standpunkt. In der britischen analytischen Philosophie werden die qualia noch hochgehalten, wenn auch nicht mehr in der hypothetischen Form atomarer sense-data (stattdessen sense-qualia), u. a. von Ayer in: The Problem of Knowledge (13. Aufl. Harmondsworth 1976, S. 98-1O1 und 1O6-113) und Philosophy in the twentieth Century, kritisiert von H. Putnam in After Empiricism (in: Post — Analytic Philosophy, herausg. von J. Rajchman und C. West, New York 1985, S. 2O-3O). Das Blatt hat sich aber schon gewendet: vgl. McDowells Mind and World (4. Aufl. Harvard University Press 1998, passim), wo das Schema von konzeptueller Form und intuitivem Inhalt im Kant'schen Sinne erneuert wird. Der duale Aspekt ist verlassen zugunsten der orginär inklusiven Relation: dass die Sachen sich so und so verhalten, ist zugleich der konzeptuelle Inhalt der Erfahrung und eine wahrnehmbare Tatsache auf rezeptiver Grundlage (S. 26). Der Unterschied von spontanem Begriff und intuitivem Gehalt geht mitten durch jede Erfahrung und Erkenntnis hindurch.

78 Anders gewendet: Das Einzelne ist ,das bestimmte Allgemeine (wDL II, S. 296-299). Wenn Volkelt behauptet, der wahre erkenntnistheoretische Kern der Hegel'schen Überführung des Allgemeinen in das Besondere und Einzelne sei nur, dass das Allgemeine in völliger Absonderung vom Einzelnen ein unvollziehbarer Gedanke sei (Erfahrung und Denken, S. 344), so ist dies ein halber Gedanke. Das Einzelne ist nur durch das Allgemeine in ihm ein Einzelnes. Natorp hat mit Recht diese Seite betont: Das Gesetz konstituiert den Gegenstand als etwas Bestimmtes (den Einzelfall des Gesetzes). Vgl. Anmerkung 62. Dies ist der Sinn der ,gedanklichen` Heraushebung (GA 3\6o).

79 Steiner kann man nicht die dialektische Figur Hegels zuschreiben, dass das Einzelne, weil es Rück-kehr des Begriffs in sich ist, dadurch dem Verlust der Allgemeinheit unterliegt und außer sich in

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 297

ignorieren und als etwas auch rein Erlebbares, etwas Unmittelbares betrachten können, bekommen wir das Unmittelbare in den Blick. Wir hätten einen falschen Begriff davon, wenn wir z. B. nur aus den bestimmten Erfahrungen (des Sehens, der Erinnerung an Gesehenes usw.) vom Objekt aus diesen Begriff zu erfassen suchten.80 Das Unmittelbare wäre dann gleich dem Sinnlichen usw. Steiner versteht darunter nur das Gegenüber des Denkens, wodurch das Denken sich auf anderes beziehen kann, anschauend wird. Das Unmittelbare ist nicht vom Gegenständlichen, sondern nur vom Denken her zu verstehen.B"

§ 8.4. Fortgang der Theorie: das unmittelbare Mittelbare

Wenn wir uns künstlich in den unmittelbaren Erfahrungsbereich versetzen, treiben wir nur in der Abstraktion den Gegensatz von unmittelbarer Erfahrung und Erkennen auf die Spitze. In der Weise, wie Steiner über diesen Anfang der Erkenntnistheorie hinweg-schreitet, zeigt sich abermals der implizite Referenzpunkt seines Gedankengangs. Es soll ein immanenter Fortgang sein: „Es muß sich gerade bei dem strengen Festhalten an dem Bloß-Gegebenen herausstellen, daß nicht alles ein solches ist. Unsere Forderung muß eine solche gewesen sein, daß sie durch ihre strenge Einhaltung sich teilweise selbst aufhebt" (GA 3\52-52). Dieser Fortgang ist somit dialektischer Natur: „Gegeben in unse-rem Sinne kann alles werden, auch das seiner innersten Natur nach Nicht-Gegebene"

(GA 3\53). Der Begriff des ,Gegebenen` enthält bei Steiner ja nichts anderes, als dass etwas als Erfahrungsgegenstand ,vor` dem Denken ist und dessen Gegenstand werden kann: „In diesem unmittelbar gegebenen Weltinhalt ist nun alles eingeschlossen, was überhaupt innerhalb des Horizontes unserer Erlebnisse im weitesten Sinne auftau-

die Wirklichkeit tritt (WDL H, S. 299). Wohl aber ist Einzelnes auch bei Steiner ein vom Denken vermitteltes, äußerlich gezeigtes bestimmtes Unmittelbares, oder ein unmittelbares Dieses (WDL II,

S. 3OO). Einzelnes ist beides, Unmittelbares und besonderer Begriff, mithin gegenständlich gewordenes Wahrnehmungsurteil.

8o Wie es der Empirismus (Russells logischer Atomismus, Wittgensteins Tractatus, Ayers Neupositivismus) im 2O. Jh. auch nicht fertig brachte, die letzten empirischen Elemente der ,Erfahrung`, die einfachen Tatsachen oder die sense-data zu bestimmen.

8i Wie Steiner tatsächlich vorgeht (s. o.). Putnam konnte gleichfalls Ayer vorwerfen, dass dieser durch seine Rede von sense-qualia als Objekte einer „primary recognition" einen „mysterious mental act" postulierte (Putnam, a. a. O., S. 24). Dies ist aber wohl unumgänglich und jedenfalls Steiners Position. Das Unmittelbare ist der Ausdruck einer inneren Transzendenz des Denkens in seiner Hinwendung zum Erfahrungsstoff. Sartre bemerkt zu Recht: „On a souvent défini l'intuition comme présence immédiate du connu au connaissant, mais il est rare qu'on ait réfléchi sur les exigences de la notion d'immediate" (L'Être et le néant, S. 226). Diese das Denken tangierende Unmittelbarkeit ist nach Sartre „identité niée", eine „relation ek-statique par nature". Beide, das Unmittelbare (en soi) und das Bewusstsein (pour soi), sind ,für` oder ,bei` einander (a. a. O., S. 227-228). Das Bewusstsein (wenn es überhaupt etwas ,in sich` wäre) transzendiert sich, wenn es sich das unmittelbare Objekt präsentiert (S. 228). Anders gesagt: Die Unmittelbarkeit, die eine Art Immanenz (,Präsenz für` oder ,In-Existenz` im Bewusstsein nach Brentano) mit sich führt, ist zugleich eine ek-statische Transzendenz des denkenden Ich (vgl. auch Heideggers Sein und Zeit § 69 c, S. 364-366).

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298 KAPITEL VIII

chen kann: Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen" (GA 3\51). Dieser Katalog zeigt eine Folge von Erlebnissen in der Außenwelt („unmittelbares Weltbild”) bis zum innersten Erlebnis des Denkens. Auch das Denken können wir erfahren und zum Gegenstand unseres Denkens machen. Das entspricht sogar der Forderung der kri-tischen Erkenntnistheorie, die durch Selbstbeobachtung den Gesetzen des Erkennens nachspüren will. Der weiteste „Horizont unserer Erlebnisse" ist jetzt gleich dem Feld des Unmittelbaren, wenn etwas nur in unmittelbarer Art darin eintritt. Durch Vermitt-lung der impliziten Abstraktion erhielten wir das Unmittelbare; in dem unmittelbaren Erlebnisbereich kann jedoch auch wieder das Nicht-Unmittelbare, das Vermittelnde als Erlebnis auftreten. Diese Abstraktion und alles andere an Begriffen gilt auch für das Denken, tritt selber innerhalb des Horizontes unserer Erlebnisse auf.

In Kapitel v (§ 5.3.3) haben wir den erkenntnistheoretischen Status des Begriffs bei Steiner schon dargestellt („In der Logik ist alle Theorie nur Empirie; in dieser Wissenschaft gibt es nur Beobachtung"; GA 3\59). Im Zusammenhang mit Volkelt fügen wir noch Folgendes hinzu, da die schlichte Wendung, dass in die unmittelbare Erfahrung zuletzt auch Begriffe und Ideen eingehen, einen beträchtlichen Unterschied mit Volkelt bedeutet. Wegen der weit tragenden Konsequenzen, die Steiner aus dieser Tatsache zieht, können wir sie nicht ohne weiteres übergehen.

Wie selbstverständlich es im Allgemeinen sein mag, dass wir uns der Begriffe bewusst sind (sonst wäre ja unsere Erkenntnis eine hauptsächlich unbewusste Ange-legenheit), so viel Schwierigkeiten macht es (nach der Eklipse Hegels und Schellings Idealismus),82 dieses Bewusstsein eines Begriffes zu erfassen. So ist der Begriff für Volkelt nur ,Vorstellung des Gemeinsamen`, d. h. eine zusammenfassende, einigende Funktion des Denkens (die subjektive Seite am Begriff) .83 Volkelt spricht dem Begriff die vollständige intuitive Anschauung, d. h. den klaren Vorstellungscharakter ab. Begriffe sind demgemäß keine Elemente der ,reinen Erfahrung', sondern nur des zweiten Prin-zips des Denkens. Gegen Hobbes, Locke, Berkeley und Mill84 macht Volkelt geltend, dass das Allgemeine nicht eine neue Qualität der Einzelvorstellung ist, sondern etwas,

82 Dass wir ein unmittelbares Bewusstsein von Begriffen und Urteilen, somit eine Erfahrung des Denkens haben, ist nach Schelling selbstverständlich: „Allerdings gibt es solche, die von dem Denken wie einem Gegensatz aller Erfahrung reden, als ob das Denken selber nicht eben auch eine Erfahrung wäre" (sw II\2, S. 326).

83 Volkelt, a. a. O., S. 338-339. Hegel: „Die niedrigste Vorstellung, welche man vom Allgemeinen haben kann, wie es in der Beziehung auf das Einzelne ist, ist dies äußerliche Verhältnis desselben als ein bloß Gemeinschaftliches” (wDL II, S. 3OO). Der Ansatz ist schon falsch, deshalb kommt nunmehr auch ein subjektives Bild des Begriffes zustande.

84 Hier folgt Volkelt Lotze und Wundt, die beide in ihrer Logik die Abstraktionstheorie als eine Art von Weglassen artbildender und individueller Merkmale widerlegten (das rein negative ,Weder-Noch` ist ein ,Ungedanke ohne positives ,Irgend-ein-X`; Volkelt, a. a. O., S. 342-343). Bekanntlich hat Husserl diesem Punkt später eine eingehende Analyse gewidmet (Lu II\2), in seiner Untersuchung über Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien, in der er sich namentlich mit Locke, Berkeley, Hume und Mill auseinandersetzt.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 299

das in der Einzelvorstellung gar nicht vorhanden ist: „In der Vorstellung vom All-gemeinen spricht sich eine Tendenz und Funktion des Bewußtseins aus, die in den Einzelvorstellungen als solchen nicht vorhanden ist."85 Der Begriff ist rein Allgemei-nes, das notwendig sich bezieht auf Einzelnes, das allerdings seinerseits vorgestellt werden muss. Das Allgemeine braucht einen absoluten oder unendlichen intuitiven Verstand, ein unendliches Vorstellungsvermögen, um seinen Inhalt in der Vorstellung anzuschauen.86 Unsere subjektive Natur ist wegen seiner Endlichkeit angewiesen auf die Einzelvorstellung mit dem Nebengedanken, dass das Einzelne ,Stellvertreter` ist für die unendliche Reihe. Jeder Begriff wird daher eine unvorstellbare Vorstellung („eine ange-strebte, nie vollzogene Vorstellung"),87 ein unvollziehbares Ideal (im Sinne Kants einer nie mit der Erfahrung kongruierenden ,Idee`), eine unendliche Aufgabe. Es sind dies drei Funktionen des Denkens: die einigende Funktion in der Form des Allgemeinen, zweitens diejenige, wodurch die Einzelvorstellung zum Stellvertreter gemacht wird, und drittens die Forderung eines bestimmten, aber unerreichbaren Zieles: „Alle diese inneren Bewegungen bleiben, wie Lotze sagt, subjektive Anstrengungen unsres Geistes, denen keine sachliche Bedeutung zukommt."88 Dieses Paradoxon89 wird umso greller,

als Volkelt zugibt, dass der Begriff kein absolutes Jenseits für uns sei:90 „Wir haben also

mehr in unsrem Bewußtsein als bloß Einzelvorstellungen; im Begriff tritt etwas qua-

litativ andres ihnen hinzu."91 Dieses Qualitative ist ein Bewusstsein eines „Mittleren

zwischen Vollziehen und Nichtvollziehen"92. Jedoch haben wir ein Bewusstsein davon:

„Das Denken kann einfach als das Erfahren transsubjektiver logischer Forderungen

bezeichnet werden." [unsere Kurs.].93 Das Denken beruht auf einer „Innenerfahrung

85 Volkelt, a. a. O., S. 357. 86 A. a. O., S. 347. 87 A. a. O., S. 356. 88 A. a. O., S. 358. Wir erinnern hier an das unbefriedigende Schweben der Wertphilosophie zwischen

Subjektivem und Objektivem, dem wir auch hier begegnen. 89 Begriff als ,Ideal`, das heißt: der Begriff nur als Idee, präsent nicht in den kongruierenden Vorstellungen,

sondern eben nur als ... Begriff. Er war auch nie Einzelvorstellung. Der Begriff ist für Volkelt Einzelvor-stellung mit dem ,Nebengedanken` der Stellvertretung (identisch mit einer unendlichen Reihe einzelner Vorstellungen). Was ihn unterscheidet von der Einzelvorstellung ist also nur dieser ,Nebengedanke`. Der Begriff ist deshalb selber ,neben` der Vorstellung, er ist ja deren Neben-,Gedanke', d. h. wiederum deren ... Begriff!

9O A. a. O., S. 355. 91 A. a. O., S. 356 (Hervorhebung von mir, J.S.). 92 A. a. O., S. 358. 93 A. a. O., S. 249. Also die Erfahrung des Unerfahrbaren! („Jede Kategorie ist die Forderung einer

unerfahrbaren Form", S. 253). Volkelt (193o) hat später eingestanden, es liege ein Widerspruch vor: „Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen: wir sollen das Allgemeine erfassen können, und doch soll es uns unmöglich sein, das Allgemeine vorzustellen, es uns gegenwärtig zu machen" (S. 51o). Seine Lösung, dass das Denken das Allgemeine nicht vorstellt oder gegenwärtig hat, sondern erfasst in einem Intendieren oder Meinen (S. 511-514), befriedigt nicht. Dieses Intendieren wäre ein Bewusstsein unbewusster Art: „Der Inhalt ist gleichsam eingewickelt in das Bewußtsein, er ist versteckt in die Tiefen des Bewußtseins. Hierin hat das Bewußtsein zu zielen und zu fassen” (S. 511).

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3O0 KAPITEL VIII

intuitiver Art"94. Wie aber das Denken als Erfahrung dem Schicksal der Unzulänglich-keit der unmittelbaren Erfahrung als Erkenntnisweise entrinnen könnte, erklärt Volkelt nicht. Umso mehr als Volkelt der ,intuitiven Selbsterfassung' eine aus der allgemeinen Natur der Erfahrung hervorgehende Kritik angedeihen lässt (sie ist „in sich zusam-menhangslose, unverknüpfte Totalität"),9596 zumal das ,reine Ich` („ein konstantes Ich, von dem die Ordnung, Einigung, Gesetzmäßigkeit meiner Bewußtseinsvorgänge aus-geht”) außerhalb aller Erfahrung angesiedelt wird.97 Ein Ausweg ist die Anerkennung der Eigenständigkeit der Erfahrung von Begriffen und Ideen,98 die freilich nicht wie

94 A. a. O., S. 183. 95 A. a. O., S. 543. 96 Hätten wir eine unklare Erfahrung unseres Selbst, wie könnten wir klare Begriffe haben, die doch

nur die Richtungen und Tendenzen unseres Geistes, seine ,subjektiven Anstrengungen` wären? Der ungenaue Dualismus von Erfahrung und Denken rächt sich hier. Steiner wird Erfahrung und Denken in diesem Moment ineinssetzen: ,intellektuelle Anschauung'.

97 A. a. O., S. 87. Freilich gibt Volkelt zu, es gebe eine Innenerfahrung der willenshaften Aufmerksamkeit, die der einzelnen Vorstellung „gänzlich unbekannt ist" (a. a. O., S. 9o). Damit haben wir nach Wundt (Logik) und Husserl unmittelbar das reine Ich in seiner eigenen Tätigkeit (u. a. „die Spontaneität der Ideation") im Bewusstsein (vgl. Ideen §§ 23 und 16O).

98 Zu der Zeit war es vor allem in Husserls Lu, wo es zu einer umständlichen Klärung kam: Das Allge-meine ist ideale Einheit der Spezies (Lu II\1, 2. Untersuchung §§ 2-4 und 31). Sie sind einer kategorialen Anschauung zugänglich (Lu II\2, 6. Untersuchung §§ 45 und 52). Seine Kritik an Lotze gilt ganz bestimmt auch Volkelt (dessen Lehre der Stellvertretung der ähnlichen Berkeley'schen Lehre, mit der Husserl sich dann eingehend auseinandergesetzt hat, Aktualität verlieh). Laut Husserl sind sie insgesamt dem Fehler einer psychologischen Hypostasierung des Allgemeinen verfallen (LU II\l, 2. Untersuchung § lo, S. 132, Anm. 3). Umgekehrt hat Volkelt in Gewißheit und Wahrheit (2. Aufl. 193O) Husserl vorgewor-fen, dessen Intuition sei nur „der Glaube, das zu sehen, was man nicht sieht" (S. 453), während die Wesenserschauung, in singulärer Erfahrung oder in der Allgemeinvorstellung, nicht zuverlässig sei, da sie eine restlose Durchschaubarkeit voraussetzt, die (beim Übersehen der logischen Tätigkeit des Denkens) faktisch sich nicht aufrechthalten lässt (S. 433-454). Rickert und Lask stehen hier auf der Seite Husserls. Rickert: „das Unsinnliche steht in unseren unmittelbaren Erlebnissen oder Intuitionen neben dem Sinnlichen als eine völlig selbständige ,Qualität` und wird in seiner unsinnlichen Zuständigkeit ebenso anschaulich oder intuitiv erfaßt wie das sinnlich Wahrnehmbare" (Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare, in: Rickert [1939], S. 81). Heidegger kehrt wieder zu Kants Lehre des Schema-tismus der reinen Verstandesbegriffe zurück. Die Endlichkeit des Erkennens impliziert, dass Begriffe nur Vorstellungen sind: „Das Vorstellen des Verfahrens der Regelung als eines solchen ist das eigentlich begriffliche Vorstellen. [ ... ] Die Regel wird vorgestellt im Wie ihres Regelns" (Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1991, S. 96). Eben deswegen will Heidegger nicht klar-werden, wie man sich dabei zusieht und sich selbst erfasst im ,zeitigenden` Handeln. Apperzeption wäre immer ein Sich-Dazu-Erfassen im ,Ich-Kann` (vgl. Phänomenologische Interpretatin vn Kants Kritik der reinen Vernunft [Wintersemester 1927/28], Gesamtausgabe, Bd. 25, Frankfurt a. M. 1977, S. 357-377). In neueren philosophischen Strömungen ist die ,Idee` fast völlig abhanden gekommen, was jetzt noch die Interpretation des ehemaligen ,Idealismus` (LU II\1, 2. Untersuchung, Einleitung, S. 1O7) erschwert. Weder das computatinal-representatinal Modell braucht den ,Begriff (vgl. G. Rey, Cntemporary Philosophy of Mind. A Cntentiously Classical Approach, Cambridge, Mass. / Oxford 1997, S. 256-258) noch die Neurophilosophie: „Semantic content is the way in which (certain) neural states feel to us" (Nozick [2OO1], S. 213). Wir meinen angesichts dieser Interpretationsschwierigkeit doch auszukommen mit einer unmittelbar an der ,Selbstbeobachtung` gewonnenen Auslegung des Idealismus, jedenfalls zum Verständnis und zur Darstellung dieser Position (wenn man auch deren Sprache verhaftet bleibt). Die Unzulänglichkeit dieses Vorgehens ist in diesem Rahmen nicht befriedigend zu beheben.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 301

die übrige Erfahrung ohne unsere Tätigkeit sich einstellt.99 Sie ist zu gleicher Zeit vom

Denken vermittelt. Steiner: das Unmittelbare umfasst auch das seiner innersten Natur nach Nichtunmittelbare.

Kehren wir wieder zum Gedankengang Steiners zurück. Steiner hat die Blickrich-tung inzwischen geändert. Hatten wir zuvor das Unmittelbare dadurch im Griff, dass wir, im Denken stehend, von den Begriffen hinweg, oder gleichsam durch die Erkennt-nis neutral hindurch, auf das dem Denken gegenüberstehende Erkenntnismaterial hin-sahen, so wird im zweiten Schritt eine Reflexion gefordert, der gemäß wir die ganze Welt inklusive unserer Persönlichkeit mit ihren inneren Erlebnissen und Erkenntnissen peri-pher umfassen und als Gegenstand uns gegenüberstellen, dabei notwendigerweise uns aus jedem anderen Erkenntnisvollzug oder Urteil zurückziehen.'00 Der zweite Schritt ist dennoch eine geradlinige Fortsetzung des ersten, die sich einstellt, wenn man die Fixierung auf das rein Vor- und Nichtbegriffliche preisgibt unter Beibehaltung der Aufmerksamkeit, ohne auf neue Wahrnehmungs- oder Begriffsurteile einzugehen!'" Steiner erweitert das Gebiet des Unmittelbaren, indem die qualitative Gleichheit der Gegenüberstellung bewahrt bleibt im Hinblick auf schon gedachte Begriffe und erwor-bene Erkenntnisse. So weit ist das Resultat ein Freilegen eines nach Innen vertieften, direkt dem Erkennen offen stehenden Erfahrungsfeldes. Im nächsten Schritt sehen wir zu, wie das Denken dieses Feld zum Erkennen benützt: „So lange wir das Gegebene bloß passiv anstarren, können wir nirgends einen Ansatzpunkt finden, an den wir anknüpfen könnten, um von da aus dem Erkennen weiterzuspinnen" (GA 3\52) .

§ 8.5. Das erkenntnistheoretische Postulat und seine Erfüllung

Ausgehend von der reinen Gegebenheit, die nur ,den Anfang' darstellt, muss das Erken-nen irgendwo ansetzen können. Um sicherzustellen, dass die Erkenntnisgrundlage nicht gleichsam überfremdet wird von dem Erkenntnisakt, gilt es, sich die erste Grundvor-

99 Wäre diese Tätigkeit selber keine Erfahrung, so würde die Einheit des Unmittelbaren gleichfalls verlustig gehen. Die Begriffe und Ideen sind nicht wegen ihres Inhaltes vermittelt, sondern dadurch, dass wir sie denkend zum Vorschein bringen müssen (obwohl die Art des Inhaltes wohl solches bedingt).

1Oo So ändert sich die Bedeutung des ,Unmittelbaren` bei Steiner. Nicht das Unmittelbare vor Anfang alles Denkens und Erkennens, sondern das beständig Unmittelbare während des Erkennens, dieses Erkennen

als unmittelbares Erlebnis mitumfassend. Jetzt kommt es schon gleich dem Residuum der phänome-nologischen Reduktion, dem schlichten Erlebnishorizont des Bewusstseinsstromes, worin durch die Reflexion eine unmittelbare orginäre Gegebenheit von den Bewusstseinsinhalten — Erlebnissen und Akten — sich darbietet (vgl. Ideen § 79, Kritischer Exkurs. Die Phänomenologie und die Schwierigkei-ten der ,Selbstbeobachtung`). Husserl sagt mit Recht vom Empirismus Lockes und Berkeleys, dass die Hauptquelle der Verwirrung darin liegt, dass sie sich ans anschaulich Einzelne, das Greifbare des Denkerlebnisses halten. Die Blickänderung entspricht der Forderung Husserls, „die Denkakte als das zu nehmen, als was sie sich rein phänomenologisch darstellen [ ... ] als neue ,Bewußtseinsweisen` gegenüber der direkten Anschauung" (Lu II\l, S. 182).

loi Zu dieser Reflexion braucht es daher eine gewisse Resignation, gleichwie Husserl die phänomenologi-sche Reduktion versteht als eine gewisse ,Urteilsenthaltung` (,Ércoxri`; Ideen § 31).

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3O2 KAPITEL VIII

aussetzung des Erkennens anzusehen. Wie muss das Verhältnis von Unmittelbarem und Denken sein, wenn Erkennen möglich sein soll? Steiner formuliert eine Forderung der Möglichkeit jeder Erkenntnis als ein erkenntnistheoretisches Postulat, von dem es in GA 3 vier Fassungen gibt:

1. „Wir müßten im Gegebenen irgendwo den Ort finden, wo wir eingreifen können, wo etwas dem Erkennen Homogenes liegt" (GA 3\52);

2. „daß wir irgendwo im Gegebenen ein Gebiet finden, wo unsere erkennende Tätig-keit sich nicht bloß ein Gegebenes voraussetzt, sondern in dem Gegebenen tätig mitten darinnen steht" (GA 3\52);

3. „Es muß im Gebiet des Gegebenen etwas liegen, wo unsere Tätigkeit nicht im Leeren schwebt, wo der Inhalt der Welt selbst in diese Tätigkeit eingeht" (GA 3\53);

4. „Wo finden wir irgend etwas in dem Weltbilde, das nicht bloß ein Gegebenes, sondern das nur insofern gegeben ist, als es zugleich ein im Erkenntnisakt Hervor-gebrachtes ist" (GA 3\54).

Das Postulat hilft uns nicht nur, in der Erkenntnistheorie vom Fleck zu kommen, es entscheidet sich nach Steiner in der Erfüllung oder Nicht-Erfüllung dieses Postulats, ob es ein „wahrhaftes Erkennen gibt" (GA 3\52), ob „überhaupt Erkenntnis zustande kommen soll" (GA 3\ 53), und zuletzt, ob es eine „Erklärung des Erkennens" gibt (GA 3\54). Steiner unterlässt es, hierfür die Gründe anzuführen. Wieder setzt Steiner einen Erkenntnisbegriff voraus, der nicht geläufig sein konnte. Erstens unterstellt er eine Tätigkeit, die offensichtlich geistig gedacht ist.I 02 Wenn auch eine körperhafte Weise des Erkennens, in der Art einer Adaption an der Umwelt, theoretisch möglich wäre, so ist es aus dem erläuternden Beispiel Steiners und dessen Behandlung klar, dass er sich die Erkenntnis geistig denkt. Wäre das Postulat nicht erfüllbar, dann wären wir „Außenstehende" und könnten die Dinge höchstens in die Welt hineinstarrend beschreiben, aber nicht begreifen: „Unsere Begriffe hätten nur einen rein äußerlichen Bezug zu dem, worauf sie sich beziehen, keinen innerlichen" (GA 3\52). Vorausgesetzt wird daher zweitens: Die nominalistische Erkenntnis ist gar keine und fehlt dem ,Begrei-fen`, dem geistigen Durchdringen der Sache. Unsere Begriffe sollen direkt erfassen, „was die Welt im Innersten zusammenhält" (Goethe). Damit ist schon irgendeine Art von Realismus vorausgesetzt, wie aus den vorherigen Kapiteln wiederum verständlich ist. Zwar meint Steiner: „Wir fällen kein Urteil über irgend etwas, sondern zeigen nur die Forderung auf, die erfüllt werden muß, wenn überhaupt Erkenntnis zustande kommen soll" (GA 3\53). Das Postulat hat aber die Form eines hypothetischen Urteils (,wenn x, dann ist Erkennen möglich`) und erfordert eben deswegen einen Erkenntnisbegriff und ein Urteil darüber, welche Bedingungen zur Erkenntnis gehören. Auch an dieser Stelle

1O2 Denn eine körperliche Verrichtung wäre ohnehin schon in der Welt einverleibt, könnte sich nicht im Schweben ihr gegenüber halten, noch weniger in dieser Lage etwas hervorbringen.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 303

geht also der Erkenntnisbegriff der Erkenntnistheorie voraus und ist der methodische Aufbau nicht einwandfrei.

Andererseits ergibt sich diese Vorgehensweise direkt aus der Auseinandersetzung mit Kant und Volkelt. Kant stellt schon die Alternative eines intuitiven Verstandes auf, der nicht diskursiv die Vorstellungen synthetisiert, sondern intuitiven Inhalt her-vorbringt (KDRV B 135-138). Sind uns die Vorstellungen durch Affizierung gegeben, so entspricht dem im Erkenntnisapparat ein rein diskursiver Verstand. Volkelt greift diesen Gedanken auf. Erfahren ist ,scheidewandloses Innewerden`, also beschränkt auf Vorstellungen innerhalb meines Bewusstseins.103 Das Denken hat eine ,duale` Beschaf-fenheit.'°4 Die Form des Verknüpfens der Vorstellungen ist subjektiv, gemeint wird aber der transsubjektive, objektive Gegenstand.105 „Wenn das Denken in seinem Tun unmittelbar Schöpfer der Wahrheit wäre, dann gäbe es natürlicher Weise keinen blo-ßen subjektiven Denkapparat. [...] Nur weil das Denken von seinen Gegenständen geschieden ist [ ... ] , ist seinem Streben das Los der Ungewißheit zugesellt."106 Die individuell-bewusste Natur des Erkennens ist für Volkelt Grund seiner Subjektivität von intuitiver Gestalt. Nach Kant und Volkelt ist das Denken eben kein Hervorbrin-gen oder Erschaffen des Gegenstandes. Bleibt scheinbar nur übrig, hinterher in uns die von außen angeregten Vorstellungen zu synthetisieren nach dem Maßstab unseres diskursiven Verstandes. Steiner hält an der ersteren These fest, dass Hervorbringen das Erkennen überflüssig macht: „Alle Schwierigkeit in dem Begreifen des Erkennens liegt darinnen, dass wir den Weltinhalt nicht aus uns selbst hervorbringen. Würden wir das, so gäbe es überhaupt kein Erkennen" (GA 3\53) . 107 Nicht aber an der zweiten und dritten These Volkelts, dass wir immer nachträglich die in uns angeregten subjektiven Vorstel-lungen verbinden und die Formen ihrer Verbindung unserem außerhalb der Dinge stehenden, subjektiven Denkapparat entspringen. Die Tatsache, dass wir eben nicht die Hervorbringer der Welt sind, sperrt uns noch nicht in unserem eigenen Wesen ein.108

Das Gegebene ist nicht per se eine nur subjektive Vorstellung in uns (vgl. § 8.2.2). Das

1O3 Erfahrung und Denken, S. 64-65. 1O4 A. a. O., S. 284. 1O5 A. a. O., S. 288. 1O6 A. a. O., S. 293. 1O7 GA 3\53: Was ich hervorbringe, dem erteile ich seine Bestimmungen. Eine Frage dagegen wird nur ein

Ding, das mir gegeben ist. 1o8 Es ist einer solchen Subjekt-Objekt-Unterscheidung nicht sofort ein klarer Sinn beizulegen: „Zwar

hört man jeweils die Versicherung, das Innen und die ,innere Sphäre' des Subjekts sei gewiss nicht gedacht wie ein ,Kasten` oder ein ,Gehäuse`. Was das ,Innen` der Immanenz aber positiv bedeutet, darin das Erkennen zunächst eingeschlossen ist, und wie der Seinscharakter dieses ,Innenseins` des Erkennens in der Seinsart des Subjekts gründet, darüber herrscht Schweigen"; so kritisiert Heidegger den Neukantianismus im Stile Liebmanns und Volkelts (Sein und Zeit §15, S. 6o). Er weist bekanntlich darauf hin, dass Kant den phänomenalen Gehalt des ,Ich denke nicht völlig auswertet und dadurch einen Rückfall macht in einen Dualismus von einem substantialen, auf sich gestellten Subjekt und einer transsubjektiven Welt, während der Erfahrung nach das Ich immer schon in der Welt ist, oder ,die Grundverfassung des Daseins ist sein In-der-Welt-Sein` (Sein und Zeit §§ 43 a, S. 2O2-2O8, 64, S.

316-323 und 65 c, S. 323-331). Auch nach Steiner ist dies die Lage, in der sich das Denken befindet.

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304 KAPITEL VIII

Denken ist von vornherein nicht eo ipso nur eine synthetische Funktion des subjekti-ven Bewusstseins. So stellt Steiner einen anderen Erkenntnisbegriff auf mit abstrakten Überlegungen. Brächten wir die Welt hervor, so bräuchten wir kein nachträgliches Erkennen. Wäre sie ohne unser Zutun als Ganzes fertig gegeben, wäre das Erkennen ebenso überflüssig, denn wir könnten einfach das Gegebene hinnehmen (GA 3\64). So

ist die Erkenntnis offensichtlich ein Hervorbringen, um das Gegebene zu verstehen. Der Übergang vom Gegebenen zur Tätigkeit wäre nur dann ohne Sprung und ohne Fraglichkeit, wenn wir etwas hervorbringen würden, was seinen eigenen, uns gegebe-nen Inhalt hat. Unserer geistigen Tätigkeit erteilten wir die Bestimmungen. Wenn wir den Inhalt der Welt darin fänden, wäre das Erkenntnisproblem gelöst. Steiners vier Fassungen dieses Postulats entsprechen der stufenweisen Steigerung dieses Problems:

1. Die erkennende Tätigkeit muss irgendwelchem Gegebenen identisch (homogen) sein;

2. sodass unsere Tätigkeit im Gegebenen steht und der Subjekt-Objekt-Gegensatz von vornherein überwunden ist;

3. mithin ist unsere Tätigkeit nicht eine von uns ins Leere gehende, sondern eben weil wir tätig sind, geht in uns ein Gegebenes ein, kommt uns ein Inhalt zu;

4. dieses Gegebene ist daher nur insofern gegeben, als es zugleich im Erkennen hervorgebracht ist.

Die ,erkennende Tätigkeit' muss also grundsätzlich die Eigentümlichkeit aufweisen, zugleich Denken (Tätigkeit) als Anschauen (Rezeption des Gegebenen) zu sein.l09

Was entspricht ihr? Die Einlösung der Forderung, die das Postulat uns aufgibt, ist nach Steiner, dass „wir unmittelbar [wissen], daß Begriffe und Ideen immer erst im Erkenntnisakt und durch diesen in die Sphäre des Unmittelbar-Gegebenen eintreten" (GA 3\55).

Man könnte diese Lösung freilich auf den fast trivialen Satz reduzieren, dass auch das Erkennen Gegenstand der Erkenntnis werden kann (eben das Geschäft der Erkennt-nistheorie) und als solcher sowohl gegeben (Erkenntnis im Allgemeinen) als auch nicht-gegeben (im Besonderen als diese Erkenntnistheorie) ist und das Hervorbringen (Erkennen) zugleich ein Gegeben-Sein (des Erkennens) beinhaltet. Steiner meint aber offensichtlich, wir bringen tatsächlich geistig etwas hervor, und zwar die Begriffe und Ideen als Bestandteile unserer Erkenntnis, und das Entscheidende ist, dass dieser Akt und sein Inhalt sich ebenso innerhalb der unmittelbaren Erfahrung dartun wie alles andere in der Welt. Mithin gehören sie mit zur Erfahrungswelt, die wir erst durch weitere Begriffe (also mit Hilfe ihre eigenen Bestandteile) gliedern in einen Bereich des

1O9 Die Voraussetzung, es sei das Erkennen eine innere Reaktion eines ,von außen' kommenden Einflusses, ist jetzt eine unmögliche Vorstellung. Die materialistische Auffassung der Erkenntnis (Czolbe, Lange, Dühring, Carneri, R. Wahle) ist ausgeschlossen, weil Steiner ansetzt bei einer rein geistigen Tätigkeit im Denken.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 305

Subjektiven und einen Bereich des Objektiven, des Bewusstseins und der Dinge der Außenwelt usw.

Wenn Steiner von Begriffen und Ideen sagt, „wir müssen sie hervorbringen, wenn wir sie erleben wollen" (GA 3\55), so weist er auf den doppelten Charakter des Denkens hin, dem wir in Grundlinien schon begegnet sind. Denken ist zugleich Hervorbringen und Anschauen eines Inhaltes, Erleben des Resultats. Deshalb nennt hier Steiner die Form, in der Begriffe und Ideen gegeben sind, intellektuelle Anschauung: „Kant und die neueren an ihn anknüpfenden Philosophen sprechen dieses Vermögen dem Menschen vollständig ab, weil alles Denken sich nur auf Gegenstände beziehe und aus sich selbst absolut nichts hervorbringe" (GA 3\55). Ob dies als eine orthodoxe Auslegung Kants durchgehen kann, stellen wir dahin. Steiner versteht Kant allerdings so, dass alle synthetischen Funktionen des Verstandes nur leere Formen sind, die an sich keinen Inhalt haben sollen („Gedanken ohne Anschauung sind leer"), und sich deshalb nur erfüllen und Inhalt bekommen von der sinnlichen Anschauung (KDRV

B 75) . Zuletzt ist für Kant auch das Bewusstsein nicht etwas an sich, nicht selber eine Vorstellung, sondern lediglich die Form derselben, wie das ,Ich denke die ,Form` der Apperzeption, d. h. der synthetischen Einheit überhaupt ist (KDRV A 354 und A117), so dass beides sich notwendigerweise auf die von außen oder innen affizierten Vorstellungen (Anschauungen des äußeren und inneren Sinnes) beziehen muss. Steiner lässt dagegen das Denken als eine eigene bewusste Tätigkeit einen Inhalt hervorbringen, der nur gegenüber der übrigen Anschauung Form ist (GA 3\55-56 und 61). Steiner erörtert dies anhand von Kants Kategoriebegriff. Den Begriff ist die Regel, nach der die zusammenhangslosen Elemente der Wahrnehmung zu einer Einheit verbunden, zum Beispiel in ein kausales Verhältnis gebracht werden (a ist Ursache von b) nach der Regel der Kausalität (GA 3\55) . Das Verhältnis als solches ist nicht den gegebenen Objekten a und b zu entnehmen, weil diese erst mit Hilfe der Regel (Kategorie) als Ursache und Wirkung bestimmt werden. Die Regel muss also den Inhalt selber mit sich bringen und kann deshalb nicht lediglich leere Form sein (GA 3\56) . Auch Kant spricht von den Kategorien als Regeln der Synthesis. Die transzendentale Analytik und die Deduktion der Kategorien zeigen aber, dass sie aus dem reinen Verstand, aus dem Vermögen zu urteilen entspringen und sie der Erfahrung als Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis vorangehen müssen (u. a. KDRV B 122-124). Kant bestimmt die Regel zumal als ,transzendentalen Inhalt` (KDRV B 105) . Es liegt Kant aber fern, hier an eine Art Gegebenheit im Bewusstsein zu denken, da die Kategorien spontane Funktionen zur Synthesis von Anschauungen sind. Sie erschöpfen sich gleichsam in diesem Tun (so jedenfalls eine an Volkelt anschließende Deutung Kants)110 Steiner behauptet nun, es

11O H. Cohen betonte in seinem universellen Konstruktionismus in Kants Theorie der Erfahrung (Berlin 1871, S. 44) die Untrennbarkeit von Form und Materie; vgl. Köhnke (1986), S. 277. Später Heidegger: „Die Regeln, die im Verstand als dem Vermögen der Regeln vorgestellt werden, sind nicht als etwas „im Bewußtsein” Vorhandenes erfasst, sondern die Regeln des Verbindens (Synthesis) werden gerade als bindende in ihrer Verbindlichkeit vorgestellt" (Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe, Bd.3, Frankfurt a. M. 1991, S. 154). Vgl. Kant über den Verstand als „das Vermögen der Regeln"

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306 KAPITEL VIII

gebe im Bewusstsein diesen Inhalt der Regel als selbstständige ,begriffliche Entität' (GA 3\56). Wir könnten ihn erkennen, ohne die Synthesis an einem konkreten a und b zu vollziehen." Es sei zugleich ein Denken und Anschauen, eben intellektuelle (,kategoriale`) Anschauung. Deshalb sei die Logik ,nur Beobachtung' (GA 3\59; vgl.

§ 5.3.3).

§ 8.6. Der Erkenntnisbegriff

Wie kommt Steiner von der Erfüllung des erkenntnistheoretischen Postulats auf den Erkenntnisbegriff? Die Erfüllung sichert nunmehr nichts weiter, als dass sich in der Anschauung ein Gebiet innerhalb des Unmittelbaren finden lässt, wo die erkennende Tätigkeit nicht Fremdem gegenübersteht. Es scheint zunächst ein ganz mageres Resul-tat, dass sie mindestens sich selber erkennen kann, doch es hat zwei wichtige, freilich fast nur implizit erwähnte Folgen: Erstens gibt es, wie Steiner nachgewiesen hat, wegen des Gegensatzes von Anschauen und Denken zumindest keine prinzipielle Unmöglich-keit der Erkenntnis, denn die Begriffe und das Denken selber zu erkennen, ist auch in

(KDRV A 126). Heidegger versucht im angeführten Werk zu erweisen, dass Denken und Anschauen bei Kant der dritten Grundkraft entspringen: der ,Einbildungskraft`. Die Synthesis ist allerdings bei Kant eine ,Handlung`, und zwar als ,Synthesis überhaupt` eben „die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele" (in Kants Handexemplar: „Funktion des Verstandes", KDRV 81O3, Schmidt, Anm. 4; hervorhebung von mir, J.S.).

111 Der Regelbegriff von Steiner (GA 3\56) unterscheidet sich nicht nur von demjenigen Kants, sondern auch von moderneren Varianten. Die Regel ist Begriff und eingebettet im Ganzen der Begriffe, aus dem sie entwickelt und allein verständlich gemacht werden kann (vgl. wDL). Sie ist nicht spontane, sich auf die Vorstellung beziehende Verstandesfunktion (KDRV B 172), sondern von unserem Verstande ,intuitiv` eingesehen und angewendet. Der moderne Regelbegriff ist oftmals derjenige Wittgensteins (Philosophische Untersuchungen § 2O1); Die allgemeine Regel enthält nicht ,die Regel` seiner Anwendung (sonst folgte der unendliche Regress, wie Kant schon behauptete: KDRV B 172). Wir sollen diesen Regeln deshalb ‚blind' folgen (a. a. O., §219). Die private Intuition ist ,unnötige Ausrede (a. a. O., § 213). Einer Regel folgen ist immer eine soziale Praxis (a. a. O., § 2O2), ein Tun, das man selber nicht zu gleicher Zeit beobachten kann (a. a. O., § 456). Das Erkennen der Regel-Praxis wird dadurch überhaupt fraglich. Diesem sozialen Regelbegriff entgegengesetzt ist derjenige des Kognitivismus, der ,information processing' nach dem Modell einer Turing-Machine konstruiert: „Machines obey their machine table algorithms without following them"; Rey (1997), S. 167. Konzepte sollen Regeln der Informationsverarbeitung im Gehirn sein, die nicht bewusst befolgt werden (a. a. O., S. 211 und 254). Ob unsere Gedanken dadurch erfasst werden, ist doch zweifelhaft. Vgl. H. Gardners ,computational paradox': gerade durch den Vergleich mit rigorosen ,computational models' „human thought emerges as messy, intuitive, subject to subjective representations — not as pure and immaculate calculation. These processes may ultimately be modeled by a computer, but the end result will bear little resemblance to that view of cognition canonically lurking in computationally inspired accounts"; The Mind's New Science. A History of the Cognitive Revolutin, 2. Aufl. New York 1987, S. 386. Steiners ,Regel` ist demgegenüber weit näher der alltäglichen Vorstellung: Regel ist Inhalt eines Begriffs in intuitiver Gegebenheit (GA 3\56). Für uns ist der Begriff Regel zur Synthesis im Erkennen (GA 3\55). An sich ist er Gesetz (zuweilen Naturgesetz; GA 3\64). Unser Geist wirkt nicht algorithmisch, weil er frei seinen Intuitionen (Regeln) folgen kann, nicht muss. Dieser Regelbegriff ist dann aber auch jener ältere z. B. von René Descartes (Discours de la méthode, 1636 ).

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 307

dieser Konfiguration möglich. Zweitens ist das Denken an sich die verlässliche Grund-lage des Erkennens. Was wir an ihm haben, ist an ihm selber auszumachen. Mag sein, dass wir uns empirisch die im Erkennen angewandten Begriffe nicht immer genügend klarmachen, es besteht kein prinzipielles Hindernis, dies zu tun, und so klären wir uns im Fortschritt der Wissenschaft auch allmählich über ihre Grundbegriffe auf. Die Aussonderung der Begriffe und Ideen aus dem gegebenen Weltbilde war methodisch motiviert und eine künstliche Zerreißung des Gegebenen (GA 3\58), eine philosophi-sche Zäsur. Wie ist das Verhältnis von Begriffen und Ideen zum Übrigen weiter zu bestimmen? Wieder parallelisiert Steiner methodischen Fortgang und Erkenntnispro-zess: „Diese Wiederherstellung [der Einheit im Weltbilde] geschieht in dem Denken über die gegebene Welt. In der denkenden Weltbetrachtung vollzieht sich tatsächlich die Vereinigung der zwei Teile des Weltinhalts: dessen, den wir als Gegebenes auf dem Horizonte unserer Erlebnisse überblicken, und dessen, der im Erkenntnisakt produziert werden muß, um auch gegeben zu sein" (GA 3\58). Der Erkenntnisakt ist die Synthese von Begriffen und Ideen mit einem Gegebenen aus der unmittelbaren Erfahrung. Er ist die Durchdringung von diesem mit jenen Begriffen und Ideen (GA 3\58-59) . Das Denken tritt als formendes Prinzip an den gegebenen Weltinhalt heran. Steiner über-nimmt also die übliche Terminologie von Form und Inhalt des Erkennens im Sinne des Neukantianismus, jedenfalls in Volkelts und der Badenschen Variante. Volkelt hat nachdrücklich das Gegebene im Bewusstsein, in der Erfahrung, für den ausschließli-chen Stoff für das Erkennen gehalten,112 das vom Denken, von der Kategorie als Form betroffen wird. Erkennen ist ,Umformung` der Erfahrungsstoffe113 Auch für Rickert114

und Lask115 besteht das Erkennen aus einem unsagbaren Gegebenen (einer alogischen Masse), das von der theoretischen Form umfasst wird. Sogar für die Marburger, für Natorp, ist Erkennen fortgehende Bestimmung (Form) eines Inhalts116 Für Steiner bedeutet dies aber primär, dass es ein Erkennen nur im denkenden Bewusstsein gibt. Die Gegebenheit im Bewusstsein ist Untergrenze. Unmittelbares Verhalten gegenüber der Umwelt, und sei es noch so ,intelligent` und adaptiert, ist kein Erkennen in diesem Sinne11'

Der nächste Schritt besteht jetzt darin, dass die Erkenntnistheorie sich klarmacht, was für eine Bedeutung die Begriffe und Ideen haben im Erkennen der übrigen gege-benen Welt. Da tritt Steiner Kant entgegen, um zu verdeutlichen, wie er diese Synthesis meint im Unterschied zur üblichen Ansicht, die Form sei das allein Bestimmende, und damit spinne sich das Denken in seinen eigenen Formen wieder ein (so zumindest

112 Erfahrung und Denken, S. 25O-251.

113 A. a. O., S. 252-253. 114 Gegenstand der Erkenntnis, S. 142. 115 Logik der Philosophie, S. 3O-35. n6 Die logischen Grundlagen (1923), S. 38-43. 117 Und darin unterscheidet sich dieser Erkenntnisbegriff, wie abgedeutet, von mancher herrschenden

Auffassung einer ,naturalisierten` Erkenntnis, eines linguistischen Behaviourismus (Wittgenstein, Ryle, Quine) oder funktionellen Kognitivismus (Fodor, Rey).

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KAPITEL VIII

Volkelt). Das Form-Inhalt- oder Form-Materie-Verhältnis im Erkennen wird letztlich sehr verschieden gedeutet. Steiner gibt sich mit der Terminologie doch nicht einer gängigen Auffassung hin. Dem Denken obliegt es nur, „die Form der Gesetzmäßig-keit" zu besorgen (GA 3\61). Von sich aus bestimmt es nicht die Naturgesetze: „Der eigentliche Inhalt eines Naturgesetzes resultiert 1... ] aus dem Gegebenen" (GA 3\61) . Das Denken schreibt der Erfahrung nicht die Gesetze vor, sondern nur die Form der Gesetzmäßigkeit. Was will das heißen, da die Gesetzmäßigkeit doch im Begriff aufgeht und der nicht-begriffliche Teil des unmittelbaren Weltbildes gerade dieses Element in seiner Unmittelbarkeit nicht mit sich führt (sonst wäre das Erkennen schon geleis-tet)?

Sehen wir uns dazu den Passus an, wo Steiner lapidar den Erkenntnisprozess in drei Stufen darzustellen versucht: „Es werden zunächst gedanklich gewisse Einzelheiten aus der Gesamtheit des Weltganzen herausgehoben. Denn im Gegebenen ist eigentlich kein Einzelnes, sondern alles in kontinuierlicher Verbindung. Diese gesonderten Ein-zelheiten bezieht nun das Denken nach Maßgabe der von ihm produzierten Formen aufeinander und bestimmt zuletzt, was sich aus dieser Beziehung ergibt" (GA 3\60); oder in zwei Schritten formuliert: „Alle Erkenntnisse beruhen darauf, daß der Mensch zwei oder mehr Elemente der Wirklichkeit in die richtige Verbindung bringt und das sich hieraus Ergebende erfasst" (GA 3\60). Dieser Satz kehrt den Prozess um und fängt an mit dem Resultat. Gesetzt es gäbe ein Erkennen der Wirklichkeit, dann hätten wir zwei oder mehr Teile aus ihr in die richtige Verbindung gebracht. Wie erkennen wir die richtige Verbindung?

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass in dem ersten Schritt schon ein Erkennen steckt (ein Erkennen vor dem Erkennen, d. h. der Erkenntnisstoff ist vorgeprägt von früheren Erkenntnissen). Wir brauchen darüber das anfänglich Gegebene aber nicht zu verlieren. Der dritte Akt bei Steiner ist nicht weniger problematisch. Nicht nur werden die Begriffe auf die Einzelheiten bezogen, das Denken soll bestimmen, was sich aus dieser Beziehung ergibt. Da es scheinen könnte, das Denken bestimme das Resultat von sich aus, beeilt Steiner dieses Missverständnis zu beseitigen: „Dadurch, daß das Denken einen Bezug zwischen zwei abgesonderten Partien des Weltinhaltes herstellt, hat es gar nichts von sich aus über dieselben bestimmt. Es wartet ja ab, was sich infolge der Herstellung des Bezuges von selbst ergibt" (GA 3\6o). Wie kann sich etwas aus dem Denken ergeben, wenn nicht aus dem Inhalt der Begriffe, und wenn aus diesem, weshalb dann nicht aus dem Denken selber? Wie wird etwas im Denken erfasst in einer Beziehung, die es doch nur rein formal hinstellen soll?

Hier trennen sich (Neu-)Kantianismus und Goethe'scher Empirismus. Eine reine Naturwissenschaft a priori gibt es für Steiner nicht. Bezug nehmend auf Kants ,syn-thetische Einheit der Apperzeption`,"$ worin Kant das Erkennen auch der Verbindung von Anschauung und Kategorie gleichstellt, erklärt Steiner Kants Urteile a priori für

118 KDRV B 14O-152.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 309

bloße Postulate (GA 3\63) . Kant bleibt bei der formalen Tätigkeit stecken, obgleich er das Erkennen als das Zusammengehen mit der Anschauung der Mannigfaltigkeit bestimmt (vgl. KDRV B 137 und 146-148). „Aus der bloßen formalen Tätigkeit des Denkens folgen also keinerlei objektive Gesetze" (GA 3\61). Die Kategorien sind in der Tat nur Bedin-gungen der Erfahrung, „durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen zum Vorschein kommt" (GA 3\63). Also ergibt sich der eigentliche Inhalt des Gesetzes aus dem Gegebenen: „Aber um im gegebenen Falle a als Ursache, b als Wirkung zu erkennen, dazu ist notwendig, daß jene beiden dem entsprechen, was unter Ursache und Wirkung verstanden wird" (GA 3\61-62). So trivial, wie Stei-ner es hinstellt, so tief greifend ist die Wendung für das Ganze der Erkenntnistheorie. Zuletzt entscheidet die Anschauung über das Denken: Man muss warten, was sich aus dem Zusammenhalten von begrifflichen Formen mit konkreten Erfahrungen ergibt;

,Partien des Weltinhaltes`, ,Elemente der Wirklichkeit', oder anders gewendet, immer schon Teilerkenntnisse, die durch die Anschauung schon eine Bestätigung erfahren haben. Allein, dieses abwartende ,Anschauen` ist selber ,Denken`, wenn auch nicht ein

eigenmächtig präskriptives, sondern ein vernehmendes Denken. Das ganze Erkenntnis-problem konzentriert sich bei Steiner auf diesen Akt. Dass es diesen Akt überhaupt gibt (und wir mühelos die Objekte der Erfahrung in ihrer Selbständigkeit erkennen, seien es alltägliche Dinge, oder die konstruierte Kurve der Mechanik, die gemessene Zeit, die Stärke des elektrischen Stromes usw.), ist die relative Berechtigung des naiven Realis-mus oder des wissenschaftlichen Positivismus.' 19 Während Volkelt bemerkt: „Man fragt

nach dem Wie freilich vergeblich",120 macht Steiner sich keine weiteren Überlegungen über das Wie der Entsprechung von Kategorien und dem unmittelbar Gegebenen, außer in Form einer versteckten Kritik an Kant: „Wir bestimmen den Kausalzusam-menhang eben durchaus nicht nach der zeitlichen Folge, sondern nach der inhaltlichen Bedeutung der als Ursache und Wirkung bezeichneten Teile des Weltinhaltes" (GA 3\62).

Es liegt hier eine Kritik vor am Schematismus der reinen Verstandesbegriffe Kants oder an dessen transzendentaler Doktrin der Urteilskraft (KDRV B 176 ff.). Kategorien und empirische Anschauungen sollen ganz ungleichartig sein, weshalb sich die Frage stellt, wie diese Anschauungen unter die Kategorien subsumiert werden können (KDRV B 176).

Dies soll bei Kant das ,Schema` leisten, das dem Begriff sein Bild in der Einbildungs-kraft verschafft. Das apriorische Bild aller Gegenstände ist die Zeit (KDRV B 182).121 Das

119 So zum Beispiel H. Helmholtz in Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Berlin 1879, S. 36 ff., und E. Laas

in Idealismus und Positivismus. Eine kritische Auseinandersetzung, Berlin 1879-1884,1. Bd., S. 188 und 3.

Bd., S.15 ff. 12O Erfahrung und Denken, S. 82. Ohne den konstruierenden Gesichtspunkt aufzugeben (und sich der in

ihren Augen naiven ,Phänomenologie` auszuliefern), betonen auch Natorp und Rickert, die unmit-telbare Erfahrung habe ihre eigene Sprache. Vgl. Natorps Philosophische Systematik, herausg. von

H. Natorp, Hamburg 1958, §§ 8-11 und Rickerts „Sprache und Antlitz der Körperwelt" (VII. Kap.),

in: Die Erkenntnis der intelligibeln Welt und das Problem der Metaphysik (Aufsatz in Logos 1929), in

Unmittelbarkeit und Sinndeutung, S. 97-185, v. a. 14O-152.

121 Heidegger hat bekanntlich unterstellt, dass diese Bezogenheit der Kategorien auf die Zeit bei Kant nicht eine nachträgliche, sondern eine ursprüngliche sei, denn sie gehe hervor aus der Anschauungsbezogen-

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310 KAPITEL VIII

zeitliche Verhältnis konstituiert für Kant die kausale Gegenständlichkeit: „Demnach ist die Zeitfolge allerdings das einzige empirische Kriterium der Wirkung, in Beziehung auf die Kausalität der Ursache, die vorhergeht" (KDRV B 249) . Dies ist nach Steiner falsch gesehen. Wir betrachten die Elemente a und b auf ihr Was, ihre Eigenschaften hin und suchen eine inhaltliche Beziehung herzustellen, nicht nur eine zeitliche. Kant nennt als Beispiel das warme Zimmer (für die Folge) und den geheizten Ofen (für die Ursache).122

Das Kausalverhältnis versteht man aber nur, wenn man die Begriffe der chemischen Energie des Feuers, des Strahlungscharakters der Wärme, der Wärmekapazität der eingeschlossenen Luft usw. der Thermodynamik gemäß zusammenbringt.123 Stellt das Denken nur eine formale Tätigkeit dar, während das Gegebene entscheidet über die Richtigkeit der formal entwickelten Begriffe, wie Steiner es sich vorstellt, dann sind alle unsere Erkenntnisse empirisch (GA 3\62).

Entsprechend kritisiert Steiner Kants Unterscheidung von a posteriori zufälligen Erkenntnissen und a priori notwendigen. Die Apriorität der Mathematik und rei-nen Naturwissenschaft und die Zuordnung: Apriorität-Notwendigkeit und Empirie-Zufälligkeit/Wirklichkeit hatte die Kant-Forschung als Voraussetzungen entlarvt (GA 3\28-30). Damit waren sie noch nicht widerlegt. Kants Urteile a priori sind für Steiner keine Erkenntnisse, sondern Postulate, die angeben, wie ein Objekt möglicher Erfahrung beschaffen sein soll. Sie fließen aus der Subjektivität und nicht aus der Objek-tivität (GA 3\63), wenn wir nicht im Wahrnehmungsurteil zuletzt erkennen konnten, dass Begriff und Gegebenes einander entsprechen. Die ausbleibende Analyse, wie diese Zugehörigkeit sich in der Erfahrung erweist, hat ihr Pendant in der Unmöglichkeit, in der Kantischen Vorstellungsweise zu beweisen, die Kategorien entsprächen dem Gegebenen nicht, weil sie Voraussetzung der Erfahrung, d. h. der Objektivität bilden. Steiner erwidert: „Das Denken sagt nichts a priori über das Gegebene aus, aber stellt jene Formen her, durch deren Zugrundelegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen zum Vorschein kommt" (GA 3\63). Die formalen Begriffe sind nur Vor-bereitung für das eigentliche Erkenntnisurteil, welches die Zugehörigkeit von Begriff und Gegebenem ausspricht. Wäre es anders, so gäbe es dieses Erkenntnisurteil nicht, d. h. nicht als ein selbständiges Urteil über die Entsprechung von Begriff und Gege-benem. Es wäre vorweggenommen durch die reine Kategorie, die es gleichsam blind

heit, der Endlichkeit des Denkens als solchem. Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik §§ 22 (über den transzendentalen Schematismus), 29 (über Einbildungskraft und theoretische Vernunft) und 33 (wo Heideggers Interpretation gipfelt in der Vorstellung der ,sinnlichen Vernunft`). Das Fremdartige in ihrer Gegenüberstellung ist sogar nur Schein, denn die Kategorien sollen der produktiven Einbil-dungskraft, der rein-imaginären Zeitbeziehung entspringen. Die logische Form ist nur Abstraktion des eigentlichen Inhaltes: Phänomenologische Interpretatin vn Kants Kritik der reinen Vernunft § 22,

S. 299-3O1.

122 KDRV B 247-248.

123 Der inzwischen klassische Unterscheid zwischen der Feststellung einer Regelmäßigkeit und ihrer Erklärung, wo wir rekurrieren auf andere allgemeinere Erkenntnisse.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 311

anzuwenden hat.124 Das Erkenntnisurteil ist aber die entscheidende Instanz, über wel-ches Faktum Steiner in der Analyse nicht hinauskommen kann, ohne es doch wieder vorauszusetzen. Konsequenz dieser Ansicht ist, dass über den Grad der Sicherheit, die Kontingenz oder Notwendigkeit von Erkenntnisurteilen, ebenfalls das Wahrneh-mungsurteil entscheidet: „Auch die Gewißheit kann aus nichts anderem denn aus dem Gegebenen selbst gewonnen werden" (GA 3\63). Eine andere Möglichkeit widerspre-che der Bedeutung des Wahrnehmungsurteils, denn so würde es möglich sein, über die Erkenntnis noch auf andere Weise zu einer Erkenntnis zu gelangen. Die Kategorie ,Notwendigkeit` verbindet Steiner mit der Kategorie ,Wesen`: „Wenn ich einen gewissen Zusammenhang zwischen Teilen des Weltbildes erkenne, so ist er in unserem Sinne nichts anderes, als was aus diesen Teilen selbst sich ergibt, es ist nichts, was ich zu den Teilen hinzudenke, sondern etwas, was wesentlich zu denselben gehört, was also not-wendig dann immer da sein muß, wenn sie selbst da sind" (GA 3\63). Steiner behauptet also, dass, wenn man die Formen des Denkens nicht als dem Gegebenen zugehörig ansehen kann, man die empirischen Urteile für unsicher halten mag. Wenn aber die Zusammengehörigkeit von Begriff und Gegebenem erkannt wird, ist die Sicherheit dieses Urteils zugleich der gesuchte Grad der Gewissheit. Wird Wesenhaftes erkannt, dann ist es auch ein Notwendiges, immer wenn das Wesen wiederkehrt. Der Zeitfaktor entscheidet darüber nicht. So weist Steiner Kants Vorstellung zurück, wonach eine Beobachtung nie anderes sagen könne, als dass einmal ein Zusammenhang stattfindet, und nicht, dass er immer stattfinden würde (Aposteriorität der Erfahrung) . Wenn es gelingt, in der Beobachtung ein Wahrnehmungsurteil zu vollziehen über wesentliche Verhältnisse, so ist man darüber hinaus. Beispiel wäre der Goethe'sche Begriff der Farbe als Zusammenwirken von Licht und Finsternis. Für Steiner gilt dieses Verhältnis als ein Wesentliches, das immer da sein wird, wenn eine Farbe auftritt (vgl. § 4.3.2).

Wir bemerken, wie der Begriff des ,unmittelbar Gegebenen` sich in Steiners Erör-terung gewandelt hat. Das Anschauen des ideenlosen Unmittelbaren verschafft keine Erkenntnisse, es sei denn, dieses Anschauen vollzieht sich innerhalb der Aktivität des Denkens selber: als intellektuelle Anschauung. Die Begriffe sind selber ein Gegebenes im Denken. Hat man sich Begriffe erworben im Denken, so verwandelt sich darauf das Anschauen des Unmittelbaren in ,Beobachten des Gegebenen'. Die ,Beobachtung` ist „Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gegebenen" (GA 4\62). Mit der Beobach-

tung ist das Stadium des passiven Gegenübertretens vorbei. Man. sieht ,etwas als etwas'

und befragt es nach seinen Gesetzmäßigkeiten. Diese schreibt man nicht vor, sondern das Denken stellt sie vor und wartet ab, ob die Beobachtung sie bestätigt: Das Denken „wartet ja ab, was sich infolge der Herstellung des Bezuges von selbst ergibt" (GA 3\60).

124 Kant hat dem Verstand und der Sinnlichkeit das Vermögen der Urteilskraft zwischengeschoben, das für empirische Begriffe leistet, was Steiner für alle Begriffe für möglich hält: Was wir denken in dem Begriff (Kreis), schauen wir in der Vorstellung eines empirischen Gegenstandes (z. B. eines Tellers) an (KDRV B 176). Sie ist aber ein „Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will" (KDRV B 172). Ihm liegt der Schematismus zugrunde, „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele" (KDRV B 18O-181), womit Kant seine Verlegenheit an diesem Punkte eingesteht (vgl. Anm. 93 und 121).

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312 KAPITEL VIII

Somit fließt das Denken angeblich in die Beobachtung ein, geht unmittelbar in sie über. Auf der entsprechenden Objektseite will das heißen, dass der Unterschied von Unmit-telbarem und Begrifflichem sich aufhebt. Das Was einer Erscheinung zeigt sich vor dem Denken unmittelbar, nachdem das Denken sich zum entsprechenden Begriff erhoben hat. Sonst trüge die Beobachtung über das Denken hinaus nichts zur Erkenntnis bei (vgl. das Resultat in § 7.3.6) .

Wenn das Erkenntnisurteil die Entsprechung von Idee und unmittelbar Gegebenem beinhaltet, so ist ihre Konsequenz die Zusammengehörigkeit beider, auch unabhängig von der subjektiven Synthesis derselben. Es kann nichts dazwischenkommen, ohne diese Erkenntnis als Erkenntnis wieder zunichte zu machen. Es ist somit nicht der erkannten ,Wirklichkeit` (GA 3\66), sondern unserer Weise des Erkennens zuzuschrei-ben, dass wir der zwei Elemente: der Begriffe und des unmittelbar Gegebenen, nicht auf einmal, sondern durch die Erkenntnistätigkeit innewerden. Mit der ontologischen Konstitution des Objekts hat dies nichts zu tun: „Ein echtes Naturgesetz ist nichts anderes als der Ausdruck eines Zusammenhanges im gegebenen Weltbilde, und es ist ebenso wenig ohne die Tatsachen da, die es regelt, wie diese ohne jenes da sind" (GA 3\64). Diese Notwendigkeit folgt bei Steiner ja, wenn etwas als ,Wesen` erkannt wird. Dann fragt Steiner sich: „1. Wo besteht die Trennung von Gegebenem und Begriff? 2. Wo liegt die Vereinigung derselben?" (GA 3\65). Das Gegenstück zur Zusammenge-hörigkeit beider ist die Subjektivität der Trennung und Vereinigung: „Die Trennung besteht lediglich im Erkenntnisakte, die Verbindung [ihr Resultat] liegt im Gegebenen" (GA 3\65). Denn „der begriffliche Inhalt [ist] nur ein Teil des Gegebenen" (GA 3\65). Die Form der Gegebenheit ist unsere Angelegenheit: „das Gegebensein ist keine Eigen-schaft des Gegebenen, sondern nur ein Ausdruck für dessen Verhältnis zu dem zweiten Faktor des Erkenntnisaktes" (GA 3\65). Der Begriff ,unmittelbar Gegebenes' besagt also nichts mehr als das ,Dem-Denken-Gegebensein`. Das Denken setzt sich in Tätig-keit und arbeitet den fehlenden begrifflichen Teil hervor. Dann beurteilt, beobachtet es die Zusammengehörigkeit des Inhalts von beiden. Im gelungenen Urteil erscheint der Begriff als mitgehörig zum Gegebenen: „Das gegebene Weltbild wird somit erst vollständig durch jene mittelbare Art [des] Gegebenseins, die durch das Denken her-beigeführt wird" (GA 3\65). Auf das Konto des Erkenntnisaktes muss also geschrieben werden, dass er den Begriff vom Gegebenen trennt, um ihn, durch eigene Tätigkeit gewonnen und erkannt, mit ihm zusammenfügen zu können.125

Den tieferen Grund dieses Paradoxons, dass wir uns dem Nicht-Erkennen aussetzen, um erkennen zu können, streift Steiner hier nur noch, wenn er sich mit Fichtes Theorie des Bewusstseins auseinandersetzt. Es stellt sich nämlich heraus, dass der Satz ,Der

125 GA 4\88. Steiner vertritt also die platonische Ansicht, dass durch unsere Organisation wir die Idee verdrängen oder ,vergessen`, nicht etwa die Heidegger'schen, dass das ,Seyn` sich verbirgt. Zwar könnte Steiner noch zustimmen, dass die „Wahrheit in Wesen Un-Wahrheit ist" und „zur Unverborgenheit als Lichtung das Verweigern in der Weise des Verbergens gehört" (Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 43), doch nur insofern dieses Verbergen als subjektiver Umstand aufzuhebende Grundbedingung unseres Bewusstseins ist.

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begriffliche Inhalt ist Teil des Gegebenen' nicht allgemein gilt. Die Ausnahme ist eben das Erkennen selber (GA 3\68). Hier folgt aus dem Begriff selber, dass begriffliche Bestimmung und Gegebenes gerade nicht vereint in Gegebenem auftreten. Erkennen ist Vereinigen, nachdem man getrennt hat, Aufheben der subjektiven Erscheinungsform. „Weil im Bewußtsein notwendig Idee und Gegebenes getrennt auftreten, deswegen spaltet sich für dasselbe die gesamte Wirklichkeit in diese zwei Teile, und weil das Bewußtsein nur durch eigene Tätigkeit die Verbindung der beiden genannten Elemente bewirken kann, deshalb gelangt es nur durch Verwirklichung des Erkenntnisaktes zur vollen Wirklichkeit" (GA 3\68). Wäre die Vereinigung, entsprechend der Idee des Erkennens, dem Ich mitgegeben, wie sie sonstwo ohne Zutun des Ich schon existiert, dann gäbe kein Erkennen durch das Ich. Die Idee des Erkennens entspricht nur einem Ich, für das die Idee nicht mit der unmittelbaren Erfahrung verbunden ist: „Die Idee des Erkennens kann mit dem ihr entsprechenden Gegebenen nur durch die Tätigkeit des Bewußtseins vereinigt werden. Ein wirkliches Bewußtsein existiert nur, wenn es sich selbst verwirklicht" (GA 3\68). Im Bewusstsein treten Idee und Gegenstand deshalb notwendig getrennt auf.

Jetzt hat Steiner einen Ansatzpunkt, um Fichte neu zu beurteilen: „Das Ich (Bewußt-sein) setzt sich selbst" (Fichtes erster Grundsatz, L 16) nur, indem es das subjektive Erkennen (des objektiven Inhalts) verwirklicht. Fichte macht seinen ersten Grundsatz zwar von dem dritten abhängig:126 „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen" (L 3o). Steiner kritisiert dennoch, dass die Tätigkeit des Ich, das Setzen, niemals über sich hinauskommen würde, wenn es die Bestimmung der Tätigkeit aus sich selber nehmen wollte (da ist nichts als das Setzen, das alsdann wiederum nur zu setzen wäre; GA 3\74). Gegen die abstrakte Tätigkeit des ,Sein-Setzens 1̀27 macht Steiner geltend, dass die konkrete beobachtbare Tätigkeit des Ich im Denken besteht (GA 3\76). Statt des dritten Grundsatzes Fichtes (Prinzips der produktiven Einbildungskraft) soll es heißen: „Das Ich setzt das Erkennen" (GA 3\75). Dies ist eine Einschränkung angesichts Fichtes abstrakterer Bestimmungen.128 In dieser Interpretation Steiners bleibt die Frei-heit des Ich, als freie Tätigkeit, erhalten. Sie zu untersuchen wird Ziel einer nächsten Arbeit: „Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein" (GA 3\79): Die Philosophie der Freiheit (GA 4). Sie hat sich zu befassen mit dem Begriff der Subjek-tivität, die in der Dissertation zwar als Deutungshorizont des Erkenntnisphänomens figuriert, aber als solches nicht mehr in den Blick genommen wird, indem auf seine Tätigkeit hingewiesen würde.

