Sommer Dilthey Und Mach

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1331N l.J.71•Z-Z511 / Phenomenological Studies / Recherches Phnomdnologiques «WEM 16 Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert Studien zu Dilthey und Brentano, Mach, Nietzsche, Twardowski, Husserl, Heidegger Beiträge von Ernst Wolfgang Orth, Manfred Sommer, Werner Stegmaier, Elzbieta Paczkowska-Lagowska, Guy van Kerckhoven, Heribert Boeder Tierausgegeben von 'rnst Wolfgang Orth :Uh er 1

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1331N l.J.71•Z-Z511 /

Phenomenological Studies / Recherches Phnomdnologiques«WEM

16

Dilthey und der Wandeldes Philosophiebegriffsseit dem 19. JahrhundertStudien zu Dilthey undBrentano, Mach, Nietzsche,Twardowski, Husserl, Heidegger

Beiträge von

Ernst Wolfgang Orth, Manfred Sommer,

Werner Stegmaier, Elzbieta Paczkowska-Lagowska,

Guy van Kerckhoven, Heribert Boeder

Tierausgegeben von

'rnst Wolfgang Orth

:Uh er

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Leben aus Erlebnissen.Dilthey und Mach

Von Manfred Sommer, Münster

Durch nicht mehr als eine Konjunktion getrennt, wirkendie Namen Dilthey und Mach wie Reizwörter: Konditio-niert, wie wir sind, stellt sich der Reflex ein: Hermeneutikund Positivismus. Positivismus ist nun seinerseits einestimulierende Vokabel, eine Art Klingelzeichen. Wir wis-sen: Positivismus ist der Inbegriff dessen, wovon es sichzu emanzipieren gilt. Aus ,Dilthey und Mach' wird dannnicht ,Hermeneutik und Positivismus`, sondern ,Herme-neutik statt Positivismus'. Ich skizziere diese Ausgangsla-ge, weil es mir in meinen Überlegungen — wenigstens inder intentio obliqua — um einen Beitrag zur Rehabilitationdes Positivismus geht. Und sofern Hermeneutik immerauch heißt, die Texte eines Autors genau und unbefangenzu verstehen, versuche ich diese kleine Rehabilitation desPositivismus mit den Mitteln der Hermeneutik zu betrei-ben. Dies bringt es mit sich, daß im folgenden die Propor-tionen ein Stück zugunsten von Ernst Mach verschobensind, wofür aber ein Referent, der am Ende des drittenDilthey-Tages nochmals über Dilthey spricht,' auf Ver-ständnis hoffen darf.Ich teile meine Erwägung in drei Abschnitte ein. Zuerstwende ich mich den Schwierigkeiten zu, in die man gerät,wenn man Diltheys Theorie autobiographischer Selbstbe-sinnung als eine Art formales Gerüst betrachtet und dieses

Vortrag auf der Dilthey-Tagung der Deutschen Gesellschaft für phä-nomenologische Forschung, Trier 6.-9. April 1983.

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dem Verständnis der Autobiographie Machs zugrundelegt. Im zweiten Teil stelle ich dar, wie sich Mach dasVerhältnis von Leben und Erlebnissen, besonders Erinne-rungen, denkt. Und schließlich zeige ich noch, wie Hus-serl gerade dadurch auf Dilthey gewirkt hat, daß er gegenMachs Empfindungsmonismus das Konzept der objekti-vierenden Auffassung von Empfindungen ausarbeitet.Husserl dient mir dabei als missing link zwischen demhermeneutischen Lebensphilosophen und dem positivisti-schen Physiker, die, obgleich Zeitgenossen, keine unmit-telbare Beziehung zueinander hatten.

1.

Dilthey nennt die Autobiographie „die höchste und ammeisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehenentgegentritt" (VII, 199). Was ist der Grund dafür, daß dieAutobiographie diesen Rang eines Musters einnimmt?Was macht sie zum exemplarischen Fall des Verstehens?Sie verdankt diese prominente Stellung einer für sie kon-stitutiven einzigartigen Beziehung zwischen den beidenSphären, mit denen Dilthey zumeist arbeitet, nämlichzwischen einem Außen und einem Innen. Äußerlich istder Lebensverlauf selbst, also die Kette von sichtbarenEreignissen und beobachtbaren Vorgängen, die mit derExistenz eines bestimmten Individuums verbunden sind.Innerlich ist dagegen jener seelische Zusammenhang, aufden wir durch die Operation, die Verstehen heißt, jenesÄußere zurückführen. Sofern nun jenes Außen und diesesInnen das Innen und Außen eines identischen Subjektssind, kommt dem Verstehen hier jene Unmittelbarkeit zu,für die Dilthey den Begriff „Intimität" verwendet.„Selbstbesinnung" avanciert damit zum Grenzwert ge-

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lungenen Verstehens; alles auf ein fremdes Innen gerichte-te Verstehen bleibt dagegen defizient. Die Selbstbesin-nung ist nun ihrerseits etwas Inneres — Erinnerung —, daseine spezifische Form des äußeren Ausdrucks gewinnenkann, eben die Autobiographie. Dilthey definiert also:„Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischemAusdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen überseinen Lebensverlauf." (VII, 200)Von Ernst Mach gibt es keine philosophische Theorie überdie innere Verfassung der literarischen Präsentation derErgebnisse der Selbstbesinnung; aber dafür gibt es vonihm eine Autobiographie, ja sogar zwei, deren Verhältniszueinander für das Verständnis von Leben und Erlebnisaufschlußreich ist. 1913 hat Wilhelm Ostwald den Plangefaßt, eine Reihe von Selbstdarstellungen zeitgenössi-scher Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Technik her-auszugeben. Der Gesamttitel sollte lauten „Förderer derMenschheit", und Ernst Mach war eingeladen, mit seinerAutobiographie die Reihe zu eröffnen. Aus dem Brief-wechsel zwischen Mach und Ostwald läßt sich leicht erse-hen, daß Mach Ja sagt, aber Nein meint. Durch die Einla-dung Ostwalds geehrt und aus Scheu, den, der ihn ehrt, zuverletzen, sagt Mach zu; zögernd, ja widerwillig verfaßt erein dürftiges Manuskript, so dürftig, daß Ostwald sichgezwungen sieht, es für nicht druckfähig zu erklären. Mitkaum zurückgehaltener Freude antwortet Mach, daß erOstwalds Bedenken teilt und die daraus folgende Ein-schätzung für zutreffend hält. So kommt es, daß diese„autobiographische Skizze" bis heute im Wilhelm-Ost-wald-Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaf-ten schlummert.'

