SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

download SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

of 6

Transcript of SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    1/12

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    2/12

    »Im folgenden mõchte ich eine Venvunderungsübung durch-

    führen, bei der es darum gehen wird, der abgründigen Erstaun-lichkeit zeitgenõssischer Lebensformen etwas besser gerecht zu

     werden.«In seinem neuen Buch skizziert Peter Sloterdijk die Entstehungder Freiheit aus dem Geist der Revolte, die Funktion von Strefifür die Integration von Gesellschaften und die Bedeutung derRousseauschen Tràumerei am Bieler See, um das Konzept derLiberalitât neu zu formulieren.

    Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Asthetik undPhilosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe undlehrt an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Zuletzterschienen von ihm im Suhrkamp Verlag Dte nehmende Han d  und die gehende Seite  (Sonderdruck es), Du- mufit dein Leben andem. Über Anthropotechnik  (st 4210), Scheintod im Denken. Über Philosophie und Wissenschaft ais Uhung  (eu 28).

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    3/12

    edition suhrkampSonderdruck

    Erste Auflage 2011Originalausgabe

    © Suhrkamp Verlag Berlin 20 11 Al ie Rechte vorb ehalten, insbesondere das der Ubersetzung,

    des õffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfun kund Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes d arf in irgendeiner Form (durchFotografie, M ikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche

    Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Ver wendung e lektronischer Systeme verarb eitet, verv ielfâ ltigt

    oder verbreitet werden.Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

    Umschlag gestaltet nach einem Kon zept von Willy Fleckhaus: Ro lf Staud:

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-518-06207-4

    3 4 5 6 7 8 - 17 lé 15 14 13 12

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    4/12

    Inhalt

    1Politische Grofikõrper ais Strefikommunen 7

    2Lucretias Revolte, Rousseaus Rückzug 15

    3

    Strefi und Freiheit 29

    4

    Die Reaktion des Realen 41

    5

    Von der Quelle der engagierten Freiheit 53

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    5/12

    Politische Grofikõrper aisStrefíkommunen

    Es ist ein altehrwürdiger Gemeinplatz, dafi Philo-sophie und Wissenschaft aus dem Staunen ent-sprungen seien. So làfit Platon seinen Sokrates sa-gen, das Staunen oder die Verwunderung sei dereinzige Anfang der Philosophie.' Dem respondiertAristóteles, indem er an einer eminenten Stelle be-hauptet: »Es ist dank ihres Staunens, dafi Menschenheute wie vormals zu philosophieren beginnen.«^Ich gebe zu, diese sonoren Sâtze kamen mir immerschon ein wenig suspekt vor. Obschon ich seit na-hezu fünfzig Jahren mit philosophischer und wis-senschaftlicher Literatur umgehe und eine grõfiereZahl von Autoren diverser Wissensfelder kennen-gelernt habe - sei es ais Leser, sei es in persõnlicherBegegnung -, ist mir in all der Zeit, vielleicht bis aufeine Ausnahme, nie eine Person zu Gesicht gekom-men, von der man im Ernst hátte behaupten dürfen,der Anfang ihrer geistigen Tàtigkeit habe im Staunen gelegen. Im Gegenteil, es scheint, ais hâtten die

    1 Platon, Theaitetos 15 5(i.

    2 Aristóte les, Meta phys ik I, 2, 982b.

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    6/12

    organisierte Wissenschaft und die zur Institutiongeronnene Philosophie die Form eines Feldzugsgegen die Verwunderung angenommen. Die wis-senden Personale, die Akteure des Feldzugs, haltensich seit langem hinter der Maske der Unbeein-druckbarkeit verborgen - man nannte das gelegent-lich auch »Verblüffungsresistenz«. Im grofien und

    ganzen hat sich die aktuelle Wissenskultur durch-weg die Haltung des stoischen nihil admirari ange-eignet: Wenn schon die antike Weisheitslehre ihrenAdepten die Regei einprâgte, sich über gar nichtsmehr zu wundern, kommt diese Maxime doch erstin modernen Zeiten ans Ziel. Im 17. Jahrhunderthatte Descartes das estonnement  ais eine durchausnegative Affektion des Gemüts, eine hõchst unan-genehme und unwillkommene Verwirrung, cha-rakterisiert, die durch geistige Anstrengung über-wunden werden sollte.^ Die Entwicklung unserer

    Rationalitàtskultur hat ihrem Mitbegründer indiesem Punkt beigepflichtet. Sollte sich irgendwoin unserer Zeit noch eine Spur des angeblich ur-sprünglichen thaumazein,  des erstaunten Innehal-tens vor einem unerhõrten Gegenstand, bemerkbarmachen, so darf man sicher sein, dafi sie auf eineStimme aus dem Abseits oder das Wort eines Laienzurückzuführen ist - die Experten zucken dieSchultern und gehen zur Tagesordnung über.