126 Vgl. K. Schuhmann, Die Grundlage der Wissenschaftslehre in ihrem Umrisse. Zu Fichtes,Wissenschafts-lehren` vn 1794 und 181o, Nijhoff, Den Haag 1968, S. 31 ff.

127 Vgl. L 18 und 55. 128 Schuhmann (1968): „Ich und Nicht-Ich sind in der WI. 1974 keine festen Größen, sondern Fragetitel.

Insofern stellen sie formale, mit verschiedenem Inhalt zu erfüllende Strukturen dar" (S. 65).

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314 KAPITEL VIII

§ 8.7. Konsistenz von Methode und Resultat

Wir können jetzt das Fazit ziehen. Adickes Vorwurf, Steiner sei einfach vor Kant zurückgefallen, d. h. er hätte an den Argumenten des Neukantianismus vorbeigesehen, bestätigt sich nach unserer Analyse nicht. Steiner hat seinen ,Dissensus von Kant', oder vielmehr von Volkelts Neukantianismus, methodisch dargestellt. Freilich kommt Steiner mit den Nachkantianern (Fichte, Hegel und Schelling) zu einer Restauration eines Idealismus, der seine Wurzeln im objektiven Idealismus von Platon und Aristoteles hat und noch in der Scholastik von Thomas von Aquin gelehrt wurde. Anders als Kant hält Steiner die Erkenntnis nicht für eine Einverleibung der passiven Affizierung in eine subjektive Bewusstseinsform, die ihrer eigenen Konstitution und Konsistenz willen (,Bedingungen der Erfahrung überhaupt') dem Objekt eine Notwendigkeit aufzwingen muss (Heidegger: die ,sinnliche Vernunft`) . Der Begriff ist Inhalt für sich. Ob ein Begriff, eine ,Vorstellungsart`, zutrifft oder nicht, ob die Kategorien Anwendung finden oder nicht, bleibt dagegen der Erfahrung vorbehalten zu entscheiden (Rechtfertigung von Goethes Erfahrungsprinzip).

Methodisch nimmt Steiner die scharfe Sonderung der Grundelemente der Erkennt-nis aus Volkelts Analyse auf: Erfahrung und Denken. Statt beide letztendlich für unan-gemessen zu halten und das Denken zugunsten eines Glaubens preiszugeben, zeigt Steiner, dass sie beide schon im ersten Auftreten als zwei Seiten ein und derselben Sache sich verhalten: Sie sind Ausfluss der Tatsache, dass unser Denken unmittelbar gegen die Welt gestellt ist, doch außerhalb ihrer ideellen Dynamik, zu der es sich denkend hinaufarbeiten soll. Diese Erkenntnisidee entspricht den objektivierenden Tendenzen in dem damaligen Neukantianismus. Deshalb schreibt von Stein in seinem Gutachten über die eingereichte Dissertation: „Ich möchte nicht jedes Urteil desselben unterschreiben, aber die Grundtendenz, über den einseitigen Subjektivismus hinaus zu kommen, ist nur zu billigen; und die Durchführung sachgemäß, wenn auch nicht immer so neu oder überzeugend, wie der Verfasser selbst vorauszusetzen scheint."129

Volkelt stellt den Subjektivismus des damaligen Kantianismus par excellence dar. Die Grundtendenzen, die zum Objektivismus, oder jedenfalls einem objektiveren Idealis-mus, führen sollten, wurden bald rege im Badenschen und Marburger Kantianismus diskutiert.130 In Bezug auf die unmittelbare Erfahrung haben wir dies für die Badensche Schule schon dargestellt.131 Namentlich im Marburger Kantianismus, wo Cohens und Natorps ,Konstruktionismus` (Köhnke) in der Synthesis des Denkens die Wirklichkeit erstehen lässt: „Nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf. Und wofern das Denken nicht in sich selbst den letzten Grund des Seins zu graben vermag,

129 Rudolf Steiner Studien, Bd. V, S. 199. 13O Anders als bei dem Ruf ,Zurück zu Kant' (Zeller, Leibmann) verstand man die erneute Nähe zu Hegel

nicht als Resultat eines zurückgewandten Neuhegelianismus (dafür war der Abschied von ihm zu gründlich gewesen), sondern als ein Wiederentdecken nachkantischer Motive. H. Levy (1927) konnte jedoch eine ,Hegel-Renaissance` in Deutschland feststellen.

131 Vgl. oben § 5.4.4 und namentlich Anm. 62.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 315

kann kein Mittel der Empfindung die Lücke ausfüllen."132 Der Akzent verschiebt sich von der Rezeption der transzendentalen Ästhetik Kants im frühen Neukantianismus (Helmholtz, F.A. Lange, Liebmann) zur transzendentalen Analytik (Cohen). Das Ide-elle wird in seiner Eigenständigkeit gewürdigt. Der Psychologismus war schon bei den Marburgern abgetan.133 Die Konstitution des Gegenstandes ist eine zur immer freie-ren, reineren ideellen Ausgestaltung hin. Dabei droht zuweilen sogar bei Natorp134 der Zusammenhang mit der unmittelbaren Erfahrung verloren zu gehen.135 In der Baden-schen Schule wird das Ideelle zum ,Gelten`,136 aber auch dort bricht die Objektivität desselben durch, namentlich bei Lask.137 Heidegger wird in Kant und das Problem der Metaphysik (1929) zum früheren Subjektivismus zurückkehren, da er Kants Auf-fassung des Denkens als eine ordnende Funktion des endlichen Subjekts auffasst.138

Der neue Begriff der Endlichkeit des Subjekts versperrt fortan die Aussicht auf den Idealismus. Man kann übrigens jedoch sagen, dass die gewürdigte ,Grundtendenz` von Steiners Dissertation tatsächlich der Entwicklung des damaligen Kantianismus und der aufkommenden Phänomenologie entspricht. Mehr spezifiziert sind es, wie oben im Einzelnen erwähnt, die folgenden Elemente:

132 Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (19O2), Berlin 1922, S. 81. 133 Hier berührten Neukantianismus und Husserl'sche Phänomenologie einander. Vgl. oben § 5.3.4 und

Anm. 94• 134 Wie das Prinzip des Denkens (,die — entsubjektivierende — synthetische Einheit der Apperzeption')

,autonome Relation` ist (die seine Relata konstituierende ideelle Beziehung), hat C. von Wolzogen an Natorps Philosophie zeigen können in Die autnome Relatin. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps. Ein Beitrag zur Geschichte der Theorien der Relation, Würzburg / Amsterdam 1984, v. a. S. 42-48. Vgl. entsprechend bei Kant, argumentierend aus der Sicht der extensionalen Relationslogik, Schulthess (1981), S. 252-258: Die Kopernikanische Wende in der Theorie der Erkenntnis ist gegründet auf derjenigen in der Theorie der Relation: Die Relation beruht nicht auf ihren Relaten, sondern auf der Regel (Funktion) der Synthesis.

135 „Vom sinnlichen Standpunkt muß dies freilich als der Tautologien leerste erscheinen: daß zuletzt nur Bewegung sich bewege. Aber in der Tat nichts anderes besagen die Gleichungen der Physik" (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 3. Aufl. Leipzig und Berlin 1923, S. 385).

136 Rickert (1915) unterscheidet das Bejahen eines Sollens von dem bloßen Denken. Das Denken wird zum Erkennen durch ein Urteil über das Sein. Damit soll nicht das Bewusstsein übersprungen sein. Erkennen ist ,Anordnen des Bewusstseinsinhalts' (S. 228).

137 Auch Lask (19") qualifiziert das Denken als ,Empirie und ,Intuition` (S. 218) und die ganze ideelle Formenwelt als „ein Artefakt der Subjektivität", die nichtsdestoweniger „ein Reich absoluter, ,vom Denken unabhängiger` Gültigkeit" darstellt.

138 Gemeinsame Wurzel von Anschauen und Verstand soll die produktive Einbildungskraft sein; ein rein subjektives Vermögen. Denken, als nur logische Integration der Vorstellungen, ist angewiesen auf die affizierte Sinnlichkeit, auf die die produktive Einbildungskraft reagiert (also eine ,rezeptive Spontaneität`). Heidegger führt Anschauen und Denken zurück auf eine ursprüngliche Einheit im Subjekt, dessen Begriff er in seiner ,Daseinsanalyse aufstellt: Die Einheit ist das verstehende, sich entwerfende, auf eigenes Sein-Können eingestellte Dasein. Die Eigenständigkeit der Idee geht darin unter und wird erklärt aus einer umsorgenden Sicht des Daseins: u. a. Sein und Zeit §§ 31, S. 142-148 und 41, S. 191-196.

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316 KAPITEL VIII

1. die Forderung einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie (Volkelt, Husserl); 2. der Gebrauch des empirischen Nachweises im unmittelbaren Bewusstsein (Volkelt,

Husserl); 3. der Begriff des Unmittelbaren (Rickert, Lask); 4. die Kritik am Subjektivismus (Natorp, Rickert, Husserl); 5. die Ablehnung des Psychologismus in der Logik (Sigwart, Wundt) und das Her-

vorheben des objektiven Inhalts des Denkens (Natorp, Husserl [LU], Rickert und Lask);

6. die erneuerte Form-Inhalt-Struktur des Erkennens (Rickert, Lask, Husserl).

Wenn wir sogar die Zeitdimension in Betracht ziehen, hinkt Steiners Analyse dieser Entwicklung nicht nach, sondern hat diese Transition im ersten Entstehen mitgemacht, wenn nicht in Unterteilen vorausgenommen (im Vergleich zu Volkelt), im Besonde-ren vor dem Neuhegelianismus, der erst nach der Jahrhundertschwelle aufkommen sollte.139

Das Eigene der Dissertation innerhalb Steiners Philosophie liegt in ihrer Form. Es haben sich dabei zwei methodische Unvollkommenheiten herausgestellt: 1. die Ver-wechslung von Objekt und Analyse (Metaebene) und 2. der angeblich voraussetzungs-lose analytische Charakter des Erkenntnispostulats. Es beeinträchtigt die methodische Grundstruktur jedoch nicht entschiedenermaßen. Statt uns in die reine Erfahrung hin-einzuversetzen, leistet die relative Unmittelbarkeit uns Genüge, da sie in der Erkenntnis immer aufbewahrt bleibt (s. o.). Das Postulat ist ein Vorgriff, der in der Beobachtung nachgewiesen werden soll. Wenn dies gelingen sollte, kann es zur Erkenntnis werden, ungeachtet seinen Voraussetzungen, und es bleibt nur die Frage, ob die Beobach-tung restlos das Behauptete gewährt. Ob man dann in rein analytischen Sätzen ein Vorverständnis derselben hätte oder nicht, entscheidet nicht über die Richtigkeit des beobachteten Verhältnisses von Denken und Gegebenem. Die methodische Grund-struktur des Aufbaus der Erkenntnistheorie, die weitgehend übereinstimmt mit dem Stufenbau von GA 2, ist kurz gefasst die folgende:

1. Die reale Voraussetzung des Erkennens, des Denkens, wird zu Bewusstsein gebracht dadurch, dass das Denken seine eigene Tätigkeit zurückhält und zusieht, was vor und für das Denken gegeben ist (erste Forderung der ,Voraussetzungslosigkeit`): das reine Unmittelbare, das Gegebene.

2. In dieser Unmittelbarkeit erscheint dann auch das Mittelbare (das Denken) selbst: das Denken wird für sich (erste Reflexion des Denkens).

3. Für sich betrachtet erweist das Denken sich als ,intellektuelle Anschauung', d. h. es ist produktiv, aber bringt nicht den Inhalt seiner Begriffe aus sich hervor. Die-ser Inhalt ist ein in der Tätigkeit des Denkens Gegebenes. Erfüllung des Postulats

139 Pascher (1997), S. 3O-32.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 317

(vorausgesetze Bedingung des Erkennens) durch das vermittelte Gegebene (Ermög-

lichung des Erkennens). 4. So wird das Denken sich seiner vermittelnden Tätigkeit bewusst: Es schafft sich

selber nur ein Bewusstsein (Erkennen) von den begrifflichen Inhalten (Reflexion

der Vermittlung). 5. Der Begriff und das Gegebene haben nun beide die Form des Unmittelbaren für

das Denken. Das Denken kann ihre Entsprechung oder Unangemessenheit zum

Gegebenen feststellen: die ,Beobachtung` (Auseinandersetzung des Denkens mit dem Gegebenen), die Tatsache des Erkennens.

6. Die vermittelnde Beobachtung wird sich dabei bewusst, dass ihre Vereinigung von Gegebenem das Aufheben einer subjektiven Bedingung ist: Reflexion der Beobach-

tung. 7. Aus diesem Begriff der Beobachtung folgt die Idee des Erkennens (Bewusstsein nur

durch Aufheben der subjektiven Trennung), die ausnahmsweise nicht im Denken

schon seine Entsprechung hat. Sie ist also ein Nicht-Gegebenes per se. Das Denken

erkennt, dass es seinen Begriff frei realisiert. Das Bewusstsein vermittelt (realisiert)

sich selbst: Reflexion des Selbstbewusstseins.

Auf der letzten Stufe erreichen wir das Ergebnis, dass die Gegenüberstellung von Denken und Gegebenem auf der ersten Stufe freie Tat des Bewusstseins war. Des Unmittelbaren werden wir uns nicht anders bewusst als durch eine „künstlich gezogene Grenze zwi-

schen Gegebenem und Erkanntem" (GA 3\47). Der Kreis schließt sich. Wir haben darin also nur die subjektive, freie Trennung des Bewusstseins als solchem erfasst („das Gege-bensein ist keine Eigenschaft des Gegebenen"; GA 3\65). Was wir künstlich trennen, wird

von der Sache her dialektisch zur Einheit zusammengeschlossen. Die Voraussetzung des Bewusstseins wird hier als realer Vollzug eingeführt, damit er realiter aufgehoben wird und zum Bewusstseins des Bewusstseins führt. Der Bewusstseinsprozess wird in Abbreviatur durchgemacht (PHDG 28) in Bezug auf sich selber: In der künstlichen Tren-nung hat man ja die reine Subjektivität als Gegenstand vor sich. Die Verwechslung von Gegenstand und Metaebene lag darin, dass Steiner glaubte, durch die Trennung den Erkenntnisinhalt aufheben zu müssen, während es ausreichte, ihre Form zu reflektie-

ren. Wir erblicken in einer beabsichtigten Entsprechung von Methode und Gegenstand den eigentlichen Grund der festgestellten Ungeschicklichkeit. Den Terminus ,Reflexion`

(vgl. GA 3\47) haben wir hier als Titel gewählt für die methodische ,Selbstbeobachtung`

(GA 3\44), die auf jeder Stufe weiter eindringt in die eigene Tätigkeit und nach und nach diesen Titel ausfüllt. Diese „kritische" Selbstbeobachtung, die die „Naivität des

Bewußtseins eintauscht” (GA 3\44), ist die Garantie für die ,Voraussetzungslosigkeit` der Erkenntnistheorie in dem Sinne, dass sie sich keinen versteckten Annahmen aussetzt (GA 3\22-24) .

Das Postulat bewirkt eine zweite künstliche Trennung (dadurch wird „die Einheit des Weltbildes künstlich zerrissen"; GA 3\58), jetzt in der Form einer theoretischen Forderung. Dadurch wurde das Denken aus dem Gegebenen ausgesondert, aber auch

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318 KAPITEL VIII

„diese Aussonderung wurde also nur gemacht, um das Erkennen begreifen zu können" (GA 3\58). Das Erkennen erweist sich als ,denkende Betrachtung', Vereinigung von Gege-benem und Begriff. Die Trennung wird im Erkennen aufgehoben. Wir haben in dieser Absonderung des Denkens nur die Kehrseite der ersten Trennung von Mittelbarem und Unmittelbarem, wiederum den Unterschied zwischen Denken und Gegebenem, jetzt aber in entgegengesetzten Richtung. Das erste Mal sieht das Denken von sich hinweg zum Gegebenen, das zweite Mal auf sich selbst. Wir sehen zu, wie der Erkenntnisakt Aus-einandersetzung ist von Denken und Gegebenem: „In der denkenden Weltbetrachtung vollzieht sich tatsächlich die Vereinigung der zwei Teile des Weltinhalts" (GA 3\58) . Die Tatsache des Erkennens lässt uns einsehen, dass unsere erkenntnistheoretische Tren-nung von Denken und vorgefundener Welt im wissenschaftlichen Erkennen immer schon überwunden ist. Die erkenntnistheoretische Aussonderung führt zum Erkennen des Erkennens (dessen minimaler Begriff im Postulat gesetzt war). Der Fortgang in der Systematik ist jedoch stets „sachgemäß" (H. von Stein) von einer von der Sache geleiteten Dialektik bestimmt, in der die nächste Stufe die vorige(n) mitumfasst.

Der kritische Erkenntnisbegriff muss sich selber entsprechen. Der Erkenntnisbegriff ist ja auch eine Erkenntnis. Wir kommen dabei wieder zurück zur Frage des Zirkels in der Erkenntnistheorie. Ermöglichen die Bedingungen der Erkenntnis, wie sie die Erkenntnistheorie annimmt, den eigenen Erkenntnisbegriff? Diese Selbstkritik ist doch ein ziemlich spätes Produkt der Philosophie und bei Hegel in der ENZ § 17 ausgespro-chen: Die subjektive Voraussetzung der Philosophie muss sich zum Resultat (und zwar zum letzten der Philosophie) machen. Die Philosophie ist aber auch notwendig ein Kreis, da sie sich nicht im Voraus rechtfertigen kann.140 Volkelts Hinweis auf Hegels Kritik an Kant in ENZ § 1o (über die Ungereimtheit, schwimmen lernen zu wollen, bevor man sich ins Wasser wagt) war richtig, aber er zog selber nicht die notwendigen Konsequenzen daraus. Diese Geschlossenheit des Systems"' war dem positivistischen Zeitalter eher verdächtig. Lask hat die Konsequenz aus Kants Erkenntniskritik gezogen, dass es den Kantianismus noch einmal auf sich selbst anzuwenden gilt. Die Erkennt-nis braucht die Kategorie. Eine Erkenntnis der Erkenntnis braucht die Kategorie der ,Kategorie, die Form der ,Form`. Es ist mithin unmöglich, dass es keine Kategorien für Unsinnliches gibt.142 Der Dualismus ist damit aufgehoben, zugunsten einer reflexiven

14o Man vergleiche Rickerts Bemerkungen zur Voraussetzungslosigkeit in § 8.2. Jeder Anfang ist schon Voraus-Setzung; man schiebt einen bestimmten Gedanken nach vorne, setzt ihn allen anderen ,voraus`. Aus dem Zirkel des Regresses der Begründungen entwindet man sich durch die Anerkennung eines notwendigen Minimums. Rickert abstrahiert vom Inhalt jedes spezialisierten Wissens und fixiert den universalen Umstand, dass es ein für das Ich zu erkennendes gegliedertes Weltganzes gibt (vgl. Rickerts Vom Anfang der Philosophie, S. 14-17). De facto macht es Steiner so.

141 Statt von ,Geschlossenheit` redet man heute von ,Vollständigkeit` (,completeness`) der Theorie: Carrier (2OOO), S. 79, womit gemeint ist, dass zuletzt auch noch die Prüfung der Theorie, u. a. die Messungen (Observationen und Experimente), die zur Prüfung der Theorie dienen, durch dieselbige Theorie gedeutet werden muss.

142 Lask, a. a. O., S. 9O.

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DIE DISSERTATION: DIE VORAUSSETZUNGSLOSE ERKENNTNISTHEORIE 319

Struktur.143 Volkelt hat, wie Rickert bemerkte,144 sich nicht klargemacht, dass die ,Selbst-verständlichkeiten' von Volkelts Erkenttnistheorie in Widerspruch stehen sowohl zu seinem Prinzip der reinen Erfahrung als auch zur transsubjektiven Forderung des Prin-zips des Denkens. Volkelt hatte somit schon implizite ein drittes Prinzip gefordert, das Erkenntnisprinzip selbst: dass das Denken in der Erfahrung seinem Begriffsinhalt entspricht (und so zum unbezweifelbaren, d. h. in Rickerts Sinne transzendenten, aber dennoch bewusstseinsimmanent-empirischen Resultat kommt) . Dies ist gleichfalls der Erkenntnisbegriff Steiners. Anders als bei Volkelt ist die ,Selbstbeobachtung` bei Steiner als kritische Methode imstande, sich selber zu verstehen, denn diese ,Selbstbeobach-tung' ist nicht einfach rein deskriptive ,Phänomenologie (Phänomenalismus). Sie hat als Grundelemente ihrer zyklischen Begriffsbildung a) die künstliche Trennung mit einer radikalen Abstraktion von geläufigen Erkenntnissen, b) die kategoriale ,Vorbe-reitung` der Grundbegriffe der Erkenntnistheorie (Form-Inhalt), die ,analytischen` Sätze über dieselben, zuweilen ihre Postulate oder analytische Widerlegung falscher Urteile, kurz: die möglichen Synthesen und c) die (Selbst-)Beobachtung, die zuletzt über die Wahrheit der Urteile, die Synthesen der Erkenntnistheorie, entscheidet. Es ist dies eben die durchgeführte dialektische Begriffsentwicklung, die wir in sieben Schrit-ten expliziert haben. Ohne die begrifflichen Erwägungen und Vorbereitungen sieht man an dem Phänomen des Erkennens vorbei. Steiners Dialektik ist somit im Allge-meinen Vorbereitung, ist Hinleitung und Strukturierung der Beobachtung. Dass sie vorausgreift, ist eben ein notwendiger Verstoß gegen das Prinzip der Voraussetzungs-losigkeit. Dieser Vorgriff muss sich in der Selbstbeobachtung aber völlig bestätigen. Der Konsistenz seiner Theorie tut das jedenfalls keinen Abbruch. Ihre Methodik der dialektischen Selbstbeobachtung (Form) entspricht ihrem Erkenntnisbegriff (Inhalt). Das Subjekt trennt künstlich Gegenstand und Begriff, um beides in einem eigenen Akt zusammenzubringen, wodurch es nun den Gegenstand erkennt (Inhalt der Theorie). So trennt Steiner Denken und unmittelbare Erfahrung derart, dass die urteilende Auf-hebung dieser Trennung die Erkenntnis des Erkennens darstellt (Form der Theorie) . Je radikaler die Trennung (Abstraktion), umso klarer das mit der Erfahrung zusammen-

143 Ohne dass Lask den fundamentalen Gegensatz von Erkenntnisform (Begriff) und Erkenntnismaterial (unmittelbares Sinnliches und Übersinnliches) preisgibt. Auch Natorp schreibt, dass „das System der Kategorien selbst kategorial zu begründen ist" (Philosophische Systematik, S. 17), weshalb ein schlechthin voraussetzungsfreier Anfang unmöglich sei (ebd.). Seine Lösung ist die, seine Unterdisziplinen umfas-sende, philosophische Systematik zugleich als allgemeine Kategorienlehre einzurichten. Die Kategorien der Modalität, die schon Kants ganzer Systematik zugrunde gelegen haben sollen, sind für Natorp das dynamische Grundgerüst der Bestimmung vom Unmittelbaren über die Relationszusammenhänge zum Letztindividualen und Urkonkreten (also des ganzen Erkenntnisprozesses). Für Steiners geübte Methodik ist eine solche präliminare Kategorienlehre scheinbar überflüssig, doch hat sich ergeben, dass er Kategorien verwendet, die erst in der Skizze einer reinen Kategorienlehre (nach dem Vorbild Hegels) ihre Klärung erlangen. Vgl. § 5.6.2. Wir sahen dort auch, dass Steiner ihre Dialektik an der Erfahrung entwickelt. Zu denken wäre an eine (von Steiner ungeklärte) wechselseitige Aufhellung von Bestimmungen der Kategorienlehre (namentlich ,der subjektiven Logik') und der Erkenntnistheorie.

144 Vgl. Anm. 62.

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320 KAPITEL VIII

zubringende Urteil (Erkennen ist zuletzt ,Beobachtung`, hier ,Selbstbeobachtung`).145

Diese Entsprechung ist kein logischer Zirkel und nicht widersprüchlich. Im Gegenteil. Wenn eine Erkenntnistheorie ihrem Resultat selber nicht entspricht, ist sie pragmatisch widersprüchlich, denn sie behauptet eine Erkenntnisform, die nach ihrer Theorie keine Erkenntnis sein kann (wie der konsequente und absolute Skeptizismus nur eine Mei-nung, ein Mangel an Vertrauen ins Denken, aber keine ,Erkenntnis` darstellen kann). Die Form nimmt das Resultat zwar vorweg, leitet aber nicht dialektisch (wie bei Hegel) den Inhalt aus der Form (dem leeren, auf sich bezogenen Denken) ab, in welchem Fall die Voraussetzung uneingelöst an dem Resultat haften würde. Der systematische Auf-bau ergreift am Schluss (,Reflexion des Selbstbewusstseins') noch seinen Anfangspunkt (Kategorie des ,Gegebenseins`). Es stellt sich zuletzt heraus, was dieses ,Gegebensein für das Denken' bedeutet. Diese zirkelhafte Geschlossenheit und der dialektische Fort-gang sollen nur gewährleisten, dass keine hinzugenommenen, versteckten Annahmen unkritisch die Theorie mitbegründen, und nicht der Prüfung der Erfahrung vorbeugen.

Als Erkenntnistheorie liefert Steiner jedoch kein empirisches Material. Dieses auf-zuarbeiten, ist einer besonderen Disziplin überlassen,146 oder der Leser hat es zur Bestätigung selber mitzubringen (vgl. GA 3\32) . Es führt allerdings zu einem stark idealisierten Erkenntnisbegriff, dem denkbar allgemeinsten. So auch die aufgefunde-nen Funktionsbedingungen der Erkenntnis: das Unmittelbare, das Denken und seine Kategorien und die Beobachtung (Synthesis von Denken und Gegebenem). Für eine Theorie, die doch in der Erfahrung die Rechtfertigung ihrer Urteile sieht, durfte zum Nachweis der Tragweite dieses Erkenntnisbegriffs ein detailliert ausgearbeitetes Exem-pel einer wissenschaftlichen Theorie nicht fehlen (wie noch in GA 2 skizzenhaft der Fall).

145 In der PHDF spricht Steiner von ,denkender Beobachtung` (GA 4\248). Das Denken ist an dieser Stelle mit einbegriffen, was in der PHDF zunächst nicht gemeint ist mit ,Beobachtung`.

146 Die Abstraktheit war den damaligen Erkenntnistheorien im Neukantianismus schon geläufig und keine Ausnahme. Die Phänomenologie war dem Neukantianismus in dieser Hinsicht überlegen. Die Wissenschaftslehre des 2O. Jahrhunderts ist vollends ,empirisch` geworden. Die Entwicklunggeschichte konkreter Wissenschaften (Latour), der alternierenden Theorienbildung (Feyerabend und Kuhn) und noch eine Theorie der Theoriendynamik (Lakatos und Laudan) usw. unterstellen empirische (historische) Forschung.

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KAPITEL IX

Die Philosophie der Freiheit

§ 9.1. Ziel und Aufbau der Philosophie der Freiheit (Kap. I)

Das Ziel der Philosophie der Freiheit (,PHDF`) ist, anders als das der Dissertation, nicht, an erster Stelle eine Erkenntnistheorie zu liefern, obzwar der erste Teil fast aus-schließlich über das Erkennen spricht. Steiner erweitert den Grundgedanken seiner Erkenntnistheorie zu einer Theorie des Bewusstseins, zu einer Theorie der Subjek-tivität: Eine „Untersuchung des Wesens der freien Selbstbestimmung" sollte folgen (GA 3\79) . Und nicht als abstrakte Theorie wollte Steiner diese dem Publikum prä-sentieren, sondern in fasslicher Form als Antwort auf eine dringliche Zeitfrage. Das erste Kapitel in der ersten Auflage gibt hierüber Aufschluss. Unter dem Titel ,Die Ziele alles Wissens` wird direkt der ,Grundzug unseres Zeitalters' angesprochen: Der „Kultus des menschlichen Individuums" steht obenan.1 Das Zeitalter ist auf Individualisierung angelegt, und für die ideale Gesellschaft wird vorausgesetzt, dass sie „auf der beson-deren Vollkommenheit jedes einzelnen Individuums beruht" (GA 4a\245) . Diesem „bis aufs Höchste gesteigerten Freiheitsdrang" (GA 4a\246) will Steiner entgegenkommen, also dem, den „ein besonderes, individuelles Bedürfnis zu einer Anschauung treibt" (GA 4a\247) . Er widmet sein Buch allen denjenigen, die ihre Individualität entfalten und erhöhen wollen (GA 4a\248--250). Er wird nicht ,den einzig möglichen' Weg zur Wahrheit lehren, sondern „von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat, dem es um Wahrheit zu tun war" (GA 4a\248) . In einem Briefe an Rosa Mayreder nennt Steiner die PHDF sogar ein ganz persönliches Dokument (mit einem Wort Montaignes): „Ich lehre nicht, ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Es ist alles in meinem Buch persönlich gemeint. Auch die Form der Gedanken" (GA 4a\528).2 Das Motto der PHDF lautet dennoch „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" (GA 4\3). Dieses Motto sollte namentlich den Unterschied zu von Hartmanns

Im Philosophischen haben wir dabei zu denken u. a. an Stirner, Nietzsche und Dilthey. Erst im 2O.

Jh. bricht dieser Individualismus durch mit dem Existentialismus von Heidegger, Jaspers und Sartre. Als Vorläufer sind in der ersten Hälfte des 19. Jhs. der späte Schelling, Feuerbach und Kierkegaard zu betrachten. Steiner schrieb über die Entwicklung des Individualismus den Aufsatz Der Egoismus in der Philosophie. Er hatte indirekt ein persönliches Verhältnis zu Stirner und Nietzsche durch die Freund-schaft um das Stirner-Forscher John Henry Mackay (seinem Trauzeugen) und seine Bemühungen um das Nietzsche-Archiv.

2 Vgl. dazu auch GA 4\268-269.

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322 KAPITEL IX

philosophischer Methode klarmachen, der in Die Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung (1868) folgendes Motto verwendet hatte: „Spekulative Resultate nach induktiv naturwissenschaftlicher Methode" (GA 4\128) . Es erinnert auch an Bren-tanos Diktum, dass es in der Philosophie keine andere Methode geben sollte als in der Naturwissenschaft. Widersprechen sich nicht wissenschaftliche Behandlungsart und Egodokumentierung? Ist Wissenschaft persönliches Erlebnis? Die Bejahung dieser letz-teren Frage ist in der Tat eines der Resultate der PHDF. Sogar ihr ganzer Sinn, wie sich herausstellen wird: Könnte das Allgemeinwissenschaftliche kein persönliches Erlebnis werden, so wäre Freiheit nur eine formale, unwirkliche Sache. Bei ,naturwissenschaft-licher Methode` hat man nicht an jene der theoretischen Physik zu denken, sondern eher an Goethes Morphologie und Physiologie im Allgemeinen.3 Eine ,organische` Gestaltung ist explizit die Aufgabe, die Steiner sich stellt.4 Im ersten Kapitel der Erst-ausgabe heißt es, das abstrakte Denken solle konkretes, individuelles Leben gewinnen, wenn das bloße Wissen durch ,Begriffskunst` zum „realen, sich selbst beherrschenden Organismus" gemacht werden soll (GA 4\270): „Wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Menschen verhält [ ... ] : das ist die Hauptfrage meiner Schrift" (GA 4\270). Diese Hauptfrage, insofern sie die Philosophie als Kunst betrifft, beantwortet Steiner aber gar nicht mehr als solche. Sie ist aus dem Ganzen herauszulösen.

Die Bemerkung Steiners über den organischen Charakter des Werkes hat manche anthroposophische Autoren dazu gebracht, in der Komposition der PHDF, der Ein-teilung in Kapitel, Abschnitte, Absätze usw. den Schlüssel für die Interpretation zu sehen.5 Es ist auch gar nicht zu leugnen, dass Steiner kompositorisch eine metho-dische Gestaltung vornimmt, die den einzelen Argumenten und Observationen eine zusätzliche Bedeutung hinzufügt, weil man aufgefordert ist, ihrer Funktionalität an einer bestimmten Stelle innerhalb des Ganzen Rechnung zu tragen. Steiner hat im zweiten Druck der PHDF das ganze Buch gegliedert in zweimal sieben Kapitel. Diese Struktur widerspiegelt sich schon im ersten Kapitel, das die Frage nach der Freiheit des Handelns in sieben Fragen aufwirft.6 Der Gedankengang des Kapitels entwickelt

3 Vgl. Drobisch (1842), der eine empirische (d. h. auf Selbstbeobachtung fundierte) Psychologie anstrebte nach naturwissenschaftlicher Methode, d. h. nach dem Muster der Biologie (S. 14-21).

4 Man kann es für einen Widerspruch zur erwähnten Zielsetzung halten, wenn Steiner über die PHDF sagt: „Es ist kein persönliches Werk. Es ist so entstanden wie ein Organismus" (zit. nach O. Palmer, in: Rudolf Steiner über seine Philosophie der Freiheit. Mnographie eines Buches, Stuttgart 1966, S. 119). Das ,Organische erweist sich als die Brücke, über die man vom Persönlichen zum Objektiven kommt.

5 Hier sind vorrangig zu nennen Witzenmann (1988), F. Teichmann, Auferstehung im Denken. Der Chris-tusimpuls in der ,Philosophie der Freiheit' und in der Bewußtseinsgeschichte, Stuttgart 1996, Erfahrung des Denkens: zum Studium der ,Philosophie der Freiheit', Stuttgart 1996 und Erkennen und Wirklichkeit. Zum Studium der ,Philosophie der Freiheit' Rudolf Steiners, Band 2, Stuttgart 2OO1, beide herausg. von T. Kracht sowie E Lowndes, Das Erwecken des Herz-Denkens. Wesen und Leben des sinnlichkeitsfreien Denkens in der Darstellung Rudolf Steiners. Umriß einer Methodik, Stuttgart 1998.

6 1) „Ist der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistig freies Wesen oder steht er unter dem Zwang einer rein naturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit?" (GA 4\15); 2) „Sind die Handlungen der Menschen denn von einerlei Art?" (GA 4\19); 3) „Darf die Frage nach Freiheit unseres Willens überhaupt einseitig für sich gestellt werden? Und wenn nicht: mit welcher andern muss sie notwendig

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 323

sich diesen sieben Fragen entlang. Im selben Kapitel werden auch sieben Philosophen durch je ein Zitat angeführt: D.F. Strauß, Spencer, Spinoza, Eduard von Hartmann, Robert Hamerling, Paul Rée und Hegel. Nach Witzenmann entsprechen sie dem Stei-ner'schen Schema aus der Allgemeinen Menschenkunde (1919: GA 293): Entschluss-Vorsatz—Wunsch—Motiv—Begierde—Trieb—Instinkt, wobei Steiner hier die Reihenfolge umgestellt hat in: Motiv—Begierde—Trieb—Instinkt—Entschluss—Vorsatz—Wunsch.' So kommt man aber dem eigentlichen philosophischen Gedankengang abhanden. Zuletzt legt man der Interpretation das anthroposophische Denkbild der sieben Wesensglieder des Menschen zugrunde.8 Mag sein, dass Steiner diese bei der Komposition schon im Sinn hatte, unser methodisches Prinzip wird dagegen sein (gemäß unserem Grundsatz, vgl. § 1.4, Punkt 6), dass wir auf alle Deutungen, die ein Vorverständnis der Anthropo-sophie entlehnen, verzichten. Im Folgenden wird unsen Leitmotiv sein, dass wir da, wo der Gedankengang Problematisches aufweist, näher hinsehen und den übergreifenden Zusammenhang aufdecken, was sich bis jetzt als die richtige Prozedur erwiesen hat zur Aufklärung des inneren Gedankengefüges.

Dass die PHDF kompositorisch eine duale Grundstruktur hat, liegt offen zutage, denn es sind zwei Teile: „Die Wissenschaft der Freiheit" und „Die Wirklichkeit der Freiheit", scheinbar entsprechend ,Idee` und ,Realisation`. Die Titel sind an sich schon problematisch, denn was Freiheit ist, die ,Idee der Freiheit', ist Gegenstand und Titel des Ix. Kapitels aus dem zweiten Teil. Diese Idee muss aber das Zentrale einer ,Wissenschaft

verknüpft werden?" (GA 4\21); 4) „Was heißt es, ein Wissen von den Gründen seines Handelns haben?" (GA 4\21); 5) „Wie soll es für mich eine Bedeutung haben, ob ich etwas tun kann oder nicht, wenn ich von Motiven gezwungen werde, es zu tun?" (GA 4\23); 6) „Wie verhält es sich mit einer solchen [Handlung], von deren Gründen gewußt wird?" (GA 4\24) und 7) „Welches ist der Ursprung und die Bedeutung des Denkens?" (GA 4\24). Das Ergebnis des Kapitels lautet, dass „die Frage nach dem Wesen des menschlichen Handelns [1. Frage] die andere voraussetzt nach dem Ursprunge des Denkens [7. Frage]" (GA 4\26). Frage 6 entspricht Frage 2: Beide handeln von den Unterschieden in den Arten von Handlungen, von der Einteilung der Handlung (frei/unfrei?). Frage 4 ist die zentrale Frage, durch die Frage 1 abhängig gemacht wird von Frage 7. Dieser schließen sich 3 (Auftakt) und 5 (Auswirkung) an. Die sieben Fragen sind wohl absichtlich eine kompositorische Einheit.

7 Witzenmann (1988), S. 82-86. Seine Motivierung enthält Themen aus der Anthroposophie, die nicht unmittelbar der PHDF entnommen sind. Diese Vorgehensweise rächt sich u. a. an der Zuordnung von Rée-Vorsatz und Hegel-Wunsch (S. 85). Bei Rée erwidert Steiner nicht, den Vorsatz sei doch wahrnehmbare Ursache, sondern „das bewußt gewordene Motiv" (GA 4\24). In der Reihe zitierter Denker ist Hegel der letzte. Es sind nicht „sieben Autoren [... ], welche ,gegen die Freiheit kämpfen, ohne zu wissen, was Freiheit überhaupt ist"` (Witzenmann, a. a. O., S. 82), denn dieser Qualifikation bedient Steiner sich nur für Strauß bis Rée („Doch genug Beispiele, welche beweisen, daß viele gegen die Freiheit kämpfen"). Dies sagt er nicht von Hegel. Im Gegenteil: ,,,Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geist', sagt Hegel mit Recht" (GA 4\25). Hegel ist der Einzige, dem Steiner zustimmt. Dieses Prinzip: die Umwirkung von Seele zum Geist durch das Denken („Der Weg zum Herzen geht durch den Kopf”; GA 4\25), ist ja der Grundnerv des ganzen Buches, der im Voraus exponiert wird (uneinbetrachet von der Differenz zu Hegel, die Steiner später hervorhebt: GA 4\58). Diesem Herabsetzen zum ,Wunsch` („Als ein Denkender ist der Mensch ein unablässig Wünschender", Witzenmann, a. a. O., S. 85), liegt im Text kein Grund vor, lediglich in Witzenmanns Interpretationsrahmen.

8 Witzenmann (1988), S. 63 ff., Teichmann (1996), S. 68 ff. und Lowndes (1998), S. 38 und 75 ff.

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324 KAPITEL IX

der Freiheit' sein. Der erste Teil handelt von dem Denken und Erkennen. Das erste Kapitel desselben stellt das Handeln dem Denken gegenüber. Die Frage nach dem Wesen des Handelns lässt Steiner auf sich beruhen, bis das Denken untersucht worden ist (Ergebnis von Kap. I) . Wenn die Freiheit nur dem Handeln zukommen soll, ist es nicht am Platz, den ersten Teil „Die Wissenschaft der Freiheit" zu nennen. Wenn aber das Denken selber als ein freies Tun angesehen wird, gehört auch seine Analyse zur ,Realisierung der Freiheit', sogar als wichtigste Bedingung derselben. Die Aporie wäre zu beheben, wenn man voraussetzen dürfte, das ganze Buch — wie angesagt: Die Philosophie der Freiheit — spreche von der Freiheit, nicht nur der zweite Teil. Die Titel könnten dann gelesen werden als: ,Wie Freiheit zur Wissenschaft wird` und ,Wie die Freiheit ein Wirkendes ist, Wirklichkeit hervorbringt'. ,Freiheit` wäre dann eine Synekdoche für die freie Subjektivität, womit gesagt sein will, dass die Subjektivität nicht nur frei, sondern Freiheit ihr Wesen ist. In dieser Fassung würden die zwei Titel das Resultat der PHDF vorwegnehmen. Der Hinweis ist ferner, dass die zwei Teile nicht zwei separate Stücke sind. Insofern in der Wissenschaft die Freiheit tätig ist, haben wir das Wesen dieser Tätigkeit im zweiten Teil zu suchen. Wir wissen schon aus dem Vorherigen: Auch Denken wird ein Willensakt sein. Insofern das Wirken ein erkanntes Motiv voraussetzt (Kap. 1: Fragen 4 bis 6), setzt die Freiheit (II. Teil) sich selber als Wissen voraus (I. Teil). Man braucht also nicht erst der Anthroposophie einen Interpretationsrahmen zu entlehnen, um eine Struktur herauszulesen, die einem organischen Zusammenhang von wechselseitig bezogenen Gegenpolen gleichkommt.

§ 9.2. Ich und Welt (Kap. II)

Steiners Analyse des Denkens fängt diesmal an mit der realen subjektiven Voraus-setzung des Erkennens: einem „Grundtrieb zur Wissenschaft" (GA 4\27). Menschen begehren das Wissen, sind unzufrieden mit dem, was die Natur vor den Sinnen aus-breitet. Die Beobachtungen regen Fragen an. Steiner schildert in Farbentönen, wie der „Erkenntnisdrang" über das Gegebene hinaustreibt: Alles ist hier ,Verlangen`, ,Begeh-ren`, ,Unzufriedensein`, ,Erleben`, ,Fragen` und ,Suchen` (GA 4\27-28). Dieser Drang ist Ausdruck eines Bewusstseins des fragenden ,Ich` gegenüber der erklärungsbedürf-tigen ,Welt`: „Diese Scheidewand zwischen uns und der Welt errichten wir, sobald das Bewußtsein in uns aufleuchtet" (GA 4\28). Unser Wesen „spaltet sich in zwei Teile" (GA 4\28) . Steiner braucht die Ambiguität, dass unser zweigeteiltes ,Wesen` somit mehr ist als nur ,Ich`,9 und zwar zunächst als unmittelbare Tatsache des Gefühls: „niemals verlieren wir das Gefühl, daß wir doch zur Welt gehören, daß ein Band besteht, das uns mit ihr verbindet" (GA 4\28) . „Dieses Gefühl erzeugt das Streben, den Gegensatz zu überbrücken" (GA 4\28) mittels Religion, Kunst und Wissenschaft, wobei erst die letztere die Aufgabe löst: „Erst wenn wir den Weltinhalt zu unserem Gedankeninhalt

9 Weiter unten werden wir erst über den Grund dieses ,Doppelwesens` oder der ,Doppelnatur` des Menschen erfahren.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 325

gemacht haben, erst dann finden wir den Zusammenhang wieder, aus dem wir uns selbst gelöst haben" (GA 4\29) . Die Möglichkeit dazu liegt in dem Umstand, „daß uns der Grund- und Urgegensatz zuerst in unserem eigenen Bewußtsein entgegentritt. Wir sind es selbst, die wir uns von dem Mutterboden der Natur loslösen, und uns als ,Ich` der ,Welt` gegenüberstellen" (GA 4\33). ,Wir selbst`, d. h., es ist unsere Subjektivität, ,unser eigenes Bewusstsein'. Innerhalb des Bewusstseins könnte der Gegensatz dem-nach möglicherweise auch wieder aufgehoben werden. Voraussetzung dazu wäre, dass wir bei „der Erforschung unseres Wesens [ ... ] an einen Punkt kommen, wo wir uns sagen können: Hier sind wir nicht mehr bloß ,Ich`, hier liegt etwas, was mehr als ,Ich` ist" (GA 4\34). Abstrakter formuliert: Das ,Ich` setzt sich das ,Nicht-Ich` gegenüber, damit es bewusst wird (sich selber setzen kann). Wenn es im ,Ich` das ,Nicht-Ich` fin-det, in der Form des Gedankens, findet es den Zusammenhang wieder: das orginäre ,Wesen`, also auch umgekehrt ein Ich im Nicht-Ich (der Welt). Steiner besteht darauf, dass dies zu interpretieren sei als „eine Aufnahme des alltäglichen Tatbestandes", des „alltäglichen", d. h. wirklichen „Bewußtseins" (GA 4\34) . Gerade von diesem hebt er die spekulativen Formen des ontologischen Monismus (Spiritualismus, u. a. Fichte, oder Materialismus) und Dualismus ab. Es wird sich herausstellen, dass es erkenntnistheo-retisch nur den subjektiven Dualismus (Bewusstsein) und den objektiven Monismus (Inhalt) gibt, welcher Erstere in den zweiten übergehen soll. Die Fragestellung knüpft jedoch nicht nur an die allgemeine Erfahrung („was jedermann erlebt"), sondern auch an das Resultat der Dissertation an: die Einsicht in die notwendige Trennung von Idee und Gegenstand als Grundbedingung des Bewusstseins. Es ist ja nicht unmittelbares Erlebnis, dass das Bewusstsein uns von der Welt trennt, während es auch gerade die Verbindung zur umgebenden Welt darstellt (intentionaler Charakter).

§ 9.3. Denken und Beobachtung (Kap. III)

Um das Wissen zu analysieren, hat Steiner in der Dissertation angefangen mit der urei-gensten Tat des Bewusstseins: der Abstraktion, in der Form des Hineinversetzens des Denkens an seinen Anfang, in den Zustand, worin es dem Unmittelbaren ausgesetzt war. Der Anfang wurde gemacht mit der Kategorie des ,Unmittelbaren`. Unbefriedigend, weil nicht kritisch explizitiert, war, wie das Denken diese Aufforderung ausführte. Es musste es gewissermaßen naiv tun, um erst am Ende das Gegebensein als Bewusstseins-form einzusehen. Das Ich und seine Tätigkeit (das Erkennen) wurden im Postulate des Erkennens eingeführt, und dieser ,Machtspruch der Vernunft` sollte in der Erfüllung des Postulats eingelöst werden. Diese Folge kann man aber umdrehen und vermittels einer phänomenologischen Analyse einer konkreten Erkenntnistätigkeit deren Grundstruk-tur aufdecken. Man vermeidet dann die ,Fichte'sche' Abstraktion (wenn auch der Reiz der freien Theoriebildung, der unmittelbaren Parallele von Analyse und Analysandum, verloren geht) .

Den Anfang macht Steiner dementsprechend diesmal mit einem konkreten, wenn auch schulmäßig-einfachen Beispiel des Erkennens, der Anwendung der Mechanik

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zum Verständnis des Aufeinanderprallens einer gestoßenen und einer ruhenden Bil-lardkugel, die beobachtet werden sollen (GA 4\36-37). Die Tatsache des Erkennens wird als Faktum vorausgesetzt. Zugesehen wird, welchen Dienst das Denken leistet in diesem beispielhaften ,Weltauffassen`.10 Das ,Denken` wird als Gegenpol zur ,Beobachtung` ein-geführt: Das Denken fügt die mechanischen Gesetze hinzu zur Beobachtung der bewe-genden und aufeinanderprallenden Kugeln. Beobachten ist nicht Wahrnehmen, und schon gar nicht rein-sinnliche Wahrnehmung oder ,Empfindung`, denn „der Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum-und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Hal-luzinationen werden uns durch die Beobachtung gegeben" (GA 4\39). Es werden uns in der Beobachtung individuelle Gegenstände gegeben. Die Beispiele Steiners (neben den zitierten Kategorien) : rollende Billardkugel (GA 4\36), ein Pferd (GA 4\39), ein Tisch (GA 4\4o), ein Lustgefühl (GA 4\40), eine Rose (GA 4\41). Diese Gegenstände werden sich erweisen als schon hervorgegangen aus einer ideellen Synthesis: „Die Wahrnehmung erweist sich bei fortgehender Betrachtung in Zusammenhang stehend mit anderen Wahrnehmungen, zum Beispiel einer bestimmten Figur, mit gewissen Temperatur-und Tastwahrnehmungen. Diesen Zusammenhang bezeichne ich als einen Gegenstand der Sinnenwelt" (GA 4\97). Dies gilt entsprechend auch für die Konstitution der Gegen-stände des Gefühlslebens oder der Fantasie, insofern sie zusammenhängende Gebilde sind. Erfahrungstatsache ist immerhin: Wir werden ihrer durch die Beobachtung unmittelbar gewahr. Denken bringt keinen Gegenstand hervor durch ,bloßes Denken` (GA 4\): „Es liegt in unserer Organisation, daß wir sie [dass wir der Beobachtung] bedür-fen". Dieses Vorfinden, Sich-nach-außen-Wenden, das Sich-Übersteigen (Transzen-denz) des Denkens ist ,Beobachtung`. Beobachtung ist passiv, insofern es keine neuen Begriffe produziert: Bloßes Anstarren eines Pferdes produziert nicht den Begriff ,Pferd` (GA 4\39) . Die Beobachtung ist zweitens charakterisiert als ein sich nach außen wenden-des Denken. Durch den Inhalt, den es vor-findet, wird das Denken zum Nach-Denken: „Anders ist die Sache, wenn ich über den Inhalt meiner Beobachtungen nachzuden-ken beginne." Es wird ein direkter Übergang von Beobachten in Denken, ein direkter Kontakt zwischen beiden, unterstellt. Es wird nicht eine drittes Vermögen gesetzt, etwa Kants Urteilskraft, die beides vermittelt. Das Denken wird aktiv, entzieht sich den ein-facheren, gegenständlich vorgefundenen Begriffen und bewegt sich in sich, fragt nach dem Zusammenhang zweier Gegenstände usw. (GA 4\38). „Zeitlich geht die Beobach-tung sogar dem Denken voraus" (GA 4\39) . Nicht gesagt, aber gemeint ist: Unsere eigentümliche Lage bedingt, dass wir aus der Erfahrung unsere Erkenntnis entwickeln und die Welt nicht ohne die Erfahrung ausdenken können. Dass Beobachtung und Denken zyklisch sind, beeinträchtigt die Priorität der Beobachtung nicht. Welterken-nen heißt nach Steiner jeweils Synthese von unmittelbarer Erfahrung und Begriff. Die Gegebenheit in der Bobachtung ist also eine notwendige Voraussetzung des Erkennens.

1O So die Titel von Kapitel II1: Das Denken im Dienste der Weltauffassung.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 327

Der nächste, invertierende methodische Schritt ist der Schluss: „Denn auch das Den-ken müssen wir durch Beobachtung kennenlernen" (GA 4\39) . Offenkundig unterstellt Steiner hier die Möglichkeit des Beobachtens des Denkens, was seine Schwierigkeiten haben wird, wie sich noch herausstellen wird. Ist unsere Auslegung richtig, dass Beob-achten nichts anderes ist als ein passives, nach außen aufgeschlossenes Denken, dann sind Beobachtung und Denken nicht grundverschieden, und es ist in der Tat vorstellbar, dass es eine Beobachtung des eigenen Denkens gibt. Das Beobachten des Denkens des anderen ist ein Problem für sich, das Steiner nur im Anhang der zweiten Auflage von 1918 behandelt. Wäre das Beobachten eine niedere Funktion, die nicht an das Denken heranreicht, so wäre diese Beobachtung des Denkens von vornherein unerklärlich.

Den zweiten Schritt macht Steiner dadurch, dass er feststellt, dass das Denken sich eben dadurch als Beobachtungsobjekt von allen anderen Dingen unterscheidet, dass wir es nicht gleichzeitig beobachten. Diese Beobachtung ist ein „Ausnahmezustand" (GA 4\4o) . Wenn man das Denken als eine Tätigkeit bestimmt, so ist unumgänglich, wie auch die Erfahrung lehrt,11 dass man sich denkend mit etwas (dem Objekt) beschäftigt (anders gesagt: das Denken hat eine intentionale Struktur) und sich dadurch nicht mit sich selbst befaßt: „Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, daß der Denkende das Denken vergißt, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet" (GA 4\42). Aus Steiners Beispielen wird klar, dass der Gegenstand auch ein fingierter, also rein vorgestellter oder

gedachter sein kann: Steiner verwendet hier die Bezeichnung ,beobachten` also für ,zum Ausgangspunkt nehmen, von woher der Gedankengang seine Orientierung hat', also

für die Wahrnehmung sowie für Problemstellung und Ziel. Ebenso bemerkenswert ist,

dass er nicht sagt, dass der Denkende das Denken gar nicht erfahren kann, dass dieses für sich gleichsam nicht-existent ist, während zun gleichen Zeit der Gedankeninhalt ins Bewusstsein eintritt, sondern: Das Denken vergisst sich fortwährend. Nur dadurch ist die erste Beobachtung, die man machen kann, dass das Denken „das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geistesleben ist" (GA 4\42). Vergessen kann man nur etwas, was man irgendwie weiß. Den Hinweis in dieser Formulierung werden wir noch auszunützen haben.

Steiner führt zunächst die Einheit von Beobachtung und Denken als Grund dafür an, dass man „das gegenwärtige Denken nie beobachten kann" (GA 4\43): „Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht. [ ... ] Das kann ich nicht" (GA 4\43).12 Wenn es

11 Das Phänomen ist jetzt populär geworden unter dem Namen ,flow`, ein vermindertes Selbstbewusstsein während konzentrierter Arbeit. Vgl. M. Csikszentmihalyi, Flow. The Psychology of Optimal Experience,

HarperCollins 199O (holl. Übersetz., Amsterdam 1999)• 12 Fast wörtlich das von Brentano zitierte bekannten Argument von Comte: Psychologie vom empirischen

Standpunkte, heraus. von O. Kraus, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1973, S. 45. Dieses Werk, so rufen wir in Erinnerung, war eine der ersten philosophischen Werke überhaupt, die Steiner als junger Student sich aneignete. Brentano hält es für ein allgemein gültiges Gesetz, dass wir niemals dem Gegenstande der innern Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden vermögen (ebd., S. 4o). Vgl. aber

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nicht nur eine ungeteilte Tätigkeit der Persönlichkeit wäre, die gleichermaßen sich als Denken und Beobachten auslebt, sondern zwei separate, würde gar nicht einleuchten, weshalb es nicht möglich sein soll, beides zugleich zu tun, wie das Bewegen von Armen und von Beinen. Das geistige „Sich-Zusehen" ist aber nichts anderes als die Aktivität des Denkens.

Fernerhin ist scheinbar in dieser Ausführung Steiners alles verloren, was man zu gewinnen hoffte: die Beobachtung des Denkens. Denn wenn man nicht das gegenwär-tige Denken beobachten kann, ist man immer zu spät, um es überhaupt noch irgendwo zu finden,13 und so gerät das alltägliche Bewusstsein beim Aufsuchen des Denkens in Verlegenheit. Der Ausweg, den Steiner bietet, ist die Tatsache, dass man zwar das gegenwärtige Denken nicht beobachten kann, wohl aber „die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe" (GA 4\43).

Was sind die ,Erfahrungen`, die wir über das Denken gemacht haben? Diese werden nicht direkt bestimmt. Stattdessen kehrt Steiner das Problem radikal um. Das Denken ist nicht das unbekannteste, weil unbeobachtete Element unserer Erfahrungswelt. Im Gegenteil: „Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken in seinem jeweilig gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, ist der gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimer erkennen läßt als jeden andern Prozeß der Welt. Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht" (GA 4\44). Das Denken ist sich deswegen das Bestbekannte überhaupt. Ohne dass wir das Denken kennten, gäbe es ja auch keine Erkenntnis (kein Denken) über etwas anderes. Wie sollte es nun unbekannt sein? Weil wir es hervorbringen, ist es uns immer schon bekannt. Das Modell der Fabrikation passt hier nicht, wonach man eine Vorstellung im Geiste erfasst und dann in irgendeinem Material technisch ausführt. Der Text enthält wenige Seiten später eine Digression über Schellings Satz „Die Natur erkennen, heißt die Natur schaffen" (GA 4\48).14 Wollte man wissen, was man zu schaffen habe, damit eben die Natur sei, so müsste man sie bereits vor dem Erschaffen erkennen, hält Steiner entgegen. Aber: „Was bei der Natur unmöglich ist: das Schaffen vor dem Erkennen; beim Denken vollbringen wir es. Wollten wir mit dem Denken warten, bis wir es erkannt haben,

auch Drobisch (1842): „Die absichtliche Selbstbeobachtung ist aber immer keine Beobachtung des gegenwärtigen geistigen Vorgangs, sondern nur eine nachkommende, eine Erinnerung" (S. 141).

13 So auch die Steiner zweifelsohne bekannte Kritik Brentanos (1973) an Thomas Von Aquin. Thomas hält den Verstand nur für fähig, einen einzelnen Gedanken zugleich zu fassen, einen Akt zugleich auszuführen. Das Bewusstsein eines Gedankens kommt als Reflexion auf den vorhergehenden Akt zustande (vgl. Summa theologica, pars 1, quaestio 87), mithin als Erinnerung: „Seltsam aber wäre es gewiß, wenn wir von dem, was, da es gegenwärtig war, von uns unbemerkt geblieben ist, nachher eine Erinnerung haben sollten" (S. 177-178, Anm.). Schon vorher Drobisch, a. a. O.: „Die absichtliche [Selbstbeobachtung] die also durch Willenskraft zu erreichen strebt, was ungesucht nicht statt hat, ist im Grunde ein fortgesetztes Misslingen: denn stets kommt die Beobachtung später als das Geschehen". Frank (1991) schließt aus dieser Tatsache auf die grundsätzliche Unmöglichkeit des Reflexionsmodells (S. 14 und 24).

14 Erster Entwurf eines Systems der Philosophie (1799), sw I,3\5.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 329

dann kämen wir nie dazu" (GA 4\49). Ist Denken also eine blinde Tätigkeit des Subjekts? Vorausgesetzt, es gäbe diese subjektive Spontaneität des Geistes, wie Kant annimmt (KDRV B 75 und A 4o2\B430 ff.),15 dann folgte daraus, dass sie eine eigene, nicht beobachtbare Tätigkeit des Denkens wäre. Dass wir sie am besten kennen, könnte einfach die Folge einer Tautologie darstellen. Das Denken muss man durch das Denken erkennen: „Mein eigenes Denken von einem anderen Standpunkt aus anzusehen, liegt vorläufig nicht die geringste Veranlassung vor. Ich betrachte ja die ganze übrige Welt mit Hilfe des Denkens. Wie sollte ich bei meinem Denken hiervon eine Ausnahme machen?" (GA 4\51) . Alles Erkennen wäre dann, der aufgestellten These nach, bloße Wiederholung dieser Tätigkeit des Denkens, der man also nicht näher kommen könnte, als indem man sie absichtlich noch einmal faktisch ausführte. ,Erkennen` wir das Denken dann eben nur, weil wir es einfach ,tun`? So konnten die Begriffe des Ich und der Tätigkeit eine hypothetisch vorausgesetzte Erklärung bleiben,16 ein Noumenon Kants, ein Begriff, der unzugängliches Reales andeuten sollte, und deshalb eine Konstruktion, die Steiners Auffassung zuwider ist.17

Steiner fährt aber fort in Bezug auf das schaffende Denken: „Wir müssen resolut darauf losdenken, um hinterher mittels der Beobachtung des Selbstgetanen zu seiner Erkenntnis zu kommen" (GA 4\49) . Eine zweite Umstellung: Eine ,Beobachtung des Selbstgetanen' wird jetzt als reale Möglichkeit gesetzt. Nun ist dies entweder der Nor-malfall, und wir oszillieren fortwährend zwischen Tun und Wahrnehmen im Denken (das Beobachten des Denkens wäre dann permanenter Teil des normalen Denkens), oder diese Beobachtung ist exklusiver philosophischer Ausnahmezustand. Dann aber kennten wir im Alltäglichen unser Denken gar nicht. Es gäbe auch keinen bekannten Übergang von dem normalen zum Ausnahmezustand. Falls der Ausnahmezustand das erste Gewahrwerden des Denkens wäre, müssten wir darin ein vergangenes Denken irgendwie zurückholen ins Bewusstsein und in der Tat von „außen" ansehen. Dies ist das klassische Reflexionsmodell (u. a. von Thomas von Aquin). Steiner betont, es gebe keinen Beobachtungsposten außerhalb des Denkens, denn wenn man das Denken tun müsse, damit es da sei, könnten wir es nie passiv entgegennehmen. Wir interpretieren Steiner deshalb mit Neil L. Wilsons ,principle of charity` so, dass er tatsächlich meint,

15 Inzwischen von McDowell rehabilitiert: McDowell (1996), S. 71-72 und 76. 16 Die Analyse des 3. Kapitels der PHDF in Erfahrung des Denkens. Zum Studium der ,Philosophie der

Freiheit'. Band r. Kapitel 1-3 (herausg. von Thomas Kracht mit Beiträgen von [u. a.] K-M. Dietz, D. Rapp und F. Teichmann) dringt nicht bis zu dem Problematischen dieses Punktes vor. Man analysiert den Gedanken Steiners so, dass Steiner über den toten Punkt der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denken hinaus kommt dadurch, dass übergegangen wird auf die Inhaltseite des Denkens. Weil diese in ,durchsichtiger Klarheit' gegeben ist, zeugt sie von der Ich-Tätigkeit (a. a. O., S. 2O6-2O8): „Das vorbewußte Denken bleibt als Tätigkeit unbeobachtet; was ich beobachten kann, sind die Produkte: die Begriffe" (a. a. O., S. 212). Gleicherweise analysiert es Da Veiga Greuel (199O) S. 44.

17 Vgl. dazu GA 4\118 ff. über die ,Realprinzipien`. Die allgemeine Kritik an von Hartmann trifft auch diesen Punkt. Hartmann kritisierte GA 4\46 (in der Beobachtung des Denkens stehen wir unserer eigenen Tätigkeit gegenüber): Wir beobachten nur die Ergebnisse dieser Tätigkeit (Gedanken), nicht diese selbst (GA 4a\357). Vgl. Steiners Antwort in GA 4\55•

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es gebe hinterher Erfahrungen des Denkens, die wir thematisieren oder ,beobachten` (schon rein metaphorisch verstanden)18 können, weil wir uns nie ausschließlich im Objekt verlieren und also tatsächlich im Denken seine Tätigkeit fortwährend wahrneh-men. Wir ,vergessen` nur ständig unsere verschlungenen Denkwege und Operationen, weil wir immer ankommen wollen bei dem Objekt, dem Urteil und Resultat. Nur die-ses Vergessen überwindet man im Ausnahmezustand. Man erwirbt dabei nicht einen imaginären Ausguckposten oder eine völlig neue Fakultät, die sich spontan einstellen sollte. Sie inhäriert im gemeinen Menschenverstand: „Die Fähigkeit [ ... ], das Den-ken zu beobachten [, hat] bei guten Willen [ ... ] jeder normal organisierte Mensch" (GA 4\46). Der Ausnahmezustand ist also Anamnese einer präreflexiven Bekanntheit mit der eigenen Tätigkeit:19 ,Er-Innerung` des Geistes (PHDG 564). Diese Interpretation können wir erhärten durch zwei nahe liegende Quellen: Fichtes ,intellektuelle Anschau-ung` und die Steiner vertraute Analyse dieses Problems in Brentanos Psychologie vom

empirischen Standpunkte (1874). Brentano hat sich mit Comte schon Rechenschaft gegeben, „daß überhaupt keine

gleichzeitige Beobachtung des eigenen Beobachtens oder eines anderen eigenen psychi-schen Aktes möglich ist".20 Wenn dies das letzte Wort darüber sein sollte, so wäre sein ganzes Projekt einer empirischen Psychologie nach innerer Beobachtung ins Schwan-ken geraten. Nun gibt es nach Brentano, wie bei Fichte, die evidente Tatsache, „daß wir uns eines psychischen Phänomens, während es in uns besteht, bewußt sind".21 Nur ist dies ein Bewusstsein ,nebenbei`, wie Aristoteles sagt (Metaphysika XII, 1074b35-37) .22 Der Akt, intentional beschäftigt mit dem primären Objekt, ist sich selber sekundäres Objekt (Brentano).23 Das Bewusstsein ,nebenbei` ermöglicht eine innere ,Wahrneh-mung', die Brentano unterscheidet von der ,Beobachtung`. Die Beobachtung erfordert die volle Aufmerksamkeit; die innere Wahrnehmung nicht. Sie wird erst in der Refle-xion, vermittelt vom Gedächtnis, zum primären, beobachteten Objekt.24 Brentanos

Auseinandersetzung sichert den empirischen Tatbestand.

18 Beobachten ist im Laufe dieser Verhandlung näher bestimmt worden in Wendungen wie ,Vorausset-zung meines Denkprozesses' (GA 4\42), ,zum Objekt des Denkens machen`, ,meine Aufmerksamkeit richten auf (GA 4\43). Vgl. dazu Brentano (1973), S. 41: ,Beobachten` (im Gegensatz zum passiven ,Wahrnehmen`) ist seine volle Aufmerksamkeit etwas zuwenden.

19 Der Unterscheid von reflexivem und präreflexivem Selbstbewusstsein ist namentlich durch D. Henrichs Fichtes ursprüngliche Einsicht (Frankfurt a. M. 1967) wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Damit verbinden sich die phänomenologischen Analysen Sartres über die Präreflexivität (,die unmittelbare Vertrautheit mit sich') und die analytischen R. Chisholms in Nachfolge Brentanos. Diese Entwickung ist eingehend beschrieben worden in Frank (1991) und mit weitgehend gleichem Resultat von K. Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritik und systematische Entwürfe zur knkreten Subjektivität, Mün-

chen 1997. 2O Brentano (1973), S. 181. Vgl. unsere Anm. 12 und 13.

21 Ebd., S. 176. 22 Kant behauptet auch nur, dass die Vorstellung ,Ich Denke` alle anderen Vorstellungen „begleite" (KDRV

B 132).

23 Brentano (1973), S. 18o und 185. 24 Ebd., S. 48-49 und 18O-181. Da Veiga Greuel (199O), S. 44, Anm. 16, hat mit Recht auf Brentanos Unter-

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 331

Fichtes Schritt über Kant hinaus war, dass er die ursprüngliche Einheit der Apper-zeption als transparente Selbstanschauung des tätigen Ich deutete. Fasslicher als in der L 1794 beschreibt Fichte die intellektuelle Anschauung in Versuch einer neuen Dar-stellung der Wissenschaftslehre (1797/1798), der Steiner den Vorzug gibt vor der direkt abstrahierenden Reflexion der L, weil der Versuch den Weg der Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung darstellt (GA 3\72 und 76).25 Solange man im Selbstbewusst-sein das denkende Ich von dem im Denken gedachten Ich trennt, ist, nach Fichte, etwas wie Bewusstsein überhaupt unverständlich. Falls das objektivierende Denken nur im Nachhinein das Denken (Subjekt) als Objekt erfasst, ergibt sich eine unendliche Progression, die sich nicht nur nie abschließt, sondern auch zum ersten denkenden Bewusstsein nicht durchdringen kann.26 Das Bewusstseins des Denkens ist aber, der Erfahrung nach, unmittelbar: „Das Bewußtsein meines Denkens ist meinem Denken nicht etwa ein Zufälliges, erst hinterher Dazugesetztes, und damit Verknüpftes, sondern es ist von ihm unabtrennlich."27 Die Tätigkeit des Denkens beugt sich immer zugleich zurück auf sich: „Deine innere Tätigkeit, die auf etwas außer ihr (auf das Objekt des Denkens) geht, geht zugleich in sich selbst, und auf sich selbst. Aber durch die in sich zurückgehende Tätigkeit entsteht uns, nach Obigem, das Ich."28 Weil sie unmittelbares Bewußtsein ist, nennt Fichte sie eine ,Anschauung`, aber sie ist zugleich ein tätiges ,Setzen`.29 Das Ich ist kein ,anschauendes Ding', sondern eben nur diese Anschauung; kein Subjekt, sondern Subjekt-Objekt.30 Fasst man Subjekt und Objekt nicht ursprüng-lich vereint im Selbstbewusstsein, so ist jede Erklärung des Bewusstseins vergebens.31

Die Objektivität ist im Allgemeinen eine Hemmung der Freiheit des Denkens: „Ich werde gehalten durch diese Sphäre, und durch sie beschränkt, wenn ich nur auf das Objekt sehe, und im Denken desselben mein Denken selbst vergesse."32 Das Denken, andererseits, ist „Agilität, innere Bewegung". Im Bemerken dieser Tätigkeit, wenigstens in Fichtes Beschreibung derselben, soll „nur an die in jedem notwendig vorhandene Anschauung lebendiger erinnert werden"33. Hier bei Fichte finden wir also die Grund-

schied von innerer Wahrnehmung und Beobachtung hingewiesen, obwohl er es dabei bewenden lässt. Husserl hat diese Art des Bewusstseins eingehender analysiert, indem er die ,nebenbei` zu thematisie-rende Bewusstheit direkt auf der inneren Zeitkonstitution fundiert. Das präreflexieve Selbstbewusstsein ist ,inneres Bewusstsein' überhaupt, das sich in ,Längsintentionalität` erfasst. Siehe dazu D. Zahavi, Brentano and Husserl on Self-Awareness, in: Études phénomenologiques, Nr. 27-28,1998, S. 127-168.

25 Schon B. Kallert hat auf die Übereinstimmung von diesem Traktat Fichtes mit Steiners ,Beobachtung des Denkens' hingewiesen, in; Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners. Der Erkenntnisbegriff des objektiven Idealismus, Diss. Univ. Erlangen 1941, 1. Aufl. Stuttgart 196o, S. 73.

26 Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/1798), S. 1O6. 27 A. a. O., S. 1o7. 28 A. a. O., S. 1o8. 29 Ebd. 3o A. a. O., S. 1O9. 31 A. a. O., S. io8. 32 A. a. O., S. 73. 33 A. a. O., S. 111 (Hervorhebung von mir, J.S.).