Mitteilungen über Entstehungsgeschichte und Inhalt dieser autobio-

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Wenn man sich angesichts dieses Tatbestandes Diltheysteleologische Theorie der Selbstbesinnung vergegenwär-tigt, so wird deutlich: diese Theorie macht zwar einsich-tig, warum jemand eine Autobiographie schreibt; siemacht uns aber nicht verständlich, warum jemand zögert,sich weigert, davor zurückschreckt, seine Erinnerung inliterarische Form zu gießen. Wie ist Widerstand gegenjenen immanenten Zug des Lebens möglich, den Diltheyals „Tendenz" bezeichnet?Die im Briefwechsel mit Ostwald erkennbare Figur eineszurückgenommenen Ja finden wir bei Mach auch dortwieder, wo er dieser Tendenz nachgibt. Im Nachgebenleistet er Widerstand, mit der Tendenz arbeitet er gegensie. „Mehr als die wenigen Blätter", so Mach an Ostwald,„mit der Erzählung einiger unscheinbarer, aber für michentscheidender intellektueller Erlebnisse konnte ich nichtschreiben, wenn ich die Sache nicht aufbauschen wollte."Nun, alles, was in diesen Blättern an Erlebnissen erzähltwird, findet sich in anderer Form — und auf diese andereForm kommt es an — bereits an verschiedenen Stellen inden Werken Machs wieder. Die eigentliche Autobiogra-phie, die Mach bereits veröffentlicht hatte, ist kein zusam-menhängender, sondern ein zerbrochener Text, nicht insich abgeschlossen, sondern mit anderen Texten verzahnt,auf andere Texte verteilt, in sie eingeschlossen und an sieangehängt. Diese Autobiographie steht zerstreut in Fuß-noten unter Texten, als Einsprengsel in Texten, in Vor-worten zu Texten. Genau dies aber ist die der PhilosophieMachs adäquate Form der Präsentation seines Lebens. Esist keine ,imaginäre` Autobiographie, die man in Gedan-

graphischen Skizze macht Herneck; zu weiteren Quellen vgl. Black-more.

ken zu einem fortlaufenden Text zusammenkleben müßte,sondern eine, bei der das Auseinander der Erlebnisse gera-de mit zu ihrer Aussage gehört.An zwei kleineren Beispielen möchte ich illustrieren, wieMach sein eigenes Erleben mit ins Spiel bringt. Dabei ist esnicht zufällig, sondern von weitreichender Bedeutung,daß zwei besondere Figuren eine Rolle spielen: das Kindund der Wilde. Mach berichtet die uralte Erzählung voneinem Mann — das ist der Wilde —, der an der Meeresküsteeinen Sonnenuntergang beobachtet und dabei glaubt, dieSonne bei der Berührung mit dem Wasser zischen zuhören. Dieser Erzählung fügt Mach zweierlei hinzu; eineBemerkung: „Er hört sie wohl auch wirklich zischen,indem er irgendein zufälliges Geräusch hierauf bezieht";und eine Fußnote: „Ich selbst hörte noch als Kind von vieroder fünf Jahren die Sonne zischen, als sie scheinbar ineinen großen Teich tauchte." Dieselbe Konstellation nocheinmal: „Der Gedanke, die Sonne mit einem Netz einzu-fangen, schließt für das Kind keine Unmöglichkeit ein.Die über die Erde verbreiteten Märchen vom Sonnenfän-ger lassen uns eine primitive Kulturstufe vermuten, fürwelche das, was uns zur angenehmen Beschäftigung derPhantasie erfunden scheint, ganz wohl ernst gemeint seinkonnte." Und Fußnote: „Auch ich bin als Kind der unter-gehenden Sonne von Hügel zu Hügel nachgelaufen."(Mach 1926, 102)Diese kleinen Beispiele mögen hier genügen, um zu ver-deutlichen, wie Mach seine Erlebnisse mit seiner Theorieverzahnt. Nicht am Zusammenhang seines Lebens istMach interessiert, wenn er sich erinnert; die Erinnerungist vielmehr Bezeugung der Herkunft aus, ja der Noch-Zugehörigkeit des sich erinnernden Subjekts zu einer Nai-vität, die noch nicht die Stufe des Realismus erreicht hat.Die Dispersion der Erlebnisse, das Auseinander dessen,

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was in einer Autobiographie zusammenhängen sollte, er-klärt sich aus dieser Funktion. Daß Mach seine Autobio-graphie in die Nicht-Form der Zerstreuung, in die Gegen-Struktur des Auseinander bringt, hängt aufs engste mitdem innersten Nerv seiner Philosophie zusammen, näm-lich seiner Theorie des Lebens.Führen wir uns, ehe wir uns dieser Theorie zuwenden,kurz vor Augen, welches das Leben ist, an das Diltheydenkt, wenn er vom Lebensverlauf spricht. Ich zähle,ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Charakteristi-ka jenes Lebens auf, in dessen Selbstbesinnung das For-mular für jede mögliche Autobiographie beschlossen liegt.Dieses Leben also ist für Dilthey ein „in sich abgeschlosse-nes, klar abgegrenztes Geschehen" und hat darin seine„Einheit" (VII, 72). Alle Erlebnisse, die dieses Lebenausmachen, gehen ein „in einen Zusammenhang, der imganzen Lebensverlauf inmitten aller Änderungen perma-nent beharrt" (VII, 80): ,Permanente Beharrung' sagt Dil-they : ein emphatischer Pleonasmus. Weiter ist das erlebteLeben „Mittelpunkt" von „Wirkungen", die in es ein- undvon ihm ausgehen (VII, 250; V, 106, 210); es ist als psy-chophysische Einheit Zentrum in einem „Milieu", in einer„physischen und geistigen Umgebung", einer „Umwelt"(VII, 134, 16). Was von dort außen herkommt, sind dieZufälle, die es intern zu verarbeiten gilt: Kontingenzbe-wältigung führt zu immer höherer Determiniertheit (VII,14, 215): ein Prozeß der Individuation, der sich über derBasis der permanenten Beharrung abspielt. Diesem hohenGrad an Determiniertheit entspricht es, daß Dilthey stetsden psychischen Zusammenhang desjenigen Subjekts zumThema macht, das erwachsen ist und in einer entwickeltenKultur lebt (V, 169).Wollte man diesen Befund in einem Fokus zusammenzie-hen, so könnte man sagen: das Leben, das Dilthey einer

