Silke Helfrich Commons

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Silke Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) FüR EINE NEUE POLITIK JENSEITS VON MARKT UND STAAT

Transcript of Silke Helfrich Commons

  • Die Occupy-Bewegung trgt ein Unbehagen auf die Strae weltweit. Sie stellt Profitmaxi-

    mierung an den Pranger und der Politik einen Misstrauensantrag. Denn die Preise fr Lebens-

    mittel, Wasser und Bden steigen, und begrenzt verfgbare Gter, wie die Meere oder Wlder,

    werden rcksichtslos ausgebeutet. Wissen und Ideen indes, unsere wichtigsten produktiven

    Ressourcen, sind zwar in Flle vorhanden doch sie werden behandelt, als wren sie knapp.

    Die ernchternde Diagnose lautet: Sowohl Markt als auch Staat versagen.

    Deshalb verwundert es nicht, dass die Commons, die Idee der gemeinschaftlichen Verantwor-

    tung fr Gemeingter, eine Renaissance erleben nicht erst seit dem Wirtschaftsnobelpreis

    2009 fr Elinor Ostrom. Commons sind wichtiger denn je. Sie beruhen nicht auf der Idee der

    Knappheit, sondern schpfen aus der Flle. Sie sind produktiv, ohne in erster Linie fr den

    Markt zu produzieren. Sie existieren durch und fr die Menschen und lsen konkrete Probleme.

    Dieser Band mit Beitrgen von 90 internationalen Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft,

    Politik und Gesellschaft stellt ein modernes Konzept der Commons vor, das klassische Grund-

    annahmen der Wirtschafts- und Gtertheorie radikal in Frage stellt und ein Wegweiser fr eine

    neue Politik sein kann.

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    Silke Helfrich und

    Heinrich-Bll-Stiftung (Hg.)

    Fr eine neue Politik

    jenseits von

    Markt und staat

  • Silke Helfrich und Heinrich-Bll-Stiftung (Hg.) Commons

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    1.1. Auflage: transcript Verlag, Bielefeld 2012Auflage: transcript Verlag, Bielefeld 2012

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    Umschlaggestaltung: Kordula Rckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Groburgwedel ISBN 978-3-8376-2036-8

    Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschren an unter: [email protected]

  • Silke Helfrich und Heinrich-Bll-Stiftung (Hg.)

    Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

  • Inhalt

    Barbara Unmig | 13

    Vorwort

    Silke Helfrich/David Bollier | 15

    Commons als transformative Kraft. Zur Einfhrung

    Silke Helfrich | 24

    Danke

    Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    Jacques Paysan | 28 Mein steiniger Weg zu den Commons. Ein Rckblick

    Andreas Weber | 32

    Wirtschaft der Verschwendung. Die Biologie der Allmende

    Friederike Habermann | 39

    Wir werden nicht als Egoisten geboren

    Rob Hopkins | 45

    Resilienz denken

    Martin Beckenkamp | 51

    Der Umgang mit sozialen Dilemmata. Institutionen und Vertrauen

    in den Commons

    Stefan Meretz | 58

    Ubuntu-Philosophie. Die strukturelle Gemeinschaftlichkeit der Commons

  • Silke Helfrich | 66

    Das Betriebssystem der Commons. Version 0.5

    Ugo Mattei | 70 Eine kurze Phnomenologie der Commons

    Brigitte Kratzwald | 79 Commons und das entliche. Wem gehren entliche Dienstleistungen?

    Silke Helfrich | 85

    Gemeingter sind nicht, sie werden gemacht

    Michael Heller | 92 Die Tragik der Anti-Allmende

    James B. Quilligan | 99 Warum wir Commons von entlichen Gtern unterscheiden mssen

    Veronika Bennholdt-Thomsen | 107 Subsistenz Perspektive fr eine Gesellschaft, die auf Gemeingtern grndet

    Josh Tenenberg | 112 Technik und Commons

    Franz Nahrada | 122 Das Commoning von Mustern und die Muster des Commoning. Eine Skizze

    Ein Gesprch zwischen Roberto Verzola, Brian Davey, Wolfgang Hschele und Silke Helfrich | 131 Commons: Quelle der Flle?

    Kapitel II Kapitalismus, Einhegungen, Widerstand

    Peter Linebaugh | 145 Commons: Von Grund auf eingehegt

    Hartmut Zckert | 158 Allmende: Von Grund auf eingehegt

    Liz Alden Wily | 166 Globaler Landraub. Die neue Einhegung

  • P.V. Satheesh | 177

    Transgene Versprechen. ber die Folgen der Gentechnologie in der Landwirtschaft

    Antonio Tricarico/Heike Lschmann | 184 Finanzialisierung ein Hebel zur Einhegung der Commons

    Cesar Padilla | 196 Bergbauprojekte bedrohen Gemeingter. Das Beispiel Sdamerika

    Maude Barlow | 201 Wasser ist Gemeingut. Vorschlge zu seiner Rettung

    Vinod Raina | 206 Was ist rckstndig: Subsistenzwirtschaft oder moderne Entwicklung? Der Widerstand gegen Staudmme

    Gerhard Dilger | 215 Belo Monte oder die Zerstrung der Commons

    Herv Le Crosnier | 218 Die Geschichte stottert oder wiederholt sich. Neue Commons, neue Einhegungen

    Jonathan Rowe | 224 Wer den Namen bestimmt, deniert die Verhltnisse

    Massimo de Angelis | 227 Krise, Kapital und Vereinnahmung braucht das Kapital die Commons?

    Gustavo Esteva | 236 Honung von unten. Das besondere Prinzip des Zusammenlebens in Oaxaca

    Lili Fuhr | 244 Neue Deutsche Rohstostrategie eine moderne Enclosure of the Commons?

    Ana de Ita | 248 Die Zerstrung von Commons durch den Naturschutz

    Beatriz Busaniche | 251 Geistige Eigentumsrechte und Freihandelsabkommen. Eine unendliche Geschichte

    David Bollier | 259 Globale Einhegungen im Dienste des Imperiums. Die NATO als Kommandeur der Commons

  • Kapitel III Commoning soziale Innovationen weltweit

    George Por | 264 Commoning lernen

    Christa Mller | 267 Reiche Ernte in Gemeinschaftsgrten. Beim Urban Gardening ndet der Homo oeconomicus sein Korrektiv

    Katharina Frosch | 273

    Mundraub? Allmendeobst!

    Margrit Kennedy | 275 Leben im Lebensgarten

    Thomas H. Greco | 278 Die Rckeroberung der Kredit-Allmende. Auf dem Weg zur Schmetterlings-Gesellschaft

    Stefan Rost | 285 Das Mietshuser Syndikat

    Geert de Pauw | 288 Die Stadt von morgen steht auf Gemeinschaftsland

    Beate Kppers | 292 Artabana Gesundheitsversorgung in die eigenen Hnde nehmen

    Sabine Lutz | 295 Shared Space: Geteilter Raum ist doppelter Raum

    Gerd Wessling | 299 Transition Initiativen des Wandels

    Takayoshi Kusago | 302 Von Minamata lernen. Gut leben in lokalen Gemeinschaften

    Mayra Lafoz Bertussi | 309 Faxinais und ihre Nutzer. Commons in einem komplexen Verhltnis zum Staat

    Gloria L. Gallardo Fernndez/Eva Friman | 313 Kstennahe Commons in Chile. Kompetente Menschen, starke Institutionen, reiche Natur

  • Shrikrishna Upadhyay | 321 Frischer Wind in den Wldern. Gemeinschaftliche Waldbewirtschaftung und Lebenssicherung in Nepal

    Papa Sow/Elina Marmer | 328 Salz und Handel am Lac Rose. Der Lebensunterhalt senegalesischer Gemeinschaften

    Gustavo Soto Santiesteban/Silke Helfrich | 335 Der Schaum dieser Tage: Buen Vivir und Commons. Ein Gesprch

    Adriana Sanchez/Silke Helfrich | 344 Der Code ist das Saatgut der Software. Ein Interview

    Kapitel IV Wissensallmende fr den gesellschaftlichen Wandel

    Christian Siefkes | 348 Peer-Produktion der unerwartete Aufstieg einer commonsbasierten Produktionsweise

    Carolina Botero Cabrera/Julio Cesar Gaitn | 354 Von Mrchen und Autorenrechten

    Mike Linksvayer | 359 Creative Commons: Die Wissensallmende in unsere Hnde nehmen

    Benjamin Mako Hill | 366 Freiheit fr Nutzer, nicht fr Software

    Federico Heinz | 371 entliche Verwaltung braucht Freie Software

    Thomas Gegenhuber/Nauman Haque/Stefan Pawel | 375 Linz: Von der Stahlstadt zur Open-Commons-Region. Wie eine Kommune von einem Bekenntnis zur Allmende protieren kann

    David E. Martin | 378 Innovationen emanzipieren. Global Innovation Commons

  • Javier de la Cueva/Bastien Guerry/Samer Hassan/Vicente J. Ruiz Jurado | 385 Move Commons: Labels fr soziale Initiativen. Ein Vernetzungsinstrument

    Philippe Aigrain | 390 Die Grundlagen einer langlebigen,

    commonsbasierten Informationsproduktion

    Michel Bauwens/Franco Iacomella | 397 Die Peer-to-Peer-konomie und eine neue commonsbasierte Zivilisation

    Rainer Kuhlen | 405 Wissenskonomie und Wissenskologie zusammen denken

    Kapitel V Commons produzieren, Politik neu denken

    David Bollier/Burns H. Weston | 416 Das Menschenrecht auf eine saubere Umwelt und die Renaissance der Commons

    Prue Taylor | 426 Das Gemeinsame Erbe der Menschheit. Eine khne Doktrin in einem engen Korsett

    Ryan T. Conway | 434 Ideen fr den Wandel der Institutionenvielfalt Sinn geben

    Michael J. Madison/Brett M. Frischmann/Katherine J. Strandburg | 443 Von Wissen und anderen Reichtmern. Kulturelle Commons konstruieren

    Michel Bauwens | 450 Peer-Produktion und Peer-Governance der digitalen Commons

    Esther Mwangi/Helen Markelova | 455 Lokal, regional, global? Mehrebenen-Governance und die Frage des Mastabs

    Gerhard Scherhorn | 466 Die Welt als Allmende. Fr ein gemeingtersensitives Wettbewerbsrecht

    Ottmar Edenhofer/Christian Flachsland/Bernhard Lorentz | 473 Die Atmosphre als globales Gemeingut

    Julio Lambing | 479 Stromallmende: Wege in eine neue Industriegesellschaft

  • Dirk Lhr | 487 Das Scheitern der Bodenprivatisierung. Zum berflligen Kurswechsel in der Entwicklungspolitik

    Alberto Acosta | 493 Die komplexe Konstruktion der Utopie. Ein Blick auf die Initiative Yasun-ITT

    Christine Godt/Christian Wagner-Ahlfs/Peter Tinnemann | 500 Equitable Licensing den Zugang zu Innovationen sichern

    Nikos A. Salingaros/Federico Mena-Quintero | 508 Peer-to-Peer-Stadtplanung: Aus Erfahrung lernen. Neuere Entwicklungen in der Stadtplanung

    Silke Helfrich | 516 Epilog

    Sachregister | 520

  • Vorwort

    Eine Politik der Zukunft gestalten das ist ein hoher Anspruch. Die HeinrichBll-Stiftung mchte sie mitgestalten und untersttzt deshalb weltweit Vordenkerinnen und Vordenker, Pionierinnen und Pioniere sozialer und kologischer Innovationen, die wir fr die notwendige Transformation unserer zerstrerischen Wirtschaftsweise dringend brauchen.

    Die Protagonisten der Commons-Debatte sind solche Pioniere. Sie engagieren sich lokal und international gegen die weitere Privatisierung und Kommerzialisierung von Natur, Wissen, entlichem Raum und fr eine andere Form der institutionellen Organisation. Die Commons eignen sich fr eine groe Erzhlung. Ihr Potential besteht darin, soziale Innovation als entscheidenden Hebel gesellschaftlicher Transformation zu entwickeln. Dieser Hebel ist eben nicht technologischer Fortschritt und Ezienzgewinn und auch nicht der Export gesellschaftlicher Partizipation oder demokratischer Institutionen. Bei den Commons, den Gemeingtern, geht es vor allem um die Frage, wie sie durch die Strkung vertrauensvoller und fairer sozialer Beziehungen geschtzt und weiterentwickelt werden knnen.

    Die Heinrich-Bll-Stiftung engagiert sich seit 2007 aktiv fr die Commons als Politik der Zukunft. Startschuss waren interdisziplinre Salongesprche: Zeit fr Allmende. Zudem entstand im Jahr 2009 gemeinsam mit Silke Helfrich die Anthologie Wem gehrt die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingter. Ein Jahr spter wurde dann mit Gemeingter Wohlstand durch Teilen eine allgemein verstndliche Einfhrung in die Welt der Commons und des Commoning verentlicht.

    Die Commons-Theorie weiterzuentwickeln, ihre politische Begrndung zu verfeinern, Anstze fr eine commons-sensitive Politik auszutauschen und das internationale Netzwerk der verschiedenen Commons-Initiativen zu strken das sind unsere Anliegen. Auf der internationalen Konferenz Constructing a Commons Based Policy Platform, die wir in Kooperation mit der Commons Strategies Group im November 2010 durchgefhrt haben, ist die Idee zu diesem Buch entstanden. Silke Helfrich hat den Grundstein dafr gelegt und David Bollier fr die Bearbeitung der englischen Ausgabe gewonnen. Ihnen gilt mein allergrter Dank.

    Dieses Buch richtet sich mit einer Flle von theoretischen Anstzen, Analysen und Berichten aus der Praxis an Leserinnen und Leser, die oen sind, sich inspirieren, aber auch irritieren zu lassen, die bereit sind, aus ihren gewohnten Denk-mustern und Datenverarbeitungsbahnen auszubrechen, die neugierig und nicht nur gedanklich experimentierfreudig sind. Es soll eine Auseinandersetzung mit

  • 14 Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

    dem Thema der gesellschaftlichen und persnlichen Gestaltungsoptionen fr die Zukunft provozieren.

    Einen endgltigen Bauplan liefert dieser Sammelband nicht. Er ist als Anthologie konzipiert, jeder Beitrag steht also auch fr sich allein und reektiert die Vielfalt der Perspektiven und Zugnge zum Thema.

    Sollten Sie Zweifel hegen, ob der Umbau unserer Gesellschaft gegen den Strom berhaupt gelingen kann, dann lassen Sie mich entgegnen: In der Tat, wir wissen es nicht! Aber ohne Experimente, ohne Mut, Neues auszutesten, geht es auch nicht. Wenn die Zweierin und der Feigling in uns zu kapitulieren beginnen und die innere Stimme ruft: Ich frchte das Schlimmste, dann muss der Optimist dagegenhalten: Das Schlimmste frchte ich auch, denn das Beste zu frchten, wre ja wohl komplette Zeitverschwendung.

    Dem Verlag transcript fhlen wir uns sehr verbunden wegen der guten Partnerschaft und der Pionierentscheidung, eine freie Lizenz zu whlen. Wissen einfach zugnglich zu machen und zu vermehren wird so Realitt.

    Und dieses Buch wre ohne Silke Helfrich nie Realitt geworden. Mir fehlen so manches Mal die Worte, ihren Enthusiasmus zu beschreiben, ihre berzeugungskraft, ihren Einsatz, den Commons und der Commons-Bewegung zum politischen Durchbruch zu verhelfen.

    Die Heinrich-Bll-Stiftung kann sich fr die jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit mit ihr glcklich schtzen.

    Ich wnsche diesem Buch viele interessierte Menschen, die sich von den Texten dieses Bandes zum Commoning fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat mitreien lassen.

    Berlin, im Januar 2012

    Barbara Unmig Vorstand der Heinrich-Bll-Stiftung

  • Commons als transformative Kraft Zur Einfhrung

    Silke Helfrich und David Bollier

    Die alte Welt treibt durch strmische Zeiten. Sie wirkt wie ein aus dem Ruder gelaufener Tanker in schwerer See. Eine neue Welt ist nicht in Sicht, aber Leuchtfeuer am Horizont weisen in Richtungen, die wir jederzeit einschlagen knnen, um dem Sturm zu entkommen. Dieses Buch beschreibt sie. Es handelt von unserer Zukunft.

    berall auf der Welt suchen Menschen nach Alternativen zu der berkommenen Ordnung, die sie umgibt: zentralisierte Hierarchien einerseits und entfesselte Mrkte andererseits. Diesen Mrkten sind die Staaten, am Steuer eines umweltzerstrenden Wachstums stehend, verpichtet. Die Suche nach Alternativen ndet ihren Ausdruck bei den spanischen Indignados, in den sozialen Konikten Lateinamerikas, in der Occupy-Bewegung und im innovationsberstenden Internet. Menschen wollen sich nicht nur aus Armut oder von schwindenden Teilhabechancen befreien. Sie suchen auch neue Kommunikationsformen, Produktionsweisen und Regeln, die ihnen Stimme geben und Verantwortung zutrauen.

    Die bestehende Ordnung bietet keinen plausiblen Weg in die Zukunft. Wir selbst mssen diesen Weg bahnen! Das Buchprojekt, das Sie jetzt in den Hnden halten, ist Teil dieses Prozesses. Die Essays dieses Bandes entfalten das Potential der Commons (der Allmende oder Gemeingter). Sie weisen Wege und Strategien, um unsere Zukunft neu zu denken und selbstbestimmt zu gestalten. Die Beitrge der bewusst aus den unterschiedlichsten Sphren ausgewhlten Autorinnen und Autoren aus 30 Lndern bilden drei Kategorien: erstens diejenigen, die unser theoretisches Verstndnis der Commons festigen und erweitern; zweitens diejenigen, die eindringlich Kritik an der zunehmend dysfunktionalen Verquickung von Markt und Staat formulieren; drittens diejenigen, die konkrete Ideen und Projekte vorstellen und zeigen, wie innovativ, machbar und attraktiv Commons sind.

    Die Beitrge zur Commons-Theorie und zur politischen konomie (Kapitel I) erkunden unter anderem die Tragik der Anti-Allmende, die beschreibt, wie bermige, fragmentierte Eigentumsrechte Innovation und Kooperation behindern. Sie erlutern die zentralen Unterschiede zwischen Gemeingtern und entlichen Gtern und analysieren die Weisen, wie Commons elementare Prinzipien der Moderne, des Liberalismus und des Rechts herausfordern. Und sie zeigen, wie das Denken in Commons-Kategorien erkennen lsst, dass die Methodik der

  • 16 Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

    Natur selbst die Commons als stabiles und tragfhiges Paradigma nahelegt; ein Paradigma mit eigenem Betriebssystem und eigenen Grundmustern, das noch im Verborgenen liegt und erst allmhlich identizierbar und generalisierbar wird.

    Die Kritik konzentriert sich auf die Privatisierung und Kommerzialisierung gemeinsam genutzter Ressourcen; auf die Einhegungen der Commons (Kapitel II). Sie gehren zu den groen unerzhlten Geschichten unserer Zeit. Einhegung das bedeutet Entrechtung von Stadtbewohnern, deren Parks und entliche Rume in einem unvertretbaren Ausma fr gewerbliche Zwecke missbraucht werden. Es bedeutet Enteignung von Millionen von Bauern, deren Leben von der gewohnheitsrechtlichen Nutzung ihres Landes abhngt, insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika. Es bedeutet, dass Internetnutzern durch sich permanent ausweitende Urheber- und Verwertungsrechte und internationale Vertrge Kultur vorenthalten wird. Es bedeutet eine Entmndigung der Brger in vielen Lebensbereichen.

    berall auf der Welt entstehen Projekte und Innovationen, die auf der Idee der Commons grnden (Kapitel III und IV). Ganz gleich, ob es sich um die gemeinschaftliche Nutzung von Dingen handelt oder um allmhliche Schritte wie beim Aufbau einer chilenischen Fischereiallmende, um die Wiederentdeckung der Obstallmende in Deutschland die es Menschen erlaubt zu ernten, was der Markt ignoriert oder um den Versuch der Schaung einer internationalen Institution des Rohstomanagements, die eine megabiodiverse Region in Ecuador vor der lfrderung und uns alle vor steigenden CO2-Emissionen bewahren soll. Nicht zu vergessen die aufregenden Innovationen in der digitalen Welt der rasante Aufstieg von Creative Commons oder die Flle an Peer-to-Peer-Projekten. Sie alle gewinnen gesellschaftlich an Bedeutung und an Bekanntheit durch dieses Buch.

    Eine einheitliche Sicht auf die Commons bieten wir nicht schlielich wre das ein Widerspruch in sich. Dafr ernet sich den Leserinnen und Lesern ein farbenprchtiges Kaleidoskop von Commons-Perspektiven und Perspektiven auf die Commons. Durch den Sehspalt wird sichtbar, wie Commons als intellektuelles Fundament und politische Philosophie verstanden werden knnen, die konkrete soziale Praktiken begrnden. Man kann die Commons aber auch als (experimentierfreudige) Art und Weise des Seins oder gar als geistige bzw. spirituelle Haltung betrachten. Oder man versteht sie als Weltsicht. Und genau genommen sind Commons all dies zusammen. Um das zu beschreiben, bedarf es eines frischen und modernen Wortschatzes, der die Logik der Commons angemessen abbildet. Diese Logik fhrt aus der Sackgasse marktfundamentalistischer Politik und stellt unsere Sozial- und Naturbeziehungen in den Mittelpunkt.

    Erwarten Sie kein Gewusst-wie-Handbuch und noch viel weniger Vollstndigkeit. Der Band bleibt trotz aller Flle ein bescheidener, selektiver berblick ber wichtige Diskussionen und Anstze zum Thema in diesem historischen Moment. Einige Perspektiven und Themen werden Sie vermissen (so wie wir). Andere sind nur unzureichend beleuchtet etwa die Rolle der Kunst, die Relevanz der Gender-Dimension, die Einhegung des Weltraums, unsere Handhabe des thers (durch Funk und Fernsehen), die Rolle der Arbeiterbewegung und Gewerkschaften, die Bewertung von Zukunftstechnologien wie Nanotechnologie und Geo-Engineering und andere mehr. Doch wer im Laufe der Lektre lernt, die Welt durch die Brille

  • 17 Silke Helfrich und David Bollier Commons als transformative Kraft

    der Commons zu sehen, wird diese Brille fortan bei sich tragen. Durch sie ergeben sich vielfltige, individuelle Commons-Begegnungen mit all jenen Themen, die wir nur streifen konnten. Darauf vertrauen wir.

    Jenseits von Markt und Staat

    Seit Generationen haben Staat und Markt eine enge, ja symbiotische Beziehung entwickelt. Sie verschmolzen schlielich zu dem, was man ein Markt-Staat-Duopol nennen knnte. Markt und Staat verfolgen oft eine gemeinsame Vision von technologischem Fortschritt und Wettbewerb, (zumeist) eingebettet in ein liberales, nominell demokratisches Gemeinwesen, dessen Kern individuelle Rechte und Freiheiten sind. In dieser gemeinsam konstruierten Weltsicht ist die Rollenverteilung komplementr, aber das Bemhen gleich: (de facto unerreichbares) Endloswachstum und Konsumentenzufriedenheit.

    Der Markt bestimmt dafr den Preis. Er verwaltet Personen, Kapital und Ressourcen, um materiellen Wohlstand zu generieren. Der Staat reprsentiert den Willen des Volkes, whrend er zugleich das Funktionieren des freien Marktes so einfach wie mglich macht. Das zumindest ist die groe Erzhlung. Nach diesem Ideal des demokratischen Kapitalismus maximiert sich das Wohlbenden des Konsumenten, der zugleich immer mehr politische und wirtschaftliche Freiheiten geniet.

    Historisch gesehen waren Markt und Staat freinander durchaus fruchtbar. Die Mrkte haben die staatlich bereitgestellten Infrastrukturen genutzt und davon protiert, dass Investitionen und Marktaktivitten staatlich durchgesetzten Regeln folgen. Ihnen kamen und kommen der kostenlose oder vergnstigte Zugang zu Wldern, Mineralien, zur Atmosphre und dem elektromagnetischen Spektrum, zu Forschungsmitteln und anderen entlichen Leistungen zu Gute. Der Staat wiederum, so wie er heute verfasst ist, hngt vom Wirtschaftswachstum ab, das auf dem Markt produziert wird. Es ist (potentiell) Quelle fr Steuereinnahmen und Arbeitspltze. Wer politisch Verantwortung trgt, deniert daher das Wirtschaftswachstum als Knigsweg zur Verteilung von materiellem Reichtum und sozialen Chancen.

    Die multiplen Krisen der Gegenwart, zuletzt die Finanzkrise von 2007/2008, haben jedoch gezeigt, dass die Lehrbuchweisheiten des demokratischen Kapitalismus weitgehend eine Farce sind. Die politischen und persnlichen Verbindungen zwischen den grten Unternehmen und staatlichen Institutionen sind enorm. Der freie Markt reguliert sich so wenig von unsichtbarer Hand, wie er ausschlielich privat ist. Er ist weitgehend abhngig von staatlichen Interventionen und Subventionen, von Manahmen zur Risikobegrenzung und rechtlichen Privilegien, mitunter auch von militrischer Sicherung der Handelswege und Energiequellen. Dieser Markt vernachlssigt die Prferenzen kleiner Investoren, die Interessen von Menschen mit geringer Kaufkraft und die Natur, so wie der Staat nicht wirklich den souvernen Willen des Volkes reprsentiert. Das System erinnert an ein elitres Insider-Oligopol. Transparenz ist minimal, Regulierung wird durch Wirtschaftsinteressen korrumpiert, Rechenschaft bleibt politisch manipuliert, und die Mitbestimmung der Brger beschrnkt sich nicht selten auf die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. In einigen Lndern macht sich der Staat zum Juniorpartner von Clans, dominanten Ethnien oder masen Strukturen. In an

  • 18 Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

    deren zum Juniorpartner eines marktfundamentalistischen Projekts. Fortschreitende Privatisierung, Deregulierung, Budgetkrzungen, expansive private Eigentumsrechte und ungehinderter Investitionszugang sind die Schlagworte dieses Prozesses. Der Staat fungiert hier als Feigenblatt. Eingrie, die den Marktexzessen vorbeugen sollen, haben meist nur den Eekt von Beruhigungsmitteln. Sie lassen das eigentliche Problem unangetastet. Mehr noch: Sie legitimieren nicht selten die Prinzipien und Verfahrensregeln des Marktes. Am Ende beherrschen die Marktkrfte die wichtigen politischen Themen. In den USA sind Unternehmen als juristische Personen sogar berechtigt, Kandidaten fr politische mter unbegrenzte Mengen an Geld zur Verfgung zu stellen.

    Dazu kommt, dass politische Ziele kurzfristig erreicht werden mssen. Die Regierungen von Nationalstaaten (sowie unsere parlamentarischen Vertretungen) erweisen sich deshalb oft als unfhig, in langen Zeitrumen zu denken. Und mit seinen mrben, brokratischen Strukturen mutet der Staat im Zeitalter der elektronischen Vernetzung ohnehin wie ein chronischer Zusptkommer an. Nein, die Annahme, der Staat wrde und knnte eingreifen, um die Interessen der Menschen zu vertreten, ist eine zerbrechende Illusion.

    In dem Mae, wie sich dieses Markt-Staat-Duopol unserer Gesellschaften bemchtigte, korrumpierte sich auch unsere Sprache. Der konventionelle politische Diskurs, selbst ein Artefakt aus einer anderen Zeit, vermag weder unsere Probleme adquat zu benennen, noch Alternativen zu formulieren oder Visionen zu entwerfen. Die Fallstricke der derzeit dominierenden politischen Sprache sind eng gespannt. Dualismen wie entlich versus privat und Staat versus Markt gelten als selbstverstndlich. Als Erben von Descartes sind wir es gewohnt subjektiv von objektiv zu unterscheiden und Individuum von Kollektiv. Wir fassen sie als Gegenstze auf. Auch das sind Relikte lexikalische Erbschaften, die das Relationale verschleiern, die Tatsache, dass das Eine mit dem Anderen untrennbar verbunden ist. Noch sind diese Dualismen in unser Denken eingegraben. Das wird vor allem sprbar, wenn wir die Probleme der Gegenwart analysieren (oder deren Analyse in den Medien verfolgen) und wenn wir uns das Spektrum an Lsungen vergegenwrtigen, das gemeinhin fr plausibel gehalten wird. Entweder oder, heit es dann. Ganz oder gar nicht. So segnet die Sprache des Kapitalismus dessen Zweckbestimmungen und Machtverhltnisse ab und vernagelt unser Denken mit einem schwer zu durchbohrenden Brett. Deswegen sind Commons so wichtig.

    Die transformierende Sprache der Commons

    Der Commons-Diskurs berwindet die Kategorien der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Er identiziert die Beziehungen von Belang und deren operative Logik sowohl in der Art, wie wir produzieren, als auch in der Art, wie wir unsere gesellschaftlichen Verhltnisse ordnen.

    Commons bieten uns die Mglichkeit, die Dinge so beim Namen zu nennen, dass wir nicht blindlings die Fiktionen der alten Ordnung wiederholen, etwa: dass nur das Wirtschaftswachstum unsere sozialen Missstnde zu lsen im Stande sei oder dass Regulierung die kologische Krise meistern knne. Wir brauchen ein

  • 19 Silke Helfrich und David Bollier Commons als transformative Kraft

    Umdenken, neue soziale Praktiken und einen neuen Diskurs, so dass sich die Funktionsprinzipien dieser groen Erzhlung und mit ihnen eine neue Regierungsweise (Governance) durchsetzen knnen. Nennen wir sie Commonance. Die Governance der Commons.

    Worte haben performative Kraft. Sie gestalten die Welt. Deshalb ist es alles andere als Phantasterei, nach einer Sprache zu suchen, die die Grundmuster der Commons-Praxis spiegelt. Diese Praxis nennen wir Commoning. Schon in dem Moment, in dem wir die Sprache der Commons nutzen, beginnen wir, eine andere Kultur zu schaen. Wir hren auf, Kunden oder Manager zu sein, Businessmodelle, Vertriebsoptimierungsplne und Alleinstellungsmerkmale zu ersinnen oder uns permanent mit den Konkurrenten abzugleichen. Wir beginnen, in Beziehung zu sein, als Commoners, eine Kultur der Treuhnderschaft, Mitverantwortung und Teilhabe fr die gemeinsamen Ressourcen zu entwickeln und zugleich das Recht auf die Gestaltung des eigenen Lebensraums und der eigenen Lebensverhltnisse zu verteidigen. Wir erkennen uns als interaktive Akteure grerer Gemeinschaften und Zusammenhnge. Das ist unserer Individualitt nicht abtrglich, aber es prgt unsere Vorlieben, Perspektiven, Werte und Verhaltensweisen, kurz: wer wir sind.

    Wir sind keine isolierten, atomistischen Wesen, keine Amben, denen nichts Menschliches anhaftet auer utilitaristischen Prferenzen, die auf dem Markt verhandelt werden. Nein: Wir sind kreative, unverwechselbare Individuen als Teil von vielfltigem Grerem. Commoners. Zweifellos haben wir auch unattraktive Zge, die aus individuellen ngsten und unserem Ego resultieren, aber wir sind in der Lage zur Selbstorganisation und zur Zusammenarbeit. Wir streiten fr Fairness und soziale Gerechtigkeit, tragen bei zum Allgemeinwohl und zur Sorge fr knftige Generationen.

    Die Sprache der Commoners hilft, diesen Anteil in uns zu erkennen und durch die Praxis zu strken. Sie fordert uns auf, die veralteten Dualismen der Marktkultur und die damit verbundene mechanistische Denkweise zu berwinden und ber die Welt in ganzheitlicher Weise und langfristiger Perspektive nachzudenken. Wer dies tut, sieht, dass das Verhalten des Einzelnen auf andere und auf das Ganze zurckwirkt, und begreift, dass die Entfaltung des Einzelnen die Entfaltung der anderen voraussetzt und umgekehrt. Das sind selbstredend komplexe soziale Prozesse.

    Der Mythos des Marktes, der den Selfmademan feiert, ist absurd. Er ist eine selbstgefllige Tuschung, der die Rolle und die Leistungen der Familie, der Gemeinschaften, der Netzwerke, der Institutionen und der Naturbeziehungen unterschtzt.

    Viele Pathologien der heutigen Wirtschaftsweise nhren sich vom Substrat der dualisierenden Sprache. Und tatschlich erweist sich bei genauerem Hinsehen deren Verwendung fr die elitren Wchter des Markt-Staat-Duopols als sinnvoll. Ein Konzern etwa stellt sich in der Regel als privater Akteur dar, der ber den meisten Problemen der Gesellschaft schwebt. Doch sein Zweck ist einfach: Kosten minimieren, Umsatz maximieren, Gewinne erwirtschaften, Investoren zufriedenstellen. Dies ist seine institutionelle DNA. Sie wurde im unbarmherzigen Streben nach Wachstum entworfen, um produzierend Gewinne zu erwirtschaften und dabei die sozialen und kologischen Schden (von konomen camouierend als externe Eekte beschrieben) zu ignorieren.

  • 20 Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

    In den letzten Jahren haben sehr viele Menschen die Konsequenzen dieses Denkens und dieser Kultur verstanden: Wir sind in den wichtigsten Lebensbereichen in ein globales Wirtschaftssystem integriert, das soziale Spaltung produziert und endliche natrliche Ressourcen (l, Mineralien, Wlder, Fischerei, Wasser) in abstrakte Finanzprodukte verwandelt. Peak Oil, Peak Everything und die globale Erwrmung lassen vermuten, dass diese Dynamik zeitlich begrenzt ist, denn die Natur hat reale Grenzen. Das ist der rote Faden des Dramas, das im nchsten Jahrzehnt zur Auhrung kommt. Die Frage ist, ob der Kapitalismus in der Lage ist, ihn zu erkennen und die realen Grenzen zu respektieren.

    Die Prmissen des demokratischen Kapitalismus betreen auch Wissen, Kultur und Informationen. Sie verbreiten sich wie das Licht, schranken- und grenzenlos. Anders als bei endlichen Ressourcen geht es in der Logik des Marktes darum, Kultur, Wissen und Informationen gezielt zu verknappen, um maximalen Gewinn aus immateriellen Vermgenswerten (Worte, Musik, Bilder) zu ziehen. Das ist der Hauptzweck der permanenten Erweiterung von Urheber- und Patentrecht. Dieser Imperativ wird immer deutlicher, denn digitale Technologien haben die Vervielfltigung von Informationen und kreativen Arbeiten im Wesentlichen frei gemacht und damit gewohnte Geschftsmodelle untergraben.

    In allen Bereichen Soziales, Natur und Kultur werden Commons, ein wichtiges Mittel zur Befriedigung vieler Grundbedrfnisse, fragmentiert und in den Dienst des globalen Marktes gestellt. Die Natur wird zur Ware; Commoners zu isolierten Individuen, Konsumenten und Arbeitnehmern. Gemeinsame Ressourcen, die niemandes alleiniges Eigentum sind, werden zum Rohsto fr die Herstellung von Produkten fr den Verkauf degradiert. Und wenn der letzte Rest monetarisiert ist, gehen die unvermeidlichen Abflle des Marktes zurck in die Commons. Die Regierung ist damit betraut, diese Reste einzusammeln und die externen Eekte zu beseitigen. Dieser Aufgabe kann sie nur unzureichend nachkommen, denn im neoliberalen Paradigma gibt es andere Prioritten. Sie treiben den heimtckischen Prozess der Einhegung voran. Dabei werden Enteignung und Plnderung hug als rechtmig, vernnftig und fortschrittlich dargestellt.

    Ein prominentes Beispiel dafr ist die Welthandelsorganisation, die fr Entwicklung durch freien Handel sorgen soll und entsprechend fr transparente Regeln und deren Einhaltung auf dem Weltmarkt. Dabei ist sie im Wesentlichen ein System, das die Einverleibung noch nicht kommodizierter Ressourcen und fragiler kosysteme in den Markt sowie die Enteignung der Communities rechtlich legitimiert. Um das durchzusetzen, bedarf es eines zunehmend komplexen Gesetzes- und Verwaltungsapparats, intellektueller Rechtfertigungen und politischer Untersttzung. In anderen Worten: Einhegung muss durch Propaganda, Lobbyarbeit und gezielt gestreute Zwietracht salonfhig gemacht werden. Im Ergebnis werden Lebewesen privatisiert, von Vielfalt geprgte Anbauchen durch Monokulturen verdrngt, Inhalte im Internet zensiert, Kommunikationsinfrastrukturen kontrolliert, die Grundwasservorrte genutzt, um die Flaschenwasserindustrie zu frdern, indigenes Wissen und Kultur enteignet und sich selbst reproduzierende Nutzpanzen in sterile Samen verwandelt, die immer wieder nachgekauft werden mssen. Diese Funktionslogik unseres Wirtschaftssystems erfordert stndig neue Ressourcen die moralisch oder rechtlich allen gehren , um sie in handelbare Gter umzuwandeln.

  • 21 Silke Helfrich und David Bollier Commons als transformative Kraft

    Unsere moderne Idee von der Wirtschaft wurde durch all dies mit geformt. Auch sie ist geprgt von Dualismen. Es gibt das, was sich rechnet Dinge, die einen Preis haben und das, was nicht zhlt Dinge, die qualitative, ethische, subjektive Werte verkrpern. Im Laufe der Zeit kommt die Marktwirtschaft als universelles, ahistorisches, natrliches Phnomen daher, ein Moloch, der irgendwie seit Anbeginn existierte und den niemand kontrollieren kann. Ein System, das zum psychisch sensiblen Subjekt geworden zu sein scheint und geradezu menschliche Zge trgt: Von nervsen, angespannten und stark irritierten oder erleichterten und zufriedenen Mrkten hren und lesen wir tglich in den Medien.

    Der Alptraum der Einhegungen hat viele Menschen in Bedrngnis gebracht, denn in dieser Welt genieen unsere kologischen Lebensgrundlagen, Gemeinschaftlichkeit, Gewohnheitsrecht und Selbstorganisation keinen systematischen rechtlichen Schutz und keine kulturelle Anerkennung.

    Generative Commons

    Die Debatte ber Commons erlaubt es, uns auerhalb der dominanten Wirtschaftsweise (und ihrer Dichotomien) zu stellen. Das gelingt nicht nur mit einer neuen Sprache, sondern vor allem mit einer Praxis, die einen umfassenderen Begri von der Wirtschaft (besser: von dem Haushalten) spiegelt. Commons frdern Sozialbeziehungen und Gemeinschaftlichkeit. Sie sind jene vielfltigen Formen gemeinsamen Sorgetragens, die fr die am Homo oeconomicus orientierten Marktkonomen weithin unverstndlich bleiben. Sie ermglichen uns, das Wertvolle des Unveruerlichen in den Blick zu nehmen: den Schutz gegen die Verbetriebswirtschaftlichung von allem und jedem. Die Beziehungen zur Natur mssen nicht an Verwertung und Extraktion orientiert sein sie knnen den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Fairness folgen. Fr die Menschen der sdlichen Hemisphre sind Commons mehr gelebte Realitt als Metapher. Gerade von dort kommen Impulse, um Commons als Alternative zum klassischen Entwicklungsdenken zu verstehen.

    Immer wieder wurden Commons als Niemandsland, als res nullius, angesehen; als Orte ohne Eigentmer und ohne Wert. Doch ungeachtet dieser Tatsache und ungeachtet des hugen Kurzschlusses, die Commons als tragisch abzutun, sind sie unheimlich produktiv. Sie fllen das Reservoir, aus dem wir Leben und Nutzen schpfen. Das Problem ist, dass sich dieser Nutzen nicht einfach messen lsst. Es gibt keine skalare Gre, die ihn misst, so wie der Preis es mit handelbaren Werten tut. Den schpferischen Prozessen der Commons auf die Spur zu kommen, ist komplexer und langfristiger als fr die Mandarine des Marktes denkbar, denn Commons neigen dazu, ihre Gaben in der Dynamik des Lebens selbst zum Ausdruck zu bringen. Wir knnen sie nicht xieren. Und schon gar nicht zhlen wie Aktien und Inventar. In diesem reichtumschaenden Prozess des Commoning, geht es nicht darum, Dinge zu produzieren oder Rendite zu erzielen. Es geht um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen und die Integritt von Sozialbeziehungen. Es geht um den schpferischen Prozess selbst und um die gerechte Verteilung des Reichtums, der in den Commons reproduziert wird.

  • 22 Commons Fr eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

    Eine commons-sensitive Architektur von Recht und Politik

    Commoners sind sehr verschieden, und sie wissen nicht unbedingt im Voraus, wie ein gemeinsames Ziel vereinbart und verfolgt werden kann. Die einzige verallgemeinerbare Aussage ist daher, dass wir berall (Frei-)Rume fr den intensiven und konstruktiven Dialog und fr das Ausprobieren von Regeln und Vereinbarungen brauchen.

    Die Belastbarkeit der Commons hngt auch davon ab, dass Institutionen und Gesetze diese Vereinbarungen nicht unterlaufen: Wir brauchen Gesetze, Institutionen und eine Politik, die Commoning leichter machen (Kapitel V). Wir brauchen einen Staat, der Allmendeprinzipien aktiv untersttzt und deren Torpedierung sanktioniert, so wie er derzeit das Marktprinzip untersttzt und dessen bertretung sanktioniert. Commoners mssen ihre Interessen deutlich machen und dazu beitragen, dass Commons-Prinzipien im Mittelpunkt politischer und rechtlicher Innovation stehen. So konstitutiert sich beides neu: Brgerschaft und Governance.

    Seitdem die Dysfunktionalitten des Staates in der Unfhigkeit, die Finanzkrise strukturell zu lsen oder der kologischen Zerstrung wirksam zu begegnen, deutlich wurden, hat der Staat ein vermehrtes Interesse daran, dass die Menschen Aufgaben bernehmen, die er selbst nicht lsen kann. Doch damit dieser Prozess tatschlich unseren Lebensinteressen dient und nicht in unverantwortlicher Staatsverschlankung und Vereinnahmung endet, muss der Staat zunchst die Vielfalt kollektiver Eigentumsformen anerkennen und es den Menschen tatschlich ermglichen, dass sie Mitbesitzer und -verwalter der Gemeinressourcen sind. In der jngeren Geschichte hingegen wurden Commons von der Politik ignoriert. Projekte oder Netzwerke waren gezwungen, ihre eigenen Lsungen und Regeln zu entwickeln, um kollektive Rechte zu verteidigen. Prominente Beispiele hierfr sind die General Public License fr freie Software (und andere kulturelle Inhalte) sowie Rechtsformen zur gemeinsamen Nutzung von Wohnraum und Land (Land Trusts, Mietshusersyndikate), Beispiele, in denen Commons, obwohl formal in Privateigentum bendlich, von allen in Besitz genommen werden (Eigentum auen sorgt fr Commons innen [Rose 2003]). Die Zukunft der Commons wre vielversprechender, wrde der Staat formale Chartas und Rechtsnormen fr die Commons vorantreiben und in seine Institutionen einschreiben. Dass wir davon weit entfernt sind, lsst sich an einigen Analysen dieses Bandes deutlich ablesen.

    Auch die Marktstrukturen gilt es neu zu ernden und zwar so, dass die alten, zentralen (oft monopolisierten) kapitalistischen Unternehmensstrukturen nicht die lokalen Alternativen, die solidarischen konomien oder die sozial verantwortlichen Geschftsmodelle erdrcken. Unternehmen sind durchaus in der Lage, ihre Interessen der Gewinnmaximierung den langfristigen Interessen ihrer Gemeinden und der Menschen unterzuordnen. Community Supported Agriculture (CSA), die Slow-Food-Bewegung und Fair-Trade-Unternehmen sind nur einige Beispiele.

    Wo immer Keimformen neuer Commons auftauchen, bilden sie ein Spannungsverhltnis mit dem Bestehenden, denn sie mssen oft innerhalb des existierenden Systems von Recht und Politik bestehen. Die doppelte Gefahr der Kooptierung und Domestizierung ist eine Herausforderung, gegenber der jedes Projekt sein transformatives Potential behaupten muss. Dabei ist klar, dass es

  • 23 Silke Helfrich und David Bollier Commons als transformative Kraft

    unter Commoners immer strategische Auseinandersetzungen ber die Reinheit eines Commons geben wird. Da sind einerseits jene, die mglichst geringe oder keine Schnittchen mit den Mrkten bevorzugen, und andererseits jene, die meinen, ihre Communitys gedeihen gerade in der Wechselwirkung mit den Mrkten. In diesem Buch begegnen sie beiden. Der permanente Abgleich zwischen ihnen ist wichtig und kann sehr kreativ sein. Doch auch tiefere philosophische Spannungen innerhalb der Commons-Bewegung sind nicht ausgeschlossen. Diese Spannung wird (und sollte) nie vergehen. Sie wirft wichtige Themen auf, die kontrovers diskutiert werden, doch die alles entscheidende Frage fr Commoners ist: Wofr produzieren wir eigentlich?

    Die Frage ist einfach zu beantworten: Fr das Leben. Bei den Commons verstanden als Lebensnetz geht es primr um die Befriedigung von Bedrfnissen und die Erweiterung einer commons-basierten Kultur. In anderen Worten: Es geht darum, dass Commons Commons produzieren. In der Geschichte menschlicher Zivilisation gab es immer eine jeweils dominante Organisationsform. In Stammesgesellschaften war es die Schenk-konomie; in vorkapitalistischen Gesellschaften wie dem Feudalismus die Hierarchie. Chancen wurden auf der Grundlage des sozialen Status verteilt. Im Kapitalismus ist der Markt das primre System, das sozialen Status, Reichtum und Entwicklungschancen zuteilt. Jetzt, wo die Grenzen des marktfundamentalistischen Kapitalismus berall auf der Welt oenbar geworden sind, stellt sich die Frage, ob sich die Sphre der Commons so ausweiten kann, dass sie die dominante gesellschaftliche Form wird. Wir hoen, die Beitrge dieses Buches tragen dazu bei, dass es mehr Forschung zu diesen Fragen gibt und dass Freirume fr Initiativen des Commoning auf allen Ebenen gefrdert werden.

    Wir leben in einer spannenden Zeit. Sie gehrt zu den seltenen historischen Momenten, in denen alte, verkrustete Denkkategorien (auf-)brechen und Neuem Platz bieten. Doch jeder bergang zu einem neuen Paradigma setzt voraus, dass gengend Menschen aktiv Teil der Geschichte werden und sich diese neuen Kategorien in ihrer und durch ihre Lebenspraxis aneignen. Honung fr unsere Zukunft liegt allein in den Menschen.

    Wir sind auf Kooperation geeicht. Dies prdestiniert uns, eine vielfltige Kultur des Commoning zu entwickeln. Tatschlich erlebt die Sprache der Commons auch deshalb einen Aufschwung, weil sie in uns Resonanz erzeugt. Sie berhrt uns. Sie spornt uns an, die beengende politische Kultur und Denkweise abzuschtteln, die das Markt-Staat-Duopol uns aufzwingt.

    Literatur

    Rose, Carol M. (2003): Romans, Roads and Romantic Creators. Traditions of Public Property in the Information Age, in: Law Contemporary Problems, 66, Winter/ Frhjahr.

  • Danke

    Es hat mehr als ein Jahr gedauert, um dieses Buch zu produzieren, und ein Jahrfnft, um es vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Es hat die Gedanken von vergangenen und lebenden Generationen gebraucht, um es zu verdichten, und eine Hundertschaft, um es so zu gestalten, wie es jetzt ist. Das Ergebnis ist das Werk vieler Menschen, bei denen ich mich herzlich bedanke. Allen voran David Bollier, mein Kollege und fellow commoner aus Amherst (USA), mit dem ich auch die englischsprachige Ausgabe dieses Sammelbandes produziere. Mit David konzipiere ich, wage ich mich vor, verwerfe wieder, tausche Zweifel und Befrchtungen aus. Es ist eine unschtzbar wertvolle Zusammenarbeit.

    Da sind die vielen Autorinnen und Autoren aus aller Welt. Manch persnliche Bekanntschaft hat die Kommunikation vereinfacht, andere Kontakte entstanden aus weit verzweigten Netzwerken in der Welt der Wissenschaft und der Sozialen Bewegungen. Wieder andere wurden aus den Untiefen des Internets zu Tage gefrdert und ergaben einen fruchtbaren Austausch. Es ist uns gemeinsam gelungen, dem unerbittlichen Takt des Zeitplans zu folgen. Die Beitrge der Autoren samt aller Debatten zu Entwurfs- und Endfassungen haben mich immer wieder damit vershnt, endlos vor dem Bildschirm zu sitzen.

    Ich hatte ein sachkundiges, gewissenhaftes und engagiertes bersetzerteam. Die Zusammenarbeit mit Sandra Lustig, Brigitte Kratzwald, Katharina Frosch, Thomas Pfeier und Martin Siefkes hat mir viel Spa und einige gefallene Groschen gebracht. Ein Riesendankeschn dafr! Zum bersetzungsgelingen beigetragen haben auch Andreas Weber, Jacques Paysan und Paul Helfrich. Auch ihnen: Danke! Stefan Tuschen hat in der Endphase entscheidend zur Fertigstellung des Gesamtwerks beigetragen und mit ihm Wolfgang Burggraf, Stefan Meretz und Brigitte Kratzwald, die wertvolle Hinweise zur Abrundung der Einleitung gegeben haben.

    Irgendwann Ende 2010, wir hatten soeben gemeinsam eine groe Internationale Commons-Konferenz bewltigt, sa ich im einzigen Sessel der Wohnung von Heike Lschmann von der Heinrich-Bll-Stiftung und schwadronierte von der Struktur eines Buches, das man unbedingt mal machen muss. Die Struktur hat sich seither mehrfach verndert. Die groartige Untersttzung von Heike Lschmann nicht. Sie hat den Entstehungsprozess dieses Bandes von Anfang an begleitet. Ich bin ihr fr das intensive Mitdenken und die wunderbare Zusammenarbeit sehr verbunden. Dank gilt auch ihrem Team in der Heinrich-Bll-Stiftung, insbe

  • 25 Silke Helfrich Danke

    sondere Simone Zhr und Joanna Barelkowska, sowie dem Lektor Bernd Rheinberg. Barbara Unmig aus dem Vorstand der Stiftung frderte (und forderte) seit 2007 das intensive Nachdenken ber eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Das war Antrieb und Ermutigung fr uns. Im Namen der Commons Strategies Group geht ein groes Dankeschn an sie.

    Oft nrgelte ich zu Hause darber, dass ein Artikel fast fertig erscheint und es doch nicht ist; dass die Neufassung eines Gedankens in deutscher Sprache so viel Kraft brauchen kann wie die sorgfltige Durchsicht eines ganzen Beitrags. Meine Familie hat es ermunternd hingenommen.

    Sicherlich kann ich nicht jeden beim Namen nennen. Es sind einfach zu viele, aber ich freue mich, dass unseren Lesern und allen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben, das hier versammelte Wissen unter einer Copyleft-Lizenz weitergegeben werden kann. Es ist ein groes Glck, dass wir fr die Publikation nicht einfach einen Verlag gefunden haben, sondern einen Kooperationspartner, der den Mut hat, ins Oene zu gehen. Karin Werner und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom transcript Verlag gilt mein ganz besonderer Dank. Experimentierfreude und neue soziale Praktiken braucht diese Welt.

    Jena, im Januar 2012

    Silke Helfrich

  • Die Definition von Wahnsinn ist: wieder und wieder das Gleiche zu tun und zu erwarten, dass dabei jedesmal anderes herauskommt. Rita Mae Brown

  • Kapitel I

    Commons.

    Ein Paradigmenwechsel

  • Mein steiniger Weg zu den Commons Ein Rckblick

    Jacques Paysan

    Die Pyrenen. Sie sind nicht allzu hoch

    ihre Linien sind sanft geschwungen, der

    scharfe Grat ist hier selten, und alle Kup

    pen sind rund. Es ist wie erstarr te Musik in

    diesen Hhenzgen.

    Kurt Tucholsky, 1927

    Wir stehen auf dem Col de Peyreget, wo ein kleines Schild eine Hhe von 2.320m ber dem Meeresspiegel anzeigt. Nicht allzu hoch also, ich bin trotzdem auer Atem. Vermutlich ist aber nicht der Berg daran schuld, sondern meine mangelhafte Kondition. Die runden Kuppen kann ich nicht sehen. Sie dsen im Morgennebel vor sich hin. Es duftet nach Thymian und feuchtem Gras. In der Ferne hrt man Schafglocken.

    Dort unten, sage ich und zeige ins Tal. Sie blickt suchend in die Tiefe. Siehst du sie?, frage ich. Die Schafe! Die Schafe von Garrett Hardin.

  • 29 Jacques Paysan Mein steiniger Weg zu den Commons

    Sie verdreht die Augen. Garrett Hardin? Lass mich blo mit Garrett Hardin in Ruhe, gibt sie zurck

    und macht sich an den Abstieg. Ich schaue ihr nach und muss lachen. Als wir uns kennenlernten, hatte ich noch nie von Hardin gehrt. Auch nicht

    von seinem Nutzenoptimierer, der so lange Vieh auf die Weide treibt, bis die leergefressene Grasnarbe verdet von der Tragedy of the Commons also.

    Commons? Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Ich schaue zurck zu den Schafen und nehme einen Schluck aus der Wasser

    asche. Dann folge ich ihr. Seit unseren ersten Gesprchen ber die Commons hat sich mein Blick in die

    Welt dramatisch verndert. Ich habe einen klaren Standpunkt zu den Commons: Commons? Einfach genial!

    Es war ein steiniger Weg bis zu diesem Punkt. Dagegen war unser Aufstieg zum Col de Peyreget ein Zuckerschlecken. Am schwersten tat ich mich mit dem Unterschied zwischen Ressourcen und Commons. Dieser Lernprozess erinnert mich an das Bild, in dem man entweder zwei Gesichter oder eine Vase sieht. Das dominierende Bild verdrngt die komplementre Kontur aus unserer Wahrnehmung bis der Groschen fllt. Dann sind beide Aspekte pltzlich problemlos erkennbar. Ist es nicht erstaunlich? Die Commons verstecken sich in Missverstndnissen, wie die Bergkuppen im Nebel.

    Was also sind Commons?

    Eine Wiese, auf der die Hirten gemeinsam ihre Schafe weiden? Nein?

    Eine Sozialbeziehung, die den Zugang der Schafe zur Wiese regelt?

    Damals sthnte ich und raufte mir die Haare. Was sollte das sein: eine Sozial

    beziehung, auf der die Schafe weiden? Mein Groschen el erst mit ei-nem Beispiel, das wenig mit Politik und Schafen

    zu tun hat: dem Bergsteigen! Ich bleibe stehen und lausche. Aus der schroen Felswand, an deren Fu wir

    gera de wandern, hrt man das Klirren der Karabiner und die Rufe der Kletterer, die ihre Krfte mit der Schwerkraft messen.

    Einst eine Extremsportart, treibt das Klettern heute Tausende in Hallen und Felswnde. Der Berg und die Route bilden die Ressource. Die aktiven Kletterer, das sind die Commoners, die sich eigenstndig auf komplizierte Regelwerke geeinigt haben: Verhaltensregeln und Schwierigkeitsgrade. Einfach war das nicht und koniktfrei schon gar nicht. Aber heute sind die Dierenzen berwunden. Die Kletterer kmmern sich um die Routen, sorgen fr stabile Verankerungen, die vor gefhrlichen Strzen bewahren, zeichnen Routenskizzen

  • 30 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    und bezeichnen die Passagen mit einfallsreichen Namen. Auch Konikte mit Naturschtzern versucht man einvernehmlich zu lsen, was manchmal die Hilfe von Behrden erfordert.

    Schutzrechte und Patente gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Cracks unter den Kletterern ernden stndig neue Routen und laden alle Welt dazu ein, sich daran zu versuchen. Dabei gilt die Regel: Dont leave footsteps! Ermgliche nachfolgenden Kletterern, die Route in dem Zustand zu entdecken, in dem du sie entdeckt hast. Einige der so entstandenen Routen sind weltberhmt, wie The Nose am El Capitan im kalifornischen Yosemite-Nationalpark. In Tausenden von Jahren aber, wenn die Kletterer lngst ausgestorben sind, werden diese Felsen dort immer noch stehen. Ein Commons sind sie dann nicht mehr, denn das Commons ist die Sozialbeziehung: der Klettersport und nicht der Fels.

    Meine Begleiterin ist lngst ber alle Berge, und ich msste mich sputen, um sie einzuholen. Stattdessen stolpere ich durchs Gerll, versunken in philosophische Betrachtungen. Aber die Commons haben mir eben die Augen genet. Und wie!

    Heute sehe ich berall Commons. In jedem Park, in dem Menschen zusammen Boule spielen, ein Glas Wein trinken und reden. An den Wasserquellen in Baktapur, wo die nepalesischen Frauen lange Schlangen mit ihren Wasserkrgen bilden und dort nach fr uns unsichtbaren Regeln Trinkwasser abfllen. Wenn ich mit meinem Sohn zum Angeln gehe oder mit rzten ber satellitengesttzte Telemedizin diskutiere, mit deren Hilfe ein Arzt in Zentralafrika die Expertise von Kollegen in Grobritannien nutzen knnte, wenn, ja wenn wir die Nutzung dieser Expertise als ein Commons und nicht als eine kommerzielle Dienstleistung organisieren wrden. Das Kaleidoskop der Commons ist bunt, und die Liste der Mglichkeiten, die ich sehe, wchst mit jedem Gedanken.

    Unten im Tal blken die Schafe. As a rational being, schrieb Hardin 1968, each herdsman seeks to maximize his gain. Als rationales Wesen versucht also jeder Schfer seine Gewinne zu maximieren? Als sei der Schfer dmmer als das Schaf. Als wre er nicht imstande, sich mit Kollegen auf Regeln zu einigen, die eine nachhaltige Nutzung der Wiese im Interesse aller sichern. Wie bizarr erscheint mir heute dieser Kurzschluss im Gehirn, der uns blind macht fr die Tatsache, dass Menschen sich kooperativ verhalten wollen, wenn auch andere dies tun. Das unselige Bild vom Nutzenmaximierer versperrt uns die Sicht auf die Commons wie ein Brett vor dem Kopf.

    Mir fllt ein Satz ein, den ich vor zwanzig Jahren in meiner Dissertation geschrieben habe: Seit Charles Darwin 1871 die gemeinsame Abstammung von Mensch und Ae postulierte, hat der Mensch versucht seinen prinzipiellen Unterschied zum Affen zu denieren (Paysan 1994). Damals kam es mir gar nicht in den Sinn, die Frage selbst zu beantworten, aber heute erscheint mir die Lsung dieses Problems ganz einfach. Es ist das Broca-Areal, das Sprachfeld der Hirnrinde, das nur beim Menschen existiert. Und die Sprache ist das wichtigste Werkzeug der Kooperation. Jeder Wurm mit seinem Strickleiternervensystem kann konkurrieren, und wenn es nur um ein Erdloch ist. Was aber den Menschen ausmacht, ist die Fhigkeit zur vorausschauenden Kooperation auf abstraktem Niveau und in hchster Perfektion.

  • 31 Jacques Paysan Mein steiniger Weg zu den Commons

    Beim Versuch, meine Begleiterin einzuholen, stolpere ich ber einen Stein und lande unsanft auf dem Boden. Alles zu seiner Zeit, denke ich und setze mich ins Gras. Die Thematik ist komplex und nicht im Gehen zu lsen. Auch Konkurrenz braucht ihren Raum. Ungeteilte Aufmerksamkeit zum Beispiel ist ein hart umkmpftes Gut. Wenn es um Anerkennung und Zuneigung geht, ndet Kooperation oft ein jhes Ende. Im Vergleich zu den potentiellen Problemen in einer Paarbeziehung ist die Frage, wie wir unseren Umgang mit Algorithmen und Melodien, mit Rezepten, Literatur und wissenschaftlicher Erkenntnis, mit geistigem Eigentum, Autorenrechten und dem Zugang zu Badestrnden und Bildung regeln knnten, ja geradezu ein Kinderspiel. Aber wer sagt eigentlich, dass es einfach sein muss?

    Apropos schwierig! Die hrtesten Auseinandersetzungen hatten wir um Patente und ber das Copyright.

    Warum sollte jemand von einem Text protieren, den er frech von mir abgekupfert hat?, fragte ich noch vor kurzem emprt.

    Warum eigentlich nicht?, denke ich heute. Solange er mich als Autor nennt.

    Was Tucholsky betrit, so zitiere ich ihn jedenfalls oft und gerne und sein Werk ist inzwischen gemeinfrei und von verwertungsrechtlichen Brden erlst.

    Erlst vom Gebirge, so schrieb er 1927, erlst vom Klettern und Steigen. In meinem Herzen liegt eine kleine Flocke, eben geboren, ein Ei: Sehnsucht nach den Pyrenen.

    Literatur

    Paysan, Jacques (1994): GABAA-Rezeptor-Subtypen als Area-Marker in der Ontogenese des cerebralen Neocortex, Universitt Zrich.

    Tucholsky, Kurt (1927): Ein Pyrenenbuch, Rowohlt.

    Abbildungen

    Fotos: Jacques Paysan

    Jacques Paysan (Deutschland) ist promovier ter Neurobiologe und Commons-Fan und lebt in Mnchen. Ein Teil der Geschichte aus seinem Beitrag ist auf dem Blog http://

    pyrenaeen.wordpress.com illustrier t.

  • Wirtschaft der Verschwendung Die Biologie der Allmende

    Andreas Weber

    ko-logisch: Die wahre konomie der Biosphre

    Es gibt eine seit Milliarden von Jahren erfolgreiche Allmendewirtschaft: die Biosphre. Deren ko-logie ist jener irdische Haushalt von Energie, Stoen, Wesen, Beziehungen und Bedeutungen, der die menschengemachte ko-nomie enthlt und erst ermglicht. Licht, Sauersto, Trinkwasser, Klima, Boden, Energie versorgen auch den Homo oeconomicus der Gegenwart, der sich nach wie vor von Erzeugnissen der Biosphre ernhrt.

    Die Natur ist das gemeinwirtschaftliche Paradigma par excellence. Damit meine ich nicht nur, dass der Mensch mit den brigen Wesen whrend einer berwltigenden Zeitspanne nach den Standards einer Commons-Wirtschaft zusammenlebte. Ich bin vielmehr berzeugt, dass die Beziehungen innerhalb der Biosphre nach Allmendegesichtspunkten verlaufen. Darum kann uns die Natur eine schlagkrftige Methodologie fr die Allmende als eine neue natrliche und soziale kologie liefern. Eine solche existentielle kologie der Allmende soll hier skizziert werden.

    Wirtschaftsliberalismus als heimliche Metaphysik des Lebens

    Aber von welcher Natur ist die Rede? Um den Haushalt der Lebewesen ohne die Lasten der liberalistischen konomie bzw. Natur-Metaphorik zu betrachten, ist es zunchst ntig, ko-logie und ko-nomie des natrlichen Haushaltens neu zu verstehen. Wir knnen dabei in der Natur eine Entfaltungsgeschichte der Freiheit erkennen, zu der hin sich autonome Subjekte in gegenseitiger Abhngigkeit entwickeln. Diese Auassung steht freilich im Gegensatz zum gngigen Bild des Lebens und Stoaustausches in Biologie und Wirtschaftslehre.

    Wenige Modelle der Wirklichkeit waren in den letzten 200 Jahren so eng miteinander verschwistert wie die Theorie der Natur und die Theorie unseres Haushaltens. Beide Disziplinen fanden ihre heutige Form im viktorianischen England, beide prgten die entscheidenden Metaphern der jeweils anderen. Das fhrte dazu, dass Zustnde der Gesellschaft auf den Kosmos abgebildet und die dort naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse wieder auf die Gesellschaft projiziert wurden.

  • 33 Andreas Weber Wir tschaf t der Verschwendung

    So lieferte Thomas Robert Malthus, ein politischer konom, mit der Idee von berbevlkerung und Ressourcenknappheit dem Biologen Charles Darwin das entscheidende Puzzlestck fr die These vom berleben des Fittesten. Diese erhob Daseinskampf, Konkurrenz, Wachstum und Optimierung stillschweigend zu Axiomen unseres Selbstverstndnisses. Biologischer, technischer und sozialer Fortschritt werden allein aus der Summe einzelner Egoismen geboren: Im immerwhrenden Wettkampf erschlieen sich Arten (Firmen) ihre Nischen (Mrkte) und erhhen so ihre berlebenschancen (Gewinnmargen), whrend schwchere (weniger eziente) zugrunde gehen (Konkurs anmelden). Die daraus entstandene Wirtschafts- und Bio-Metaphysik enthlt jedoch weniger eine objektive Weltbeschreibung als ein Urteil der Zivilisation ber sich selbst.

    Die konomie sah sich zunehmend als harte Naturwissenschaft. Sie leitete ihre Modelle aus Biologie und Physik ab bis hin zum mathematischen Begri des Homo oeconomicus. Dieser ein maschinengleich seinen Nutzen maximierender kooperationsfeindlicher Egoist entwickelte sich zum heimlichen Modell des Humanen.1 Umgekehrt protierte auch die Evolutionsbiologie von konomischen Modellen. Das egoistische Gen ist kaum etwas anderes als ein auf die Biochemie zurckgespiegelter Homo oeconomicus (vgl. Dawkins 1978).

    Man knnte die Allianz zwischen Biologie und Wirtschaft eine konomische Naturideologie nennen. Diese regiert heute unser Verstndnis von Mensch und Kosmos. Sie deniert sowohl unsere krperliche Seite (den Homo sapiens als gengesteuerte berlebensmaschine) als auch unseren gesellschaftlichen Aspekt (den Homo oeconomicus als egoistischen Nutzenmaximierer). Die Ratio hinter dem Wettkampf ums berleben ist immer rival und exklusiv2: Es geht darum, so viele Mitspieler wie mglich auszuschalten und sich das grte Stck vom Kuchen zu sichern, kurz: den anderen Leben zu stehlen. Geistesgeschichtlich war die Neuerndung der Natur als konomischer Konkurrenz- und Optimierungsprozess eine zentrale Figur in der Einhegung der Allmende. Sie geht als geistige enclosure den realen Enteignungen und Vertreibungen voraus und legitimiert sie. Historisch fallen die ersten Umwandlungen von Gemeineigentum in Privatkapital in die frhe Neuzeit (ca. 1500-1800). In derselben Epoche brach sich im Denken die Vorstellung des franzsischen Denkers Ren Descartes Bahn, dass der menschliche Geist mit dem Krper nichts zu tun habe, dass dieser bloe Sache sei, ein mechanischer Automat, so wie alle brigen nichtmenschlichen Lebewesen auch. Eine solche Auassung ist die Absage an jede Form der Verbundenheit. Die Natur ist hier das Reich blinder Kausalzusammenhnge und somit fr die menschliche Selbsterfahrung als Bezugspunkt nicht mehr verfgbar so wie der griche Wald immer weniger fr den zum Tagelhner herabgestuften Bauern verfgbar war. Die Idee, dass die unmenschlichen Krfte von Optimierung und Selektion das Reich der bloen Dinge und damit letztlich auch uns beherrschen, ist nur die kon

    1 | Zum Homo oeconomicus siehe den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.).

    2 | Die Begrif fe Rivalitt und Exklusivitt werden im Beitrag von Silke Helfrich ab S. 85 erlutert (Anm. der Hg.).

  • 34 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    sequente Steigerung dieses Grundmodells der Entfremdung, des Grundmusters einer seelischen Exklusion.

    Die Einhegung der einst allen frei verfgbaren Natur reicht bis tief in unsere Psyche hinein. Unter Kontrolle geriet zunehmend auch die innere Wildnis des Menschen, der sich immer weniger als verkrperter Teil des wachsenden Ganzen versteht und sich somit in seinen Erfahrungen und Gefhlen vom Rest des Kosmos isoliert erfhrt bis hin zur heute gngigen Idee, Natur existiere nur als Begri, nicht als Realitt, whrend sie real zerstrt wird.

    Die konomische Naturideologie schliet Wildnis, die sich von selbst vervollkommnet und die keinem Wesen gehrt, aus der menschlichen Empndung aus. Keine ber die Prinzipien von Konkurrenz und Optimierung hinausgehende Beschreibung kann noch Allgemeingltigkeit beanspruchen. Eine solche ist nichts als schne Illusion, der in Wahrheit die Triebkrfte des erbarmungslosen Wettbewerbs zugrunde liegen. Liebe reduziert sich auf die Wahl des besten Fortpanzungspartners, Kooperation erscheint als Trick im Ressourcenwettkampf und knstlerischer Ausdruck als konomie der Diskurse.

    Die Enteignung bemchtigt sich des Homo sacer (Giorgio Agamben), jenes tiefsten Kerns individueller Unversehrtheit im Menschen, der die verletzliche Leiblichkeit, die pure Krperexistenz des Menschen enthlt. In ihrer letzten Konsequenz droht die Einhegung der Allmende somit zu Biopolitik zu werden.

    Natrlicher Antikapitalismus

    Eine anderes Haushalten wird greifbarer, wenn sich nachweisen lsst, dass Biologie anders funktioniert als ein Optimierungswettkampf. Ein neues Bild ist tatschlich berfllig, denn mittlerweile wird in der Biologie selbst die Geltung des Paradigmas Alle gegen alle in Frage gestellt. Der biologische Kosmos und darin auch das Bild des Menschen wandelt sich von einem Schlachtfeld feindlicher Optimierungsmaschinen zu einem Reigen von Subjekten, denen ihr eigenes Existieren etwas bedeutet und die ihre Existenzen in einem bedingten Wettbewerb und unter schwacher Kausalitt miteinander aushandeln.

    Diese Wandlung ergibt fr die Schlagwrter des biologischen Liberalismus folgendes Bild:

    1. Ezienz: Die Biosphre ist nicht ezient. Warmblter verbrauchen ber 97 Prozent ihrer Energie allein zur Unterhaltung des Krpers. Die Photosynthese erreicht einen lcherlichen Wirkungsgrad von rund sieben Prozent. Fische, Amphibien und Insekten mssen oft Millionen von Eiern legen, damit ein einziger Nachkomme berlebt. Statt ezient zu sein, ist die Natur redundant: Sie macht mgliche Verluste durch unvorstellbare Flle und atemberaubende Verschwendung wett. Sie ist nicht sparsam, weil die Grundlage aller Arbeit, die Sonnenenergie, als Geschenk vom Himmel fllt.3

    3 | Weitere Beispiele finden sich im Gesprch zwischen Brian Davey, Silke Helfrich, Wolfgang Hschele und Roberto Verzola in diesem Buch (Anm. der Hg.).

  • 35 Andreas Weber Wir tschaf t der Verschwendung

    2. Wachstum: Die Biosphre wchst nicht. Die Menge der Biomasse erhht sich nicht. Der Durchsatz steigert sich nicht: Die Natur betreibt eine Steady- State-konomie4. Auch die Zahl der Arten vermehrt sich nicht notwendig, sie nimmt in manchen Epochen zu, in anderen wieder ab. Was sich aber erhht, ist die Vielfalt von Erfahrung: Empndungsarten, Ausdrucksweisen, Erscheinungsvarianten. Die Natur gewinnt somit nicht an Masse, sondern an Tiefe.

    3. Konkurrenz: Noch nie ist nachweislich eine neue Art aus der Konkurrenz um eine Ressource entstanden. Arten werden vom Zufall geboren: Durch berraschende Mutationen, durch die Isolation einer Gruppe vom Rest ihrer Artgenossen, durch unerwartete Symbiosen, also durch Kooperation. Erhhte Konkurrenz allein etwa um einen begrenzten Nhrsto bewirkt biologisch Verdung.

    4. Knappheit: Die grundlegende energetische Ressource der Natur, das Sonnenlicht, ist im beruss vorhanden. Auch eine zweite entscheidende Ressource, die Zahl kologischer Beziehungen und neuer Nischen, ist nach oben unbegrenzt. Eine hohe Zahl von Arten und die Vielfalt der Beziehungen zwischen ihnen fhren in einem Lebensraum nicht zu verschrfter Konkurrenz und Dominanz eines Strkeren, sondern zu mehr Beziehungen zwischen den Arten und damit zur Steigerung der Freiheit bei Zunahme gegenseitiger Abhngigkeit. Je mehr verschwendet wird, desto grer ist der Reichtum.

    5. Eigentum: In der Biosphre existiert er nicht. Nicht einmal der eigene Krper gehrt einem Individuum sein Sto wechselt und wird dauernd durch Sauersto, CO2 oder Nahrung ersetzt. Sprache ist von der Gemeinschaft der Sprecher hervorgebracht worden. Die Wildnis des von selbst Gewordenen, ber das der Einzelne nicht verfgt, durchzieht dessen innerste Identitt. Jede Individualitt, jedes inmitten anderem Leben gelungene eigene Leben, ist somit einer sowohl biologischen als auch symbolischen Allmende geschuldet.

    Commons-Elemente der Biosphre

    Im Laubwald gelten andere Regeln des individuellen und des gemeinschaftlichen Gedeihens als in einer Trockenwste, denn in der Natur entfalten sich Subjekte unter jeweils komplexen und lokal-spezischen, immer wieder neu entstehenden Beziehungen. Die Gesamtheit dieser Entfaltungen ist der Lebensraum, den die Wesen nicht einfach nutzen, sondern dessen Bestandteile sie sind. Ihr Gedeihen ist an das Gedeihen des gemeinsam hervorgebrachten Systems gekoppelt. Dessen Gesundheit liegt auf einem von Augenblick zu Augenblick neu errungenen prekren Gleichgewicht zwischen zu viel Autonomie des Einzelnen und zu strengen Zwngen durch das Ganze. Die jeweiligen Erscheinungsweisen dieser Balance sind die sinnlichen Formen der Natur jene Schnheit des Lebendigen, welche die meisten Menschen mit dem Gefhl von Sinn und Zugehrigkeit erfllt.

    Die Natur als Ganze ist das Paradigma eines Haushaltes der Gemeingter. Nichts ist in ihr Monopol, alles ist Open Source. Nicht das egoistische Gen ist die

    4 | Zustand einer Wir tschaft, bei dem alle relevanten Gren relativ zueinander konstant sind (Anm. der Hg.).

  • 36 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    Quintessenz des Organischen, sondern der oenliegende Quelltext jeder genetischen Information. Auch die Gene, die heute patentiert werden, sind natrlicherweise nicht rival und nicht exklusiv, und nur so bringen sie Neuheit zustande. Die DNA konnte sich in so viele Spezies versteln, weil alle ihren Code nutzen drfen, weil jeder das fr ihn Sinnvollste daraus basteln kann. So besteht das menschliche Erbgut zu etwa einem Fnftel aus den Genen von Viren. Wie es in der Natur kein Eigentum gibt, so gibt es auch keinen Abfall. Alle Verfallsprodukte sind Nahrung. Jedes Individuum macht sich, wenn es stirbt, einem anderen zum Geschenk, so wie es selbst durch die Gabe des Sonnenlichts seine Existenz empfangen hat. Zwischen Geben und Nehmen herrscht ein Zusammenhang, in dem Produktivitt Verlust bedingt.

    In der kologischen Allmende stehen eine Vielzahl unterschiedlicher Individuen und Arten in mannigfachen Verbindungen Kooperation und Konkurrenz, Partner- und Beuteschaft, Produktivitt und Destruenz. Sie alle folgen jedoch einem bergeordneten Gesetz: Langfristig hat nur solches Verhalten Bestand, welches dem kosystem Produktivitt ermglicht und das Netz der Beziehungen nicht schlagartig zerstrt. Das Individuum kann sich nur selbst realisieren, wenn sich das Ganze realisiert. kologische Freiheit gehorcht dieser Notwendigkeit. Je tiefer die Bezge im Ganzen des Systems werden, desto mehr schpferische Nischen bieten sich fr die einzelnen Teilnehmer.

    Allmende als Lebensbeziehung

    Eine genaue Analyse der konomie der Natur ist in der Lage, eine Ontologie der Allmende zu liefern; das heit: eine allgemeine Theorie der Funktionsprinzipien oder Muster der Allmende,5 welche die Unterscheidung zwischen materiell und sozial zu integrieren im Stande ist. Natrliche Prozesse denieren die Richtschnur, um den Umgang mit dem verkrperten, materiellen Aspekt unserer Existenz in eine Kultur unserer Lebendigkeit zu verwandeln. Der Begri der Allmende (oder Commons) liefert das verbindende Element zwischen dem Natrlichen der von selbst werdenden Welt der Wesen und Arten und dem Sozialen oder Kulturellen der Sphre der vom Menschen mittels symbolischer Systeme, Diskurse und Praktiken gemachten Dinge. Die Natur in ihremgenuinen Allmendecharakter zu verstehen ist ein Weg, uns selbst neu zu verstehen, und zwar sowohl in unserer biologischen wie in unserer sozialen Lebendigkeit.

    Wenn die Natur tatschlich ein Allmendesystem ist, besteht konsequenterweise die einzige Mglichkeit, ein beglckendes Verhltnis zu ihr aufzubauen, in einem Haushalt der Gemeingter. Die Selbstrealisation der Art Homo sapiens ist in einem Allmendesystem gut aufgehoben, da Kultur die arttypische Realisierung unserer Lebendigkeit ist. Eine Gemeinschaft (zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteuren) nach dem Prinzip der Commons zu organisieren heit

    5 | Zur Idee universeller Muster von Commons-Prozessen siehe den Beitrag von Franz Nahrada in diesem Buch (Anm. der Hg.).

  • 37 Andreas Weber Wir tschaf t der Verschwendung

    stets, individuelle Freiheit in und mit der Freiheit der Gemeinschaft zu erhhen (siehe Tabelle).

    Tabelle: Existentielle Auswirkungen verschiedener Arten des Haushaltens

    Neoliberalismus Darwinismus Allmende (kologisch/sozial)

    Konzentration Verdrngung Vielfalt

    Abhngigkeit Ressourcenabhngigkeit Freiheit in Bezogenheit

    Fragmentierung Sequentielle Optimierung Integration

    Kunden berlebenskmpfer Subjekt der Gemeinschaft

    Lokal vs. global Lokal Lokal und global (holistisch)

    Gelingen = Verdrngung Gelingen = Verdrngung Gelingen = Kompromiss

    Patente Beute- und Abwehrmechanismen

    Open source

    Sieger: wer am meisten Ressourcen besitzt

    Sieger: wer die hchste relative Nachkommenzahl hat

    Sieger: wer am tiefsten mit der Gemeinschaft verwoben ist

    Ezienz Ezienz Vielfalt der Ausdrucksformen

    Monopol Dominanz Selbstausdruck als Kultur

    Egos in feindlicher Umwelt

    Arten unter Selektionsdruck

    Prekre Gemeinschaft der Individuen

    System der Trennung Netz der Teilhabe

    Die Wirklichkeit ist, anders als unsere dem Dualismus verhaftete Kultur annimmt, nicht in die zwei Substanzen des deterministisch gedachten Materiellen, der Biophysik, und des freiheitlich verstandenen Immateriellen, der Kultur und Gesellschaft, gespalten. Lebendige Wirklichkeit hngt vielmehr immer und auf jeder Ebene vom Gelingen einer prekren Balance zwischen Autonomie und Bezogenheit ab von einem schpferischen Prozess, in dem historisch und lokal einmalige Prinzipien fr die Steigerung des Ganzen durch die Selbstrealisierung des Einzelnen geschaen werden und umgekehrt. Es sind Funktionsprinzipien, die eine stets fragile Balance zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zum Ziel haben. Diese Grundstze gelten fr die Autopoiese, die Selbstherstellung des Organischen, ebenso wie fr eine gelungene menschliche Beziehung, fr das Gedeihen eines kosystems genauso wie fr gelingendes Wirtschaften im Einklang mit den Stohaushalten der Erde. Es sind die Gesetze der Allmende.

    Der Allmendegedanke ist somit das vereinende Band fr eine Weltsicht, die nicht lnger vom Gegensatz Natur Gesellschaft/Kultur ausgeht, sondern von den vielfltigsten Gemischen zwischen Kulturen und Naturen. Er hebt die Konkurrenz zwischen dem kologischen und dem Sozialen auf. Im Kern einer jeden Existenz, die sich der Allmende verpichtet, liegt die Problematik, wie das Gedeihen des Einzelnen unter Steigerung des ihn enthaltenden und tragenden Ganzen realisierbar ist. Genau an diesem Punkt kehren die theoretischen berlegungen in die Praxis zurck, in die Rituale und Idiosynkrasien des Vermittelns, Kooperierens, Sanktionierens und Einigens. Auch hier ist die Praxis der Allmende nichts anderes als die Praxis des Lebens.

  • 38 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    Literatur

    Dawkins, Richard (1978): Das egoistische Gen, Reinbek bei Hamburg.

    Andreas Weber (Deutschland) ist promovier ter Biologe, Philosoph und Autor. Sein Denken und Schreiben dreht sich um die Beziehung zwischen menschlichem Selbstver

    stndnis und der Natur. Er lebt in Berlin und Varese/Italien. Seine Aktivitten kann man

    unter http://autor-andreas-weber.de ver folgen.

  • Wir werden nicht als Egoisten geboren

    Friederike Habermann

    Die Frau schreibt einen Brief, doch dann fllt ihr der Stift zu Boden. Sie beugt sich ber den Schreibtisch und versucht, nach ihm zu greifen, schat es aber nicht. Da erkennt der kleine Junge, dass er ihr helfen kann. Er geht zum Stift, hebt ihn auf und reicht ihn der Frau.

    Es handelt sich um ein Experiment mit 20 Monate alten Kindern: In einer ersten Phase zeigen sich fast alle hilfsbereit gegenber Erwachsenen, denen Gegenstnde entgleiten und die sich scheinbar vergeblich bemhen, sie wieder aufzuheben. Danach werden die Kinder willkrlich auf drei Gruppen verteilt: In der ersten reagiert die erwachsene Person gar nicht auf die Hilfe des Kindes, in der zweiten lobt sie das Kind und in der dritten belohnt sie es mit einem Spielzeug. Ergebnis: Whrend die Kinder der ersten und zweiten Gruppe weiterhin wie selbstverstndlich helfen, zeigen die Kinder der dritten Gruppe berwiegend nur noch dann Hilfsbereitschaft, wenn sie dafr belohnt werden (Warneken/Tomasello 2008).

    Die Szene ist rhrend, beginnt der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch Die Kunst, kein Egoist zu sein sein Kapitel Was Geld mit Moral macht. Gemeint ist zunchst ein ganz hnlicher Versuch mit 14 Monate alten Kindern, die Erwachsenen helfen, eine Schranktr zu nen (Precht 2010: 314). Wer mchte, kann sich diese Experimente des Leipziger Max-Planck-Instituts fr Evolutionre Anthropologie im Internet anschauen.1 Doch das mit der dritten Kindergruppe ndet sich dort nicht, und oen gestanden: Ich wrde es nicht sehen wollen. Es wre mir zu traurig.

    In einem Artikel mit dem Titel Der Gummibrcheneekt ber monetre Anreize fr Mitarbeiter ndet sich im Internet auf der Plattform fr Innovationskultur folgendes Debakel, das der Wissenschaft lange bekannt ist: Man erzhle auf einem Kindergeburtstag eine spannende Geschichte von Piraten, Drachen und einem versunkenen Schatz. Anschlieend lsst man die Kinder Bilder zur Geschichte malen. Die Kinder strzen sich auf das Papier und zeichnen passioniert Piratenbuchten, Seeungeheuer und detaillierte Flotten von Piraten-schien. Nun wird das Experiment variiert, und man fhrt ein Incentive-System

    1 | Webseite des Max-Planck-Instituts: http://email.eva.mpg.de/~warneken/video (Zugrif f am 17.07.2011).

  • 40 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    ein. Fr jedes fertige Bild bekommt das Kind ein Gummibrchen. Zunchst ist die Begeisterung gro, doch schlagartig werden zwei Typen von Kindern sichtbar: Die Knstlerpersnlichkeiten arbeiten weiter mit gleichem Eifer an ihren Kunstwerken und nehmen die Belohnung als positiven Nebeneekt mit. Die Unternehmerpersnlichkeiten hingegen steigen in die Massenproduktion ein: Nach dem Motto Punkt, Punkt, Komma, Strich fertig ist das Mondgesicht werden die Bilder immer schlampiger und schneller produziert. Als Zeichen ihres Erfolges trmen die Unternehmerpersnlichkeiten Gummibrchen vor sich auf. Die vllig in ihren Bildern vertieften Knstlerpersnlichkeiten nehmen im Augenwinkel die Gummibrchenberge der Kollegen wahr und verlieren langsam, aber sicher die Lust an den Details ihrer Werke []. Es folgt die letzte Phase des Experiments: Die Spielregeln werden erneut gendert, erklrt, dass die Gummibrchen aufgebraucht sind. Schlagartig verlieren nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Knstler ihre Motivation. Die Einfhrung und Abschaung eines Incentive-Systems hat aus einer hoch motivierten Rasselbande einen mies gelaunten Mob gemacht.2

    Experimente mit Erwachsenen laufen auf hnliches hinaus. So hatte der konom Uri Gneezy bemerkt, dass im Kindergarten seiner dreijhrigen Tochter die Einfhrung einer Strafgebhr fr Eltern, die ihr Kind nachmittags zu spt abholten, nicht zu dem gewnschten Ergebnis fhrte. Daraufhin lie er gemeinsam mit seinem Kollegen Aldo Rustichini in Haifa, Israel, in zehn anderen Kindergrten prfen, wie viele Eltern zu spt kamen. Dann wurde ab einer Versptung von zehn Minuten jeweils ein Bugeld von zehn Schekel (etwa zwei Euro) eingefhrt. Ergebnis: Nun kamen im Schnitt mehr als doppelt so viele Eltern zu spt. Und selbst nachdem das Bugeld wieder abgeschat wurde, blieb es dabei. Was vorher eine soziale Qualitt gewesen war die betreuende Person nicht warten zu lassen , war nunmehr zu einer Quantitt degradiert, die das Verantwortungsgefhl noch weniger stimulierte. Dass es das Zusptkommen dann wieder umsonst gab, mag den Eltern wie ein Sonderangebot erschienen sein (Gneezy/Rustichini 2000).

    Precht spricht von der seltsamen Macht des Geldes: Es zerstre in uns den Sinn fr [] die individuellen Qualitten, fr das Seltene und Flchtige, fr den Moment, fr die Nhe und so weiter. Alles klingt farblos und indierent, wo das Geld den Taktstock schwingt. Das Leben erscheint vllig versachlicht so sehr, dass alles auer dem Geld an Bedeutung verliert (Precht 2010: 319).

    Auch von Wirtschaftswissenschaftlern durchgefhrte Kooperationsspiele mit Erwachsenen widersprechen zunchst dem ihrer Disziplin zugrunde liegenden Menschenbild des Homo oeconomicus, welcher stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist; stattdessen zeugen sie von der Neigung, sich fair zu verhalten allerdings nur solange, bis der erste Egoist auftritt (vgl. Precht 2010: 394f)3. Dabei ist es keine berraschung, dass beim Vergleich mit anderen Studierenden die Studie

    2 | Siehe unter: http://www.die-erfinder.com/innovationskultur/der-gummibarchen-effektmonetare-anreize-sind-fuer-mitarbeiter-nicht-alles (Zugriff am 16.08.2011) (Rechtschreib

    fehler im Zitat wurden korrigiert).

    3 | Precht bezieht sich hier auf Experimente von Ernst Fehr.

  • 41 Friederike Habermann Wir werden nicht als Egoisten geboren

    renden der Wirtschaftswissenschaften die ersten sind, die in solchen Spielsituationen die Kooperation aufgeben und unkooperative Strategien beginnen: Der Homo oeconomicus ist das, was sie tagtglich lernen.

    An dem grten derartigen Experiment nehmen wir alle teil: die moderne Geldwirtschaft. Auch ihr liegt das Menschenbild des Homo oeconomicus zugrunde. Dieser wird im Duden-Fremdwrterbuch (2005) beschrieben als der ausschlielich von wirtschaftlichen Zweckmigkeitserwgungen geleitete Mensch. Zudem bezeichne er gelegentlich den heutigen Menschen schlechthin denn, siehe oben, die Reduktion des Lebens auf Verwertbarkeit, Egoismus und Konkurrenz ist das, was wir alle tagtglich lernen.

    In seinem Buch Homo oeconomicus verteidigt der Volkswirtschaftler Gebhard Kirchgssner diesen als gar nicht so unsympathisch, verhalte er sich doch ebenso desinteressiert vernnftig wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die den Mann, der unter die Ruber gefallen war, sahen und vorbeigingen: Soweit er zu seinem Nchsten nicht in einer besonderen Beziehung stehe, bedeute es ihm nichts, ob es diesem gut oder schlecht gehe (Kirchgssner 2000: 47). Eben dies sei der Vorteil der modernen konomischen Theorie: Sie geht von einem realistischen Menschenbild aus und [] behauptet nicht, dass sie unter anderen Bedingungen besser werden (ebd.: 27). Precht kommt zu einem anderen Schluss: Strenges und hartes Nutzenkalkl, Rcksichtslosigkeit und Gier sind nicht die Haupttriebkrfte des Menschen, sondern das Ergebnis einer gezielten Zchtung. Den Ursprung des Egoismus durch kapitalistische Zuchtwahl knnte man diesen Prozess nennen in Anlehnung an das berhmte Hauptwerk von Charles Darwin (Precht 2010: 394).

    Feministinnen diskutieren seit ber zwei Jahrzehnten einen poststrukturalistischen Ansatz, der die Tatsache, dass der Mensch mit seinem sozialen Kontext verwoben ist, ebenso theoretisch zu fassen versucht wie die andere Tatsache, dass Menschen diesen Kontext selbst immer wieder konstruieren und ihn dabei verndern. Deshalb sind unsere Krper und (Mit-)Gefhle nur zusammen mit all dem denkbar, was uns prgt; aber dennoch sind wir mehr als ein leeres Blatt, welches rein passiv vom gesellschaftlichen Diskurs beschrieben wird (Habermann 2008). Sicher sind wir keine autonom denkenden und empndenden Individuen, sondern mit unserem ganzen Sein Teil unserer Gesellschaft. Woher aber sollte Mitgefhl kommen, wenn nicht aus uns Menschen?

    Erkenntnisse der Epigenetik zeigen, wie unsere Biologie, einschlielich unserer Gene, gar nicht gedacht werden kann ohne die jeweiligen Umwelteinsse. Der kanadische Arzt und Autor Gabor Mat betont, niemand sei zu trennen von der Umgebung, in der er oder sie aufwachse. Die allein genetische Argumentation erlaube, nicht zu hinterfragen, was es an sozialen, politischen oder konomischen Bedingungen gebe, indem man sich auf eine fundamentale und unvernderliche menschliche Natur berufe. Entsprechend unterliege unserer auf Wettbewerb ausgelegten Gesellschaft der Mythos, Menschen seien von Natur aus kompetitiv, individualistisch und eigenntzig. Im Gegenteil aber sei nur in einer einzigen Hinsicht von menschlicher Natur zu sprechen, und das sei die Existenz bestimmter menschlicher Bedrfnisse: Wir haben als Menschen ein Bedrfnis nach Gesellschaft und engem Kontakt; danach, geliebt zu werden, Anschluss zu haben, ak

  • 42 Kapitel I Commons. Ein Paradigmenwechsel

    zeptiert zu werden, gesehen zu werden; fr das angenommen zu werden, was wir sind. Wenn dieses Bedrfnis erfllt wird, entwickeln wir uns zu mitfhlenden und kooperativen Menschen, die Empathie fr andere haben.4 In unserer Gesellschaft sei aber oft das Gegenteil zu beobachten was zu anderen Charaktereigenschaften fhre.

    Ohne diese als essentiell und ahistorisch vorauszusetzen, wird auch im poststrukturalistischen Feminismus davon ausgegangen, dass sich solche Bedrfnisse, sofern sie unerfllt bleiben, als Melancholie in der Psyche eines Subjekts niederschlagen. Hanna Meiner spricht von einem Verlust, der nicht betrauert werden kann, weil er als Verlust gar nicht bewusst ist, da die verlorene oder ausgeschlossene Lebensoption im Rahmen der symbolischen Ordnung als mgliche Option gar nicht denkbar ist (Meiner 2008: 30).

    Was dies fr eine Suche nach einer glcklicheren Gesellschaft bedeutet, ist oensichtlich. Jedes Mal, wenn behauptet wird, es knne keine bessere Gesellschaft geben und kein weniger auf Selbstsucht beruhendes Wirtschaftsmodell, denn die Menschen seien nun mal so, knnen wir mit Richard David Precht entgegnen: Wir werden nicht als Egoisten geboren, wir werden dazu gemacht (Precht 2010: 316).

    Die Erkenntnis, dass materielle Belohnungen den Charakter verderben, so Precht, habe etwas zutiefst Verstrendes. Schlielich beruhe unser ganzes Wirtschaftssystem auf einem solchen Tauschhandel. Und wenn konomie die Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln ist, wie dies unter anderem von dem konom Karl Homann behauptet wird was ist das dann fr eine Ethik, wegen der tglich Zigtausende Menschen verhungern? Jene, die nicht gengend zum Tausch anzubieten hatten.

    Entsprechend lautet die Frage, wie Menschen sich ohne eine, auch von Precht als illusorisch dargestellte, Grokritik unseres gesamten Wirtschaftssystems dieser seltsamen Macht des Geldes entziehen knnen sollten? Zu Recht bezeichnet der Sozialpsychologe Harald Welzer die sogenannte Realpolitik als Illusionspolitik, wenn man sieht, wie sehr vor dem Ausma der weltweiten gesellschaftlichen Katastrophen die Augen verschlossen werden. Insofern sei nur utopische Politik realistisch: Fetischisierung und Sakralisierung von Wachstum und solchen im Grunde genommen Pseudokonzepten aus der Vergangenheit fhren zu illusionren Wirklichkeiten wie Realpolitik wirklich nur die Herstellung einer Illusion eines Status quo ist, der gar nicht mehr existiert. Das heit, was im Moment Realpolitik ist, ist Illusionspolitik, und was Utopismus ist, ist Realismus weil utopisches Handeln bzw. eine utopische Handlungsmaxime sind insofern ja realistisch, als sie davon ausgehen, so wie jetzt knnen wir einfach nicht weitermachen, und es muss einen ganz fundamentalen Wandel geben, und zwar keinen Wandel [] im Kontext bestehender Praktiken, sondern was wir brauchen ist eine Vernderung des Rahmens selber, der Praktiken selber.5

    4 | Zitat aus dem Film Zeitgeist Moving Forward (2011); siehe unter: http://www.youtube. com/watch?v=AQNktvqGkkQ (Zugrif f am 19.08.2011).

    5 | Harald Welzer auf der Utopia-Konferenz 2009; siehe unter: http://www.youtube. com/watch?v=Ov-gnuj3wY8&feature=related (Zugrif f am 16.08.2011).

  • 43 Friederike Habermann Wir werden nicht als Egoisten geboren

    Welzer antwortet auf Prechts Frage nach einer sozialen und kologischen Radikalerneuerung auf demokratischem Weg mit einem Pldoyer fr die Vernderung kultureller Praxis man msse sie als politisch verstehen.6

    hnlich verorten nicht zuletzt Feministinnen seit Jahrzehnten Ansatzpunkte fr eine andere Wirtschaftsweise in den dissidenten Praktiken (Carola Mller) des Alltags. Dies bedeutet nicht, dass andere Rume des Politischen bedeutungslos wren, doch bilde die Vernderung unserer tglichen Praktiken in einer Form, die eben auch den Rahmen dieser Praktiken zu verndern vermag, eine wesentliche Grundlage: Wenn wir verstanden haben, dass es uns Menschen nur verwoben mit unserer Umwelt gibt, verstehen wir auch, dass neue Denk- und Handlungshorizonte nur im Zusammenspiel mit der vernderten Umwelt, sprich: mit einem vernderten materiell-konomischem Alltag entstehen.

    Die Gesellschaft formt uns mageblich, so ebenfalls Robert Maurice Sapolsky, Professor fr Neurologie an der Stanford University. Unterschiedliche Gesellschaften individualistische und kollektivistische brchten ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Denkweisen hervor. Und er warnt: In einer Welt, in der es um Aufstieg gehe, in der Menschen sich als Teil unterschiedlicher Schichten denierten wie im heutigen Kapitalismus, htten sie nur wenige ebenbrtige Menschen, mit denen sie reziproke, ebenbrtige Beziehungen verbinden. Dies aber fhre zu weniger Altruismus.7

    Der englische Ausdruck fr ebenbrtige Menschen, welchen Sapolsky benutzt, heit peers. Commons-based peer production nennt der Harvard-Professor Yochai Benkler die Art und Weise, wie Freie Software entsteht ein Phnomen, das die auf den Homo oeconomicus gesttzte Theorie nicht zu erklren imstande ist.8

    Erst im Nachklang meines Buches Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften (2009) ber Anstze alternativen Wirtschaftens im deutschsprachigen Gebiet wurde mir deutlich, dass dies im Grunde ebenfalls die Prinzipien sind, die sich aus den jngeren Initiativen herauslesen lassen. Etwas weniger umstndlich spreche ich hier von Ecommony, doch der Gedanke von Sapolsky macht mich nachdenklich, ob das peer nicht zu wichtig ist, um es auszulassen. Denn aus diesen Grundstzen ergibt sich und das ist der entscheidende Punkt strukturelle Gemeinschaftlichkeit (Stefan Meretz), welche Kooperation statt Konkurrenz frdert und Menschen andere Ent