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elemente von Steiners Analyse schon beisammen: das Denken als Tätigkeit eines Ich, das Selbstbewusstsein als ein unmittelbares Mitanschauen dieser Tätigkeit, das stän-dige Vergessen derselben im gegenständlichen Denken und das Erinnern an sie in der philosophischen Reflexion. Diese Quelle war für Steiner wahrscheinlich mindestens so wichtig wie Brentano.34

Die Tätigkeit im Denken, das Willenshafte im Denken, steuert auf das jeweilige Problem hin, setzt und verstellt die möglichen Begriffskombinationen, aber ist in Bezug auf ihre Resultate, d. h. die wahren Urteile eher rezeptiv. Sie bestimmt nach Gründen: „Warum für meine Beobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst" (GA 4\44). Der Inhalt des Urteils hat keine materiellen oder psychischen Ursachen, sondern nur einen ideellen Grund, warum es richtig und deshalb vollzogen ist.35 Paradox formuliert, meint Steiner, dass wir unsere Urteile erst vollziehen nach der Berücksichtingung von Gründen, also nachdem wir geurteilt haben, während urteilen andererseits doch nichts anderes sein

34 Da Veiga Greuel (199o) hebt, trotzdem es gerade hier, bei dem empirischen Selbstbewusstsein, Berüh-rungspunkte gibt zwischen Steiner und Fichte, eher die Differenz beider hervor: Steiners Begriff der Beobachtung des Denkens sei rein empirisch, gehe aus der Selbstbeobachtung hervor, während der erste Grundsatz bei Fichte transzendental sei, und deshalb die Tathandlung Fichtes außerhalb aller Erfahrung stehe (u. a. S. 37-38,5O-51 und 65). Er kommt dann auch nicht umhin Steiner zu tadeln, dass er Fichtes Tathandlung im Sinne des individuellen Selbstbewusstseins interpretiert (a. a. O., S. 38). Dar-über ist zu sagen, dass als Prinzip die Tathandlung (,das Ich setzt sich selbst`) zwar nicht unmittelbare Tatsache des Bewusstseins ist, aber für Steiner war interessant, dass Fichte sicherlich darin auch ein Strukturmerkmal des empirischen Selbstbewusstseins erblickte. Die L ist die reine a priori Form der Vernunft; Realität und Gehalt bekommt sie durch die Erfahrung (L 171-172). Der erste Grundsatz wird in der L durch Reflexion und Abstraktion gewonnen aus Tatsachen des empirischen Bewusstseins (a. a. O. 11 und 12). Nachdem alle Widersprüche des ersten Lehrsatzes des theoretischen Teils gehoben sind, überlegt Fichte: „nun soll aber der unsrer Untersuchung an die Spitze gestellte Satz wahr sein, d. i., es soll ihm in unserm Geiste etwas korrespondieren" (L 139). Ab diesem Moment werden die Gegenstände der Reflexion in der L nicht mehr a priori hervorgebracht, sondern „bloß zum Bewußt-sein gehoben" und wird die L „eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" (L 141). So wird reflektiert auf die Anschauung, den Verstand, die Urteilskraft und zuletzt auch die Vernunft. Sie ist das Vermögen der absoluten Abstraktion (L 162), oder die Bestimmung des Ich durch die absolute Abstraktion vom Objekte (L 163), und die Quelle alles Selbstbewusstsein („Je mehreres ein bestimmtes Individuum sich wegdenken kann, desto mehr nähert sein empirisches Selbstbewußtsein dem reinen"; L 163). Wir sind zurückgelangt zu der anfänglichen Tatsache des Selbstbewusstseins. Dieser Weg der Abstraktion folgt Fichte auch im Versuch einer neuen Darstellung. Es gibt kein unmit-telbares, isoliertes Bewusstsein der intellektuellen Anschauung. Sie inhäreriert, zusammengewachsen mit dem gegenständlichen Bewusstsein, in der Form des Selbstbewusstseins im gemeinen Bewusstsein (Fichte (1975), S. 46). Vgl. K. Schuhmann, Die Grundlage der Wissenschafslehre in ihrem Umrisse. Zu Fichtes ,Wissenschaftslehren` vn 1794 und 1810 (Den Haag 1968), über die ,Erfahrung der Freiheit' als Grundpunkt der L (S. 56-6o). Auch dazu D. Henrich (1967).

35 Grund und Urteil können natürlich verfehlt sein. Das Beispiel von den Begriffen ,Blitz` und ,Donner` zeigt, dass das Verhältnis, die Verbindung, beider im Urteil vollzogen wird wegen der Überzeugung eines inhaltlichen Zusammenhangs.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 333

soll als unmittelbares Einsehen eines Begriffszusammenhanges aus sich selbst: „Der Zusammenhang derer [der Begriffe], die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst" (GA 4\44). Der Begriff ist nach Hegel „sich selbst durchsichtige Klarheit" (wDL II\251). Steiner spricht hier gleichfalls von einer „durchsichtigen Klarheit" des Denkens

(GA 4\44). Das Charakteristische, das so fremd anmutet, ist das Ineinander von tätigem Den-

ken und ideellem Anschauen,36 sogar Mitanschauen der Tätigkeit: Man weiß, was man denken will, was man sucht, urteilt und geurteilt hat; „beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird" (GA 4\50) . Im Anhang von 1918 hat Steiner diese Einheit von bewegender Tätigkeit und ruhigem Überblick im Denken nochmals formuliert: „Mag das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, daß dieses gewollt wird: es kommt darauf an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem ,Ich` nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint" (GA 4\55). Restlos überschaubar ist sein Tun für das Ich: Ich weiß, was ich gedacht habe, und kann es genau so wieder vollziehen, weil ich das Wie meines Gedankenganges kenne. Die Tätigkeit kommt in den zusammenhängenden Begriffen zur Ruhe und erhält von ihnen die Überschaubarkeit. Das Denken selber ist Beobachten des Ideellen (weshalb Steiner es in GA 3\55 ,intellektuelle Anschauung` nennt; vgl. § 8.3) und das Beobachten auch ein Denken: „Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt" (GA 4\43); also der Gegenstand des Beob-

achtens ist Objekt des Denkens. Beides geht offensichtlich ohne weiteres ineinander über, denn: „Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung" (GA 4\43); in ,denkende Betrachtung` wird ,denken` zum Adjektiv des Substantivs ,Betrachtung`. ,Betrachten` ist mehr als bloß ,Beobachten`, nämlich qualifizierte Beobachtung. Zuletzt wird die Aufmerksamkeit mit dem Denken gleichgestellt in den nächsten zwei Sätzen: „Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Auf-merksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe" (GA 4\43). Das Nicht-Hervorgebrachte war aber Objekt der Beobachtung, d. h., ,meine Aufmerksamkeit war darauf gerichtet`. Dieses Richten wird nun ebensosehr als ein ,Denken` angesprochen: ein ,Sehen auf das Objekt des Denkens'. Entweder Steiner wirft alle Bestimmungen durcheinander, oder die innere Dynamik seiner Begriffe beabsichtigt, die Einheit schrittweise hervortreten zu lassen. Eben weil es keinen wesentlichen Unterschied gibt zwischen Denken und Beobachten, sondern nur einen der Richtung (aus sich bzw. in sich gehen), kann der Akt des Verbindens im Den-ken als ein ,Sich-richten-auf beschrieben werden und diese Aktivität der Beobachtung zugänglich sein (Beobachten der inneren Beobachtung): „Meine Beobachtung ergibt,

36 Zugleich Bewegung und Ruhe, wie Hegel bildlich sagte: „Das Wahre ist der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar sich auflöst — ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe" (PHDG 39)•

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334 KAPITEL IX

daß für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken" (GA 4\45).

Das diaphane Denken liegt einfach zu nahe, als dass man es sich objektiv vorstellen könnte.37 Man bemerkt weder den Widerstand des Gegenstandes noch dessen übliche Opazität,38 wegen der Gleichheit von Denken und seinem Objekt: „Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet" (GA 4\50) .39 Steiner argumentiert, es könne deshalb auch keinen Unterschied zwischen einem ,Denken an sich` und einem ,Denken für uns' geben, als wüssten wir nicht, wie das Denken eigentlich vor sich geht, da unser Bewusstsein nur bis zu dem begrifflichen Resultat reicht.40 Es gibt aber nur ein, und zwar ein phänomenales Denken. Der Zugang zu einem ,Denken an sich` hinter dem phänomenalen Denken wäre uns verpönt, und demgemäß wäre ein solches widersprüchlich wie das ,Ding an sich'. Es gibt für uns also nur ein einzelnes Denken im Bewusstsein, dem wir gar nicht „entschlüpfen" können, um es von außen zu betrachten: „Ich kann aus dem Denken gar nicht herauskommen, wenn ich das Denken betrachten will" (GA 4\50). Das heißt auch nichts anderes als: Ich kann aus mir, aus meinem Ich, nicht heraus. Mit dem Denken ist das Ich völlig eins. Das andere tritt an es heran, während „nur in der Betätigung des Denkens das ,Ich` bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß" (GA 4\54).

Deshalb kulminiert das Kapitel über das Denken in den Sätzen: „Im Denken haben wir ein Prinzip, das durch sich selbst besteht. Von hier aus sei es versucht, die Welt zu begreifen. Das Denken können wir durch es selbst erfassen. Die Frage ist nur, ob wir durch dasselbe auch noch etwas anderes ergreifen können." (GA 4\51). Das „absolut Letzte" in der Welt ist — allerdings wenn wir mit dem Erkennen anfangen — das Denken.

37 Bekannt ist die Erwiderung Tugendhats „Versuchen Sie das einmal, in sich zu schauen. Ist das nicht eine unangemessene Metapher, so als könnten wir unseren Blick, der nach außen gerichtet ist, in einer sogenannten Reflexion auch nach innen wenden. Also ich für meinen Teil kann da gar nichts sehen" in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1979, S. 16, zit. in Frank (1991), S. 2O7. Die Metapher wird natürlich falsch ausgelegt, als ob man das Sehen der Augen nach innen wenden sollte, was ja unmöglich ist. Die Metapher des ,inneren Auges' dagegen macht schon über zweitausend Jahre guten Sinn. Sich etwas rein imaginäres vorstellen ist eine Art inneren Sehens. Das reine Denken kann man „wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches inneres Anschauen nennen" (wDL II\553).

38 Vgl. Spiegelbergs Phänomenologie der Realität in Doing Phenomenology. Essays on and in Phenomeno-logy, Den Haag 1975, S. 13O-149. Er will Husserls allgemeine phänomenologische Reduktion ergänzen durch eine phänomenologische Analyse des Phänomens der Realitität (S. 138-144). Die Kriterien der Realität sind u. a. Gegebenheit, Dimensioniertheit, Unabhängigkeit, Widerstandsfähigkeit (S. 146-149). Dergleichen objektivierende phänomenale Eigenschaften sind dem Denken fremd: Es ist nicht gege-ben, ohne sich verlierende Tiefe alles auf einmal, widerstandslos dem Subjekt zur Verfügung usw. Als ,Objekt` im üblichen Sinn sehen wir wohl daran vorbei.

39 Richten auf und ,Beobachten` sind also wieder dasselbe, und dasselbe wie auch das Tun im Denken, was wir gerade in unserer Auslegung voraussetzten.

4O Die Argumentation ist gerichtet gegen Hartmann, der in Die Philosophie des Unbewußten das Denken für eine unbewusste Tätigkeit hält. Vgl. oben Anm. 17 und § 5.3.4.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 335

Es soll bei diesem Letzten (an sich) als Erstes (für uns), „als das Nächste, als das Intimste" (GA 4\53) der Anfang einer Philosophie gemacht werden.41

Eine dialektische Doppelstruktur liegt dem Kapitel also zugrunde. Das Denken gilt als prinzipiell unbeobachtetes Element, da es — als ungeteilte Tätigkeit — sich nicht reflektieren kann, aber die Eigenart der Tätigkeit macht es zugleich zum fortwährend mitangeschauten, reflektierten Prozess: Es konstituiert Bewusstsein überhaupt nur, solange es aktiv denkt und während dieses Denkens seiner Tätigkeit gewahr ist, also sich nicht unbewusst verhält.42 Die Gerichtetheit auf den Gegenstand bedingt aber, dass das Denken sich ständig ,vergisst`. In dem Ausnahmezustand bringt man zum Bewusstsein, „was sonst unbewußt bleibt" (GA 4\45) , oder besser: nahezu unbewusst bleibt.

Den Grund dieses Widerspruches zwischen Unbeobachtbarkeit und Unmittelbar-keit sehen wir darin, dass Denken und Beobachtung zwar bei Steiner einen unumgäng-lichen Gegensatz bilden, aber zugleich — unausgesprochen — nur eine Tätigkeit sind: die Aufmerksamkeit auf Ideelles, das Hervorbringen eines ideellen Beobachtungsobjektes. Wenn die ,denkende Betrachtung' (GA 4\50) sich nach außen wendet, findet sie den Gegenstand (inklusive seiner ideellen Struktur) vor; reflektiert sie hingegen sich in sich, so bringt sie ihn als Begriff aktiv hervor.43 Grundfrage ist daher, wie das Denken eigentlich überhaupt dazu kommen kann, zugleich in sich und außer sich zu sein. Wie ist ihm eine Welt „gegeben"? Dieser Frage ist das nächste Kapitel der Philosophie der

Freiheit gewidmet.

41 Die Dialektik vom ,Ersten` und ,Letzten` wird Steiner noch weiterführen. Zum Vergleich: Steiners Erstes ist unterschieden vom Letzten der PHDG (der sich wissende Geist, der im Wissen seine Gestalten ablegt und unmittelbar Begriff ist) und Ersten der L (die voraussetzungslose Freiheit des Sichselbstsetzens). Es ist das sich ergreifende Denken (nicht Begriff), das noch der näheren Bestimmung seiner Subjektivität (Freiheit) harrt.

42 So ist im 3. Kapitel eine Umkehr: Die Polarität von Beobachtung und Denken, die des Denkens zum Unbeobachteten, ist verkehrt in eine Synthese: Kracht et al. (1996), S. 217. Aber der Grund dieser „höheren Synthese im Ich" (ebd.) lässt sich präziser bestimmen.

43 Vgl. H. Witzenmann über den Zusammenhang von Denken und Beobachten: „Mann nennt die zu einem Innewerden führende, sich zuwendende Aktivität Beobachtung. Im Falle der reinen, nicht individualisierten Begriffe geht die Beobachtung in Evidenz über"—W. meint hier also das Denken — „Im Falle des Nichtbegrifflich-Wahrnehmlichen bleibt sie nicht übergehende, vor dem Inevidenten stehenbleibende Beobachtung. [ ... ] Die Art der Beobachtung, also die Beobachtung der Beobachtung gibt hierüber Aufschluß: man kann jene beiden Elemente durch die Verschiedenheit der auf sie bezogenen Beobachtung unterscheiden", in: Strukturphänomenologie. Vorbewußtes Gestaltbilden im erkennenden Wirklichkeitsenthüllen. Ein neues wissenschaftstheoretisches Knzept im Anschluß an die Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners, Dornach 1983, S. 42-43. Wir lehnen das allzu schroffe Kriterium der Evidenz ab. Das dem Denken entgegengesetzte Beobachten findet zwar zunächst das Inevidente vor, schließt es aber im ,Wahrnehmungsurteil` mit dem Evidenten zusammen. Die Zusammengehörigkeit beider hat keinen weiteren Grund. Sie ist, und muss, selber evident, oder jedenfalls aus sich ,klar` und ersichtlich sein. Die Beobachtung „prallt" daher nicht vom Inevidenten, Nicht-Begifflichen „ab" (ebd.,

S. 53-54), sondern verweilt bei ihm — gerade dadurch fordert sie das Denken heraus (GA 4\58-59) — und findet den zugehörigen unter den vom Denken produzierten Begriffen: Sie durchdringt also das Unmittelbare in der Art des Denkens (gleitet nicht ab wie ein ,bloßes`, blindes Sehen).

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336 KAPITEL IX

Bisher sagt Steiner nur gemäß der allgemeinen Erfahrung: ,ich denke, ,wir denken', ,ich beobachte und ,wir beobachten'. Das Denken ist ziemlich deutlich eine Aktivi-tät, aber nicht weniger hat die Beobachtung ein aktives Element in sich, da Steiner sie als ,Aufmerksamkeit` bezeichnet (GA 4\43). Die Beobachtung kann sich auf diesen oder jenen Gegenstand richten. Das Entscheidende war bis jetzt, dass die subjektive Tätigkeit durchsichtig ist. Das Denken vollzieht keine Verrichtungen an den Begrif-fen, die ihm selber nicht zugleich begrifflich zugänglich wären: „Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst frem-den Gegenstand gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen" (GA 4\46). Damit ist implizit schon gesetzt, dass die subjektive Tätigkeit sich zu einer allgemeinen erhebt (dieses jedenfalls anstrebt). Steiner wechselt nun die Perspektive und beurteilt das Phänomen des Den-kens und Beobachtens nur noch von ihrem Inhalt her: Der Gedankengang führt von der Selbstwahrnehmung (Selbstbeobachtung) zur begrifflichen Selbstbestimmung. Der ganze Prozess soll die Entwicklung des Selbstbewusstseins darstellen (GA 4\60).

§ 9.4. Bewusstsein und Wahrnehmung (Kap. iv)

Kapitel Iv beginnt deshalb mit einem nur scheinbaren Nachtrag, dass aus dem Den-ken Begriffe und Ideen entstehen, nicht aus der Beobachtung (GA 4\57-58), dass die Beobachtung das Denken herausfordere, dieses aber über jene hinausgeht (GA 4\59), die Begriffe nicht vereinzelt dastehen, sondern sich zusammenschließen zu einem geschlos-senen Begriffssystem44 und dass sie so die einzelnen Beobachtungen vereinen zu einer Gesamtheit (GA 4\57-59). Nun betont Steiner, dass er vom Denken als Erstem gespro-chen hat und nicht vom Begriff (GA 4\57-58). Dann „ist es am Platze, von dem Denken auf das denkende Wesen überzugehen" (GA 4\59). Das Subjekt wird definiert durch die Verbindung von Denken mit der Beobachtung: „Das menschliche Bewußtsein ist der Schauplatz, wo Begriff und Beobachtung einander begegnen und wo sie mitein-ander verknüpft werden" (GA 4\59). Das heißt bei Steiner aber nicht, dass das Subjekt selbstverständlich das Zugrundeliegende der zwei subjektiven Funktionen sei, sondern dass das Wesen nur Vermittler zwischen beiden objektiven Inhalten ist (GA 4\59) . Das Subjekt nistet sich in der Spalte zwischen Begriff und Beobachtung ein. Nicht dass das Zusammenfinden von einem Begriff mit dem beobachteten Gegenstand folglich eine rein subjektive Sache wäre. Im Begriff spricht sich für Steiner ja das Wesen des Gegenstandes aus. Es wäre dies alles trivial, wenn nicht diese vermittelnde Tätigkeit des Denkens für Steiner eine universelle und gar keine subjektive sein würde (wie sich noch zeigen wird). Subjektiv ist vielmehr der Trieb nach Erkenntnis (der Antrieb zum Denken aus der Beobachtung) oder das Sichzufriedengeben mit der Beobachtung (GA 4\27, 36 und 59). Die Vermittlung des Subjekts ist a) möglich durch den objektiven

44 Hier wird ein Kategoriensystem wie in Hegels Logik und seinem Grundriss einer Enzyklopädie gefordert.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 337

Gehalt von Beobachtung und Denken; b) wirklich durch eine vermittelnde universelle Tätigkeit, die nicht nur als reines Denken in der Gesetzmäßigkeit der Begriffe aufgeht; c) notwendig aufgrund unserer subjektiven Organisation, wie Steiner sie auffasst (siehe dazu § 9.8) .

Hier ist der systematische Ort, wo Steiner die Begriffe Subjekt und Objekt erstmals einführt. Dabei wird schon klarer im Text, wie Denken und Beobachtung zwei Seiten derselben Sache sind. Der Mensch „betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weil er sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewußtsein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet, hat er Bewußtsein seiner selbst oder Selbstbewusstsein [ ... I . Denn wenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstande" (GA 4\6o) . Es hätte scheinbar lauten können: Weil der Mensch beobachtet, hat er Bewusstsein vom Objekt, wenn er seine Tätigkeit beobachtet, so hat er Bewusstsein von sich, dem Subjekt. Das ,Bewusstsein` ist angeblich nur eine direkte Erkenntnis. Die Bestimmung zum Objekt ist eine begriffliche Tätigkeit, mithin „richtet das Denken sich auf die Beobachtung", werden Denken und Beobachten in der Richtung der Beobachtung vermittelt (A). Wenn wir das Denken auf die Tätigkeit der Beobachtung lenken, finden wir in der entgegennehmenden Beobachtung nicht das Subjekt, denn Beobachten ist eine Art ,Entäußerung des Selbst'. Das Selbst findet sich im eigenen Element, in dem auf sich zurückgehenden Denken: Nur das Denken beobachtet sich. Denken und Beobachtung werden hier von Steiner also vermittelt in der Richtung des Denkens (B) . Vom Denken aus, fügen wir hinzu, muss das Subjekt die Tätigkeit des Beobachtens ausführen, sonst wäre diese nicht unsere eigene (nur der Gegenstand ist ohne unser Zutun da, nicht die Aufmerksamkeit, unser ,gerichteter Blick`). Die ureigene subjektive Tätigkeit ist im Denken, aber nur in der Form, dass das Denken Beobachtung voraussetzt (A/B). Dadurch ist es nicht ein sich selbst genügendes, in sich gekehrtes Denken, sondern „das menschliche Bewusstsein", ein vermittelndes

(GA 4\59). „Nun darf nicht übersehen werden, daß wir uns nur mit Hilfe des Denkens als

Subjekt bestimmen und uns den Objekten entgegensetzen können. Deshalb darf das Denken niemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefaßt werden" (GA 4\60). Es ist bis jetzt der Inhalt des Denkens gewesen, mit dem wir die Beobachtungen an unserem Erkennen gemacht haben. Es wäre kontradiktorisch zu dieser Voraussetzung, wenn dieses jetzt als ,bloß` Subjektives herabgestempelt würde. So wäre die Bestimmung als Subjekt selber subjektiv, nicht aus der Sache, sondern nach unserem subjektiven Maß bestimmt (die Subjektivität ist selber subjektiver Schein). Das Denken konnte sich selbst erfassen, nicht weil es subjektiv war wegen seiner Transparenz und Aufgeschlossenheit („wir wissen, wie es gemacht wird, weil wir es selber tun", heißt für Steiner nicht, seine Subjektivität werde an ihr selbst gemessen), sondern: Das Erkennen hat (idealiter) ein objektives Wissen von sich selber. Es gibt im Denken prinzipiell nichts Unverborgenes, da wir unsere Tätigkeit gar nicht entziehen können. „Meine Beobachtung ergibt, daß für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der

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338 KAPITEL IX

Inhalt meiner Gedanken" (GA 4\45). Das ,Was` der Tätigkeit ist bestimmt durch das Objekt, nicht durch das Subjekt. Nur das ,Dass` und vielleicht das ,Wie` entspringen dem tätigen Subjekt. Wenn wir imstande sind, uns nach dem Inhalt zu richten,45 kann unsere Tätigkeit schon keine rein subjektive sein. Diesen Schritt macht Steiner ohne Vorbehalt. Den Inhalt einzubeziehen in die denkende Tätigkeit, unterstellt, dass die Tätigkeit über sich selbst hinauszureichen vermag. Die Tätigkeit ist ihrer Wesenheit nach dasselbe wie ein Beobachten, ein Zusammengehen mit einem objektiven Inhalt. Der Inhalt im Denken ist ein anderer als bei der normalen Beobachtung: nicht der Gegenstand, sondern der reine Begriff. Der Begriff ist selber Bewegung, ein Teilen und Verbinden, ein Sich-Gliedern und Beziehen. Wir machen jedenfalls diese Voraussetzung, dass Tätigkeit und Begriff bei Steiner keine endgültige Dualität sind. Nur deshalb macht es Sinn, dass Steiner hier ohne weiteres das Verhältnis von Subjekt und Denken neu bestimmt: „Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. Die Tätigkeit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist also keine bloß subjektive, sondern eine solche, die weder subjektiv noch objektiv ist, eine über diese beide hinausgehende. Ich darf niemals sagen, daß mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden" (GA 4\60). Die Tätigkeit ist in Potenz mit dem Inhalt mitgegeben. Wir sollen sie nur aktualisieren.46

Das ist nur denkbar, wenn der Begriff in sich dynamisch aufgefasst wird. Vergleiche dazu ferner §§ 4.2.2 und 7.3.7.

Vom Denken aus greift diese Eigendynamik des Ideellen auch auf das Beobachten über: „Wenn wir als denkendes Subjekt also den Begriff auf ein Objekt beziehen, so dürfen wir diese Beziehung nicht als etwas bloß Subjektives auffassen. Nicht das Subjekt ist es, welches die Beziehung herbeiführt, sondern das Denken" (GA 4\60) . Die Bestimmung eines Gegenstandes ist, diesem Ausspruch nach, nicht subjektive Tat, sondern subjektive Aktualisierung einer inhaltlichen Beziehung (Bestimmung), die den Gegenstand konstituiert. So schließt das Denken durch das Subjekt hindurch den Begriff mit dem Objekt zusammen. Da die eigene Aktivität im Denken das Selbstbewusstsein bewirkt, ist das Denken „somit ein Element, das mich über mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet. Aber es trennt mich zugleich von ihnen, indem es mich ihnen als Subjekt gegenüberstellt" (GA 4\6o). Es ist widersprüchlich, dass das Denken seine ureigenste Wesenheit beobachtet im Selbstbewusstsein, während diese Tätigkeit des Denkens sich zugleich bestimmen muss als Transsubjektives, das von dem objektiven Inhalt unterhalten wird. Das Denken verbindet uns mit der Welt,

45 Steiner wird hier wohl nicht so auszulegen sein, dass wir uns deshalb nie irren könnten, nie Urteile aussprechen könnten, die wir nicht rein aus den Begriffen entwickelt haben. Sonst wäre das einfachste Beispiel eines unrichtigen Urteils oder einer unverständlichen oder unwahren Aussage ausreichende Widerlegung seiner Theorie. Sie gilt offenbar dem wesenhaften Denken.

46 Gleicherweise ist die Sprache allgemein. Ich individualisiere sie, indem ich spreche. Dadurch sind die gesprochenen Worte nicht etwas Subjektives, obgleich die Auswahl und die Zusammenstellung meiner Rede subjektiv sind. Die Grundfigur, dass der Geist zugleich allgemein und individuell sei, ist ein Kerngedanke von Hegel (z. B. PHDG 555).

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 339

während es zugleich ein Selbst im Menschen bildet.47 Im Denken selber gründet diese „Doppelnatur des Menschen" (GA 4\60-61).

Die Frage, wie Begriffe und Ideen in unser Bewusstsein kommen, ist damit angeblich gänzlich beantwortet: Das Bewusstsein emergiert, während die konstitutiven Elemente von Begriff und Beobachtung vom Denken vermittelt werden. Das Bewusstsein holt ihren Inhalt nicht von außen herein, sondern entsteht selber zwischen den objektiven Momenten. Es ist also wesentlich Beziehung und deshalb nicht minder real als z. B. das Licht (vgl. Steiners Kritik an Brentano in § 2.18 und ferner § 4.3.4)

Steiner wendet sich der nächsten Frage zu: Wie kommt das Beobachtungsobjekt ins Bewusstsein (GA 4\61)? Steiners Argumentation gegen die kausale Vorstellung, dass die Empfindung von dem Objekt physikalisch oder auf vergleichbare Weise bewirkt wird, haben wir in §§ 3.3.8 und 3.3.10 schon analysiert. Jetzt interessiert uns von der Darstel-lung in PHDF hier noch die Konklusion, dass wir vergebens wahrzunehmen versuchen, wie die Wahrnehmung aus dem Unwahrnehmbaren hervorgeht48 (GA 4\98). Es ist eine unstatthafte Verdoppelung, die das Beobachtungsobjekt einmal bestehen lässt in der Außenwelt (Ursache: das Objekt als Ding in der Welt) und einmal in der Innenwelt (Wirkung: das Objekt als Vorstellung) .49 Man kann konstatieren, dass die Wahrneh-mung abhängt von unserem Beobachtungstandort, qualitativ von unserer subjektiven Organisation (GA 4\64-65). Hinter die unmittelbare Wahrnehmung können wir aber nicht zurückgehen. Alle Bezüge zwischen Objekt und Subjekt sind nur gedanklicher Art, wie überall sonst zwischen Elementen der Wahrnehmungswelt (GA 4\98-100). Die Vorstellung ist zunächst nur das Bild, das in der Innenwelt zurückbleibt als Rückstand von dem Objekt (Erinnerungsbild). Die Vorstellung ist also sekundär. Es wäre ein Ver-kennen der Bewusstseinsstruktur, das Objekt auf die Vorstellung einzuschränken. Die Vorstellung ist schon Folge der Wechselwirkung von Objekt und Subjekt. Die Vorstel-lungswelt eines Subjekts wächst mit seinen Erfahrungen. Es verfügt über sie mit dem Denken. Wir wissen, wie das Denken zustande kommt, denn wir bringen es selbst her-vor. Die Vorstellung ist dagegen herleitbar aus unseren Wahrnehmungen. Wir können nicht gleicherweise die Wahrnehmung von dem Unwahrnehmbaren herleiten.50

47 Die Vermittlung liegt also in der Natur des der Welt ausgesetzten Denkens und ist nicht mehr rein passiver ,Schauplatz` einer Synthese, wie es etwas irreführend hieß (GA 4\59). Dies hat Hartmann völlig übersehen, als er diese Stelle kritisierte: „Richtig, aber auf diesem Schauplatz geht auch noch vieles andere vor sich; also ist diese keine erschöpfende Definition, sondern leitet irre, wenn sie dafür gehalten wird" (GA 4a\359). Im Gegenteil, wenn Denken eine unbewusste Tätigkeit ist (Hartmann), wieso gibt es daneben noch etwas wie ein Bewusstsein? Wer/was ist da zum Sehen bestellt?

48 Die unmittelbare Empfindungsobjekte sollen ,Wahrnehmungen` heißen (GA 4\62). Das Wahrnehmen ist somit die unmittelbare Beobachtung.

49 Hartmann schließt aus der Richtigkeit von Steiners Zirkel-Argument, man solle daher auf jede Kau-salvorstellung verzichten. Ding an sich und Organismus sind beide unbekannt (so Kant); GA 4a\361. Er übersieht dabei die Pointe, dass der Anlass von dem äußeren Ding und der organischen Reaktion radikal hinfällig wird, womit der Grund zum Transzendentalismus ganz entfällt.

5o Etwas anderes ist der Aufbau eines Komplexes aus Einzelwahrnehmungen, die Synthesis innerhalb der Erfahrung.

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340 KAPITEL IX

§ 9.5. Das Erkennen (Kap. y)

Steiner nimmt in Kapitel y einen neuen Perspektivenwechsel vor. Wir sollten uns sel-ber und unser Erkennen mit Hilfe des Denkens als Ergebnis des Weltprozesses (der Evolution) betrachten: „Stellet die Pflanze euch selbst gegenüber. Sie verbindet sich in euerer Seele mit einem bestimmten Begriffe. Warum gehört dieser Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Blüte? [ ... ] Auch Blüten und Blätter entstehen an der Pflanze nur, wenn Erde da ist [ ... ] , wenn Licht und Luft da sind. [ ... ] Gerade so entsteht der Begriff der Pflanze, wenn ein denkendes Bewußtsein an die Pflanze her-antritt" (GA 4\86). Steiner setzt die Aktualisierung der Tätigkeit des Denkens hier als akzidentelles Moment herab. Die Subjektivität erscheint als eine äußere Bedingung für das Entstehen der Erkenntnis. Sie bestimmt den Inhalt nicht. Wie oben erwähnt, führt der universelle Inhalt im Denken die Beziehung zum Gegenstand herbei. Nicht nur der Begriff, das Denken als solches ist allgemein: „Unser Denken ist nicht individuell wie unser Empfinden und Fühlen. Es ist universell. [ ... ] Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen, eine Kraft, die universell ist" (GA 4\90-91). Etwas weniger behutsam gesagt: Denken ist realer ,Geist`. Es hat sich die Perspektive so erwei-tert und invertiert, dass wir schließen können: Die Welt ist eine Einheit und eine in sich geschlossene Ganzheit, in der alles Geschehen kontinuierlich ineinander übergeht, ohne Unterbrechung.51 In der Idee erfassen wir diesen Zusammenhang, aus dem der Erkenntnisprozess ganz verschwunden ist.52 „Es hat mit der Natur der Dinge nichts zu tun, wie ich organisiert bin, sie zu erfassen" (GA 4\88). Das erlaubt eine Selbstbestim-mung gleichsam von außerhalb des subjektiven Erkenntnisprozesses:53 „Der Mensch ist ein eingeschränktes Wesen. [ ... ] Sein Dasein gehört dem Raum und der Zeit an. [ ... ] Unser Auge kann nur einzelne Farben nacheinander aus einem vielgliedrigen Farbenganzen, unser Verstand nur einzelne Begriffe aus einem zusammenhängen-den Begriffssysteme erfassen" (GA 4\89). Diese Vereinzelung ist nicht mehr objektiver Bestand, sondern rein subjektiv: „Diese Absonderung ist ein subjektiver Akt" (GA 4\89). Steiner begründet die Subjektivität mit dem Umstand, „daß wir nicht identisch sind

51 Nicht eine These über den kontinue oder diskontinue Aufbau der Materie ist beabsichtigt, oder die Leugnung jeder Individualisierung (die Kritik Hartmanns; GA 4a\363). Die erkenntnistheoretische Kontinuität ist gemeint im Verhältnis zur verstückelten Weise in der wir die Welt wahrnehmen und theoretisch erfassen.

52 „Für den Inhalt dieses Begriffs [des Dreiecks] ist es gleichgültig, ob ihn der menschliche Bewußtseins-träger A oder B faßt" (GA 4\9O). Die Implikation ist freilich, dass inhaltliche Geichheit auch ontologische (numerische) Identität bedeutet (siehe Hartmanns Kritik: GA 4a\364-365), da kein Kriterium des Unter-schieds übrig bleibt.

53 Diese ,Umkehrung des Bewusstseins', statt aus Selbstbeobachtung, aus der Position des Weltinhalts zu denken, setzt freilich die Objektivität der Erkenntnis voraus. Sonst ist die Forderung eine unmögliche. So die Kritik von Hartmann, es sei ,naiver Realismus des Denkens', die im Erkennen aufgebaute Welt für die reale zu halten, die in uns den Begriff hervorbringen sollte (GA 4a\363). Es wäre nach Steiner gerade ein Missdeuten der Subjektivität, wenn wir nicht durch sie hindurch sehen wollten auf die Objektivität.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 341

mit dem Weltprozeß" (GA 4\89) . Diese Erklärung wäre wenig aussagekräftig, wenn wir die Identität als materielles Sein deuten würden. Ein Einzelding ist nicht identisch mit dem Weltganzen, hat aber dadurch noch keine Subjektivität. Steiners Formulierung: „Wäre unser Dasein so mit den Dingen verknüpft, daß jedes Geschehen zugleich unser Geschehen wäre, dann gäbe es den Unterschied zwischen uns und den Dingen nicht" macht einsichtig, dass die Identität dem Bewusstsein und dem universellen Denken gilt. Wären wir uns der Idee unmittelbar bewusst, wäre sie uns in der Beobachtung gegeben, dann wäre unsere denkende Tätigkeit identisch mit der universellen („dem

all-einen Wesen, das alles durchdringt"; GA 4\91), dann erlebten wir das allgemeine Weltgeschehen unterschiedslos mit. Unsere Subjektivität verdanken wir nicht nur dem reinen Denken, wie vorher analysiert wurde (mit dem Ergebnis, im Denken konstituiere sich das Selbstbewusstsein), sondern auch dem Gegenteil: dem Umstand, dass wir zwar denken, aber mit dem Universellen nicht identisch sind. Steiner bedient sich der Meta-phern von Zentrum und Peripherie: „Dies ist der tiefere Grund unserer Doppelnatur: Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen, eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern in einem Punkte der Peripherie" (GA 4\91) . Der letzte Grund unserer Subjektivität ist also eine ek-zentrische Stellung im universellen Denken.54 Wie dies möglich sei, bleibt unerörtert. Wir können wohl dem zweiten Teil der PHDF entlehnen,

wie diese Subjektivität notwendiger Ausfluss von Steiners Freiheitsbegriff ist. Zunächst wäre festzustellen, dass Steiner im ersten Teil an diesem Ort einen dia-

lektischen Begriff des Denkens und einen Subjektivitätsbegriff entwickelt hat. Just das Moment im Denken, das uns erlaubt, das Denken aus sich selber zu verstehen — dass wir im Denken nur unsere eigene Tätigkeit überschauen —, ist zugleich dasjenige, wodurch wir am universellen Denken partizipieren (wenn wir da allein unsere eigene Sache betrachteten, käme es nie zum allgemeinen Begriff) . Diese Partizipation ist aber eine solche, die keinen objektiven Bestand hat, denn unsere verstandesmäßige Herausson-derung einzelner Gedanken ist keine Weltangelegenheit. Die Perspektive von außerhalb des Zentrums der Idee — das heißt wohl nichts anderes als: Von der Beobachtung ange-regt, erfasst der Verstand immer einen bestimmten, besonderen Begriff, der von der Vernunft in die Idee eingegliedert wird — und bestimmt unser Denken zum rein Sub-jektiven, denn im Zentrum gäbe es nur die Beobachtung der Idee. Lernten wir das

Denken „bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen [ ... ], dann wüßten wir in dem Augenblicke, in dem wir zum Bewußtsein kommen, das ganze Welträtsel” (GA 4\91). Die Aktualisierung der Begriffe, die wir ausführen, gehorcht den Gesetzen ihres Inhalts, sonst dächten und verstünden wir sie nicht. Insofern ist das Denken sel-ber allgemein und universell. Zugleich ist dieses Tun, diese Kraft der Tätigkeit, dieses Gehorchen- und Erschauen-Können aus seiner zentralen Stellung versetzt worden, wodurch es erst das menschliche Subjekt gibt. Was kann das heißen? Gibt es einen

54 Weshalb wir vorher schon von der ,ek-statischen` Lage des Denkens sprachen. Vgl. § 8.3.

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ursprünglichen Standort im Denken, etwa den göttlichen im Gegensatz zum mensch-lichen? Man kann dieses ,Denken dieser Idee` als notwendigen Grenzbegriff oder ein-heitliches Ziel alles Wissens, die Zentralanschauung des Ganzen, interpretieren. Von dieser rein ideellen Bestimmung ausgehend, muss Subjektivität neu definiert werden. Das menschliche Denken ist eine universelle Tätigkeit, die aber nur individuell aktuali-siert und vollzogen wird, angeregt durch die Beobachtung, die sich entfaltet durch vom Sondersein bedingte subjektive Akte, die von der Vernunft im Denken schrittweise wie-der ausgetilgt werden, insofern der ursprüngliche Zusammenhang wieder hergestellt wird. Die Subjektivität ist mithin prinzipiell etwas sich Aufhebendes."

Wenn richtig interpretiert, bringt dies Steiner nicht nur in die Nachfolge Hegels, dem das Ich auch „die Bewegung des sich selbst Aufhebens", oder „reine Negativität" ist (PHDG 556-557), sondern auch in diejenige Schellings mit seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhän-genden Gegenstände (18o9).56 Der Mensch hat, nach Schelling, teil an der Dualität von Grund und Existenz in Gott. Gott ist sich selbst als sein Grund voraus: die Natur (als dunkler Wille der reinen Möglichkeit und Sehnsucht) in Gott als unabtrennliches, doch unterschiedenes Wesen.57 Die Existenz in Gott ist seine Selbstverwirklichung durch die Reflexion, den göttlichen Verstand oder das reine Licht seiner Selbstoffenbarung.58 Die Sonderdinge haben ihren Grund in Gott (sind nicht in Gott, nicht außerhalb von Gott).59 Der Mensch hat also ein doppeltes Prinzip in sich: Das erste ist der Eigen-wille (die ,Selbstheit`), wodurch er von Gott geschieden ist, und das zweite ist jenes, wodurch er durch den Universalwillen (Verstand Gottes) in Licht verklärt wird. Im Menschen sind beide Prinzipien eins, aber nicht wie in Gott unzertrennlich eins (sonst wäre der Mensch gleich Gott und dieser nicht in den Menschen offenbar),60 sondern auf zertrennliche Weise,61 und dazu auch tatsächlich getrennt: frei, das Sondersein dem

55 Hartmann kritisiert: Steiner versuche hier durch den Absolutismus des Denkens den Phänomenalismus der Erscheinungen objektiv zu machen, was aber fehlschlagen müsse, weil auf phänomenalistischem Boden das Denken selbst bloß immanent in meinem Bewusstsein sei (GA 4a\368). Wir haben gesehen, dass diese Kritik einen Bewusstseinsbegriff unterstellt, der seinen Zusammenhang mit dem Denken nicht klarmacht. Da Bewusstsein, laut Steiner, Folge des (inhaltlich in sich gegründeten) Denkens ist, dessen Prius, ist die ,Immanenz` des Denkens im Bewusstsein nur eine relative Sache: So erscheint es uns, aber dies können wir genau so relativieren wie unseren Beobachtungsort bei der räumlichen Perspektive. Die Perspektive bringt ja nicht den Inhalt des Bewusstseins hervor.

56 sw I, 7\333-416. 57 sw i, 7\359. 58 sw I, 7\361. Der Vorwurf, der auch für Steiner gelten konnte, die Dinge hätten also denselben Grund

und müssten dann auch Gott identisch sein (J. Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, in: F.W.J. Schelling, Über das Wesen der Menschlichen Freiheit, herausg. von O. Höffe und A. Pieper, Berlin 1995, S. 61-9O, v. a. S. 85), trifft nicht zu. Die Sonder-Existenz ist vom göttlichen Verstand aus der Tiefe des von ihm unabhängigen Grundes hervorgehoben, sagt Schelling (sw 1, 7\362 und 4O5). Im einheitlichen Grund existieren die Dinge noch nicht als Sonderwesen.

59 sw i, 7\358-359. 6O „Jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden" (sw i. 7\45). 61 sw I, 7\365.

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universellen Sein unterzuordnen. Dem Bewusstsein geht die ,Ent-Scheidung` voran, wodurch der Mensch aus dem Zentrum der Schöpfung versetzt worden ist.62 Durch die Erkenntnis sind wir nicht nur periphere Wesen, wie die Naturwesen, sondern immer noch ,Zentralwesen'.63 In Schellings Freiheitsschrift finden wir also schon aus-geprägt diese ,Doppelnatur` der Subjektivität als ex-zentrisches, ex-statisches Sonder-und Zentralwesen,64 die auch Steiner der menschlichen Freiheit zugrunde legt.

§ 9.6. Die menschliche Individualität (Kap. VI und vII)

Inzwischen hat diese, mit Hegel gesprochen, scheinbare Nichtigkeit der Subjektivität ihr „konkretes individuelles Leben" (GA 4\100). Die Tätigkeit bewirkt im Subjekt eine reale Innenwelt, in der die Objekte ihre Bilder zurücklassen. Ihr bleibendes Resultat ist mithin die persönliche Vorstellungswelt. Der Begriff der Vorstellung ist ein synthetischer. Durch das Selbstbewusstsein weiß das Ich, dass es über Begriffe verfügen kann. Statt der unmittelbaren Synthese von Wahrnehmung und Begriff65

haben wir eine komplizierte. Die Innenwelt des Selbst schiebt sich zwischen die beiden Elemente. Was nach dem Verschwinden einer verstandenen Wahrnemung zurückbleibt im Ich, ist nicht die Wahrnehmung selbst, sondern seine „Intuition mit der Beziehung auf die bestimmte [verschwundene] Wahrnehmung" (GA 4\106).66 „Der Begriff erhält durch eine Wahrnehmung eine individuelle Gestalt, einen Bezug zu dieser bestimmten Wahrnehmung" (GA 4\107).67 In dieser Form, als ,individualisierter Begriff , lebt er im Ich fort und wird zu dessen ,Vorstellung` des wahrgenommenen Dinges, an die das Subjekt sich erinnern und desssen es sich zur Repräsentation des Dinges bedienen kann. Die Wiedererkennung eines Dinges findet statt, wenn wir uns nicht nur eine entsprechende Intuition des Dinges bilden können, sondern wir bereits über es verfügen und das Ding zusammenbringen können mit seinem schon individualisierten Begriff (der Vorstellung). Hat ein wahrgenommenes Ding denselben Begriff, ohne dass wir es als solches wiedererkennen, so haben wir ein Ding derselben Art oder Klasse

(GA 4\107).68

„Die Vorstellung steht also zwischen Wahrnehmung und Begriff" (GA 4\107), weil das Subjekt sich dazwischen aufhält und seine eigene Sphäre bildet: „Die Summe des-

62 1, 7\386-387. 63 sw 1, 7\411-412. 64 sw I, lO\185-186. 65 Die Steiner am Ende von Kapitel V in ihren ersten Auftreten im Bewusstsein ,Beobachtung` und

,Intuition` nennt (GA 4\95). 66 Eine Wahrnehmung, die wir nicht verstehen, geht spurlos an uns vorüber. Wir könnten uns weder an

sie erinnern noch sie aussprechen. 67 Bei Hegel: das ,Einzelne, der allgemeine Begriff in individueller Gestalt. Vgl. WDL II\297.

68 In dieser Analyse des ,Art`-Begriffs ist die Kritik an der nominalistischen Mengenlehre vorweggenom-men. Das Prädikat ,Rot` ist operationell zu deuten als das Gemeinsame der Klasse von allen roten Objekten, aber diese Menge könnte man nicht bilden ohne die begriffliche Intuition ,rot`, die als Auswahlprinzip funktioniert.

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jenigen, worüber ich Vorstellungen bilden kann, darf ich meine Erfahrung nennen" (GA 4\108) . Diese innere Sphäre erschöpft sich natürlich nicht in diesem Erkennen. Dazu kommt zunächst das Fühlen, das nicht auf sich steht: „Wir begnügen uns aber nicht damit, die Wahrnehmung mit Hilfe des Denkens auf den Begriff zu beziehen, son-dern wir beziehen sie auf unsere besondere Subjektivität, auf unser individuelles Ich. Der Ausdruck dieses individuellen Bezuges ist das Gefühl" (GA 4\108). Für dieses Bezie-hen hat Steiner bisher kein anderes Instrument als wiederum das Denken angeführt. Das Gefühl ist nicht Original, sondern ,Ausdruck` eines Tatbestands, eine Vorstellung vom Verhältnis der Wahrnehmung zu sich,69 ,das Selbstgefühl', das das Selbsterken-nen begleitet,70 und das Empfinden von Lust und Schmerz mit der Wahrnehmung. Es bewirkt, dass wir uns nicht vollständig gleichgültig sind, sondern die Dinge für uns einen Wert haben (GA 4\109). Die schon erwähnte ,Doppelnatur des Menschen' entspricht diesem Gegensatz von Denken und Fühlen. Das Denken verbindet uns mit dem allgemeinen Weltgeschehen, das Fühlen „führt uns in uns selbst zurück, macht uns erst zum Individuum" (GA 4\109) . Das Fühlen füllt also das Innere aus und wertet vom Innern heraus die Dinge (indirekt über die Vorstellung). Der Polarität von dem Universellen und dem Subjektiven im Denken wird eine neue angegliedert von Denken und Fühlen, die nicht nur die erste widerspiegelt, sondern auch das damit zusammen-hängende Verhältnis vom Miterleben des allgemeinen Weltenseins und leibgebundenen Sonderseins. Die subjektive Zwischensphäre zwischen universellem Denken und der Wahrnehmung wird in diesem Gegensatz zurückbezogen auf das Denken. Denken und Fühlen stellen sich dazu in den Gegensatz von Denken und Beobachten noch insofern herein, als das Gefühl Ausdruck ist einer ideellen Beziehung, die beobachtet wird als eine Wahrnehmung am Selbst. Der Gegensatz von Denken und Beobachten, Allgemei-nem und Sondersein hat sich weiter zugespitzt, seine Mitte entwickelt und dynamisiert: „Unser Leben ist ein fortwährendes Hin- und Herpendeln zwischen Mitleben des allge-meinen Weltgeschehens und unserem individuellen Sein" (GA 4\109) . Es kann dabei ein Ausbilden des Gefühlslebens stattfinden, wodurch auch die allgemeinsten Ideen noch „konkretes Leben" gewinnen (GA 4\110-111). Mit diesem Wort „Leben" umspannt Stei-ner die ganze Ausführung über die Individualität (vgl. GA 4\lo0 und 1n): „Lebhaftigkeit" der Vorstellung (GA 4\1o6), die „lebendige Vorstellung" (GA 4\107), der Begriff „lebt" in individualisierter Gestalt „in uns fort" (GA 4\107), durch unser Gefühl „leben wir als

69 Es scheint das Phänomen, das wir kennen als die ,Intentionalität` der Gefühle, gemeint zu sein. Im Gefühl steckt also eine Vorstellung eines bedrohenden, schmerzenden, erfreulichen, oder erhofften usw. Objekts. Der Unterschied zu Brentanos Begriff der Intentionalität ist, dass Brentano sie als Beziehung auf einen Gegenstand auffasst (Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1911, herausg. von O. Kraus, F. Meiner Verlag, Hamburg 1971, Bd. 2, S. 133 ff.). Steiner kritisiert diese Auffassung. Auch das Physische wird mitkonstitutiert durch eine Beziehung auf einen äußeren Gegenstand, der es anzieht, erwärmt, beleuchtet usw. (GA 21\84-86 und 167). Das Eigentümliche des Psychischen ist, so Steiner, also die erwähnte Beziehung auf das Subjekt. Diese muss man an sich bestimmen.

7o Anders als in Franks (1991) Analyse ist die unmittelbare Vertrautheit mit sich als Selbstgefühl, zwar präreflexiv im Sinne einer bewussten Reflexion, aber nicht weniger ideeller Bezug.

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individuelle Wesen" (GA 4\109), „Gefühlsleben" (GA 4\109) usw. Am Anfang des zweiten Teils der PHDF wird die „gedankliche Beziehung auf sich selbst" eine „Lebensbestim-mung unserer Persönlichkeit" genannt (GA 4\138), deren wahrnehmbares Komplement das Gefühl ist (es ist als reine Wahrnehmung ebenso ergänzungsbedürftig wie alle anderen Wahrnehmungen; ihr Wesen ist Begriff, und zwar die genannte Beziehung zum Selbst; GA 4\138-140) .71

Wir sind den Weg gegangen von der impliziten Selbstwahrnehmung (sekundäres Objekt) in der Aktivität des Denkens zum Selbstbewusstsein (die Tätigkeit wurde hin-terher primäres Objekt) und zuletzt zu einer Selbstbestimmung, dem Begriff des Ich: das Tätige im Aufheben einer von uns selbst hervorgebrachten Spaltung von Universellem und Individuellem. Dies begründet die Doppelnatur des Menschen, der aus dem sub-jektiven Nicht-Wissen selber das Wissen entwickeln muss. Anders als in der übrigen Natur (inklusive unserem Leib), die nach dem Grundsatze des objektiven Idealismus in sich die Vereinigung von Idee und wahrnehmbarem individuellen Sondersein schon hat, müssen wir sie im Bewusstsein selber wiederherstellen. Anders gesagt: Diese Wie-derherstellung ist unser Bewusstsein. Dadurch bildet sich zugleich ein Neues im Selbst aus: ein Vorstellungs- und Gefühlsleben, eine ,Innenwelt`.72

Steiner greift zum Abschluss des ersten Teiles im 7. Kapitel das Thema des zweiten Kapitels auf, den Streit zwischen Monismus und Dualismus. Die Welt ist zwar als Zwei-heit (dualistisch) gegeben, doch das Erkennen verarbeitet sie zur monistischen Einheit (GA 4\112), so lautet das Ergebnis der Bewusstseinsanalyse. Der Dualismus basiert ein-fach auf einer falschen Auffassung des Erkennens und schafft einen künstlichen Gegen-satz (GA 4\113); er überträgt den Subjekt-Objekt-Gegensatz, der nur im Bewusstsein, im Erkennen, eine Bedeutung hat, auf rein erdachte, jenseitige Objekte oder Berei-che (GA 4\116), die ihm anstelle der — missverständlicherweise für erklärungsunfähig gehaltenen — Idealprinzipien die festen ,Realprinzipien` der Welterklärung liefern sollen (GA 4\118) . Dieser Dualismus ist der Widerspruch, dass Wahrnehmbares als unwahr-nehmbar gesetzt wird. Denn alle Elemente der wahrgenommenen Welt haben sonst nur eine Teilbedeutung innerhalb der Erklärung des Ganzen (mit Ausnahme des hier verkannten Denkens; GA 4\123-124). Der Dualismus hält die subjektive Spaltung von Idee (Ich) und wahrnehmbarem Sondersein auf irgendeine Art für Weltstruktur. Das Erkennen ist aber „keine allgemeine Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. [ ... ] Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sind also durch und für das Ich" (GA 4\115) . Erkenntnisgrenzen sind also vom Ich her bedingt und immer nur vorläufig. Das Erkennen ist, anders gewendet, das Auf-

71 Realiter fühlen wir unser Dasein natürlich, bevor uns der Begriff des Selbst aufgeht (GA 4\139). 72 Diese bleibt der Welt als Ganzes deshalb eingegliedert, weil innerhalb unseres Bewusstseins die zwei

Bereiche durch das übersubjektive Prinzip des Denkens abgegrenzt werden. Hartmanns Kritik, dass die Existenz eines zweiten Ichs den erkenntnistheoretischen Monismus sprengen würde (GA 4a\373), trifft deswegen nicht zu. Steiner wird es daher, mit Scheler, auch für möglich halten, das Denken eines anderen Ichs wahrzunehmen, wenn es sich äußert (GA 4\26O).

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schieben der Erkenntnisgrenze, die im Dualismus prinzipieller Natur ist.73 Eine zeitlich bedingte Zweiheit im Erkennen wird vom Dualismus verabsolutiert. Diesem künstli-chen Gegensatz fehlt die dialektische Entwicklung der Begriffe von Subjekt und Objekt.

§ 9.7 Vom Wissen zum Handeln (rl. Teil)

Über den zweiten Teil werden wir kürzer sprechen können, da er auf dem ersten Teil aufbaut und manche Themen in ihm wiederkehren. In Kapitel VIII wird der Wille neu bestimmt als Inversion des Fühlens: „Im Gefühl erlebt es einen Bezug der Objekte auf sein Subjekt; im Willen ist das Umgekehrte der Fall. Im Wollen haben wir ebenfalls eine Wahrnehmung vor uns, nämlich die des individuellen Bezugs unseres Selbst auf das Objektive. [74] Was am Wollen nicht rein ideeller Faktor ist, das ist ebenso bloß Gegenstand des Wahrnehmens wie das bei irgendeinem Dinge der Außenwelt der Fall ist" (GA 4\140) .75 Das Wollen unterscheidet sich aber erheblich vom Fühlen, und die-ser Struktur ist das Kapitel Ix gewidmet.76 Das Gefühl ist zwar von seinem Begriff bestimmt, aber ohne Zwischenkunft des Denkens. Es ist sein unmittelbarer Ausdruck in der Innenwelt des Subjekts. Der Willensakt hat eine duale Struktur von Motiv und Triebfedern.77 Das Motiv ist der begriffliche, der vorstellungsgemäße Faktor (die Ziele unseres Handelns; GA 4\149-150). Die Triebfedern gehören nicht schlechthin zum wahr-nehmbaren Teil. Sie sind „der bleibende Bestimmungsgrund des Individuums", seine „individuelle Beschaffenheit" oder „charakterologische Anlage" (GA 4\149) . Sie haben

73 Hartmann schließt: „Es ist ganz richtig, daß es für den erkenntnistheoretischen Monismus keine Grenzen des Erkennens gibt; aber nur deshalb, weil es für ihn gar kein Erkennen gibt. Er ist reiner Illusionismus und Agnostizismus, wenn er sich konsequent ausgestaltet." Das „problema crucis" soll die Existenz anderer Bewusstseine sein: „Ein Bewußtsein kann aber nicht in den Inhalt des anderen hineinsehen, und draußen ist nichts zu sehen weil nichts ist" (GA 4a\38O). Steiner notiert sich dazu: „Gröbster naiver Realismus. Ganz nach Analogie materieller Vorgänge vorgestellt" (GA 4a\ 381). Siehe die vorige Anm. Wenn alle Erkenntnis, inklusive der Existenz anderer Bewusstseine im Monismus realisiert werden kann, braucht man gar keine transzendentale Existenz (Verdoppelungsargument).

74 Auch eine Form der ,Intentionalität` (man will — tut — immer ,etwas`). Man könnte hier leicht versucht sein, ein Reales einzuführen hinter dem Beobachtbaren. Wenn man den ideellen lückenlosen Zusam-menhang von Motiv und Tat gefunden hat, so hat man auch das Wesentliche des Willens erkannt. Die Annahme eines verborgenen Willensmechanismus, der die Intentionalität zusätzlich erklären soll, macht den Fehler des naïven, transzendentalen Realismus (Hypostasierung eines unwahrnehmba-ren Wahrnehmungsobjektes). Brentanos Intentionalitätsanalyse übersieht, nach Steiner, übrigens das eigentliche Wollen, weil es nicht mehr etwas rein innerhalb des Seelischen Lebendes ist, sondern ein Überschreiten des Selbst zum Objektiven (Brentano klassifiziert die psychischen Phänomen in Vorstellen, Urteilen und Fühlen; GA 21\162-164 und GA 4\14O).

75 Ob der Wille unmittelbar wahrgenommen wird, war Streitfrage. Mit der Unbewusstheit des Wollens setzte Hartmann auch seine Unwahrnehmbarkeit, und er musste Steiner hier widersprechen (GA 4a\381).

76 Wir übergehen zunächst die Zusätze von 1918 am Ende von Kapitel VIIi und zu Beginn von Kapitel IX. 77 Diese Analyse hat Steiner Hartmann entlehnt; vgl. dessen Die Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins,

(1879), herausg. von A. von Hartmann, 3. Aufl. Berlin 1922. Dieses Werk teilt die Moralprinzipien ein in Triebfedern (ästhetische Treibfedern, Gefühlsprinzipien, Vernunftmoral) und Ziele (Individual- und Gesamtwohl, Kulturentwicklung, sittliche Weltordnung). Für Hartmanns ,absolute Moralprinzipien' gibt es bei Steiner keine Entsprechung. Siehe § 2.11.4.

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Objektcharakter und setzen sich schon zusammen aus Wahrnehmung und Begriff, sicherlich wenn es Beleibendes, also Regel- und Gesetzmäßiges (Anlage, Beschaffenheit oder Charakter) betrifft.78

Steiner teilt die Triebfedern mit Hartmann79 in drei Stufen ein, nach den Elementen, aus welchen sich das individuelle Leben zusammensetzt (GA 4\151) :

1. die Triebe, die unmittelbar die Einzelwahrnehmung, das Wollen auslösen lassen (GA 4\151);

2. die Gefühle wie Scham, Stolz, Mitleid, Liebe usw., die sich an die Wahrnehmungen knüpfen und das Wollen antreiben (GA 4\152);

3. das Vorstellen (die praktische Erfahrung) und zuletzt das Denken (die praktische Vernunft), das Intuitionen hervorbringt, die durch das Wollen in die Tat umgesetzt werden können (GA 4\153-154).

Was auf der letzten Stufe „als Triebfedern wirkt, ist nicht bloß Individuelles in mir, sondern der ideelle und folglich allgemeine Inhalt meiner Intuition" (GA 4\153) . Es ist nicht bloße Anlage, wenn ich „die Berechtigung dieses Inhalts als Grundlage und Ausgangspunkt einer Handlung ansehe" (GA 4\154) . Wenn es sich nicht um Gefühle und Neigungen (Triebe) handeln soll, geht die Berechtigung aus dem Inhalt selber hervor. Die erste Stufe ist individueller Natur: Das Sondersein dominiert. Auf der dritten Stufe ist das Allgemeine vorherrschend. Die zweite ist eine Zwischenstufe, zwischen dem individuellen Leib- und Seelenhaften und dem allgemeinen Denken.

Die Motive sind „die augenblicklichen Antriebe", die die Anlage (Treibfedern) herausfordern zu einem wirklichen Willensakt (GA 4\154) . Als Motive können auftreten:

1. Vorstellungen eines konkreten eigenen oder fremden Wohles (GA 4\155); 2. Anwendung von Moralprinzipien allgemeiner Natur (Regeln, Begriffe), die man

annimmt aufgrund einer sittlichen Autorität (Familie, Staat, Sitte, Kirche, Offen-barung, Gewissen; GA 4\154-156);

3. Sittlichkeitsmaximen, die man einsieht oder selber begründen kann. Begründen kann man die Handlungen aus den „Bedürfnissen des sittlichen Lebens" (morali-sche Ziele; GA 4\156-157), von denen Steiner drei Beispiele nennt: a) das maximierte Wohl der Gesamtmenschheit (Universalisierung von 1.), b) den Kulturfortschritt oder die sittliche Entwicklung der Menschheit zu immer größerer Vollkommenheit

78 Wir meinen hierin den Grund zu sehen, weshalb Steiner die ,Triebfedern` in der ersten Auflage noch „den Wahrnehmungsfaktor des Wollens" nennt, in der zweiten Auflage dagegen spricht von dem „in der menschlichen Organisation unmittelbar bedingte Faktor des Wollens". Diese Organisation soll ,Wahr-nehmungsgegenstand` sein, ist jedoch etwas Allgemeineres, während das Motiv dagegen nur einmaliger Begriff oder Vorstellung ist: „augenblicklicher Bestimmungsgrund des Individuums" (GA 4\149).

79 Zugleich eine geringere Modifikation, denn die dritte Stufe der Triebfedern ist Hartmann nicht die höchste. Das sind die ,absoluten Moralprinzipien', nach denen die Individuation gerade rückgängig gemacht wird. Das Ich ordnet sich dem ,Unbewussten` unter (,Weltschmerz' und ,Mitleid mit Gott').

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(Universalisierung und Entwicklung von 2.) und c) situativ, aus dem vorliegenden Fall zu bestimmende (besondere) Sittlichkeitsmaximen, die ihm angemessen sind, welche als begriffliche Intuition der Situation am meisten entsprechen (das Prinzip des Begründens selber; GA 4\157-158).

Auf der dritten Stufe verlässt man sich nur auf das gegenwärtige Intuitionsvermögen des Handelnden. Das individuelle Motiv der begrifflichen Intuition fällt hier zusammen mit der höchsten Stufe der Triebfedern: der praktischen Vernunft (GA 4\158) . Nur auf der dritten Stufe können wir sagen, dass der Mensch nach Einsicht handelt. Handelt man nur nach einem vorgeschriebenen Moralkodex, so ist man „höherer Automat", Vollstrecker einer fremden Moral (GA 4 \161). Die selbsterfasste Intuition stellt das Individuum auf sich selbst. Denken war, so hat Steiner dargetan, eine vom Ich vollzogene, ureigene Tätigkeit. Wenn diese das Bestimmende ist, so handelt der Mensch rein individuell, obgleich er nur einen allgemeinen Begriff erfassen kann. Hier macht aber die Individualität, die Subjektivität, sich weiter geltend: „Die Summe der in uns wirksamen Ideen, den realen Inhalt unserer Intuitionen, macht das aus, was bei aller Allgemeinheit der Ideenwelt in jedem Menschen individuell geartet ist" (GA 4 \160) . Diese Summe ergibt sich nämlich aus der sehr persönlichen Geschichte unseres Denkens, der Reihe unserer individuellen Denkakte.80

Eben dieser ethische Individualismus (GA 4 \160) hat noch einen gravierenden Wider-spruch in sich. Das Individuum soll aus Intuition einen für die Situation geschickten Begriff erfassen, ihn begründen und einsehen. Heißt das aber nicht, er erkennt die Situation? Der Erkenntnisbegriff einer bestimmten Situation fällt nicht mit dem dazu-gehörigen moralischen Begriff zusammen (GA 4\159).81 Ich entnehme mein rein intui-tives Motiv letztendlich nicht dem Objekt, nicht der Situation. Ich führe da keine allgemeine Regel um seinetwillen aus (GA 4 \161), sondern ich führe die intuitiv erfasste Handlung aus, „sobald ich die Idee davon erfaßt habe" (GA 4 \161), d. h., ich „prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist; ich vollziehe sie, weil ich sie liebe" (GA 4 \162). Nur so kann Steiner behaupten, dass der aus seinen Intuitionen heraus Handelnde keinem Zwang unterlegen ist, weder dem Zwang der Natur (der gat-tungsmäßigen Triebe), noch dem Zwang sittlicher Gebote (GA 4 \162): „Ich will einfach ausführen, was in mir liegt" (GA 4 \162). Die freie Handlung geht scheinbar nicht aus

8o So muss sich der harte Widerspruch lösen, den Hartmann darin sieht: „Wie kann dieser ethische Idealis-mus vereinigt werden mit der behaupteten Universalität des Denkens, der Begriffs- und Ideenwelt? [ ...1 Rührt das Individuelle der Intuition von der Idee selbst her, so ist unverständlich warum das Allgemeine sich besondert, statt sich überall als rein Universelles geltend zu machen" (GA 4a \387). Das Individuelle rührt nicht von der Idee als solcher her, sondern von dem Denken, die Aktualisierung der Idee, die individuelle Tat ist. Daher die Dimension des Geschichtlichen in der Freiheit. Es liegt hier z. B. der Unter-schied zu Heideggers Auffassung der Wahrheit als Freiheit (Vom Wesen der Wahrheit, in; Gesamtausgabe, Wegmarken, Bd. 9, S.177-2O2, hier S. 185-193), d. h. aber „das Seinlassen von Seiendem", das letzten Endes nicht sosehr individuelles Tun als ,Geschick` sei (vgl. Brief über den ,Humanismus`, ebd., S. 313-364).

81 Der bekannte Unterschied von ,Sein` und ,Sollen`.

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der Einsicht hervor, denn in höherem Sinne ist sie ideell grundlos, und zuletzt nicht durch die Erfahrung bestimmt. Die Idee zwingt nicht zur Realisation in einer freien Tat: Man liebt sie, und deswegen tut man sie. Ist damit nicht die freie Tat herabgesetzt zu der zweiten Stufe der Triebfedern: den Gefühlen?82 Nicht ebenso das Motiv als reiner Moralbegriff der zweiten Stufe, wenn die ,Autorität` der Liebe gelten soll? Merkwürdi-gerweise bemüht Steiner sich nur wenig, diesen Widerspruch zu vermeiden. Er rechnet offensichtlich damit, dass man die Freiheitsthese im Lichte der Idee der Subjektivität deuten wird. Wäre die Liebe in der Tat nur Affekt, so wäre der Widerspruch unver-meidlich. Wäre die Liebe aber etwas aus der Summe meiner Intuitionen Entstandenes, so wäre sie nicht ein dem Subjekt (Denken) aufgezwungenes Gefühl. Durch das Füh-len, so fand Steiner, lebt das Subjekt in sich (Selbstgefühl und Lust und Schmerz an der Wahrnehmung), „macht" es sich „erst zum Individuum" (GA 4\109). Wenn das Gefühl zugleich ein ,Ausdruck` der ideellen Beziehung auf uns selbst ist (wie wir es interpretierten; GA 4\108) und der Begriff dieser Beziehung uns zugänglich ist, wie jedes andere Wesen einer Sache,83 so ist diese Liebe für die Idee keine undurchsichtige Sache. Sie stellt sich nicht ein als Ergebnis natürlicher Verrichtungen. Sie ist Resultat einer Selbsterziehung: „Eine wahrhafte Individualität wird derjenige sein, der am weitesten hinaufreicht mit seinen Gefühlen in die Region des Ideellen. [ ... ] Die Erkenntnis der Dinge wird bei dem auf Totalität angelegten Menschen Hand in Hand gehen mit der Ausbildung und Entwicklung des Gefühlslebens" (GA 4\110-111). Anders gesagt: Sie ist Ausfluss der Idee, zu der das Subjekt sich erhebt und in der es leben kann und leben will.84 Die ,Totalität` heißt hier die Synthese von Individuellem und Universellem, eine Synthese von Fühlen und Denken.

Diese Entwicklungstotalität ist zwar Ideal, wie der Begriff des freien Geistes, aber ein reales, das sich schon in seiner unvollkommenen Form ankündigt (GA 4\168) . Ihr Begriff ist: Wollen aus einer Liebe (Fühlen), die aus den individuellen Intuitionen (Denken) hervorgeht. Also Wollen, Fühlen und Denken gehen hier ineinander über, teilen einander ihre Qualitäten mit.

In der zweiten Auflage der PHDF hat Steiner dies noch deutlicher hervorheben wol-len, als es ihm im ersten Druck gelungen war. Im Zusatz zu Kapitel iii der Neuausgabe: „Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt" (GA 4\55) . Wo überall gesprochen war von der Tätigkeit im Denken, war ein Wollen gemeint, das sich in der Intuition mit dem Ideellen verbindet, ganz entsprechend dem Begriff des Wollens (als dem individuellen Bezug unseres Selbst auf das Objektive; GA 4\140). Dieses Wollen im Denken ist nicht für das Selbst gleichgültige Tätigkeit, neutrale Aktivität. Das Wollen

82 So die Kritik Hartmanns: „Liebe ist Triebfeder, Idee Motiv. Wie kommt die eine dazu, mit der anderen vertauscht zu werden?" (GA 4a\388).

83 Es hat Sinn zu fragen, warum man etwas fürchtet, sich über etwas erfreut usw. 84 Man könnte deshalb auch sagen, sie entstammt dem Guten, ist also ,Tugend`, die sich selber überlassen

werden darf, weil sie das Gute schon in sich aufgenommen hat.

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im Denken, so sagt es der Zusatz von 1918 zum achten Kapitel, ist eine „warm in die Welterscheinungen untertauchende Wirklichkeit. Dieses Untertauchen geschieht mit einer in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist" (GA 4\143). Dieses Wollen, das im Beobachten und Denken, nach unse-rem Ergebnis, dasselbe ist, wird hier also die ,Kraft der Liebe' genannt: das Wollen der Liebe, die Liebe als Wollen. Auf den Einwand, so werde ein Gefühl ins tätige, wollende Denken verlegt, kontert Steiner: „Dieser Einwand ist in Wahrheit eine Bestätigung des hier geltend Gemachten. Wer nämlich zum wesenhaften Denken sich hinwendet, der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen, die letztern auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit" (GA 4\143). Die Liebe ist mithin, in ihrer Tiefe aufgefasst, wesentlich schon Synthesis von Denken und Wollen und entfaltet diese Wesenheit in der Ausbil-dung des gesamten Gefühlslebens im Erkenntnisleben (der Summe der Intuitionen) und im individuellen Handeln.