möglichen Autobiographie zugrunde legt, ist das Lebeneines Subjekts der Selbsterhaltung. Selbsterhaltung meinthier drei in einem: physische Substantialität in Abgren-zung und Beharrung, organische Identität in und trotz derWechselwirkung mit der Umwelt, personale Individuali-tät in der Steigerung des Andersseins als andere. DenBegriff der Selbsterhaltung verwende ich hier in einemSinne, der auch noch die Lebensäußerungen, die wir unterdem Titel Kultur zusammenfassen, als Äußerungen ebenjenes Lebens begreift, das sich da erhält. Es macht jaumgekehrt auch gerade die Rationalität einer Theorie kul-tureller Entwicklung aus — auch einer Theorie der Geistes-wissenschaften —, daß sie kulturelle Formationen aller Artnicht als überschüssigen Luxus begreift, sondern als das,was nötig ist, wenn das Leben Leben bleiben will.Die Charakteristika, die Dilthey dem Leben gibt, dessenVerlauf Gegenstand intimen Verstehens ist, sind relativtrivial — wobei ‚trivial' synonym ist mit ‚evident'. Und siesind es, weil sie nur die formalsten Elemente enthalten,unter denen eine Autobiographie überhaupt möglich ist.Sie entfalten nur den Sachverhalt, daß der, der in ihr seinLeben erzählend oder schreibend mitteilt, lebt, währender sich mitteilt. Leben heißt für Dilthey : Sich-Äußern;Leben hat eine „Tendenz" zum Ausdruck. Im Falle derSelbstbesinnung ist, wie Dilthey so schön sagt, „das Ge-schäft historischer Darstellung schon durch das Lebenselber halb getan" (VII, 200).Freilich nur halb. Es fehlt bei Dilthey jenes okkasionelleMoment, daß gerade dieses Individuum hier und jetztseine Autobiographie schreibt. Tendenzen sind eben nurrationes insufficientes, wenn sie nicht gar einen Zirkelenthalten. In dieser Lücke zwischen der Tendenz und derRealisierung dessen, wohin sie geht, ist der Versuch ange-siedelt, diese Tendenz in sich umzukehren und gegen sich

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selbst zu wenden. Diesen Versuch hat Mach unternom-men. Um ihn zu begreifen, müssen wir nun seine positivi-stische Theorie des Lebens näher ins Auge fassen.

Mach ist uns ja bekannt als der Theoretiker des sogenann-ten Empfindungsmonismus. Die Dinge, so behauptet er,sind in Wahrheit nur Komplexe aus Empfindungen. Unddie Subjekte sind es nicht weniger. Darin zeigt sich derAnti-Cartesianer: Die Welt zerfällt nicht in denkendeSubstanzen hier und ausgedehnte Substanzen dort, nichtin eine Innenwelt und eine umgebende Außenwelt. Indemdas, was sich selbst Ich nennt, und das, was dieses Ich einDing nennt, zu Empfindungskomplexen werden, redu-ziert Mach heterogene Sphären auf bloße Unterschiede inder Relationierung homogener Elemente. In dieser Ho-mogenisierung liegt es begründet, daß Mach den Begriff„Empfindung", der ja die Konnotation des Subjektiven,des Bewußten hat, mit dem neutralen Terminus „Ele-ment" ebenso synonym verwendet wie die Komposita„Empfindungskomplex" und „Elementenkomplex".Bloß zu behaupten, Dinge seien gar nicht Dinge, sondernnur Elementenkomplexe, wäre natürlich zu billig: einKunstgriff der Nomenklatur. Man muß schon sehen,worin der Witz dieser Umbenennung liegt, was mit ihr anErkenntnisgewinn verbunden sein soll. Nun, Mach ver-bindet mit dieser Umbenennung nichts Geringeres als einegenetische Theorie des Bewußtseins. Der erste, ursprüng-liche reine Zustand der Welt ist das, was Mach den„Strom" oder „Fluß dieser Elemente" nennt (Mach 1910,238f.), eine metaphorische, ja mythische Charakteristikder Existenzform der Empfindungen. Wie kommt es von

diesem homogenen ,hyletischen Fluß' zu unserer zwie-spältigen Welt, in der sich Bewußtsein und Wirklichkeitgegenüberstehen?Für den Anfang dieser Dissoziation hat Mach keine Theo-rie — und es kann auch keine geben —, aber doch einSurrogat dafür, ein Analogon. Er verweist auf beobacht-bare „Variationen dynamischer Gleichgewichtsformen":„Die Änderung von Flußläufen durch zufällige Umstän-de, welche Läufe dann beibehalten werden, sind ein ganzrohes Beispiel. Schraubt man einen Wasserhahn so weitzu, daß ein ganz dünner ruhiger Strahl zum Vorscheinkommt, so genügt ein zufälliger Anstoß, um dessen labilesGleichgewicht zu stören und dauerndes rhythmischestropfenweises Ausfließen zu veranlassen. Man kann einelange Kette aus einem Gefäß, in welchem diese zusam-mengerollt liegt, über eine Rolle, nach Art eines Hebers,in ein tieferes Gefäß überfließen lassen. Ist die Kette sehrlang, der Niveauunterschied sehr groß, so kann die Ge-schwindigkeit sehr bedeutend werden, und dann hat dieKette bekanntlich die Eigenschaft, jede Ausbiegung, dieman ihr erteilt, frei in der Luft lange beizubehalten unddurch diese Form hindurchzufließen." (Mach 1906,194 f.;vgl. Mach 1910,415 f.) Alle diese Erscheinungen beginnenmit einem ‚normalen' Zustand; es kommt ein „zufälligerAnstoß" hinzu; und schließlich ‚stabilisiert` sich der durchdieses externe kontingente Ereignis entstandene neue Zu-stand. Zuerst ein homogenes Fließen, dann eine Störungdieses Flusses und am Ende die Stabilisierung des Resul-tats dieser Störung, nämlich ein gestörtes Fließen, einDurchlaufen einer „Ausbiegung".Als analogisch geregelte Imagination enthält diese Be-schreibung eine Substitutionsanweisung: Setze an die Stel-le des hier beschriebenen ersten fließenden Zustandes denunbeschreibbaren Strom der Elemente. Er muß gestört