    3 René Descartes, Traité des passions de l’âme, Art. 73: »Das Staunen

    ist eine übertriebene Verwunderung, die immer nur von Ubel sein

    kann.« (Eigene Ubersetzung)

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    7/12

    Für keine Disziplin gilt das so sehr wie fürdie Sozialwissenschaften. Ihren internen Standardsnach darf man sie ais eine resolut verwunderungs-freie Zone beschreiben. Dies ist, wenn man es rechtbedenkt, ein bizarrer Befund, denn falls es etwasgibt, was einen bedingungslosen Anspruch auf dasStaunen des Laien und auf die Verwunderung der

    Gelehrten erheben sollte, so ist es die Existenz je-ner grofien politischen Kõrper, die man früher dieVõlker nannte und heute aufgrund einer bedenkli-chen semantischen Konvention ais »Gesellschaf-ten« bezeichnet. Gewòhnlich denkt man bei die-sem Wort an die Populationen moderner Natio-nalstaaten, mithin an grofie und sehr grofie politi-sche Einheiten mit demographischen Volumenzwischen mehreren Millionen und mehr ais einerMilliarde Mitgliedern. Nichts sollte erstaunlichersein ais das Daseinkònnen dieser Millionen- und

    Milliardenensembles von Menschen in ihren natio-nalkulturellen Hüllen und ihren vielfáltigen inne-ren Unterteilungen. Wir sollten fassungslos seinangesichts dieser stehenden Heere aus politischenGruppen, denen es, man wei6 nicht wie, immerwieder gelingt, ihre Angehõrigen mit der Überzeu-gung zu versorgen, sie seien jeweils aufgrund einergemeinsamen Lage und einer gemeinsamen Vorge-schichte aktuell miteinander schicksalhaft verbun-dene Gesellschafter, somit Rechtsgenossen und

    Teilnehmer an lokalen Überlebensprojekten. DasErstaunliche an diesen Objekten überschreitet die

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    8/12

    Schwelle zur Unbegreiflichkeit, sobald wir uns ver-gegenwártigen, dafi nicht wenige der politischenGrofikõrper in neuerer Zeit - sagen wir seit denAnfángen der liberalen Kulturen des Westens im17. Jahrhundert - von Populationen mit steigendenindividualistischen Tendenzen gebildet werden.Ais Individualismus bezeichne ich hier die Lebens-

    form, die das Eingefügtsein der einzelnen in dieKollektive lockert und den scheinbar unvordenkli-chen Absolutismus des Gemeinsamen in Fragestellt, indem sie jedem einzelnen Menschenwesendie Würde eines Absolutum sui generis  zuspricht.Nichts ist erstaunlicher ais der Bestand von Zivili-sationen, deren Mitglieder mehrheitlich von derUberzeugung durchdrungen sind, ihre eigene Exi-stenz sei letztlich um eine Dimension wirklicher aisalies, was sie auf der Seite des Kollektivs umgibt.

    Im folgenden mòchte ich - gegen den Haupt-

    strom der nicht-staunenden Politologie und So-ziologie anstrebend - eine Verwunderungsübungdurchführen, bei der es darum gehen wird, der ab-gründigen Erstaunlichkeit zeitgenõssischer Lebens-formen etwas besser gerecht zu werden. Eine Zivi-lisation wie die unsere, die auf der Integration indi-vidualistischer Populationen in riesenhaften politischen Grofikòrpern beruht, ist eine real existierendeHõchstunwahrscheinlichkeit. Man verweist dieExistenz von Einhõrnern in den Bereich der Fabel,

    doch das real existierende millionenkòpfige Fabel-tier »Gesellschaft« nehmen wir wie eine Selbstver-

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    9/12

    stándlichkeit hin. Immerhin hat man verstanden, dafi die Stabilitát dieser grofien Gebilde nicht ga- rantiert ist. Von den Gesellschaftern selbst wird die Haltbarkeit ihrer heutigen Lebensformen zuneh- mend ais problematisch empfunden - wâre es an- ders, würden die Eliten in den sozialen Subsyste-  men nicht seit einer Weile unentwegt über die 

    Nachhaltigkeit ihresmodus vivendi

      diskutieren. Ohne Zweifel stellt das Wort »Nach haltigkeit« das semantische Zentralsymptom der gegenwártigen Kulturkrise dar: Es spukt durch die Reden der Ver- antwortungstráger wie ein neurotischer Tick, der auf ungeklárte Spannungen in unseren Antriebs- systemen schliefien lâfit. Es antwortet auf ein Un- behagen, das unser Dasein in der technischen Zivi-  lisation mit einem zunehmenden Unhaltbarkeits- gefühl unterwandert. Dieses Gefühl ist untrennbar von der Erkenntnis, dafi unsere »GeselIschaft« -  

    um den suspekten Begriff nun ohne weitere Hin-  terfragung zu verwenden - in einen Selbsterhal- tungsstrefi geraten ist, der von uns ungewòhnHche Leistungen abrufen wird.

    Wir haben somit allen Grund, uns auf ein Um-  denken im Hinbhck auf das reale Fabeltier »Gesell- schaft« vorzubereiten. Plausible Gesellschaftstheo- rie ist nur noch ais Theorie unwahrscheinlicher Grofikòrper zu betreiben oder, wenn man so will, ais soziale Physik vernetzter Agenturen. Die Theo

    rie der Grofikòrper bildet ein Kompositum aus  Strefitheorie, Medientheorie, Kredittheorie, Orga-

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    10/12

    nisationstheoríe und Netzwerktheorie. Ich will imaktuellen Zusammenhang besonders auf die über-ragende Bedeutsamkeit des StreC-Konzepts auf-merksam machen. Nach meiner Auffassung sinddie politischen Grofikõrper, die wir Gesellschaftennennen, in erster Linie ais streC-integrierte Kraft-felder zu begreifen, genauer ais selbst-stressierende,

    permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme.Diese haben Bestand nur in dem Mafi, wie es ihnengelingt, durch den Wechsel der Tages- und Jahres-themen hindurch ihren spezifischen Unruhe-To-nus zu halten. Aus dieser Sicht ist eine Nation einKollektiv, dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zubewahren. In ihm mui? ein stetiger, mehr oder we-niger intensiver Strefithemenflufi für die Synchro-nisierung der Bewufitseine sorgen, um die jewei-lige Bevôlkerung in einer sich von Tag zu Tag rege-nerierenden Sorgen- und Erregungsgemeinschaft

    zu integrieren. Deswegen sind die modernen In-formationsmedien für die Kohárenzerzeugung innationalen und kontinentalen Strefi-Kommunenschlechthin unentbehrlich. Allein sie sind imstande,mit einem unaufhòrlich strõmenden Angebot anIrritationsthemen die auseinanderdriftenden Kol-lektive mit Gegenspannungen zu verkiammern.Die Funktion der Medien in der strefi-integriertenMulti-Milieugesellschaft besteht darin, die Kollek-tive ais solche zu evozieren und zu provozieren,

    indem sie ihnen táglich und stündlich neue Erre-gungsvorschlâge unterbreiten - Empõrungsvor-

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    11/12

    schlâge, Beneidungsvorschlàge, Überhebungsvor- schláge, eine Vielzahl von Angeboten, die sich an die Sentimentalitát, die Angstbereitschaft und die Indiskretion der Gesellschafter wenden. Aus die- sen treffen die Rezipienten tâglich ihre Auswahl. Die Nation ist ein tâgliches Plebiszit, doch nicht über die Verfassung, sondern über die Prioritât der 

    Sorgen. Indem sie unter den angebotenen Mõglich- keiten für synchrone Erregungen wáhlen, reprodu-  zieren die in Dauernervositát schwingenden Grofi- gruppen den Àther der Gemeinsamkeit, ohne welchen sozialer Zusammenhalt - oder auch nur der Schein davon - in extensiven Flâchenstaaten nicht entstehen kann. Gewifi braucht jedes soziale System ein Fundament aus Institutionen, Organi- sationen und Verkehrsmitteln; es mufi für die Pro-  duktion und den Tausch von Gütern und Dienst-  leistungen sorgen. Die Aktualisierung des sozialen 

    Zusammenhangs im Empfinden der Gesellschafter kann jedoch nur durch chronischen symbolisch er- zeugten thematischen Strefi erfolgen. Je gròfier das Kollektiv, desto stárker müssen die Strefikràfte sein, die dem Zerfall des unversammelbaren Kollektivs  in ein Patchwork aus introvertierten Clans und En-  klaven entgegenwirken. Solange ein Kollektiv sich über die Vorstellung, dafi es sich abschafft, bis zur Weifiglut erregen kann, hat es seinen Vitalitâtstest  bestanden. Es tut, was gesunde Kollektive am be- 

    sten kõnnen, es regt sich auf, und indem es sich auf- regt, beweist es, was es beweisen soll, námlich dafi

  • 8/19/2019 SLOTERDJIK, Peter - Politische Grosskörper Als Stresskommunen, In Stress Und Freiheit (2011)

    12/12

    es unter Strefi in sein Optimum kommt. Dabeispielt die Frage, ob das Kollektiv monokulturellgeschlossen oder multikulturell zusammengesetztist, schon seit geraumer Weile keine nennenswerteRolle mehr.