§ 9.8. Dialektische Einheit von Wissenschaft und Wirklichkeit der Freiheit

Diese Analyse zeigt, dass die zwei Teile der PHDF einander widerspiegeln in ihren zentralen Begriffen. Der Zusatz von 1918 zum Schlusskapitel lautet daher: „Der zweite Teil dieses Buches findet seine naturgemäße Stütze in dem ersten. Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin. Diese Wesenheit des Denkens erlebend verstehen, kommt der Erkenntnis von der Freiheit des intuitiven Denkens gleich. Und weiß man, daß dieses Denken frei ist, dann sieht man auch den Umkreis des Wollens, dem die Freiheit zuzusprechen ist" (GA 4\254).

Die Reflexion des ersten im zweiten Teil finden wir auch in den Komplementen von ,Vorstellung` und ,Gefühl`, nämlich in der ,Liebe bzw. der ,moralischen Fantasie'. Die Subjektivität individualisiert den Begriff in der Vorstellung, gibt ihm individuelle Gestalt (GA 4\107). Der reinen moralischen Intuition fehlt noch die Beziehung auf die konkrete Situation, die Wahrnehmung. Der freie Geist soll seine Intuition selber indi-vidualisieren zu konkreten Vorstellungen, um sich durchsetzen zu können. Dies nennt Steiner die moralische Fantasie (die Fantasie schafft der Idee eine konkrete Vorstellung derselben; GA 4\193). „Deshalb sind nur Menschen mit moralischer Phantasie eigentlich sittlich produktiv" (GA 4\193). Die Fantasie ist Brücke vom Denken zum Handeln. Die freien Denker, denen die Fantasie fehlt, sind „die bloßen Moralprediger" (GA 4\193). Wie Vorstellung und Gefühl dem Individuum die Subjektivität verwirklichen, brin-gen die vom Ich entwickelte Liebe und die moralische Fantasie die rein individuelle Sittlichkeit zustande. Wir bemerken hier, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, dass Steiners ethischer Individualismus zwar eine „Ethik als Normwissenschaft" unmöglich macht (GA 4\195), dies aber nicht eo ipso heißt, die Ethik sei überflüssig und alles dem Einfall des Individuums überlassen.85 Der Ethik wird nur das Recht

85 Wie einige frühen Rezensenten meinten: u. a. R Beck in der Wiener Zeitung (1893; GA 4a\429 ff.),

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 351

verweigert, den Individuen die Obliegenheit einer Norm vorzuschreiben. Moralische Ideen (Prinzipien und Normen) für sich zu untersuchen, ihren Zusammenhang und ihre Widerstreitigkeiten zu analysieren und die redliche Moral von der unredlichen zu unterscheiden, wäre gerade vom Standpunkt des ethischen Individualismus zur Ausbildung sittlicher Motive erwünscht (vgl. GA 4\195-197).

Die ,Liebe aus Intuition` ist also realer synthetischer Grund des freien Handelns, ebenso sehr wie es auch im Ideal des freien Geistes (nur) noch Ziel ist. Der selbst entwickelte Antrieb zur größeren Freiheit hin: „Aus Handlungen der Freiheit und Unfreiheit setzt sich unser Leben zusammen. Wir können aber den Begriff des Men-schen nicht zu ende denken, ohne auf den freien Geist als die reinste Ausprägung der menschlichen Natur zu kommen. [ ... ] Wäre der Mensch ein bloßes Naturwesen, dann wäre das Aufsuchen von Idealen, das ist von Ideen, die augenblicklich unwirksam sind, deren Verwirklichung aber gefordert wird, ein Unding" (GA 4\168). Wohl ist dem Men-schen die Realisation dieses Begriffs der Freiheit selber überlassen: „Der Mensch muß selbsttätig seinen Begriff mit der Wahrnehmung Mensch vereinigen" (GA 4\168) .

Dadurch erhält der Widerspruch der Subjektivität vielleicht noch seine letzte Zuspit-zung: Es ist noch der Freiheit des Menschen überlassen, ob er frei sein wird, ob er seine verstandene Freiheit auch lieben kann und will. Die Freiheit ist in der Tat immer schon tätig: „Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen" (GA 4\170) .86 Wenn richtig gefolgert, dann ist der Mensch derjenige, der nur werden kann, was er ist: „Der Mensch muß selbsttätig seinen Begriff mit der Wahrnehmung Mensch vereinigen. Begriff und Wahrnehmung decken sich hier nur, wenn sie der Mensch selbst zur Deckung bringt. Er kann es aber nur, wenn er den Begriff des freien Geistes, das ist seinen eigenen Begriff gefunden hat" (GA 4\168) . Nur durch freie Betätigung (Intuition) erfasst er den Begriff der Freiheit und wird diese bewusst (aus freiem Handeln) realisierbar. Das heißt aber, dass sich der Mensch entwickeln kann dank seiner Anlage zur Freiheit. Die aus der Spaltung der Wirklichkeit hervorgegangene Subjektivität, die im reinen Erkennen bestrebt ist, sich aufzuheben, verwirklicht sich dagegen in der reinen Sittlichkeit, wel-cher zufolge sie die Welt und sich selber umgestaltet. Die Subjektivität ist mithin nicht nur durch die an sich unwirkliche Spaltung von Idee und Wahrnehmung entstanden.

K. Gutberlet, in: Philosophisches Jahrbuch (1895; GA 4a\47o ff.) und W. Rein, in: Der Tag (Ethische Irrlehren, 192O; GA 4a\495 ff )•

86 Dieser Punkt (,die Freiheit zur Freiheit') wurde in der Existenzphilosophie erst später dominant durch Heideggers Bestimmung des Daseins als „das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens" (Sein und Zeit § 4o, S. 188), welche das Dasein folgerichtig kauft um den Preis der Angst (ebd.) und des Wissens von seinem natürlichen Tod: „Freiheit zum Tode" (a. a. O., § 53, S. 266). Nicht der Tod und die Angst „ermöglichen" bei Steiner diese Freiheit (a. a. O., S. 262), sondern die Idee und die Liebe, weil nicht die Endlichkeit letztbestimmtend sei, sondern eben die menschliche ,Doppelnatur` (endlich-unendlich). Auch Hegel erörtert schon diesen Widerspruch der Freiheit zur Freiheit. Der Geist ist Freiheit (ENz §382). Alles im Bereich des ,objektiven Geistes' ist Zwecktätigkeit eines freien Willens, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren (u. a. Moralität und Sittlichkeit; ENZ §§ 483-484). Zuletzt mag auch diese Einsicht direkt zurückführen auf Fichte (L 1794) und Schelling (u. a. sw i, 7\384), für die das Ich immer schon eigene Tat war („das Ich setzt sich selbst").

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Eine wirkliche Spaltung von ihrem Begriff des freien Geistes und ihrer unfreien existen-tiellen Gestalt ist Voraussetzung der Realisation der Subjektivität, denn diese ist reale Aufhebung dieses Unterschieds. Die Realisation der Freiheit ist also von ihrer freien Betätigung abhängig (bewogen durch das Erfassen des Ideals der Freiheit).

Diese Dialektik von Universalität und Individualität löst von vornherein das an sich problematische Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft. Man braucht eine Gemein-schaft nicht zu sichern durch gemeinsam festgelegte sittliche Regeln (wenn schon der Staat mit seinen Gesetzen die minimale Existenz und gewisse reale Möglichkeiten der Entwicklung des Individuums sichern soll), denn die eine Ideenwelt ist wirksam in den freien Intuitionen von deren Mitgliedern. Gemeinschaft auf den ersten zwei Stufen von Triebfedern und Motiven hat aber eine andere Gestalt (in der Staat) als auf der dritten der praktischen Vernunft und der freien Intuitionen: „Der Unterschied zwi-schen mir und meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideen-welt andere Intuitionen empfängt als ich. [ ... ] Wenn wir beide wirklich aus der Idee schöpfen und keinen äußeren (physischen oder geistigen) Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intentionen begegnen" (GA 4\166).

Diese Einheit kann, wegen der Freiheit, nur Ergebnis der Erfahrung sein (GA 4\165) .

Wir wissen von den Intuitionen des anderen Menschen nur durch die Beobachtung (GA 4\166 und 240-241).87 Somit ist die Demokratie die angemessene Staatsform einer freien Gemeinschaft.88

87 Das Verstehen einer freien Individualität ist ein Sonderfall im Erkennen. Normalerweise müssen wir den Begriff durch Denken der Wahrnehmung hinzufügen: „Beim Verstehen einer freien Individualität handelt es sich nur darum, deren Begriffe, nach denen sie sich ja selbst bestimmt, rein (ohne Ver-mischung mit eigenem Begriffsinhalt) herüberzunehmen in unseren Geist" (GA 4\241). Hier berührt Steiner das Problem der ,Fremdwahrnehmung des anderen Ich`. In einem Anhang von 1918 hat Steiner den phänomenlogischen Tatbestand skizziert, nachdem dieser von Max Scheler, ebenfalls in einem ,Anhang` zur zweiten Auflage von Wesen und Formen der Sympathie (Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle) von 1913, herausgearbeitet war (5. Auflage Frankfurt a. M., S. 268-271). Scheler nimmt eine ,innere Anschauung` an, die, bedingt durch die äußere Wahrnehmung, uns sowohl die Wahrnehmung unseres Ich wie das fremde Ich erschließt (a. a. O., S. 269). Die Fremdwahrnehmung ist kein Analogieschluss (wie Husserl sie zuweilen noch deutet). Vgl. W. Schütz, Das Problem der transzen-dentalen Intersubjektivität bei Husserl, in: Gesammelte Aufsätze. iii. Teil, Studien zur phänomenologischen Philosophie, Nijhoff, Den Haag 1971, S. 86 ff. Schon Volkelt meinte mit Scheler, das Du-Erlebnis sei kein Analogieschluss oder sich Einfühlen in fremden Körperbewegungen, aber das Fremd-Ich Volkelts hat bestimmt keine phänomenale Gegebenheit: Es ist unmittelbares intuitives Gewisssein eines unerfahrba-ren Transsubjektiven (Das ästhetische Bewusstsein. Prinzipienfragen der Ästhetik, München 192O, S. 146). Positiv über Schelers Widerlegung Husserls urteilt Schütz in: Max Schelers Philosophie. GesammelteAuf-sätze rll, S. 178-179 und in: Max Schelers Erkenntnistheorie und Ethik, a. a. O., S. 216-217; kritisch sich an H. Plessner anschließend F. Hammer in: TheonomeAnthropologie?Max Schelers Menschenbild und seine Grenzen, Nijhoff, Den Haag 1972, S. 168-17O. Steiners Analyse hat eine ähnliche Grundstruktur wie die Schelers: Die Sinneserscheinung des anderen Menschen setzt meine denkende Tätigkeit unmittelbar in Bewegung, und ich nehme dies wahr: Sein „Denken aber ergreife ich in meinem Denken als Ergebnis wie mein eigenes. Ich habe das Denken des andern wirklich wahrgenommen" (GA 4\26o). Dass Steiner Schelers Analyse kannte und würdigte, geht hervor aus GA 322\94.

88 Zu diesem Thema siehe Hegge (1992), II. Teil. Hegge behandelt darin namentlich Steiners Freiheitsbe-griff im Zusammenhang mit seinem sozialen Dreigliederungsgedanken (a. a. O., v. a. S. 173).

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Steiner war sich der immanenten Widersprüchlichkeit seiner Ausführungen, wie deren Notwendigkeit, schon bewusst. Einerseits wird die Universalität des Denkens betont, andererseits die individuelle Art, in der sich die sittlichen Intuitionen in jedem menschlichen Bewusstsein ausleben: „Wer sich gedrängt fühlt, bei dieser Gegenüber-stellung als bei einem ,Widerspruch` stehen zu bleiben, und wer nicht erkennt, dass eben in der lebendigen Anschauung dieses tatsächlich vorhandenen Gegensatzes ein Stück vom Wesen des Menschen sich enthüllt, dem wird weder die Idee der Erkenntnis, noch die der Freiheit im rechten Lichte erscheinen können" (GA 4\181). Es ist dieselbe Tätigkeit, die einmal beim Erkennen allgemein-menschlich wirkt und ein andermal die sittlichen Intuitionen individualisiert (GA 4\182) . „Was als logischer Widerspruch erscheint, [ ... ] wird, indem es in seiner Wirklichkeit angeschaut wird, gerade zum leben-digen Begriff ` (GA 4\182). Der Widerspruch wird nicht aufgehoben in einer formalen Negation der Negation, sondern in einer lebendigen Einheit des Gegensätzlichen, die „im lebendigen Pendelschlag sich hin und her bewegt" (GA 4\182). Der Widerspruch hat als lebendiger Begriff realen Bestand: „Mit dem freien Handeln löst der Mensch einen Widerspruch zwischen der Welt und sich. [ ... ] Das aber ist das Schicksal des Selbst, daß es nur in seiner Trennung vom All den Anschluß an dieses All finden kann."

(GA 7\37). Wie verhalten sich zum Schluss die beiden Spaltungen von Wahrnehmung und

Begriff? Das Subjekt hat das Bewusstsein erworben um den Preis der anfänglichen Unwissenheit (Spaltung von Wahrnehmung und Begriff). Die Tätigkeit des Bewusst-seins arbeitet Begriff und Wahrnehmung ineinander. Durch die Spaltung entsteht aber die subjektive Innenwelt des Fühlens und der Vorstellung. Aus dieser heraus realisiert das Bewusstsein, das Subjekt, im Vergleich zu der vorgefundenen Natur Neues durch seinen Willen. Die Spaltung ist an sich keine Wirklichkeit (Widerspruch zum Erkennt-nisbegriff) . Sie ist eine Unwirklichkeit, ein realer Schein, der das Subjekt freisetzt, seine Tätigkeit aus sich zu entfalten. Diese Tätigkeit ist universell, aber ex-zentrisch ange-setzt, denn sie hat zugleich subjektive Gestalt durch unser Sondersein: „Unser Verstand [kann] nur einzelne Begriffe aus einem zusammenhängenden Begriffssysteme erfas-sen. Diese Absonderung ist ein subjektiver Akt, bedingt durch den Umstand, daß wir nicht identisch sind mit dem Weltprozeß, sondern ein Wesen unter Wesen" (GA 4\89) . Erlebten wir die Weltprozesse mit (,Identität`), so hätten wir nicht den Unterschied zwi-schen uns und den Dingen (GA 4\89), mithin gäbe es dann kein Bewusstsein (GA 4\28). Die Abstraktion ist daher die Kehrseite des Bewusstseins und zugleich ein Schein. Die Wahrnehmung einer Willensäußerung hat an sich jeweils einen entsprechenden Begriff (Intuition). Wären wir ,identisch` mit dem Weltgeschehen (und sähen somit dem uni-versellen Denken zu bei „seinem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt"; GA 4\91), dann könnten wir schon die zugehörigen ideellen Bestimmungen unseres Handelns mit ansehen. Ein freies Handeln wäre dies nicht: Es fehlte das Selbst. Nach unserer Interpretation wird der Begriff durch die Individuation, ihre Absonderung und Aktua-lisierung im individuellen Bewusstsein, erst freie Intuition. Nicht weil ein Begriff der Handlung vorangeht (was nichts Besonderes ist), sondern nur wenn dieser in unserem

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Bewusstsein in der Form als freie Intuition vorangeht, ist die Handlung frei. Die bewusste Intuition ist notwendig frei, weil sie aus einem Denken hervorgeht, das einem mensch-lichen Bewusstsein inhäriert, und wesentlich bedingt ist durch ihre Doppelstruktur: Allgemeines-Universalkraft (,Denken` in engerem Sinne) bezogen auf Individuelles-Sondersein (Beobachten). Erkenntnis und Freiheit sind folglich Komplementärbegriffe. Der bewusstlose Aufschub der wirklichen Beziehung von universellem Weltensein und Sondersein, welcher bedingt ist durch unsere subjektive Organisation, erzeugt den irrealen Schein der Begriffslosigkeit an der Wahrnehmung zugleich mit dem realen Freiraum, worin eine subjektive Tätigkeit sich entfalten kann. Hebt sie den Aufschub teilweise auf (in der konkreten ,Negation der Negation`), dann entstehen Bewusstsein und Vorstellungen individueller Gestalt. Erfasst sie in dem entstandenen Bewusstsein eine Intuition, der die reale Beziehung zum wahrnehmbaren Sondersein noch fehlt, so kann sie durch das Wollen eine solche Beziehung realiter herbeischaffen (ebenfalls eine konkrete ,Negation der Negation`) . Das Wollen ist dann zwar inhaltlich durch die Idee, aber in ihrer jeweils besonderen Individuation nur durch das eigene Subjekt bedingt und deshalb wirklich frei. Die Aufhebung der Trennung des Begriffs des freien Geistes von unserer individuellen Existenz kann es nur in der sich in entgegengehenden Rich-tung bewegenden Aufhebung der Spaltung von Wahrnehmung und Begriff geben.89

§ 9.9. Methode der Philosophie der Freiheit

Fassen wir das Methodische der Gedankenentwicklung zusammen:

A: Einerseits will Steiner sich nur beschäftigen mit dem Bewusstsein, wie „sich dasselbe stündlich darlebt" (GA 4\35). Stets geht ,die Beobachtung zeitlich dem Denken voraus' (GA 4\39). Die Beobachtung, die sich Wahrnehmungen am Bewusstsein zuwendet, bildet die Grundlage alles Erkennens und der Philosophie.

B: Die denkende Bearbeitung führt zum philosophischen Begriff des Bewusstseins. In der Gestaltung der Begriffe soll der Philosoph ,Begriffskünstler` sein, der seine Begriffe zum ,Organismus` gestaltet (GA 4\270; PHDF 7). Es gibt hier jedoch erkennbare methodische Prinzipien. Wir meinen dies in unserer Darstellung und Auslegung gezeigt zu haben. Die Gestaltung hat eine dialektische Form mit folgenden Stufen:

89 Die Zusammenhang beider ,Spaltungen` finden wir in abstrakter Form auch bei Hegel: Das Erkennen ist die Einheit von der scheinbar frei für sich existierende Idee im Ich und von der Idee als vorausgesetzter Welt (ENZ § 223). Das Erkennen ist für sich den an sich nichtigen Gegensatz von subjektiver Idee und Welt als nichtig zu setzen (Negation der Negation; ENZ § 223). Erkennen und freies Wollen sind auch dieselbe Bewegung des Geistes: Es ist die ,gedoppelte endlich-reale Bewegung', einmal um „die Einseitigkeit der Subjektivität der Idee aufzuheben", d. h. durch Aufnahme der seienden Welt in das subjektive Vorstellen und Denken zum objektiven Inhalt zu gelangen, das andere Mal, umgekehrt, um den Schein der objektiven Welt aufzuheben, d. h. das seiende Innere in sie einzubilden: das Wollen (ENz § 225) . Vgl. auch ENZ §468.

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1. Das Ganze wird eingeteilt. Die Einteilung ist nicht willkürlich, sondern geschieht nach bestimmten Gesichtspunkten in die meist fundamentalen Gegensätze: Ich und Welt (GA 4\28), im Wissen: Denken und Beobachtung (GA 4\38), in der Wahrnehmungswelt: Subjekt und Objekt (GA 4\6o), oder in der Welt: Universalität (allgemeines Weltensein) und Individualität (Sondersein; GA 4\90-91).

2. Die Glieder des Gegensatzes werden jedes für sich bestimmt; es wird aufgezeigt, dass sie sich ineinander widerspiegeln, einander reflektieren: Das Ich ist in der Welt, das Wesen der Welt ist im Ich aufgeschlossen; Denken ist eine Art innerer Beobachtung, und das Beobachten ist ein sich übersteigendes Denken; im Denken ist ein Wollen (Tätigkeit), im Wollen ist ein Denken (Motiv).

3. Das Verhältnis im Gegensatz erleidet mehrmals eine qualitative Inversion, oder die Perspektive wird umgekehrt: Die Priorität der Beobachtung (GA 4\39) weicht der Selbständigkeit des Denkens (GA 4\51); Denken erscheint zuerst als freie und trans-parente Tätigkeit des Ich, durch welches Begriffe und Ideen entstehen (GA 4\46); dann aber erweist die subjektive Tätigkeit des Denkens sich als Folge einer auto-nomen, universellen Tätigkeit (GA 4\6o); das Gefühl ist erst passiver Ausdruck der Beziehung der Wahrnehmung auf das Subjekt (GA 4\108), dann, im zweiten Teil, als Liebe das eigentlich Bewegende (GA 4\162).

4. In der Mitte ,zwischen` den gegenübergestellten Gliedern entsteht ein Drittes: zwischen Ich und Welt der Trieb zu Religion, Kunst und Wissenschaft (GA 4\28); zwischen Begriff und Beobachtung das menschliche Bewusstsein (GA 4\59); aus Subjekt und Objekt die Vorstellung (GA 4\68), das Gefühlsleben (GA 4\1o8), die fließende Erkenntnisgrenze (GA 4\116) und zuletzt die Liebe; aus allgemeinem Denken und individuellem Wollen (Denken im Wollen und Wollen im Denken) entsteht die Freiheit.

5. Das Dritte bildet stets eine Synthese aus beiden Elementen des Gegensatzes: Der Trieb ist im Ich, gestaltet die gegebene Welt um; das menschliche Bewusstsein vermittelt Denken und Beobachtung (GA 4\59), nimmt die Wahrnehmung im Begriff auf und konstituiert mit dem Begriff das Ding in der Wahrnehmung, damit Erkenntnis entstehe (GA 4\92); die Vorstellung ist die Repräsentation des Objekts im Subjekt (GA 4\99); eine Handlung (Wollen) ist frei (Synthese), wenn sie aus reinen Intuitionen (dem Denken) hervorgeht (GA 4\162).

6. Die genannte Relation in der Synthese hat zugleich dynamischen Charakter: Beob-achtungen fordern Denken heraus, dieses weist den Weg zu anderen Beobach-tungen; dass das Denken hinausgreift über unser Sondersein und sich bezieht auf das allgemeine Weltensein, ist ein Trieb der Erkenntnis (GA 4\91); das Erkennen entwickelt sich aus dem Widerspruch zwischen universellem Denken und beob-achtetem Sondersein (GA 4\95-96); die widersprüchliche Synthese von Erkennen und Erleben ist „lebendiger Pendelschlag" (GA 4\182); die Liebe wirkt im Denken, bewegt das Ich zum Gegenstand hin (GA 4\143) und wird zugleich von diesem herangebildet (GA 4\111); der ganze Trieb der Subjektivität ist Überwindung des Widerspruchs zwischen Ich und Welt, ist ,Anschluss durch Trennung'.

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7. Die Gegensätze entwickeln sich zu einem Ganzen, zu einem Begriffssystem (GA 4\57) oder Organismus (GA 4\270): Aus der Gegenüberstellung von Ich und Welt werden Denken und Beobachten entwickelt; aus Denken und Beobachten der Gegensatz Subjekt und Objekt; aus diesem Innen- und Außenwelt; aus diesen das Verhältnis von Denken und Fühlen usw.; zuletzt sind die Idee des Erkennens und die Idee der Freiheit komplementär; sie sind zuletzt nur eine einzige Idee, die Idee des menschlichen Geistes, die das Ganze der Darstellung beherrscht.

Steiner scheut sich nicht, die Analogie der Goethe'schen Morphologie anzuwenden, u. a. wenn er davon redet, dass die Wissenschaft, im Besonderen die Philosophie, „organisch-lebendig werden soll" (GA 4\270) und das Wissen zu einem „realen, sich selbst beherrschenden Organismus" gemacht werden soll (GA 4\270). Dadurch setzt man sich der Gefahr aus, nur in Analogien zu reden. Die Analogie von Dialektik und ,organischem` Denken war Fichte schon eigen,90 ist also im Grunde nichts Neues. Was Steiner hier metaphorisch anführt, ist dieser schärferen Bestimmung durch sieben Merkmale fähig. Diese sieben methodischen Punkte müssen — konsistenterweise — Ausdruck der Natur des Begriffs sein.91

c: Drittens ist eine organische Gestaltung der Begriffe keineswegs schon Bürgschaft für ihre Wahrheit. Die Zugehörigkeit des entwickelten Begriffs oder Systems (der Theorie) zur Erfahrung, also zuletzt die Beobachtung entscheidet über die Wahrheit. Die PHDF

soll deshalb nur „Beobachtungsresultate" enthalten (vgl. das Motto der PHDF).

§ 9.10. Differenz zu Hegel

Im dritten Kapitel haben wir den Unterscheid von Steiners Gebrauch des Widerspruchs und den Dialektik Hegels erörtert. Wir kommen jetzt noch einmal auf den Unterschied zu Hegel zurück, nachdem wir in Kapitel Iv und v Anlehnungen an Hegel in der Naturphilosophie nachweisen konnten. Die Entsprechung im Begriff des ,Bewusst-seins` haben wir bis jetzt aufgeschoben. Steiner folgt Hegel darin nach, dass er die Selbstsetzung des ,Ich` an das ,Denken` bindet. Hegel analysiert zunächst die anschau-ende, vorstellende und erkennende Intelligenz (ENZ §§445-465). Was diese an sich ist,

9O Das höchste Prinzip ist einmal als Einheits-Prinzip, ein anderes Mal als Disjunktions-Prinzip zu fassen, denn „an sich ist das Prinzip weder der einen, noch des andern Prinzip, sondern beider als organische Einheit und selber ihre organische Einheit" (Fichte, Werke, herausg. I.H. Fichte, Berlin 1971, Bd. x, S. 133, Hervorhebungen von mir, J.S.) .

91 Die sieben methodischen Schritte sind selber Begriffsbildung und müssen deswegen auf sich selber angewendet werden können, was unsere Interpretation durchaus erlaubt: Die Abstufung ist eine Einteilung (1), deren Glieder eine asymmetrische, inversierende (3) Spiegelung (2) bilden (v. a. 1 zu 7, 2

zu 6 und 3 zu 5), mit einem Zwischenverhältnis (4), in welchem die Stufen durch innere Beziehung (5) eine Progression (6) mit einheitlicher Struktur darstellen (7). Wir denken also mit dieser Interpretation dem Original und seiner Intention nahe zu kommen.

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DIE PHILOSOPHIE DER FREIHEIT 357

das soll erst noch für sich werden. Ihr Tun wird dadurch erst ,Wille (ENZ § 468); und zum denkenden Willen erhoben, wird die Intelligenz erst wirklicher ,Geist` (ENZ § 469) oder ,freier Geist' (ENZ §§ 481-482). Ein sich selbst erkennendes (freies) Ich gibt es also erst am Ende der Entwicklung, nicht als absolutes, unbedingtes Erstes, das jeder Verständlichkeit entbehren muss.92 So auch der Gedankengang in PHDG.

Die Verwandtschaft mit Hegel ist so eng, dass es nahe liegend war, die Differenz hervorzuheben, was Steiner selbst weder für Fichte noch für Schelling tut. Das Ich, das durch Selbstreflexion zum Selbstbewusstsein kommt, ist für Steiner zwar eine Stufe des Geistes, doch nicht dessen Totalität. Der Unterscheid zwischen Hegel und Steiner liegt namentlich in der gegenseitigen Bestimmung von Denken und Begriff. Steiner formuliert: „Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist, sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag" (GA 4\60). Das Denken vermag sich zu durchschauen und ist zugleich universelle Tätigkeit. Es ruht auf sich selber und ist nicht per se subjektiv. „Es kann diese durch nichts bestimmte Natur des Denkens [ ... ] nicht einfach auf die Begriffe übertragen werden. (Ich bemerke das hier ausdrücklich, weil hier meine Differenz zu Hegel liegt. Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches)" (GA 4\57-58) . Was diese Differenz nun heißen soll, ist

nicht unmittelbar klar.93 Eduard von Hartmann glossiert in GA 4\58 über die Differenz zu Hegel: „Bei Hegel ist Begriff und Denken gar nicht unterschieden; das Denken ist der Begriff in seiner Flüssigkeit oder dialektischen Selbstbewegung, und die substanzlose und subjektlose absolute Tätigkeit in den momentan festgehaltenen Phasen ihres Tuns sind die Begriffe" (GA 4a\358). Diese Bemerkung ist an sich vollkommen richtig. Trifft sie aber die Sache? Steiner gesteht einmal in der Korrespondenz mit Hartmann: „Ich glaube mich von Hegel gar in nichts zu unterscheiden, sondern nur einzelne Konsequenzen seiner Lehre zu ziehen. Soll die Idee Wirklichkeit haben, dann muss der Erkenntnisprozess ein realer und kein bloß logischer sein, das heißt Wahrnehmung und subjektiver Begriff können nur (einseitige) Momente der Wirklichkeit sein; diese selbst ist erst in der vom Erkenntnisprozess herbeigeführten Durchdringung (in der von der Idee aufgesaugten Einzelwahrnehmung) gegeben" (GA 39\227).

In der erwähnten Korrespondenz mit Hartmann gesteht Steiner ferner, es habe ihm nicht gelingen wollen, „die Frage ganz klar zu beantworten, inwiefern das Individuelle doch nur ein Allgemeines, das Viele ein Eines ist. Aber dies ist vielleicht die schwierigste Aufgabe einer Philosophie der Immanenz" (GA 3\227). Zur Lösung müsse man „-zwar nicht in mystischer, wohl aber in logisch-ideeller Weise - das Individuelle des

92 Vgl. dazu WDL 1\76-78, wo Hegel Fichtes Behauptung kritisiert, man könne den Anfang unmittelbar beim Ich ansetzen. Die Einsicht in das Ich (absolutes Wissen) habe sich erst zu erweisen. Dazu auch T. Kracht, Philosophieren der Freiheit. Hinweis auf eine Leseerfahrung, in: Rudolf Steiners ,Philosophie der

Freiheit'. Eine Menschenkunde des höheren Selbst, herausg. von K.M. Dietz, Stuttgart 1994, S. 16O-196, v. a. S. 182.

93 T. Kracht (1994) hat diese Frage eindringlich behandelt (S. 186, 19O und 194), ohne sie direkt zu beantworten. Er weist hin auf die Praxis der ,Individualisierung des Denkerlebens' (S. 194), die vielmehr geübt (Steiner), als bestimmt (Hegel) sein will (S. 195-196).

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Bewußtseins abstreifen und erkennen, daß wir im Denken eigentlich gar nicht mehr Einzelne sind, sondern lediglich ein allgemeines Weltleben mitleben" (GA 39\227).

Schließen wir das Ergebnis zusammen mit der prinzipiellen Bemerkung aus der Dissertation: Steiners objektiver Idealismus „unterscheidet sich von dem Hegelschen metaphysischen, absoluten Idealismus dadurch, dass er [Hegel] den Grund für die Spaltung der Wirklichkeit in gegebenes Sein und Begriff im Erkenntnissubjekt sucht und die Vermittlung derselben nicht in einer objektiven Weltdialektik, sondern im subjektiven Erkenntnisprozesse sieht" (GA 3\16). Nun hat Hegel gar nichts anderes gemeint, als dass die Vermittlung des Erkennens im Subjekt stattfindet, die auf dieser Stufe ,Intelligenz` heißt (vgl. ENZ § 445). Der Unterschied ist dann auch ein anderer. Es handelt sich um den Grund der Spaltung von Sein und Begriff. Diese betrachtet Hegel in seiner Enzyklopädie als ,Weltdialektik` (laut Steiner). Der Begriff ist ,an sich` in der Logik (ENz § 84), ,für sich` in der Natur (ENz § 244) und ,an und für sich` im Geiste (ENz § 381). Der Geist ,geht aus der Natur hervor', aber dieser ist Voraus-Setzung jener (ENz §§ 381 und 384). Der Geist ist ,die Wahrheit' der Natur (an sich die Idee, aber in der Form ihres Andersseins; ENZ § 247), in welcher sie als Selbständiges ,verschwindet`, so dass der Geist sich als das absolut Erste erweist (ENZ § 381). Der letzte Standpunkt der Philosophie ist aber, dass die an und für sich seiende Idee sich entzweit (,urteilt`) in Geist und Natur, die sich zusammenschließt dadurch, dass „die Natur der Sache, der Begriff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist" (ENz §577). Steiner sieht dies alles anders, insofern nicht die logische, an und für sich seiende (absolute) Idee sich entzweit in Natur und Geist und sich zusammenschließt, sondern immer nur die individuelle Subjektivität Natur und Geist trennt und sich ihrer Zusammengehörigkeit bewusst wird. Die absolute Idee ist bei Hegel zwar die Idee der absoluten Subjektivität (der ,freie Begriff), aber letztendlich doch in der Form eines abstrakten Begriffs.

Wir sind damit an dem Punkt angelangt, wo Steiner auch in der Logik auf Distanz zur absoluten Negation geht: Der Logik Hegels haftet noch die beschränkende, abstrakt-gedankliche Subjektivität an, weil die Begriffsform in ihrer unmittelbaren subjektiven Bewusstseinsform zum einzigen Inhalt und Weltgrund erhoben wird. Man kann den Inhalt der realen Gattung, Steiner zufolge, nicht aus der abstrakten Form des Begriffs herleiten (§§ 5.4.2 und 5.6.2). Steiner behauptet nicht, dass die abstrakte Idee, so wie wir sie denken, ,sich selber begreift`, oder dass das Denken im Grunde die negative Beziehung auf sich sei. Denken ist individuelles Tun. Dieses ist ,an sich` eine universelle Tätigkeit, und ist ,für sich` durch freie Tätigkeit, die immer nur individuell ist. Ebenso wenig als ein Begriff sonst die Individualisierung der Wahrnehmungswelt in sich hat, ist dies bei der Idee des Erkennens der Fall.94 Diese Tätigkeit ist nicht diejenige des Begriffs,

94 Falsch ist deshalb nach dieser Interpretation der Standpunkt Hegels, die R. Schäfer in seinem Die Dialektik und ihre besnderen Formen in Hegels Logik (Hamburg 2OO1, Hegel-Studien, Beiheft 45) folgendermaßen beschreibt: Die dialektische Methode ist ein Schluss (Syllogismus: A 1st B, B ist E, E 1st A), der die intellektuelle Bewegung der absoluten Subjektivität darstellt: „In diesem Schluß

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sondern nur die im Begriff, mit dem Begriff verstandene. Hegel setzt deswegen den Begriff ,voran` (die Logik als erster Systemteil drückt dies nur aus), Steiner das Denken, oder, wie es vielleicht verständlicher wäre: Hegel setzt die (absolute) Idee des Erkennens voran, Steiner die Erfahrung des Denkens und Erkennens, das zugleich universell und individuell ist.

Das Individuelle erhält bei Steiner eine eigenständige Bedeutung, die es bei Hegel nicht hat. Im Begriff erkennt bei Hegel der Geist restlos seine Eigenheit, da er nichts sein soll als da seiender, empirischer Begriff (wDL 11\490). Steiner betont demgegenüber, dass die Trennung von Begriff und Realität nicht von der als Begriff erfassten, an sich seienden Idee ausgeht, sondern lediglich von unserer Subjektivität, und deren Behe-bung folglich kein Sichwiederfinden oder Fürsichwerden der absoluten Idee darstellt, sondern ausschließlich die Realisierung unseres Bewusstseins. Das rein wahrnehm-bare, beobachtbare Element wird also nicht verdammt als „Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergängliches" (wDL 11\549), sondern in seinem Recht wiederher-gestellt. Dies gilt nicht weniger vom individuellen Ich wie von einem Teil der übrigen Welt. ,Natur` und ,Geist` sind dann nicht einfach die Realisierung der Kategorien der Logik, sondern umgekehrt: Dese Kategorien sind selber die allgemeinsten Begriffe, abstrahiert aus der Fülle des empirisch zugänglichen Real-Geistigen. Das Erkennen ist daher nicht die ,Befreiung` der Idee aus der Objektivität zur absoluten Idee (womit die Weltgeschichte bei Hegel hat enden können), sondern eben die Realisierung des subjektiven Bewusstseins und der Freiheit (wie übrigens noch in ENZ §576).95

Die ,Konsequenzen`, die Steiner aus Hegels Lehre zieht, sind nicht trivial. Steiner hat keinen vollständig anderen Begriff des freien Geistes als Hegel. Denn auch Hegel sieht in demselben einen ,denkenden Willen` (ENZ § 469). Die wirkliche Freiheit hat der Geist nur als ,Einzelheit` oder Wille, der sich zum objektiven, an und für sich freien Geist macht durch das Denken, indem er die Einheit von theoretischem und praktischem Geist zustande bringt (er erhebt sich über die Willkür als nur ,abstrakte Einzelheit'; ENZ §§ 480-481). Die Intelligenz war schon ein ,Tun`; es fehlte ihr bei Hegel also der

wird das Denkende, die absolute Subjektivität selbst zu einem Gedachten, sofern der Schluß den Denkakt darstellt, also die Tätigkeit des Denkenden. Denkendes, Gedachtes und Denken fallen in eins zusammen" (S. 291-292). Sie fallen keineswegs in eins zusammen, denn diese Schlussfigur denkt noch immer selber nicht. Aus ihr lässt sich die ganze Welt auch nicht ableiten. Sie enthält nicht den Punkt, den wir nicht in dem allgemeinen Begriff des Schlusses fassen, sondern nur an uns wahrnehmen können, und der nur in einem individualiserten Begriff, in einem individuellem Selbstbewusstsein aufgeht.

95 Diese Dialektik gleicht derjenigen Sartres, dass das Bewusstsein ein ,Nichts` sei, für welches das Sein dennoch ist, und das im Erkennen dem Sein ,nichts` hinzufügt, während es zugleich das Sein bestätigt: „la negation affirmative" (L'Être et le néant, S. 269-27O). Steiner fasst diesen Widerspruch schon ganz bestimmt: „Mein Gedanken, der zur Wirklichkeit hinzukommt, ist für die um mich liegende Erfahrungswelt ganz gleichgültig. Diese besteht in sich, unabhängig von meinem Denken. Es kann also sein, daß das Denken zwar für den Menschen eine Objektivität ist, dass es aber die Dinge nichts angehe. Wie kommen wir über diesen scheinbaren Widerspruch hinaus?" (GA 35\1Oo). Der Widerspruch gilt nicht mehr für das Denken selbst: Selbstbewusstsein ist eine Erkenntnis, die zugleich das Sein des Ich erzeugt.

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360 KAPITEL IX

Wille nicht (als ob „die Tätigkeit der Intelligenz willenlos sein könne"; ENZ § 445) . Das Individuum mit seiner Leidenschaft und seinem Interesse ist in der freien Betätigung zuletzt ein unentbehrliches Moment: „Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden" (ENZ § 474) und „Es kommt daher nichts ohne Interesse zu Stande" (ENZ § 475) . Die ,Konsequenzen dieser Hegel'schen Lehre` und seiner Differenz, dass das Denken nicht mehr dem Begriff gleichgesetzt wird (anders ENZ § 468), zieht Steiner aber mit den Begriffen:

a) der individuellen Selbstbestimmung des Menschen (GA 4, Kap. XI); b) der moralischen Fantasie (GA 4, Kap. xII); c) des persönlichen Wertes des Lebens (GA 4, Kap. )(III) und d) des Erkennens der freien Individualität (GA 4, Kap. )(Iv).

Im subjektiven Zweck lebt, nach Hegels Vorstellung, der allgemeine Zweck des Weltgeis-tes. Dies ist die ,List der Vernunft` (ENZ § 209), die die Geschichte forttreibt (ENZ §549), die Macht der göttlichen Vernunft, die sich selbst vollbringt.96 Diese Vorstellung lehnt Steiner entschieden ab: „Ideen werden zweckmäßig nur durch Menschen verwirklicht. Es ist also unstatthaft, von der Verkörperung von Ideen durch die Geschichte zu spre-chen. Alle solche Wendungen wie: ,die Geschichte ist die Entwicklung der Menschen zur Freiheit' [ ... ] sind von monistischen Gesichtspunkten aus unhaltbar" (GA 4\186).97

Die freie Selbstbestimmung des Menschen verträgt sich nicht mit überindividuellen Weltenzwecken.

Die moralische Fantasie, wodurch ein freies Individuum ein konkretes Leben führt, fehlt bei Hegel als selbständiges Moment ebenso wie eine Betrachtung über die persön-lichen Wertschätzungen. Das Erkennen des Individuums wird ständig der Dialektik der Gestalten des Bewusstseins (PHDG) oder der Ideen in der Geschichte untergeordnet.

Es fehlt bei Hegel, kurz gefasst, nachdem er die dialektischen Gedankenkonturen des Begriffs des freien Geistes bestimmt hat, „das reine Zusehen" (PHDG 72), wie im individuellen Leben die Freiheit sich gestaltet: „Die Philosophie [Hegels] aber ent-hält den Ideengehalt der Welt nicht in Form des Lebens, sondern nur in Form von Gedanken. Die lebendige Idee, die Idee als Wahrnehmung, ist allein der menschli-chen Selbstbeobachtung gegeben" (GA 6\1921-162). Man habe nun aber den Weg vom ,absoluten Wissen' zum moralischen Handeln in der Welt zurückzulegen. Erstens wohl dadurch, dass man das Wollen und Fühlen im Denken aufdeckt und, statt von einer Selbstbewegung des abstrakten Begriffs zu reden, sich von dem individuellen Leben im Denken überzeugt.

Dies wäre nach Steiner die höhere Versöhnung von Goethe und Hegel gewesen. Die Art, wie Hegel den Gedanken aufgefasst hat, „führt [ ... ] zu einem toten Punkt". Der abstrakt-dialektische Gedanke „versagt", wenn man ihn „in das unmittelbare Leben des

96 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, herausg. von K. Hegel, Berlin 1848, S. 45. 97 Vgl. Hegel, a. a. O., S. 24 und 546-547.

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Erkennens überführen will" (GA 18\339). Das macht sich namentlich geltend bei der Frage nach der Bedeutung des Individuums. Es „verschwimmt ihm [dem Gedanken-kosmos der absoluten Idee] gegenüber das individuelle Seelenleben" (GA 18 \333-334). Damit wäre auch ein Eindringen in den ,Geist der Natur` versagt (GA 18 \346-347). Hier hat Goethe den Weg weisen können: „Goethe versetzt in dieses [selbstbewußte] Ich die lebendige Idee; und mit dieser in ihm waltenden Lebenskraft erweist sich die-ses Ich selbst als lebensvolle Wirklichkeit" (GA 18\171). Deshalb schließt Steiner: „In Goethes Gedanken lagen Keime für einen Fortgang der Philosophie, die von Hegel nur mangelhaft aufgegriffen worden sind" (GA 18\380).

Klar ist, dass Steiner ebendiesen Versuch gemacht hat: Goethe und Hegel zu ver-binden. Was Goethe für das Naturerkennen getan hatte, wollte Steiner für die Geis-teswissenschaften zustande bringen. „Die Vorstellungen, die Goethe seinen Betrach-tungen über Pflanzen- und Tierbildung zugrunde legte, waren nicht graue, abstrakte Gedanken, sondern aus der Phantasie heraus erzeugte sinnlich-übersinnliche Bilder. Nur das Beobachten mit Phantasie kann wirklich in das Wesen der Dinge führen, nicht die blutleere Abstraktion" (GA 18\2o3). Das Komplement im Moralischen für dieses Lebenselement der ,exakten Fantasie, dieser ,sinnlich-übersinnlichen Bilder`, ist die ,moralische Fantasie`. Steiner war bestrebt, in seiner PHDF dieses individuelle ,Leben` in Gefühl, Vorstellung, Liebe und moralischer Fantasie sowohl dialektisch-begrifflich zu entwickeln als auch lebensnah zu schildern. Die Selbstbeobachtung in der Form des Erlebens des eigentätigen Denkens war der Blickpunkt, von dem aus diese Fülle der Phänomenen zu deuten war: „Diese Wesenheit des Denkens erlebend verstehen, kommt [ ... ] der Erkenntnis von der Freiheit des intuitiven Denkens gleich" (GA 4\254).

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KAPITEL X

Modifikation des Erkenntnisbegriffs

§10.1. Einleitung

Steiners Analyse haben wir aufgeteilt in Stufen, und zwar in sieben Skalen. Sie haben nicht unmittelbar mit den Gegenstandsbegriffen zu tun, die eine andere Grundstruk-tur zeigen. Steiner nimmt, wie in § 5.6.2 erwähnt, eine Dialektik der Kategorien im Hegel'schen Sinne an. Diese materiale Logik hat ihr Korrelat in Objektbereichen, oder eigentlich in Objektperspektiven. Steiner thematisiert beide in dem Vortragszyklus Der menschliche und kosmische Gedanke (GA 151), im Zusammenhang mit allgemeinen anthroposophischen Themen, die wir zu unserem Zwecke hier übergehen können. Er stellt ein System von zwölf grundlegenden ,Weltanschauungen" auf, ein Gesamtbild seiner philosophischen Ideensystematik. Dieser Entwurf einer umfassenden Darstel-lung verschiedener philosophischer Richtungen erlaubt uns erstens den Überblick über die Grundstruktur von Steiners philosophischer Methodik und ordnet zweitens die verschiedenen Themen seiner Philosophie in den intendierten Gesamtverband ein.

§10.2. Zwölf Weltanschauungen

Der Ausgangspunkt von Steiners Darstellung der zwölf Weltanschauungen ist die Fest-stellung, dass ,Wahrheit` und ,Allgemeingültigkeit` eines Gedankens zweierlei sind. Stei-ner meint, dass ein Satz richtig sein kann in einem bestimmten Bereich, diese Gültigkeit jedoch keine Generalisierung zulässt. Dieser formale Unterschied lässt sich materiell dadurch erweitern, dass für einen bestimmten Bereich eine ganze Anschauungsweise seine Richtigkeit hat, d. h., seine Grundbegriffe und die Art der ihnen entsprechenden Gesetzmäßigkeiten finden darin Anwendung und stimmen mit der korrespondieren-den Erfahrung überein. Die ersten zwei ,Weltanschauungen`, und für Steiner wohl der fundamentalste Gegensatz auf dem Gebiet der Ontologie, sind der Spiritualismus

und der Materialismus.2 Für den Spiritualismus hat nur der Geist letztendlich Rea-

1 Die Variabilität dieser Ideen macht den Sinn des gewählten Terminus ,Weltanschauung` aus; vgl. Gadamer (1975), S. 93: „Es ist die Vielheit und der mögliche Wandel der Weltanschauungen, der dem Begriff ,Weltanschauung` den uns vertrauten Klang verliehen hat."

2 Wir lassen dahingestellt, inwiefern Steiners Terminologie der Weltanschauungen immer mit der

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364 KAPITEL X

lität, für den Materialismus nur die Materie. Wir haben schon gesehen, dass Steiner sowohl den Geist als die Materie als solche für ,real` hält. Die denkende Tätigkeit des Ich ist ihm rein geistiger Vorgang und begründet die Teilberechtigung des Spi-ritualismus. Aber auch den phänomenalen Materiebegriff hält Steiner für berechtigt (§3.3.9). Geist und Materie haben also beide ihre Stellung im erkenntnistheoretischen Monismus Steiners. Spiritualismus und Materialismus, die entweder die Bedeutung oder relative Selbständigkeit des Geistes oder der Materie leugnen, führen dann zum ,einseitigen` Spiritualismus oder Materialismus, die Steiner als beschränkte Teilper-spektiven betrachtet (GA 151/35-36). Zwischen beiden Perspektiven (Ansichten oder Anschauungen) gibt es mehrere Zwischenpositionen. Steiner differenziert erstens den Realismus3 und den Idealismus. Der Realismus lässt unausgemacht, ob der Welt und dem Denken über die Welt Geist oder Materie zugrunde liegen. Er hält sich nur an das Reale: erstens an die um den Menschen ausgebreitete Welt und zweitens an den realen Charakter des Denkens im Innern (GA 151\36) . Dieser Position ist somit eine Beziehung auf den Menschen als erkennendes Subjekt eigen: Wir stoßen auf das Reale, ungeachtet dessen innerer Natur. Der Idealismus richtet den Blick auf die Tendenzen in den realen Weltprozessen, auf ihren Zweck und ,Sinn`. Das Reale ist ihm nur Mittel zur Realisierung von Ideen (GA 151\37). So wie er die Ideen erfasst, als Sinn des Realen, kann der Idealismus die äußere Wirklichkeit des Realen aber nicht erklären (GA 151\37). Er ist mithin ein ebenso beschränkter Standpunkt wie der Realismus.

Diese vier Grundpositionen sind schon im zweiten Kapitel der Philosophie der Freiheit (GA 4\29 ff.) systematisch zusammengefasst.4 Es ist die Grundforderung des Erkennens, die Gegensätze von Ich und Welt, von Geist und Materie, Idee und Realität zu überbrücken. Der Spiritualismus und der Materialismus werden als Formen des Monismus vorgestellt, welcher entweder die Materie (im Falle des Spiritualismus) oder den Geist (im Falle des Materialismus) leugnet (GA 4\3o) . Steiner macht demgegenüber geltend, dass der „Grund- und Urgegensatz" von Welt und Ich im Bewusstsein auftritt (GA 4\33). Der Dualismus ist die Alternative zum den Monismus. Für Steiner ist Kant, wegen seines Begriffs des ,Dinges an sich', der Urheber des wissenschaftlichen Dualis-mus. „Die Welt erscheint uns als Zweiheit (dualistisch), und das Erkennen verarbeitet sie zur Einheit. [ ... ] Der Dualismus beruht auf einer falschen Auffassung dessen, was wir Erkenntnis nennen" (GA 4\112). Es ist dies der Fehler, „daß er [Kant] den Gegensatz von Objekt und Subjekt, der nur innerhalb des Wahrnehmungsgebietes eine Bedeu-tung hat, auf rein erdachte Wesenheiten außerhalb desselben überträgt" (GA 4\116). Ein relativer Unterschied wird durch den Dualismus verabsolutiert. Der naive Realis-

traditionellen Begriffsverwendung korrespondiert. Die Darstellung Steiners entfernt sich nicht so weit von der gängigen Auffassung, dass es unumgänglich wäre, die Differenzen aufzuhellen.

3 Gemeint ist evident der Realismus im Sinne der Varianten des naiven und wissenschaftlichen Rea-lismus (des Neurealismus der positivistischen Wissenschaftsauffassung), und nicht der Realismus in Opposition zum Nominalismus.

4 Es werden zwar nur drei mit Namen genannt, die vierte ergibt sich jedoch automatisch.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 365

mus hat es schwierig, das subjektive Denken in die Realität (des Objekts) einzuordnen und wird so zum Dualismus. Ebenso wie der (subjektive oder Vorstellungs-) Idealis-mus das Objekt subjektivieren kann und das Objekt an sich als transzendentales setzt (eine prinzipiell unwahrnehmbare Wahrnehmungswelt): „Der metaphysische Realis-mus ist eine widerspruchsvolle Mischung des naiven Realismus mit dem Idealismus" (GA 4\123) . Idealismus und Realismus, so wie Steiner sie hier meint, sind offensichtlich behaftet mit dem ontologischen Dualismus. Der Realismus auf dieser Stufe findet den Gegensatz von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, als ein Gegebenes vor (Dualismus im Realen). Der einseitige Idealismus sucht den das Reale transzendierenden ,Sinn`. Als historisches Beispiel des Idealismus nennt Steiner Fichte, wo dieser die Welt zum sinnlichen Material für die Pflichterfüllung stempelt (GA 151\ 37) . Fichte funktioniert gleicherweise als Beispiel des einseitigen Idealismus in GA 4: „Er kommt nicht dazu, durch die Ideenwelt die geistige Welt zu suchen; er sieht in der Ideenwelt selbst die geis-tige Welt. Dadurch wird er dazu getrieben, innerhalb der Wirksamkeit des ,Ich` selbst, wie festgebannt, mit seiner Weltanschauung stehen bleiben zu müssen" (GA 4\33) . Der Idealismus ist in dieser Sicht gebunden an die subjektive Form des Begriffs, woraus ein Dualismus folgt.5

Schon in dem methodologischen Aufsatz Wissen und Handeln im Lichte der Goe-the'schen Denkweise (GA 1) übte Steiner Kritik an dem einseitig verstandenen Realismus und Idealismus (nach Fichte war die Idee nur die Vorstellung im Bewusstsein). Zum Realismus: „Die Welt durch ein Reales, das nicht Idee ist, erklären zu wollen, ist ein solcher Widerspruch, daß man gar nicht begreift, wie es überhaupt möglich ist, daß er Anhänger gewinnen konnte" (GA 1\179) . Die einseitigen subjektiven Idealisten, wie Kant und Fichte, „begreifen wieder nicht, daß, obzwar wir über die Idee nicht hin-auskommen, wir doch in der Idee das Objektive haben, das in sich selbst und nicht im Subjekt Gegründete" (GA 1\181). Wenn Ideen nur subjektiv sind, kommt ihnen keine ,Realität` zu. Mithin ist dieser Realismus zugleich ein ,Irrealismus` der Idee. Der „höhere Standpunkt" Steiners ist der, „wo auch ein Sein, das nicht mit Augen gese-hen, nicht mit Händen gegriffen, sondern mit der Vernunft erfaßt werden muß, als Reales angesehen wird. Wir haben also eigentlich einen Idealismus begründet, der Rea-lismus zugleich ist" (GA 1\180) .6 Eine Synthese von Idealismus und Realismus stand

5 Steiners ,Idealismus` ist als ,Typus` nicht unmittelbar einer historischen Position gleichzusetzen. Weder ist Platons Ideenlehre gemeint noch der absolute Idealismus Hegels, die für Seiner beide zum Teil auch ein Pneumatismus wären (s. u.). Berkeleys Idealismus (Vorstellungen als ideas) und Hartmanns ,kritischer Idealismus` (GA 4\65-69 und 82-83) wie auch der (neu-)kantischen Vorstellungssubjektivis-mus (Volkelt) sind für Steiner hier vielmehr ein ,Phänomenalismus`. Ihm steht ein „transzendentaler Realismus" gegenüber (GA 4\83), sein notwendiges Gegenstück. Fichtes Idealismus kommt in der Tat wahrscheinlich der konstruierten Position sehr nahe (der Begriff im absoluten Ich als Bildner der subjektiven Welt).

6 Nur dieser Idealismus ist ,Realismus` im Sinne des Gegenteils des Nominalismus. Dieser Realismus ist stets auch Idealismus, wenn auch kein subjektivistischer. Diese höhere Einheit hat wiederum zwei historische Versionen: die Ideenlehre Platons und den Hylemorphismus von Aristoteles, wobei Erstere eine idealistische, Letztere eine realistische Modalität darstellt.

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366 KAPITEL X

ihm damals schon vor Augen: „wir vereinigen in unserer Ansicht alle Standpunkte, insofern sie Berechtigung haben" (GA 1\182). Diese höhere Ansicht vertritt auch die PHDF: Der Idealismus spricht vom Idealen, für Steiner, von der individualisierten Intuition. Diese verdankt ihr Entstehen der an sich unwirklichen (irrealen) Spaltung von Begriff und Gegebenem. Mithin hat sie ihren Grund im Nicht-Realen. Die rein subjektiv individualisierten Intuitionen brauchen zur Verwirklichung die moralische Fantasie (das Vermögen zum Vorstellen von ,Nicht-Realem`). Sie haben als freie Inten-tionen keine unmittelbare (reale) Beziehung zum Gegebenen. Diese Idealität ist im Gegensatz zum höheren Realismus deswegen wieder als ,Irrealismus` des Bewusst-seins zu bezeichnen. Weder in einem monistischen Spiritualismus, wo der individuelle Geist im allgemeinen Geiste schwimmt, wie ein Tropfen im Meer, noch im monisti-schen Materialismus, wo die Materie im Menschen ,denken` soll, ist Freiheit möglich, sondern nur in der Zwischenposition des Idealismus (,Irrealismus`). Diese ,irrealen` Intuitionen sind aber selber real und bringen Reales hervor. Aus ihrer ,Irrealität` wird Realität.

Der naive Realismus ist nur Spiegelbild dieses Irrealismus, denn in der Vorstel-lung Steiners fasst der Realismus die Spaltung von realer Außenwelt und real-innerem Denken naiv-positiv, als an sich seiende Spaltung in der Wirklichkeit, auf, statt sie als die das Bewusstsein fundierende Negation des Wirklichen (d. h. die Einheit von Idee und Gegebenem) zu erkennen. Idealismus und Realismus sind in dieser ein-seitigen Form gegenseitig bedingt. Ihre höhere Einheit geht aus dem Verständnis ihrer Grundposition hervor. Das zuerst Unwirkliche, Irreale, fügt sich als realer Fak-tor (als Subjektivität und ihre freien Handlungen) in die Welt ein. Was überhaupt ,Wirklichkeit` ist, messen wir ab an diesem Geschehen, denn die ,Wirklichkeit` ist weder unmittelbar dem Gedanken zuzusprechen noch der Sinneserfahrung, sondern der ,Verwirklichung` des eigenen (Selbst-)Bewusstseins, der Realisierung (materialen Erfüllung) des Begriffs des ,Ich` (mithin der Form). Man sollte „Aristoteles ergän-zen durch Fichte", indem die notwendige Abtrennung der Form von der Materie zum Erkennen (Verlust des Wirklichkeitscharakters der Form) im Denken aufgehoben wird, da die Form (der Begriff) des Ich durch das Ich selber verwirklicht (materi-ell) wird (GA 35\lo0-102). Der Realismus hat also den Umweg über den Idealismus nötig, um das Reale bestimmen zu können. In einer Idee, deren Verwirklichung im Gegebenen wir gleicherweise nachvollziehen können, hätten wir erst die volle Wirk-lichkeit.

Die vier Hauptpositionen bilden ein Kreuz im folgenden Steiner'schen Schema, das zum Ausdruck bringt, dass Realismus und Idealismus mit ihrer dualen Struktur die Mitte halten zwischen den beiden monistischen Perspektiven:

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS

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Spiritualismus

Pneumatismus Monadismus 41 Dynamismus

Realismus

Phänomenalismus

Mathematismus Sensualismus

Rationalismus

Materialismus

Dann füllt Steiner die Lücken zwischen den vier Richtungen aus durch Übergangs-stufen.

Der „grobe" Materialismus kann voraussetzen, dass Materie etwas Homogenes ist (bei ihr hört das Erkennen auf), obzwar diskontinuierlich aufgebaut (vgl. Demokrit, Lukrez, Hobbes, Dalton). Wenn aber die Materie eine mathematische Struktur aufweist, kann der Materialismus übergehen in den Mathematismus, der von der Welt nur dasjenige für wirklich hält, was sich messen und berechnen lässt.' Von der Welt erkennen wir, was sich in mathematischen Formeln darstellen lässt. Diese Perspektive bewegt sich in der Richtung des Idealismus.$ Wenn auch andere Ideen von der Welt abgelesen werden, so haben wir den Rationalismus.9 Wenn auch moralische Ideen dazukommen, sind wir wieder beim Idealismus angelangt (GA 151\38-39). Der Idealismus löst nicht das Problem der Realisierung der Ideen. So ist Steiner der Meinung, dass es unstatthaft ist, in Hegel'scher Art von Realisierung der Ideen in die Geschichte zu sprechen. Der Monismus muss die Verkörperung von Ideen durch die Geschichte abweisen, denn

7 Etwa Plancks „Nur was sich messen läßt, ist wirklich." Die Wurzeln des Mathematismus reichen bekanntlich zurück zum Pythagoreismus der Antike. Die Welt soll auf Zahlen aufgebaut sein.

8 Das Wesen des Mathematischen kann man explizit idealistisch auffassen. Steiner sieht in der Mathe-matik allerdings eine Bestätigung der idealen Natur von Raum, Zahl und algebraischer Struktur (vgl. Kap. Vi). Die Mathematik behauptet sich aber im Allgemeinen unabhängig vom Idealismus (vgl. z. B. Putnams Mathematics without foundatins, in: Putnam [198o], S. 43 ff.).

9 Steiners Terminologie ist hier nicht eindeutig, denn nach einem traditionellen Wortgebrauch beinhaltet der Rationalismus eines Descartes, Spinoza und Leibniz vielmehr die methodische Verfahrensweise, die zum Beispiel in einen Dualismus von Denken und Materie (Kombination von Psychismus und Materialismus) auslaufen kann. Methodisch verwandt ist er in diesem Fall mit dem Mathematismus, denn er geht nach dem Euklidischen Muster deduktiv vor. Steiner kann hier aber auch den ,ratio-nellen Empirismus' von Goethe meinen, dessen Urphänome qualitative Naturgesetze sind. Da der Nachdruck immer auf den Objektbereich gelegt wird, ist die letztere Auslegung wahrscheinlicher. So qualifiziert Steiner Nietzsches zweite philosophische, mehr wissenschaftliche Phase von Menschliches,

Allzumenschliches (1878) bis zur Fröhlichen Wissenschaft (1882) als Rationalismus (GA 151\71), wobei klar ist, dass ein solcher Rationalismus methodisch wenig mit dem traditionellen Rationalismus von Descartes und Spinoza gemein hat.

Psychismus

Idealismus

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moralische Ziele verwirklichen sich nur durch menschliche Zwecksetzung, nicht durch autonome Ideen, was sich gar nicht nachweisen lässt (GA 4 in Kap. xI, v.a. S. 186).10 Wer Ideen als an Wesen gebunden betrachtet, ist Psychist (Psychismus). Wer, statt das pas-sive Haben von Ideen, den Willen der individuellen denkenden Wesen hervorhebt, ist Pneumatist (Pneumatismus), insofern er unausgemacht lässt, wie die Welt des Geistes organisiert ist. Es gibt für ihn aber geistige Tätigkeit (wie Steiner das Denken schon charakterisierte; vgl. § 9.3 und GA 151\40-50) . Diese geistige Tätigkeit setzt die Ideen erst in Wirklichkeit um, was dem einseitigen Idealismus noch fehlte. Steiner will aber durch die Ideenwelt die geistige Welt erkennen (s. o.), die Organisation des Geistes, der Welt einer Mehrheit von Geistern, da wir selber mehrere geistige Individualitäten sind und das Schöpferische in der Natur auch Geistnatur ist: Diese Perspektive ist wieder jene des Spiritualismus (GA 151\41). In abstrakter Form ist das individuelle Geistwesen Monade, für sich stehende Einheit (Monas), die unterschieden wird durch seine Vor-stellungen, seinen Grad der Klarheit (Leibniz). Monadismus ist nach Steiner abstrakter Spiritualismus (GA 151\42). Wenn nicht erkannt wird, wie das Individuum Teil der Welt ist, sieht man „den Teil des Ganzen für selbständiges existierendes Wesen, für Monade an, welches die Kunde von der übrigen Welt auf irgend eine Weise von außen erhält" (GA 4\245-246). Der Leibniz'sche Monadismus11 tendiert zum Realismus, denn „Leib-nizens Monadenwelt ist nichts als eine Ideenwelt; aber Leibniz glaubt in ihr eine höhere Realität als eine ideelle zu besitzen" (GA 1\181). Wenn man das Tätige noch abstrakter auffasst, so ist es reine Kraft, die nicht per se als an ein Wesen gebunden vorgestellt wird: eben in der damaligen Naturwissenschaft die Schwerkraft, die magnetische und elektrische Kraft oder im Philosophischen die Expansions- und Attraktionskraft, die beide nach Kant die Materie zusammensetzen usw.: der Standort des Dynamismus. Steiner meint, in Wahrheit könne „die Kraft [ ... ] uns nur da entgegentreten, wo die Idee zuerst an einem Wahrnehmungsobjekte erscheint und erst unter dieser Form auf ein anderes Objekt wirkt" (GA 1\197). Der Kraftbegriff wird demgemäß von dem Rea-listen als ein hypothetischer, unrealer angesehen. Gibt man ihn auf und beschränkt man sich auf die Wirkungen, oder besser: auf die realen Vorgänge ohne treibenden Faktor, so ist es das Weltbild des Realismus (GA 151\43) . Abstraktion und Reduktion bringen uns also von dem Spiritualismus wieder zum nüchternen Realismus. Die Zwei-fel am Wirklichkeitscharakter des ,Realen` verwandelt die äußere und innere Welt in eine Gesamtwelt von Erscheinungen: Dies ist der Phänomenalismus (GA 151\44). Wenn aus dieser ausgegliedert wird, was wir scheinbar nur aus unserer Subjektivität hin-zufügen, alles Gedachte, Fantasierte, Gefühlte, Begehrte usw., so bleibt als Residuum die Welt der leiblichen Sinne: so der Sensualismus (GA 151\45) . Wenn man annimmt, diese Welt müssten wir übersteigen, denn nur den Sinneseindrücken verdankten wir

lo Das heißt nicht, es gebe keinerlei historische Gesetze, ebenso wenig als dass es keine Naturzwecke gibt, obwohl Planmäßiges im Bau der Organismen als Zweckmäßigkeit gedeutet werden kann (GA 4\188).

11 Obwohl Leibniz die Monaden ,fensterlos` vorstellte, die ihre Nachrichten voneinander nicht ,von außen' empfangen.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 369

die einzig reale (Außen-)Welt, die Dinge im Raume und ihre Zusammenstellung (dar-unter das Kausalverhältnis), dann stehen wir letztendlich wieder am Ausgangspunkt des Materialismus (GA 151\45).

§10.3. Die Metamorphose im Kreis und ihr Strukturgesetz

Zweifelsohne hielt Steiner diesen Rundgang durch zwölf „Haupttypen" der Weltan-schauung, „Eingangstore zur Welt" (GA 151\46), „Weltanschauungsbilder" oder „Nuan-cen der Weltanschauung" (GA 151\52) für eine ,ideelle Metamorphose'. Er macht sogar ferne historische Reminiszenzen an Platons Phaidros (247 c-247 e). Steiner teilt die Sichtweisen unbedenklich sogar den zwölf Tierkreiszeichen zu, obzwar es sich nur um ein „geistiges Abbild" handeln soll (GA 151\48),12 das „nur geistig vorhanden ist" (GA 151\64). So war nach der Interpretation der Neuplatoniker Platons Mythos von der Umkreisung des Kosmos (247 c) immer schon gemeint, wobei die Seele, die sinnliche Welt transzendierend, die nur intelligibele Welt der Ideen schaut.13 Weil sie sich als Totalität darstellt, wird die Metamorphose zum Kreis, „der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente hält" (Hegel in PHDG 29). Die allgemeinen Begriffe sind „in Wahrheit [ ... ] Selbstbewegungen, Kreise" (PHDG 31, vgl. auch ENZ § 15). Als Kreise sind sie für Hegel Abbilder der Totalität, des Systems. Auch Goethe gibt die Tota-lität der Farben, ihre harmonische Stellung zueinander, deshalb in einem ,Farbenkreis` wieder (FL § 809), in dem die in Opposition stehenden Farben einander physiologisch im Auge hervorrufen (vgl. die farbigen Nachbildern, FL § 60) und nach Chorden im Kreis die harmonischen Zusammenstellungen aufzufinden sind (FL § 816 vgl. § 4.2.4) .

Steiner hat gleicherweise die Opposition zum Aufspannen eines Kreuzes benutzt. Im Aufsteigen vom Materialismus zum Spiritualismus erhebt das Ideen-Erkennen sich von der äußeren, passiv im Raum verharrenden über den Idealismus zur inneren geistigen

12 An eine Entlehnung aus der Astrologie ist hier übrigens nicht zu denken (mit Horoskopie hat diese Systematik nichts zu tun: GA 151\67-68). Der Beweis dafür ist die Interpretation von L. Grünewald, die zu einer Parallelisierung kommt der zwölf Weltanschauungen mit den bekannten zwölf astro-logischen Typen, aber zu dem Preis, Steiners Systematik durchbrechen zu müssen zugunsten einer Neuordnung (anfangend mit dem Widder): Realismus — Materialismus — Mathematismus — Sensualis-mus — Psychismus — Rationalismus — Phänomenalismus — Monadismus — Dynamismus — Idealismus — Pneumatismus — Spiritualismus. Das heißt, zehn der zwölf Weltanschauungen haben einen anderen systematischen Ort bekommen, und damit ist die Steiner'sche Ordnung verschwunden (Zwölf Weltan-schauungen und ihre Anordnung in zwei Kreissysteme, Borchen 2OO1). Die Neuordnung, die besser mit der herkömmlichen Astrologie übereinstimmen sollte, wird u. E. dadurch erreicht, dass Grünewald die Haupttypen anders auffasst als Steiner. Es sind also zwei unvergleichbare Systeme. Die eingehende Untersuchung H.H. Schöfflers, Rudolf Steiner und die Astrologie (Dornach 1996), benötigt für die Zusammenstellung der Weltanschauungen keine Entlehnung aus astrologischen Quellen, es scheint sogar, dass diese Zuordnung Steiners auf die nichtanthroposophische Astrologenschaft einen gewissen Eindruck gemacht hat (ebd. S. 2o).

13 Vgl. Proklos in Die Theologie vn Platn, iV. Buch, 5. Kapitel: „Denn die Rotation, genannt in dem Phaidros ist die Intelligenz, durch welche alle Götter und Seelen die Kontemplation des Intelligiblen erwerben"; Vgl. Taylor (1995), S. 245.

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370 KAPITEL X

Tätigkeit und das Absteigen vom Spiritualismus zum Materialismus über den Realismus ist die Abstraktion und fortschreitende Reduktion des Realen. Diese Ordnung der Haupttypen erhält dadurch eine Systematik der ,Steigerung` und ,Reduktion`.

