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simon beckett DER HOF Thriller Aus dem Englischen von Juliane Pahnke Wunderlich

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simon beckett

DER HOFThriller

Aus dem Englischenvon Juliane Pahnke

Wunderlich

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

«Stone Bruises» bei Bantam Press in London.

1. Auflage Februar 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

«Stone Bruises»

Copyright © 2014 by Hunter Publications Ltd.

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Redaktion Susann Rehlein

Satz Sabon PostScript (InDesign)

Gesamtherstellung CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978 3 8052 5068 9

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In Erinnerung anFriederike Kommerell

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kapitel 1

Der Wagen fährt auf den letzten Tropfen. Seit Stundenkeine Tankstelle, und die Tankanzeige ist tief in den ro-ten Bereich gerutscht. Ich muss von der Straße runter,aber die Felder erstrecken sich endlos zu beiden Seitenund zwingen mich, immer weiter geradeaus zu fahren,bis der Motor den Geist aufgibt. Es ist noch früher Mor-gen, doch dieser Tag wird heiß und trocken. Der Wind,der durch die offenen Fenster hereinweht, bringt keineKühlung.

Ich fahre über das Lenkrad gebeugt und rechne jedenMoment damit, dass der Motor ausgeht. Dann sehe icheine Lücke in der grünen Barriere. Zu meiner Linkenschneidet ein Feldweg eine Bresche zwischen zwei Wei-zenfelder. Ich lenke den Wagen von der Straße auf denholprigen Weg. Mir ist egal, wohin er mich führt, solangeich dort nur in Deckung bin. Ich erreiche ein Wäldchen.Äste kratzen an den Fenstern, als ich den Audi hineinlen-ke und den Motor ausschalte. Im Schatten der Bäume istes kühler. Die Stille wird nur vom leisen Ticken des Mo-tors und fließendem Wasser durchbrochen. Ich schließedie Augen und lehne den Kopf nach hinten. Aber ichhabe keine Zeit, mich auszuruhen.

Ich muss in Bewegung bleiben.

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Zuerst schaue ich ins Handschuhfach des Wagens. Einbisschen Müll und ein fast volles Päckchen Zigaretten.Camel, meine alte Lieblingsmarke. Nichts davon könn-te mich verraten. Als ich über den Beifahrersitz hinwegdanach greife, bemerke ich den Geruch. Schwach, aberunangenehm. Wie Fleisch, das jemand in der Sonne lie-gen gelassen hat.

Etwas ist auf dem edlen Lederpolster des Beifahrer-sitzes verschmiert, ebenso auf dem abgewickelten An-schnallgurt, der bis in den Fußraum hängt. Das robusteMaterial ist an einer Stelle fast durchgerissen, und als ichmit den Fingern darüberfahre, ist da etwas Klebriges undDunkles.

Mir wird schwindelig bei der Vorstellung, dass ich denganzen Weg gefahren bin, während das da gut sichtbarwar. Ich will möglichst schnell eine große Entfernungzwischen das Auto und mich bringen, aber so kann ich esnicht zurücklassen. Die Äste kratzen über die Tür, als ichaussteige. Ich finde den Bach, der durch das Wäldchenführt, und meine Hände zittern, als ich dort ein Taschen-tuch anfeuchte, das ich im Handschuhfach gefundenhabe. Der Sitz lässt sich einfach abwischen, aber das Blutist in das Material des Gurts eingezogen. Ich reibe so vielwie möglich herunter, dann wasche ich das Taschentuchim Bach aus. Wasser umschließt meine Hände wie glä-serne Handschellen, als ich sie mit dem Sand vom Grunddes Bachs abschrubbe. Selbst danach fühlen sie sich nichtrichtig sauber an.

Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und ziehe eineGrimasse, als es die Kratzer auf meiner Wange benetzt.