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werden, wenn je Elemente Bausteine für etwas andereswerden sollen; er muß abgelenkt werden, wenn etwasBleibendes zustande kommen soll. Die Ablenkung selbstist das, was bleibt. Die Störung bleibt als neuer Zustanderhalten und prägt alle Folgezustände; nicht nur das eineGlied der fließenden Kette, das zufällig getroffen wurde,weicht vom geraden Weg ab, sondern der gesamte Ablaufweicht ab: jedes Kettenglied, das nachfolgt, muß den Um-weg machen, den der erste Abweichler vorschreibt. Ge-nau darin aber besteht das Gedächtnis oder die Erinne-rung. Erinnerung ist in ihrer Grundgestalt nichts anderesals die Modifikation späterer Vorgänge durch frühere. Insolcher Erinnerung aber besteht für Mach das Wesen allerorganischen Existenz — bis hin zur menschlichen. „Ge-dächtnislose Organismen" kann es nicht geben (Mach1906, 162). Denn dies wäre eine contradictio in adjecto.Der theoretische Vorzug dieses Anfangs liegt darin, daßOrganismus und ‚Bewußtsein' ursprünglich identisch undalle biogenetischen Deskriptionen strukturgleich sind mitdenen, die die Genese des ‚Bewußtseins' darstellen. Was,indem es einen gleichförmigen Durchlauf stört, den Orga-nismus konstitutiert, läßt — darin besteht die Konstitution— in ihm „Spuren" zurück: „Spuren der Vergangenheit",„Gedächtnisspuren", „Erinnerungsspuren". Störungoder Abweichung ist ein iterierbares Ereignis: Nicht nurmodifiziert die erste Spur alles, was ihr folgt; in diesemkönnen selbst neue Störfaktoren vorkommen, die neueSpuren hinterlassen, um im Verein mit den schon vorhan-denen Modifikatoren alles Weitere immer neu und anderszu modifizieren. Das Ergebnis dieses iterativen und ku-mulativen Prozesses nennt Mach Erfahrung oder Intel-lekt, im Grunde nur ein kompliziertes Geflecht aus Erin-nerungen. „Das ganze vorausgehende Empfindungsleben,soweit es in der Erinnerung aufbewahrt ist, wirkt nun bei

jedem neuen Empfindungserlebnis mit." (Mach 1906, 82,141, 160, 194; vgl. Mach 1926, 21)Erinnerung bleibt in dieser Mitwirkung passiv; sich erin-nern heißt hier nicht, etwas Vergangenes mit Mühe wiederzurückholen, um es in der Gegenwart noch einmal zuhaben. Erinnerung ist hier kein Akt, sondern die Art, inder Vergangenes bleibende Gegenwart gewinnt; das, wasehedem war, geht mit ein in das, was jetzt ist. Der Orga-nismus lebt eben deshalb nicht in diskreten Momenten, imjeweiligen Jetzt, sondern er lebt ,retentionat, im Jetzt so,daß das Soeben in diesem noch da ist und stets da bleibt. Indiesem Sinne gehört Zeitlichkeit nicht nur auch zum Or-ganismus dazu, sondern konstituiert ihn.Ich erspare es mir, im Detail noch den Vorgang zu be-schreiben, der dazu führt, daß sich zu dieser ersten organi-schen Substanz andere, dingliche Substanzen gesellen. Daunterscheiden sich Machs Vorstellungen nur unwesentlichvon sensualistischen Theorien. Sehr anschaulich hat Machseine genetischen Überlegungen in dem Satz komprimiert,den ich hier anstelle einer Zusammenfassung zitiere: „Nurwir kleben zusammen, die Natur nicht." „Wir klebenzusammen": dies kann intransitiv gelesen werden undbesagt dann: wir existieren als in uns selbst klebrig, ebenals Elementenkomplexe; und es kann transitiv gelesenwerden: wir selbst sind es, die aus Elementen Komplexebilden, um sie sodann als substantielle Dinge zu behan-deln. Die Natur aber — und das heißt: der ursprüngliche,ungestörte Zustand — ist aller Klebemittel ledig, ist frei vonallen Komplexen.Mit einer solchen genetischen Sichtweise scheint Mach indie etwas finstere Rubrik ‚erklärende und konstruierende

3 Tagebuchnotiz, zit. nach Dingler, 91.

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Psychologie' zu gehören, die Dilthey seiner beschreiben-den und zergliedernden Psychologie entgegenstellt.Mach, so scheint es, beginnt bei Elementen, die nur hypo-thetisch sind, und verfährt synthetisch, indem er aus ihnendas Bewußtsein, ja sogar den Organismus und die Objekteder Wirklichkeit aufbaut. Dieser Schein aber löst sichrasch auf, wenn wir unser Augenmerk darauf richten, wiediese genetischen Betrachtungen überformt sind von undauch nur Sinn geben in einer analytischen Theorie, einerim emphatischen Sinn analytischen Theorie.Um dies zu verdeutlichen, erinnere ich noch einmal an dasZischen der untergehenden Sonne und Machs eigenes Be-kenntnis: „Ich selbst hörte noch als Kind von vier oderfünf Jahren die Sonne zischen, als sie scheinbar in einengroßen Teich tauchte..." Signifikant für das Verhaltenjenes Subjekts, das Dilthey den „entwickelten Menschen"nennt und dessen „fertiges vollständiges Seelenleben" seinThema ist (V, 169), signifikant auch für das, was Realis-mus heißt und wie er sich durchsetzt, ist Machs Fortset-zung: „ ... Ich wurde deshalb von den Erwachsenen ver-lacht." Zwei Welten, die einander nicht verstehen, prallenhier zusammen. Lachend und verlachend distanzieren sichdie Erwachsenen, reif und lebenstüchtig, von jener ande-ren irrealen Welt, deren Repräsentant das Kind vor ihnen,aber auch das Kind in ihnen ist. Dieses Lachen ist einSelbsterhaltungsakt, ein Regressionsschutz. Die Pointedieser Episode aus Machs Kindheit aber liegt in der erstviele Jahre später möglich gewordenen Antwort, die derpositivistische Philosoph Mach auf dieses Lachen gibt,indem er seiner kleinen Geschichte hinzufügt: „Die Erin-nerung" — an das Zischen der Sonne nämlich — „ist mir abersehr wertvoll."Worin liegt der Wert derartiger Erinnerungen? DiesesWertvolle ist eine Art Gegen-Bedeutsamkeit. Durch sol-

che Erinnerungen sucht der Sich-Erinnernde sich demUrsprung anzunähern. Im Versuch, zum Anfang des Le-bens und über ihn hinaus zurückzukehren, nähert sich dieErinnerung einer Sphäre, die noch nicht als ein seelischerZusammenhang strukturiert und als äußere Realität stabi-lisiert ist: Approximation an den elementaren ‚Zustand',an die Welt der Elemente. Natürlich kann die Erinnerungnicht bis in diese irreale Welt vordringen, weil es in ihrkeine Inhalte gibt: erinnerbare Inhalte setzen gerade dasvoraus, was aus diesem Anfang ausgeschlossen ist: stabileGegenstände, bleibende Relationen, feste Zusammenhän-ge — wenigstens ein Minimum solcher Beharrlichkeit. Diemit jedem weiteren Schritt in die eigene Vergangenheithinein abnehmende Konsistenz der Zusammenhänge be-dingt nicht nur das Sich-Auflösen der Erinnerung, son-dern ist mit diesem identisch. Ohne Inhalte der Erinne-rung aber gibt es auch kein Ich, das sich erinnert. DieAnfangswelt ist gerade deshalb gegenstandslos und sub-jektlos, und es gibt gerade deshalb keine Erinnerung ansie, weil es schon in ihr keine Erinnerung gibt. WennMach den Weg des Zurückdenkens über die gerade nocherreichbaren naiven Erlebnisse der frühen Kindheit hinausverlängert, tiefer in die Naivität hinein, dann geht er aufeinen Grenzwert zu, der identisch ist mit jenem elementa-ren ‚Zustand', von dem seine analogische Konstitutions-theorie ausging.Memoria contra memoriam: das ist Machs Prinzip. Sich-Erinnern heißt hier, sich gegen das wenden, was sich ausErinnerung konstituiert hat: Leben und Bewußtsein.Machs analytische Erinnerung dient nicht der methodi-schen Sicherung der materialen Basis einer genetischenTheorie. Sie ist vielmehr die Suche nach jenem elementa-ren Zustand, der aller synthetischen Erinnerung, allerSelbsterhaltung und aller Selbstbesinnung des Lebens vor-

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ausliegt und nur im Gegenzug gegen sie zu finden ist.Insofern ist Machs Positivismus eine analytische Philo-sophie.Was heißt hier nun Analyse? Mach sagt lapidar: „DieKomplexe zerfallen in Elemente." (Mach 1906, 4) DieserThese ist eine konziliante Fußnote hinzugefügt, die eserlaubt, dieses Zerfallen auch als eine abstraktive Opera-tion zu denken, aber zugleich kunstvoll ungesagt läßt, wiedas Sich-Auflösen der Komplexe im eigentlichen Sinn zudenken ist. Analyse heißt eben nicht Zergliederung, son-dern Zerfall. Ernst Mach, der Physiker, arbeitet an dieserAuflösung durch seine Wissenschaftsgeschichte. Verflüs-sigung aller Theorien durch Einsicht in ihre Entstehung:denn Genese heißt immer: Komplexe bilden, zusammen-kleben, festwerden. „Die Geschichte hat alles gemacht",das ist der eine Satz Machs, der synthetische; warum ersich für die Geschichte interessiert, das sagt die analytischeFortsetzung: „Die Geschichte kann alles ändern. Erwar-ten wir von der Geschichte alles." (Mach 1872, 2 ff.)Machs Intention ist „eine gänzliche Umgestaltung derphysikalischen Grundansichten" (ebd. 55). Was dabeiherauskommt, ist nicht ein neues System, sondern einVerfahren des Abbaus aller Systeme. Die Einheit der Wis-senschaft ist gewiß ein großes Ideal, aber es realisiert sichfür Mach in dem ständigen Bemühen um Verflüssigungdes Festgewordenen: das Ziel ist, „alles Wissen in einenStrom zusammenzuleiten" (Mach 1933, VI f.).Ernst Mach aber, der Philosoph, betreibt das, was er„meine ständige Selbstanalyse" nennt (ebd. XVIII). Beidieser dezidiert analytischen Form von Selbstbesinnungkommt ihm gelegen, daß die Kürze der Assoziationsket-ten, wie sie für Kinder und Tiere kennzeichnend ist — beidesind noch nicht so mit Komplexen beladen —, auch eineAlterserscheinung ist. Hören wir uns diesen zwischen

Reflexion und Vision liegenden Text an, den Mach einJahr vor seinem Tod veröffentlicht hat: „Mit zunehmen-dem Alter, wenn wir uns des Nachlassens unserer Sinnebewußt werden, verlieren wir uns oft in der Vergangen-heit; die Erinnerung an der ersten Kindheit längst ent-schwundene Tage, an die primitivste, zumeist aberfreundlichste Epoche unseres Daseins steigt herauf. Mitleuchtenden Farben malte sich in uns damals alles zu un-vergänglichen Bildern und träumend erleben wir die Weltjener Erstlingstage wieder: Gerüche, Farben, Formen,Tastempfindungen vermittelten uns damals weit vollkom-mener unsere viel zarteren, empfänglicheren Sinne. Wirwerden gewahr, wie unendlich reich und fruchtbar jeneZeit war, welche Fülle von Eindrücken auf uns einstürmteund wie wir noch heute, im Grunde genommen, in unse-rer damaligen Empfindungswelt wurzeln." (Mach 1915,22)Mach sieht das Leben, das zeigt sich am Ende seineseigenen, in der Gestalt eines Bogens. Aus der unberührtenelementaren Naivität, dem Unerreichbaren, steigt es aufund nähert sich ihm im Alter wieder an. Das, woher eskommt, und das, wohin es geht, sind eins. Machs Erinne-rung geht nicht in die Selbstbesinnung ein, sondern leitetzur Selbstanalyse an, führt hin zur Selbstdiffusion im Flußder Elemente. So ist für Mach „das Ich keine von der Weltisolierte Monade, sondern ein Teil der Welt und mitten imFluß derselben darin, aus dem es hervorgegangen und inden zu diffundieren es wieder bereit ist" (Mach 1926, 462).Das Leben ist nicht das Erste, sondern das Zweite. Esstimmt zwar — was Dilthey sagt —, daß das Denken nichthinter das Leben zurückgehen kann; Machs Philosophieaber bringt zum Ausdruck, daß das Denken an diesemNicht-Können leidet und im Leben selbst nach den Grün-den für dieses Leiden sucht.

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Im letzten Teil meiner Überlegungen möchte ich nuneinige Bemerkungen machen über die Konsequenzen, diesich aus dieser Sicht des Lebens für die Funktion derErlebnisse im Leben ergeben. Die Linie, die ich dabeizwischen Dilthey und Mach zu ziehen versuche — nur einevon verschiedenen möglichen —, verläuft über Husserl.Seine „Logischen Untersuchungen" sind in ihren erkennt-nistheoretischen Ausführungen von Mach beeinflußt undhaben ihrerseits auf Dilthey gewirkt. Ich möchte zuersteinen Blick werfen auf die anonyme Präsenz der Empfin-dungslehre Machs in der 5. Logischen Untersuchung unddann noch auf Diltheys späte Theorie der „gegenständli-chen Auffassung" eingehen.„Wie entstehen die Empfindungen?" Diese Frage Her-barts (Herbart, 217) beunruhigt Husserl nicht. Empfin-dungen sind ursprünglich. Es hat keinen Sinn, nach ihrerEntstehung oder ihrer Herkunft zu forschen; sie sindvielmehr selbst Herkunft von allem anderen. Husserl be-findet sich da ganz im Einklang mit der wichtigsten TheseMachs: „Die Empfindung muß man nicht erklären wol-len." (Mach 1926, 44) Weder steigt die Empfindung ausdem Abgrund des Unbewußten auf, noch resultiert sie ausden Abläufen, die ein äußerer Reiz im Nervensystem desgereizten Organismus auslöst. Der Phänomenologe weißnichts von „irgendwelchen verborgenen und hypothetischangenommenen Vorgängen in den unbewußten Tiefen derSeele oder in der Sphäre des physiologischen Geschehens"(LU II, 363).4Doch erinnern wir uns: Für Mach ist die Empfindung ein

Die ,Logischen Untersuchungen` (LU) zitiere ich nach der erstenAuflage von 1900/1901.

Neutrum; ihr ‚eigentlicher' Name ist Element. Wie wirddie elementare Empfindung subjektiver Bewußtseins-inhalt einerseits, andererseits objektive Qualität? Nachdieser Gabelung fragt Mach und antwortet mit einer gene-tischen Theorie. Dies liegt Husserl fern. Die Empfindungist nie etwas anderes als subjektiver Bewußtseinsinhalt.Wie kommen wir von subjektiven Empfindungen zu ob-jektiven Qualitäten? So fragt Husserl, und er antwortetmit einer deskriptiven Theorie. Das Bewußtsein entstehtnicht als ein Sich-Binden und Sich-Lösen von Elementen;es ist eine fertige Struktur, so fertig, daß der Gedanke, siekönne je unfertig gewesen sein, sorgsam niedergehaltenscheint — und sich erst recht ständig aufdrängt.Dabei ist es nicht ganz ohne Bedeutung, daß Husserl sichwiederholt dem Empfindungsmonismus im verständnis-voll-unpolemischen Referat annähert, besonders in jenem§ 7 der fünften „Logischen Untersuchung", der in derzweiten Auflage ersatzlos gestrichen wurde. In diesemverworfenen Text stellt Husserl einander gegenüber: hier,bei sich, die deskriptive Psychologie, die die „Icherlebnis-se (oder Bewußtseinsinhalte)" untersucht, dort, auf Di-stanz gebracht, die genetische Psychologie, deren Aufga-be es ist, „die Zusammenbildung von psychischen Ele-menten zu Ich, weiterhin deren Entwicklung und Verfallzu erforschen" (LU II, 336). Dieser Formulierung ist zuentnehmen, daß Husserl — übrigens im Einklang mit denmeisten seiner Zeitgenossen — Mach ,psychomonistisch`bzw. ‚idealistisch' mißversteht. Während der Phänome-nologe für sich „Bewußtseinsinhalte" mit „Icherlebnis-sen" gleichsetzt, unterstellt er dem Positivisten, er fangebei „psychischen Elementen" an, lasse dann eine Phase der„Zusammenbildung" ablaufen und höre schließlich beim„Ich" auf. Daß aus Elementen zuerst einmal psychischeElemente werden müßten, liegt ebenso außerhalb dessen,

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was Husserl sich in den Sinn kommen läßt, wie der Sach-verhalt, daß für Mach psychische Elemente als solcheschon ichhafte Elemente sind — was ein Sich-Herausbildendieses Ich zu schärferer Distinktheit nicht ausschließt.Aus Husserls idealistischem Mißverständnis der „Elemen-te" Machs entsteht, im Referat, eine Dissoziation vonBewußtsein und Ich. Noch tut Husserl sie ab; doch späte-stens 1907 wird er sich mit ihr anfreunden und die Glei-chung von 1901 „Bewußtsein = das phänomenologischeIch" fallenlassen.Das Bewußtsein, das Husserl 1901 zum Thema macht, istkeine bloße Ansammlung von Empfindungen, keine ein-fache Agglomeration, sondern ein „,Bündel" oder eine„Verwebung der psychischen Erlebnisse". Das heißt vorallem negativ: das Bewußtsein ist keine Bühne, keine Ta-fel, kein Behälter, keine „Schachtel" (LU II, 164). Es istnicht zuerst eine Leere da, zu der dann Inhalte kommen,um sie auszufüllen; es sind zuerst Inhalte da, die zu demgeeint werden müssen, was dann Bewußtsein heißt. Dochdies möchte Husserl nicht genetisch verstanden wissen.„Verwebung", das liegt Husserl am Herzen, meint hiernicht einen Prozeß, sondern einen Zustand; die Erlebnissewerden nicht ‚verwebt', sie sind ‚verwebt'.Die Inhalte des Bewußtseins sind so Teile eines Ganzen.Diese Teile — Husserl nennt sie alle „Erlebnisse" — lassensich in zwei Sorten einteilen: Empfindungen und Akte.Die Empfindungen aber gehen in die Akte ein; durcheinen Akt geschieht etwas mit den Empfindungen. Undwas? Sie werden „apperzipiert", also „aufgefaßt", nicht alssie selbst, sondern als etwas anderes, nämlich als das,wodurch uns objektive Qualitäten gegeben sind. Die „ob-jektivierende Auffassung", die das Bewußtsein immer na-türlich und selbstverständlich vollzieht, ist dafür verant-wortlich, daß wir nicht Empfindungen sehen, sondern

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Eigenschaften, nicht Empfindungskomplexe, sondernGegenstände. Diese Apperzeption nicht beachtet zu ha-ben, ist einer der Einwände, die Husserl gegen Mach,ohne diesen zu nennen, vorbringt: „Nicht selten mengtman beides, Farbenempfindung und objektive Farbigkeitdes Gegenstandes, zusammen. Gerade in unseren Tagenist eine Darstellung sehr beliebt, die so spricht, als wäredas eine und andere dasselbe, nur unter verschiedenen,Gesichtspunkten und Interessen' betrachtet; psycholo-gisch oder subjektiv betrachtet, heiße es Empfindung,physisch oder objektiv betrachtet, Beschaffenheit des äu-ßeren Dinges." (LU II, 327) Die Apperzeption ist eine„deutende Auffassung" von Empfindungen; diese erfah-ren durch jene eine „gegenständliche Deutung" (LU II,329, 370).Apperzeption, Deutung, Beseelung: das sind selbst nurverschiedene Bezeichnungen des einen Vorgangs der Auf-fassung, durch den eine Beziehung hergestellt wird zwi-schen den subjektiven Empfindungen und den objektivenQualitäten; genau diese Leistung aber führt Husserl unterdem Namen Intentionalität. Die Empfindungen „ermög-lichen als die notwendigen Anhaltspunkte die Intention";diese aber ist „auffassende Intention" (LU II, 353-362).Wenn die Empfindungen die Intention ermöglichen, soheißt das doch: Die Empfindungen sind das erste; siewerden gebündelt zur umfassenden Einheit oder verwe-ben sich zu Komplexionen: das ist das zweite; das dritte istdann die objektivierende Apperzeption, die auffassendeIntention. Aber Intentionen kommen nicht einfach nebenEmpfindungen und Empfindungskomplexen auch vor,der Abwechslung wegen dazwischengestreut; vielmehrheften sie sich stets an Empfindungen, suchen und — wennsie Glück haben — finden in ihnen das, was Husserl miteiner Vokabel aus dem Sprachschatz des Okkasionalismus

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ihren „Anhalt" nennt (LU II, 353, 370). Zusammengefügtaus den Komponenten Empfindungskomplex und Inten-tion, erscheint das Bewußtsein in sich auf eine Weisedualistisch, die es ihm erlaubt, sich selbst als ganzes undals ein Ganzes seinen Gegenständen gegenüberzustellen.Hat die Intention erst einmal an Empfindungen Halt ge-funden, dann ist es um deren bloßes Innesein auch schongeschehen: indem die Auffassung sie sich „einordnet oderangliedert", bildet sich als neue Einheit das „intentionaleErlebnis" oder der „Bewußtseinsakt". Halten wir aberfest, daß es stets der ‚fertige' Akt ist, den Husserl be-schreibt. Die Folge von zuerst dieses, dann jenes undschließlich ein drittes; diese Stadien sind bloß analytisch-deskriptiv, nicht genetisch-konstitutiv zu verstehen.Dieser Aufbau, obschon wohldurchdacht, weist eineAchillesferse auf, die ihn für das vermeintliche Gift dergenetischen Betrachtungsweise anfällig macht. Zu den„Erlebnissen" gehören auch nichtintentionale Erlebnisse:die Empfindungen gehen keineswegs stets als inneres Mo-ment ein in die nach außen gewandte Struktur eines Aktes,sie können getrost apperzeptionsfrei existieren. Die Inten-tion bedarf der Empfindung als das, woran sie sich haltenund was sie sinnhaft deuten, beseelend auffassen kann.Die Empfindung indes, so scheint es, bedarf keiner Inten-tion. Könnte nicht ein Bewußtsein ausschließlich aus in-tentionslosen Empfindungen bestehen? Mach würde sa-gen: bestehen könnte es aus ihnen nicht, aber in sie sichauflösen. Für Husserl aber können Empfindungen auchohne qualitative Deutung vorkommen, freilich stets ‚ge-bündelt', stets ‚verwoben'; und Empfindungskomplexe —nicht alle, aber immer irgendwelche — müssen objektivie-rend aufgefaßt werden, soll das Bewußtsein Bewußtseinbleiben. Indirekt also, über die interne Komplexion, ha-ben alle Empfindungen Anschluß an Intentionalität. Ein

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Bewußtsein ohne alle auffassende Intention würde aufhö-ren, Bewußtsein zu sein. Die phänomenologische Binsen-weisheit, daß Bewußtsein immer Bewußtsein-von-etwasist, gewinnt einiges von ihrer früheren Frische zurück,wenn man sieht, wie mühsam sie gegen den ,Psychomo-nismus' gefunden wird, den Husserl für die PhilosophieMachs hält.Blicken wir nun auf Dilthey, den Leser der „LogischenUntersuchungen"! Aus der „objektivierenden Auffas-sung", die Husserl gegen Mach ins Feld führt, wird beiihm die „gegenständliche Auffassung" — sprachlich eineunscheinbare Differenz, sachlich jedoch von beachtlicherTragweite. Dilthey hält 1905 zwei Hauptformen der ge-genständlichen Auffassung auseinander, nämlich die Auf-fassung „von Erlebnissen" und die Auffassung „äußererGegenstände". Dieses letztere kennt Husserl weder demTerminus noch der Sache nach; sind doch für ihn solcheGegenstände dem Bewußtsein erst als Resultat der Auffas-sung von Erlebnissen gegeben. In der „Zweiten Studie zurGrundlegung der Geisteswissenschaften" hat Dilthey er-sichtlich Schwierigkeiten mit dem Idealismus, der in Hus-serls Begriff der „objektivierenden Auffassung" daraufwartet, zum Ausbruch zu kommen. Diltheys mühsamanti-idealistische Theorie des Widerstandes, den die Din-ge unserem Willen entgegensetzen — denken wir an dieRealitätsabhandlung von 1890 —, ist mit der phänomeno-logischen Konstitutionstheorie kaum zu versöhnen.Zunächst klammert sich Dilthey noch an eine Differenz inden Grundlagen: Wird der psychische Zusammenhangaufgefaßt, so hat dieses Auffassen seine „Grundlage imErleben"; wird der äußere Gegenstand aufgefaßt, so hatdieses Auffassen seine „Grundlage im sinnlichen An-schauen" (VII, 32 f.). Diese Opposition von Erleben undsinnlichem Anschauen gehört zu den Spätfolgen der unbe-

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wältigten Probleme, die Kants Unterscheidung von inne-rem und äußerem Sinn hinterlassen hatte; wenn Diltheyvon „sinnlichem Anschauen" spricht, so meint er freilich —anders als Kant — ausschließlich das, was den Sinnen vonaußen eingedrückt wird, während das Erlebnis den Inhal-ten des inneren Sinnes entspricht. So unbefriedigend indesDiltheys Distinktion in den Grundlagen des Auffassensauch sein mag: sie trägt doch dem Rechnung, was er den„Druck der Außenwelt" und was Kant die Affektiondurch Dinge außer mir genannt hat.Diese Opposition von Erleben und sinnlichem Anschauenwird fünf Jahre später, im „Aufbau" von 1910, preisgege-ben: Jetzt kommt auch den „Eindrücken von der Natur"„Erlebnischarakter" zu. Eindrücke sollen sie dennochbleiben: fragt sich nur wie. Unser Verhältnis zu physi-schen Objekten besteht nun nur noch aus lauter Kon-struktion: einerseits muß der Mensch die Natur „aus sei-nen Eindrücken konstruieren"; andererseits ist diesesKonstrukt das, „durch dessen Setzung die Impressionenkonstruierbar werden" (VII, 81-83). Dieser konstruktiveZirkel, in dem wir Impressionen zu Dingen bündeln undvon diesen Dingen wiederum erst unsere Impressionenbekommen, enthält eine unwiderstehliche Inklination zueinem Idealismus. Man müßte schon, wollte man dagegenanarbeiten, ein Ding an sich einführen, das uns beein-druckt und aus dessen Eindrücken wir dann ein anderesDing — nennen wir es mit Kant Erscheinung — konstitu-ieren.Nun, die physischen Objekte sind in Diltheys spätenÜberlegungen ein marginales Problem. Thematisch zen-tral dagegen sind die „geistigen Objekte". Und doch istdas, was sich da thematisch an der Peripherie abspielt, fürdie Sicht der inneren Verfassung des Seelenlebens vonentscheidender Bedeutung. Ein Bewußtsein, das einen

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Teil seiner Empfindungen äußeren Eindrücken verdankt,ist auch dem ausgeliefert, wovon es beeindruckt wird.Rezeptivität heißt Verletzbarkeit, ja Zerstörbarkeit. Dieäußeren Objekte aus der Auffassung von subjektivenEmpfindungen allererst entstehen zu lassen, macht dasBewußtsein unangreifbar. Darin liegt der Reiz von Hus-serls Konzept der objektivierenden Auffassung für Dil-they : Das Seelenleben macht sich unbetreffbar; im psychi-schen Zusammenhang kommen keine Erlebnisse vor, dieden Zusammenhang selbst, in dem sie vorkommen, zer-reißen könnten; er ist „in sich abgeschlossen", fähig zupermanenter Beharrung. Dies also lernen wir aus Diltheysspäter Übernahme des Gedankens der objektivierendenAuffassung: Durch das, was Husserl gegen Mach tut, siehtDilthey seine eigenen Intentionen gefördert.Husserl freilich hat im Innern des Bewußtseins selbst eineStelle, an der es von Zerfall bedroht ist: die ,okkasionali-stische Verknüpfung von Empfindung und Intention,von Inhalt und Auffassung. Diese immanente Labilität desvon ihr beschriebenen Bewußtseins führt die Phänomeno-logie immer wieder an den Rand der so emphatisch analy-tischen Elementenlehre Machs. 1907 schreibt Husserl:„Natürlich, daß es Nichts nicht geben kann, das ist selbst-verständlich. Aber ein bloßes ,Gewühl von Empfindun-gen', ein Durcheinander, das in der präempirischen Zeit-folge so unvernünftig aufeinander folgt, daß keine Ding-auffassung sich darin erhalten und durchhalten kann, einbloßes Empfindungsgewühl, sage ich, ist ja nicht ein abso-lutes Nichts, es ist nur nichts, was eine dingliche Welt insich konstituiert. Warum muß aber eine Welt existie-ren?... Ich sehe in der Tat nicht ein, daß sie das müßte.Das betrifft die Welt im weitesten Sinn, einschließlich dasIch als Persönlichkeit und andere Ich... So kommen wirauf die Möglichkeit eines phänomenologischen Gewühls

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als einziges und letztes Sein, aber eines so sinnlosen Ge-wühls, daß es kein Ich gibt und kein Du gibt und daß eskeine physische Welt gibt." (Hua XVI, 288 f.)Was Husserl mit einer Metapher Kants (KrV, A 111) als„sinnloses Gewühl" so finster-bedrohlich beschwört, er-lebt der junge Mach „plötzlich" als eine beglückende Be-freiung. „An einem heiteren Sommertag im Freien", soschildert er seine Erweckungsszene, „erschien mir einmaldie Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängendeMasse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammen-hängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst spä-ter hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meineganze Anschauung bestimmend geworden" (Mach 1906,24 Anm. 1) — ein Moment, in dem die Indifferenz von Ichund Welt aufblitzt und damit für einen Augenblick dieAuflösung beider ins Elementare als ursprünglich-wahrerscheint.Dem von Dilthey analysierten Bewußtsein sind solchetiefen Anfechtungen fremd. Es ist primär Zusammen-hang, dann erst Zusammenhang von Erlebnissen; es istprimär Struktur, dann erst Struktur von Inhalten. Gewiß,was die Fülle der beschriebenen Erscheinungen angeht,reklamiert Dilthey mit Recht für seine Philosophie, sieleiste eine „unverstümmelte und unbefangene" Deskrip-tion des Seelenlebens und der Lebensäußerungen. Abererfaßt zu haben, daß ins Innerste dieses Lebens die Mög-lichkeit des Zerfalls gehört — als Gefahr bei Husserl, alsChance bei Mach —, darin sind ihm der Phänomenologeund der Positivist voraus.

Literaturverzeichnis

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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Einleitung in die Phi-losophie (1813), in: Sämtliche Werke I, Leipzig 1850.

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