Als Gegensätze, abgeleitet von der Grundstruktur, können allerdings auch a) Pneu-matismus und Sensualismus, b) Psychismus und Phänomenalismus, c) Mathema-tismus und Monismus, und zuletzt d) Rationalismus und Dynamismus betrachtet werden.14 Bei a) handelt es sich um den Gegensatz zwischen dem Aktiven und dem Pas-siven, dem Universellen und dem Individuellen, zwischen dem Indifferenzpunkt und dem Schein der auseinandergelegten Sinneserscheinungen: Geist ist „agierende Idee", das tätige Allgemeine15 (Pneumatismus) — die Sinnesempfindungen, ihrem sensual-hyletischen Inhalt nach, sind immer individuell, wie sie dem Denken vorliegen, passiv gegeben (Sensualismus). In b) wird das Subjekt-Objekt-Verhältnis auseinandergelegt: Das das Erkennen tragende Wesen (Subjekt) wird zum Prinzip und zur Grenze (Psychis-mus). Dass es nicht in sich verharrt, sondern sich der Welt (dem Objekt) aufschließt und überhaupt etwas sich dem Subjekt andient, ist Grundlage des Phänomenalis-mus. Äußeres und inneres Verhältnis ergibt den Gegensatz in c): Der Mathematismus benutzt das zahlenmäßige, äußere Verhältnis (die Werte als Termini des Verhältnis-sen sind extensive Größen). Der Monadismus verzichtet gerade auf das äußere Ver-hältnis und behält nur die reinen Einzelheiten zurück, die sich allein unterscheiden durch den inneren Grad des Bewusstseins (,Entelechien`). Zuletzt sucht bei d) der Rationalismus, aus den Erscheinungen das (qualitative) Naturgesetz ,abzulesen` (Kine-matik des freien Falls und der Himmelsbewegungen, Gesetze der Farben usw.). Der Dynamismus ist bestrebt, die Erscheinungen, gesetzmäßig oder nicht, zurückzuführen auf das Bewirkende, die inneren Kräfte (Gravitationskraft, elektromagnetische Kraft usw. )

Eine Tabelle der diametralen Paare von Zwischenpositionen:

a) Pneumatismus Dynamisch-Universelles passiv empfundenes Individuelles

b) Psychismus Reflexion in sich Sich Aufschließen c) Mathematismus extensive Größe intensive Größe d) Rationalismus gesetzmäßige Form bewirkende Kraft

Sensualismus

Phänomenalismus Monadismus Dynamismus

Die Kreisordnung beabsichtigt wahrscheinlich noch eine tiefer liegende Systematik als nur eine Anordnung von dualen Ansichten. Wenn wir den Diameter Materia-lismus — Spiritualismus zur Symmetrieachse wählen, bilden die Zwischenpositionen zweiten Grades andere komplementierende Gegensätze: 1) Pneumatismus und Mona-

14 Erstmals von S. von Gleich in Die Wahrheit als Gesamtumfang aller Weltansichten (Stuttgart 1957) dargestellt (ebd., S. 3O). Von Gleich versucht, die zwölf Typen historisch zu belegen. Dabei hält er sich aber nicht immer an die präzisen Begriffsbestimmungen der Steiner'schen Darstellung, und so unterlaufen ihm philosophische Ungenauigkeiten. Unsere Kategorienzuordnung in § 1O.4 divergiert von seiner Interpretation.

15 „Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit ist" (GA 1\198).

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 371

dismus, 2) Psychismus und Dynamismus, 3) Rationalismus und Phänomenalismus und 4) Mathematismus und Sensualismus. Ad 1): Der Pneumatismus spricht vom Geist im Allgemeinen — der Monismus nur von den individuellen geistig vorzustel-lenden Wesen in ihrer Pluralität. Ad 2): Der Psychismus hat mit dem Wesen zu tun, das den Ideen in sich Bestand gibt — der Dynamismus, entgegengesetzt, mit der ganz bildlosen, außer sich gehenden Kraft („die Kraft muß sich äußern"; PHDG 105). Sowohl 1) und 2) werden für Steiner synthetisiert in einem erweiterten Spiritualismus. Der Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus verengt sich in 3) zu dem zwischen Gesetz (Rationalismus) und Erscheinung (Phänomenalismus). Ihre höhere Einheit hat Steiner vorgeführt als die Goethe'sche Synthesis des ,gemeinen` Empirismus, der sich auf die Beschreibung der unmittelbaren Phänomene konzentriert, und dem mit Begriffen arbeitenden Rationalismus im ,rationellen Empirismus' (GA 1\186-190).16 Der

Phänomenalismus wird zur Goethe'schen ,Phänomenologie, und zwar keiner ,bloßen Phänomenologie (rein diskriptiv), sondern zu ,rationeller Phänomenologie'. Auf der Seite des Materialismus teilt sich die materielle Welt bei 4) in zwei Bereiche auf, näm-lich in einen Bereich der primären (Mathematismus) bzw. der sekundären Qualitäten (Sensualismus). Steiner hat einen einheitlichen, sowohl vollends qualitativen als auch quantitativen phänomenalen Materiebegriff: GA 1\275 (vgl. § 3.4.9) . Das ,Quantum` wird mit ,Quale zusammengeschlossen und dieses Quale entsubjektiviert. Daher „müssen sich die mathematische Behandlung und die rein auf das Qualitative ausgehende in die Hände arbeiten" (GA 1\240) .

Eine Tabelle der horizontalen Paare von Zwischenpositionen:

1) Pneumatismus Allgemein-Geistiges Individuell-Geistiges Monadismus

2) Psychismus Ideenbildung in sich Wirkung nach außen Dynamismus

3) Rationalismus

Gesetz

Erscheinung

Phänomenalismus

4) Mathematismus primäre Qualitäten sekundäre Qualitäten Sensualismus

In eine höhere Synthesis können auch die diametrisch gesetzten Positionen gebracht werden, wie schon für den Idealismus-Realismus gezeigt wurde. Steiner stellt zu Beginn das Verhältnis von Spiritualismus und Materialismus lapidar hin, entkleidet ihrer ,Ein-seitigkeit`: „Das Materielle ist [ ... ] Offenbarung, die zugrunde liegende Manifestation des Geistigen” (GA 151\35). Die Tatsache des Sich in etwas anderem ,Offenbarens` oder

,Manifestierens` 7 soll die beiden Pole Geist und Materie verbinden. Auch die subordi-nierten Gegensätze [a) bis d) ] erlauben eine höhere Synthese. Wir brauchen hier nur an den ausgeführten Hauptgedanken zu erinnern:

16 Obgleich der Begriff ,Empirismus` auch in anderem Zusammenhang vorkommt, v. a. als ,Erkenntnis-stimmung` (s. u.) .

17 Ein sehr klassischer Begriff. Der Demiurg im Timaios bringt die Ideenwelt in dem Chaos der Materie zur Offenbarung, jene spiegelt sich in dieser (sie wird selber nicht materiell). Der christliche Gottheit offenbart sich in der Schöpfung, ohne mit ihr identisch zu sein.

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372 KAPITEL X

a) Das Universelle des Pneumatismus und das Individuelle des Sinnlich-Wahrnehm-baren (Sensualismus) begegnet sich im Begriff des ,Einzelnen', des individuellen Gegenstandes, dessen Identität nur durch sein allgemeines Wesen besteht.

b) Die erscheinende Welt (Phänomenalismus) schwebt nicht in der Luft, sondern ist anwesend für das Subjekt, das zugleich Träger der subjektiven Ideen ist (Psychis-mus). Ohne diesen Hinausstand (ex-stasis) außerhalb seiner Innerlichkeit bliebe dem Subjekt nicht nur der Solipsismus, es gäbe nach Steiner gar nicht so etwas wie ein ,Ich`, das die eigene Aktivität erst im Wechselbezug von intuitiv erlebtem Begriff und unmittelbarer Erscheinungswelt entwickelt und dadurch zum Selbstbewusst-sein gelangt.

c) Solange das Naturgesetz als die Objekte nur von außen beschreibend (Rationalis-mus) und die hypothetischen Naturkräfte als das eigentliche Wirkende (Dynamis-mus) angesehen werden, ist der gemeinsame Punkt des „Dynamisch-Qualitativen der Charaktere" (GA 1\155), die höhere Einheit von qualitativem Gesetz (Urphäno-men) und zugrunde liegender Naturkraft, noch nicht gefunden.

d) Schließlich will Steiner in seiner dynamisch-projektiven Geometrie den Gegensatz von äußerem Verhältnis (Mathematismus) und innerlich Qualitativem (Monadis-mus) überwinden. Steiner (wie Hegel und Cohen) mutet uns zu, sogar die Differen-tiale nicht nur als Null des Quantums, sondern als Erzeugendes, als unräumlichen Quellpunkt, zu denken (d. h., der Punkt wird Monade;l s vgl. dazu § 6.4) .

In der Mitte der diametrischen Positionen steht fortwährend die Zwei-Einheit von Ich und Welt: die ,Doppelnatur des Menschen'. Einmal auseinandergelegt in innerlich täti-gen Geist und äußerlich in den Raum gesetzte Natur (Spiritualismus-Materialismus), dann in universell-tätige Denkbewegung und passiv sich gebenden, individualisierten Sinnesgehalt [a)] , oder in sich versenkendes oder sich zur Welt öffnendes, entäußerndes Ich [b)], dann in vom Subjekt erfassten Begriff oder vom Subjekt aufgefundenes Reales (Idealismus-Realismus), in Gesetze und deren unterliegende Kräfte [c)] , oder zuletzt in einheitliche Raumes- und Zeitordnung und unräumliche Monadenvielheit [d)].19

Da Steiner die gedankliche Metamorphose vorstellt als Variation des Phänotyps, des untergeordneten Begriffs oder der Vorstellung, hervorgehend aus dem invarian-ten Grundtypus, dem Urtypus oder Grundbegriff (,Idee`), können wir entsprechend diesen zwölf Variationen einen Grundbegriff zugrunde legen, den wir deuten als ,die erkannte Gegenstandswelt (Idee) als Korrelat einer subjektiven Perspektive (Erken-nen)'. Die besonderen Perspektiven entstehen offensichtlich dadurch, dass ein Moment, ein Aspekt der dynamischen Qualität des verschlungenen Objekt-Subjekt-Verhältnisses

18 Leibniz, Mnadologie §§ 1-3. 19 Das Konzept der Synthese gegensätzlicher Positionen ist seit Schelling und Hegel gang und gäbe

geworden. Köhnke (1986), S. 174, listet die neuen Vermittlungskonzepte auf zwischen 1847 und 1875, die u. a. Idealismus und Realismus (Trendelenburg, Prantl, Ueberweg), Idealismus und Materialismus (Trendelenburg, Meyer) oder Spiritualismus und Materialismus (Kym) zu synthetisieren versuchten.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS

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herausgesondert wird. In der ,Dimension` Spiritualität-Materialismus geht es offen-kundig um die Gegenständlichkeit, wie sie unabhängig vom Subjekt in sich selber gegründet dasteht (einmal das Objekt gleich dem Subjekt als Geistwesen, ein andermal das Objekt als dessen subjektloses Gegenteil). Die ,Zwischen`-Dimension des Idealis-mus und Realismus trifft den Moment, wo das Subjekt sich während des Erkennens nicht ganz entäußert, sich nicht zum Geist und Materiellen gleichsam ausstreckt, son-dern es entweder bei der subjektiven Form des Begriffes bewenden lässt, diese schon für rein objektiv hält, oder umgekehrt die Objektivität (Realität) der Tatsache des Vor-findens, des Nicht-beteiligt-Seins am Hervortreten des Objektes gleichsetzt, während dies nur ein subjektiver Ausgangspunkt für den Erkenntnisprozess bildet. In a) wird die Erkenntnistätigkeit objektiviert (das allgemeine Denken wird universelles Pneuma, das individualisierte Qualitätive leiblicher Empfindungsinhalt), in b) die Subjektbezo-

genheit als solche (Seelengrund im oder Erscheinung für das bzw. an dem Subjekt), dann die genannte Zwischenstellung von Idealismus und Realismus, dann hinüber zur Objektseite c) die Substantivierung der synthetischen Momente der Erkenntnis: Der ideelle Inhalt abstrahiert vom Objekt und objektiviert, ist Gesetz, und das Hervorgehen des Besondern aus dem Allgemeinen (Idee), hypostasiert innerhalb des Objekts, ist bei Steiner Kraft; und zuletzt in d: das Gegenständlich-Werden abstrakter Grundbegriffe (Einheit/Vielheit) . Wir deuten diese Zusammenstellung der zwölf Weltanschauungen deshalb als eine systematische Entwicklung der Subjekt-Objekt-Relation (Steiners Idee der Erkenntnis) .

§ 10.4. Beziehung zu Hegels Wissenschaft der Logik

Diese Unterscheidung in genau diese zwölf Haupttypen der Weltanschauung und ihre kreishafte Einordung in ein wechselseitigen Bezugssystem ist eine eigene Leis-tung Steiners und hat als solche keine historischen Entsprechungen. Wir haben die Struktur der zwölf Typen hervorgehoben, damit einsichtig wird, dass Steiner hier nicht eine historische Zusammenstellung präsentiert, sondern den Schlussstein sei-ner philosophischen Systematik konstruiert. Eine ganz bestimmte Entsprechung mit einem damals vorhandenen philosophischen System ergibt sich dennoch, wenn wir die Haupttypen auf ihre Grundkategorien befragen.20 Denn in Bezug auf die Katego-rienlehre hat Steiner sich ausgesprochen für Hegels dialektische Logik (§ 5.6.2). Die Anordnung der Grundbegriffe der Hegel'schen Logik entspricht in ihrer Folge ganz genau der zwölffachen Typologie Steiners, wenn Hegels Wissenschaft der Logik auch von einer anderen Grundstruktur ausgeht: dem Dreischritt ,Sein-Wesen-Begriff, der sich wieder in drei Momente auseinanderlegt und zusammennimmt. Die Entsprechung ist sogar derart, dass eine willkürliche Parallelisierung ausgeschlossen ist. Allerdings

2O Dies tat schon S. von Gleich (1957) aber ohne strengsystematisches Ergebnis. Vgl. zusammenfassend a. a. O., S. 292. Die Kategorien ordnet von Gleich jedoch manchmal anders den Weltanschauungen zu als wir. Es fehlt ihm auch der Leitfaden von Hegels Logik.

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374 KAPITEL X

müssen wir dabei dem Umstand Rechnung tragen, dass Hegel in der Logik die abstrak-ten Kategorien behandelt und diese zudem noch nach seinem Gesichtspunkt, also überwiegend nach dem Gesichtspunkt des Idealismus entwickelt. Im Bereich des Spi-ritualismus gibt es deshalb den geringsten Grad der Entsprechung, obwohl auch da ein eindeutiger Zusammenhang besteht. Die Zuordnung von Steiners Weltanschau-ungen und Hegels Kategorien ist folgendermaßen vorzustellen, unter Beibehaltung der Reihefolge von Hegels Logik und zugleich der Folge des Weltanschauungskreises Steiners:

Der Idealismus: von Steiner charakterisiert durch denn ,Sinn` der materiellen Welt, die ohne diesen sinnleer sein würde, wenn „nicht in ihr jene Tendenz liegt, die sich eben bewegt nach vorwärts, wenn nicht aus dieser Welt, die da um uns herum ausgebreitet ist, das geboren werden kann, wonach die Menschenseele sich richten kann als nicht in der Welt enthalten, die um uns herum ausgebreitet ist" (GA 151\37). Wir heben hervor, dass das hier gemeinte Ideelle (nicht etwa das ,abgelesene Naturgesetz des Rationalismus) nicht in der Welt als solcher vorhanden ist, sondern, in der Terminologie unserer früheren Darstellung, nur im Bewusstsein individualisiert, also aus der Spaltung von Begriff und Gegebenem geboren wird.

In Steiners Behandlung der Hegel'schen Kategorienlehre (GA 108) haben wir weitere Anknüpfungspunkte. Dass die Begriffe ,Sein`, ,Nichts` und ,Werden` (wDL I\82-112 und ENZ §§86-88) richtig verstanden werden, ist für Steiner von größter Bedeutung. Die größte Schwierigkeiten macht dabei der Begriff ,Nichts`, der unmittelbar mit dem Begriff der Freiheit zusammenhängt.21 Das ,Sein` bedeutet die vorhandene Welt. Wenn wir zwei seiende Dinge betrachten nach einem Gesichtspunkt, der nur von uns abhängt, so ist ihre Zusammenstellung etwas Neues. Der Begriff ihres Verhältnisses nach diesem unserem Gesichtspunkt ist Ergebnis der Begegnung von unserem Gesichtspunkt mit dem Daseienden in der Welt: Dieser Begriff entsteht im Bewusstsein als eine ,Schöpfung aus dem Nichts', wird aber realer Faktor (Sein), wenn diese auf unser Denken und Handeln einwirkt (GA 1o8\249) .22 Wir haben aber gezeigt, dass es für Steiner der Grundstruktur des menschlichen Bewusstseins zuzuschreiben ist, dass aus einer unwirklichen subjektiven Spaltung (einer Art ,Nichts`) die Realität des subjektiven Bewusstseins entspringt, wo die freien, d. h. individualisierten Intuitionen erfasst und der Wirklichkeit durch das Wollen einverleibt werden: Die ,Schöpfung aus dem Nichts' oder das Bewusstsein und die Freiheit sind par excellence nur ein ,Werdendes` (während

21 „Die höchste Form des Nichts für sich wäre die Freiheit" (ENZ § 87). Bekanntlich haben Heidegger und Sartre diesen Punkt elaboriert. Heidegger betont, dass Hegels Satz „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe" zu Recht besteht, weil das Sein im Wesen endlich ist und in der Transzendenz des freien, d. h. in das Nichts hinausgehaltenen Daseins sich offenbart (Was ist Metaphysik?, in: Gesamtausgabe, Bd., 8, Was heißt Denken?, S. 114-120). Das Nichts (,le néant') ist auch für Sartre die menschliche Freiheit (L'Être et le néant, S. 61) und zwar ein Loch im Sein (ein „trou d'être", a. a. O., S. 121).

22 Mit Emphase spricht Steiner den gleichen Gedanken aus in GA 93a\121-124: Das Neue und die morali-schen Intuitionen kommen in die Welt durch die kombinierende, produktive Vernunft. Sie sind immer Verhältnisse zwischen schon bestehenden Dingen: eine „Schöpfung aus dem Nichts" (Steiner).

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS

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in der übrigen Natur Beharrungsgesetze gelten sollen). Die dialektische Bewegung von Sein — Nichts — Werden entspricht also den Grundgedanken des Idealismus, wonach das menschliche Bewusstsein Begriffe der Verhältnisse (freie Intuitionen) erfasst, die es erst im Tun dem Sein einverleibt (wobei es den fehlenden Bezug zur Wahrnehmung aus dem Nichts durch sein Wollen ergänzt).

Der Rationalismus „läßt nur diejenigen Ideen gelten, die er findet, nicht solche Ideen, die er von Innen heraus etwa durch irgendeine Intuition oder Inspiration erfassen würde, sondern nur die, welche er von den äußerlichen sinnlich-realen Dingen abliest" (GA 151\39) . Anders als der Mathematismus lässt er dadurch das Qualitative gelten

(ebd.). „Das Starrwerden des Werdens ist das ,Dasein`, ein abgeschlossenes Werden", so fasst

Steiner den Hegel'schen Gedankengang zu dieser Kategorie zusammen (GA 1o8\25o). Das ,Dasein` ist in der Tat „Resultat" des Werdens (ENZ § 89); „das Werden liegt hinter ihm" (wDL I\116). Das Dasein hat die Negation an sich als Bestimmtheit (ENz § 9o), so wird es zur Qualität die zugleich Realität ist (ENz § 91), ein Etwas mit einer Beschaffenheit (wDL I\133), und zuletzt das Endliche, das seine Idealität, das unendliche Werden als innere Qualität, an sich hat (wDL I\164-166).

Die Qualität, oder auch die ,Quiddität`, „ist wesentlich eine Kategorie des End-lichen, die um derentwillen auch nur in der Natur und nicht in der geistigen Welt ihre eigentliche Stelle hat. So sind z. B. in der Natur die so genannten einfachen Stoffe, Sau-erstoff, Stickstoff usw. als ,existierende Qualitäten' zu betrachten" (ENz § 9o, Zusatz) . Es entspricht dieser Kategorie die Anschauung, dass die Gedankenbestimmungen als Qualitäten und Beschaffenheiten in der Welt der endlichen Objekte (des Natur) vor-gefunden, abgelesen werden können. Die aufgehobene Endlichkeit (Qualität) ist bei Hegel erstens wahrhafte Unendlichkeit (Idealität), dann Fürsichsein (,Eines`; ENZ § 96) und schließlich das Setzen vieler Eins: Repulsion (ENz § 97) und das Sich-Aufheben des Unterschiedes in der Attraktion (ENZ § 98). Diese Bestimmungen gehören noch der Qualität an. Als ‚Systole' und ,Diastole` beherrschen sie Goethes Denken über die Natur.

Der Name ,Rationalismus` weist hier der Form nach auf die ideelle Einheit der qualitativen Bestimmungen in den ,Gesetzen` hin. Gegenüber dem Phänomenalismus zielt der Rationalismus auf das bleibende Gesetz in der Erscheinung (vgl. § 1o.3). Wenn er sich entwickelt, „erhebt [er] sich ruhig zu einem Reiche von Gesetzen" (wDL H\156). In diesem verhalten die Gesetze sich gesetzmäßig zu einander (rationale Ordnung). Nach Hegel mündet die abstrakte Identität der Gesetze und ihr Verhältnis von Grund und Folge wieder in die Qualifikation, dass die Gesetze selber einander reflektierende Voraussetzungen und Bedingungen oder, was für Hegel dasselbe bedeutet, Reflexion oder ,Erscheinung` sind. So hat das Reich der Gesetze dieselbe Nichtigkeit in sich wie die Erscheinung, und zusammen sind sie ein ,Verhältnis` (Ganzes-Teile, Kraft-Äußerung, Innen-Außen), oder zuletzt die ,Wirklichkeit` (Einheit des Wesens und der Existenz). Bei Steiner ist daher das Verhältnis ,Idealismus-Realismus` ein höheres als das Verhältnis Rationalismus-Phänomenalismus (vgl. nochmals §10.3).

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376 KAPITEL X

Der Mathematismus „läßt nur das als wirklich gelten, was eben in Rechnungsfor-

meln gebracht werden kann" (GA 151\38). Die Grundkategorie ist die ,Quantität` (Raum

und Zahl) .

Hegel: Die Quantität ist, nachdem die Eins aufgehoben ist, die Bestimmtheit,

„gesetzt, sich als repellierend von sich, die Beziehung aus sich als Bestimmtheit vielmehr

in einem anderen Dasein [...] zu haben" (wDL I\209). Sie ist erstens unmittelbare

Einheit des Außersichseins: Kontinuität, dann als bestimmte Quantität: Quantum und

Zahl usw. (ENZ §§99-102).23

Der Materialismus hat selbstverständlich die Grundkategorie ,Materie, aber die-

ser liegen wieder logische Kategorien zugrunde. Das ,Kontinuum`, ein perennieren-

des Außersichkommen, wird in der äußeren Existenz „ein absolutes Außersichsein"

(Raum) und „ein absolutes Außersichkommen" (Zeit; WDL I\215). Die Materie ist die

unmittelbare, identische, daseiende Einheit von Raum und Zeit (ENz § 261) . „In der

Tat sind diese Begriffe auch nicht weiter verschieden als darin, daß die Quantität die

reine Denkbestimmung, die Materie aber diesselbe in äußerlicher Existenz ist" (wDL

1\215). Die Gesetze des Materiellen brauchen den weiteren Begriff des Maßes: das qua-

litative Quantum, die Einheit von Qualität und Quantität24 (ENz §§107-108). „Die

Entwicklung des Maßes [ ... ] ist eine der schwierigsten Materien; indem sie von dem

unmittelbaren, äußerlichen Maße anfängt, hätte sie einerseits zu der abstrakten Fortbe-

stimmung des Quantitativen (einer Mathematik der Natur) fortzugehen, andererseits

den Zusammenhang dieser Maßbestimmung mit den Qualitäten der natürlichen Dinge

anzuzeigen" (wDL I\392). Das ,reale Maß' ist das selbständige Maß oder das materielle

Ding (wDL I\412-413). Wenn dessen Bestimmtheit nur in einem Verhältnis zum Ande-

ren oder im Verhalten zum Anderen besteht, ist dies das Maß als Wahlverwandtschaft

der chemischen Materien (wDL I\419-42o): „die chemischen Stoffe sind die eigentüm-

lichsten Beispiele solcher Maße, welche Maßmomente sind, die dasjenige, was ihre

Bestimmtheit ausmacht, allein im Verhalten zu anderen haben" (das Reagieren von

Basen und Säuren usw.; WDL I\423).

Der Sensualismus „läßt [nur] gelten, was irgendwie von der Realität angekündigt,

was die Sinne als Eindrücke geben" (GA 151\45) . Der Materialismus nimmt an, die

Materie sehe so aus wie das, was die Sinne sagen25 (ebd.) . Der Sensualismus hält die

Sinnesempfindungen gerade nicht für die Dinge selbst. Das Wie ihrer Einwirkung

auf uns ist ihm auch nicht klar ( „irgendwie von der Realität angekündigt") .26 Die

Empfindung ist etwas für sich und auch etwas in uns; sie ist weder ausschließlich vom

Ding abhängig, noch geht sie allein von uns aus (sie ist also nicht rein subjektiv, ohne

23 Hegel lässt sich zu dieser Kategorie auf eine Kritik an der Zahlensymbolik der Pythagoreer ein (wDL I\ 243-249), dem reinsten Beispiel des Mathematismus.

24 Die Materie erfüllt den Raum, heißt nichts weiter, als dass sie eine reale Grenze (Bestimmung oder Qualität) im Raum ist (ENz § 263, Zusatz).

25 Wenn auch eventuell versetzt in eine fast unendlich kleine Mikrowelt der Atome. 26 Wie Helmholtz behauptete: Die Sinnesempfindungen sind nur ,Zeichen` der Dinge der objektiven

Außenwelt.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 377

Beziehung zur Realität). Die Empfindungen der Sinne sind also zwischen Subjekt und Objekt angesiedelt und somit ,Schein`.

Die Hegel'sche Kategorie des Wesens ist ,das aufgehobene Sein' (wDL II\18). Als Unmittelbares ist es ,das Unwesentliche', als an und für sich nichtiges Unmittelbares das ,Unwesen`, der ,Schein` (wDL II\19). Der Leibniz'sche, Kant'sche und Fichte'sche Idealismus, „wie andere Formen desselben", trauen sich nicht, die Erkenntnisse als ein Wissen von Dingen an sich anzusehen. Der Schein hat keine Grundlage im Sein. Er ist deshalb unmittelbar bestimmt. Die Leibniz'sche Monade gibt sich selbst ihre Vorstellungen, Kant setzt Affektionen voraus, welche gegen sich selbst und gegen das Subjekt unmittelbar sind, und Fichtes ,Anstoß` vom Nicht-Ich ist ein unmittelbares Nichtsein im Ich (wDL I\20-21). Der Schein, nach dieser Auslegung Hegels, entspricht dem ,Sensualismus` Steiners. Allerdings trifft die dialektische Überlegung zu, dass in seiner Unmittelbarkeit der Schein doch als unmittelbar Unselbständiges selbständige negative Beziehung auf sich ist: Er ist Anderes als er selbst.27 Durch dieses Scheinen in sich selbst erweist es sich als dasselbe, was für Hegel ,Wesen` ist: ,Scheinen in sich selbst' oder ,Reflexion` (als Grundkategorie der Wesenslogik). Der Schein ist im Sensualismus nur nicht Widerspiegelung des Dinges an sich (wie im Materialismus), sondern in der Empfindung bestimmt das Subjekt selber, wie es affiziert wird. Hegel'schem Sinn entsprechend: Es ist ein Scheinen in sich selbst.

Der Phänomenalismus „hält sich an die Welt, die uns ringsherum umgibt, ohne zu behaupten, sie sei wirklich". Diese Welt ,er-scheint` uns (GA 151\43-44).

Hegel: Das Wesen muss ,erscheinen` (ENZ § 131). Der Schein vervollständigt sich zur Erscheinung, wenn der Schein das Wesen reflektiert (wDL II\124): Die Welt erscheint. Das Wesen erscheint als Ding (existierendes Etwas; WDL II\129) mit Eigenschaften (reflektierten, ihm eigenen Qualitäten; WDL II\133-134) . Diese lösen sich auf im Gesetz der Erscheinung (wechselseitigen Gesetztseins; WDL II\15o-156). Hier ist bei Hegel ein unmittelbarer Übergang zum gegensätzlichen Rationalismus (der das Gesetz der Erscheinung gelten läßt). Indem die Gesetze sich zur Totalität zusammenschließen, entsteht eine ,Welt`, die sich teilt in eine erscheinende Welt (die rein phänomenale) und eine an sich seiende Welt der Gesetze (wDL II\158).

Der Realismus „bleibt bei dem stehen, was sich real um uns ausbreitet" (GA 151\43): dem Realen.

Die Einheit des inneren Wesens und der äußeren Existenz ist für Hegel erst die ,Wirklichkeit` (wDL H\186). Die Wirklichkeit, die Realität, manifestiert (reflektiert) nur sich (wDL II\2o1). Was nicht verhindert, dass die Philosophie „den Begriff im Realen erkennt", und diese Form des Idealismus ist dann „zugleich Realismus" (ENZ § 535, Zusatz). Eine ähnliche höhere Einheit wie bei Steiner. Das Wirkliche unterscheidet

27 Dennett (i99i) hält die sensorischen Qualia sogar für völlig virtuell. Die ,actual phenomenology' (die Farbempfindung z. B.) als solche ist Schein, ist einfach konkret-faktisch nicht da (nur als Reaktionsdis-position auf bestimmte Reize); S. 362-375. Es war also Schein, dass es einen ,Schein` gab. Anders Hegel: Der Schein ist real.

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sich von dem bloß Möglichen, ist aber in seiner zufälligen Wirklichkeit selbst nur ein Mögliches (WDL II\2o6). Als reale und ,einzig-mögliche' Möglichkeit ist es das Notwendige und erst absolute Wirklichkeit (WDL II\210-211 und 213). Die Dialektik der Kategorie des Wirklichen bringt uns schon hinüber zum höheren Idealismus, denn diese reale Möglichkeit und Notwendigkeit gilt es als Idee zu verstehen und ist Ziel des Erkennens. Darum ist schließlich in Steiners erkenntnistheoretischem Monismus nicht die unmittelbar gegebene Welt die ,Wirklichkeit`, sondern nur die erkannte.28 Der Idealismus grenzt sich vom Realismus ab durch seine Freiheit gegenüber dem Sein (Realen), dadurch dass er aus dem Nichts heraus freie Intuitionen schöpft.

Der Dynamismus, sagt Steiner, „sucht überall die unsichtbaren Kräfte hinzu zur Realität" (GA 151\43).

,Kraft` ist für Hegel zunächst eine Kategorie der Erscheinung (ENZ § 136). In diesem Sinn wird sie aber nur behandelt als ,Verhältnis` von Innerem und Äußerem, Kraft und Äußerung (ENZ § 137). Dann ist die Inhaltsbestimmung der Kraft gleich die der Äußerung (ENZ § 136). Dies würde der Parallelisierung Abbruch tun, denn die Reihen-folge der Entsprechungen wäre dann nicht eingehalten. Man kann aber auch auf das Wirkende in der Kraft achten. In diesem Fall versteht man unter ,Kraft` die innere wir-kende Ursache. Dann wäre die Grundkategorie nicht das Verhältnis von Innerem und Äußerem in der Erscheinung, sondern vielmehr die Kausalität. Diese kommt gemäß Hegels Reihenfolge nach der ,Wirklichkeit`. Die Einheit von Wesen und Sein ist zuletzt die ,Substanz`. Sie ist „das Sein in allem Sein", das seine Totalität in der Form der Akzidentalität hat (wDL H\219). Die Bewegung der Akzidentalität ist die Reflexion von Sein in Schein und umgekehrt, das notwendige Wirkliche. Hegel nennt diese Bewe-gung „die Aktuosität der Substanz als ruhiges Hervorgehen ihrer selbst" (WDL H\ 22o).29

Vielmehr hat die noch nicht gesetzte, ursprüngliche Substanz erst als Ursache (Aktuo-sität) Wirklichkeit (wDL H\224). Die Aktuosität ist reines Tun. Deshalb ist „die Ursache selbst bewegend, aus sich anfangende, [ ... ] selbständige Quelle des Hervorbringens aus sich" (WDL II\224). Wenn es dem Dynamismus nicht um die Reflexion von Kraft und Äußerung (die Erscheinung also) geht, vielmehr um das Wirken der Kraft als Ursache,30 korrespondiert die Kategorie der Kausalität.

Der Monadismus sucht ,das Reale` in einem geistigen Wesen, „das in sich die Existenz erbilden kann" (GA 151\42). Dies ist abstrakter Spiritualismus, denn das Wesen,

28 „Kein dialektisch geschulter Mensch wird vom Begriff der ,Wirklichkeit` anders sprechen, als daß er sagt: In dem Begriff der Wirklichkeit lebt Erscheinung, die durchdrungen ist vom Wesen" (GA 1o8\252).

29 In ENZ § 142, Zusatz, kennzeichnet Hegel den Unterschied zwischen Platon und Aristoteles dadurch, dass Platon die Idee, welche von beiden gleicherweise als das allein Wahre anerkannt wird, von Platon als ,bvvaµts` und von Aristoteteles als ,véQycia` aufgefasst wird, d. h. bei Aristoteles nach Hegels Kategorie ,Wirklichkeit`. ,Aktuosität` ist hier gleich jener Aristotelische Begriff ,en-ergeia`, ,In-Wirkung-sein`.

3o Für Hegel ist das Wirken einer Kraft eine Instanz der Kausalität: „Wenn die Bewegung eines Körpers als Wirkung betrachtet wird, so ist die Ursache derselben eine stoßende Kraft" (WDL II\226). Das Wirken der Schwerkraft ist eine ,substantielle Kausalität', wo die Ursache (,Schwer-Kraft`) die ursprüngliche Identität der Materie wiederherzustellen bestrebt ist (wDL II\23o-231). Vgl. ENZ § 262.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS

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die Monade, wird charakterisiert durch „eine abstrakte Eigenschaft". Bei Leibniz: das Vorstellen (GA 151\43) . Der Pluralismus ist daher Folge der abstrakten Weise des Auffassens: Die Monade bildet in sich ihre Existenz. In GA 119 charakterisiert Steiner den Monadismus ferner durch den Satz: „Man muß viel Einzelnes annehmen, und durch das Zusammenwirken der vielen Einzelnen entsteht dann die mannigfaltige Welt" (GA 119\216) . Sein Gegensatz ist in diesem Fall der Monismus (im spirituellen Bereich: der Pneumatismus). Die Monade ist also, nach Steiner, ,Einzelnes`, das „in sich die Existenz erbildet".

In Hegels Logik gibt es als solche nicht die metaphysische Kategorie der Monade, obwohl Hegel öfter in der WDL über Leibniz spricht. Hegel meint z. B. im Kapitel „Für Sich Sein" über den Übergang von Qualität zur Quantität, dass Leibniz die Vielheit der vorstellenden Monaden unzulänglich als eine gegebene auffasste, statt sie aus der Repulsion zu begreifen (WDL I\189). Vorrangig ist es doch die Qualifizierung der Leibniz'schen Monade als absolutes Objekt, wo wir die Entsprechung feststellen können: „Die Definition ,das Absolute ist das Objekt`, ist am bestimmtesten in der Leibnizischen Monade enthalten, welche ein Objekt, aber an sich vorstellend, und zwar die Totalität der Weltvorstellung, sein soll. [ ... ] Sie ist in sich der ganze Begriff, nur unterschieden durch dessen eigene größere oder geringere Entwicklung." (ENZ § 194) Monade ist der einzelne Begriff als Objekt gesetzt (als erstes, prinzipielles Objekt vor den Hegel'schen Kategorien Mechanismus und Chemismus).

Auf die Wesenslogik (Reflexionslogik) folgt in der WDL die Begriffslogik. Der Begriff ist erstens subjektiver Begriff (oder bei Hegel eigentümlicherweise das Prinzip der Sub-jektivität), dann Begriff des Objekts (Begriff als Objekt),31 danach ihre Einheit im Leben und Erkennen (die ,Idee`). Begriff ist Einheit von Sein und Reflexion (Schein). Er ist nämlich das Scheinen in sich (nicht mehr im anderen): Die Bestimmungen des All-gemeinen zum Besonderen setzt seine Identität als einzelnen Begriff. Vom reinen Tun der Substanz (Kausalität) sind wir beim freien Tun angelangt: Der Begriff ist Ursache seiner selbst32 (WDL II\251). „Der Begriff [ ... ] ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewusstsein" (WDL II\253). Die reine Beziehung auf sich ist das unveränderliche Allgemeine, das sich gleich bleibt in der Besonderung. Diese kommt nicht von außen herein. So ist der Begriff bestimmte Allgemeinheit aus sich selber oder in ihrer unmit-telbaren Einheit: ,Einzelnes` (WDL II\296). Das Einzelne ist das Abstrakte (abstrahiert aus der Allgemeinheit; WDL II\297), daher auch „Verlust des Begriffs" (WDL II\299) und die gesetzte Abstraktion, eben unmittelbares Fürsichseiendes und vorzüglich als Objekt eine ,Monade` (abstraktes Ich).33 Auch anhand anderer Passagen bei Hegel wäre dies zu

31 Der Gegenstand hat seine Objektivität im Begriff (wDL II\255). 32 Auch Steiner betont sowohl das Dynamische des Begriffs als auch seine Selbständigkeit (indem er seinen

Grund in sich selber hat). Vgl. § 4.2.3. Steiner hebt aber gerade in der Behandlung der Hegel'schen Logik hervor, dass der Begriff nicht nur „sich selber manifestiert, sondern [ ... ] außerdem noch seine Linien hinzieht zu der Umgebung, [ ... ] noch etwas anderes auszudrücken versucht" (GA 1o8\252). Dies ist genau das Gegenteil von Hegels Begriff!

33 Der Monadismus erweist sich von der Kategorie her bei Hegel verbunden mit der Kategorie seines

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380 KAPITEL X

belegen (u. a. ENZ § 403: Die Seele ist „existierender Begriff [ ... ] als individuelle Seele ist sie Monade"). Der sich seinen eigenen Bestimmungen gebende Begriff wird in der Monade objektiviert.34 Das Abstrakte ist ,dem Einzelnen` wesentlich (abstrakter Spiri-tualismus). Dem Monadismus entsprechen also vollkommen die folgenden Kategorien der WDL, das ,Einzelne` und das ,Objekt`.

Der Spiritualismus macht den Schritt über den abstrakten Monadismus, wie über den abstrakten, pantheistischen Pneumatismus hinaus zu einer „Annahme der Geister der Hierarchien" (GA 151\41). Der Terminus ,Hierarchie weist auf die christliche Lehre der Hierarchien der Engel, im Besondern auf Dionysius Areopagita hin. Gemeint ist das vernüftig-geistige Verhalten zwischen den Geistern, den individuellen Geistwesen (Ich-Wesen) .35

An diesem Ort braucht die Entsprechung mit Hegels Kategorien eine nähere Aus-legung, aber sie ergibt sich zwanglos. Hegel bezeichnet die Monade als das Objekt par excellence, er entwickelt unter der Kategorie ,Objekt` ferner nur den Mechanismus, den Chemismus und die Teleologie im Allgemeinen. Die Kategorie ,Chemismus` (che-mischer Prozess) berührt hier sogar wieder die Kategorie des Materialismus (,Maß` bzw. ,Knotenlinie von Maßen' oder der qualitative Sprung bei quantitativer Änderung, in welchem Zusammenhang Hegel die chemischen Mischungen als Beispiel anführt; WDL II\437-439). Wenn das Objekt aber eine Totalität der Totalitäten darstellt, als unmittelbare Einheit (ENZ §193), dann ist das Objekt als ,realisierter Schluss' (sich mit sich zusammenschließender, ge-(ur-)teilter Begriff) vorzüglich als System (Kreis von Kreisen) oder als vernünftiges gegenseitiges Verhalten (nicht von Begriffen, son-dern von ,existierenden Begriffen' oder Ichs) zu verstehen. Hegel nennt hier nur im Vorübergehen den Staat als Beispiel eines objektiven Systems von drei Schlüssen (ENz § 198). Diese Teleologie ist aber die objektive Zweckmäßigkeit (der vernünftige Schluss, indem der Zweck sich mit sich durch das Mittel zusammenschließt; ENZ § 204). Sie wird nur vollends gegenständlich im objektiven Geist. Der subjektive Wille wird da

Gegenteils (des Mathematismus), der Quantität, entstanden aus der repellierenden Eins, in welchem Zusammenhang Hegel auch über Leibniz spricht.

34 „Das Objekt ist daher zunächst insofern unbestimmt, als es keinen bestimmten Gegensatz an ihm hat. [ ... ] Insofern der Begriff wesentlich bestimmt ist, hat es die Bestimmtheit als eine zwar vollständige, übrigens aber unbestimmte, d. i. verhältnislose Mannigfaltigkeit an ihm. [ ... ] Weil ihm diese unbe-stimmte Bestimmtheit wesentlich ist, ist es in sich selbst eine solche Mehrheit und muß daher als Zusammengesetztes, als Aggregat betrachtet werden. — es besteht jedoch nicht aus Atomen, denn diese sind keine Objekte, weil sie keine Totalitäten sind. Die Leibnizische Monade würde eher ein Objekt sein, weil sie eine Totalität der Weltvorstellung ist [...], teils insofern Objekt, als der Grund ihrer mannig-faltigen Vorstellungen, der entwickelten, d. h. der gesetzten Bestimmungen ihrer bloß an sich seienden Totalität, außer ihr liegt, teils insofern es der Monade ebenso gleichgültig ist, mit anderen zusammen ein Objekt auszumachen" (WDL II\411). Dennoch ist ,die Monade` eine „mangelhafte Reflexion", u. a. durch die äußerliche, begriffslose, bloß vorstellende Beziehung auf sich (WDL H\414).

35 Spiritualisten in diesem Sinne sind aber im Altertum auch Platon und Aristoteles, die Neuplatoniker und in der Neuzeit Schelling, I.H. Fichte, Troxler. Dieser neuere Spiritualismus hieß übrigens schon sowohl bei Schelling, Fichte-Sohn als auch bei Troxler: ,Anthroposophie`. Vgl. Kap. I, Anm. 29.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 381

,frei':36 „Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiermit zur Idee vollendet sei" (ENZ § 484) . Hier berührt Hegel doch den Spiritualismus (von etwas eigentümlichem Schnitt). Das unmittelbare Dasein des objektiven Geistes ist das Recht, das sich aber entwickelt zur Moralität und Sittlichkeit (u. a. in Staat und Geschichte). Der Staat hat für Hegel „die Seite, die unmittelbare Wirklichkeit eines einzelnen und natürlich bestimmten Volks zu sein" (ENZ § 545), der Volksgeist (ENz § 548). Aus der Dialektik (dem ‚System') der Volksgeister geht „der denkende Geist der Weltgeschichte hervor" (ENz § 552) .37 Hegels Begriff des Objekts, namentlich als vollendete Teleologie (ENz § 210; nicht nur ,List der Vernunft`; ENZ § 209), entspricht also dem Begriff der ,Hierarchie.

Der Pneumatismus hat einseitig ,das Tätige` im Blick: „Es genügt nicht, daß Wesen da sind, die nur Ideen haben können; diese Wesen müssen auch etwas Aktives haben, müssen auch handeln können" (GA 151\40). Dieses Aktive ist ,Geist` (Pneuma) im Allgemeinen.

Die ,Geistlehre beschränkt sich in der Wissenschaft der Logik auf die logische Natur des Geistes: den Begriff als Idee (Einheit von Subjekt-Begriff und Objekt; WDL H\496). Die subjektive Idee ist zunächst „Trieb des Begriffs [ ... J sich für sich selbst zu realisieren, [... ] das Objekt zu bestimmen und durch dies Bestimmen sich in ihm identisch auf sich zu beziehen": Erkennen (wDI, II\5oo). Wenn aber alles noch Fremde des Objekts wegfällt, ist die subjektive Idee in der Tat die Kategorie des ,Wollens` (ENz §§ 233-235). Geist ist gedankenobjektivierendes Wollen (das das Erkennen also in sich aufgehoben enthält, mithin kein blindes ,Wirken` der Kausalität).

Der Psychismus sieht ein, „daß Ideen, wenn sie überhaupt da sein sollen, an ein Wesen gebunden sind, das Ideen eben haben kann" (GA 151\4o). Er ist noch mehr beschränkt als der Pneumatismus und erfasst nur dieses Zusammengehen von Ideen und Subjektivität, ungeachtet ihrer Beziehung zur Welt.

Gerade dieser Punkt ist auch in Hegels ,absoluter Idee` der Begriff des Ich sel-ber, der im Begriff ,subjektiver Begriff noch implizit, an sich, war (daher ,das Ein-zelne'). Jetzt ist Hegel bei dem Für-Sich-Werden des Für-Sich-Seins angelangt: „Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat" (wDL n\549). Über diesen Einheitspunkt reflektiert Hegel als dialektische Methode, die Selbstbewegung, oder Selbstbestimmung des Begriffs

36 Allerdings im Hegel'schen Sinne. Steiner hat einen individualistischen Freiheitsbegriff: Der Staat ist nur „notwendige Folge des Individuallebens" (GA 4\172).

37 Steiner lehnt zwar die Teleologie der Weltgeschichte ab und anerkennt nur menschliche Zwecke in der Geschichte (s. o.). Der Punkt ist hier aber, dass Hegel sich genötigt sieht, den Begriff als Objekt, das zuerst nur ,Monade` war, zur Objektivität der Beziehungen der Monaden zu erweitern: zu einer bewusst-zweckmäßigen, vernünftigen Organisation, zu einem ,Staat` oder ,Reich` der Geister („reale Geister, [ ... ] die eigentliche Wirklichkeiten, und statt Gestalten nur des Bewußtseins, Gestalten einer Welt"; PHDG 315).

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382 KAPITEL X

(WDL II\ 551). Das Selbstbewusstsein ist freie, „negative Beziehung auf sich" (Vermitt-lung durch den Unterschied). Das Subjekt ist in seiner Unmittelbarkeit „ein übersinn-liches, innerliches Anschauen" und in seiner Bewegung „Denken" (wDL II\553). Nur weil es im Grunde keinen Unterschied gibt zwischen dem Begriff und dem Subjekt, hat es die Ideen nicht als etwas Fremdes in oder an sich. Jedes „Außersichgehen [ ... ] ist auch ein Insichgehen" (wDL II\57o). Bei Steiner erklärt diese Einheit nur das Erkennen, nicht das Sein der Welt wie bei Hegel, der aus dem freien Selbstbewusstsein, weil es die Totalität erkennend umfassen kann, diese Totalität der Natur hervorgehen lässt: Die Idee „entlässt sich frei" (wDL II\573). Das Bewusstsein verwirklicht nach Steiner nur „aus freiem Entschluß" sich selbst (die Idee des Erkennens), und zwar indem es im Erkennen die gegebene Trennung von Idee und Gegebenem denkend aufhebt. Die Trennung sowie deren Aufhebung haben für das Objekt, für die Welt, keine Bedeutung, nur für die Erkenntnis (GA 3\67-68) . Das Ich ist allerdings Widerspruch (§ 9.8), aber nicht Schöpfer einer Welt.

Steiner: Weltanschauung 1 Idealismus 2 Rationalismus 3 Mathematismus 4 Materialismus 5 Sensualismus 6 Phänomenalismus 7 Realismus 8 Dynamismus 9 Monadismus 10 Spiritualismus 11 Pneumatismus 12 Psychismus

Hegel: Kategorie Werden Qualität Quantität Maß Schein (Wesen) Erscheinung Wirklichkeit Kausalität das Einzelne Teleologie Idee und (geistiges) Wollen Persönlichkeit (absolute Idee)

Wir könnten jetzt fortschreiten zum Idealismus durch Betrachtung des nur in sub-jektiver Form individualisierten freien Begriffs einer moralischen Intuition. Das Neue würde die schöpferische Seite des individualisierenden Bewusstseins vorbringen. Hegel macht den Übergang anders. Er sieht ihn darin, dass durch die Aufhebung der Ver-mittlung die Idee zur Gleichheit mit sich gekommen ist und daher in die einfache Beziehung auf sich (das „reine, leere Anschauen selbst", WDL I\82) zurückgegangen ist (wDL II\572). Der Unterschied im Übergang markiert die im vorigen Kapitel bespro-chene Differenz zu Hegel. Die Metamorphose der Idee des Erkennens, die in den zwölf Weltanschauungen Steiners gemeint ist, besteht nicht aus jenem tieferen Einbohren in immer dasselbe Selbstbewusstsein, wie bei Hegel. Aus Hegels ,absoluter Idee` oder dem allgemeinen ,Ich` als solchem kommt weder die ganze Welt heraus (Hegels Übergang von der Logik in die Naturphilosophie; ENZ § 244) noch auch die Beziehung des Ich zur Welt (zum Nicht-Ich: der sinnlichen Gewissheit; PHDG 79). Die höchste und gesättigste Wirklichkeit bei Steiner ist im Spiritualismus vorhanden. Einswerden mit dem Objekt ist für Steiner keine unvollkommene Selbstreflexion, sondern das Aufgeben des Selbst-

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 383

bewusstseins zugunsten des Denkens des anderen Objekts, nur ist dieses im Grunde auch geistiger Natur.

Die ausgeführte Entsprechung zwischen Steiners Systematik in GA 151 und Hegels WDL ist, obzwar durch Interpretation gewonnen, bestimmt keine willkürliche. Nament-lich sollte uns hier die Reihenfolge der Kategorien überzeugen. Die Kombinatorik lehrt, dass es 479 ow_ 60o Möglichkeiten der Zusammenstellung von zwölf Elementen gibt. Wenn wir also bei jeder Weltanschauung eine Kategorie der WDL fänden, wäre die Chance nahezu eins zu einer halben Milliarde, dass diese der Folge der WDL entspre-chen würde, wie es nun in der Tat der Fall ist.

Die Auswahl der Kategorien aus Hegels Logik entspricht nicht ganz dessen Syste-matik; sonst würde ein Vielfaches der Zahl ,drei` herauskommen. Aus jedem Teil der Logik stammt eine oder eine gleich bleibende Anzahl von Kategorien. Nun ist die Aus-wahl: ,Werden`, ,Qualität` (d. h. reale Qualität, Beschaffenheit oder einfach ,Quiddität`), ,Quantität`, ,Maß`, ,Schein`, ,Erscheinung`, ,Wirklichkeit`, ,Kausalität`, das ,Einzelne (subjektiver Begriff und unmittelbares Objekt), die ,Zweckmäßigkeit`, der ,wollende Geist', die (für sich gewordene) ,Subjektivität`. Die Auswahl enthält also nur eine Reihe von Momenten der dialektischen Entwicklung der Kategorien. Aus jedem Teil der drei Teile der WDL sind vier Kategorien genommen. In der Wesenslogik (I. Teil der wDL) sind es zwei Kategorien aus dem ersten Abschnitt, ,Bestimmtheit` (Qualität), dann die beiden allgemeinen Hauptkategorien ,Quantität` und ,Maß` (zusammenfallend mit den zwei übrigen Abschnitten der Seinslogik). Aus der Wesenslogik (II. Teil der wDL) haben wir den ,Schein`, die mittlere Kategorie des ersten Kapitels des ersten Abschnitts, dann die zentrale Kategorie des zweiten Abschnitts: die ,Erscheinung`, und die zweite und dritte Kategorie des dritten Abschnitts (unter Weglassung der Kategorie des ,Abso-luten'). Aus der Lehre vom Begriff (II I. Teil der wDL) die dritte Kategorie des ersten Kapitels des ersten Abschnitts, zusammengenommen mit dem Prinzip der Objektivität (zweiter Abschnitt: ,Objektivität`), die Vollendung der ,Objektivität` im ,ausgeführten Zweck`, und aus dem dritten Abschnitt wieder zwei Kategorien: die ,Idee des Guten` (in der unmittelbaren Form des ‚Willens') und die ,absolute Idee` (,Selbstreflexion' oder ,freie Subjektivität`). Aus jeder ,Logik` (Sein — Wesen — Begriff) sind es vier, und dazu aus einem Abschnitt jeder Logik jedesmal zwei. In der Seinslogik ist dies der erste Abschnitt, in der Wesens- und Begriffslogik immer der dritte.

Würde man die Wissenschaft der Logik in Kreisform darstellen, dann ergäben sich geometrisch übrigens nicht die Gegenüberstellungen von Idealismus und Realismus usw., sondern (um eine Stufe verschoben) die von Idealismus und Phänomenalismus, Rationalismus und Realismus usw. Die Korrespondenz ist daher von der Sache her zu verstehen. Die Folge der Kategorien ist aber charakteristisch für die Hegel'sche Logik, und diese hat eine genaue und nicht-willkürliche Parallele in Steiners Zusammenstel-lung von philosophischen Standpunkten. Steiners philosophische Systematik ist als eigenständige Verarbeitung von Hegels Logik zu werten.

Folgerichtig ist Steiners Philosophie durch seine Systematik nicht mehr eine Gedan-kenwelt für sich, weil sie ohne die anderen philosophischen Betrachtungsarten, aus

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384 KAPITEL X

denen sie sich zusammensetzt, oder anders gewendet: zwischen denen sie die Mitte zu

halten versucht, nicht zu verstehen ist. Steiner versteht seine Philosophie, oder neutraler

formuliert: den objektiven Idealismus, als Ergebnis der historischen Entwicklung der

Philosophie. In der Zeit, als er den Vortragszyklus GA 151 hielt, arbeitete Steiner an Die Rätsel der Philosophie (GA 18), seinem Überblick über die Philosophiegeschichte.38 Am

Ende heißt es dementsprechend über „den schwachen Versuch" seiner Dissertation:

„Das ist die Anschauung, zu welcher die philosophische Entwicklung seit dem griechi-

schen Zeitalter hinstrebt und die in der Weltanschauung Goethes ihre ersten deutlich

erkennbaren Spuren gezeigt hat." (GA 18\601). Obwohl darin nirgends die zwölffaltige

Systematik an die Oberfläche tritt, ist undenkbar, dass die vielen Gegensätzlichkeiten,

die Steiner dort nachweist, nicht von dieser mitbestimmt sind, so wie der Gegensatz

von Hegels Idealismus und dem Realismus eines von Humboldts der nachhegelschen

Zeit (GA 18\347, 350-351, 360, 372 und 379). Die Versöhnung von Hegel und Goethe,

dem Dialektiker und dem Empirist, der nie mehr behauptete, als wozu ihn die Tatsa-

chen berechtigten (GA 18\372), wie das auch Michelet gefordert hatte (GA 18\348), hatte

diesen Gegensatz überwinden können, indem man nicht mehr bei dem Gedanken

stehen blieb, sondern diesen über sich hinauswachsen ließ zu einem geistigen Erleben

(GA 18\34o) und über die Abstraktheit der Idee hinauskam (GA 18\278) . Hegels Logis-

mus und Schopenhauers Voluntarismus werden als Gegenfüßler porträtiert (GA 18\

269, 273 und 277) . Hegel wird auch zum Referenzpunkt für eine Charakteristik der spä-

teren Entwicklung des wissenschaftlichen Monismus Haeckels (Idealismus-Realismus; GA 18\412-413). Über den Gegensatz von Hegel und Haeckel kommt man wieder nur

hinaus, wenn man einen Schritt über Hegel hinausgeht und mit Goethe den Gedan-

ken ,lebendig` macht (GA 18\42o-421). Dem Haeckel'schen (materialistisch gefärbten)

Monismus stellt sich, aus der Naturwissenschaft und dem Kantianismus hervorgehend,

der (antimaterialistische) Dualismus gegenüber (vgl. Du Bois-Reymonds Skeptizismus

oder Langes Vorstellungsidealismus; GA 18\431). Im Dualismus bricht die Welt entzwei

in den Gegensatz von Psychismus und Phänomenalismus. Das Subjekt schnürt sich ab

in subjektiven Vorstellungen, wodurch andererseits der Phänomenalismus zum Illu-

sionismus wird (GA 18\422-431).

In der Gestalt der Wissenschaft der Logik, als einer Logik der Dinge, wird der

Pneumatismus (allerdings in abstrakter Form) dem Sensualismus John Stuart Mills

und dessen Logik der Beobachtung entgegengestellt (GA 18\452-453). Mill verrennt

sich in das Dilemma, das Ich sei nur eine Vorstellungsreihe, aber eine solche, die ein

Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft habe (GA 18\455). Was aber das Ich ist,

kann man nicht der passiven Beobachtung entlehnen. Das selbsttätige Denken (Pneu-

matismus) muss sich selbst erfahren (GA 18\457). Die Philosophie kommt von dem

subjektiven Psychismus und abstrakten Pneumatismus los durch das Lebendigwerden

des Gedankens: „Beginnt der Gedanke sein Eigenleben, so entreißt er das Ich seinem

38 Lindenberg (1988), S. 339 und 355.

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 385

subjektiven Leben" (GA 18\471). Das Selbstbewusstsein muss nicht nur wie u. a. bei Bou-troux (GA 18\561), Bergson (GA 18\563), Dilthey (GA 18\571) und Eucken (GA 18\573) als ein selbständig Geistiges betrachtet werden. Es darf dabei nicht Halt gemacht werden. Die Selbstbeobachtung zeigt zwar die seelischen Erlebnisse, dringt aber nicht durch zu den geistigen Quellen, aus denen sie hervorgehen (GA 18\6o3), wenn man nicht „die Tätigkeit des Denkens als solche in das Geistesauge faßt" (GA 18\6o4). Es sei zu bewir-ken durch Steigerung (Verdichtung) der normalen Fähigkeiten der ,Aufmerksamkeit` und ,Hingabe (GA 18\605). Die geistige Technik hat Steiner während des 1911 in Bolo-gna gehaltenen internationalen Kongresses für Philosophie vorgetragen (GA 35\111 ff.) . Sie soll den Spiritualismus (die Theosophie) begründen. Geschichtlich vorhanden ist auch der Spiritualismus (Schelling, I.H. Fichte, Troxler u. a.) . Alle Weltanschauungen kommen in der Tradition in irgendeiner Gestalt vor. Steiners Philosophie positioniert sich deswegen nicht außerhalb, sondern innerhalb dieser Tradition: „Einer der Lehr-meister dieser Weltanschauung ist die Philosophiegeschichte selber" (GA 18\616). Die zwölffache Systematik Steiners versteht sich als eine idealisierende Reflexion auf diese Geschichte.

10.5. Diltheys Typen der Weltanschauung

Historisch betrachtet, sind wohl die nur einige Jahre früher publizierten ,Typen der Weltanschauung' von Dilthey39 Steiners Weltanschauungslogik am nächsten. An ihnen lässt sich der Vorteil von Steiners Systematik abmessen.

Da Dilthey in der ,Lebensphilosophie` den Grund für seine Typologie sucht, fehlt ihr zuletzt eine klare Einteilung und kohärente Struktur. „Die letzte Wurzel der Welt-anschauung ist das Leben.",40 so lautet Diltheys Ausgangpunkt. Als allgemeine Lebens-erfahrung drängt sich uns „das Rätsel des Lebens" auf in der Erfahrung des Todes: im Widerspruch zwischen der allgemeinen Vergänglichkeit und dem Willen, diese Grenze zu überschreiten.4' Lebensstimmungen wie Optimismus und Pessimismus bilden eine untere Schicht für die Ausbildung von Weltanschauungen. Diese haben eine dreifa-che Struktur. Unterlage ist ein sich verdichtendes Weltbild im Erkennen. Durch das Gefühlsverhalten bildet sich die zweite Schicht der Lebenswürdigung, und dadurch bilden sich drittens an der Spitze die Ideale (Festigkeit der Willensleistung oder Zweck- setzung) .42 Die Typen gehen durch historische Gestalten hindurch und sind nur durch die vergleichende Methode aufzustellen. Jeder Typus ist nur vorläufig. Da sie aus der Totalität des Lebens, der Lebenserfahrung, dem Lebensverhalten hervorgehen sollen,

39 Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (19ii), jetzt in: Gesammelte Schriften, Bd. viii, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Stuttgart 1960.

40 A. a. O., S. 78. 41 A. a. O., S. 81. 42 A. a. O., S. 82-84.

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sind sie historische Gestalten und nicht Erzeugnisse des Denkens.43 Daher bilden sie auch kein einheitliches System, denn der Widerstreit der metaphysischen Systeme gründet im Leben selbst. Alles ist dort schon Antinomie, da Leben „Mehrseitigkeit, Übergang in realen Gegensätzen und Streit der Kräfte" sein soll, eine Einheit, die der These und Antithese vorausgeht und nicht erst durch Synthese hinterher aus ihnen entsteht.44 Dilthey gesteht, das eigentliche Bildungsgesetz der Differenzierungen des Lebens nicht zu kennen, weshalb man auf historischen Vergleich angewiesen sei. Mit diesem Hilfsmittel stellt er Typen auf, die nur subjektive Bedeutung haben sollen.

Der erste Typus geht von der Bejahung des natürlichen Lebens aus („die Eman-zipation des Fleisches") : der ,Naturalismus`. Seine Erkenntnistheorie ist immer der Sensualismus. Als Metaphysik wird er stets zum Materialismus. Seit Hume die Sub-stantialität und Kausalität zurückführte auf die animalischen (natürlichen) Tatsachen der Eingewöhnung und Assoziation, hat diese Art des Naturalismus sich von seinen metaphysischen Voraussetzungen des Materialismus gelöst und wurde phänomenalis-tisch.45

Die Zielsetzung des Naturalismus ist entweder der Hedonismus, der letzteren Ten-denz entsprechend, oder die metaphysische, ,geistige Lust des Weltverstehens (Epikur, Lukrez) .46

Der zweite Typus von Auffassungen von Anaxagoras bis Bergson, der sich vom Naturalismus absondert und sich ihm gegenüberstellt, hat seine Wurzel im Bewusst-sein der freien Selbstmacht. Die willensartige Bestimmung, die innere Spontaneität wird zur Deutung des Weltgeschehens in den Weltzusammenhang projiziert. Dieser Typus ist der Idealismus der Freiheit. Seine Gestalten: der griechische Idealismus der bildenden Vernunft (Platon, Aristoteles), die christliche Schöpfungslehre, die deutsche Transzendentalphilosophie (Kant, Jacobi, Fichte).47

Der dritte Typus umfasst aber die Hauptmasse aller Metaphysik: der objektive Idealismus (u. a. Heraklit, Stoa, Bruno, Spinoza, Goethe, Hegel, Schelling und Scho-penhauer) . Er entspringt der Seelenverfassung, die das eigene Lebensgefühl zum Mitge-fühl am Ganzen erweitert: Steigerung der Lebensfreude zugleich mit dem Bewusstsein der eigenen Kraft. Die Unterordnung von Tatsachen unter abstrakte Allgemeinheiten (angeblich bei Platon und Aristoteles) wird aufgegeben zugunsten des organischen Ver-hältnisses eines Ganzen zu seinen Gliedern.48 Dieser Typus endet nach Dilthey immer in der Dunkelheit der Mystik, da die Einheit der Vielheit, der Gegensatz von Subjekt und Objekt, das Verhältnis von Sein und Denken, von Ausdehnung und Gedanken jeweils unbegreiflich ist, jedenfalls „durch das Zauberwort der Identität nicht faß-

43 A. a. O., S. 86. 44 A. a. O., S. 98 und dazu die Handschrift Das Geschichtliche Bewußtsein und die Weltanschauungen.

Gesammelte Schriften, Bd. VIII., S. 69.

45 Die Typen, vIII, S. 103-104. 46 A. a. O., S. 106. 47 A. a. O., S. 109—no. 48 A. a. O., S. 114-116.

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licher"49 wird. Er ist Diltheys eigene Anschauung der Einheit des Lebens, die beide Teile, Natur und Geist (verselbständigt in Naturalismus und Idealismus der Freiheit), umfasst. Wieso er aber Idealismus heißt, will nicht klar werden. Denn der Konnex der Teile zum Ganzen kann, nach Dilthey, sowohl in einem einheitlichen inneren Weltengrund (vgl. die universelle Sympathie der Stoa) wie in einem deterministischen Zusammenhang der Erscheinungen (Spinoza) gefunden werden.50 Die Einheit der Idee als solcher kann hier, dem Namen des ,objektiven Idealismus` zum Trotz, offensichtlich auch eine nachträgliche sein. Es ist kennzeichnend für diese Betrachtungsart, die Idee als solche überspringen und alle Erkenntnis als Verstellung des Lebens in ihre ursprüngliche Einheit zurückschmelzen zu wollen. Wohl „besteht tatsächlich im philosophischen Denken eine geschichtliche Dialektik. An deren Auffassung durch Hegel ist richtig, daß aus diesen verschiedenen Betrachtungsarten abgeleitete Begriffe logisch genommen einander ausschließen. Irrig aber ist, daß sie durch logische Akte hervorgetrieben würden, vielmehr sind sie in der Lebendigkeit enthalten."51

Die unmittelbare Einheit des Lebens ist für Steiner nun eben nicht die wahre Wirk-lichkeit. Im Gegenteil, erst die aus These und Antithese errungene Synthese gibt die vom Verstand notwendigerweise aufzuteilende Wirklichkeit wieder, während die Unmittel-barkeit sich jeder Erkennbarkeit und damit jedem fasslichen Wirklichkeitscharakter entzieht (wegen des Mangels der Idee ist sie vielmehr subjektiv-unwirklich). Steiner kritisiert einmal Diltheys These, wir erlebten die Wirklichkeit nur durch den Wider-stand der Welt gegenüber dem Wollen und die Frustation des Fühlens im Widerstreben der Außenwelt, nicht aber im Vorstellen, Denken und Wahrnehmen (da ,schließen` wir nur auf eine Außenwelt, erleben sie nicht zweifelsfrei). Für Steiner ist eine solche Position ebenso ,bedeutsam` wie ,aussichtslos` (GA 18\567-568). Weil das Erleben der Außenwelt, des Natürlichen, dieser Ansicht nach, im Wollen und Fühlen abläuft, ist es geistiger Art (GA 18\572). An ein „Hereinragen des objektiv Geistigen im Denken" glaubt Dilthey aber nicht (GA 18\571), und so ist Dilthey außer Stande zu beurteilen, ob wir dann auch eine geistige Selbständigkeit haben, und sein schillernder Lebens-und Geistbegriff bleibt unbestimmt (GA 18\575) . Auf diese Weise bleibt in der Tat auch der ,Widerstreit der Weltanschauungen' (Naturalismus und Idealismus der Freiheit) unentschieden (im ,objektiven Idealismus`) .

Nun hat aber Dilthey sich Rechenschaft über seine Klassifikation gegeben in einer Art, die wir bei Steiner nicht finden. Steiner expliziert seine Systematik apodiktisch, nur ausgehend von dem Prinzip der einseitigen Generalisation, das zum differenten Stand-punkt führt. Zwar soll man im Allgemeinen nach Vorliebe oder Veranlagung den einen oder anderen Typus entwickeln (GA 151\35 ff.), Steiner hält die Haupttypen dennoch für objektive „Eingangstore" zur Welt: „Die Welt läßt sich nicht von dem einseitigen Standpunkte einer Weltanschaung, eines Gedankens aus betrachten, sondern die Welt

49 A. a. O., S. 118. 5o A. a. O., S.117. 51 Das geschichtliche Bewußtsein, S. 7o.

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enthüllt sich nur dem, der weiß, daß man um sie herumgehen muß" (GA 151\46) . Die Mehrseitigkeit wird hier also objektiv gewendet. Der „eine Gedanke" oder ,der Verstand' gibt nur eine subjektiv beschränkte Perspektive, was vorher auch eine ,Vorstellungsart` genannt wurde (§ 4.2.6) . Der Zusammenschluss vieler solcher Gedanken oder Grund-kategorien gibt erst den vernünftigen Standpunkt. Man hätte daher jeweils zu fragen nach dem Wahrheitswert eines Gedankens, um bestimmte Gebiete zu erschließen (GA 151\47). An den kategorialen Gegensätzen (Geist-Materie, ideal-real usw.), nicht an subjektiven Voraussetzungen oder ,Gemütsverfassungen` (Dilthey) entwickelt Steiner deshalb seine Haupttypen.

Diltheys historische Methode bringt dagegen sofort das Problem der Interpreta-tion der Geschichte mit sich. Welche Elemente der historischen Systeme sind als die invariante Hauptstruktur eines Typus anzusehen? Die einfache Vergleichung, gesteht Dilthey, verrennt sich im „Zirkel der Klassifikation", wie Schleiermacher sie beschrieben hat:52 „Induktion setzt Begriffe voraus; diese aber werden vorausgesetzt und einander untergeordnet durch Einteilung, jede Einteilung von Begriffen erhält ihren definiti-ven Charakter erst durch das Ganze des Begriffssystems. "53 Wegen des gegenseitigen Verhältnisses von Induktion und Klassifikation hält Dilthey jeden Versuch nur für pro-visorisch. Jedes System ist notwendig einseitig, so meint auch Dilthey. „Der Streit gehört zur Natur ihrer Existenz", indem jedes System seine Allgemeingültigkeit nachzuweisen sucht.54 Dieser Streit gelangt aber nie zur Schlichtung, weil die Systeme nicht etwa aus der Idee, sondern den widersprüchlichen Lebenserfahrungen entspringen sollen. Das einzig Objektive ist das geschichtliche Bewusstsein seiner Subjektivität, das sich erhebt über das systematische Streben, also sich seine Voraussetzungen zum Bewusst-sein bringt.55 Steiners Voraussetzung, die ihm die Klassifikation erlaubt, ist dagegen der allgemeine Begriff des Erkennens, das spezifische Subjekt-Objekt-Verhältnis des-selben (vgl. §10.3). Indem er seine Systematik diesem Erkenntnisbegriff unterordnet, erscheint Letzterer als die allgemeinere Philosophie zu den Haupttypen der Weltan-schauung. So braucht die Klassifikation nicht subjektiv oder provisorisch zu bleiben. Die Kategorien leiten sich aus dem allgemeinen Erkenntnisprozess ab, wie die Begriffe der WDL nur Momente in dem Prozess des sich auf sich beziehenden Denkens darstell-ten. Diese zeigen untereinander gesetzmäßige Verhältnisse auf, die nach Steiner in der Idee (Systematik) selber begründet sind (vgl. § 10.3). Da sie ihren eigenen prüfbaren Erkenntniswert haben sollen, hat für Steiner mithin weniger als für Dilthey die context

52 Das Thema der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Teil und Ganzem ist schon alt: Gadamer (1975) , S. 164. Schleiermachers ,Dialektik` zieht hieraus den Schluss, dass Auslegen eine kreisende Bewegung und das Verstehen immer vorläufig und unendlich sei; Gadamer (1975), S. 178-179.

53 Handschriftlicher Zusatz zur Weltanschauungslehre, a. a. O., Bd. viii., S. 15o und 16o. 54 A. a. O., S. 161.

55 A. a. O., S. 161-162. Gadamer (1975) hat auf den darin enthaltenen inneren Widerspruch hingewiesen (S. 217). Die Historisierung Diltheys sei „halbe Negation und halbe Affirmation von Hegels Philosophie des Geistes" (S. 227). Diltheys theoretischer Objektivitätsbegriff widerspreche der Geschichtlichkeit seiner Hermeneutik (S. 218-228) .