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Dann gehe ich zurück zum Auto, das nach der langenFahrt von einer dicken Staubschicht überzogen ist, dieden schwarzen Lack verbirgt. Mit einem Stein schlageich die Nummernschilder aus Großbritannien herunter,dann hole ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum.Als ich ihn heraushebe, verfängt sich ein Riemen an derAbdeckung fürs Reserverad. Darunter blitzt etwas Wei-ßes auf. Ich schiebe die Matte beiseite, und mein Magenverkrampft sich, als ich das in Plastikfolie gewickeltePäckchen sehe.

Mit weichen Knien lehne ich mich gegen den Wagen.Es hat ungefähr die Größe einer Tüte Zucker, aber das

weiße Puder darin ist längst nicht so unschuldig. Hastigschaue ich mich um, als könnte mich jemand hier sehen.Aber hier sind nur Bäume und das beständige Summender Insekten. Ich starre das Päckchen an und bin zu er-schöpft, um diese neue Komplikation zu begreifen. Ichwill es nicht mitnehmen, aber hierlassen kann ich es auchnicht. Also nehme ich es, stopfe es ganz nach unten inmeinen Rucksack, knalle die Kofferraumklappe zu undgehe los.

Die Weizenfelder liegen noch verlassen da, als ich ausdem Wäldchen komme. Ich werfe die Nummernschil-der des Wagens und die Schlüssel zwischen die hohenHalme, ehe ich mein Handy aus der Tasche ziehe. Es isthoffnungslos und irreparabel kaputt. Im Gehen nehmeich die SIM-Karte heraus und zerbreche sie in zwei Teile,ehe ich die winzigen Plastikstücke in das eine Feld werfeund das Handy in das andere.

Ich wüsste ohnehin nicht, wen ich anrufen sollte.

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Das graue Asphaltband der Straße flirrt und zuckt,während die Sonne höher steigt. Die wenigen Wagen,die unterwegs sind, wirken wie in der Hitze gefangen,sie scheinen sich kaum zu bewegen, bis sie plötzlich far-big aufblitzen und vorbeirauschen. Mein Trekkingruck-sack, der über meinen Kopf ragt und Schatten spendet,ist wie eine persönliche Klimaanlage. Fast eine Stundegehe ich so, bis ich das Gefühl habe, genug Distanz zwi-schen mich und den Wagen gebracht zu haben. Dannhebe ich den Daumen und hoffe, jemand nimmt michmit.

Meine roten Haare sind dabei sowohl ein Vorteil alsauch ein Nachteil. Ich ziehe die Aufmerksamkeit aufmich, und man sieht sofort, dass ich hier fremd bin. AlsErstes werde ich von einem jungen Paar in einem klapp-rigen Peugeot mitgenommen.

«Où allez-vous?», fragt er, und die Zigarette in seinemMund bewegt sich dabei kaum.

Es kostet mich Überwindung, in die fremde Sprachezu wechseln. Ich habe Französisch in letzter Zeit mehrgehört als gesprochen. Aber das ist gar nicht der Grundfür mein Zögern. Wo will ich hin?

Ich habe keine Ahnung.«Irgendwohin. Ich reise einfach herum.»Ich sitze auf dem Beifahrersitz, das Mädchen hat sich

ohne Widerspruch auf die Rückbank gesetzt. Ich binfroh, dass der Fahrer eine Sonnenbrille trägt, denn sobrauche ich meine auch nicht abzunehmen. Sie verdecktdas Schlimmste von dem Bluterguss.

Er schaut auf meine roten Haare. «Brite?»

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«Ja.»«Dein Französisch ist echt gut. Schon lange hier?»Einen Moment ringe ich um die Antwort. Es fühlt sich

an, als wäre ich schon ewig hier. «Eigentlich nicht.»«Und wo hast du es so gut gelernt?» Die Frage kommt

von dem Mädchen, das sich zwischen den Sitzen nachvorne beugt. Sie ist dunkelhaarig und mollig, mit einemhübschen, offenen Gesicht.

«Früher bin ich oft hergekommen. Als ich jünger war.Und ich … Ich steh auf französische Filme.»