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MODIFIKATION DES ERKENNTNISBEGRIFFS 389

of discovery Relevanz, sondern vielmehr die context of justification, der Stellungswert im Ganzen. Freilich sollte dann Philosophie nicht vergebene Liebesmüh' sein. Diltheys Versuch, eine Typologie zu entwerfen, ohne die Vielfalt der Anschauungen in einem in sich zusammenhängenden ideellen Ganzen ergreifen zu können, setzt notwendiger-weise ihre Klassifikation einer inkompatiblen Divergenz aus. Diese ,Philosophie der Philosophie (Dilthey) ist dann statt der allgemeineren Ansicht notwendigerweise eine nicht-philosophische.56

Das ganze Unternehmen Diltheys leidet deswegen an unscharfen Einteilungen. Er ordnet Platon und Aristoteles dem ,Idealismus der Freiheit' zu statt dem ,objektiven Idealismus`. Als Anhänger eines solchen deutet er Hegel, dem die Herrschaft des All-gemeinen schwerlich abgesprochen werden kann. Leibniz' Monadologie ist für Dilthey ein ,objektiver Idealismus`, während es doch zumindest plausibel ist, ihm als dem Ahnen Kants einen ,Idealismus der Freiheit' zuzuschreiben, wie es Cassirer in Freiheit

und Form getan hat. Unter den ,objektiven Idealismus` bringt Dilthey so grundver-schiedene Philosophen wie Hegel und Schopenhauer. Dieser Begriff wird dadurch mehrdeutig. Die Klarheit dieser Typologie liegt eher in der Charakterisierung des sub-jektiven Verhaltens als im objektiven Inhalt der Weltanschauungen. Die Typologie Steiners geht auf das Verhältnis vom Erkennen zum Objekt: vom materiellen Dasein

56 Nicht umsonst hat K. Jaspers Diltheys Weltanschauungslehre zu einer Psychologie der Weltanschauun-

gen (1919, 2. Aufl. Berlin 1922) umgestaltet. Es ist zweifelhaft, ob Steiner je von ihr Kenntnis genommen hat. Jedenfalls ist sie späteren Datums als GA 151 (1914). Sie gründet auf dem ,seelischen Urphänomen' der ,Subjekt-Objekt-Spaltung` (S. 21). Zwar verwendet Jaspers die Dialektik, um eine Typologie geben zu können (S. 29-3o), weil sich das Leben selber in realen Antinomien, den ,Grenzsituationen` (wie Kampf, Tod, Zufall, Schuld; S. 229 ff.), bewege und daher ,dialektisch vieldeutig' sei (S. 344) . Jaspers ver-kehrt die Hegel'sche ,Weltanschauung` ins Psychologische: „Unsere ganze Betrachtung ist der Absicht nach nichts anderes als das, was Hegel tut, heran, solange er erkennend bleibt. Solche Betrachtung ist eine psychologische des Menschen und seiner Möglichkeiten. Wir sträuben uns dagegen, selbst irgendwelche weltanschauliche Konsequenzen zu ziehen, weil wir uns bewußt sind, nur zu betrachten" (S. 373) . Nun ist allerdings Jaspers eigene weltanschauliche Konsequenz die Kant'sche Interpretation der Idee, die auch Goethes Weltanschauung sein soll (S. 450-453). Heidegger sah in Jaspers' Versuch einen ersten Ansatz zu einer ,thematischen existentialen Anthropologie, die die faktischen existenti-ellen Möglichkeiten in ihren Hauptzügen und Zusammenhängen darzustellen und zu interpretieren habe (vgl. die positive Rezension zu Jaspers' Arbeit in Gesamtausgabe, Bd. 9, S. 1-44 und in Sein und Zeit § 6o, S. 301, Anm. 1.). Diese Anthropologie hatte dann eine Destruktion der Metaphysik zur Folge, nicht ihre Systematik. Weder Jaspers, Heidegger noch Gadamer haben versucht, den Entwurf einer ,Welt-anschauungspsychologie zu einer existentiellen Anthropologie der Weltanschauungen auszubilden. So blieb dieses Thema unbearbeitet. Dafür gab es dann inhaltliche Gründe. Jaspers Existenzialphilo-sophie vertiefte die Subjekt-Objekt-Spaltung zu der Ansicht, dass die Freiheit zur Transzendenz die Unmöglichkeit einer wahrheitgebenden Konstruktion des Seins in einem System beinhalte. Es bleibe die Philosophie daher nur eine Systematik der Transzendenz und Freiheit (Selbstverhalten), kein Sys-tem der Wahrheit (Philosophie, 1. Teil, Philosophische Weltorientierung, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1956, S. 272-277). Heideggers Daseinsanalyse wurde nach der ,Kehre` in dessen ,Seynsdenken` nicht fortgesetzt. Das ,Ereignis` löste die begriffliche Systematik, die Sein und Zeit noch kennzeichnet, ab

(Brief über den ,Humanismus`). Gadamer orientierte sich ferner eher am hermeneutischen Geschehen als an der impliziten Systematik der Metaphysik (Wahrheit und Methode). Steiners Versuch datiert aus dem Jahr 1914, wo ein solcher noch Aktualität hatte.

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als seine äußere Grenze zur Identität des geistigen Erkennens und geistigen Objekts. Daran hat ihre Ordnung mehr Klarheit und Struktur. Indessen sind die beiden Typo-logien nicht inkompatibel. Auch Steiner differenziert Materialismus, Sensualismus und Phänomenalismus als zusammenhängende, sich aneinander reihende Anschau-ungen. Demgegenüber steht aber nicht der ,Idealismus der Freiheit', sondern die Reihe Spiritualismus — Pneumatismus — Psychismus in einer genauen Korrespondenz zu den ersten drei. Statt einer allgemeinen Restkategorie, der ästhetisch-kontemplativen Mittelposition Diltheys, gibt es bei Steiner zweimal drei Übergänge von der einen Gruppe zur anderen. Weil die beiden Prinzipien der Allgemeinheit und organischen Ordnung nicht dem Freiheitsidealismus und Harmoniemodell eindeutig zuzuordnen sind (Gegenbeispiele sind ja Leibniz: Freiheit und prästabilierte Harmonie, Schelling: Freiheit und organische Naturphilosophie und Hegel: Denken als Abstraktion der All-gemeinheit und dialektisch-organische Gestaltung usw.), kommt Diltheys Dreiteilung a) des Bejahens des natürlichen Lebens, b) der Entgegensetzung zu ihm und c) sei-ner Kontemplation einfach zu kurz. Der Idealismus der Freiheit, der dem Inhalt nach die Selbständigkeit des Subjekts, des Geistes behaupten soll, hat bei Steiner ja drei Varianten, polar zu den Modalitäten des Naturalismus: das Subjekt, gedacht als Seele (das Bewusstsein, für welches es die phänomenalen Erscheinungen gibt), als Teil des allgemeinen Geistes (Prinzip des Intellekts gegenüber der Sinne), und als selbständi-ges Geistwesen (im Gegensatz zur dinghaften Materie). Davon sind zu unterscheiden die Verhältnisse von Idee und Objekt, die sich differenzieren anschließend im Natu-ralismus an der Objektseite zum (Innen- und Außenwelt umfassenden) Realismus — Dynamismus — Monadismus (schrittweise der geistigen Individuation zustrebend), oder entgegengesetzt an der ideellen Seite zum Mathematismus (kein Naturalismus mehr, noch weniger Freiheitsidealismus oder organisches Denken) — Rationalismus (Diltheys drittem Typus noch am nächsten) — eigentlichen Idealismus (schrittweise Erhebung zum reinen, allgemeinen Begriff). Wie bei Diltheys Weltanschauungstypo-logie lässt sich ein dreigegliedertes Schema aufstellen: Es enthält die antithetischen Extreme des Naturalismus (Materialismus — Sensualismus — Phänomenalismus) und die subjektorientierten Anschauungen (Psychismus — Pneumatismus — Spiritualismus) und dazwischen die von beiden Elementen zu vereinigenden Positionen. Bei Steiner wird dieses Schema ausgefüllt von differenzierten Modalitäten, die bei Dilthey außer-halb der Klasse des Naturalismus fehlen, aber dennoch einen systematischen Mehrwert haben.

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KAPITEL XI

Schlussbetrachtung zur Methodenfrage

Zurück zur Hauptfrage

Wir resümieren zum Schluss dieses Teils das methodische Ergebnis. Wir sind ausge-gangen von der Frage, wie Steiner den Idealismus auf phänomenologischer Grundlage aufzubauen dachte (§1.1), wie er die Gegenpole von Phänomenalismus und Idealismus in nicht-spekulativer Weise hat verbinden wollen.

Erstens hat sich herausgestellt, dass Steiner dem Erkennen durch Selbstbeobachtung beizukommen sucht. Die erkennende Person, das Ich ist in einer Ersten-Person Per-spektive aufgefunden und Bezugspunkt der ferneren Analyse geworden (§ 3.2). Zweitens ist Ergebnis und bleibende Konstante seiner Analyse, dass das Ich die Welt erkennen kann nur durch den Begriff. Erkenntnis ist kein corpus von zusammenhängenden Sät-zen, sondern Begriffssystem und Beziehung auf konkrete Erfahrung. Deshalb sucht das Erkennen in der Erfahrung den Begriff und muss das Wesen einer Erfahrung im Begriff sich kundtun 03.3.6). Nicht eine unerkennbare Materie, die unserem subjek-tiven Erfahrungsbereich entzogen wäre, sondern das Phänomenale ist Grundlage des Erkennens (§ 3.3.8 und § 3.3.9) . Das Ideelle, das sich als das Notwendige in der Erfahrung erweist, kann als das Wesen der phänomenalen Erscheinung bezeichnet werden (§ 3.3.9) Es gibt keine anderen Beziehungen zwischen den phänomenalen Elementen der Wahr-nehmung als rein ideelle Bezüge. Dies ist der Ausgangspunkt von Steiners Interpretation der Phänomenologie Goethes (§3.2.1o). Das Phänomenale wird erst verstanden durch die Idee, zu der wir uns aktiv aufzuarbeiten haben (§§ 4.2.1-4.2.4). Reihenbildung von bestimmten Erscheinungen oder systematische Vollständigkeit im Überblick über die Phänomene erschließen das Gesetz in der Erfahrung: Einzelne Erfahrungen und Experimente (etwa Newtons experimentum crucis) sind nicht maßgebend (§ 4.2.6). Die Natur ist wegen ihres ideellen Zusammenhangs ,holistisch` zu erkennen (§ 4.2.7). Das ,wissenschaftliche Phänomen', das dauernde Gesetz im Wechsel der Phänomene, das Notwendige, ist ,empirisch` zu erforschen (§ 4.2.7). Das Notwendige als Resul-tat einer empirischen Methode klärte sich in unserer Analyse nicht unmittelbar auf, obzwar historische Parallelen aufzuweisen sind zur Aristotelischen Induktion (ebd.). Der Vergleich mit Hegel lehrte aber, dass ,das Notwendige nicht nur erst mit dem Begriff zur Beachtung kommt, sondern auch die Gründe, um irgendein notwendiges Gesetz anzuerkennen, sich aus dem ideellen Zusammenhang ergeben müssen 04.2.7), welche allerdings nur in einer dialektischen kategorialen Durcharbeitung der Phäno-

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392 KAPITEL XI

mene, wie Hegel sie in seiner Naturphilosophie auf Goethes Grundlage vornimmt, erst richtig ans Licht traten. Das Urphänomen der Farbe ist nicht nur eine Regelmäßig-keit (Farbe ist dort, wo Licht auf Trübes scheint), sondern ein unmittelbar einsichtiges Gesetz (das allgemein-ideelle Licht offenbart sich sinnlich nur am Nicht-Licht in einem vermittelnden Medium, und das Kreisspektrum der Farbe drückt dieses dynamische Verhältnis aus; § 4.3.2). Auch der Typus hat seine notwendigen Gesetzmäßigkeiten, die einen zusammenhängenden Organismus konstituieren. Hegel konstruiert die diesbe-züglichen Gesetze dialektisch in seiner Enzyklopädie (§ 4.3.3). Bewusstsein ist selber Erscheinung der Idee und hat seine notwendige Struktur unmittelbar von ihr selbst, die wir im Bewusstsein nur anzuschauen haben: ‚Phänomenologie des Geistes' oder ,Wissenschaft der Tatsachen des Bewusstseins' (§ 4.3.4). Eine unmittelbare Darstellung des subjektiven Begriffs ist die Logik, die eine Art Empirie des Begriffs sein soll (§ 5.3.3), ohne Psychologismus zu sein (§5.3.4). Nur die Form des Begriffs selber ist subjek-tiv. Den Inhalt kann man nicht dem Subjekt entlehnen (§5.4). Das Überwinden der abstrakten Form wird gefordert zum Verständnis der Gattung und der realistischen Begriffe, und dies wird möglich u. a. durch die gesetzmäßige Variation der Vorstel-lung, das Vollständigkeits- und Metamorphosenprinzip im Vorstellen: Goethes exakte sinnliche Fantasie (§ 5.4.4) . Dieses Prinzip wendet Steiner auch in der Mathematik an, gemäß seinem Konzept, die axiomatische projektive Geometrie zu einer „fließenden Geometrie" umzugestalten (§ 6.6), die eine Brücke zwischen qualitativer und metrisch organisierter Naturwissenschaft bilden soll 06.8). Auf dem Niveau der reinen Gedan-ken ist diese ,Metamorphose von Ideen` in den ihnen untergeordneten Begriffen oder Ideen die dialektische Methode 05.6). Auch sie strebt die Vollständigkeit und ein kontinuierliches Begriffssystem an, wodurch die einzelnen Begriffe „ein großes Phä-nomen" (Goethe) oder eine systematische Idee werden (§5.6.2). Ausgehend von der Idee des Erkennens und des Bewusstseins, erweitert Steiner diese Systematik zu einer Weltanschauungssystematik (§ io) .

Reden wir hier noch von Dialektik im üblichen Sinne? Können wir dies noch Phänomenologie nennen nach geläufigen Kriterien?

§ 11.2. Steiners ,Phänomenologie`

§11.2.1. Historische Definitionen

Sowohl der Terminus ,Phänomenologie` als auch der Terminus ,Dialektik`, und zwar der Letztere noch mehr als der Erstere, hat einen ausführlichen Bedeutungswandel durch-gemacht. Wenn aber um die vorletzte Jahrhundertwende die Rede war von ,Dialektik` und ‚Phänomenologie', so waren die Referenzen wohl die nachkantische idealistische ,Dialektik` von Fichte bis Schelling und die philosophische ,Phänomenologie, wie sie zur Methode der ‚phenomenological movement' (Spiegelberg [1994]) wurde. In die-sem Sinne werden wir ziemlich objektivierte und historisch sinnvolle Bestimmungen anwenden können, die geläufig und allgemein anerkannt sind. Wir abstrahieren, wenn

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 393

allein von der Methode die Rede sein soll, von ihren besonderen Resultaten und den durch sie gewonnenen philosophischen Positionen. Der Begriff ,Familienähnlichkeit` würde kaum ausreichen, um die Gruppen von inhaltlichen philosophischen Positionen der Idealisten und der phänomenologischen Bewegung zusammenzufassen und dieser Terminologie eindeutig zuzuordnen. Viele Unterschiede Steiners zu Fichte, Schelling und Hegel, zu Brentano, Husserl, Heidegger und Sartre konnten wir aufzeigen. Von vornherein wäre eine rein methodische Klassifikation darum unmöglich. Ebenso eine Einteilung nach dem Wortgebrauch (der Phänomenologe Sartre schrieb eine ,Critique de la Raison Dialectique' und der Dialektiker Hegel eine Phänomenologie des Geis-tes) . Wir werden zuerst die historisch dominanten und entscheidenden Elemente der phänomenologischen Methode und der Dialektik auflisten.

§ 11.2.2. Merkmale der phänomenologischen Methode

Für die phänomenologische Methode greifen wir zurück auf Spiegelberg (1994) . Die phänomenologische Methode hat sieben Stufen, von denen, seiner Meinung nach, die ersten drei Stufen allgemein akzeptiert und praktiziert wurden von denjenigen, die historisch zu der phänomenologischen Bewegung gerechnet werden. Die Essentialia sind „the positive steps:

1. investigating particular phenomena; 2. investigating general essences; 3. apprehending essential relationships among essences; 4. watching modes of appearing; 5. watching the constitution of phenomena in consciousness; 6. suspending belief in the existence of the phenomena; 7. interpreting the meaning of phenomena".'

Wenn also die ersten drei Schritte der Methode übereinstimmen würden, dann wäre das Prädikat ,phänomenologisch` nach rein inhaltlichen Gesichtspunkten zutreffend, wenn es auch keinen historischen Konnex zur phänomenologischen Bewegung geben würde.2

1. Den ersten Schritt teilt Spiegelberg ein in drei weitere Aspekte: direkte Schau (,intuiting`), Analyse und Deskription.3 Spiegelberg betont, dass die direkte Schau

1 Spiegelberg (1994), S. 682. Vgl. auch sein Doing Phenomenology. Essays on and in Phenomenology, Den Haag 1975, S. 57-71 und R. Sokolowski, Introduction to Phenomenology, Cambridge 2000, v. a. Kap.13.

2 Wie dann auch Spiegelberg Bezüge zu Wittgensteins und Austins ,Phänomenologie darlegt (a. a. O., S. 691). Vgl. die Parallelen in Spiegelberg (1975), S. 59 zu Bergson, Pierce, James und Whitehead. Wie umgekehrt ein mannigfacher Gebrauch des Terminus ,Phänomenologie in die ‚phänomenologische Bewegung' eingeht; vgl. ferner Schuhmann (2004), S. 16 ff.

3 Spiegelberg (1994), S. 682-696.

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394 KAPITEL XI

kein irrationaler Vorgang sei. Man setzt sich nur unbefangen den Phänomenen aus, ohne sich durch theoretische Konstruktion die Sicht auf sie nehmen zu lassen (vgl. Newtons und Goethes Ansehensweisen der Farben). Die Analyse geht über in die Deskription, die das Hilfsmaterial der Klassifikation braucht, aber zugunsten der Vermittlung direkter Erfahrung eher auf negative Prädikate, Metaphern und Analogien angewiesen ist.

2. Die Beschreibung geht durch die Klassifikation schon in den zweiten Schritt über:4 ,Wesensschau` oder einfach ,Wesenserkenntnis`. Die Phänomenologie (Husserl) hält fest an dem realen Phänomen des selbständigen ,Ideierens` von Allgemeinheiten, den Essenzen von einzelnen Phänomenen, Individuen. Um der Allgemeinheiten habhaft zu werden, muss man sie aus den Einzelerscheinungen ,herausschauen` („Kleingeld, meine Herren!") .5 Das Beispiel Spiegelbergs, ,going beyond Husserl`, ist nicht weniger als der Farbenkreis (Goethes), von dem man die Ordnung durch die weiteren und engeren Verwandtschaften der Farben untereinander einsehen kann.6

3. Zum Auffinden der Wesenszusammenhänge, die die Essenzen mitbestimmen, dient namentlich die eidetische Variation oder die ,freie Variation in der Fantasie'. Die Variation am Dreieck ist das unvermeidliche, klassische Exempel Spiegelbergs,' zumal auch die Wesenseinsicht, dass Farbe immer Ausdehnung, doch nicht jede raumhafte Ausdehnung Farbe hat (Transparenz).8 Spiegelberg hebt diese Einsicht in Wesenszusammenhänge ab von rein empirischer Induktion (Generalisation) . Sie vermittelt Einsicht in eine Notwendigkeit, ist aber weder a priori noch rein logisch (Erfahrung ist gefordert).9

4. Nächster Schritt ist die Analyse der Erscheinungsweisen, der ,Abschattungen` Hus-serls. Die perspektivische Erscheinungsweise vom Ding im Raum ist das nahe-liegendste Beispiel (Husserl), aber das Spiel von Licht und Farben ist das selbst-verständliche Beispiel im Qualitativen.10 Über Goethes Faszination, die ,Abschat-tungen` von Licht und Farbe zu beobachten, sagt Spiegelberg in diesem Zusam-menhang: „In fact, it would seem to have been one of the fascinations behind his preoccupation with the phenomena of color and his opposition to Newton's optical theory, which make him one of the ancestors of the contemporary pheno-menology of color."11 Goethes Farbenlehre figuriert also als Musterbeispiel einer Phänomenologie der Erscheinungsweisen.

4 A. a. O, S. 692-694. 5 A. a. O., S. 696-697 6 A. a. O., S. 698. 7 A. a. O., S. 700. 8 A. a. O., S. 701.

9 A. a. O., S. 702-703. 10 A. a. O., S. 705. 11 Spiegelberg (1975), S. 66.

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 395

5. Die genetische Phänomenologie erforscht die Konstitution der Objekte im Bewusst-sein. Die Implikation des transzendentalen Idealismus Husserls ist nicht allgemeiner und notwendiger Bestandteil einer solchen genetischen Forschung. Die Konstitu-tion ist entweder passiv oder aktiv. Im letzteren Fall inkludiert sie unser produktives Denken, unsere Begriffsleistungen bei der Erkenntnis von Gesamtobjekten (oder theoretischen Entitäten) .12

6. Die systematische Funktion der phänomenologischen Reduktion ist, laut Spiegel-berg, bei Husserl mehrschichtig und nicht ganz aufgeklärt, während auch meh-rere Phänomenologien Husserls Gebrauch der Reduktion nicht teilen (Heidegger voran), sodass ein bescheidenerer methodischer Anspruch passend ist: Die Ein-klammerung der Generalthese, der Glaube an die unabhängige Existenz der erschei-nenden Objekte soll uns nur hüten vor naivem Realismus und vor Reifikationen und dergleichen.

7. Die hermeneutische Phänomenologie, das Interpretieren der Phänomene, das Her-ausfinden ihrer verborgenen Bedeutung im Rahmen einer existentiellen Analytik, ist kaum noch methodisch abgesichert (durch Heidegger und Sartre), und Spiegel-berg erwähnt sie mit dem Hinweis auf die Offenheit der Phänomenologie für die existentielle Dimension.l3

Die ersten drei Elemente dieser Methode sind derart allgemein, dass es nützlich ist, charakteristische Unterschiede einzubeziehen. Nach Spiegelberg sind es folgende:14

a) im Kontrast zum Positivismus und traditionellen Empirismus beschränkt sich die Phänomenologie nicht auf sinnliche Phänomene (kein Sensualismus);

b) im Unterschied zum Phänomenalismus werden die Phänomene nicht abgestempelt zum Schein oder zur einzigen Realität;

c) anders als der Rationalismus handelt die Phänomenologie von a priori geltenden Gesetzen in der Erfahrung (bottom-up);

d) Ablehnung des Reduktionismus (,Ockhams Rasiermesser') des logischen Atomis-mus und der analytischen Philosophie (z. Z. der Physikalismus);

e) im Kontrast zur sprachlichen Analyse wendet sich die Phänomenologie nicht der ordinary language zu, jedoch unmittelbar den Phänomenen, wovon diese redet;

f) anders als die Existenzphilosophie hält sie fest an einer phänomenologischen Ana-lyse auch der menschlichen Existenz (keine methodische Differenz zur Hermeneu-tik) .15

12 Spiegelberg (1975), S. 67 und Spiegelberg (1994), S. 709. 13 A. a. O., S. 712-713. 14 Spiegelberg (1975), S. 11 und 12.

15 Gadamers Philosophie ist u. E. in der Tat eher eine Phänomenologie der Hermeneutik zu nennen als eine hermeneutische Übersteigung der Phänomenologie (Heidegger).

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396 KAPITEL XI

§ 11.2.3. Anwendung auf Steiners Methode

Projiziert auf diese allgemein formulierten Elemente bewegt Steiners Philosophie sich innerhalb des Rahmens einer phänomenologischen Methode. Mehr noch, sein erkennt-nistheoretischer Monismus zielt bewusst auf die Begründung einer solchen Methode hin (§

— Sein methodischer Ausgangspunkt ist die Selbstbeobachtung des individuellen Phänomens des Erkennens, also das Erkennen als unmittelbares Phänomen für das Ich (ad i und a); vgl. §§ 7.2.1, 7.3.8, 8.2.1 und 9.3.

— Steiner versucht, die phänomenale Grundlage alles Erkennens gegenüber dem reduktionistischen Materialismus (Atomismus) zu retten (§3.3, namentlich §3.3.9), dabei den Subjektivismus oder ,bloßen` Phänomenalismus zu widerlegen (§§ 3.3.8 und 3.3.10; ad 6 und b).

— Sein Begriff des ,Unmittelbaren` entspricht 1, 6 und b (vgl.§§ 7.3.2 und 8.3). — Die Allgemeinheiten und die Gattung sind einer phänomenalen Betrachtung zu-

gänglich: Die ,empirische Logik` in §§5.3.3 und 8.4 wird ermöglicht durch eine ,Unmittelbarkeit` der Begriffe: ihre Präsenz in der ,intellektuellen Anschauung` (ad 2 und wie a und d).

— Diese Philosophie will nicht den vorgefundenen Sprachgebrauch untersuchen statt des Phänomens selber (wie e; vgl. § 5.2).

— Die Wesenszusammenhänge (ad3) mit empirischem Charakter (wie c) haben wir bei Steiner u. a. in der Form der ,Induktion` der Gesetze durch Goethe (Urphänomen und Typus) in der Erfahrung (§§ 4.2.8 und 5.5.2). Die eidetische Reduktion durch freie Variation hat auch ihre Entsprechung in Steiners Metamorphosenprinzip der allgemeinen Vorstellung (§5.4.4: das versatile allgemeine Dreieck und der Test für realistische und nominalistische Begriffe) und ist sogar erweitert zur projektiven Geometrie (§ 6.5) und wird ins Ideelle gehoben in der Modifikation der Grundbegriffe in der ,dialektischen Methode': § 5.6.2.

— Das Variationsprinzip geht zusammen mit der Vollständigkeitsbedingung nach Goethes Erfahrungsprinzip 04.2.6). Diese Bedingung der Erfahrung ist Grund der konsequenten Reihenbildung in der ,Organisation` der Phänomene zum reinen Phänomen (§ 4.2.9) . In der Phänomenologie entspricht es der Analyse der Erschei-nungsweisen, für die Goethes Farbenlehre schon das Vorbild darstellt (ad 4 und wie c und d).

— Die Konstitution im Bewusstsein (ad 5) ist ein Zusammengehen von Begriff und Erscheinung, wodurch das Objekt gesetzt wird. Das Bewusstsein ist nicht länger ein dunkler, unzugänglicher Untergrund von konstitutiven Akten, denn es ist wesentlich selber ideell (vgl. § 2.4.12, Steiners Kritik an Brentanos Intentionalität in § 2.19 und den Vergleich mit Hegel in § 4.3.4 und schließlich § 9.3-9.5)

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 397

— Steiners Monismus beinhaltet, dass die Konstitution im Grunde kein Drittes braucht

(ad 5 und 6) und die erscheinende Welt ihre scheinbare Selbständigkeit für das Subjekt (beschränkter, naiver Realismus) verliert (§§ 8.6 und 9.5).

— In Steiners philosophischer Anthropologie ist das Ideal des freien Geistes oder unsere freie Veranlagung zur Freiheit die zentrale Notion (§ 9.7) . Es soll ,reale Möglichkeit' sein, d. h. sich auf eine phänomenologische Grundlage im vorherigen Sinne stützen (ad 7 und wie f).

Damit ist gezeigt worden, dass Steiners Verfahrensweise in der Spur Goethes in Bezie-hung zum Kerngerüst der phänomenologischen Methode gebracht werden kann und Steiners Philosophie im Allgemeinen eine ,Phänomenologie` heißen darf. Das Haupt-anliegen in Steiners früher Methodik war ja, das Erfahrungsprinzip Goethes (§§ 7.3.1 und 8.2.1) systematisch und streng durchzuführen. Wir können daher von einer Phä-nomenologie der Erkenntnis sprechen im Sinne von Goethes ,rationeller Empirie'.

§11.3. Steiners

§ 11.3.1. Referenzpunkte bei Fichte, Schelling und Hegel

Als wir näher auf die Methodik der Ideengestaltung in der Organisation der Erfahrung zu dem zusammenhängenden Phänomen, die Aufeinanderfolge der Erfahrungen und Bestimmungen, eingegangen sind, zeigte sich eine ,dialektische Entwicklung innerhalb dieses Erfahrungsprinzips (Kap. vii, viii und ix). Auch diese ,Dialektik` werden wir noch an historischen Kriterien prüfen.

Einen festen Begriff der ,Dialektik` gibt es bekanntlich nicht, wenn wir all dasjenige, was diesen Namen trägt, von Zeno bis zum Neomarxismus, darunter zusammenfassen wollen. Auch über einen kleineren historischen Abschnitt von Fichte bis Hegel, und dieser wäre wohl die geeignete Referenzperiode (der dialektische Materialismus spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle), ist er schwankend. Umso mehr, als die Dialektik nicht schematisch verläuft und keiner starren Schablone folgt (WdL ii\564),16 geschweige denn formalisierbar ist. W. Röd meint: „Wenn davon ausgegangen wird, daß eine Methode ein durch gewisse Regeln festgelegter Weg zur Erkenntnisgewinnung ist, dann muß konstatiert werden, daß die Dialektik, wenn überhaupt eine Methode, dann eine sehr vage Methode ist."" Es ist aber wohl gerade widersprüchlich, eine regelgeleitete, programmatische Dialektik anzunehmen, die sie auf die formale Logik reduzieren sollte (es wäre ihr der Stachel des Widerspruchs genommen). Die dialektische Methode ist vielmehr, mit Adorno gesprochen, das konsequente (methodische) Bewusstsein der Unmöglichkeit einer fixierten Methode.

16 Schäfer (2001), S. 1. 17 Dialektische Philosophie der Neuzeit 1. Von Kant bis Hegel, München 1974, S. 12.

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398 KAPITEL XI

Dialektik hat keine abstrakten Regeln über sich, ist also nicht Deduktion im strengen formalen Sinne. Sie hat aber in ihrer dynamischen Formlosigkeit doch ein bestimm-tes Gepräge, womit eine dialektische Darstellung sich durchaus unterscheidet von einer deskriptiven, rein analytischen oder formal deduktiven. Sie exploriert die ide-elle Struktur des Gegenstandes und arbeitet dessen widersprüchliche Dynamik heraus. Nicht ganz ohne Grund hat Nicolai Hartmann die Dialektik deshalb eine „Methode des Schauens" genannt („unter die Wesenschau [zu] subsumieren") oder „anschmie-gendes Entlangwandern an der gegliederten und vielfach verschlungenen Struktur des Gegenstandes".18 Dabei soll ihre innere Dynamik nicht übersehen werden. Während sie den Gegenstand begreift, objektivieren sich ihre Begriffe zu immer neuen Gegenstän-den, geht sie den Weg der fortschreitenden Angleichung an die Idee. Die Methode der Dialektik ist das Verfahren, den Gegenstand mit der allgemeinen Idee, der sich selbst bestimmenden und selbst realisierenden Bewegung, zu durchdringen (wDL II\551).

Wenn wir zu unserem Behuf die komplizierte Entwicklung der nachkantischen Dialektik kurz fassen dürfen, ergibt sich schematisch der folgende Vergleich: Die dia-lektische Struktur hat bei Fichte noch die Gestalt der Triplizität von These — Antithese — Synthese. Ihre Dialektik besteht in der Isolation von Momenten einer Beziehung mit dem Ziel, diese Trennung als bloß provisorisch erkennen zu lassen und die Not-wendigkeit der Vereinigung der antithetisch entwickelten Gegensätze darzutun.19 Die Fichte'sche Dialektik, die Trennung und Abstraktion der Bestandteile des Wissens, um sie durch Konstruktion wieder genetisch begrifflich zusammenzusetzen, ist im Allgemeinen jene dialektische Methode Steiners. Fichte strebt danach, den durch die Reflexion mit Hilfe der nicht-dialektischen Logik aufgefundenen widersprüchlichen Antithesen durch die Synthesis, das Aufweisen eines Vereinigungspunktes im Wis-sen, zu entgehen.20 Steiner trennt Handeln und Wissen, Ich und Welt, Denken und Beobachten, Subjekt und Objekt usw., um sie später synthetisch entwickeln, wieder vereinigen zu können. Kennzeichnen dieser Dialektik, wie sie auch Schelling handhabt, ist, dass die Synthese nicht notwendigerweise als eine Aufhebung des Widerspruchs verstanden wird. Dieser gehört beispielsweise für Schelling zum Wesen des Ich und sei deshalb nicht aufhebbar.21 Der Widerspruch ist auch im Naturprodukt, in der Synthesis von unendlicher Produktion und Hemmung ein bleibendes Moment.22 Der Mensch sei schließlich ein widersprüchlich-dynamisches Zusammengehen von Universal- und Eigenwille, die freie Unterordnung des Letzteren unter den Ersteren.23

18 Hegel, Berlin 1929, S. 158, 166 bzw. 167. Dazu B. Lakebrink, Die Europäische Idee der Freiheit. 1. Teil. Hegels Logik und die Tradition der Selbstbestimmung, Leiden 1968, S. 458.

19 Röd (1974), S. 84-98. 20 Vgl. wL 27-30; die Gegensätze sollen nicht aufgehoben, sondern aufgedeckt werden: wL 49. Obwohl

etwa der Begriff der Freiheit in sich einen Widerspruch enthält: wL 37, aber dadurch entzieht er sich für Fichte der Denkbarheit und wird als praktisches Ziel aufgestellt.

21 Röd (1974), S. 102.

22 A. a. O., S. 104-105. 23 A. a. O., S. 108-109.

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 399

Hegel betont dagegen jeweils die Aufhebung des Widerspruchs als eigentliche Trieb-kraft der Entwicklung, die in diese Negativität, die reine Subjektivität selber, ausläuft.24

Schelling hat demgegenüber versucht, geltend zu machen, dass diese ,negative Phi-losophie' nicht die ganze Wirklichkeit erfasst und das eigentliche Sein auslässt. Die Erfahrung übersteigt die rein diskursive Dialektik in einer Beobachtung — einer intel-lektuellen Anschauung — des wirklich Seienden.25 Da eröffnet sich die Möglichkeit einer zwangslosen Verbindung zur Phänomenologie.

Die variable, sich immer an den Gegenstand anpassende Struktur der Dialektik ist bei Hegel expliziert in dem Schluss: „Die dialektische Methode, so wie Hegel sie in der absoluten Methode darstellt, ist also ein Syllogismus, der das Allgemeine zum terminus maior, das Besondere zum terminus medius und das Einzelne zum terminus minor hat. [ ... I Diese Bewegung besteht darin, daß sich ein Allgemeines zu einem Besonderen, das Besondere sich zu einem Einzelnen und das Einzelne sich zu einem Allgemeinen entwickelt."26 Verkürzt ausgedrückt, ist diese Dialektik bei Hegel „der einfache Punkt der

negativen Beziehung auf sich, der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist" (wDL II\563), oder das allgemeine ,Ich`.

Bei Steiner findet sich weder die Begriffsentwicklung in der strengen Form des Schlusses, noch redet er von der negativen Beziehung auf sich. Irgendeine Adhäsion zur Theorie der ,autonomen Negation' lässt sich bei Steiner nicht nachweisen (§ 5.6). Wohl aber hat Steiner die Triebkraft des Widerspruchs für die Entwicklung (§ 5.6.i) und für das Bilden eines Kategoriensystems (§ 5.6.2) anerkannt. Damit ist Steiners Gebrauch der Dialektik vielleicht am besten zwischen Schelling und Hegel zu situieren.

§ 11.3.2. Entwicklung von Steiners Dialektik

Im Einzelnen wäre dies folgendermaßen noch weiter zu erläutern. Wir werden dabei chronologisch vorgehen.

Die erste philosophische Skizze über das Erkennen tastet die Dialektik von Fichtes wL ab (§ 3.2.2). Noch ohne bestimmtes Ergebnis. Zunächst wird dann die Dialektik in ,negativer` Form geübt durch das Aufzeigen des Widerspruches im transzendent-realen Atombegriff (Aufsatz für Vischer: §§ 3.3-3.4). Der erstmalige Erkenntnisbegriff hat zu gleicher Zeit schon ein dialektisches Gepräge (§ 3.3.3) . Seine Auffassung der ,Notwen-digkeit` des Urphänomens wies uns den Weg zu Hegels dialektischer Naturphilosophie (§ 4.3) . Ohne sich besonders viel um das Methodische zu kümmern, stellt Steiner in seinen Kommentaren zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften den Inhalt von

24 Vgl. Lakebrink (1968), S. 405-412 und 41 ff., Düsing (1976), passim und Schäfer (2001), S. 325-327: Die Dialektik hat die Struktur der Subjektivität. Diese ist eine diskursive (S. 292).

25 Röd (1974), S. 115-118. Vgl. Frank (1975), S. 155-168 und Rosens (1974) Kritik an Hegels Diskursivität

einer ,intuitionslosen` Idee (S. 273-277). 26 Schäfer (2001), S. 291.

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400 KAPITEL XI

Goethes Phänomenologie dar. Hegel wird von Steiner anerkannt als „der Philosoph der Goetheschen Weltanschauung" (§ 2.14.3). Wir haben durch den Vergleich mit Hegel zeigen wollen, dass Hegels Dialektik nicht nur Konsequenz, sondern dessen Begriffsar-beit mehr noch selber Bedingung für Steiners Interpretation Goethes war.27 Dadurch konnte er Goethes ,Polaritätsdenken` näher zur Philosophie bringen.

Die Differentialrechnung und neuere synthetische Geometrie kamen Steiners Be-dürfnis, Goethes Ansichten mit den exakten Naturwissenschaften zu verbinden, ent-gegen. Durch die rein ideellen Notionen vom Differentiale (Unendlichkleinen) und Unendlichfernen emanzipierte sich die Mathematik von der Sinnlichkeit. Auf dem Niveau einer reinen und allgemeinsten Beziehungslehre angelangt, zeigte sie eine duale Struktur, von Steiner gedeutet auf eine Hegels Dialektik der Raumesdimen-sionen analoge Weise (§ 6.6). Die projektive unendliche Ebene als Ort des Ausgleichs der endlichen Gegensätze ergänzte gerade jene Dialektik Hegels (§ 6.8) . Die Entde-ckung dieser Brücke der Naturphilosophie zur modernsten Mathematik während seiner Wiener Jahre mag Steiner ermutigt haben zur weiteren Ausbildung einer dialektisch-phänomenologischen Philosophie.

Wir haben analysiert, wie in den Grundlinien (GA 2) die Analyse der Erfahrung und des Denkens einen Stufenbau darstellt, der eine Verwandtschaft hat zu Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800), einem Potenzieren der Selbstbeobach-tung in Antithesen und übergreifenden Synthesen, aufsteigend von der unmittelbaren Erfahrung zum selbstbewussten Erkennen (§ 7.3.8) . Im Methodenkapitel von Grund-linien fehlte zuletzt die Methode der Philosophie. Am Anfang war sie nur dadurch gekennzeichnet, dass die Betrachtensweise Schillers, dessen Blick auf Goethes Geist gerichtet war, das Vorbild liefern sollte (GA 2\24). Steiners Methode ist strenger als Schillers Kantianismus, eine Dialektik des Begriffs der Erfahrung, in der die Anti-these von Denken und reiner Erfahrung schrittweise völlig aufgehoben wird zu einem umfassenden Begriff der Erfahrung (§ 7.3.8) .

In der Dissertation hat Steiner an Fichte und Volkelt eine Methodik der kritischen Selbstbeobachtung herausgebildet, woraus eine strengere analytische Struktur hervor-ging. Die Dissertation litt noch an einer Verwischung von Gegenstand und Analyse, Analysandum und Metaebene der Analyse. Das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit und das Erkenntnispostulat wiesen beide auf eine Vorwegnahme des Erkenntnisprin-zips des reinen Denkens hin, die nur in einer strengeren Dialektik der Erfahrung, die sich ferner nicht prinzipiell von derjenigen aus Grundlinien unterscheidet, nachgeholt wurde. Der ganze Aufbau zeigt jetzt eine bewusstere dialektische Methodik, da, ent-sprechend dem Erkenntnisbegriff, künstlich getrennt wird, um überhaupt erkennen zu können. Die Schärfe und Tiefe der Abstraktion ermöglichte den allgemeinsten Begriff des Erkennens (§ 8.7). Die synthetische Bewegung wurde selber noch nicht als Erkennt-nis, sondern nur als ihre Vorbereitung bestimmt (§ 8.6) . Die Erfahrung sollte über die

27 Schellings Einfluss auf Goethe mag größer gewesen sein. Für Steiners Auslegung von Goethes Natur-ansichten war jedoch Hegels Naturphilosophie wichtigen.

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 401

Richtigkeit der Synthese, die Beobachtung sollte über die Wahrheit jenes Begriffs ent-scheiden. Damit kündigte sich an, dass die Dialektik die Begriffsform betrifft und nicht selber schon die Wahrheit garantiert.

In der Philosophie der Freiheit hatte Steiner für die Gestaltung der Begriffsbildung und die Struktur der Erfahrung (den stufenweisen Fortschritt) gänzlich freie Hand. Den Grundideen nach enthält dieses Buch nicht eine wesentlich andere Position als die vorangehenden Publikationen. Die Idee des Erkennens wird zur Idee der freien Subjektivität erweitert. Die Form ist eine in die Phänomene des Bewusstseins unter-tauchende Dialektik, die eine organische Gestaltung beabsichtigt, worin die Gesamtheit der Komposition auf unausgesprochene oder nur angedeutete Aspekte der Sache hin-weist (§ 9.9) . Die Polaritäten von Denken und Beobachten, von Denken und Handeln erweisen sich nicht als Dichotomien, sondern anfänglich als antithetische Begriffe, die durch Perspektive und perspektivischen Gegenpol verschlungene Beziehungen auf-weisen und in eine höhere Einheit von polaren Momenten aufgehen. Die Form dieser Dialektik haben wir dargestellt in § 9.9. Ihre jetzt nur noch aufzulistenden Eigenschaften waren:

1. gegensätzliche Einteilung des Ganzen; 2. Reflexion der Gegensatzglieder ineinander; 3. Inversion der Bestimmungen der Gegensatzglieder; 4. Matrix der Mitte des Gegensatzes;28 5. Synthese des Dritten aus dem Gegensatz; 6. dynamischer Charakter der Synthese; 7. Zusammenschluss mehrerer Gegensätze zu einem Ganzen.

Die Gegensätzlichkeiten münden zuletzt in die Synthese der Freiheit, die den ersten und zweiten Teil zusammenschließt. Die Widersprüchlichkeit der Freiheit ist sicherlich nicht nur formales Darstellungsmoment. Die Freiheit ist der reale Widerspruch von menschlichem Bewusstsein und Welteninhalt, von Allgemein- und Sonderwesen und dessen Überwindung in dem Erkennen und der gleichzeitigen Selbstrealisation des Subjekts. Die subjektive, aber reale Trennung von Ich und Welt wird überwunden durch das sich zur Wirklichkeit emporringende Subjekt (§ 9.8). In § 9.10 haben wir mit dem gewonnenen Begriff der Subjektivität nochmals die von Steiner angeführte Differenz mit Hegel erörtert. Wirklichkeit hat nicht die reine Abstraktion, d. h. die ,sich auf sich beziehende Negation', nicht einmal der (abstrakte) Begriff, sondern nur die ,denkende Beobachtung' (GA 4\248).

28 Auch bei Fichte (die ,Schwebe zwischen den Gegensätzen) und Schelling (Indifferenz) hat dieses Moment einen gewissen Bestand, während bei Hegel die Synthese aus der immanenten Bewegung der Negation hervorgeht und diese Mitte (der medius terminus im Schluss) sich auflöst. Wir führen es deswegen als Sondermerkmal an.

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402 KAPITEL XI

In seinem Exposé der Kategorienlehre von 1908 (GA 108) bezeichnet Steiner zum ersten Mal die dialektische Methode explizit als die geeignete für die Entwicklung eines Kategoriensystems (§ 5.6.2). Zugleich bestreitet er, dass man mit ihr die reiche Fülle der Welt erfassen kann (§ 4.2.7). Dazu braucht man zusätzlich die Erfahrung, die allerdings ihrerseits nicht ideenleer vorzustellen ist (§§ 4.2.8 und 5.5.2). Wenn sich Erkenntnis aus der Form des Begriffs und dem Inhalt der Erfahrung zusammensetzt (§§ 8.3 und 8.6), muss das Erkennen eine dialektische Form, jedoch nicht unbedingt die Dialektik selber auf höchster Stufe zum Inhalt haben. Wir haben gesehen, wie für Steiner in der Nachfolge Hegels das Phänomen der Farbe eine dialektische Gestalt hat (§ 4.3.2) und wie alle objektive Entwicklung auf Widerspruch beruht (§ 5.6.1) .

Die sonst eher unterschwellig wirksame Dialektik wird zur umfassenden Systematik in Steiners Darstellung der zwölf Weltanschauungen und Erkenntnisweisen von 1914 (GA 151), in der wir die Grundstruktur von Hegels Wissenschaft der Logik aufdecken konnten (§10.4). Anders als diese Logik ist sie keine dialektische Kategorienlehre mehr (§5.6.2), sondern ,Weltanschauungslogik`, Lehre der ,Vorstellungsarten` (Goethe) oder philosophische Perspektivenlehre. Der Unterschied von Hegels Logik zu dieser ist fer-ner, dass Steiner seine Idee der Erkenntnis als deren Mitte voraussetzt. Von diesem zentralen Punkt her modifiziert sich diese Idee zu zwölf Weltanschauungen oder phi-losophischen Gesichtspunkten. An der Stelle im Ganzen, wo bei Hegel die Logik in der absoluten Idee, der dialektischen Methode, kulminiert, steht bei Steiner der ,

Psychismus mit bescheidenerem Anspruch. Er handelt allerdings vom Ich, vom Prinzip der Subjektivität, deswegen aber noch nicht, wie bei Hegel, vom Brennpunkt aller Wahr-heit. Dies bestätigt unsere Interpretation, dass Steiners Dialektik die allgemeine Form zwar mit Hegel gemeinsam hat: Dialektik als ein Fürsichwerden des Denkens in der Erkenntnistheorie, der prozessuale Fortgang durch Umkehrungen und Negationen, sei es oftmals in der Form von gegensätzlichen Perspektivenwechseln, sei es in der Synthese von Entgegengesetztem, in der zyklischen Rückkehr zum Anfang — wir haben bezüg-lich des Kategoriensystems und einzelner Grundbegriffe der Naturphilosophie und Psychologie (Lehre des subjektiven Geistes inklusive der ,Erkenntnistheorie) vielfach auf Übereinstimmung mit Hegel verweisen können. Wir haben aber auch aufgezeigt, dass Steiner mit Schelling von Hegel gerade dort abweicht, wo alles Erkennen bei Hegel in die Diskursivität der Idee, gedeutet als reine Selbstbeziehung und Negation, mündet. Mit Schelling stehen bei Steiner der historische Widerspruch der Subjektivität und die in der Dialektik unauflöslichen Tatsachen der Erfahrung höher als die reine Begriffs-entwicklung. Die konkrete Individualität und die reale Geschichte (im Gegensatz zur Geschichte als ,Verkörperung von Ideen`) treten gegenüber der allgemeinen Idee in ihr Recht (§ 9.1o). Hegels ,Weltdialektik` (Logik — Natur — Geist) soll nur die projektierte reale Dialektik des Erkenntnisprozesses (subjektive Trennung von Logik und Natur und Synthese im Erkennen: Geist) sein.

Die Dialektik als Methode ist bei Steiner zuletzt nur vorbereitend für die erken-nende Beobachtung, die Begriff und Wahrnehmung zusammenschließt zur Wirklich-keit: „Nicht der abstrakte Begriff enthält die Wirklichkeit; wohl aber die denkende Beob-

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 403

achtung, die weder einseitig den Begriff, noch die Wahrnehmung für sich betrachtet, sondern den Zusammenhang beider" (GA 4\248) . Es ist schließlich nichts anderes als die Rückwendung zur Erfahrung, die Goethes Verhalten gegenüber Hegel und Schelling, trotz so mancher Übereinstimmung, kennzeichnete29 und die auch Schellings eigene späte Kritik an Hegels Dialektik beherrschte. Hegels Philosophie war Schelling des-wegen eine ,rein rationale, negative Philosophie`.30 Schelling konnte Hegel zugestehen, dass er mache, was er ankündigt hatte, nämlich: sich in das reine Denken zurückziehen. Schließlich verblieb ihm noch der Gedanke, den er zu Unrecht für das Wesen selbst ausgab. Die subjektive Form wird zum exklusiven Inhalt. Für Schelling ist das Denken aber nicht ein Fortspinnen der Reflexion des leeren Denkens (Begriff des ,Seins`) über sich selber (Hegels Logik),31 sondern eine Tätigkeit, die immer auch einen Inhalt in sich hereinnimmt, ihre Reflexionen macht auf Grundlage einer ,intellektuellen Anschau-ung'32 (Steiners ,Intuition` ist gleicherweise eine Art intellektueller Anschauung, wie in GA 3\55 ausgesprochen) . Schelling warf Hegel ferner vor, den Begriff von seiner natür-lichen Stelle weggenommen zu haben: „Die Begriffe als solche existieren in der Tat nirgends als im Bewusstsein"33 (vgl. GA 2\51: „Es muß eben festgestellt werden, daß das Feld des Gedankens einzig das menschliche Bewußtsein ist", bezogen auf Hegels Idee). Eine Philosophie, die nur das Denken zum eigenen Inhalt machte, in der der Begriff nur selber den formal-subjektiven Begriff zum Inhalt haben sollte, war für Schelling gar kein wirkliches Denken, weil Letzteres immer ein Entgegenstehendes zu überwinden hat34 (oder nach Steiner: aus der Beobachtung sich entwickelt). Die Dialektik ist Schel-ling zufolge die ,Kunstseite` der wissenschaftlichen Philosophie.35 Ihre Kunst macht den Philosophen zum „Begriffskünstler" (so auch Steiner: GA 4\270). Die Dialektik hat bei Schelling und Steiner nach den Seite den gleichen Rang und die gleiche Bedeutung.

Da Steiner ferner keine philosophische Theorie der Dialektik entwickelt, müssen wir es schließlich hierbei bewenden lassen. Wir meinen jedoch begründet zu haben, dass die philosophische Methode Steiners ihrer Form nach eine dialektische ist, wenn wir sie messen an der Entwicklung der ,Dialektik` von Fichte bis Hegel. Diese ist der einzig in Betracht kommende Maßstab. Sowohl mit Fichte als auch mit Hegel und Schelling hat die Methode Steiners Elemente gemein: mit Fichte den subjektiv-triadischen Aufbau, mit Hegel seine Kategorienlehre und viele dialektische Strukturen (aus der Lehre des

29 Schmidt (1984), S. 27, 29: „Wissenschaft ist für ihn begrifflich durchdrungene, offen gehaltene Empirie"; 33, 34, 37, 48, 51, 52, 63, 69, 102-103 und 134.

3o Zur Geschichte der neueren Philosophie, Münchener Vorlesungen (1833/1834); sw I, lo\1-200, v. a. S.126 ff. 31 Wenn auch Schelling den Wert dieser Hegel'schen Logik als Logik nicht verkennen will (sw i, io\143)• 32 sw i, l0\146-151. 33 sw i, lo\140. 34 sw i, l0\141.

35 Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803); sw i, 5\267. Die Dialektik nennt Schel-ling mehrmals die „äußere" oder „bloße Form", Nachbild eines inneren Verkehrs des forttreibenden Begriffs und der anhaltenden, retardierenden Kraft des Denkens (oder freien Nicht-Wissens). Vgl. Die

Weltalter (1813); sw I, 8\201 und ausführlicher Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821); sw I, 9\ 209-246, v. a. S. 257-261.

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subjektiven Geistes und der Naturphilosophie), mit Schelling schließlich die Fokussie-rung auf und die Bindung an das anschauliche Erkennen und die Immanenz der Wider-sprüchlichkeit in der realen Vereinigung polar gegliederter, anschaulicher Elemente.

§11.4. Verhältnis von Phänomenologie und Dialektik

Phänomenologie und Dialektik entsprechen Steiners zwei Polen des Erkenntnispro-zesses im Allgemeinen: Anschauen und Denken, Beobachtung und Begriff. Wir haben gesehen, dass beide sich nicht einfach verhalten wie phänomenologischer Unterbau und dialektischer Überbau. Die Dialektik ist mitkonstitutiv für die Resultate der phä-nomenologischen Methode. Die Dialektik ist bei Steiner andererseits kein von der selbstbezüglichen Negation fortgetriebener autonomer Prozess, sondern sie bezieht sich auf die Erfahrung, auf den nicht-begrifflichen Gegenstand.

Die Grundlage des Erkennen ist bei Steiner nach unserer Analyse rein phänome-nalistisch, aber eben nur an diesem Anfang des Erkennens. Der Begriff und die Idee strukturieren die Erfahrung, bis ein vollständiges wissenschaftliches Phänomen ent-steht. Zur Darstellung der Idee selber eignet sich die dialektische Methode (§ 5.6) . Im Zwischenbereich soll die allgemeine Idee die phänomenale Unmittelbarkeit ,organi-sieren' (Goethe) : Der Phänomenalismus wird dadurch zur Phänomenologie. Da ohne Begriffe es keine erkannten Phänomene gibt, und diese erfassbar sind, weil sie Begriffe individualisieren, ist dieser Phänomenologie eine dialektische Natur inhärent. So tritt sie heraus in der Darstellung der Raumesdimensionen, des Farbenbegriffs wie auch in der Analyse des Bewusstseins, in der Idee des Erkennens und des Bewusstseins selber, die durch ,Selbstbeobachtung` gefunden wird. Dialektik ist nicht äußerlich her-angebrachte Form, doch folgt die Entwicklung des Begriffs in der Erfahrung ihrer allgemeinen eigenen Dynamik, wie in der von Steiner anerkannten Wissenschaft der Logik Hegels: die Logik von Allgemeinem und Besonderem und Einzelnem in den drei Raumesdimensionen, in der Farbe, in dem allgemeinen Typus, der Umwelt und dem spezialisierten Organismus, in der Erkenntnis (Synthese von Begriff und Objekt) und zuletzt dem Begriff des Bewusstseins oder des Ich (am Sondersein individualisierter allgemeiner Geist) .

Steiners ,Phänomenologie` ist in diesem Sinne und in seiner eigenen Terminologie somit die dynamische Beziehung von Phänomenalismus und ,Pneumatismus` (reiner Dialektik einer selbständigen qualitativ-dynamischen Idee). Wenn dies Steiners all-gemeines Prinzip des Erkennens selber darstellt, wäre nur noch zu fragen, wie diese Beziehung sich in den vier spezialisierten Erkenntnisweisen gestaltet, die die philoso-phische Methode als untergeordnete Momente in sich hat (vgl. § 7.4)

Mathematik, Mechanik und Physik sollten, Grundlinien entsprechend, eine bewei-sende Methode haben; ihre Urphänomene dienen als Grundgesetze, als Axiome, für eine deduktive Erklärungsstruktur (§§ 4.2.7 und 7.4a) . Steiner macht keinen Unterschied zwischen der beweisenden und der phänomenologischen Methode. Sogar die bewei-sende Wissenschaft par excellence, die formale Logik, soll letztendlich ,deskriptiv`-

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 405

phänomenologisch sein, wenn sie nicht rein konventionell vorgeht (§ 5.3.3) • Ihre Grund-sätze sind lediglich die vorhandenen, beschreibbaren, formal-ideellen Strukturen des Begriffs und des Urteils (Prädikaten- und Propositionslogik). Das Verhältnis der deduk-tiven Operationen und des deskriptiven Aspekts hat Steiner nicht weiter erörtert.

Die Naturwissenschaft soll nicht hypothetisch-formaldeduktiv vorgehen und im Experiment Bestätigung ihrer Folgerungen suchen. Ein solches Verfahren wäre nicht ‚phänomenologisch'. Nicht nur sind die allgemeinen Bedingungen einer Erscheinung phänomenologisch aufzusuchen und deskriptiv darzustellen, die Notwendigkeit der Zusammenhang dieser Bedingungen wäre im Urphänomen einzusehen. Machs phä-nomenologische Physik ist eine ökonomisch-mathematisch beschreibende (nach dem Prinzip Kirchhoffs). Steiner will, so haben wir dargestellt, dazu noch das primäre, axiomatische Grundphänomen als solches verstehen: d. h. in einer intuitiven ,Wesen-schau` ihre Notwendigkeit einsehen. Die Forderung, die Aristoteles an die Wissen-schaft stellte — das Notwendige in der Erfahrung zu erkennen —, wäre erst dann erfüllt

(§§ 4.2.7-4.2.9). Dabei ist bei Steiner zunächst unbeachtet geblieben, dass das Ein-sehen der Notwendigkeit in den Grundverhältnissen eigentlich nur von der dialek-tischen Naturphilosophie geleistet wurde. So stelltes sich jedenfalls an dem Urphä-nomen der Farbe dar (§ 4.3.2). Steiner übersieht hier ferner, dass das Verhältnis von Urphänomen und Einzeltatsache oder empirischem Phänomen nicht immer dasje-nige von Grund und logischer Folge ist. Das Urphänomen ist, bei Goethe jedenfalls, auch das ,Typische` für benachbarte Phänomene, wie die dioptrische Farbenentste-hung erster Klasse aus Licht und Dunkel im Medium für die dioptrische zweiter Klasse (u. a. die von Goethe nicht erklärte Prismawirkung) und für die physiologischen und chemischen Farben (deren Entstehung Goethe auch nicht erklären konnte: hier die Reaktion des Auges auf Kontrastfarben, dort die Auseinandersetzung des Lichtes mit der Dunkelheit der Materie). Steiner nimmt immerhin ein einzelnes Urphänomen des Lichts und der Farbe an, das scheinbar eine axiomatisch-deduktive Phänome-nologie begründen soll. Auf dem axiomatischen Niveau ist u. E. schon von einer Modifikation eines Urbildlichen nach der zweiten, der vergleichenden Methode die

Rede. Sogar die Mathematik, die sich im Allgemeinen nur der deduktiven Methode

bedient, wird bei Steiner erweitert zu einer ,fließenden Geometrie, wo die anschau-lichen gesetzlichen Variationen und Metamorphosen nicht mehr nur durch formales Beweisen hervorgebracht werden (§ 6.6). Die formalen Identitätsschlüsse (Hegel: ,die mathematischen Schlüsse`) werden diesem Prinzip untergeordnet, wenn als Nächstes die drei Dimensionen in ihrer ideellen Metamorphose und ihrem polar-dualen Verhält-nis entwickelt werden. Wenn diese Geometrie ferner in der Physik zum Verstehen der notwendigen Grundverhältnisse im Urphänomen angewendet werden soll (so Steiner in § 6.7), reicht an dieser Stelle die deduktive Methode in der Physik gleichfalls nicht mehr aus. Kurz: Die Phänomenologie hat schon auf der ersten Stufe der anorganischen Naturwissenschaft eine uneingestandene Dialektik in sich. Sie kann implizit bleiben, weil das phänomenologische Element vorherrscht. Die beweisende Methode muss,

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406 KAPITEL XI

in der Naturwissenschaft und der Philosophie, von phänomenologischen Prämissen ausgehen und aufgehen in einem dialektisch strukturierten Wissen.

Wie in der vergleichenden Methode der Biologie (zum Aufstellen des Typus und Nachvollziehen von dessen Metamorphosen in den Gestalten) ist ein aktiveres Den-ken als im formalen Schließen erforderlich zur Modifikation einer philosophischen Bestimmung (vgl. Steiners Antithesen ,Erfahrung und Denken` oder ,Denken und Beobachten') oder einer philosophischen Idee in ihren Erscheinungsweisen, wie es in der Kategorienlehre (§5.6.2), in den Stufen in der Erkenntnistheorie (§ 7.3.8) und endlich in der Systematik der zwölf Weltanschauungen von der Idee der Erkenntnis gefordert wird (§10.3). Statt des sinnlich-übersinnlichen, organischen Typus ist dort die ,Idee der Erkenntnis' oder ,der freie Geist' vorausgesetzt, die sich nicht auf die sinnliche Wahrnehmung, sondern nur auf die Phänomene des Erkenntnisprozesses in vollem Umfang stützen kann. Das Prinzip der Modifikation ist ebenso wie bei den anorganischen Naturwissenschaften keine formale Deduktion, sondern Ideen-Gestaltung. Dabei rekurriert Steiner auf eine Dialektik mit den in § 9.9 analysierten Merkmalen.

Das zugrunde liegende Phänomen des Denkens ist ja nur der Selbstbeobachtung zugänglich wie in der reflexiven Methode der Psychologie. Dadurch ist das Modifika-tionsprinzip von vornherein gehoben auf diese methodische Stufe. Eigentümlich an der Beobachtungsstruktur in Grundlinien, der Dissertation und Philosophie der Frei-heit in ihrem dialektischen Stufenbau war die ,Potenzierung der Selbstanschauung` (Schelling), die Steigerung der Selbstbeobachtung. Dieser Stufenbau ist nicht nur Ein-teilung und Synthese der getrennten Teile, sondern zugleich eine Konzentration und Reflexion des Bewusstseins, Mitanschauen ihrer konstitutiven Tätigkeit. Die ,Potenzie-rung der Selbstanschauung` hat das Besondere, das individuell tätige Bewusstsein als Objekt, nicht den Typus. Insofern die Beobachtungsstruktur in ihrem Stufenbau aber selber Begriff ist, hat sie die reflexive und modifizierende Methode in sich. Eine Dia-lektik leitet und organisiert die nach innen gewendete (dem Bewusstsein zugewandte) Phänomenologie.

Eine immanente Schwierigkeit dieser Methode ist das Ineinanderlaufen von Objekt und Analyse. Ist doch das Problem des „Schauens des Innern in das Innere" (PHDG 128), dass „hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innre verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann" (PHDG 129) . Das Phänomen des Erkennens und sittlichen Handelns (des Agierens aus Intuition) ist nur da, wenn die Einzelphänomene des Erkennens und subjektiven Handelns zu einem begrifflichen Gesamtbild ,organisiert` werden. Wenn man schon ,das Licht' nicht augenhaft sieht, sondern nur die Farbe, dann umso weniger ,die Idee` in einzelnen Urteilen oder ,das Ich` in einer Vorstellung oder Erinnerung. Dieser Umstand mag erklären, warum es eine Einheit von Beschreibung des Gegenstandes und Metaebene der Analyse in Steiners Dissertation gibt. Unmittelbare Erfahrung sollte zum Beispiel sein, was nur als Begriff (,das Unmittelbare') aus der jeweiligen Erkenntnis negativ zu rekonstruieren war.

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 407

Das ,Urphänomen` des Erkennens und die Idee der Sittlichkeit haben eine phäno-menologische Basis: Sie sind zu einem gewissen Grad schon individuell verwirklicht (es gibt nachweislich Erkenntnis, wir handeln nicht nur gezwungen). Es handelt sich aber auch um reine Ideen, ,reale Ideale, die durch individuelle Tätigkeit noch zu verwirkli-chen sind. Die Philosophie kann hier nicht mehr rein analysierende Phänomenologie sein. Wie die historische Methode hat sie hier unmittelbar mit den Ideen als solchen zu tun. Die Philosophie hat sich die Ideen aber nicht geben zu lassen, sondern ,denkt` in freier dialektischer Tätigkeit über die Grenzen des Beobachtbaren hin ihre Ideen als reale Möglichkeiten ,zu Ende (GA 4\168) . Ihre Methode entspricht daher ihrem

höchsten Ideal der Freiheit.36

Nicht weniger als das Ideal der Freiheit ist auch das Wissen ein Ideal und Stei-ners erkenntnistheoretischer Monismus letztendlich eine rein dialektische Schlussfol-gerung. Die Differenz von Typus und Erscheinung ist real und objektiv, eine phä-nomenologische Tatsache im engeren Sinne. Der Schluss von einzelnem Wissen auf die ursprüngliche einheitliche Grundstruktur der Welt mit sinnlichen und geistig-ideellen Elementen, den Gegenstand des totalen Wissens, ist Vernunftschluss (vgl. Kants

KDRV B 378-386: „Von den transzendentalen Ideen"). Dies übersteigt im quantitativen Sinn jede Erfahrung (Kant: ist ,transzendent`) . Eben weil die Idee nicht Summierung oder Generalisation von Einzelerfahrungen, sondern eine unbedingte und vollständige Wesenserfassung derselben beinhalten soll, ist sie der Erfahrung noch nicht inadäquat (somit nicht notwendig dialektischer Missbrauch transzendentaler Ideen nach Kant; KDRV B 396-398). Diese Erkenntnisidee organisiert und erklärt nämlich das ganze Wis-sen. Das phänomenale Unmittelbare am Subjekt (die Trennung von Beobachtung und Begriff) wird von Steiner nicht zum Maßstab erhoben. Vielmehr wird vom Ende des Erkennens her im Rückschluss die Subjektivität bestimmt (§ 8.6) .37 Der Schluss ist ein

36 Schelling hat betont, hier ergreife die Freiheit die Freiheit (sw 1, 9\221), indem das Denken sich seiner Freiheit ,erinnerte` (sw 1, 9\232). Da diese als reine Bewegung des Wissens gegenstandslos sei, nennt Schelling diese ,intellektuelle Anschauung' ein Wissen des Nichtwissens (sw 1, 9\23o-233). Bei Steiner sind dazu noch die Freiheit und die Subjektivität der Trennung von Idee und unmittelbarer Erscheinung eins. Die Bewegung des Wissens soll bedingt sein durch ,aktives Nichtwissen' (nicht ein reiner Mangel, ein der Bestimmung zum Wissen Vorangehendes, wie Schelling a. a. O. ausführt). Die Bewegung des Wissens sei nicht reines Denken, sondern Hebung dieses Gegensatzes von Erscheinung und Idee.

37 Vgl. WDL u\464: „Der Gegenstand, die objektive und subjektive Welt überhaupt sollen mit der Idee

nicht bloß kongruieren, sondern sie sind selbst die Kongruenz des Begriffs und der Realität [ ... ] . Wenn gesagt wird, es finde sich in der Erfahrung kein Gegenstand, welcher der Idee vollkommen kongruiere, so wird diese als ein subjektiver Maßstab dem Wirklichen gegenübergestellt". Ohne seinem Begriff angemessen zu sein, wäre der Gegenstand ja ,nichts` (ebd). Wo Phänomenologie die Welt dem Vorge-fundenen gleichsetzt und den subjektiven Leistungen gegenüberstellt, wird die ,Welt` als „die universale passive Vorgegebenheit aller urteilenden Tätigkeit" (Husserl [1948], S. 26) das vorprädikative „Substrat von Kenntnisnahmen" (a. a. O., S. 34): die ,Lebenswelt`, die auch da ist ohne unser ,Ideenkleid`, das für Husserl nur „irreale Gegenständlichkeit" hat. Begriffe sind „Sinngegenständlichkeiten, Gegenständ-lichkeiten, zu deren eigenwesentlichen Bestimmungen es gehört, Sinn-von ..., Bedeutung-von ... zu sein." (a. a. O., S. 323) und haben deshalb kein zum Subjekt bezugloses An-sich-Sein, sondern verweisen als ,Vermeintheiten` auf ihnen „korrelativ zugehörige Prozesse erzeugender Spontaneität, in denen [sie] zu ursprünglicher Gegebenheit" (a. a. O., S. 397) kommen. In dieser Form stehen dialektischer Idea-

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408 KAPITEL XI

dialektischer, insofern aus dem Widerspruch zwischen den synthetischen Erkenntnis-akten und der originären Zusammengehörigkeit von Beobachtung (Gegenstand) und Begriff auf die trennende Funktion des Erkenntnisaktes geschlossen wird: Die erken-nende Synthesis ist Negation der vom Subjekt gesetzten Trennung. Dieser dialektische Schluss hat dennoch seine phänomenologischen Prämissen, wie seine phänomenolo-gisch überprüfbaren Konsequenzen.

Die Einzelerfahrung ist für Steiner kein hinreichender Prüfstein der Theorie (somit auch nicht das experimentum crucis). Weil es kein Abildverhältnis von Gedanken und bloßer Wahrnehmung gibt, muss der theoretischen Vorstellung die naive originäre Gegebenheit fehlen (z. B. die farbigen Strahlen die sich zusammensetzen in Newtons weiß). Vielmehr ist Aufhellung der Erfahrung und Selbstreflexion der Subjektivität eins. Die Abstraktion ist subjektiver Akt (§ 5.4.2), und daraus ergibt sich die Aufgabe der Ergänzung dieser Abstraktion zur Objektivität hin, also die Geltung des Vollständig-keitsprinzips. So in der Logik (§ 5.6.2), der Mathematik (§ 6.7.6), den Naturwissenschaf-ten (§ 4.2.9) und in der Philosophie (§§9.5 und 10.3) . Vollständigkeit ist komplementär zur Abstraktion.

Die Einheit von Phänomenologie und Dialektik hat darin bei Steiner seinen Grund. Das Vollständigkeitsprinzip lässt sich seinerseits nur aufrechterhalten durch den objek-tiven Idealismus. Den Umkreis der Phänomene kann die Wissenschaft lediglich in ihren wesentlichen Unterschieden fassen, sonst wäre Vollständigkeit mit allen mögli-chen Erfahrung identisch und deswegen unrealisierbar. Ob man das Wesentliche schon getroffen hat, bleibt allerdings Erfahrungssache. Bei unsere Auffassung besteht immer die Möglichkeit der Widerlegung durch die Erfahrung. Diese kann unsere Begriffe und Theorien aber auch positiv bestätigen. Alle Erkenntnis gründet auf dieser Grundtat-sache, nämlich dass wir die Entsprechung von Begriff und Wahrnehmung erkennen können, dass die begriffliche Organisation ,das reine Phänomen` in der Erfahrung aufdecken kann. Für Steiner ist dies das ,Urphänomen` seiner Erkenntnistheorie. Es bedeutet, dass wir nicht darauf beschränkt sind den Erscheinungen etwas hinzuzuden-ken, sondern dass wir ihr dynamisches Gefüge erfassen können. Namentlich realistisch erarbeitete Begriffe (wie ,Licht`, ,Organismus` und ,Bewusstsein`) erfassen immanente Kräftelinien der Welt, wenn auch nicht unmittelbar in ihren eigenen Gestalt.

Der stufenmäßige Aufbau von GA 2 (Grundlinien) bis GA 4 (PHDF) ist eine solche begriffliche Organisation, die den Blick auf die Phänomenen des Erkennens und der

lismus (Hegel) und subjektgebundene Phänomenologie (Husserl) einander unversöhnlich gegenüber. Husserls Phänomenologie findet die letzte Urteilsgrundlage in der vorprädikativen Wirklichkeit der Lebenswelt (,Genealogie der Logik`), von der sich Hegels Phänomenologie gleich von Anfang an weg-bewegt zum Wahrheitsgrund im absoluten Wissen des Geistes hin. Die ideenentkleidete, unmittelbare nackte Lebenswelt ist für Hegel „bloße Erscheinung, das Subjektive, Zufällige, Willkürliche, das nicht Wahrheit ist" (wDL u\464), die man deshalb in der Tat nur ,meinen` kann (PHDG 83: die Dialektik der sinnlichen Gewissheit). Wegen der Objektivität der Idee (ihrer Konstitution der Phänomene) ist freie dialektische Tätigkeit nicht nur Bewegung in sich. Steiner versucht die Mitte zu halten: Sie theoretisch nachschaffend, bewegt das Denken sich innerhalb der Erfahrung.

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SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR METHODENFRAGE 409

Freiheit entschließen soll. Die gewonnene Erkenntnisidee ist fähig sich variieren und modulieren zu lassen zu einer Zusammenschau der verschiedenen Weltanschauungen (§ 10.3) und wird dadurch zum Leitfaden einer Geschichte der Philosophie (§ 10.4) . Steiners bipolarer Ansatz von Phänomenologie und Dialektik hat seinen Grund in die-ser dynamischen Idee des Erkennens. Das Wissen des Wissens fordert die umfassendste und intensivste Methodik. Die Methoden der Einzelwissenschaften stellen daher bei Steiner Spezialfälle dieser Wissensart dar.

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Schlussfolgerungen

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KAPITEL XII

Schlussfolgerungen

§ 12.1. Steiners Philosophie im Kontext

Steiner hat seine Entwicklung im Kontext der 7oer und 8oer Jahre des 19. Jahrhunderts durchgemacht und seine Philosophie wurde von diesem weitgehend geprägt. Sie stellt gewissermaßen im Zeitalter des subjektiven Neukantianismus (Lange, Liebmann, Vol-kelt, Windelband) eine Erneuerung des Idealismus dar in einer Variante, die mit Goethe und der ,wissenschaftlichen Philosophie der Zeit die empirische Forschung als einzige Erkenntnisquelle (allerdings mit spezifischer ,Induktion`) an die Stelle der entthronten Spekulation der Idealisten setzte. Steiner nahm damit zugleich die ältere Tradition des aristotelischen Empirismus wieder auf, wie Hegel und Schelling dies gleichfalls taten. Ein persönliches Verhältnis zu K.J. Schroer, F.T. Vischer, E. von Hartmann, H. Grimm und H. von Stein verband ihn mit jener idealistischen Periode und Geistesströmung. Im Kontrast repräsentierten F. Brentano, R. Zimmermann, E. Mach und später H. Hae-ckel in Steiners Biografie die neue, positivistisch orientierte wissenschaftliche Philoso-phie. War Hartmann der ihm sympathischste und ein fruchtbarer Opponent (dessen transzendentaler Realismus Mitanlass seines erkenntnistheoretischen Monismus war), sollte Brentano für Steiner später am signifikantesten die Schwierigkeiten einer Phä-nomenologie des Bewusstseins empfinden (von Husserl kannte Steiner wahrscheinlich nur die Lu). Die Begegnung mit Nietzsche, mit dessen Schwester, dem ,Nietzsche-Archiv` und dem Nietzscheanismus in Weimar war eine vorübergehende Episode im Zeichen der Empathie mit dem Glanz und den Gefahren einer radikalen Modernität.

Die erste Begegnung Steiners mit der Philosophie war die Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft, und bis zur Dissertation sollte die Auseinandersetzung mit Kant, und zwar in der rezipierten Form des Neukantianismus Volkelts und des verwandten Dualismus Du-Bois Reymonds und des Transzendentalismus Hartmanns, den roten Faden bilden. Noch bevor Goethes Erkenntnisart richtungweisend wurde, hatte Steiner an Fichte einen grundlegenden Standpunkt gewonnen, von dem aus er sich eine philosophische Position aufbaute: den Glauben an die unumgehbare geistige Erkenntnistätigkeit des empirischen Ich. Dies blieb eine Konstante in Steiners Philosophie 03.2).

Während des Tiefstandes von Hegels philosophischer Popularität gewann Steiner den Naturwissenschaften einen idealistischen Erkenntnisbegriff ab. Die Widersprüch-lichkeit des transzendentalen Atombegriffs (das vervielfachte Ding an sich) brachte

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414 KAPITEL XII

ihn zum Konzept einer phänomenologisch begründeten Naturwissenschaft (§ 3.3), gleichsam um einen idealistischen Kern (die dem reinen Ich zugängliche Idee). Sein Engagement für Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten während des Aufstiegs des Neukantianismus erneuerte jenes idealistische Verständnis für Goethes Morphologie und Farbenlehre von Schelling und Hegel (§§ 4.1, 4.2 und 4.3.1), das, wie die nach-herige Goetheforschung bestätigte, Goethe mehr entsprach als die damaligen, von Schopenhauer (Harpf) und dem Neukantianismus (Vorländer) geprägten Interpre-tationen (§§ 4.1.3-4.1.4). Goethe praktizierte, so Steiner, musterhaft den objektiven Idealismus (§ 4.2). Das Studium von Hegels Werken verschaffte Steiner wahrscheinlich das begriffliche Instrumentarium nicht nur zur Entwicklung des Erkenntnisbegriffs (§ 3.3.3) , sondern vor allem zur Analyse des Verhältnisses von Goethe zu Newton (Far-benlehre) und Kant (Morphologie: konstitutive Idee; vgl. §§ 4.2.7 und 4.3.2). Auch in der Verteidigung Goethes gegenüber Darwin (bzw. Haeckel), für die er möglicherweise Hartmann u. a. Argumente entlehnt hatte, sehen wir noch eine Übereinstimmung mit den Grundzügen von Hegels Naturphilosophie, obwohl Hegel die Evolution der Arten zu Unrecht noch entschieden zurückwiesen hatte (§4.3.3). Die Analyse von Goethes Auseinandersetzung mit Newton und Kant eignete sich besonders für eine erkenntnis-theoretische Analyse, da Goethe ganz bestimmt durch die Kontroverse mit Newton ein methodisches Bewusstsein entwickelt hatte, mit dem er einige durch die neuere Wis-senschaftslehre überbekannten topoi vorwegnahm (Hiatus der Erfahrung, die ,Vorstel-lungsarten`, Theoriebedingtheit der Wahrnehmung, komprehensiver [,holistischer` ] Rekurs auf die Erfahrung, und zuletzt die Tatsache, dass man der Idee nicht entsagen kann; § 4.2.6). Die Phänomenologie zeigte, dass ,Licht` und ,Finsternis` Realbegriffe sind, nicht gleich wahrnehmbar wie eine Farbe, während dagegen die Vorstellung von ,Farben im Lichte` eine unstatthafte begriffliche Projektion mit sich führt (§ 4.3.2). Goethes Typus repräsentierte für Steiner theoretisch eine höhere Ebene als Darwins Evolution, da diese aus der Metamorphose im Typus, jene hingegen nicht aus der Realevolution erklärt werden kann 04.3.3). Beide Male steht das Allgemeine (Ideelle: Licht oder Typus) über dem Besonderen (finstere Materie und äußere Umstände), und ihre Synthese ist erst das Wirkliche (Farbe bzw. individueller Organismus). Zuletzt erhob diese Naturphilosophie sich zu einer Phänomenologie des Bewusstseins vor: die Erscheinung des Begriffs als solcher innerhalb der Natur, die nur im menschlichen Bewusstsein stattfindet (§4.3.4), und ihre eigentümliche Gestalt hat in der ,subjektiven Logik` (Kap. y).

Steiner hielt den damaligen Psychologismus (Sigwart und Wundt) für einen Rückfall hinter die aristotelische (scholastische) und idealistische Logik 05.3). Sein objektiver Idealismus machte sich geltend in seiner realistischen Auffassung der ,Gattung` und seine empirische Orientierung in dem Umstand, dass er die Gattung einer intuitieren-den Induktion zugänglich erhielt (§ 5.5). Die projektive Geometrie funktionierte dabei als eine Brücke zwischen den exakten mathematischen Begriffen der Naturwissenschaft und einer dynamischen Anschauungsweise (§ 6.7 und § 6.8) . Sie sollte Steiners objek-tiven Idealismus auf den damaligen Stand der modernen Wissenschaft bringen (§§ 6.3

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 415

und 6.7). Der objektive Idealismus begründete einen ethischen Individualismus und eine Freiheitsphilosophie, mit denen er aktuelle Erscheinungen wie die Philosophie Nietzsches noch zu würdigen suchte. Er lieferte mit dem Idealismus durchaus ,die Grundzüge einer modernen Weltanschauung' (Subtitel GA 4) .

Steiners objektiver Idealismus und seine Freiheitslehre fanden wenig Anklang. Abgesehen von der Dissertation ist seine Philosophie entweder Auslegung von Goe-thes philosophischen Voraussetzungen oder eine Diskussion über allgemeine Themen (namentlich über den Monismus und Dualismus, den Transzendentalrealismus, die allgemeine Ethik als Theorie des Handelns und den Pessimismus Hartmanns) und nur selten fachgerichtete akademische Spezialarbeit. Das Nietzsche-Buch, die einzige Monografie Steiners über einen Philosophen und damals wohl ganz am Rande des Inter-esses der akademischen Philosophie, sein Eintritt für den objektiven, dem Anschein nach veralteten Idealismus und einen ziemlich radikalen Individualismus (pro Nietz-sche und pro Stirner), der keine politische Resonanz erhoffen konnte, zudem seine Kritik am theoretischen und ethischen Kantianismus: All diese Aspekte erschlossen Steiner kaum den Zugang zu einer universitären Lehrtätigkeit (jedenfalls nicht außer-halb Wiens). Ab 1900 beteiligte er sich nicht weiter an der philosophischen Diskussion, sondern wandte sich der Theosophie zu. Nur Begegnungen mit Scheler, die Teilnahme am Internationalen Kongress für Philosophie 1911, die späte Auseinandersetzung mit Brentano und die Neuausgabe seiner philosophischen Werke, bemerkungswerterweise in umgekehrter Reihefolge (GA 18 — GA 4 — GA 2), brachten ihn zuweilen zurück auf das Feld der reinen Philosophie (vgl. die Periodisierung in § 2.23).

§ 12.2. Philosophische Position

Als Resultat unserer Analyse im dritten Teil fassen wir Steiners philosophischen Stand-punkt, den objektiven Idealismus und die Freiheitsphilosophie, in einigen Sätzen zusammen:

1. Erkenntnis setzt sich zusammen aus Begriff (Idee) und unmittelbarer Erfahrung (beobachtetem Gegenstand), d. h. aus ,Form` und ,Materie der Erkenntnis.

2. Wir denken den Begriff und beobachten den unmittelbaren Erfahrungsgegenstand. 3. Begriff ist dynamischer Natur (mit Hegel: ,eine Selbstbewegung`). Denken ist

Beobachtung des Begriffs (,Intuition`), aber dies ist ein aktives Nachvollziehen seiner dynamischen Struktur (nur ein Beispiel dafür ist der Zirkel des Verstehens: Ganzes — Teil — Verhältnis).

4. Das selbständige Dasein des Begriffs, dem Inhalte nach, ist Voraussetzung jeder objektiven Erkenntnis. Das Denken ist freie, ungezwungene Tätigkeit, inhärent bezogen auf den Begriff.

5. Der Inhalt der unmittelbaren Erfahrung ist für das Denken ein passiv Gegebe-nes. Beobachtung ist denkende Zuwendung zu einem dem Denken vorgegebenen Gegenstand.

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416 KAPITEL XII

6. Erkenntnis ist asymmetrisch: Der Begriff (die Idee) erklärt sich selbst (reflexiv), die sonstige unmittelbare Erfahrung nicht (irreflexiv). Der Begriff klärt also über die Erfahrung auf, nicht umgekehrt. Anders gewendet: Der Begriff ist das allgemeine Wesen der Erfahrung, diese individuiert den Begriff. Nur der Begriff (das Allge-meine) kann Wesen der Erscheinung sein (erkenntnistheoretischer Monismus).

7. Die Trennung von Begriff (Wesen) und Beobachtung ist subjektiver Natur, denn sie ist nicht begründet im Erkennen, das im Gegenteil jeweils ihre sachliche Einheit ausspricht.

B. Diese Trennung des Objekts bewirkt zugleich die subjektive Polarität von Denken und Beobachten, die Grundbedingung unseres Bewusstseins.

9. Indem wir die Trennung von Begriff (Wesen) und Beobachtung (Erscheinung) durch ,denkende Beobachtung' aufheben, realisieren wir, im Nachvollzug eines ursprünglichen Verhältnisses von Begriff und Gegenstand, unser subjektives Wissen von dieser Relation.

10. Die Wiederherstellung der Verbindung von Begriff und Beobachtung ist freie Leistung unserer in Denken und Beobachten polarisierten Tätigkeit.

11. Das Mehr an Intuition im Denken gegenüber der Beobachtung ermöglicht ein freies Handeln, in dem wir noch nicht in der Erfahrung individualisierte Begriffe realisieren.

12. Beispiele dieser noch nicht (vollständig) realisierten Begriffe sind zuletzt die Idee der Erkenntnis selber (auch das Erkennen ist frei) und die Idee des freien Geistes (höchster Begriff des Geistes).

13. Die Idee der Erkenntnis und die Idee der Freiheit, beide auch Ideale zu nennen, sind komplementär.

14. Die subjektive Spaltung des beobachteten Gegenstandes von dem im Bewusstsein von ihm abgetrennten Begriff füllt sich mit Gefühl und Vorstellung.

15. Konkretes, individuelles Leben gewinnt das Subjekt in diesem Zwischenbereich anhand der Individualisierung der allgemeinen Intuitionen durch Gefühl und Vorstellung, und in Hinsicht auf das Handeln durch Liebe und moralische Fantasie.

Die Idee der Erkenntnis besagt für Steiner, dass Erkennen nur möglich ist, wenn wir die Idee, mit der wir erkennen, in all ihren Fasern durcharbeiten und neuschaffen, also in freier Tätigkeit als unser geistiges Eigentum erwerben. Umgekehrt soll sittliches Handeln nur dasjenige sein, das aus einer Erkenntnis der Situation, aus einer frei erfassten Idee (Intuition) hervorgeht. Voraussetzung für das Erkennen ist, dass mit der Beobachtung der Begriff nicht mitgegeben wird, sondern erarbeitet sein will: dies aufgrund der subjektiven Spaltung von Begriff und Erscheinung. Voraussetzung für das sittliche Handeln ist die objektive Spaltung von Begriff und Wirklichkeit und zugleich also die Getrenntheit von Wirklichkeit und der freien erkennenden Tätigkeit, die über die Wirklichkeit hinaus denken kann. Die Freiheit ist mithin der Schlussstein von Steiners Philosophie in den zwei einander bedingenden Formen von Wissenschaft und Sittlichkeit.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 417

Dieser Philosophie der Freiheit geht eine goetheanistische oder phänomenologische Naturphilosophie voran, ohne welche sie wohl unmöglich wäre. Ein deterministisch-klassisches Naturbild erlaubt nicht die Realisierung dieser Freiheitsidee, wenn nicht ein krasser Dualismus von determinierter Natur und geistiger Freiheit entstehen soll. Der Übergang ist bei Steiner nun der, dass die materielle Natur eine ideelle Not-wendigkeit an sich hat. Diese ist eingebettet in und deswegen beschränkt durch eine höhere Gesetzmäßigkeit, die sich in der Reihe der Grundbegriffe zeigende Notwendig-keit, die Metamorphose ihrer Grunderscheinungen. Nicht wird die Materie von einer fremden Macht unterworfen, sondern ihre ,Form` ist bereits Idee, die von höheren ide-ellen Bestimmungen (dem Typus) modifiziert wird im Organischen und vom Ich im Bewusstsein. Wir haben Steiners Ring von Gesetzmäßigkeit u. a. in § 6.6. über die pro-jektive Dynamik beschrieben. Wollen und Vorstellen schließen sich der Wärme bezie-hungsweise der individualisierten Raumgestalt an. Die Grundspaltung im Bewusstsein von Denken (der Idee) und Beobachten (dem unmittelbaren Phänomen) ist in diesen Gegensatz hineingestellt. An der Farbe (also an der Oberfläche der Materie) werden analog jene allgemeinen Prinzipien des Lichts und Nicht-Lichts (der Finsternis) durch die Materie individualisiert. Steiner hat dies in seiner Systematik der Weltanschau-ung 010.2) dadurch ausgesprochen, dass Idealismus (die freie Idee) und Realismus (der dualistische Ansatzpunkt des Erkennens) eine Zwischenposition einnehmen zwi-schen Spiritualismus und Materialismus. Vom Materialismus zum Idealismus und Spiritualismus hatten wir (vgl. § io.3) die Steigerung des Allgemeinen: Licht — Raum-beziehung — Gesetz — Begriff— Subjekt — Geist; vom Spiritualismus über den Realismus die Reduktion zur Materie: Geist — Monade — Kraft — Reales — Erscheinung — Sinnesin-halt — individualisiert existierende Gestalt oder Ding im Raume. Steiners Konzeption umspannt dadurch Natur wie Freiheit (Geschichte).

§ 12.3. Methodisches Ergebnis

Steiners Projekt der Philosophie hat zwei korrelierende Ziele. Erstens das Verstehen des Menschen als eine freie Persönlichkeit. Diese Zielsetzung ist nicht rein theore-tisch motiviert, denn diese Philosophie selber ist ein Streben zur befreienden Einsicht: „Zunächst wollte ich die Biographie einer sich zur Freiheit emporringenden Seele zei-gen" (GA 4a\528) . Aus dem „gesteigerten Freiheitsdrang des Individuums" geht das Bedürfnis der Wahrheit hervor, sodass wir uns nicht irgendeinem Glauben ausliefern. „Was wir aber nicht durchschauen, widerstrebt dem Individuellen" (GA 4a\247). Des-wegen ist das Zweite die Gestaltung dieses Wissens um die Freiheit selber. Sie ist eine Philosophie ,als Kunst', weil sie das Ziel hat, über das bloß passive Wissen hinauszuge-hen. Ihre Ideen „werden Lebensmächte" (GA 4a\249), d. h., sie sollten uns das Ziel der Freiheit sichern und zur Freiheit ermutigen.

Wenn ,Beobachtung` und ,Intuition` die zwei Quellen der Erkenntnis sind und nur die ,denkende Beobachtung' die Wirklichkeit erschließt, so kann der Forderung der Freiheit entsprechend methodisch der Ausgangspunkt nur ein phänomenologischer

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418 KAPITEL XII

sein, da das Individuum in die Lage versetzt werden soll, über den Begriff selber zu urteilen. Deswegen soll die PHDF keine bloß „theoretische Antwort" geben, sondern auf ein „Erlebnisgebiet der Seele" verweisen, in dem jeder sich selber überzeugen kann (GA 4\8).

Um aber die entsprechenden Begriffe zu haben, „führt [die PHDF] zuerst in abstrak-tere Gebiete, wo der Gedanke scharfe Contouren ziehen muß, um zu sichern Punkten zu kommen" (GA 4a\248) . Der Ausdruck „Ätherreich der Abstraktion" (GA 4a\248) verweist den Eingeweihten schon auf Hegel, auf das Vorwort der PHDG, wo dem Selbst-bewusstsein zugemutet wird, nicht zu beharren in der Betrachtung des empirischen Materials, sondern sich zum reinen Begriff, d. h. zur Reflexion, „diesem Äther als solchem" aufzuschwingen: „Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an das Selbstbe-wußtsein, daß es in diesen Äther sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben" (PHDG 25). Die scharfen Konturen der Begriffe erzeugen, „was als logischer Widerspruch erscheint [ ... ], [aber] indem es in seiner Wirklichkeit ange-schaut wird, gerade zum lebendigen Begriff [wird]" (GA 4\182). Die ,sicheren Punkte` sind wohl jenseits der Verwirrung durch den widersprüchlichen Schein zu situieren und sind mithin Errungenschaften einer Dialektik, die von Vorurteilen befreit: „jede Person habe ihre eigenen Begriffe. Es ist eine Grundforderung des philosophischen Denkens, dieses Vorurteil zu überwinden. Der eine einheitliche Begriff des Dreiecks wird nicht dadurch zu einer Vielheit, daß er von vielen gedacht wird. Denn", folgert Steiner im dialektischen Rückschluss, „das Denken der Vielen selbst ist eine Einheit" (GA 4\91) . So gibt es noch andere Vorurteile wie den naiven Realismus, den Dualismus von Ich und Ding, die Subjektivität der Empfindungen usw., die Steiner zu überwinden sich das Ziel steckte.

In Kapitel xI haben wir die methodische Vorgehensweise Steiners sowohl als Phä-nomenologie als auch als eine systematisch-dialektische qualifizieren können, und zwar anhand der Begriffsbestimmungen von Phänomenologie und Dialektik, die his-torisch am nächsten standen. Diese Doppelqualifizierung ist keine Inkonsistenz. Stei-ners ,phänomenologische Logik und die dialektischen Grundbegriffe seiner Goethe-Interpretation weisen eher zurück auf ihren notwendigen Zusammenhang im frühesten Erkenntnisbegriff (der ,Realdefinition`): die Erfahrung, die Sinneserscheinung ist der Begriff ,in anderer Form' (§3.3.3). Es ist nicht die Rede davon, dass Steiner einem Phä-nomenalismus (Hume'scher Art) einen diesem fremden absoluten Idealismus Hegels anzukoppeln versucht hat, wie Hartmann das Unternehmen der PHDF deutete (§1.3). Wir haben im Gegenteil aufgezeigt, dass aus der dialektischen Auflösung der Widersprü-che im materialistischen oder auch transzendentalen Atomismus sich ein Programm einer Phänomenologie der Natur ergab, das übereinstimmte mit Goethes naturwissen-schaftlicher Praxis. Die Aufklärung dieser Phänomenologie geschah mit den Kategorien von Hegels Logik und Naturphilosophie, weil diese nur die kategorialen Formen der Erfahrung sein sollen und weder irgendein transzendentes Objekt noch einen mate-riellen Träger der Erfahrung voraussetzen. Gerade das strengste Festhalten an dem Prinzip der Erfahrung ermöglichte Steiner die Entwicklung einer Phänomenologie,

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 419

deren Grundstruktur eine dialektische ist, weil sich die einzelnen Phänomene in der Idee zusammenschließen zu einem ganzheitlichen, dynamischen (über den Verstan-desdichotomien hinausgehenden, d. h. widersprüchlichen) Phänomen, dem ,reinen` oder ,wissenschaftlichen Phänomen' (vgl. §§ 4.2.9, 10.3 und 11.4) .

Damit haben wir einen einheitlichen Zug in Steiners ganzer philosophischer Ent-wicklung nachgewiesen. Angefangen mit dem Faktum des reinen und freien Ich, das sich nicht verlieren sollte in den widersprüchlichen Illusionen einer selbständigen Materie-welt, in der dem erkennenden Ich selber kein Platz mehr einzuräumen war, erweiterte sich sein Erfahrungskreis zu einer phänomenologischen Analyse des Erkennens und der Freiheit, entlang einer dialektischen Begriffsstruktur, und wurde schließlich zu einer Phänomenologie dieser Dialektik selber in dem ,großen Phänomen' (Goethe) einer Zusammenstellung von zwölf gegensätzlichen philosophischen Grundpositionen (,Weltanschauungen`) .

Anders als bei Hegel liefert die Methode oder die Form nicht zugleich den Inhalt. Methode und Inhalt tragen einander jedoch wechselseitig. In der Methode des Erken-nens stellen die zwei Seiten die Dialektik der Idee (idealistisch-psychischer Pol) und die Phänomenologie der realen Erscheinung (realistisch-phänomenalistischer Pol) dar. Jene entspricht für sich genommen der Methode, diese dem Inhalt. Das Auseinanderge-hen vom Geiste im Begriff (bis zum allgemeinen Raum) und der Individuation (bis zur realen individuellen Gestalt im Raum) setzt sich fort bis in die materielle Erscheinung. Die Farbe, der ,reinen Erscheinung' (Hegel), wo das Physische restlos an die Oberfläche getreten ist (ENZ § 320, Zusatz), ist der Ort der realen Begegnung dieser gegensätzlichen Elemente (Idee und Materie) . Die Farbenlehre Goethes ist deshalb nicht ein zufälliger historischer Anlass zu Steiners Erkenntnistheorie, sie ist vielmehr immanenter Bestand-teil seiner ganzen Philosophie. Die Farbenlehre ist der phänomenologische Gegenpol zur dialektischen Logik. Goethes Morphologie hat nicht nur methodische Bedeutung (mit dem Variationsprinzip der Vorstellung und ihrer konkreten Dialektik), sondern ist bei Steiner zudem Bürgschaft einer realen Vermittlung von Geist und Natur (der Typus im Organismus).

§ 12.4. Steiners Philosophie innerhalb der Dynamik des Neukantianismus

§ 12.4.1. Zur methodischen Bewertung

Wie ist nun diese Philosophie Steiners zu bewerten? Wir wollen dieser Frage hier den methodischen Sinn beilegen, wie Steiners Philosophie sich innerhalb der angedeuteten geschichtlichen Entwicklung der Philosophie ausnimmt. Welchen Platz nimmt sie in der Entwicklung ein (wir verstehen darunter nicht die einfache Kontextualisierung wie in § 12.1), und wie haben sich ihre Grundvoraussetzungen gehalten?

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420 KAPITEL XII

§ 12.4.2. Weltanschauungsphilosophie?

Beide Fragen wären bald beantwortet, wenn Steiners Philosophie nur als Beispiel der veralteten ,Weltanschauungsphilosophie anzusehen wäre. Als solche wird sie häufig auch jetzt noch betrachtet. Steiner hat scheinbar wenig getan, um sich die Qualifi-zierung als ,Weltanschauungsphilosophie vom Leib zu halten. Einen solchen Typ der Philosophie betrachtet man als Erbteil der Romantik. Neben den deduktiv-apriorischen Systemen Reinholds und Fichtes, dem dialektisch-enzyklopädischen System Hegels soll ein dritter Typ des romantisch-weltanschaulichen Systems auf Schelling zurückgehen, der bald zum Nicht-mehr-Systematischen, zur historischen, prinzipienlosen Anschau-ung (vgl. dann Berger, Trendelenburg) überging.' Die Wissenschaften wollten sich nach dem ,Zusammenbruch des Idealismus` in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhun-derts nicht mehr von der Philosophie zum ehemals geläufigen System zusammenfassen lassen. Hegel wurde „als toter Hund behandelt" (Marx). Die Wissenschaften versagten jedoch bei ihrem Versuch, selber das ,Ganze` systematisch zu begreifen. So fiel diese Aufgabe noch in irgendeiner Art der Philosophie zu: „Aber durch den Zug des Geistes getrieben, ergreifen wir das Ganze" (Trendelenburg):2 „Weltanschauungsdenken tritt an die Stelle des Systemdenkens".3 Nur das „Zurück zu Kant" kam allmählich dem Bedürf-nis nach einer systematischen Philosophie entgegen (Liebmann, Windelband, Cohen). Zur damaligen Zeit konnte man mit Titeln wie Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2) und Goethes Weltanschauung (GA 6) oder Grund-züge einer modernen Weltanschauung (GA 4) den Verdacht auf sich ziehen, sich für eine romantisch-geistig verschwommene Gesamtschau entschieden zu haben. Als Stei-ner noch 1914 von ,Weltanschauungen` (GA 151) sprach, meinte er aber nichts anderes als philosophische, erkenntnistheoretische oder ontologische, Positionen (nicht sehr abweichend vom damaligen Sprachgebrauch: Der Untertitel von GA 4 mag demjenigen von Hartmanns Hauptwerk Die Philosophie des Unbewußten nachgebildet sein, der lautet: Versuch einer Weltanschauung; vgl. ferner u. a. Diltheys ,Typologie der Weltan-schauungen' und Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen).4 Nun, am Ende unserer Untersuchung, können wir feststellen, dass Steiners Interesse für Goethe namentlich der Offenheit von dessen empirischer Forschungsweise für eine dynamisch-ideelle Sys-tematik galt, wofür Hegels Dialektik und Systemdenken das zweite Vorbild abgab. Nicht religiöse oder dichterische Inspiration, nicht gefühlsmäßiges Naturempfinden, sondern systematisch erweiterte Erfahrung, methodisch nach typischer Vollständigkeit strebende empirische Forschung sollte betrieben werden und den Aufgaben der Wis-

1 Köhnke (1986), S. 31-35. 2 A. a. O., S. 57. 3 A. a. O. Der Terminus ,Weltanschauung` findet sich schon in Hegels PHDG, 424 ff. Hegel spricht von

,der moralischen Weltanschauung', die ein Vorstellen sei statt eines Begreifens. Vgl. Gadamer (1975), S. 93. Vgl. § 1o.5.

4 Zuweilen verwendet man noch immer ,Weltanschauung` mit neutraler Bedeutung von ,systematischem Gesamtbild'.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 421

senschaft gerecht werden. Auf der Subjektseite fordert diese gleichermaßen empirische Forschung wie eine freie dialektische Betätigung des Denkens. In diesem Sinne wollte Steiner nichts weniger als eine romantische ,Weltanschauung`. Der Terminus ,Welt-Anschauung' ist bei ihm vielmehr noch Ausdruck einer phänomenologischen Rück-bindung des Idealismus (,Welt` als Idee) an die methodische ,Anschauung`, die Empirie. Es sollte etwas Strengeres sein als nur positivistische Wissenschaft, die an naive Fakten glaubte und ihre Grundbegriffe nicht aufklärte. Etwas Strengeres auch als die abstrak-tere Systembildung, die sich keine Rechenschaft gab von der notwendigen Gebunden-heit der Begriffe an die Erfahrung. Ob wir jetzt ein solches ganzheitliches, empirisch-idealistisches Wissenschaftskonzept an sich für ein ,romantisches` Ideal der Wissen-schaft halten im Vergleich zur Praxis neuerer wissenschaftlicher Techniken (pragma-tischer Instrumentalismus), ist natürlich etwas ganz anderes. ,Weltanschauungsphilo-sophie' im engeren historischen Sinn war Steiners Philosophie jedenfalls nicht.

§ 12.4.3. Entwicklung des Neukantianismus

Wir meinen dagegen den Nachweis geliefert zu haben, dass Steiner, obzwar er sich einer älteren Terminologie bedient, eine selbständige philosophische Leistung zugestanden werden kann, die als eine Antizipation der Erneuerung des objektiven Idealismus im Zeitalter des Neukantianismus gedeutet werden muss. Dieser Idealismus versucht, nicht hinter den Realismus zurückzufallen durch eine rein-spekulative Methode (die aner-kannte methodische Forderung Brentanos und der ,wissenschaftlichen Philosophie`) . Der Platoniker Heinrich von Stein hatte richtig erkannt, dass Steiners Philosophie vielleicht „nicht immer so neu" war, aber doch eine zu billigende Grundtendenz zur Überwindung des einseitigen damaligen Subjektivismus hatte. Der objektive Idealis-mus knüpfte an die ständige Tradition der klassischen Philosophie, den Platonismus (wegen der Objektivität des Ideellen) und den Aristotelismus (wegen seiner empiri-schen Methode) an (vgl. § 2.14.4). Adickes behauptete in einer Rezension (1894) zu Wahrheit und Wissenschaft, Steiners Philosophie qualifiziere sich als Anlehnung an den ,alten, abgelebten vorkantischen Rationalismus' (Rudolf Steiner Studien, Bd. y, S. 228).

Wir meinen zu Unrecht. Eine historische Billigung geht u. E. nämlich aus dem Entwicklungsgang des Neu-

kantianismus selber hervor, denn der Platonismus sollte zu dieser Zeit in der Tat neu rezipiert und gewürdigt werden.5 Als Cohens Kants Theorie der Erfahrung 1885 durchgesehen und bearbeitet neu erschien, bemerkte F. Staudinger, dass Cohen den

5 Köhnke (1986) meint, das neue Interesse für die praktische Philosophie um 1879 bedeutete auch eine Wende zu Platon (S. 408-409), dessen Philosophie Lange noch als Dichtung abstempelte, sein Nachfolger Cohen dagegen in einem kritischen Nachtrag wiederherstellte als „die Grundkraft der Geschichte der Wissenschaften und allgemeinen Kultur" (vgl. Langes Geschichte des Materialismus und

Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Erstes Buch, 9. Aufl. Leipzig 1914, S. 6o, Nachtrag S. 19. Siehe ferner H. Holzey, Ursprung und Einheit. Die Geschichte der Marburger Schule als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens, Basel/Stuttgart 1986, S. 14-15,146-15o).

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Subjektivismus Kants fallen gelassen habe und „gerade in dieser Gedankenrichtung, die wesentlichen Grundgedanken Kants abschneidend und bewußt umbildend zu Plato hinführt"6. Die Marburger Schule bekannte sich öffentlich zu Platon. Nicht nur durch eine neukantische Deutung Platons (so in Natorps Platons Ideenlehre, 1903), sondern ebenso sehr durch eine platonische Interpretation Kants. Cohen erklärt: „Auf dem Platonismus beruht aller Wert und aller geschichtliche Fortschritt der Philosophie."7 Natorp gesteht: „Wir verknüpfen Plato mit Kant, wie auch Hegel es getan."8 Die Badensche Schule hatte ihre Orientierung an Platon von Windelbands Lehrer Lotze mitbekommen (die Transzendenz der Platonischen Ideen ist ihr ,Gelten`). Die ,Wert-philosophie, das Gelten des Wahren, wurde zum Platonischen Vorrang des Sollens vor dem Sein. Dies bedeute das Gute, das über die Ideen hinausrage (Politeia 509 b).9 Hus-serls Überwindung des Psychologismus (Lu) wurde von den Neukantianern begrüßt als Bestätigung ihrer eigenen Überlegenheit gegenüber dem Empirismus. Der Standpunkt der LU wurde damals gleichfalls als ein ,Platonismus` verstanden wegen der Eigenstän-digkeit der Ideation.10 Die Hauptwerke dieses zum objektiveren Idealismus neigenden Neukantianismus datieren fast alle von nach der Jahrhundertwende." Steiners Ent-wicklung fand in den 8oer und 9oer Jahren statt. Er bekannte sich rückhaltlos zum Objektivismus, als dieser noch in Entwicklung begriffen war.

Unterschiedlich waren freilich die spezifischen Systembedingungen des Marburger und Badener Neukantianismus: hier die Wertorientierung am Idealismus und dort das ,fieri` der Wissenschaften (Natorp) als unendliche Aufgabe (,Idee` im Sinne Kants).

6 In: Philosophische Monatshefte, Bd. XXII, 1886, S. 408. Zwischen beiden Auflagen zeugt von der Beschäf-tigung Cohens mit Platon seine Schrift Platons Ideenlehre und die Mathematik, Marburg 1878. In der Literaturliste von GA 3 wird die erste Auflage von Cohens Kants Theorie der Erfahrung von 1871 erwähnt.

7 Ethik des reinen Willens, 3. Aufl. Berlin 1921, S. 517. 8 Kant und die Marburger Schule, in: Kantstudien, Bd. 17, H. 3, S. 211. In einer Besprechung von Cohens

Logik der reinen Erkenntnis nennt Natorp Platon die gemeinsame Quelle seines und Cohens Idealismus'; vgl. H. Holzey, Cohen und Natorp, 2. Bd., Basel/Stuttgart 1986, S. 11. Die Wiederherstellung des Platonismus ist nach Natorp das eigenständige Verdienst Cohens (a. a. O., S. 12).

9 Vgl. dazu u. a. Windelbands Monografie Platon, 6. Aufl. Stuttgart 1920. 10 Von z. B. Natorp in Zur Frage der logischen Methode. Mit Beziehung auf E. Husserls Logische Unter-

suchungen, in Kantstudien, Bd. 6, H. 2/3, 1901, S. 270-283 und Husserls ,Ideen zu einer reinen Phä-nomenologie`, in: Logos, Bd. 7, 1917/1918, S. 23o. Die ,Eide` als Sonderheiten kongruierten nicht mit dem dynamischen Konstruktivismus der Marburger. Der Husserl'sche ,Platonismus` behauptet jedoch nicht die metaphysischen Existenz der Ideen, sondern nur ihre ,seinslose (irreale) Phänomenalität (vgl. K.H. Volkmann-Schluck, Husserls Lehre von der Idealität der Bedeutung als metaphysisches Problem, in: Husserl et la Pensée Moderne, ed. H.L. von Breda und D. Taminiaux, Den Haag 1959, S. 230-241).

11 Cohens System der Philosophie ab 1902, Natorps Die logischen Grundlagen von 1910. Rickerts Der Gegenstand der Erkenntnis wurde erst 1903 aus der kleineren Habilitationsschrift zu dessen Hauptwerk umgearbeitet. Lasks Logik der Philosophie ist von 1911, Windelbands Prinzipien der Logik von 1913 (die kleineren Präludien erschienen vor 1900). Fast die Ausnahme ist Natorps Aufsatz von 1887 (vgl. Kap. vIII, Anm. 62), den Steiner wahrscheinlich nicht kannte (nicht in der Literaturliste von GA 3; keine Werke Natorps in GA 18 erwähnt; im Nachlass nur dessen Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, 1912). Vgl. zu diesem Aufsatz W. Marx, Die philosophische Entwicklung Paul Natorps im Hinblick auf das System Hermann Cohens, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1964, S. 486-50o, v. a. 488-490.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 423

Steiner hatte nicht die neukantische Reserve gegenüber der Ontologisierung des Ide-ellen. Wurde ,Idee bei den Marburgern zur entsubstantivierten ,Hypothesis` und in der Badenschen Schule zum reinen ,Gelten', sprach Steiner dagegen von der von der Erscheinungswelt untrennbaren Existenz der Idee, dem Seinsgrund aller Dinge. Das Subjekt, das bei Steiner zunächst die Wirklichkeit des Ideellen verbürgt, war bei den Neukantianern auch weniger phänomenal robust. In Natorps Allgemeiner Psycholo-

gie nach kritischer Methode (1912) ist das Subjektive das ebenso fließende Spiegelbild

(„die einfache logische Umkehrung” )12 der unendlichen Idee, nämlich das fortwährend durch nähere Objektivierung überwundene Erlebte. Bei Cohen waren das Subjekt und das Selbstbewusstsein sogar selber Hypothesis und Aufgabe, am prägnantesten geklärt durch die Rechtsfiktion der juristischen Person13 (daher die Rede von dem Marburger ,Idealismus ohne Subjekt`) . In der Badenschen Schule stand es um das Subjekt als das individualitätsfreie ,Bewusstsein überhaupt` (Rickert), das nur ,formale Voraussetzung`

sein sollte,14 nicht viel besser. Erst Husserls LU ging im Einzelnen auf die subjektiven

Leistungen ein. Wir haben in § 3.3.11 nachgewiesen, dass Steiners Argumente zur Überwindung des

physiologischen Subjektivismus im Neukantianismus ihre Parallele haben in Rickerts Analyse vom dreifachen Verhältnis von Subjekt und Objekt. Die Analysen von Rickert und Steiner zeigen zwar einen verschiedenen systematischen Ansatz, stimmen aber au fond überein. Vom Gesetzlichen her schritt auch Natorp hier über den Subjektivismus hinweg (vgl. § 8.2.2, Anm. 62) .

,Objektiver` Idealismus heißt bei Steiner ,empirische oder ,gegenständliche Idee`. Dies ist, wie wir gesehen haben, von Steiner nicht als solches thematisiert in seiner Version der ,Induktion`. Die Kluft zwischen Ideellem und Sinnlichkeit, die bei Kant noch die apriorischen Anschauungsformen und den ,Schematismus der reinen Ver-standesbegriffe forderte, wurde im Neukantianismus geschlichtet. Es gab kein Drittes mehr zwischen Erkenntnisform (Kategorie) und Erkenntnismaterie. Weder in Marburg noch in Heidelberg und Freiburg. Die Gegenständlichkeit des Ideellen war theoretisch nicht länger problematisch, zumal man das Objekt durch theoretischen Gehalt (mit-) konstituiert sah (nach Lask die Quintessenz von Kants Kopernikanischer Wende).15

Damit war im Prinzip der Weg frei für eine Rezeption von Goethes Naturauffassung. Wir haben gesehen, dass Steiners idealistische Goethe-Interpretation sich erst in den ersten Dezennien bestätigte (u. a. bei Cassirer in Freiheit und Form, aber auch bei Sim-

12 So lautet Natorps spätere Selbstkritik in seiner Selbstdarstellung in Die Deutsche Philosophie der

Gegenwart in Selbstdarstellungen, herausg. von R. Schmidt, Leipzig 1921, S. 157. 13 Cohen (1921), S. 230-238. So wird konsequenterweise die metaphysische Frage der Freiheit als Urhe-

berschaft zu beantworten ,Buridans Esel' überlassen (a. a. O., S. 323). 14 Rickert (1915), S. 46-52. Auch C. Krijnen belässt es in Fehlt die konkrete Subjektivität im Neukantia-

nismus? Zur systematischen Bedeutung von Rickerts ,Zwei Wege der Erkenntnistheorie`, in: Zeitschrift für

philosophische Forschung, Bd. 55 (2001), S. 409-428 bei dem Hinweis, dass das Subjekt heterothetisch

nicht prinzipiell fehle. 15 Lask (1911), S. 26-29.

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mel [1916], Leisegang,16 F. Weinhandl' 7 und M. Wundt) .18 In der Biologie entwickelte sich die ,idealistische Morphologie (§ 4.1.4) . Die Nähe Goethes zur Phänomenologie wurde dabei anerkannt: Goethes ,gegenständliches Denken', das die Kluft zwischen Begriff und Anschauung überwinde und eine innige Durchdringung von Denken und Anschauen bewirke, „gehe der heutigen Phänomenologie voran"19. Bei Lask sehen wir sogar die eigentümliche Tatsache, dass er über das Grundverhältnis von Form (Kategorie) und Erkenntnisstoff (das unmittelbar anschaulich, ,a-logisch` Erlebte) fast nur in Goethe'scher Terminologie sprechen konnte: Es ist ,das logische Urphänomen` des Gehens, des Theoretischen,20 das vom Materiellen einen ,Einschlag vom Trüben' (Bedeutungsgehalt) erhält.21 Aus Form und Materie setzt sich der ,Typus`, das , Urbild des Sinnes' zusammen.22 Auf diese Position Lasks soll übrigens auch Husserls Phäno-menologie (der Lu) „von entscheidendem Einfluß gewesen" sein.23 Man kam, nicht anders als Steiner, über die Tatsache oder das theoretische Prinzip, wonach Erkennen heißt, dass ein Begriff eine Erfahrung, etwas Anschauliches bestimme und ihm zugleich entspreche, einfach nicht hinaus. Bei Husserl wurde es schließlich methodisch geklärt und zum ,Prinzip aller Prinzipien' erhoben: Die ,originär gebende Anschauung' gilt Husserl als die letzte Rechtsquelle der Erkenntnis (Ideen §§19, 24 und 138), wobei die Gegenseite des konstituierenden Charakters der Form, eben die ,rechtsausweisende Begründung' der jeweiligen Begriffe durch die Anschauung (,Wesensanschauung`), zum Erkennen gefordert wird.

§ 12.4.4. Antizipierte Synthese von ,Dialektik` und ,Phänomenologie`

Die dialektische Begriffsbildung bei Steiner, die die Phänomenologie ergänzen sollte, ist ein Element, das allmählich, nach der völligen Abwendung von Hegel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitere Anerkennung finden sollte. Hielten während der „Hegel-Renaissance" im Neukantianismus (Levy)24 Cohen, Rickert, Lask und auch Natorp noch beachtlichen Abstand zu Hegels Dialektik,25 so zeigten ihre Schüler

16 Goethes Denken, Leipzig 1932. 17 Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932. 18 Goethe und die Philosophie, Berlin 1932; vgl. Kindermann (1966), S. 204. 19 Kindermann (1966), S. 204. 20 Lask (1911), S. 57, 65 und 69. 21 A. a. O., S. 59. 22 A. a. O., S. 33. 23 A. a. O., S. 36, Anm. 1. 24 Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianis-

mus, Berlin 1927. „Während manche vor etwa einem Menschenalter in Kant den einzig möglichen Führer erblickten, sehen diesen heute manche allein in Hegel", schrieb Bruno Bauch 1929 in seiner Selbstdarstellung (Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, herausg. von R. Schmidt, Leipzig 1929, S. 36). Vgl. auch S. Marck, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, Tübingen 1923-1931.

25 Vgl. zu Cohen: W. Marx, Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fun-dierung wissenschaftlicher Geltung. Überlegungen zur Theorie des Begriffs bei Hegel und Cohen, in: Hegel-Studien, Beiheft n, Bonn 1974, S. 515-535 und Natorp: vom Verf., Natorp und die Hegelsche Dia-

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 425

und die neue Generation weniger Berührungsängste: J. Ebbingshaus, H. Ehrenberg,26

Bruno Bauch (Die Idee, 1926), Arthur Liebert (Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich?, 1919), Nicolai Hartmann (der Logosaufsatz Systematische Methode, 1912, sowie Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1921) und vor allem Jonas Cohn ( Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie, 1923) und Richard Kroner ( Von Kant bis Hegel, 1924), in deren Philosophie die strenge Heterothesis von Form und Inhalt (Rickert) zugunsten eines dialektischen Verhältnisses preisgegeben wurde, das im Selbstbewusstsein (wie bei Steiner) zur erfahrenen Wirklichkeit wurde.27

In einem Wettbewerb mit Hegels WDL um das kategoriale Grundgerüst alles wissen-schaftlichen Denkens trat schon Natorp an mit einer nahezu dialektischen Kategori-ensystematik (Philosophische Systematik, 1924). Natorp, der ausgegangen war von dem ,fieri` der Wissenschaft, konnte nicht anders, als die dynamische Begriffsbildung in pro-zessualen Begriffen zu fassen: Indifferenz — Differenz — Koinzidenz oder in den Schrit-ten: Anfang — Fortgang — Schluss. Man suchte sich die dialektische Methode aufs Neue kritisch zu eigen machen unter Bewahrung des phänomenologischen Moments.28 Kro-

lektik, in: Hegel-Studien, Bd. 23, Bonn 1988, S. 265-271. Zu Rickerts nicht-dialektischen Heteriologie: R.A. Bast, Rickerts Philosophiebegriff, in: Einleitung zu H. Rickert, Philosophische Aufsätze, herausg. von R.A. Bast, Tübingen 1999, S. xv. Lask (1911), S. 62: „Unser Prinzip der ,intelligiblen Materie', der Bedeutungsbestimmtheit, steht dem Hegelschen dialektischen Prinzip unversöhnlich gegenüber." Im Nachwort zur 2. Aufl. von Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbe-griffs (Tübingen 1924) sagt Rickert, dass seine ,heterologische Ansicht vom Erkennen' die Einseitigkeit des nur denken wollenden Logizismus (Hegel und die Marburger) wie der nur schauen wollenden Phänomenologie (Brentano und Husserl) überwinden wolle. In erster Linie ist die Arbeit aber gegen Hegel gerichtet: „Während ich meine Abhandlung niederschrieb, habe ich täglich mehrere Stunden in Hegels Logik gelesen. Er scheint mir der interessanteste Gegner zu sein" (ebd., S. 87). Affinität und selbstbewusste Distanz markieren die Sätze: „Vielleicht freilich ist die Heterothesis auch das, was Hegel mit Antithesis und mehr als bloß ,formaler` Negation eigentlich meinte. Doch hat Hegel sich dann selber nicht ganz verstanden, denn das heterothetische Prinzip ist der Todfeind [...] jeder auf den Widerspruch gestützten Dialektik" (ebd., S. 21).

26 Levy (1927), S. 59, Anm. 2. 27 Ebd., S. 8o-9o. 28 Sogar beim späten Natorp wird der anschauliche Grund des Erkennens wieder in sein Recht eingesetzt:

„In aller begrifflichen Bestimmung des Angeschauten verbleibt der Anschauung stets ein nicht erschöp-fend bestimmbarer, doch weiter Bestimmung offener Rest" (Philosophische Systematik, Hamburg 1958, S. 10). Aus dieser Anschauung tritt der Gegenstand x heraus (,ek-sistiert`), ein Sich-aussprechen und Präsentieren: ,das wortende Wort' (a. a. O., S. 22-24). Bemerkenswert ist die Annäherung an Goethe, der das Gesetz von seiner Starrheit befreit hatte, indem es individuelles Gesetz wurde, lebend und sich entwickelnd: „geprägte Form, die lebend sich entwickelt" (Goethe). Natorp: ,,,Urphänomen` (= Typus = Idee)" (a. a. O., S. 109, 119, 124-125, 194, 198-201, 228 und 318). Vgl. Levy (1927), S. 43. Namentlich Theodor Litt hat nach Levy (1927) als einer der Ersten gesehen, daß die phänomenologische Analyse zur Dialektik hindrängt (ebd., S. 21-22). Es lebte die Überzeugung, dass Hegel in seiner PHDG nichts anderes als ,die Wesensschau' geübt hatte: „Wenn es daher möglich gewesen wäre, jenes Hegelsche Ver-fahren in eine Methode von der strengen Wissenschaftlichkeit zu verwandeln, wie sie Husserl forderte, so würden wir dies als eine Fortsetzung der Hegelschen Philosophie zu betrachten haben. Denn die Phänomenologie kann auch die wesensmäßigen Gegensätze ,sehen` lernen" (ebd., S. 21).

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426 KAPITEL XII

ner legte Hegels Logik als eine Art von Phänomenologie des Denkens aus.29 N. Hart-mann deutete Hegels Dialektik gleichfalls als phänomenologisches Verfahren.30 Es gab inzwischen auch Versuche, im Kurzschluss die Dialektik in Goethes Phänomenologie aufgehen zu lassen (wie von H. Glockner).3' Fundamentaler sind die Überlegungen Husserls zur ,ersten Philosophie (Ideen § 63), dass seine Phänomenologie sich selber miterforsche und deswegen in dieser Rückbeziehung auf sich selbst „durch und durch Phänomenologie" sei (§ 65) . Das Verhältnis von deskriptiver Phänomenologie und reflexiver Philosophie musste aus der Sache heraus zu dialektischen Begriffsbildungen Anlass geben,32 weil es eben die dialektische Struktur des Bewusstsein selber explizierte33

(wie es sich zeigte in Husserls Verhältnis zu Pfänder und der Schwierigkeit, das dritte Buch der Ideen niederzuschreiben, das der ,Idee der Philosophie, der ,Idee absoluter Erkenntnis' gewidmet sein sollte).34

Heideggers Exposé der phänomenologischen Methode am Anfang von Sein und Zeit (§ 7) betont, dass in der Idee der ,originären` und ,intuitiven` Erfassung und Explika-tion der Phänomene gerade das Gegenteil liege aller Naivität eines bloß unmittelbaren und unbedachten Anschauens. Als bloße ,Erscheinung` gibt das ,vulgär verstandene Phänomen` sein Wesen nicht preis. Der phänomenologische Begriff ,Phänomen` meint jedoch „das Sich-an-ihm-selbst-zeigende" oder ,das, was zum Sichzeigen gebracht wer-den kann'. Das eigentliche Phänomen ist also zunächst verborgen und ,verdeckt` und braucht die Phänomenologie zu seiner ,Ent-deckung`. Zwar steht ,hinter` den Phäno-menen nichts anderes (dies als Anspielung auf Goethes Diktum aus seinen Maximen

29 Hegels System sei „sich denkende Intuition, sich reflektierende Anschauung", Von Kant bis Hegel, Tübingen 1924, 2. Bd., S. 343. Vgl. J. Wahls, La logique de Hegel comme phénoménologie (1965) und dazu Lakebrink (1968), S. 51-52, Anm. 6.

3o Hegel, Berlin 1929, S. 155 ff. Vgl. Lakebrink (1968), S. 457-459, Anm. 3. 31 „Ich weise keine Widersprüche auf [... ], sondern versuche die dialektische Methode Hegels in der

gegenständlichen Methode Goethes schlicht aufzuheben"; zit. nach B. Lakebrink (1968), S. 54• 32 Vgl. Gadamer (1975), S. 234 und Seebohm (1991), S. 177-180. Bei Steiner sollte sich das Husserl'sche

Grundparadox von einer bewusstseinsimmanenten und doch selbständigen Welt so lösen, dass der Gegensatz von ,Psychismus-Phänomenalismus` mit Hilfe der Einheit von ,Idealismus` und ,Realismus` überbrückt wird. Bewusstsein ist ,ideelle Beziehung' zum objektiven Inhalt (schließt ihn nicht in sich ein), aber deswegen nicht ,irreal`, sondern reales Element innerhalb der ideellen Hälfte der Realität (vgl. § 9.4)

33 Vgl. S. Strasser, Intuition und Dialektik in der Philosophie Edmund Husserls, in: Edmund Husserl, 185 9—

195 9 , Den Haag 1959, 5.148-153. Für die immanente Dialektik in Husserls Idee der Philosophie siehe vor allem Schuhmanns Die Fundamentalbetrachtung der Phänomenologie, Den Haag 1971, v. a. das vi. Kapitel über das Grundverhältnis von Bewusstsein und Welt: Welt ist nur als Bewusstseinsgegenstand; „Sie ist das Bewußtsein selber — sofern es nicht Bewußtsein ist" (S. 138). Das Bewusstsein ist daher ,ursprüngliche Nachträglichkeit` (S. 124 ff.). Vgl. auch sein Husserls Idee der Philosophie, in: Husserl Studies, Jg. 5,1988, S. 235-256 und Schuhmann (2004), S. 61-78, wo er die Idee der Philosophie Husserls zuletzt als einen Sondertypus des Grundmusters von Hegels Phänomenologie als Bewusstseinswissenschaft qualifiziert (ebd., S. 75).

34 K. Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie r. Husserl über Pfänder, Den Haag 1973, v. a. S. 192-195 und Die Dialektik der Phänonomenologie H. Reine Phänomenologie und phänomenologische Philosophie. Historisch-analytische Monographie über Husserls ,Ideen 1`, Den Haag 1973, v. a. S. 134-139 und 186-189.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 427

und Reflexionen: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre"), es bedarf wegen ihrer ,Verdeckung` der Deutung und Auslegung, und das heißt bei Heidegger: der Existentialanalyse. Die phänomenologische ,Wesensschau 3̀5

soll noch im Verstehen als Entwerfen gegründet sein. Ob nun in der Tat die apophan-tische Aussage von der sorgenden Umsicht abgeleitet ist (wie Heidegger in § 32 von Sein und Zeit behauptet)36 oder diese von jener, das Aufzeigen des Phänomens bedarf immerhin des Urteils oder des hermeneutischen ,Als` (d. h. „des Phänomens des ,etwas als etwas`").37 Diese deutende Vermittlung soll zuletzt auch bei Heidegger ,dialektisch` sein: „Alle entscheidenden Sätze aller Philosophie sind ,dialektisch`; wir verstehen diesen Ausdruck in dem ganz weiten, aber wesentlichen Sinne, daß etwas, und zwar Wesent-liches, immer nur im Durchgang durch anderes wahrhaft begriffen werden kann."38 Wegen der Struktur der Erfahrung spricht Heidegger der Phänomenologie überhaupt eine ihr zugrundeliegende Dialektik zu. Die Dialektik Hegels sei das Wesen der Erfah-rung, die Bewegung des vergleichenden Vernehmens und Bestimmens, des Gesprächs zwischen natürlichem und realem Wissen und daher immerfort eine „Umkehrung des Bewußtseins" (Hegel).39 Mit Heidegger behauptet auch Gadamers Hermeneutik, dass Hegels dialektische Beschreibung der Erfahrung „die Sache trifft"40 und alle Auslegung (Hermeneutik) spekulativ-dialektischer Natur ist.41

Die Dialektik wurde also allmählich nicht nur in der neukantischen Bewegung, sondern auch in der ihr gegenüberstehenden phänomenologischen Philosophie mani-fest. Steiner nimmt die Dialektik, wenn auch mit Goethe doch ein wenig behutsam, unmittelbar von Hegel auf und verhält sich positiv zu dessen Naturphilosophie, was der Neukantianismus und die phänomenologische Bewegung sich allerdings nicht getrau-ten. Die moderne Naturwissenschaft sollte diese als haltlose Spekulation eingeholt haben. Steiners Eintritt für Goethe ist zugleich Verteidigung des Prinzips der Natur-philosophie Hegels, „die verlassen wurde von der Naturforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — allerdings unverstanden, aber sie mußte unverstanden bleiben, weil man gegenüber der wirklichen Naturbeobachtung, gegenüber der Phänomeno-logie der Natur kein Verhältnis gewinnen konnte zu dem, was an Gedankeninhalt die Hegelsche Naturphilosophie bot" (GA 322\126). Wie wir nachgewiesen haben, sind die

35 Sein und Zeit § 31, S. 147. 36 Das Phänomen des ,Geltens' soll gar kein ,Urphänomen` sein, wie Lask sagte, sondern schon ein

abgeleitetes und verworrenes (a. a. O., S. 155-156). 37 A. a. O., § 33, v. a. S. 158-159. 38 M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) (Sommersemester 1936), Gesamt-

ausgabe, Bd. 42, Frankfurt a. M. 1988, S. 140. 39 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 168-174. 40 Gadamer (1975), S. 336-337. 41 So meint auch Gadamer (1975): „Eines und dasselbe und doch ein anderes zu sein, dieses Paradox, das

von jedem Überlieferungsinhalt gilt, erweist alle Auslegung als in Wahrheit spekulativ" (S. 448). Im gleichem Sinne fordert auch der Husserl-Schüler S. Strasser in Fenomenologie en empirische Menskunde. Bijdrage tot een nieuw ideaal van wetenschappelijkheid, 1962, 3. Aufl. Deventer 1973, eine ,dialektische Phänomenologie'.

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428 KAPITEL XII

dialektische Lesung der Farbenlehre und die Morphologie Goethes integraler Bestand-teil von Steiners Phänomenologie der Natur.

Goethes ,Urphänomen` — Idee und Anschauung zugleich — erlangte am Anfang des 20. Jahrhunderts einen fast exemplarischen Wert. In einer Kontroverse über Hus-serls ,Wesensschau` reklamierten sowohl Cassirer als Scheler Goethes Urphänomen als Musterbeispiel des anschaulichen Wesens (so Scheler) oder der symbolischen Ideation (so Cassirer).42 Heidegger führte das Urphänomen an zum Verständnis des bleibenden Ergebnisses des deutschen Idealismus: „Die intellektuelle Anschauung im Sinne des deutschen Idealismus und der von ihm ausgebildeteten Dialektik schließen sich nicht aus, sondern fordern sich gegenseitig"43, denn „mit der Indifferenz, Nichtunterschie-denheit der intellektuellen Anschauung meint Schelling jenes Erfassen, wo das Denken anschauend und das Anschauen denkend ist [ ... ] , vgl. Goethes ,Urphänomen"`.44

Die phänomenologische Anschauung und dialektische Begriffsentwicklung werden hier ebenfalls als zwei zusammengehörige Gegenpole aufgefasst. Graf Yorck von War-tenburgs Deutung des Bewusstseins als Leistung der evolutionären Selbstbehauptung verband noch Hegels dialektische Phänomenologie des Selbstbewusstseins mit Hus-serls konstitutiven Phänomenologie.45 Heideggers Analyse der Entwurfstruktur des Verstehens (vgl. Graf York: Bewusstsein als Projektion) nimmt dagegen dem dialek-tischen Moment die Eigenständigkeit der Idee (vgl. die Kritik an ,Platons Idee der Wahrheit', Sein als ,Vorstellbarkeit`). Die Endlichkeit des verstehenden Daseins (des ,Subjekts`) macht ihr den Rang streitig, und Heidegger knüpft an Kants ,Metaphysik der Endlichkeit' (,Kritik der sinnlichen Vernunft') an. Hier scheiden sich die Wege. Die Existenzphilosophie und die Hermeneutik behielten zum Teil noch eine dialektische Phänomenologie bei,46 aber gleichfalls in umgewandelter Gestalt durch die deutliche Absage an den objektiven Idealismus. Die Parallelie zu Steiners idealistischer Phäno-menologie bricht hier deswegen ab.47

42 C. Möckel, Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine Kontroverse zwischen Edmund Husserl und Ernst Cassirer, in: Phänomenologische Forschung, 2001, S. 233-257.

43 Heidegger (1988), 5.14o. 44 A. a. O., S. 77. Beispiel eines ,Urphänomens` ist für Heidegger 1927 die Sprache: „Die Sprache spricht.

[ ... ] Die Sprache ist ein Urphänomen, dessen Eigenes sich nicht durch Tatsachen beweisen, das sich nur erblicken läßt in einer unvoreingenommenen Spracherfahrung" (Phänomenologie und Theologie, in: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 72). Vgl. auch Heideggers Eintreten für Jaspers' vielfach sich auf Goethe beziehende Psychologie der Weltanschauungen (Kap. x, Anm. 56).

45 Gadamer (1975), 5.237-240 und auch Lakebrink (1968), S. 458, Anm. 46 Vgl. noch bei Gadamer (1975): über die Dialektik der Erfahrung (S. 336-339), die Dialektik (Umkehrung)

von Frage und Antwort in der Auslegung (S. 351-360) sowie die Dialektik der endlichen diskursiv-sprachlichen Darstellung und der Unendlichkeit ihres Sinnes (S. 439-449). Der Existentialismus Sartres hat u. a. einen Steiners Denken recht nahe kommenden dialektischen Begriff der Freiheit. Vgl. Kap. ix.

47 Nachdem durch Heideggers ,Andenken` an das ,Seyn` Hegel beinahe ein zweites Mal verloren gegangen wäre, ist gerade durch die Dominanz der analytischen Philosophie ein neues Interesse an Hegel entstande. Begriffe wie theoretischer ,Holismus` und ,Monismus` sollen nicht länger zu konfusen Spekulationen führen, sondern als erkannte Voraussetzung für jede Theoriebildung dienen. Vgl.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 429

Mit dem ,dialektischen Materialismus`, um jene andere wichtige Strömung in der deutschen Philosophie einzubeziehen, teilt Steiners Philosophie von vornherein nur die äußere Form. Sprach Steiner doch über Das Ewige in der Hegelschen Logik und ihr Gegenbild im Marxismus.48 Lediglich die Methodenfrage dieses Neomarxismus wird uns hier noch interessieren. In der ,kritischen Theorie der Frankfurter Schule konnte man sich nicht ganz dem Einfluss der phänomenologischen Bewegung entziehen. Her-bert Marcuse hatte ja bei Heidegger studiert. Mit der Grundkategorie des Lebens als Selbstbehauptung im historisch-dialektischen Lebensprozess setzte er seine Synthese von Phänomenologie und dialektischer Geschichtlichkeit an49 oder eine „dialektische Phänomenologie". Hier wurde mit Hegels Phänomenologie der Gebietsverlust zuguns-ten des ökonomischen Materialismus (Unterbau-Überbau-Determinismus) rückgän-gig gemacht. Marcuse hob auch wieder die kritische Funktion des Allgemeinen, das Potenzhafte im ,Wesen` hervor,50 welches das Kernstück seiner kritischen Theorie wer-den sollte in Reason and Revolution: Hegel and the Rise of Social Theory (1941): Die Ver-nunft ist allgemein und kritisch-dialektisch. Eine ,passive Phänomenologie' bedeutet dagegen die Paralysierung der Vernunft.51 Zuweilen gab es noch weitergehende Berüh-rungspunkte mit dem dialektischen Goetheanismus, etwa Walter Benjamins Verwen-dung von Goethes Begriff des ,Urphänomens` im geschichtlichen Bereich (namentlich im Passagen-Werk)52 und auch bei Horkheimer und Adorno, die sich weigerten, die Erfahrung der Gewalt des Identitätsdenkens auszuliefern.53 Adorno behauptete einen

T. Rockmore, Analytic Philosophy and the Hegelian Turn, in: The Review of Metaphysics, 55. Jg., 2001,

S. 339-37o. 48 Steiners ,soziale Dreigliederung` war explizite als eine Alternative zum Marxismus gedacht (vgl.

Die Kernpunkte der sozialen Frage; GA 23 und Marxismus und Dreigliederung, in: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921, Dornach 1961, S. 31-35). Steiner hatte den Marxismus über Liebknechts Arbeiterbildungsschule näher kennen gelernt: vgl. GA Beiträge Nr. 111, Rudolf Steiner als Lehrer an der Arbeiterbildungsschule in Berlin und Spandau 1899-1904.

49 Zuerst in Beiträge zu einer Phänomenologie des historischen Materialismus, in: Philosophische Hefte 1, 1. Bd., Berlin 1928, S. 45-68 und in Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1932. Verwandt (mit der Dialektik von Herr und Knecht) damit war zu der Zeit auch die erfolgreiche Interpretation Kojèves, für den die Dialektik Hegels eigentlich überhaupt nur eine Phänomenologie dialektischer Erscheinungen war: Introduction à la lecture de Hegel (1934). In der Folge finden wir bei Sartre einen dialektisch-phänomenologischen Existentialismus, der den dialektischen Marxismus aus sich abzuleiten dachte (Critique de la raison dialectique, Paris 196o).

5o Vgl. Zum Begriff des Wesens, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 5. Jg., 1. Bd., S. 1-39. 51 Ebd. Vgl. dazu M. Schoolman, The Imaginary Witness. The Critical Theory of Herbert Marcuse, New

York 1984, v. a. S. 62-76. 52 Vermittelt durch G. Simmel. Vgl. S. Buck-Morss, The Dialectics of Seeing. Walter Benjamin and

the Arcades Project, 5. Aufl. Cambridge, Mass. 1995, S. 71-77. Kommentierte Montagen sollten eine Konstruktion aus den unmittelbaren Tatsachen erlauben: das ,Faktische selber Theorie'.

53 Vgl. Kap. 1v, Anm. m1. Jedoch wich man der Naturphilosophie aus. Die objektive Dialektik der Natur nach dem Muster von Engels war fast nur in der Sowjetunion populär (,Diamat'). Die gesellschaftliche Vermittlung stand dagegen in Westeuropa im Vordergrund des Interesses. Vgl. auch in Frankreich H. Lefebvres Le matérialisme dialectique (Paris 1940), das den dialektischen Materialismus die ,objektive Dialektik` hinter sich lässt, und sich ganz auf den gesellschaftlichen Prozess konzentriert. Der Adorno-Schüler Schmidt hatte dagegen wieder einiges Interesse an Goethe. Vgl. Kap. 1v, Anm. 79.

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untrennbaren Zusammenhang zwischen Erfahrung (,Phänomenologie im weiteren Sinne) und Dialektik, indem er in einer immanenten Kritik die aufhebende negative Dialektik von Husserls Phänomenologie aufwies54 und andererseits Hegels Dialektik zurückführte auf seinen (phänomenologischen) ,Erfahrungsgehalt`.55 Auch hier brach jedoch der Vergleich mit dem idealistischen Ansatz Goethes und Steiners wieder ab, denn Adorno bekannte sich radikal zu einer materialistischen, rein negativen Dialektik, in der das ideelle Ganze nur ,das Unwahre' sein kann.56

Dieser Überblick möge für unseren Zweck genügen. Jeder hatte um die vorige Jahr-hundertwende seine eigene Variante gemeinsamer Themen und methodischer Akzente. Doch ist die allgemeine Grundtendenz überwiegend ein Durchstoß von einem an Kant orientierten Kategoriensystem ins dynamisch-dialektische Denken, das seine Nähe zur Erfahrung (dies das Ergebnis des wissenschaftlichen ,Positivismus`) nicht mehr preisge-ben wollte. Vielfach wurde nach der Jahrhundertschwelle diese Synthese von Dialektik und Phänomenologie angestrebt. Hegels Phänomenologie des Geistes war ja Vorbild einer solchen Synthese. Die Erfahrung sollte sich selber vertiefen und in dialektischer Entwicklung ihren Sinn freilegen. Nur sollte diese jetzt nicht mehr eine spekulative Bewegung sein.57 Auch diese synthetisierende Entwicklung nimmt Steiner auf seine Weise voraus. Er geht aus vom strengen (phänomenologischen) Prinzip der Erfahrung, will das Denken als dialektisches Prinzip noch phänomenologisch haben und betrachtet im kritisch-kantischen Geist die Begriffsform als subjektive Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, deren Realisierung jedoch das Abstreifen dieser Form im dialektisch gegliederten Ganzen bedeutet. Das unmittelbare Phänomen erweist sich zuletzt als von diesem ideellen Ganzen vermittelt. Das Ich hat in dieser konkreten Totalität nicht mehr

54 Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien (Entwurf aus den Jahren 1934-1937, zum Teil veröff. 1938, dann neu zusammengestellt 1956), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5., Frankfurt a. M. 1970, v. a. S. 175: „Das Denken des Dinges, in dem Denken sich vergessen hat, wird zu dessen Gegebenheit" und S. 176: „Der Ausdruck Selbstgegebenheit ist eine contradictio in adjecto und diese die Pointe von Husserls These." Dies war übrigens die übliche Kritik der Neukantianer (Volkelt, Natorp und Rickert) an Husserls Phänomenologie.

55 Drei Studien zu Hegel, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5., Frankfurt a. M. 1970, S. 247-380. Hegel, „der mit Goethe weit mehr gemein hat, als die Oberflächedifferenz der Lehre vom Urphänomen und der vom sich selbst bewegten Absoluten ahnen läßt" (S. 305), sollte mit dem Begriff die Erfahrung der Nichtidentität, der Differenz von Begriff und Sache, gemacht haben (S. 310), die schließlich aber „die Erfahrung der antagonistischen Gesellschaft" sei (S. 313, 318-319).

56 Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6., Frankfurt a. M. 1973: „Dialektik", so Adorno, „ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität" (S. 17), d. h. die anti-idealistische Anerkennung der Differenz von Begriff und Sache. Die Invarianz des Begriffs wird durch die Erfahrung widerlegt (S.156-157). „Index für den Vorrang des Objekts [über das Subjekt] ist die Ohnmacht des Geistes in all seinen Urteilen wie bis heute in der Einrichtung der Realität" (S. 187). Und weil der Begriff nach dem Bild des Subjekts geformt ist, wird rückwirkend das autonome Subjekt sowohl ,erster und letzter Mythos' (S. 186-187). Adornos Kritik ist mithin ein Erkennen des Nicht-erkennen-könnens.

57 Levy (1927) zieht den Schluss, der Problemgehalt der Philosophie selber dränge von verschiedenen Seiten nach dieser Synthese der Hegel-Renaissance: Man habe den Absolutismus in Hegels Dialektik methodisch durch den Kantischen Geist der Forschung zu überwinden, damit man dem phänomeno-logischen Tatbestand besser als Hegel gerecht werde (S. 93).