Danach halte ich lieber den Mund, weil ich mehr vonmir preisgebe, als ich eigentlich will. Zum Glück scheintsich keiner von beiden allzu sehr für Details zu interes-sieren. «Ich schau ja lieber amerikanische Filme», meinter und zuckt mit den Schultern. «Wie lange bleibst du?»

«Keine Ahnung», sage ich.Sie setzen mich am Rand einer kleinen Stadt ab. Ich

greife auf meine Geldreserve in Euro zurück, um mirBaguette und Käse, eine Flasche Wasser und ein Weg-werffeuerzeug zu kaufen. Ich kaufe außerdem bei einemStraßenhändler auf dem Marktplatz eine Baseballkappe.Eine billige Nike-Kopie, aber sie spendet Schatten undhilft, meine Abschürfungen zu verstecken. Ich weiß, dassich mich paranoid verhalte, aber ich kann einfach nichtanders. Ich will nicht mehr Aufmerksamkeit auf michziehen als unbedingt nötig.

Es ist eine Erleichterung, die Stadt hinter mir zu lassenund wieder über offenes Gelände zu laufen. Die Sonnebrennt auf meinen Nacken herunter. Nach etwa einemKilometer mache ich unter einer Reihe Pappeln halt und

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versuche, von dem Baguette und dem Käse zu essen. Ichbringe nur wenige Bissen herunter, ehe ich alles wiederhochwürge. Mein Magen fühlt sich wund an, und als dieKrämpfe endlich aufhören, sinke ich gegen einen Baumund bin so erschöpft, dass ich einfach nur hier liegen undaufgeben will.

Aber das kann ich nicht machen. Meine Hände zit-tern bei dem Versuch, mir mit dem Wegwerffeuerzeugeine Zigarette anzuzünden. Ich ziehe daran. Es ist dieerste seit zwei Jahren, sie schmeckt, als würde ich endlichheimkehren. Ich atme einen Teil meiner Anspannung mitdem Zigarettenrauch einfach aus und genieße es für einpaar Augenblicke, an nichts zu denken.

Nach der Zigarette stehe ich wieder auf und gehe wei-ter. Ich habe nur eine ungefähre Vorstellung davon, woich bin, aber da ich ohnehin keinen Plan habe, ist das garnicht so schlimm. Ich strecke den Daumen raus, wennein Auto kommt, aber das passiert nicht allzu oft. DieStraßen hier sind vor allem routes bis, also Landstraßendurchs Hinterland, die von Durchreisenden, die sich anNationalstraßen und Autobahnen halten, eher gemiedenwerden. Am Nachmittag und nachdem ein Citroën undein Renault mich mitgenommen haben, habe ich wenigerals zwanzig Kilometer zurückgelegt. Die Mitfahrgelegen-heiten waren nur von kurzer Dauer – Einheimische, dieins nächste Dorf oder in die Stadt wollten. Inzwischengibt es nicht mal mehr diese. Die Straße ist so leer, dassich glauben könnte, die Welt da draußen hätte mich ver-gessen. Die einzigen Geräusche sind das Schaben mei-ner Schuhe und das unablässige Zirpen der Insekten. Es

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gibt keinen Schatten, und ich bin froh über das bisschenSchutz von der Baseballkappe.

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit gegangen bin,werden die offenen Felder von einem dichten Kastanien-wald abgelöst, der mit altem Stacheldraht abgesperrt ist.Aber die Äste mit den breiten, fächerförmigen Blätternhängen weit über die Straße und bieten so wenigstensetwas Schutz vor der Sonne.

Ich lasse den Rucksack langsam von meinen schmer-zenden Schultern gleiten und nehme einen Schluck ausmeiner Flasche. Es sind nur noch wenige Fingerbreit dar-in, und das Wasser ist warm wie Blut und vermag kaummeinen Durst zu löschen. Ich hätte eine zweite Flaschekaufen sollen, denke ich. Aber ich hätte so vieles tun sol-len. Jetzt ist es zu spät, um irgendwas davon zu ändern.

Ich kneife die Augen zusammen und starre die Straßeentlang, die pfeilgerade verläuft und in der Hitze flirrt.Ich schraube den Deckel auf die Wasserflasche und starreweiter auf die Straße, als würde allein deshalb ein Autoauftauchen, weil ich es will. Natürlich klappt das nicht.Himmel, ist das heiß. Schon jetzt bin ich wieder völligausgedörrt. Ich nehme die Kappe ab und fahre mir mitder Hand durch die verschwitzten Haare. Vor einer Wei-le bin ich am Tor zu einem Bauernhof vorbeigekommen,erinnere ich mich. Ich kaue auf der Unterlippe und über-lege. Eigentlich will ich nicht zurück. Aber meine trocke-ne Kehle nimmt mir die Entscheidung ab. Ich habe keineAhnung, wie weit es bis zur nächsten Stadt ist, und es istzu heiß, um ohne Wasser weiterzugehen. Ich setze denRucksack wieder auf.

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Das Tor ist mit demselben rostigen Stacheldraht ver-sehen, der auch den Waldrand säumt. Ein Weg verläuftvom Tor bis zu den Kastanienbäumen. Ein Briefkastenist an einem Torpfosten befestigt, und in blassweißenBuchstaben steht darauf nur ein Wort: Arnaud. Ein altes,aber solide wirkendes Vorhängeschloss hängt an einemSchließband am Tor, aber jemand hat es offen gelassen.

Ich schaue ein letztes Mal die Straße hoch, doch daist noch immer kein Auto in Sicht. Also achte ich aufden Stacheldraht, schiebe das Tor auf und gehe hin-durch. Der Weg führt in sanftem Schwung bergauf, dannwieder hinab. Weiter hinten entdecke ich im Schutz derBäume eine Ansammlung von Dächern. Ich folge demWeg und gelange in einen staubigen Hof. Ein herunter-gekommenes, altes Bauernhaus, das von einem wackligwirkenden Gerüst halb verdeckt wird, steht an seinemKopfende. Gegenüber gibt es eine große Scheune und aneiner Seite einen leeren Stalltrakt, in dessen Giebel eineUhr eingelassen ist, die nur noch einen Zeiger hat. ImStall sind keine Pferde, nur ein paar staubige Fahrzeugeparken offenbar mehr oder weniger permanent in denoffenen Türen.

Niemand ist zu sehen. Irgendwo in der Nähe meckerteine Ziege, und ein paar Hühner kratzen im Dreck. Wä-ren die Tiere nicht, könnte man meinen, das Anwesensei verlassen. Ich bleibe am Rand des Hofs stehen, ir-gendwie widerstrebt es mir weiterzugehen. Die Tür zumBauernhaus steht offen. Ich steige die Stufen hinauf undklopfe an das rohe Türblatt. Einen Moment lang ist allesstill, dann höre ich die Stimme einer Frau.

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«Qui est-ce?»Ich stoße die Tür auf. Nach der Helligkeit im Hof

wirkt das Hausinnere auf mich undurchdringlich dun-kel. Es dauert ein, zwei Sekunden, ehe ich eine jungeFrau erkenne, die am Küchentisch sitzt. Und es dauertetwas länger, bis ich das Baby erkenne, das sie auf demArm trägt.

Ich hebe die leere Flasche und zögere, während ich mirdie Frage auf Französisch zurechtlege. «Kann ich wohletwas Wasser haben, bitte?»

Wenn es ihr Unbehagen bereitet, von einem Fremdengestört zu werden, zeigt sie das nicht offen. «Wie sind Siehier reingekommen?», fragt sie ruhig.

«Das Tor stand offen.»Ich fühle mich wie ein Eindringling, als sie mich mus-

tert. Sie setzt das Baby in einen hölzernen Hochstuhl.«Möchten Sie auch ein Glas Wasser trinken?»

«Das wäre großartig.»Sie nimmt die Flasche mit zur Spüle und füllt sie am

Wasserhahn, ehe sie außerdem ein großes Glas füllt. Ichtrinke dankbar. Das Wasser ist eiskalt und hat den erdi-gen Geschmack von Metall.

«Danke», sage ich und gebe ihr das leere Glas zu-rück.

«Können Sie das Tor hinter sich schließen?», bittet siemich. «Es hätte nicht offen bleiben dürfen.»

«Okay. Noch mal vielen Dank.»Ich kann ihren Blick auf mir spüren, als ich den sonni-

gen Innenhof wieder überquere.Ich folge dem Weg zurück durch den Wald zur Stra-

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ße. Es ist dort so still wie zuvor. Sorgfältig schließe ichdas Tor und marschiere weiter. Hin und wieder drehe ichmich um und schaue, ob ein Auto kommt, aber hintermir ist nur das von der Sonne aufgeheizte Asphaltband.Ich habe die Daumen unter die Schulterriemen meinesRucksacks gehakt, um das Gewicht etwas besser zu ver-teilen. Er fühlt sich schwerer an, sobald ich an das denke,was darin ist. Also konzentriere ich mich lieber darauf,einen Fuß vor den anderen zu setzen und an nichts zudenken.

Das Dröhnen eines Motors löst sich allmählich ausder aufgeheizten Stille. Ich drehe mich um und sehe et-was am Horizont auftauchen – ein dunkler Fleck, derin der Hitze verschwimmt. Zuerst scheint er regungslosüber einer Reflexion seiner selbst zu verharren. Danntauchen die Räder auf und werden immer länger, bis siedie Straße berühren. Ein blaues Auto hält auf mich zu.

Ich trete schon aus dem Schatten der Bäume, als ichetwas auf dem Wagendach bemerke. Im nächsten Mo-ment begreife ich, was ich da sehe. Ich springe über denStacheldrahtzaun und reiße mir dabei die Jeans auf. We-gen des Rucksacks lande ich ziemlich unglücklich. Ohneanzuhalten, stürze ich in den Wald, während das Moto-rengeräusch lauter wird. Als der Wagen fast auf meinerHöhe ist, ducke ich mich hinter einem Baum und blickeängstlich zur Straße hoch.

Der Polizeiwagen braust vorbei. Ich lausche, ob er dasTempo verlangsamt. Aber das Motorengeräusch wirdimmer leiser, bis es ganz verschwindet. Ich lege den Kopfgegen den Baum. Ich weiß, dass ich überreagiere und

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dass die französische Polizei vermutlich kein Interesse anmir hat. Aber ich bin zu nervös, um es drauf ankommenzu lassen. Und ich kann nicht riskieren, dass sie meinenRucksack durchsuchen.

Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund. Blut –bei meiner Flucht habe ich mir auf die Lippe gebissen.Ich spucke aus und nehme die Wasserflasche aus meinemRucksack. Meine Hände zittern, als ich mir den Mundausspüle. Danach erst schaue ich mich um, wo ich ge-landet bin.

Der Wald erstreckt sich auf einem abgeflachten Hü-gel, und in einiger Entfernung kann ich zwischen denBäumen einen See aufblitzen sehen. Auf der einen Seitesehe ich die Dächer eines Bauernhofs, die auf die Entfer-nung winzig und unbedeutend wirken. Vermutlich habeich dort nach dem Wasser gefragt. Ich bin also noch aufihrem Grund und Boden.

Ich stehe auf und wische mir den Dreck von der Jeans.Mein T-Shirt klebt mir schweißnass am Rücken. Es istinzwischen so heiß, dass die Luft zu backen scheint. Wie-der blicke ich zu dem See hinüber und wünsche mir, ichkönnte darin schwimmen. Aber das wird nicht passie-ren. Ich muss in Bewegung bleiben. Nach einem letztenSchluck Wasser lasse ich den Baum hinter mir, mache einpaar Schritte und schreie auf. Etwas bohrt sich schmerz-haft in meinen Fuß.

Ich sinke auf die Knie, als der Schmerz mein Beinhinaufschießt. Mein linker Fuß steckt in einem Paarschwarzer, halbrunder Kiefer. Ich versuche, mich aus derUmklammerung zu befreien, doch bei jeder Bewegung

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schießt erneut eine sengende Schmerzwelle mein Beinhinauf.

«Herrgott!»Ich verharre und atme tief durch, um die Panik nieder-

zuringen. Ich bin in eine Art Eisenfalle getreten, die untereinem Gewirr aus knorrigen Baumwurzeln versteckt lag.Sie umklammert den Spann bis hinauf zum Knöchel, unddie gezackten Eisenzähne haben sich durch das dicke Le-der meines Stiefels gebohrt. Sie stecken so tief in meinemFleisch, dass ich spüre, wie die Spitzen eisig den blankenKnochen berühren.

Ich kneife die Augen fest zusammen und gebe mirMühe, den Anblick auszublenden. «Scheiße, Scheiße,Scheiße!»

Aber das bringt mich auch nicht weiter. Ich schüttleden Rucksack ab und versuche, eine bessere Sitzpositionzu finden, um die Kiefer der Falle packen zu können. Sierühren sich keinen Millimeter. Ich stütze mich mit demgesunden Fuß an einer Baumwurzel ab und versuche eserneut. Dieses Mal werde ich mit einem winzigen Nach-geben belohnt, aber das ist längst nicht genug. MeineArme zittern vor Anstrengung, und die Metallrahmenbohren sich mir in die Handflächen. Langsam lasse ichwieder los und lehne mich keuchend zurück.

Ich sauge an den wunden Stellen an meinen Händenund schaue mir die Falle jetzt genauer an. Eine primitiveVorrichtung, die von ockerfarbenem Rost überzogen ist.Trotzdem kann sie noch nicht allzu lange hier liegen. DasÖl an den Scharnieren scheint noch ziemlich frisch zusein. Beängstigend frisch, finde ich und versuche lieber

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nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten könnte,sondern widme meine Aufmerksamkeit der Kette, mitder die Falle im Boden verankert ist. Sie ist sehr kurz undführt zu einem Holzpflock, der zwischen den Baumwur-zeln vergraben ist. Mir genügt es, mehrmals daran zuzerren, um zu wissen, dass es Zeitverschwendung ist, sieherausziehen zu wollen.

Ich sitze auf dem Boden, mein gefangenes Bein langvor mir ausgestreckt. Mit einer Hand versuche ich, michin eine etwas bequemere Position zu bringen, und spüredabei etwas Feuchtes. Die Wasserflasche liegt dort, woich sie fallen gelassen habe. Ich reiße sie hoch, obwohlinzwischen fast alles rausgelaufen und in der trockenenErde versickert ist. Vorsichtig nehme ich einen Schluck,schraube die Flasche zu und versuche nachzudenken.

Okay, bleib ganz ruhig. Der anfängliche Schmerz isteinem beständigen Pochen gewichen, das Zahnschmer-zen ähnelt und bis in mein Schienbein strahlt. Blut be-ginnt, das Leder meines Stiefels zu durchnässen. Bisauf das Summen der Insekten ist der vom Sonnenlichtgesprenkelte Wald still. Ich schaue zu den Dächern desBauernhofs hinüber. Sie sind zu weit weg. Keiner würdemich hören, wenn ich schreie. Aber das will ich auch garnicht. Jedenfalls nicht, solange ich es vermeiden kann.

Ich krame im Rucksack nach meinem Taschenmesser.Ich weiß, dass es irgendwo da drin sein muss. Aber beider Suche stoßen meine Finger auf etwas anderes. Ich zie-he es heraus, und der Anblick trifft mich wie ein Schock.

Die Fotografie hat Eselsohren und ist verblasst. Ichhatte keine Ahnung, dass sie noch im Rucksack war. Ich

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habe sogar vergessen, dass es dieses Foto gab. Das Ge-sicht des Mädchens ist von einem Knick fast vollständigverwischt, ihr Lächeln ist verzerrt. Hinter ihr hebt sichder strahlend weiße Brighton Pier von einem makellosblauen Himmel ab. Ihre Haare sind blond und von derSonne ausgebleicht. Ihr Gesicht hat eine gesunde Bräune.Sie sieht glücklich aus.

Mir wird schwindelig. Die Bäume scheinen sich ummich zu drehen, als ich das Foto wieder einstecke. Ichatme tief durch und zwinge mich, jetzt nicht durchzu-drehen. Die Vergangenheit ist vorbei. Ich kann nichtsdagegen unternehmen, ich kann sie nicht ändern. DieGegenwart bereitet mir schon genug Sorgen. Ich findemein Taschenmesser und setze mich zurecht. Das Mes-ser hat eine knapp acht Zentimeter lange Klinge, einenKorkenzieher und einen Flaschenöffner. Leider nichts,um ein Fangeisen zu entschärfen. Ich ramme die Klingetrotzdem zwischen beide Bügel und versuche, die Falleaufzustemmen, aber sie bewegt sich nur ein paar Mil-limeter und schnappt sofort wieder zu. Ich werfe daskaputte Messer beiseite und schaue mich nach etwas an-derem um. In der Nähe liegt ein toter Ast. Er ist außerReichweite, aber mit Hilfe eines anderen kürzeren Astskann ich ihn zu mir heranziehen und schiebe dann dasdickere Ende zwischen die Bügel. Das Metall gräbt sichin das Holz, aber die Falle beginnt ganz langsam, sichzu öffnen. Ich übe noch mehr Druck aus und beiße dieZähne zusammen, als die Eisenzähne ganz langsam dieUmklammerung meines Fußes lockern.

«Ja! Los jetzt!»

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Der Ast bricht. Die Bügel springen wieder zusammen.Ich schreie.Als der Schmerz nachlässt, liege ich flach auf dem

Rücken. Ich richte mich auf und hämmere mit dem Astauf den Boden ein. «Scheißding!»

Ich kann jetzt nicht länger so tun, als wäre die Situ-ation nicht ernst. Selbst wenn ich meinen Fuß befreienkann, bezweifle ich, dass ich mit der Verletzung nochweit komme. Aber das Problem kann ich getrost ver-nachlässigen. Der Umstand, dass ich mich nicht aus eige-ner Kraft befreien kann, ist viel beängstigender.

Bist du jetzt glücklich? Das hast du dir selbst einge-brockt. Ich blende die finsteren Gedanken aus und versu-che stattdessen, mich auf das viel drängendere Problemzu konzentrieren. Mit dem Korkenzieher des Taschen-messers beginne ich, um den Metallstift, der die Falleverankert, die Erde aufzugraben. Ein vergeblicher Ver-such, aber wenigstens kann ich meine Wut abarbeiten,indem ich auf Boden und Wurzeln einhacke. Schließlichlasse ich das Messer fallen und sinke wieder gegen denBaumstamm.

Die Sonne steht inzwischen spürbar tiefer. Es wirdnoch stundenlang hell bleiben, aber die Vorstellung, dieganze Nacht hier zu liegen, entsetzt mich. Ich zerbrechemir den Kopf, was ich noch tun kann, aber mir fällt nureins ein.

Ich hole tief Luft und schreie.Meine Schreie verhallen ohne Echo. Ich bezweifle,

dass man sie bis zu dem Bauernhof gehört hat, bei demich vorhin gewesen bin. Ich schreie lauter, sowohl auf

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Englisch als auch auf Französisch. Ich schreie so lange,bis meine Stimme heiser wird und mein Hals schmerzt.

«Ist da jemand!», schluchze ich fast und dann, leiser:«Bitte.» Die Worte scheinen von der Nachmittagshitzeaufgesaugt zu werden und verlieren sich zwischen denBäumen. Danach senkt sich die Stille wieder über denWald.

Da weiß ich, dass ich nirgendwo mehr hingehen wer-de.

Am nächsten Morgen habe ich Fieber. Ich hatte in derNacht meinen Schlafsack aus dem Rucksack gezo-gen und ihn über mir ausgebreitet, aber ich zittere im-mer noch ziemlich heftig. Mein Fuß puckert dumpf imRhythmus meines Pulsschlags. Er ist bis weit über denKnöchel hinaus angeschwollen. Obwohl ich den Stiefelso weit wie möglich aufgeschnürt habe, ist das Leder, dasinzwischen schwarz und klebrig vom Blut ist, gespanntwie eine Trommelhaut. Es fühlt sich wie ein riesiges Ge-schwür an, das jederzeit aufplatzt.

Beim ersten Licht des neuen Tages versuche ich wiederzu schreien, aber weil mein Hals so ausgedörrt ist, bringeich nicht mehr als ein heiseres Krächzen zustande. Schonbald kostet selbst das zu viel Anstrengung. Ich versuche,mir andere Möglichkeiten auszudenken, um Aufmerk-samkeit zu erregen. Eine Weile scheint mir der Gedankeverlockend, den Baum in Brand zu setzen, unter dem ichhocke. Ich taste sogar schon in den Hosentaschen nachdem Feuerzeug, ehe ich wieder zur Vernunft komme.

Die Tatsache, dass ich das ernsthaft in Erwägung ge-

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zogen habe, ängstigt mich am meisten. Aber dieser klareMoment ist nicht von langer Dauer. Als die Sonne auf-geht, beginnt es rasch heiß zu werden, und ich schiebeden Schlafsack beiseite. Ich bringe das Kunststück zu-stande, wie verrückt zu schwitzen und gleichzeitig vorKälte zu bibbern. Ich schaue meinen Fuß voller Hass anund wünschte, ich könnte ihn wie ein gefangenes Tiereinfach abkauen. Und kurz glaube ich, das wirklich zukönnen, und kann meine Haut und mein Blut und dieKnochen förmlich schmecken, als ich in mein Bein beiße.Dann bin ich wieder bei mir, sitze mit dem Rücken anden Baumstamm gelehnt, und das Einzige, was in meinenFuß beißt, sind die sichelförmigen Eisenbügel.

Ich verliere immer wieder das Bewusstsein, tauche inverworrene, überhitzte Phantasien ab. Irgendwann öffneich die Augen und sehe ein Gesicht, das mich prüfendmustert. Es gehört einem Mädchen und ist wunderschönund madonnenhaft. Es scheint mit dem auf dem Fotozu verschmelzen und plagt mich mit Schuldgefühlen undTrauer.

«Es tut mir leid», sage ich oder glaube zumindest zusagen: «Es tut mir leid …»

Ich starre das Gesicht an und hoffe auf ein versöhn-liches Zeichen. Aber als ich sie anschaue, beginnt dieForm ihres Schädels durch die Haut zu scheinen. DieOberfläche schält sich ab, und darunter kommt ein Bildaus Fäulnis und Verfall zum Vorschein.

Ein neuer Schmerz überrollt mich, eine neuerlicheQual, die mich fortträgt. Aus weiter Ferne höre ich je-manden schreien. Als die Schreie verebben, höre ich

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Stimmen, die in einer Sprache reden, die ich zwar erken-ne, aber nicht verstehe. Ehe die Worte gänzlich verstum-men, kann ich einige jedoch so klar und deutlich hörenwie den Schlag einer Kirchturmglocke.

«Doucement. Essayez d’être calme.»Vorsichtig, verstehe ich. Aber es verwirrt mich, dass

sie leise sein müssen.Dann reißt der Schmerz mich vollends fort, und jen-

seits davon existiere ich nicht länger.

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