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 431

seine Freiheit zu retten durch eine kantische dualistisch-aprioristische Strategie, son-dern ist in dieser einen sinnlich-übersinnlichen Welt mit freien Intuitionen heimisch. Steiners Philosophie ist allerdings nur aphoristischer Entwurf im Vergleich zum akade-mischen Systembau der Neukantianer und zu der Fülle phänomenologischer Darstel-lungen aus der phänomenologischen Bewegung. Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, bedurfte sie dazu den philosophischen Interpretation, weil sie das dialektische Moment herunterspielte: eine Konzession an den herrschenden Antihegelianismus, die mit dazu beigetragen hat, dass sie in der philosophischen Diskussion keinen Nachhall oder eine Wirkung hatte, auch nicht unter den bald günstigeren Verhältnissen, denen nament-lich von Heideggers Philosophie der Endlichkeit und dem Neomarxismus wieder ein Ende gesetzt wurde. Bald behinderte auch das Gewand der Theosophie oder Anthro-posophie das philosophische Interesse an Steiner. Der Würdigung Heinrich von Steins, Steiner habe dem Subjektivismus im Neukantianismus eine sachgemäße, objektivere Anschauungsweise entgegengesetzt, wäre indessen auch jetzt noch beizupflichten, nur schon weil sie den Tendenzen der damaligen akademischen Philosophie entsprach. Die methodischen Instrumente der ,Phänomenologie und ,Dialektik` und ihr Zusam-menhang sind Elemente, die bald nicht nur auf der Bühne der Philosophiegeschichte auftreten, sondern dort auch von entscheidender Bedeutung sein sollten.

§12.4.5. Problematik der Grundthesen

Die weiteren Entwicklungen ab den 2oer Jahren (wie etwa Heideggers Dekonstruktion der Metaphysik, Adornos ,negative Dialektik` und der Positivismus des Wiener Kreises) sagten sich vom Idealismus los.58 Logik und Mathematik schritten fort zur weiteren symbolischen Form, Axiomatisierung und Formalisierung. Physik und Biochemie entfernten sich bald vom Goetheanismus, der in der Morphologie (Naef, Meyer, Hansen, Troll) in Deutschland aufgelebt hatte. Gegenwärtig zeigt sich jedoch ein neues Interesse an Goethes wissenschaftlichem Werk,59 und die Naturphilosophie Hegels wird

nicht länger nur ablehnend behandelt.60 Ein wiedererwachtes (vorsichtiges) Interesse an Hegel aus analytischer Sicht ist allerdings grundsätzlich anderer Art als das Interesse

58 Noch mehr außerhalb der deutschsprachlichen Philosophie: sowohl der britische Empirismus (Moore und Russell) als auch der amerikanische Pragmatismus (Peirce und James), wehrten sich explizit gegen den Hegel'schen Idealismus.

59 Nach dem Titel Goethe and the Sciences: A Reappraisal, 1987 herausg. von Amrine, Zucker und Wheeler. Vgl. ferner § 1.1.2, Anm. 1o, 11 und 14. Bortoft (1996) betont die Zeitgemäßheit der Erkenntnispraxis Goethes. Bortoft ist als Quantenphysiker (unter Bohr) auf Goethe gestoßen. Von Seiten der Ästhetik siehe Lichtenstern (199o) § 4.1.4, Anm. 68. Eine Übersicht bietet Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Das Buch zur gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Bern zum 250. Gebuhrtsjahr Goethes, herausg. von P. Heusser, Bern / Stuttgart / Wien 2000.

6o Man versucht vorsichtig, diese Naturphilosophie sogar zu aktualisieren. Vgl. D. Wandschneider, Hegels

naturontologischer Entwurf heute, in: Hegel-Studien, 36. Bd., Hamburg 2001, S. 147-169. Diese neue Aneignung läuft über Themen wie die Relativität der Bewegung (S. 154-155), Organisation und sys-

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des Neukantianismus vor etwa hundert Jahren.6' Jenes gilt nicht sosehr der Theorie der Dialektik als solcher als vielmehr Hegels ,Holismus`, in dem der Gedanke sich wieder breit macht (wie im Neukantianismus), dass es im Erkennen keinen ,Dualismus von Schema und Welt' (Davidson), d. h. kein ,Außerhalb des Begriffes' (McDowell) gebe.62 Dies war aber im Grunde auch der Sinn von Steiners ,erkenntnistheoretischem Monismus`. Nur die ungetrennte, einheitliche ,denkende Beobachtung' entscheidet, ob die Erfahrung Ideen entspricht. Über die Wahrheit von allgemeineren Ideen entscheidet aber nicht die vereinzelte Beobachtung, sondern, in der Form einer wissenschaftlichen Phänomenologie, eine Prüfung an der Erfahrung im Sinne einer vollständigen ideell-durchorganisierten Empirie.

Die phänomenologische Strömung in der Philosophie hat ein ständiges Gegenge-wicht geboten zu den Tendenzen der analytischen Philosophie, das Akte vollziehende Bewusstsein wegzudekretieren.63 Gegenbewegungen zur resultierenden ,neurophiloso-phy` stellen der ,consiousness boom' und die ,neurophenomenology` (Varely) dar. Um nicht jeden Inhalt zu verlieren, musste der Kognitivismus neben dem ,computational model' auch die ‚phenomenological data', d. h. die konkreten Erfahrungen aus der Per-spektive der ersten Person irgendwie gelten lassen. Diese erweisen sich als weitgehend wissenschaftlich objektivierbar, wie sich gerade am Beispiel Husserl zeigen lässt. So führt ein erneutes Interesse zunächst an den ,Intentionalität`,64 jetzt aber auch an Husserls Analyse des Zeitbewusstseins, der passiven Synthese, der Qualität als Raumerfüllung und Abschattungslehre von ,Ding im Raum` in Kombination mit den Ergebnissen der Neurologie und Psychologie zu einer ,Naturalisierung` von Husserls Phänomenolo-gie.65 Wenn ,naturalizing phenomenology' bedeutet, „it should be a naturalized or a naturalistic one in the minimal sense of not being committed to a dualistic kind of ontology"66, dann entspricht Steiners Philosophie auch jetzt noch dieser Forderung. In der Folge des Strebens, den Dualismus zu überwinden, wurde eine dialektisch kon-zipierte Struktur unumgänglich (u. a. §§ 9.8-9.9). Der Naturalismus sollte deswegen eine Dialektik nach sich ziehen (vgl. deren Überblick in §§10.2 und io.4). Idealistisch ist diese Lösung des Naturalismus deshalb, weil Steiner die ideellen Beziehungen, die

temtheoretische Emergenz von Systemgesetzen (S. 163). Vgl. das entsprechende Interesse an Schellings Naturphilosophie: M.L. Heuser-Kessler (Herausg.), Schelling und die Selbstorganisation, Berlin 1994.

61 Vgl. § 12.4.4, Anm. 47 über den ,Hegelian turn'. 62 Dazu § 8.3, Anm. 77 und Rosen in § 5.5.2, Anm. 105. 63 Russell argumentiert in The Analysis of Mind (1921), dass es die Akte des Bewusstseins nicht gebe. Der

,neutral stuff der Wahrnehmung sei ohne Subjekt, das sich als grammatische Fiktion herausstellte. In dieser Linie dann auch u. a. Wittgenstein, Ryle und Daniel Dennett (Consiousness Explained, London 1993, S. 1o1ff. und 126-134). Zur anderen Tradition vgl. Dusing (1997)•

64 Vgl. W.D. Smith und R. McIntyre, Husserl and Intentionality: A Study of Mind, Meaning and Language, Dordrecht 1982 und J.R. Searle, Intentionality, Cambridge 1983.

65 J. Petitot, J. Varely et al. Naturalizing Phenomenology. Issues in Contemporary Phenomenology and Cognative Science, Stanford 1999, v. a. S. 1-80. Zu diesem Thema ferner z. B.: Journal of Consiousness Studies, vol. 10 (2003), Nr. 9-10.

66 Petitot, Varely et al. (1999), S. 19.

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 433

nachweisbar sind, etwa zwischen sinnlichen Empfindungen, Leibesverrichtungen und Geistigem, Denken und Ideen, nicht materialisieren oder reifizieren will. Wenn die Idee als dynamische Grundlage der Erscheinungen anerkannt wird, sollte man auf weitere ,Realprinzipien` verzichten (§ 9.6). Dies ist freilich in der Regel nicht mehr die von der ,neurophenomenology` gemeinte ,Naturalisierung`. Diese birgt dafür aber die Gefahr in sich, einer ,naturalized epistemology' zu verfallen.67 Die Wahrheit ist ja selber eine normative Idee, die wir nicht gegen irgendeinen biologischen oder pychologischen Mechanismus eintauschen können, oder wenn, dann nur um den Preis, zugeben zu müssen, dass wir das ,Erkennen an sich' nicht erkennen, ja eigentlich nie etwas Wahres verstanden haben. Dass die Sache zugunsten des Naturalismus schon entschieden wäre, kann mit Recht bezweifelt werden.

Wie Rickert schon betonte, ist eine Erkenntnistheorie nie ganz voraussetzungslos, denn sie setzt mindestens eine primitive Notion der ,Wahrheit` voraus, die Prätention des ,Geltens` eines Seinsurteils (vgl. § 8.2.3). Man fragt besser, ob sie ihre Voraussetzung aufzuhellen und an der Erfahrung nachzuweisen weiß, ob Methode und Resultat einan-der entsprechen und ob die Theorie insofern konsistent ist. Kants Philosophie war dies nicht, denn Kant erlaubte keine Anwendung von Kategorien außerhalb der Erfahrung (der inneren und leiblichen Sinne), womit dann auch die transzendentale Analyse und Deduktion unmöglich wurden (laut Lask).68 Auch Steiners nächstes Vorbild, Volkelt, unterstellte eine dritte Art der Erkenntnis, neben der unmittelbaren Erfahrung und dem transsubjektiv gerichteten Denken, nämlich die unmittelbare Analyse der Erfahrung und des Denkens, die keines von beiden sein sollte, die es aber nach seiner Einteilung aller Erkenntnis in diese zwei Grundelemente auch nicht eigenständig geben könne (laut Rickert).69 Steiner bezieht nicht eine Position außerhalb des Erkennens, sondern befragt und betrachtet dieses reflexiv: Daher ist seine Methode die ,Selbstbeobachtung` (§ 8.2.1).7° Nach dem damals geläufigen Verständnis der Erkenntnistheorie war diese

67 Vgl. auch § 8.2.3, Anm. 66 über Putnam. 68 Lask (1911), S. 9o: Die Kategorien können nicht nur auf das Sinnliche beschränkt sein, wenn es eine

Erkenntnistheorie geben soll. Es gilt „den Kantianismus auf sich selbst noch einmal anzuwenden." Unter ,Kantianismus` versteht Lask hier die ,Kopernikanische Wende, dass Gegenständlichkeit nichts anders sei als Gültigkeit (S. 28). „Theoretischer Gehalt und nichts anderes steckt nun einmal in Realität"

( S. 29). 69 Vgl. § 8.3., Anm. 74. 7o Majorek (2002) folgt die Strategie, nachdem er einen gründlichen Überblick über die moderne Dis-

kussion des Objektivitätsproblems präsentiert hat, die (naturalistischen) Aporien der Objektivität dadurch zu lösen, indem er auf die von Steiner beschriebenen anthroposophischen Erkenntnismetho-den verweist. Deren starke ontologische Annahmen seien um der Möglichkeit objektiver Erkenntnis willen zu akzeptieren, da eine Alternative nicht vorhanden sei (S. 491). Wir meinen aber, dass Steiner offensichtlich die Begründung der Objektivität der Erkenntnis durchaus im philosophischen Bereich für möglich hielt. Der springende Punkt ist wohl dieser, dass Majorek meint, dass ,die Widersprüche der Denkerfahrung' auf der Stufe der Philosophie bestehen blieben (S. 381), und wir deshalb ohne die höheren übersinnlichen Erkenntnisarten nicht auskommen. Unsere Untersuchung hat zu zeigen versucht, dass der Einsatz von Steiners Philosophie eben das Verständnis für die Widersprüchlich-keit des Erkennens ist und man seine Philosophie ohne ihre Dialektik gar nicht verstehen kann. Die

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434 KAPITEL XII

immerhin nur Reflexion über die Begriffsbildung in den verschiedenen Wissenschaften (so bei Cohen und Natorp in der Nachfolge Kants, nicht anders als in der Badenschen Schule). Wir meinen, Steiners Methode und Resultat sind in ihrem Zusammenhang zumindest konsistent (§ 8.7) . Steiner leitet den Begriff der Erkenntnis in seiner Analyse von einzelnem, recht übersichtlichem Wissen und von Goethes Ideen ab. Er konstruiert damit den allgemeinsten Begriff des Erkennens. Steiners empirischer Nachweis bezieht sich auf eine jetzt veraltete Wissenschaft (u. a. Newtons Mechanik, Goethes Farben-lehre und dessen Morphologie). Steiners Analyse ist jedoch als eine Explikation des in diesen Erkenntnisbereichen vorausgesetzten Wahrheitsbegriffs aufzufassen und gilt vielmehr ihrer Idealgestalt. Eine Wertung von Steiners Art des Idealismus teilt zuletzt das Schicksal der allgemeinen Würdigung des Ideellen in der Wissenschaft. Nach einem Jahrhundert den errungenen Triumphe der mathematischen Physik wird man den Idea-lismus kaum für überholt halten können. Im Gegenteil, die platonische Ansicht hat eher an Überzeugungskraft gewonnen. Wir können empirisch feststellen, wie genau die physikalische Welt mathematischen Prinzipien gehorcht.71 Nach extremen nomi-nalistischen Ansichten der pragmatischen Philosophie und der Postmoderne mag der Idealismus in neuen Varianten sich wieder behaupten und seine Geschichte uns aufs neue interessieren. Eine Herausforderung wird bleiben zu verstehen, wie wir die Idee subjektiv hervorbringen und zugleich mit ihr die Natur und unsere Entwicklung bis zum Hervorbringen der Idee objektiv begreifen.72

Steiners Art des Idealismus hat mit dem Marburger Neukantianismus gemein, dass die Idee als ‚Hypothesis' die Grundlage des Wissens bildet, und mit der Badenschen Schule, dass die Wahrheit oder das ,Gelten` einer Idee, jedoch eine dem Subjekt tran-szendente Wahrheitsnorm mit sich führt. Es bringt Steiner zur entlegeneren These, das Subjekt sei nicht so sehr, wie dies in beiden Strömungen des Neukantianismus der Fall war, für die Synthese von Erkenntnisform und Erkenntnismaterie (die unmittelbare Erfahrung) verantwortlich zu halten (diese Synthese zeige in der Erfahrung die Wirk-lichkeit selber, wenn wir uns zu den entsprechenden Ideen hinaufgearbeitet hätten und

Erfahrung des Wissens als angeschautes und gestaltetes Phänomen ist selber Lösung und Antwort der Fragestellung der Subjektivität des Erkennens, die vorher aus ganz bestimmten Phänomenen erwächst (vgl. GA 4\59 ff. und §§ 3.3.8 und 3.3.9). Steiner über seine PHDF: „Was in dem Buche gesagt ist, kann auch für manchen Menschen annehmbar sein, der aus irgend welchen ihm geltenden Gründen mit meinem geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen nichts zu tun haben will" (GA 4\9), obwohl die philosophische Betrachtung „zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt" (ebd.).

71 Vgl. z. B. Roger Penroses The Road to Reality. A Complete Guide to the Laws of the Universe (London 2004), in dem er, nach eine tour d'horizon der mathematischen Physik, bemerkt, dass je tiefer wir in die Materie eindringten, umso subtiler werde ihre Mathematik. Wir kämen da nicht mehr aus ohne komplexe Zahlen und algebraische Symmetrien, wo vorher nur theoretische Konstruktionen gewesen seien (ebd., S. 1010-1045).

72 Penroses Analyse führt zuletzt zur Vexierfrage der drei mysteriös zusammenhängenden ,Welten` des ,Platonisch-Mathematischen`, ,Physischen` und ,Mentalen` (wie schon bei Karl Popper), auf die er aber eine physikalische (mathematische?) Antwort erwartet (ebd., S. 12-23 und 1027-1033).

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SCHLUSSFOLGERUNGEN 435

uns den gesammelten Erfahrungen aussetzten), sondern vielmehr für ihre Trennung und Unterscheidung. Steiners Beitrag zur Philosophie ist diese völlige Umkehrung des Subjektivismus des 19. Jahrhunderts. Fast nur bei Husserl war die phänomenale Existenz des geistig-tätigen reinen Ich um die vorige Jahrhundertwende überhaupt glei-chermaßen ausgesprochen.73 Husserls ursprüngliche ,platonisierende Ansicht der LU mündete in einen transzendental-subjektiven konstitutiven Idealismus. Natorps Spät-philosophie meinte über den Objektivismus der LU dadurch hinausgelangt zu sein, dass sie die Subjekt-Objekt-Beziehung nicht nur als fundamentale ,Korrelation`, son-dern explizit mit Hegel als eine ,über-objektiv-subjektive Idee` verstand.74 Das Subjekt lässt durch sein Setzen und Bestimmen das Objektive erscheinen, steht aber mit sei-ner freien Beweglichkeit „unmittelbar im Unmittelbaren, Totalen, Allbezüglichen"75.

Nach Steiners Analyse ist die subjektive Tätigkeit, insofern sie in das Erkennen eingeht, letztendlich gleichfalls nicht nur jene monadische Konstitutionsarbeit, sondern Ver-mittlung der Idee, aber deshalb auch noch Aufhebung der subjektiven Grundbedingung des Erkennens (Trennung von Idee und Erscheinung), die nicht an der Setzung selber, sondern an der Erfahrung ihren Halt findet. Steiners Methode ist deshalb eine Phäno-menologie, in der eine immanent-dialektische Ideengestaltung das Gesamtphänomen erschließen soll. Bewusstsein ist freie Rekonstruktion des Tatsächlichen und als solche Selbstrealisation des Ich. Steiners Philosophie ist damit der radikale Versuch, Objek-tivität als Freiheit nachzuweisen und die Freiheit in der Objektivität, in der Wahrheit der Idee, zu gründen.

73 Diese phänomenale Tatsache bezeugt auch Husserl in der 2. Auflage der Lu (1913), S. 361, Anm. und Ideen § 8o: Das reine Ich ist reine Tätigkeit ohne jede explikablen Inhalt und hat sein „Feld der Freiheit"

( S. 160)

74 Philosophische Systematik, S. 297-30o. 75 A. a. O., S. 391-395. Was hier ,Bestimmen` heißt, ist auch für Steiner durch den subjektiven Akt der

Abstraktion bedingt. Den Inhalt kann man dem Subjekt, so Steiner, zuletzt nicht zuschreiben.

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Literaturverzeichnis

Die Werke Steiners werden im Text unter Angabe der Bandnummer der Rudolf Steiner Gesamt-ausgabe (GA) sowie der entsprechenden Seitenzahlen zitiert. GA 1 bis 36 umfassen (nahezu) chronologisch alle Bücher und Aufsätze Steiners; GA 37 bis 45 Briefe, Entwürfe usw. Die Bände 51 bis 354 enthalten die Vorträge. Für andere Abkürzungen siehe das Siglenverzeichnis.

Die Unterteilung der übrigen Werke dieser Bibliografie in primäre und sekundäre Quellen ist namentlich bei Arbeiten zu Goethe und solchen aus dem Umfeld von Steiners Philosophie ziemlich arbiträr und wird daher nicht verwendet.

Werke Steiners

Rudolf Steiner Gesamtausgabe, herausg. von der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach/ Schweiz, unter der Leitung von Marie Steiner-von Sivers et al., 1925 ff., insbesondere:

GA 1 Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (ursprünglich erschienen als Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Deutsche National-Literatur, herausg. von Rudolf Steiner, 4 Bde., 1833-1897), neu herausg. von P.G. Bellmann, 3. Aufl. 1973.

GA 2 Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller, 1886, 2. Aufl. 1924, um eine Vorrede und Schlußbemerkungen erweitert, 7. Aufl. 1979.

GA 3 Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer ,Philosophie der Freiheit', 1892, 4. Aufl. 1958.

GA 4 Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode, 1893 (Titelblatt 1984), 2.

Aufl., ergänzt und erweitert 1918, 14. Aufl. 1978.

GA 4a Dokumente zur ,Philosophie der Freiheit'. Faksimile der Erstausgabe 1894 mit den hand- schriftlichen Eintragungen für die Neuausgabe 1918, sowie Manuskriptblätter, Rezensio-nen, Eduard von Hartmanns Randbemerkungen und weitere Materialien, herausg. von D.M. Hoffmann unter Mitarbeit von W. Kugler, 1994.

GA 5 Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895, erweitert um drei Aufsätze über Friedrich Nietzsche aus dem Jahre 1900 und um ein Kapitel aus Mein Lebensgang, 3. Aufl. 1963.

GA 6 Goethes Weltanschauung, 1897, B. Aufl. 199o.

GA 7 Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, 1901, 5. Aufl. 1960.

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438 LITERATURVERZEICHNIS

GA 8 Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, 1902, B. Aufl. 1976.

GA 18 Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914, B. Aufl. 1968.

GA 20 Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten, 1916, 5. Aufl. 1984.

GA 21 Von Seelenrätseln, 1917, 4. Aufl. herausg. von C. Wispler 1976.

GA 23 Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, 1919, 6. Aufl. 1967.

GA 24 Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage, 1915-1921, herausg. von R. Friedenthal 1961.

GA 25 Kosmologie, Religion und Philosophie (Autoreferat zu Vorträgen, Dornach, 6. bis 15. September 1922; GA 215), 1922, 3. Aufl. herausg. von E. Froböse 1979.

GA 28 Mein Lebensgang, 1923-1925, B. Aufl. 1982.

GA 30 Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde. 1884-1901, 3. Aufl. 1989.

GA 35 Anthroposophie und Philosophie 1905-1923, 2. Aufl. herausg. von W. Kugler 1908.

GA 36 Briefe, Bd. I: 1881-1890, 3. Aufl. 1985.

GA 45 Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910, 3. Aufl. herausg. von H. Knobel und J. Waeger 1980.

GA 52 Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theosophie, Vorträge, Berlin 1903, in: Spi- rituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung, herausg. von E. Gabert, H.R. Niederhäuser und J. Waeger 1987.

GA 53 Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft, Vorträge, Berlin 1904-1905, 2. Aufl. herausg. von H.R. Niederhäuser 1981.

GA 73 Anthroposophie und Naturwissenschaft, Vortrag, Zürich 1917, in: Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie, 2. Aufl. herausg. von E. Weidmann 1987.

Die Philosophie des Thomas von Aquino, Vorträge, Dornach 1920, mit Anm. versehen und neu herausg. 1958.

GA 76 Sprachwissenschaft, Vortrag, Dornach, 7. April 1921, in: Die befruchtende Wirkung der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften, Vorträge, Dornach 1921, 2. Aufl. 1977.

GA 78 Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte, Vorträge, Stuttgart 1921, 3. Aufl. herausg. von E. Weidmann 1987.

GA 108 Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie, Vorträge 1908-1909, 2. Aufl. herausg. von A.-M. Balastèr und U. Trapp 1986.

GA 115 Anthroposophie — Psychosophie — Pneumatosophie, Vorträge, Berlin19o9-1911, herausg. von M. Steiner 1931.

GA 74

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LITERATURVERZEICHNIS 439

GA 129 Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen, Vorträge, München 1911, herausg. von E. Froböse und W. Groddeck 1977.

GA 134 Die Welt der Sinne, die Welt des Geistes, Vorträge, Hannover 1911-1912, herausg. von H.E. Lauer 1959, 5. Aufl. 199o.

GA 137 Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie, Vorträge, Oslo 1912, 5. Aufl. herausg. von J. Waeger 1993.

GA 151 Der menschliche und der kosmische Gedanke, Berlin 1914, 5. Aufl. herausg. von R. Frie-denthal und C. Wispler 1980.

GA 162 Das Reich der Sprache, Vortrag, Dornach, 17. Juli 1915, in: Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft,

GA 176 Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialis-mus, Berlin 1917, 2. Aufl. 1982.

GA 202 Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia, Vorträge 192o, 4. Aufl. herausg. von R. Frie-denthal, J. Waeger und E. Weidmann 1993.

GA 291 Das Wesen der Farbe, Vorträge, Dornach 1921, 4. Aufl. 1991.

GA 293 Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Vorträge, Stuttgart 1919, B. Aufl. herausg. von H.R. Niederhäuser, 4. Aufl. 1980.

GA 299 Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen. Eine Anregung für Erzieher, Vorträge, Stuttgart, 26. Dezember 1919 bis 3. Januar 192o, 4. Aufl. 1981.

GA 320 Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwicklung der Physik. Erster naturwissenschaftli-cher Kurs: Licht, Farbe, Ton — Masse, Elektrizität, Magnetismus, Vorträge, Stuttgart 1919, 3. Aufl. 1987.

GA 321 Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwicklung der Physik. Zweiter naturwissenschaft-licher Kurs: Die Wärme auf der Grenze positiver und negativer Materialität, Vorträge, Stuttgart 192o, 3. Aufl. 1982.

GA 322 Grenzen der Naturerkenntnis, Vorträge, Dornach 192o, herausg. von G.A. Balastèr und H. Huber, 5. Aufl. 1981.

GA 323 Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Drit-ter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde, Vorträge, Stuttgart 1921, 3. Aufl. 1977.

GA 324 Naturbeobachtung, Experiment, Mathematik und die Stufen der Geistesforschung, 3. Aufl. herausg. von H. Knobel, G.A. Balastèr und A. Dollfus 1991.

GA 324a Über die vierte Dimension, Mathematik und Wirklichkeit, Vorträge, Berlin 1905, herausg. von R. Ziegler und U. Trapp. 1995.

GA 326 Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwicklung, Vorträge, Dornach 1922/1923, 3. Aufl. 1977.

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440 LITERATURVERZEICHNIS

Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe (vormals Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlass-verwaltung mit Veröffentlichungen aus dem Archiv) herausg. von W. Groddeck, W. Kugler et al., Dornach 1949 ff., insbesondere:

— Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren, Autoreferat eines Vortrages Rudolf Steiners in Paris am 4. Juni 1906, Heft Nr. 11,1963.

— Rudolf Steiner und der deutsche Idealismus, Heft Nr. 3o, 1970. — Rudolf Steiner und der Atomismus, Aufsätze von 1882 und 1890, Heft Nr. 63, 1978, darin: Einzig

mögliche Kritik der atomistischen Begriffe,1882, und Die Atomistik und ihre Widerlegung, 1890. — Heft Nr. 85/86 (über GA 4), 1984. — R. Steiner, Glaubensbekenntnis des empirischen Idealismus, 1892, Heft Nr. 87, 1985. — Heft Nr. 91 (über GA 2), 1986.

— „ Wissen ist Macht — Macht ist Wissen". Rudolf Steiner als Lehrer an der Arbeiterbildungsschule in Berlin und Spandau 1899-1904, Heft Nr. 111, 1993.

Register zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, erstellt von Emil Mötteli, herausg. von der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, 3 Bde., 2., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Dornach 1998.

Sonderausgaben

Das Ewige in der Hegelschen Logik und ihr Gegenbild im Marxismus, Dornach 1958.

Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, Berlin 1893 (Titelblatt 1894).

Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Theosophie, in: Atti del iv Congresso Intern. di Filosofia, Bologna McMxI, Vol. III, Reprint Liechtenstein 1968, S. 224 ff.

Goethe-Studien und Goetheanistische Denkmethoden. Der Goetheanumgedanke inmitten der Kul-turkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze (Ein Goethe-Jahrbuch, herausg. mit einem Vorwort von Marie Steiner-von Sivers), Dornach 1932, darin:

— Eine vielleicht zeitgemäße persönliche Erinnerung (zuvor erschienen in Goetheanum, Juni 1923), S. 85-97.

— „Die Lehre Jesu" von Franz Brentano, S. 109-114. — Der Philosoph als Rätselschmied, S. 115-120. — Philosophenhände, S. 120-123. — Grund-Ideen zum Verständnis des Goetheschen Innenlebens, S. 28-35. — Goethe im Lichte Benedetto Croce's, S. 187-197. — Goethe und die Mathematik, S. 198-201.

Kommentar zur Farbenlehre Goethes, in: Kürschners Ausgabe, herausg. von Ott und Proskauer, Stuttgart 1980.

Texte zur Relativitätstheorie, herausg. von W. Viersen, Dornach 1982.

Rudolf Steiner Studien, Veröffentlichungen des Archivs der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Dornach 1988 ff., darin:

— Bd. v, Rudolf Steiners Dissertation: „Die Grundfrage der Erkenntnistheorie", herausg. von D.M. Hoffmann, W. Kugler und U. Trapp 1991.

— Bd. vI, Rudolf Steiner und das Nietzsche-Archiv, herausg. und eingeleitet von D.M. Hoffmann 1993.

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LITERATURVERZEICHNIS 441

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Personenregister

Adams, G., 2112, 2171124, 223n52, 225, 2251158, 2251161, 226, 2261165, 2261168, 227, 2281174, 2281175, 2291176, 2291178

Adorno, Th.,125n100,126n100, 397, 429, 429n53, 430, 4301156, 431

Albert, H., 19811104 Amrine, F., 157n186, 170n225, 431ri59 Anaxagoras, 49, 386 Anaximander, 48 Anaximenes, 48 Anselm, 50 Arbor, A., llln39 Aristoteles, 5, 45, 45n56, 49, 59-61, 69n2, 112,

112n49, 143, 143n147, 143m48, 143n149, 144, 144ri151, 144n152, 145, 145n156, 145n157, 14611160, 146n161, 147n164, 167n217, 171, 174, 177n17, 179, 182, 192n9o, 197, 268n62, 314, 330, 366, 366n6, 378n29, 3801135, 386, 389, 405

Augustinus, 45, 49, 501161 Ayer, A., 6, 6n17, 2961177, 297n8o, 2971181

Bacon, E, 45, 46, 50, 6o, 177n19, 220n4o Basfeld, M., 881159, 230ri79 Bast, R.A., 4251125 Baumann, J., 56,145n159,187n77, 2811111 Bergson, H., 57, 385, 386, 393112 Berkeley, G., 6, 7, 23n16, 9on70, 911170,

156n186, 2181131, 224, 298, 298n84, 3o1n1oo, 365115

Bernacarref, P., 1831145, i83n47 Bindel, E., 217n24, 217n26 Blasius, J., 13211118, 133n118 Blavatsky, H.P., 56 Bloch, E., 63, 63n82, 64, 64n87, 641189,

64n91 Blümel, E., 215, 216, 2161120, 2161123, 217,

217n24, 2211144, 221n46, 224, 225, 225n61, 2261168, 227

Bolzano, B., 175, 175116, 186n71, 212 Boos, R., 144ri154 Borgman Hansen, O., 64n92 Bortoft, H., 5m4, 147m64, 431ri59 Bos, H.J.M., 217n29, 218n31 Boucke, E.A., 103, 112 Boutroux, E., 57, 175n5, 385 Brady, R., 169n222 Brentano, E, 16, 17, 26, 58, 59, 59n66, 6o,

6on67, 6on69, 61, 65, 69, 69n2, 70, 70n2, 88, 88n59, 89, 95n81, 167n214, 170, 171, 230, 280, 280n5, 2831125, 297n81, 322, 327n12, 3281113, 330, 330n18, 330n19, 330n2o, 33on23, 33on24, 331n24, 332, 339, 344n69, 346n74, 393, 396, 413, 415, 421, 425ri25

Brook, I., 146n161 Brouwer, L.E.J., 221n46, 2221146 Buck-Morss, S., 4291152 Böhme, G., 5, 5nio, 5n11, 5n12, 88n59, 96n83,

105, 105n12, 1051113, 107, 157n186, 162, 23on79

Cantor, G., 212, 220, 220n40, 221, 221n44, 221n45, 222n46, 235

Carnap, R., 6n17, 951181, 126n102, 181, 181n34, 183n49

Carrier, M., 125n100, 133n119, 145ri157, 318n141

Carus, C.G., 18, 111n36, 150 Cassirer, E., 5on61, 891168, 9on69, 98n89, 112,

113, 1131151, 113n54, 1131156, 114, 1141161, 114n62, 1141163, 131n116, 133n118, 137n131, 138n132, 175n5, 2161120, 389, 423, 428, 428n42

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458 PERSONENREGISTER

Cohen, H., 27, 175n5, 218, 218n34, 218n37,

219, 233n85, 28o, 280n5, 305n110, 314, 315, 315n132, 372, 420, 421, 421115, 422, 422116,

422118, 422n11, 423, 4231113, 424, 424ri25,

434 Cohn, J., 227n69, 425 Conradt, O., 2291178

Csikszentmihalyi, M., 3271111

Cusanus, N., 146m62, 229, 231n82

Darwin, C., 69n1,104,1o4n5, 1o6, 1o6n18,

166,168,414

Davidson, D., 145n157, 177n19, 432 Demokrit, 49, 177n17

Dennett, D., 1on28, 275n65, 289n58, 377ri27

Derrida, J., 177m8, 260n4o

Descartes, R., 2, 2n3, 45, 46, 50, 81, 93n78,

231, 3o6n111, 367n9

Dietke, C., 35n45 Dietz, K.M, 64n92, 329n16, 357n92

Dijksterhuis, E.J., 5on6i

Dilthey, W., 19, 20, 25n22, 27, 109, 1o9n26,

124n98, 321n1, 385-388, 388n55, 389,

389n56, 390, 420

Dionysius Areopagita, 259n38, 380

Drews, A., 7, 10, 34, 62, 63, 63n77 Drobisch, M.W., 170, 258n34, 322n3, 328n12,

328n13

Du Bois-Reymond, E., 81, 84, 86, 86n54, 86n55, 87, 88, 98n88, 104, 104n5, 1o4n6,

104n7,105,109, 11on35, 124n98, 384,

413 Düsing, K., 169n223, 205n122, 330n19,

399ri24

Engels, F., 64n89, 4291153

Epikur, 386

Eucken, R., 144n153, 385 Euler, L., 212, 217, 218n3o, 2201142, 2211142

Fichte, I.H., lo, 53, 385 Fichte, J.G., 1, 2, 61115, 12,16,17, 20, 21, 27-

29, 38, 52, 62, 70-72, 72n4, 72n5, 72n7,

73n11, 74, 74ri14, 74n15, 74n16, 75, 75ri17, 76, 76n2o, 76n21, 76n23, 77, 77ri24, 78, 79n34, 88, 105, 109, 118n71, 187n77,

192n9o, 198, 246, 250n16, 252, 252n27,

277n74, 279, 2861149, 288, 288n56,

288n57, 312, 313, 31311126, 314, 325, 330, 330n19, 331, 331n25, 332n34, 3511186, 356,

356n90, 357, 357n92, 365, 365n5, 366, 377, 380n35, 386, 392, 393, 397, 398, 398n2o,

399, 400, 401n28, 403, 413, 420 Fick, M., 115n68

Fink, E., 178n20

Fischer, K., 27, 87, 1o9n25, 174, 178, 179, 179n23, 179n24, 179n26, 201, 202, 206,

289, 289n6o

Flanagan, O.J., 289n58

Foucault, H., 26on4o

Frank, M., 79n34, 79n37, 8on37, 265n56,

268n61, 270n63, 289n58, 3281113, 33on19,

334n37, 344n70, 399ri25 Frege, G., 175, 181,185n58, 213, 216n21

Fritz, K. von, 177m7

Förster, E., 35, 35n46, 35n48, 13on113, 17211235

Förster-Nietzsche, E., 35

Føllesdal, D., 185n58, 186n65

Gadamer, H.G., 147n164,176n8,177n14,

363n1, 388n52, 388n55, 389n56, 395ri15, 420n3, 426n32, 427, 427n40, 427n41, 428n45, 428n46

Gardners, H., 306n111

Gleich, S. von, 134n122, 370n14, 373n2o

Glockner, H., 155n182, 426

Goethe, J.W., 1,3,4,5n14,7,10,11n31, 12,

17n2, 18-20, 20n11, 2on12, 2on13, 21,

21n14, 22-25, 25n23, 26, 261125, 29, 34,

35, 37, 38, 40-46, 48, 51-57, 61, 61n7o, 65,

69n1, 72, 73n9, 81, 82, 82n4o, 90, 91, 94-101, 103, 104, 104n2, 104n4, 104n5, 104n7,

105, io5nlo, 1o5n14, 1o6,1o6n15, 1o6n18,

1o6n19, 107, 1o7n21, 107n22, 108, 1o8n22,

1o8n23, 1o8n24, 109, 1o9n25, 1o9n26, lio,

110n33, 110n34, 110n35,111, 111n40, 112,

112n46, 112n49, 112n5o, 113, 114, 1141165,

115, 115n67, 115n68, 116-118, 118n76, 119,

119n78, 119n81, 119n82, 120, 121, 121n85,

121n86, 121n87, 121n88, 122, 123, 1231193, 123n94,124, 1241197, 124n98, 125,125n100,

128, 129, 129n109, 130, 13011111, 130n112,

130n113, 131, 13111116, 132, 132n116, 132n118,

133, 13311118, 13311119, 134, 134n12o, 136,

Page 477: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

459 PERSONENREGISTER

138, 138n133, 139n136, 145, 146,146n161,

148, 149, 149n166, 150, 15111171, 153, 154,

154n180, 154n181,155, 155n182, 155n183,

155n184,156, 156n186, 157,157n186,

157n188,158,158n188, 158n189 159, 159n191, 161, 162, 162n197, 162n200, 163,

163n201, 164, 164n2o6, 165, 165n211, 166,

166n211, 167, 167n217, 168, 169, 169n221,

169n222, 170-172, 172n235 177ri14, 190-

194, 194n94 195, 199, 19911107, 199n108,

201, 209, 210, 210n1, 211, 212, 219, 2221150,

224, 225, 227, 230, 232, 240, 245, 246,

246n2, 247, 247n5 247n7 247n8, 248, 249, 249n13, 250, 2501115, 255, 256n31,

257n33 260, 265, 269, 272-274, 276, 287,

302, 314, 322, 36o, 361, 367n9, 369, 375,

384, 386, 389n56 391, 392, 394, 396, 397,

399, 400, 400n27, 402-405, 413-415, 418-

420, 423, 424, 424n16, 424n17, 424n18,

425n28, 426, 426n31, 427, 428, 428n44

429, 429n53 430, 430n55, 431, 431n59

434 Grazie, M.E. della, 23, 24, 33, 1O4 Graßmann, H., 211n3, 220, 227, 235

Grimm, H., 25, 26, 413

Grün, K.J., 119n81, 154n181,158, 23o

Grünewald, L., 369n12

Gschwind, P., 156n186, 158n188, 164n2o6,

217n24, 229n78

Guthrie, W.K.C., 238n89

Gädeke, M., 111n40

Haeckel, E., 111132) 47, 48, 54,104,104n6,

104n7,105,1o6, 1o6n18,109,166,167n213,

384, 413, 414 Halblützel, R., 78n27

Hamerling, R., 23, 23n17,1o4n3,144, 323

Hammer, F., 352n87

Hansen, A.,111, 431

Hanson, N.R.,13211118,133n118,151n174

Harpf, A., 20, 103, 104n4, 109n25, 11o, 110n27,

110n30, 110n33, 110n34, 414

Hartleben, O.H., 47

Hartmann, E. von, 7, 10, 19, 24, 27, 29, 29n33

29n34, 32, 32ri36, 33, 33n37, 33n38, 34, 54,

63, 89n64, 97, 98n88, 99,100,100n90,

167, 167n218, 168, 168n218, 178, 183n43,

i88, 189, 189n82, 248, 248n9, 251, 251n19,

252, 265, 280, 280n5, 281, 281n9, 289,

290n62, 295n72, 321, 323, 329ri17) 334n40

339n47 339n49 340n51, 340n52 3401.153,

342n55, 345n72 346n73 346n75 346n77

347, 347n79 348n80, 349n82, 357) 365n5

398, 413-415) 4i8, 420, 425, 426

Hegel, G.W.F., 1, 2, 7, 1on28, 12, 17, 20, 24n20,

34, 38, 43, 44, 47) 48, 52-55, 62, 65, 7o,

79, 79n37 80, 80n37, 8on38, 81, 82n42,

84, 85, 85n52, 85n53, 86n56, 88, 93n79

95,100,loon9o,101,105,109, no, 113n51,

113n52, 113n55, 115n67, 115n69, 118n75,

122, 125, 126, 126n100, 126n101, 127, 130,

130n113 134n122, 135, 140, 140n137 141,

142n139,143, 143n145, 143m46, 145m57,

147, 149-151, 151n172, 151n173, 151n174 152,

154, 160,16on195,161,161n196,162,163,

163n205, 164n2o6, 165, 165n211, 166n211,

167, 168, 168n219, 168n22o, 169n223,

169n224, 170, 171, 17111233, 172, 172n235

174,174n1, 178, 18on33, 189, 189n84,

1911189, 192, 196, 198,199,199n108, 200,

201, 20111.113, 202-204, 20411120, 205,

205n120, 205n121, 20511122, 205n123, 206,

206n125, 207, 209, 210n1, 211, 219, 2281172,

232, 232n84, 233, 233n86, 234-237, 237n88,

238, 238n90, 238n91, 239, 239n94 240, 240n96, 241, 246, 248n9, 2501116, 26o,

263, 263n47, 263n49, 263n50, 265, 265n54

265n55, 265n56, 266n58, 267n60, 268n61,

275n67 275n68, 275n69 275n70 279, 28o, 283n25, 287, 288, 288n57 294n71

295n71 295n72 296n79 298, 298n83,

314, 314n130 318, 319ri143, 320, 323, 323n7

333, 333n36 336n44 338n46 342, 343n67

351n86, 354n89 356, 357) 357n92 357n93

358, 358n94 359, 360, 360n96, 3601197

361, 365n5, 369, 372, 372n19 373, 373n20,

374, 374n21, 375, 376, 376n23 377, 377ri27,

378, 378n29 378n30 379, 379n32 379n33

380, 3801-133, 381, 381n37 382-384, 386,

387, 388n55 389, 389n56 390-393, 396,

397, 397n17 398n18, 399, 399n25, 400,

400n27, 401, 401n28, 402-405, 408n37

413-415, 418-420, 420n3, 422, 424,

424ri24) 424ri25) 425, 425ri25, 425n28,

Page 478: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

460 PERSONENREGISTER

426, 426n29, 426n30, 4261131, 426n33,

427, 428, 428n47, 429, 429n49, 430,

430n55, 430n57, 431, 431n60, 432, 435 Hegge, H., 63n78, 64n92, 275n68, 352n88

Heidegger, M., 14711164, 162n200,193n93,

231n81, 2701163, 280115, 297n81, 300n98,

303n108, 30511110, 30611110, 30911121,

310n121, 314, 315, 315n138, 321n1, 348n80,

351n86, 374n21, 3891'156, 393, 395, 395n15,

426, 427, 4271139, 428, 428n44 428n47,

429, 431 Heinze, M., 34

Heisenberg, W., 91n71, 114n65, 2301179

Helmholtz, H. von, 69m

Henrich, D., 204n120, 330n19, 332n34

Heraklit, 48, 386

Herbart, J.F., 16, 17, 53, 65, 89, 288n58

Herder, J.G., 50, 51, 107, 1071122, 108n22,

1151167, 116, 129n109, 167,169

Hestenes, D., 229n78

Heusser, P., 111n40, 168n218, 431n59

Hobbes, Th., 298, 367

Hoffmann, D.M., 8n24, 27n28, 271129, 27n30,

29n32, 291133, 29n34, 34n42, 35n44,

351-145, 35n46 35n47, 35n48, 36n49, 36n50, 175n6

Horkheimer, M., 125n100, 126n100, 429

Hoßfeld, U., 1o6n18

Hudson, W., 641189, 64n91

Hume, D., 4n7, 6, 7, 46, 138n134,145, 145n157, 197, 288n58, 2981184, 386

Husserl, E., 4, 5, 51112, 6, 9n26, 61, 63, 63n80,

64n87, 69, 95n81, 96n83, 175, 178n2o,

185,185n56, 185n58, 185n59, 185n61, 186,

186n65, 186n71, 187, 188, 188n78, 188n8o,

189, 189n83,193n93, 213n13, 216n21, 224,

231n81, 251n21, 280115, 283n25, 289n58,

291, 295n75 295n76, 2961176, 298n84,

300n97, 3oon98, 30111100, 301n1o1, 316,

331n24 334n38, 352n87, 393-395, 407n37, 408n37, 413, 422, 4221110, 423, 424, 425n25, 4251128, 426, 4261133, 426n34,

427n41, 428, 428n42, 430, 430ri54, 432,

432n64, 435, 435n73 Hylton, P., 10n27, 227n68

Hänsel, L., 144ri153 Hübner, K., 126n102, 127, 260n40

Jacobi, EH., 386

Jantzen, J., 342n58

Jaspers, K., 63, 114n65, 321n1, 389n56, 42o,

428n44

Joseph, M., 11n33

Jäkel-Hartenstein, B., 158n189

Kallert, B., 11n31, 331n25

Kamp, P. van de, 151n174, 152n177

Kant, I., 1, 6, 12, 16, 20, 20n13, 21, 27, 28,

36, 38, 46-48, 51, 61, 63, 65, 70-72, 72n4,

74, 74n14, 74ri15, 75n18, 8o, 80n38, 83, 83n46, 85, 89, 90, 97, 100, 105, 109n25,

11on33,111n43, 112, 112n50, 113, 113n51,

117n71, 118n76, 119, 120n83, 120n84,

121n86, 122, 122n90, 122n91, 122n92,

123, 125-130, 130n113, 131, 132n117,

138n134, 142, 142n140, 142n143, 144n153,

174, 178, 178n20, 179, 180, 183n42,

183n46, 185, 185n59, 187, 189, 190,

192n9o, 193, 198, 202n118, 205, 220,

220n42, 221, 231n81, 233-235, 248,

248nmo, 26o, 262, 262n45, 263n47, 274,

279, 28o, 280n5, 281, 281nmo, 286, 287,

287n54, 288, 289, 290n63, 291n63 294,

295n72, 295n73, 299, 3oon98, 303, 303n108, 305, 305n110, 306n110, 306n111,

307-309, 309n121, 310, 310n121, 311,

311n124, 314, 314n130, 315, 315n134, 318,

319ri143, 326, 329, 330n22, 331, 339n49,

364, 365, 368, 377, 386, 389, 397ri17, 407, 413, 414, 420-422, 422n6, 422n8, 423,

424n24 425, 426n29, 428, 430, 433,

434 Kepler, J.,136n127, 151, 151n174, 152

Kiene, H., 139n136, 140n137

Kindermann, H., 18n4, 19n5, 19n6, 19n8, 20,

20n11, 25n22, 25n24, 104, 110n35,112n50,

155n182, 424n18, 424n19

Kirchhoff, G.R., 98n89, 137, 137n131, 138, 151,

154ri179, 405 Kirn, M., 151n172, 248n9

Klein, F., 212, 215n19, 216n20, 220n38, 223n53,

224, 224n55, 224n56, 225n57, 225n62,

227n69, 228, 228n73

Knauer, V., 23, 23n17, 33, 34, 36n5o, 143,

14411153

Page 479: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

PERSONENREGISTER 461

Kneale M. / Kneale W., 2161121, 216n22, 2161123, 2211146

Koch, F.,1o7n21,1o8n23 Kolisko, E. (u.a)., 3, 4, 6on67 Kovalevsky, J., 152m77 Kowol, G., 2161122, 2171124, 2171126, 2351187 Koyré, A., 501161 Kracht, Th., 322115, 3291116, 3351142, 3571192,

3571193 Kramer, E.E., 211113 Kraus, O., 6on67, 69n2, 7on3, 17111228,

3271112, 344n69 Krijnen, C., 4231114 Kronecker, L., 211112, 212

Kroner, R., 425 Krug, T., 16,141 Kuhn, D., 1o8n23, 114, 114n66 Kuhn, Th., 114n61, 131n114, 13211118, 13311118,

133n119, 260n4o, 320n146 Kullmann, W., 143m49, 167n217 Köhnke, C., 62n72, 279n2, 283n25, 3o5n11o,

314, 372n19, 420n1, 421115 Köningsberger, L., 211, 211112 Kühl, J., 158m88, 163n203,163n2o4, 166n212 Kürschner, J., 19, 26, 103,149n168,163n2o3,

199

Lakebrink, B., 398n18, 399n24, 426n29, 426n3o, 426n31, 428n45

Landau, B.E., 216n21 Lange, F.A., 54, 89, 89n64, 104n6, 14411153,

275n65, 290n62, 304n109, 315, 384, 413, 421115

Lask, E., 178n2o, 184n5o, 28on5, 295, 2951174, 3oon98, 307, 315, 315ri137, 316, 318, 318n142, 319n143, 422n11, 423, 423n15, 424, 424n2o, 425ri25, 427n36, 433, 433n68

Laudan, L.,128n1o8, 136n129, 320n146 Lauer, H.E., 63n81 Lauth, R., 2113 Leibniz, 5o, 181, 186n71, 216n21, 217, 217n29,

231n82, 367n9, 368, 368n11, 372n18, 379,

380n33, 389, 390 Leisegang, H., 63, 1121150, 424 Lessing, G.E., 5o, 73n10

Levy, H., 314ri130, 424, 425n26, 425ri27, 425n28, 430ri57

Libardi, M., 591166 Lichtenberg, G.C., 52 Lichtenstern, C., 115n68, 431ri59 Liebknecht, W., 47, 4291148 Liebmann, O., 27, 97, 99, 251, 252, 28o, 289,

290n62, 315, 413, 420 Liebmanns, O., 104n7, 248, 251n19, 265,

303n108 Lindenberg, C., 9,11n32, 24n18,

251121, 33n39, 34n42, 35n43, 351144, 36n49, 47n58, 48n59, 48n60, 56n62,

56n63, 63n76, 63n77, 104n3, 384n38

Lindner, G.A., 16,17on226 Lindner, H., 115n67, 174 Linneus, C., 131 Litt, Th., 425n28 Locher-Ernst, L., 217n24, 226 Locke, J., 6, 23n16, 5o, 6o, 88n59, 95n81, 145,

145n157, 298, 298n84, 301n100 Loeper, G. von, 25, 122

Long, A.A., 176n8 Losee, J., 136n128, 14011137 Lotze, R.H., 54, 174, 179n28, 181, 250n16, 287,

298n84, 299, 3oon98, 422 Love, A.C.,1o6n18 Lowndes, F, 322n5, 323n8 Lukrez, 367, 386

Mach, E., 4, 17, 231116, 88, 89, 89n65, 89n68, 9on69, 941181, 95n81, 96n83, 114, 137n131, 138n134, 214n16, 219, 28o, 2881158, 405,

413 Mackay, H.J., 48, 321111 Mahnke, D., 222n50, 2311182 Majorek, M.B.,11n3o, 12n33, 4331170 Mansfeld, J., 441155 Marck, S., 4241124 Marcuse, H., 429, 4291151 Marx, K., 64n89, 115n67, 420 Marx, W., 248n9, 422n11, 4241125 Mates, B., 72117 Mauthner, F., 176,176n11 May, E.,121n85 McDowells, J.,1on27, 296n77 McIntyre, R., 4321164 Michelet, C.L., 85n53, 87,110,149, 384

Page 480: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

462 PERSONENREGISTER

Mill, J.S., 54, 6o, 69, 83, 135, 174, 184, 195-197, 207, 2161121, 272, 298, 2981184,

384 Misch, G., 112

Moleschott, J., 59 Montaigne, M., 321 Möckel, C., 4281142 Müller, J. 97n86, 124n98, 15411181 Müliner, L., 23, 47, 104 Münster, A., 64n89

Nagel, E.,14on137, 2201139 Natorp, P., 63n76, 112n46, 2181134, 2211143,

2331185, 28on5, 29on62, 2921166, 2951175, 2961177, 2961178, 307, 309n120, 314, 315, 315ri134, 316, 31911143, 422, 422118, 422nmo, 4221111, 423, 4231112, 424, 424ri25, 425, 4251128, 4301154, 434, 435

Neubauer, J., 154n18o Neumann, T., 212116, 2831125 Newton, I., 72,128n108,133,133n118,133n119,

134, 134m22, 136, 139, 140, 140m37, 151, 15111174, 152, 15411181, 155m83, 156, 15611186, 159, 165, 16611211, 209, 217, 2171129, 2371188, 245, 2611142, 273, 391, 394, 414, 434

Nietzsche, E, 1, 8, 81124, 111132, 26, 271130, 34,

341142, 35, 36, 361150, 37-42, 45, 47, 48, 55, 56, 61, 65, 177ri19, 321111, 367119, 413, 415

Nozick, R., 12611102, 12711104, 128n108, 13811134, 2891158, 2921166, 3oon98

Oken, L., 2221150

Olsson, L.,1o6n18 Oswald, W., 57, 63n81, 911171, 98, 981189, 99,

120, 158n189

Palmer, O., 322114 Parmenides, 44, 441155, 451155, 451156, 49,

1911188, 203, 2611144, 2641152 Parson, Ch., 1831147, 1831149, 184n49 Pascher, M., 631176, 292n68, 31611139 Peano, G., 175, 213, 2161121 Peters, H.F., 341142 Petitot, J., 4321165, 4321166 Petry, M.J., 82n42, 16on195, 16511211, 16611211,

169n223, 169n224

Pfänder, A., 69, 189n83, 426, 426n34 Picardi, E.,185n58 Platon, 25, 42f54, 45, 451156, 49, 56, 61, 72116,

86, 104, 112, 112n46,167,174,176n8, 1771117, 1911188, 200, 203, 210111, 213, 2381189, 2591138, 314, 369, 38on35, 386, 389, 422, 422116, 422118

Plotin, 6on69, 2221150, 2311182 Poincaré, H., 57, 175115, 212, 219 Popper, K., 139ri135, 13911136, 198n104,

260n4o Pratt, V., 146n161 Proklos, 223n5o, 238, 238n9o, 3691113 Putnam, H., 126n102, 183n45, i83n47, 1941194,

2921166, 2961177, 2971181, 367118, 433n67

Quine, W.V.O.,117n70, 12611102, 14511157, 1831145, i83n49, 185n58, 2671159, 275n65, 2891158, 2921166, 30711117

Rang, B., 5, 901169, 96, 961183, 403, 428 Ratke, H., 2911163 Rawls, J., 1831147 Rehmke, J., 27, 289n6o Rescher, N., 136n129 Rey, G., 3oon98, 306n111, 30711117 Rickert, H., 99, loo, 2331185, 276n72, 28on5,

280118, 2831125, 2841132, 2871151, 2901162, 2901163, 2911165, 292, 2921166, 2921168,

294, 2941170, 295, 3oon98, 307, 309n120, 31511136, 316, 31811140, 319, 4221111, 423,

4231114, 424, 425, 425ri25, 4301154, 433

Rintelen, J.-F. von, 1121150 Rittelmeyer, F., 631181 Robinson, T.M., 2381189 Rockmore, T., 4291147 Rorty, R., 10n28, 1771119, 2891158 Rosen, S., 13711130, 144n152,14511157,183n48,

19811105, 19811106, 20611125, 2611143, 2681162, 399ri25, 432n62

Rotten, E., 112

Russell, B., 6, 6n17, 101127, 95n81, 138n134, 175, 175117, 213, 2161120, 2261168, 2271168, 275n65, 2881158, 297n8o, 4311158, 4321163

Ryle, G., 2751165, 2891158, 3°711117, 4321163 Röd, W., 397, 3981119, 3981121, 399ri25

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PERSONENREGISTER 463

Sachau, R.,1on29 Sachsen Weimar, Großherz. S.L. von, 25 Saemon, D., 51114 Sartre, J.-P., 79n37, 124n98, 202n118, 231n81,

270n63, 297n81, 321n1, 33on19, 359n95,

374n21, 393, 395, 428n46, 4291149 Schaarschmidt, C., 23 Schad, W. (u. a.), 5,1o6n19 Scheler, M., 61, 63, 69, 345n72, 3521187, 415,

428 Schelling, F. VV~~~ ., 1, 2, 10, 17, 20, 21, 25, 52,

54, 57, 62, 70, 77, 78, 781127, 78n29, 88, 91n71, 105, 109,110, 118, 118n71, 118n74, 119,119n78,119n81,119n82,128,141,160-162,167,169, 169n223, 192n9o, 198, 205, 222n50, 231n82, 246, 246n2, 246113, 246n4, 247, 247n7, 247n8, 248, 248n9, 259n38, 265n56, 268n61, 269, 270n63, 280, 288, 288n57, 298, 298n82, 314, 321n1,

328, 342, 342n58, 343, 351n86, 357, 372n19, 380n35, 385, 386, 390, 392, 393, 397-400, 400n27, 4o1n28, 402, 403, 4031131, 403n35, 404, 4o6, 407n36, 413, 414, 420, 427n38, 428, 428n43, 432n6o

Scherer, W., 25 Schiller, F., 2on13, 22, 35, 44, 46, 52, 57, 105,

105n14, 1o6n14, 109, 109n26, 120, 124, 13on113,148,149,178n21, 245, 246, 246n2,

247, 247n8, 249, 249n13, 400 Schlechta, K., 112, 146n161, 167n217 Schmidt, A.,112n50,119n78,121n89,149n167,

403ri29, 4291153 Schmidt, E.H., 23 Schmidt, W., 143n149, 197n1o2 Scholz, H., 174n2 Schoolman, M., 4291151 Schopenhauer, A., 1on28, 20, 201112, 23n17,

26, 29, 32, 33, 33n38, 37, 40, 53, 64n89, 97, 110n33, 189n81, 189n82, 384, 386, 389, 414

Schramm, H., is, 81, 84 Schroër, K.J., 19 Schuhmann, E., 63n8o Schuhmann, K.J., 5n13, 6n14, 63n8o, 313n126,

313n128, 332n34, 393n2, 426n33, 4261134 Schulthess, P., 2201142, 31511134 Schuppe, W., 287n5o Schwarzkopf, F., 11n33, 146n162

Schäfer, R., 2o5n12o, 358n94, 397n16, 399ri24, 3991126

Schöffler, H.H., 3691112 Schöne, A., 24, 73nmo Schütz, W., 3521187 Searles, J.R., 4321164 Seebohm, Th., 185n58, 186n65, 426n32 Seppers, D.L.,133n118, 162m97 Sigwart, Ch., 174, 179, 179n27, 179n28, 184,

185, 185n58, 186, 186n62, 186n64, 187n76, 189, 196, 196n97, 2521125, 3i6, 414

Simmel, G., 112, 1121150, 424, 4291152 Simony, O., 211-213, 229, 2291177 Sinnot, E.W.,1o6n19 Smith, W.D., 4321164 Snell, B., 177m7 Sokolowski, R., 393111 Sokrates, 34, 49, 203, 259n38 Spengler, O., 2741164 Spiegelberg, H., 5, 51113, 51114, 61116, 61118,

89n68, 193n93, 283n25, 3341138, 392, 393, 393ri1, 393ri2, 393113, 394, 394n11, 395, 3951112, 3951114

Spinoza, B., 20, 21, 211114, 46,134, 13411120, 13511124, 209, 323, 367n9, 386, 387

Staudinger, F., 421 Stein, H. von, 25-27, 29, 44, 277, 279, 280,

314, 318, 413, 421, 431 Stein, W.J., 3, 4, 4118, 5, 111131, 231116, 6on67,

64n92, 921174 Stephenson, R.H., 105, 15911191, 1771114 Stirner, M., 48, 53, 321111, 415 Strasser, S., 4261133, 4271141 Strauß, D.F.,104n6, 323, 323117 Strauss, R., 35 Struik, D., 2241154 Stöhr, A., 23, 231116 Sölch, R.,124n98,133n118, 154n181, 162n199,

2571133

Taylor, Ch., 3691113 Teichmann, F., 641192, 322115, 323n8, 3291116 Thilo, C.A., 16 Thomson, D'Arcy W.,1o6n19 Tilliette, X., 781127, 8on38 Trendelenburg, A., 174, 179, 179n26, 179n28,

192n90, 194n94, 2°111116, 3721119, 420

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464 PERSONENREGISTER

Troll, W., 111, illn39, iiin4o, iiln44, 114,

431 Troxler, I.P.V., io, 54, 38on35, 385

Unger, C, 64n92

Unger, G., 5n9, 140m37, 215nî7

Vaihinger, H., 57, 2511124 Varely, J., 432, 432n65, 432n66 Veiga Greuel, M. da, 61115, 11n33, 77ri25,

79n34, 8011393 187n773 329n16, 330n24, 332ri34

Verhulst, J., 115n68, 23on79 Vischer, F.Th., 18, 24, 24n2o, 81, 82, 82n4o,

82n41, 84, 85n5o, 85n53, 87, 89,101, 109n25, 399, 413

Vischer, Th., 24n2o Vogt, J.G., 17, 26 Volkelt, J., 19, 27, 62n72, 97, 142, 142n140, 179

179n28, 185, 185n53, 186n65, 248, 25on16, 251, 251n17, 251n2o, 252, 252n25, 253-256, 265, 274, 276, 28o, 280n5, 281, 281n9, 282, 283, 283n25, 284, 284n32, 285, 286, 286n49, 287, 287n5o, 288, 288n58, 289, 289n58, 2891159, 290, 29on62, 290n63, 291n63, 292, 2921166, 295, 295n72, 295n74, 296n76, 296n78, 298, 298n83, 298n84,

299, 299n85, 299n89, 2991193, 300, 300n97, 3oon98, 303, 303n108, 305, 307-

309, 314, 3i6, 318, 319, 352n87, 365n5, 400, 413, 430ri54, 433

Volkmann-Schluck, 422n10 Vorländer, K., 20, 20n13, 62, 11on34, 112n50,

120n84, 122n90, 123n93, 414

Wahle, R., 252n26, 3o4n1o9

Wandschneider, D., 16on195, 431n6o Wang, Hao, 176n11, 183n46, 183n49,

184n49 Wardlaw, C.W.,1o6n19

Wehr, G., 11n32

Weinhandl, F., 424

Wenzel, M., 104n5, 104n6,1o4n7,1o5n11,

106, 1o6n17, îo61118, 1o6n19,107, 107n2o, 114n65, 170

Westphal, J., 157m86

Whewell, W., 114n61, 136, 136n126, 136n128,

136n129, 138, 140

Wieland, W.,1o7n21

Wilenius, R., 64n92

Willmann, O., 144m53, 259n38 Windelband, W., 27, 109n25, 276n72, 28o,

289, 413, 420, 422, 422119, 4221111 Wirz, J., 168n218

Witte, B. u. a, 154n180

Wittgenstein, L., 6n17, 1on28, 156nî86,

157n186, 159m90, 162n198, 175n7, 176n11,

275n65, 289n58, 291n64, 2961177, 297n8o, 306n111, 307n117, 393112, 432n63

Witzenmann, H., 64n92, 294n69, 322n5, 323, 323n7, 323n8, 3351143

Wolzogen, C. von, 315nî34

Wundt, W., 59, 120, 174, 174113, 179, 179ri27, 179n28, 181, 181n39, 184, 185n56, 187,

187n76, 189, 189n81, 196, 196n98, 2751167,

298n84, 300n97, 3i6, 414, 424

Xenophanes, 49

York von Wartenburg, Graf P., 428

Zeno von Elea, 49, 397

Ziegler, R., 132n116, 181n35, 210n1, 212n4,

212n5, 213n14, 2151117, 2171124, 217n26,

217n27, 220n40, 2201141, 2221150, 2251160,

226n64, 226n66, 2261167, 2271170, 2291177,

229n78, 232, 232n84, 233 Zimmermann, R.C., io, 16, 17, 24, 24n2o, 34,

62, 82, 82n4o, 1o7n21, 174, 413 Zumdick, W., 11n33, 1î5n68

Page 483: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

HEINRICH BARTH IM SCHWABE VERLAG

Heinrich Barth Erkenntnis der Existenz

Grundlinien einer philosophischen Systematik 1965. 740 Seiten. Leinen ISBN 978-3-7965-0019-0

Heinrich Barth "tenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik

Abhan lungere In Verbindung mit Hans Grieder und Armin Wildermuth herausgegeben von Günther Hauff

1967. 372 Seiten. Leinen ISBN 978-3-7965-0020-6

Heinrich Barth erscheinenlassen

Ausgewählte Texte aus Heinrich Barths Hauptwerk «Erkenntnis der Existenz»

Mit Hinführungen von Rudolf Bind, Georg Maier und Hans Rudolf Schweizer 1999. 252 Seiten. Broschiert

ISBN 978-3-7965-1328-2

Günther Hauff / Hans Rudolf Schweizer / Armin Wildermuth (Hrsg.) In Erscheinung treten

Heinrich Barths Philosophie des Ästhetischen 1990. 328 Seiten. Gebunden

ISBN 978-3-7965-0907-0

Christian Graf Ursprung und Krisis

Heinrich Barths existential-gnoseologischer Grundansatz in seiner Herausbildung

und im Kontext neuerer Debatten 2008. 352 Seiten. Gebunden

ISBN 978-3-7965-2413-4

Page 484: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

BEITRÄGE ZU FRIEDRICH NIETZSCHE

Band 1

Albert Vinzens Friedrich Nietzsches Instinktverwandlung

1999. 245 Seiten

Band 2

Andreas Urs Sommer Friedrich Nietzsches «Der Antichrist»

Ein philosophisch-historischer Kommentar 2000. 783 Seiten

Band 3

Andrea Bollinger, Franziska Trenkle Nietzsche in Basel

Mit einem Geleitwort von Curt Paul Janz Mit einem Basler Stadtplan aus dem Jahre 1845

2000. 100 Seiten mit 31 Abbildungen

Band 4

William H. Schaberg Nietzsches Werke

Eine Publikationsgeschichte und kommentierte Bibliographie Aus dem Amerikanischen von Michael Leuenberger

2002. 328 Seiten mit 54 Abbildungen

Band 5

Eduard His Friedrich Nietzsches Heimatlosigkeit

Hans Gutzwiller Friedrich Nietzsches Lehrtätigkeit am Basler Pädagogium 1869-1876

Reprint aus der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 1941 und 1951

2001. 120 Seiten

Page 485: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

BEITRÄGE ZU FRIEDRICH NIETZSCHE

Band 6

Nietzsches «Also sprach Zarathustra» 20. Silser Nietzsche-Kolloquium 2000

Im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria herausgegeben von Peter Villwock

Mit einem Vorwort von Karl Pestalozzi 2001. 241 Seiten mit 15 Abbildungen

Band 7

Hauke Reich Nietzsche-Zeitgenossenlexikon

Verwandte und Vorfahren, Freunde und Feinde, Verehrer und Kritiker von Friedrich Nietzsche 2004. 248 Seiten mit zahlreichen Abbildungen

und zwei beigelegten Stammbäumen

Band 8

Daniel Mourkojannis Rüdiger Schmidt-Grépâly (Hrsg.)

Nietzsche im Christentum Theologische Perspektiven

nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes 2004. 160 Seiten

Band 9

Thomas Mann Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung

Vortrag am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich am 3. Juni 1947 Gedruckter Text und Tonaufnahme auf CD Herausgegeben von David Marc Hoffmann

2005.43 Seiten mit 1 Abbildung und beiliegender CD

Band 10

Lukas Labhart « Meine Art Natur»

Individualität — Landschaft — Stil bei Friedrich Nietzsche

2006. 180 Seiten mit 1 Abbildung

Page 486: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

Das Signet des 1488 gegründeten

Druck- und Verlagshauses Schwabe

reicht zurück in die Anfänge der

Buchdruckerkunst und stammt aus

dem Umkreis von Hans Holbein.

Es ist die Druckermarke der Petri;

sie illustriert die Bibelstelle

Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort

wie Feuer, spricht der Herr,

und wie ein Hammer, der Felsen

zerschmettert?»

Page 487: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners
Page 488: Sijmons, Jaap - Phaenomenologie und Idealismus - Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners

„Das wichtigste Problem alles menschlichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich

selbst gegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen.” Der Schlusssatz aus Rudolf Steiners

Dissertation Wahrheit und Wissenschaft von 1892 enthält in nuce bereits die Grundfrage

seiner gesamten Philosophie. Ausgehend von der Lektüre der Werke Kants und Fichtes

widmet Steiner dieser Thematik in der Folge sein erkenntnistheoretisches Hauptwerk

Die Philosophie der Freiheit (1893/94). Steiners Interesse an einer Freiheitsphilosophie

erklärt auch sein Eintreten für das Denken Nietzsches gegen die herrschenden Strömun-

gen der zeitgenössischen Philosophie und führt schließlich zur Entwicklung der

Anthroposophie, die im Unterschied zur Theosophie, in deren Umkreis sich Steiner kurz

nach der Jahrhundertwende bewegt, eine spirituelle Menschen- und Weltanschauung

sein will, die das Moment der Freiheit des menschlichen Geistes in den Mittelpunkt

stellt. Auf der Basis von Fichte, Schelling und Hegel soll ein um die Freiheit zentrierter,

neuer Idealismus auf phänomenologischer Grundlage entstehen, dessen Hauptbezugs-

punkt für Steiner namentlich die naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes sind.

Die vorliegende Untersuchung zur Struktur und Methode der Philosophie Rudolf

Steiners ist eine der seltenen wissenschaftlichen Darstellungen, die sich dem Thema der

Anthroposophie im Allgemeinen und der Philosophie Rudolf Steiners im Besonderen

weder polemisch noch apologetisch widmen und dadurch versuchen, die oftmals be-

stehende Kluft zwischen den ,Anhängern` Rudolf Steiners und den Vertretern der

,Schulwissenschaft` zu überbrücken. Dem Autor gelingt es aufzuzeigen, dass diese Kluft

keineswegs wissenschaftlich bedingt ist ...

„Sijmons' Studie hebt die historisch-analytische Diskussion um Steiner als philosophi-

schen Denker und empirischen Wissenschaftler des aktuell denkenden Geistes auf ein

höheres Niveau, an welchem sich künftige Autoren werden orientieren müssen."

Renatus Ziegler, Das Goetheanum

Jaap Gerhard Sijmons, 1959 im niederländischen Baarn geboren, studierte an der Uni-

versität Utrecht zuerst Philosophie und Mathematik, schloss danach ein Zweitstudium

in Jurisprudenz ab und promovierte sowohl als Geistes- als auch als Rechtswissenschaft-

ler. Sijmons ist seit 1988 als Partner in einer größeren Anwaltskanzlei in Zwolle tätig, seit

2007 lehrt er als Professor für Gesundheitsrecht an der Universität Utrecht.

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch