Sonderdruck aus ASPEKTE DER HISTORISCHEN ...Dementsprechend behandelt Hermann Bengtson in seiner...

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Sonderdruck aus ASPEKTE DER HISTORISCHEN FORSCHUNG IN FRANKREICH UND DEUTSCHLAND Schwerpunkte und Methoden ASPECTS DE LA RECHERCHE HISTORIQUE EN FRANCE ET EN ALLEMAGNE Tendances et methodes Deutsch-Französisches Historikertreffen Colloque franco-allemand Göttingen 3-6 X 1979 Herausgegeben von GERHARD A. RITTER und RUDOLF VIERHAUS Redaktion ETIENNE FRAN(; OIS und RICHARD KIRCHHOFF GOTTINGEN " VANDENHOECK & RUPRECHT " 1981

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  • Sonderdruck aus

    ASPEKTE DER HISTORISCHEN FORSCHUNG IN FRANKREICH UND DEUTSCHLAND

    Schwerpunkte und Methoden

    ASPECTS DE LA RECHERCHE HISTORIQUE EN FRANCE ET EN ALLEMAGNE

    Tendances et methodes

    Deutsch-Französisches Historikertreffen Colloque franco-allemand

    Göttingen 3-6 X 1979

    Herausgegeben von GERHARD A. RITTER und RUDOLF VIERHAUS

    Redaktion ETIENNE FRAN(; OIS und RICHARD KIRCHHOFF

    GOTTINGEN " VANDENHOECK & RUPRECHT " 1981

  • PROSOPOGRAPHISCHE FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE DES MITTELALTERS

    Von

    KARL SCHMID

    I

    Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters' unterschei- den sich darin von solchen zur Alten Geschichte, daß ihnen bis jetzt eine um- fassende Prosopographie nicht zur Verfügung steht. Während Mediävisten seit Jahrzehnten über die Realisierbarkeit eines prosopographischen Werkes für das Mittelalter diskutieren=, befindet sich die Altertumswissenschaft in einer an- deren Lage. Sie besitzt bekanntlich seit der Jahrhundertwende Einrichtungen, die um die Veröffentlichung von Prosopographien< bemüht sind. Basierend auf dem Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) konnte im Auftrag der Preußi- schen Akademie der Wissenschaften die Prosopographia Imperii Romani (PIR) mit einem Vorwort von Theodor Mommsen erscheinen'. Ihr folgte dann die

    1 Die von den Veranstaltern für das Kolloquium vorgeschlagene allgemeine Titelformel wird beibehalten, obwohl sich die Ausführungen im wesentlichen auf deutsche Forschungen beziehen, da von französischer Seite M''Autrand einen Beitrag (s. S. 43) mit besonderer Berücksichtigung spät- mittelalterlicher Verhältnisse und Fragestellungen bietet. Das Referat wurde leicht überarbeitet, er- gänzt und mit Anmerkungen versehen. Für den Bereich der Alten Geschichte seien erwähnt: C. NicoLET, Prosopographie et histoire sociale: Rome et l'Italie ä l'epoque republicaine, in: Annales E. S. C. 25 (1970) S. 1209-1228; A. CtIASTAGNOL, La prosopographie, methode de recherche sui l'histoire du Bas-Empire, ibid. S. 1229-1235.

    2 Vgl. TELLENBACH (wie Anm. 22) S. 16; zuletzt WERNER (wie Anm. 10) S. 69 ff.; vgl. auch K. SCHMID, Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen, in: Früh mittelalterlicheStudien 8 (1974) S. 116-130, bes. S. 123 mit Anm. 24; und schon DENS. (wie Anm. 23) S. 226f.; DENS., Bemerkungen zur Frage einer Prosopographie des früheren Mittelal- ters, in: Zeitschr. f. Württ. Landesgesch. 23 (1964) S. 215-227. -Zur BeuneilungderForschungsge- schichtevgl. G. BEECH, Prosopography, in: Medieval Studies: An Introduction, Hg. J. M. Po'rELL, Syracuse 1976 S. 151-184.

    3 PIR. Hg. E. KLEBS, H. DESSAU, P. v. RONDEN, 3 Bde. Berlin 1897/98, Neuauflage durch E. GROAG, A. STEIN, LEIVVA PETERSEN ab 1933. Fortsetzung A. H. M. JONES, J. R. MARTINDALE, J.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 55

    Prosopographia Attica'. Seitdem gehören Prosopographien, das sind kritische Materialzusammenstellungen »für bestimmte zeitlich oder sachlich geordnete Personengruppen«s zu den Standardwerken der Geschichtswissenschaft. Eine historische Forschungsrichtung, die Sorge trägt für die Sammlung, kritische Sichtung und Veröffentlichung des überlieferungsgutes, von dem sie ausgeht und bestimmt wird, überzeugt gewiß in besonderer Weise. Ja, es fragt sich, ob nicht der Fortschritt in der Quellenkritik, vor allem in der kritischen Erhebung

    und Veröffentlichung der Überlieferung zu den unabdingbaren Voraussetzun-

    gen und Notwendigkeiten gehört, ohne die im Grunde genommen historische Erkenntnis nicht weiterzukommen vermag.

    So gesehen könnten die prosopographischen Forschungen zur Geschichte des Mittelalters am Erfolg gemessen werden, der bei den Bemühungen erzielt wer- den konnte, eine Mittelalter-Prosopographie zu schaffen oder doch wenigstens das prosopographische Material zur Geschichte des Mittelalters zu sammeln. Nicht weil die Mediävistik dabei vergleichsweise schlecht abschneiden würde, erscheint ein solches Verfahren fragwürdig. Vielmehr muß gefragt werden, wie es mit den Voraussetzungen für die Erstellung einer Mittelalter-Prosopographie steht. Und sollten diese nicht oder noch nicht gegeben sein, so muß geprüft wer- den, woran dies liegt. Bevor indessen darauf einzugehen ist, welche Personen auf welche Art und Weise in der Überlieferung in Erscheinung treten, muß - um Mißverständnisse zu vermeiden - mit Nachdruck betont werden, daß die Erar- beitung von Personenkatalogen - der )Kirchner( etwa wird das »attische Adreß- buch« genannt' - keineswegs Ziel, sondern Mittel zum Zweck prosopographi- scher Forschung ist. Prosopographische Forschungen streben historische Er- kenntnis in Anwendung prosopographischer Methoden an. Anders ausge- drückt: überlieferte und gesammelte prosopographische Daten gilt es auszuwer- ten und zwar unter prosopographischem Aspekt.

    Ist damit unterstellt, daß >prosopographische Forschungen( auch für die Mit- telalterforschung ein wichtiges Anliegen darstellen, so steht eine Klärung von Begriff und Inhalt solcher Bemühungen noch aus. Die Prosopographie sollte nach dem Verständnis der Altertumswissenschaften sammeln und zusammen- stellen, was an Nachrichten über bemerkenswerte Menschen überliefert wurde'.

    MoRRts, The prosopography of the Later Roman Empire 1, Cambridge 1971, Bd. 2 für 1980 ange- kündigt.

    4 Hg. I. KIRCHNER, 2 Bde. (Berlin 1901/03) Ndr. Berlin 1966. 5 H. BENGTSON, Einführung in die Alte Geschichte, München 1949,81979, S. 160; ibid. werden

    Prosopographien als . Personenlexika

  • 56 KARL SCHMID

    Indessen wird Prosopographie nach dem Verständnis der Neueren Geschichte,

    wie es vor allem Lawrence Stone darlegte, als sog. >Sammel-Biographie< (collec- tive biography) verstandene. Im Vokabular der Sozialwissenschaften handelt es sich um die Analyse multipler Karrierewege. Dabei unterscheidet Stone im Hin- blick auf die Prosopographie, die als Instrument zur Aufdeckung der Ursachen politischen Handelns und zur Erkenntnis von Sozialstruktur und sozialer Mobi- lität dient, zwei Richtungen. Sie geben sich im angelsächsischen Bereich insbe-

    sondere in den Anhängern von zwei Schulen zu erkennen, der sog. >Elitenschu- Ie< und der sog. Massen-Schule

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 57

    Auch wenn jetzt nicht entschieden werden kann, ob die Prosopographie als 'Hilfswissenschaft' zu gelten hat, soll doch wenigstens gefragt werden, ob sie überhaupt eine Disziplin' und nicht vielmehr eine Forschungsrichtung dar-

    stellt, die dem sozialgeschichtlichen Forschungsanliegen'Z besonders nahesteht. Wie dem auch immer sein mag: Es ist nicht zu verkennen, daß den drei bekann- ten'Voraussetzungen historischen Geschehens

  • 58 KARL SCHMID

    dürften einige grundsätzliche Bemerkungen über das Problem Einzelpersön- lichkeit und Masse< nicht fehlen, beruhe doch auf der Wechselwirkung zwischen beiden das historische Geschehen. Und Bengtson macht Droysen als überzeug-

    ten Anhänger des »Persönlichkeitskultes« namhaft und Beloch als Vertreter

    »eines ausgesprochenen Kollektivismus«16, ohne in diesem Zusammenhang - wie schon erwähnt - die Prosopographien anzuführen.

    Auch Ahasver von Brandt nennt in , Werkzeug des Historikers< (8. Aufl. 1976)

    - einem Werkzeug gleichfalls für Studenten - neben Raum und Zeit als »dritte

    Voraussetzung, damit Geschichte möglich« sei, den Menschen als »Träger der Geschichte«. Mit Bezug auf den Menschen indessen führt er die >Genealogie< als Hilfswissenschaft ins Rennen. Sie beschäftige sich mit den biologischen Zu-

    sammenhängen und verwandtschaftlichen Verflechtungen der Menschen und sei von den historischen Zweigwissenschaften, von der >Bevölkerungsgeschichte' und der >Volksgeschichte' wie von der >Personengeschichte< (Biographik), der Erforschung und Darstellung der Lebensgeschichte einzelner Personen, abzu- grenzen. Abgesehen vom Rang, der hier überraschenderweise der Genealogie<

    eingeräumt wird", hebt auch v. Brandt auf die Erforschung der Völker als Per-

    sonenverbänden und auf die Erforschung der Einzelmenschen als Personen ab. Sieht man nun aber zu, wie es um die genannten Forschungsgegenstände, die

    , Volksgeschichte< und die Personengeschichte', in der Mittelalterwissen-

    schaft tatsächlich steht, so ergibt sich ein überaus merkwürdiges Bild"'. Ethnische Verbände wie Stämme, Völkerschaften oder Völker zu erforschen,

    ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil die in den Quellen auftauchenden Be-

    zeichnungen für solche Gebilde in ihrer Begrifflichkeit wie in ihrer Bedeutung kaum sicher bestimmbar sind. Da sich zudem eine »Gleichsetzung von Sprach-

    gemeinschaft und Volksgemeinschaft« auch im Hinblick auf das Mittelalter als immer fragwürdiger erwiesen hat18, befindet sich die neuere Forschung erst auf der Suche nach zureichenden Kriterien, um ethnische und gentile Erscheinun-

    gen und Prozesse erfassen und in ihrer geschichtlichen Relevanz ermessen zu können. Je tiefer die Stammesforschung in die sich stellenden Probleme ein- dringt und sieht, daß »die gentes des frühen Mittelalters keineswegs völlig ho-

    mogene Ganzheiten mit durchgängig einheitlicher Struktur« waren, daß sich in

    16 Ibid. S. 58. 17 A. VON BRANDT, Werkzeug des Historikers (Urban-Taschenbücher 33), Stuttgart usw. 1958,

    81976 S. 39. Zu beachten ibid. Genealogie als historisch-soziologische Grenzwissenschaft mit aut- arker Zielsetzung«. - Zum Begriff Sozialgenealogie. s. Anm. 33.

    17' Im Folgenden (einschließlich Abschnitt II) werden Gedankengänge und Formulierungen aus: Programmatisches (wie Anm. 2) S. 117ff. teils übernommen, teils modifiziert bzw. präzisiert.

    18 Formulierungen nach R. WENSKUS, Die deutschen Stimme im Reiche Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1, Hg. H. BEUMMANN, Düsseldorf' 1967 S. 178-219, hier S. 178 f.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 59

    ihnen vielmehr »ältere Einheiten mit Rechtsbrauch und Sondertraditionen er- halten« hatten", desto differenzierter wird das zu gewinnende Bild und desto

    offener werden die Fragen im weiten Bereich der Stammesgeschichten. Und im Blick auf die Bildung der europäischen Völker verhält es sich bekanntermaßen kaum anders. Erinnert sei nur an den wissenschaftlichen Streit über die Entste- hung des deutschen Volkes1Q. Er ist so alt und so neu wie eh und je. Es genügt, das interdisziplinäre Forschungsunternehmen >Nationes im Mittelalter< zu er- wähnen=', um deutlich zu machen, welche Anstrengungen erforderlich sind, um die Vorgänge ein wenig zu erhellen, die das hervorgebracht haben, was wir 'Na- tionen< nennen.

    Versteht man hingegen unter Prosopographie »die Erforschung und Darstel- lung des Lebens einzelner Menschen vergangener Zeiten»22, so türmen sich die Schwierigkeiten im Vergleich zursog. 'Volksforschung

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    daran, vor allem in der Zeit der'Einnamigkeitc, wenig24. Ihrer Bestimmung als Getaufte in der Heilserwartung, als Mann oder Frau, als Amtsträger oder

    Stan-

    desangehörige, als Glieder geistlicher oder natürlicher Gemeinschaften gegenü- ber treten die individuellen Züge der Menschen in der Überlieferung so sehr zu-

    rück, daß ihre Identifizierung als Personen zu einem zentralen Problem der mit-

    telalterlichen Personenforschung wird 25. Insofern sich der Mensch des Mittelal-

    ters vor allem und zuerst als Angehöriger von Gemeinschaften und in seiner Eingebundenheit in das seiner Zeit entsprechende Sozialgefüge zu erkennen gibt, sieht sich die Mittelalter-Forschung neuerdings veranlaßt, über die Grup-

    penforschung zur Personenforschung vorzudringen, nicht etwa umgekehrt "6"

    in: Frühmittelalterliche Studien 1(1967) S. 225-249, hier S. 240f.; W. ULLDIANN, Individuum und Gesellschaft im Mittelalter (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1370), Göttingen 1974, S. 84: . Bislang war der natürliche Mensch, der Einzelne im Naturzustand (der Teil des Individuums, der praktisch ein Jahrtausend lang übersehen worden war), angeblich überwunden und durch die Taufe ausgelöscht worden. Jetzt jedoch wurde dieser durch die Taufe ausgeschaltete natürliche Mensch wiederbelebt, erweckt und gewissermaßen zur Auferstehung gebracht, nachdem er jahrhundertelang ein Schlum- merdasein geführt hatte. « Übers. d. eng. Ausgabe: The Individual and Society in the Middle Ages, Baltimore 1966 und London 1967. -Von kunsthistorischer Seite vgl. H. KELLER, Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3 (1939) S. 227-356; DERS., Das Nachleben des antiken Bildnisses von der Karolingerzeit bis zur Gegen-

    wart, Freiburg i. Br. 1970, S. 49: . Die Mosaiken aus der justinianischen Zeit in Ravenna bedeuten eine Art Wasserscheide. Diesseits jenes Gebirgsgrats hört das individuelle Porträt auf, und darstel- lenswürdig ist nur noch die anima christiana. Lebende Menschen werden nun mit einem rechtecki- gen Heiligenschein ausgestattet. «

    24 . Vgl. K. SCHMID, Überlieferung und Eigenart mittelalterlicher Personenbezeichnung, in:

    Prosopographie als Sozialgeschichte? (wie Anm. 56) S. 6ff. desgl. in: Beiheft zu GWU (wie Anm. 56) S. 176ff.

    25 Jedenfalls erscheint es mir dringend erforderlich, das Problem der Personenidentifizierung bzw. der Personenidentität wie der Familien- und Geschlechterstruktur aufzuwerfen, um

    der weit-

    verbreiteten Meinung, es seien die Angehörigen weniger Familien gewesen, die auf das politische Leben bedeutsamen Einfluß nahmen und somit die sog. Oberschicht (dazu Anm. 35) bildeten,

    Er'

    kenntnischarakter zu verleihen. Um diese Forderung zu begründen, genügt es schon, daran zu erin-

    nern, daß nicht einmal bekannt ist, aus welcher Familie Erich von Friaul, der aus Straßburg kam,

    stammte. Auch ist zu bemerken, daß kaum die Hälfte der für Alemannien in der Karolingerceit be-

    zeugten Grafen Familien zugeordnet werden können. Und von den in den Fuldaer Memorialquellen bezeugten 156 Grafen lassen sich lediglich etwa ein Drittel identifizieren, während es für ein weiteres schwaches Drittel begründete Vermutungen für eine Zuordnung gibt, das gute letzte Drittel

    jedoch bisher ohne jeden Identifizierungshinweis blieb; s. Die Klostergemeinschaft von Fulda im

    früheren

    Mittelalter (FW) 2,1: Kommentiertes Parallelregister, Hg. K. Sehirin u. a. (Münstersche Mittelal-

    ter-Schriften 8), München 1978, S. 382-398. 26 Diese Konkretisierung vermag vielleicht die Befürchtung von K. F. WERNER zu zerstreuen,

    die Gemeinschaft werde mystifiziert, s. DENS., Liens de parente et noms de personne. Un Probleme historique et mcthodologique, in: Familie et Parente dans l'occident medieval, Hg. G. DUBY u.

    J. LE

    GOFF (Collection de 1'Ecole Francaise de Rome 30), Roma 1977 S. 31. -Zur Bedeutung der Gemein-

    schaft im Mittelalter vgl. neuerdings auch ULLetANNN (wie Anm. 23) S. 28ff., S. 33, S. 35ff., S. 38.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 61

    II

    Die Probleme möglichst scharf und konkret anzusprechen gelingt wohl am besten an einem Beispiel. Als solches eignet sich die berühmte »Liste der Reichs- aristokraten«, die Gerd Tellenbach im Jahre 1939 in seinem Buch 'Königtum und Stämme in der \Verdezeit des deutschen Reiches< veröffentlicht hat=', in be- sonderer Weise. Und dies nicht nur, weil diese Liste seinerzeit großes Aufsehen erregte. Vielmehr handelt es sich, wenn man so will, um einen ersten prakti- schen Ansatz zur Verwirklichung einer das frühere Mittelalter betreffenden Pro- sopographie.

    Königtum und Stämme, d. h. die verfassungsmäßige Institution übergeordne-

    ter Herrschaft und die großen als ethnische Einheiten faßbaren Verbände, wur- den im Hinblick auf die Zeit des werdenden deutschen Reiches in ein Verhältnis

    zueinander gesetzt. Zwischen ihnen fand Tellenbach die von ihm so genannte 'Reichsaristokratie

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    Bei der mit den Franken einsetzenden Liste handelt es sich um ein kommen-

    tiertes Verzeichnis der nach Stämmen gegliederten Aristokratie": 1. a) Graf Theoderich aus Ripuarien, propinquus regis; wahrscheinlich ver-

    heiratet mit Aldana, Tochter Karl Martells, sammelt 782 Truppen gegen die Sachsen, führt 791 eine der Heeresabteilungen gegen die Avaren, fällt als Feld- herr gegen die Sachsen 793.

    b) Wahrscheinlich sein Sohn Graf Wilhelm von Toulouse, 793 Führer eines Heeres gegen die Sarazenen; dux.

    c) Sein Sohn Graf Bernhard, de stirpe regali; dux; dux Septimaniae. d) Seine Söhne Wilhelm und Bernhard »Plantapilosa« Graf von Autun und

    Markgraf von der Auvergne. e) Bernhards Sohn Wilhelm der Fromme, Herzog von Aquitanien, vermählt

    mit Engelberga, Tochter König Bosos von Niederburgund. 2. Graf Hardrad, 785 Führer eines gefährlichen Aufstandes in den östlichen

    Reichsteilen; dux Austriae. Ein Blick schon auf die beiden ersten Positionen der Liste zeigt, daß die durch

    Ordnungszahlen gegliederten Einheiten der Liste Personen aufführen, die teils Gruppen bilden, teils vereinzelt stehen. In den meisten Fällen tragen weder die Gruppen noch einzeln aufgeführte Personen sie bezeichnende Namen. Gruppen stellen offenbar Personenfolgen nach Generationen dar, wobei z. B. unter b)

    eine wahrscheinliche Filiation und unter d) zwei Söhne Bernhards von Septima- nien aufgeführt werden. Ist hier eine Familienfolge oder besser wohl: ein Ge- schlecht aufgeführt (es wird gewöhnlich das der >Bernhardeý genannt), so ist die Einzelposition 2 nicht ohne weiteres als Familienposition zu werten, zumal sie ohne Familienangabe bleibt. Dagegen erscheinen unter Position 5 die sog. \Vi- donen oder Lantbertiner. Wie aus der Gesamtübersicht Hervorgeht, sind die Po- sitionen in 30 von 42 Fällen, gleichviel, ob sie Personenfolgen oder Einzelperso- nen enthalten, nicht durch Namen oder Überschriften gekennzeichnet; 10 Fa- milien werden nach Personennamen zubenannt, z. B. die \Vidonen nach \Vido,

    und 2 Familien werden nach ihrem hauptsächlichen Wirkungsbereich bezeich-

    net, so z. B. die Linzgaugrafen. Unter den zahlreichen Fragen, die an diese Liste gerichtet werden können,

    seien die folgenden drei herausgegriffen: 1. Setzt sich die namhaft gemachte Ari-

    stokratenschicht aus Personen oder Familien zusammen? 2. Angenommen, die Liste werde aus Personen gebildet, nach welchen Kriterien sind diese ausge- wählt? -auf Grund ihrer Ämter, ihrer Familienzugehörigkeit oder ihrer persön- lichen Qualität? 3. Angenommen, die Reichsaristokratie bestehe aus Familien,

    weshalb fehlen dann andere bekannte Mitglieder? Und welches ist das Krite-

    29 Wie Anm. 27, S. 43; die Quellenverweise wurden weggelassen, Sperrungen kursiv wiederge- geben.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 63

    rium, das diese Familien von anderen, die nicht berücksichtigt wurden, unter- scheidet? Sind es die Ämter, die vornehmen Ahnen oder die hervorragenden Angehörigen; ist es vielleicht gar ein einzelner Aristokrat?

    Mit diesen Fragen, die sich aus der Konkretion einer bestimmten Personen- schicht in einer Liste ergeben, sind Grundprobleme der mittelalterlichen Perso- nenforschung aufgeworfen.

    Am wichtigsten dürfte eine Antwort auf die Frage des Zueinanders von Per-

    sonen und Personengruppen und darauf sein, wodurch eine Schicht wohl be-

    stimmt war, wenn die sie bildenden Angehörigen sowohl im Bereich der herr-

    schaftlichen Institutionen als auch dem der genossenschaftlichen Verbände oder auch, um moderne Begriffe zu nehmen, in Staat und Gesellschaft aktiv hervor-

    traten. Angesichts der Forschungslage halte ich es nicht für überflüssig zu wie- derholen, was ich in ähnlicher Weise schon früher geäußert habe: Mit der Liste der Reichsaristokraten ist auf dem Weg zu einer mittelalterlichen Prosopogra-

    phie, ohne daß dies von der Forschung begriffen, diskutiert oder gewürdigt worden wäre, das Stadium theoretischer Überlegung durch einen praktischen Versuch bereits überschritten worden: Die prosopographische Aufstellung von Personen und Familien einer sozialen Schicht des Mittelalters vermag nämlich die Diskussion über die Problematik der Anlage einer Mittelalterprosopogra-

    phie aus dem Vorfeld abstrakter und moderner Begrifflichkeit herauszuführen

    und wirft durch die Konkretion selbst die wesentlichen Fragen auf. Daß die im Mittelpunkt der Erörterungen stehende Personenliste zur Auseinandersetzung über die Grundfragen einer mittelalterlichen Prosopographie zwingt, betrachte ich als das bisher nicht erkannte und gewürdigte besondere Verdienst des Buches

    >Königtum und Stämme' von 193930

    Es dürfte wohl kaum auf Zufall beruhen, daß das Interesse an prosopographi- "schen Forschungen gerade zu der Zeit neu erwachte, in der die Diskussion um die Entstehung des deutschen Reiches und des deutschen Volkes in den 30er Jah- ren in eine bedrückende Phase gelangt war. Seit das Zeitalter des Nationalstaates seinen Höhepunkt überschritten hat, sind denn auch neue und tiefe Einsichten in das Wesen mittelalterlicher Staatlichkeit und in die Voraussetzungen und Be- dingungen für die Bildung ethnischer Verbände, insbesondere von Völkern, ge- lungen. Sie erst erlauben es, die Willensbildung und das politische Handeln von Einzelnen und von Gruppen neu und differenzierter, um nicht zu sagen: unvor- eingenommener zu studieren. Daß dabei im geistigen Spannungsfeld, das etwa mit den leicht ins ideologische Fahrwasser tendierenden Begriffen wie 'Kollek- tiv< und IndividuumHerrschaft< umschrieben werden kann, der Blick zuerst auf die Volk und Staat tragenden sozialen Gruppierungen, auf die Familien und Geschlechter wie auf die geist-

    30 S. Anm. 17a und dazu neuerdings TELLENBACH (wie Anm. 20) S. 246f. Anm. 30.

  • 64 KARL SCHMID

    lichen Gemeinschaften, Bruderschaften und Gilden, zu richten ist, hat noch kaum die notwendige Aufmerksamkeit gefunden. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß man neuerdings, anstatt zu streiten, ob die Entstehung der völkischen Einheit die Bildung staatlicher Herrschaft nach sich zog oder umgekehrt, mit Josef Fleckenstein viel offener und beweglicher etwa vom , Beginn der deutschen Geschichte< spricht".

    Und spannt man den Bogen der Forschungsgeschichte noch weiter zurück, dann erscheint es nicht weniger symptomatisch, daß der Begriff >Prosopogra- phieProsopographieBiographie< zutrifft, in einer bestimmten Si- tuation der europäischen Geistesgeschichte hervor, so gewinnt das andere, zwar verwandte, weil erweiterte und doch ganz anders zu verstehende Wort Kollek- tiv-Biographie< als moderner Begriff noch mehr an Interesse. Indessen setzt die Erstellung solcher , Kollektiv-Biographien< oder, Sammel-Biographien, wie sie auch genannt werden33, eine entsprechende Quellenlage voraus, die in der Regel nicht vor dem Spätmittelalter - und auch in ihm erst sporadisch- gegeben ist. In gleicher Weise ist dies für den Ansatz demographischer Forschungen der Fall34.

    III

    Vor dem Versuch, einige prosopographische Forschungsunternehmen aus dem Bereich der deutschen Mediävistik etwas näher zu charakterisieren, ist

    nochmals an Folgendes zu erinnern: Anzunehmen, prosopographische Interes-

    31 J. FLECKENSTEIN, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte (Kleine Vandenhoeck- Reihe 1397), Göttingen 1974, S. 13f. und S. 124ff.

    32 Wie Anm. 10, S. 70f. 33 So die Übersetzung des Ausdrucks collective biography im Beitrag von STONE (wie Anm. 8)

    S. 46 bzw. 107 und S. 64. - Im Unterschied zur sog. Individualgenealogie ist neuerdings von'So- zialgenealogie. die Rede, s. W. SCHAUB, Sozialgenealogie - Probleme und Methoden, in: Blätter f. deutsche Landesgesch. 110 (1974) S. 1-28.

    34 Vgl. A. E. IMHOF, Historische Demographie in Deutschland, in: Historische Demographie als Sozialgeschichte, Hg. A. E. IntttoF (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 31), Darmstadt u. Marburg 1975, S. 41-63; F. IRSIGLER, Hg., Quantitative Methoden in der Wirt- schafts- und Sozialgeschichte der Vorneuzeit (Historisch-Sozialwissenschaftl. Forsch. 4, Hg. H. BEST, usw. ) Stuttgart 1978. Weitere Hinweise bei E. WEts, Gesellschaftsstrukturen und Gesell- schaftsentwicklung in der frühen Neuzeit, in: K. Bost. u. E. WEIS, Die Gesellschaft in Deutschland 1, München 1976, S. 268.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 65

    sen seien eine Errungenschaft unserer Zeit, wäre ein gründlicher Irrtum. Längst,

    seit sich nämlich Menschen um ihre Geschichte kümmern, sind bedeutende, aus ihrer Umgebung herausragende Personen im Gedächtnis gehalten worden und in der Nachwelt lebendig geblieben. Und dem entspricht es, daß sich auch die Geschichtsforschung stets mit den Persönlichkeiten beschäftigte, die auf den Verlauf der Geschichte Einfluß zu nehmen in der Lage waren, mit den sog. hi-

    storischen Persönlichkeitenc35. Und früh haben Historiker oder historisch In-

    teressierte auch schon Personengruppen, etwa Herrscherdynastien oder Bi-

    schofsreihen, beachtet und zu ihrer Feststellung entsprechende Hilfsmittel ge- schaffen. Genealogien und Sukzessionslisten gehören zu den ältesten Aufzeich-

    nungen, die der personengeschichtlichen Darstellung und Vergewisserung dien-

    ten36. Jedoch kann es nicht unbemerkt bleiben, daß es zwar längst >Series Epi-

    scoporumc, den >Gothaer Hofkalender und den >Isenburg' gibt, und daß ver- gleichsweise schon längst auch Geistliche, Gelehrte und Studenten durch die

    >Germania Sacra, das Repertorium Germanicum< und die >Universitätsmatri- kelc erschlossen werden. Aber das hängt offensichtlich - wie nicht zu verkennen ist - mit den Überlieferungsverhältnissen zusammen. Demgegenüber verharren andere Personengruppen, etwa die mittelalterlichen Grafen oder die mittelalter- lichen Familien und Geschlechter, um nur diese zu nennen, größtenteils im Dunkel, wenn sie nicht noch zu einer Zeit florierten, in der ihre (meist verherrli- chende) Darstellung für \Vert gehalten wurdeJ7.

    Im Anschluß an diese Bemerkungen liegt es nahe, grundsätzlich zu fragen, welche Personen eine Prosopographie denn überhaupt enthalten soll. Daß die Inhaber von kirchlichen und staatlichen Ämtern, die Mitglieder geistlicher und weltlicher Einrichtungen und die Angehörigen von ständisch oder genossen- schaftlich organisierten Verbänden und Vereinigungen mit ihren Personaldaten und in ihren Lebensläufen festgehalten werden, versteht sich ohne weiteres. Per- sonenübersichten und Personenbeschreibungen dieser Art jedoch dienen gewiß in erster Linie zur Erforschung der entsprechenden Institutionen, Stände und Genossenschaften, der Kirchen etwa, des Adels oder des Mönchtums, der Uni- versitäten oder Parlamente. So unentbehrlich indessen solche Personaldateien von Äbten, Grafen, Gebildeten, Künstlern oder Studenten etwa auch sind, so

    35 Ihre Bestimmungund ihreStellungzur bzw. in der sog. Oberschicht' oder 'Führungsschicht' stellt sich als Problem. -F. GRnus, SozialgeschichtlicheAspekte der Hagiographie der Merowinger-

    und Karolingerzeit, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungszeit des Klosters Reichen-

    au, H. A. BoRsT (Vorträge und Forschungen 20), Sigmaringen 1974, S. 131-176 tritt S. 160ff. für die Unterscheidung von Adel. und 'Oberschicht' (resp. 'Führungsschicht. )ein. Vgl. K. F. WERNER, Art. 'Adel', in LMA (wie Anm. 39) Sp. 119ff.

    36 Bei ihnen spielt die Legitimation in der Herrschaft oder im Amt eine wichtige Rolle. 37 Auf diesen Aspekt gedenke ich in anderem Zusammenhang zurückzukommen. Als Beispiele

    bieten sich etwa die Habsburger oder die Zollern an. Zu den Grafen s. Anm. 25.

  • 66 KARL SCHMID

    stellen sie doch immer nur den ausgewählten oder, bei günstigen Überliefe-

    rungsverhältnissen, vielleicht sogar weitgehend vollständigen Personenbestand einer institutionell oder sozial bestimmten geschichtlichen Erscheinung dar. Daß damit 'die Prosopographie' einer Epoche im Sinne einer, Prosopographie als solcher' noch nicht geleistet und erreicht ist, wird etwa schon daran sichtbar, daß ein und dieselbe Person in einer Prosopographie der Äbte und auch in einer solchen der Bischöfe dann vorkommt, wenn ein Abt Bischof geworden ist. Wenn aber dieselbe Person in mehreren Prosopographien ihren Platz hat, was immer dann eintritt, wenn Gebildete oder Kleriker Ämter bekleidet oder Amts- inhaber ihr Amt gewechselt haben oder wenn Studenten Berufe ergriffen, wird das Problem der Prosopographie erst eigentlich sichtbar. Es stellt sich dringend die Frage, ob denn wirklich die einzelne Person als solche in ihrem ganzen Le- bensweg und ihrer Laufbahn Gegenstand der Prosopographie ist. Es kommt

    noch dazu: wenn eine Prosopographie ganze Gesellschaftsschichten oder gar Gesellschaften, Völker oder Völkervereinigungen zum Gegenstand hat, dann

    treten Probleme in Erscheinung, die - wie es scheint - dringend der Erörterung bedürfen: DieAuswahl nämlich und die Gliederung der in eine Prosopographie

    aufzunehmenden Personen. Sofern eine klar definierte Gruppe von Personen-von Kardinälen oder Hof-

    kapellänen etwa, von Mönchen eines Klosters oder Teilnehmern an einem Hof-

    tag, Angehörigen von Familien- oder Sippengemeinschaften, geistlichen Bru- derschaften oder Zünften - Gegenstand einer Prosopographie ist, bestehen Zweifel über ihre Zusammensetzung nicht. Sobald jedoch die Prosopographie

    eine Auswahl von Personen aus einem größeren Personenkreis enthalten und darstellen soll - es wird sich in diesen Fällen gewöhnlich um die historisch be- deutsamen Personen' von Gesellschaften, Ländern oder Völkern, aber auch von Städten oder anderen Lebens- bzw. Interessengemeinschaften handeln-, geht es um die Kriterien, die für die Aufnahme einer Person in eine Prosopographie aus- schlaggebend sind. Da mit der Erfassung der Amtsträger der Kreis derer keines-

    wegs erschöpft ist, die prosopographisch zu erfassen sind, sondern vielmehr Personen aus den verschiedensten Tätigkeitsbereichen und Berufen in Frage kommen, stellt die Auswahl der Personen für eine Prosopographie dieserArt ein höchst schwieriges Unterfangen dar. Beispiele wie die Neue Deutsche Biogra-

    phie< (NDB), das Biographische Wörterbuch zur deutschen Geschichte( (B\\Wb DG) oder Sammlungen landesgeschichtlicher Lebensbilder können unverkenn- bar die Problematik der Auswahl verdeutlichen38, obschon sich die genannten

    38 Sie wird denn auch in den Einleitungen zu den erwähnten Werken nicht verschwiegen. Vgl. 0. GRnazuSTOLnERG-WERT 1GERoDEfürdieSchriftleitungderNDB 1, Berlin 1953, S. VII: "Eswurde auch erwogen, ob man eine sehr strenge Auswahl treffen und nur die hervorragendsten Deutschen aller Zeiten in der neuen Biographie als einer Art Ruhmeshalle versammeln solle. Der Vorteil liegt

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 67

    biographischen Unternehmungen bekanntlich nicht auf die Erfassung von Per- sonen aus dem Mittelalter beschränken. Andererseits setzt sich das im Erschei-

    nen begriffene >überregionale< und >internationale< Lexikon des Mittelalters (LMA) zu einem guten Teil aus Personenartikeln zusammen, ohne daß einsich- tig wäre, wie die Nomenklatur des berücksichtigten mittelalterlichen Personen- kreises zustandegekommen ist19. Da jedoch die erwähnten Werke nicht den An- spruch erheben, ausgesprochene >Prosopographien< zu sein, können die Aus- wahlprinzipien, auch wenn sie noch so problematisch erscheinen, nicht ohne weiteres für eine mittelalterliche Prosopographie gelten. Indessen fällt bei den

    genannten neueren Werken auf, daß sie sowohl über einzelne Personen als auch über ausgewählte Familien und Geschlechter Artikel enthalten`. In diesen Fäl- len ist entsprechenderweise nicht nur nach den Kriterien zu fragen, die zu ihrer Berücksichtigung geführt haben. Vielmehr hat diese Gepflogenheit eine weitere, bemerkenswerte Schwierigkeit zur Folge: die doppelte Berücksichtigung von

    auf der Hand. Trotz der gebotenen Beschränkung des Umfanges der NDB im Vergleich zur ADB hätten die einzelnen Lebensbilder an Breite und Fülle gewonnen. Jedoch, es ist heute nicht mehr allzu schwer, sich über Berühmtheiten zu unterrichten. Die Benutzer eines biographischen Nach- schlagewerkes suchen erfahrungsgemäß gerade Lebensbeschreibungen solcher bedeutender Männer und Frauen, über die nur an schwerzugänglichen Stellen etwas zu finden ist oder deren Leistung bis- her noch gar nicht oder doch nur ungenügend gewürdigt wurde. So schien es denn geraten, eine Neufassung unter Berücksichtigung einer verhältnismäßig großen Anzahl von Namen vorzuneh- men. « -Dergl. S. IX: . Unter welchen Gesichtspunkten ist nun die Auswahl im einzelnen getroffen worden? Unbestreitbar wirft diese Frage schwierige Probleme auf, da über viele Grenzfälle ent- schieden werden muß. Die Bemühungen gehen dahin, bei derAuslese so weit wie irgend möglich das Moment der Willkür und des Zufalls auszuschalten. Die Schriftleitung verläßt sich nicht nur auf ihr eigenes Urteil; sie stützt ihre Entscheidungen auf den Rat der Fachkenner, auf die Gutachten wissen- schaftlicher Institute und Berufsorganisationen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, daß die ausschließlich lokal- und zeitgebundenen Persönlichkeiten auszuscheiden haben. Auf den Gebieten der geistigen Kultur entscheidet vor allem die selbständige, in die Zukunft weisende Leistung, bei Personen in hoher verantwortlicher Stellung die Einwirkung auf den allgemeinen geschichtlichen Verlauf. Für weiter zurückliegende Jahrhunderte braucht kein so strenger Maßstab angelegt zu wer- den wie für die neuere Zeit, in der eine weitaus größere Zahl bedeutender Persönlichkeiten bekannt ist. Eine allseitig völlig befriedigende Lösung zu finden, dürfte kaum möglich sein; die Erwartungen der Wissenschaft sind anderer Art als die der interessierten Laien«. Vgl. auch Vorwort zu . Biogra- phisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte 1 (BWbDG), 2. Aufl. München 1973, S. V von K. BOSL, G. FRANZ, H. H. HOFMANN: »Die Auswahl der aufzunehmenden Familien und Personen ist nicht leicht gewesen. Räumlich ist der Begriff . Deutsche Geschichte« im Selbstverständnis der rele- vanten Epoche gebraucht... «; s. auch Anm. 42.

    39 Das Lexikon des Mittelalters im Artemis Verlag (LMA), München u. Zürich, Lieferungen von Bd. 1 seit 1977. - Erwähnenswert ist hier die Feststellung im Vorwort zu Bd. 1 der Serie A Lateini- sche Namen bis 900 des Glossars zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa, Hg. J. FERLUCA, M. HELLMANN, H. LuDAT, Wiesbaden 1977, S. 5, daß von den 212 Stichwörtern dieses Bandes 139 auf Personennamen, 51 auf topographische Namen und 22 auf Völkernamen entfallen.

    40 Vgl. z. B. NDB 10,1974, S. 66: Hunfridinger (auch Burchardinger); BWbDG 3,1975, Sp. 3073ff.: Welfen; LMA 1, Sp. 1321: Babenberger (ältere), (jüngere).

  • 68 KARL SCIMID

    bestimmten Personen in Einzel- und Familienartikeln steht zur Frage". Werden jedoch die Familienartikel als Sammelartikel von Personen verstanden, die bei Vorliegen von Einzelartikeln sozusagen eine 'Entlastung erfahren, so entsteht ein schiefes Bild. Weil die Familien unter historischem Aspekt in den bekannten

    und bedeutenden Angehörigen ihr Rückgrat besitzen, können Familienartikel

    ohne gebührende Berücksichtigung dieser Mitglieder gewiß nicht auskommen. Verweise helfen hier wenig. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der Einzelne oder die Familie Gegenstand der Prosopographie ist. Zwar gelingt es mit Hilfe von Familienartikeln, auch weniger bekannte Familienmitglieder namhaft zu ma- chen, die gewöhnlich als Verbindungsglieder zwischen den bedeutenderen An- gehörigen einer Familie wichtig sind. Doch wird gerade bei diesem Verfahren, das genealogische Zusammenhänge stärker zu berücksichtigen beabsichtigt=, die Problematik des Auswählens von Personen für eine Prosopographie noch of- fenkundiger. Soll also eine Prosopographie Persönlichkeiten behandeln oder Familien? Wird gar 'Prosopographie< als Geschlechtergeschichte verstanden?

    41 Während die NDB und das BWbDG auch Einzelartikel von Personen bringen, die in mehr oder weniger ausführlichen Familienartikeln lediglich verwiesen, erwähnt oder behandelt werden (zu den Hunfridigern, wie Anm. 40, Burchard I., s. NDB 3,1957, S. 28, nicht jedoch Burchard II., dagegen Hadwig, NDB 7,1966, S. 419, anders B% bDG 1,1973, Sp. 393-396. - Zu den \Velfen, wie Anm. 40, Welf IV., V., VI., nicht jedoch \\°elf I., 11., 111., und VII., B\i'bDG 3,1975, Sp. 3062ff. ), scheint das LMA Verweise von Einzelpersonen auf den jeweiligen Sammelartikel vorzu- nehmen (zu den Babenbergern, wie Anm. 40, vgl. 6. A(dalbert) Gf. -. Babenberger(ältere), LMA 1, Sp. 97, indessen wird der im Sammelartikel "Babenberger (ältere). genannte Bruder Adalberts, Adal- hard, nicht verwiesen.

    42 In diesem Zusammenhang sind Ausführungen derHerausgeberdesB\X'bDG, wieAnm. 38, S. VI aufschlußreich: «Methodisch ist der ursprüngliche Leitgedanke erweitert worden, mit den bio- graphischen Daten auch wertende Charakterisierung zu geben und das Handeln des Einzelnen in den geschichtlichen Zusammenhang einzubeziehen. Mit der Aufnahme zahlreicher Artikel über ganze Familien und Familienverbände soll nun die Kontinuität von Führungsgruppen deutlicher ge- zeigt und damit ein Ansatz zur Prosopographie gegeben werden. Dem gleichen Ziel dienen die zahl- reichen Verweise auf Mithandelnde. Endlich war es das Bestreben, die durch die erhebliche Erweite-

    rung des Umfanges ermöglichte breitere Auswahl zu nutzen, um Personen und Personengruppen

    aufzunehmen, die nicht zu den weit herausragenden Führungsspitzen des geistigen, politischen, ge- sellschaftlichen, militärischen und wirtschaftlichen Lebens gehören, die jedoch als instrumentale Funktionärsschicht die deutsche Geschichte wesentlich mitgestalten. Dabei ging es nicht zuletzt da- rum, hier in kurzen Artikeln zugleich Typen zu zeigen, Personen, die vielleicht an sich nicht eine Hervorhebung verdient hätten, die aber in der Zuordnung auf die großen Träger der Geschichte für bestimmte Gruppen und Kreise repräsentativ sind. Diesem prosopographischen Programm dient auch die erheblich stärker einbezogene Genealogie ... Die Herausgeber hoffen - auch hier des kal- kulierten Risikos der individuellen Auswahl und notwendigen Straffung sich durchaus bewußt- in unserer Zeit der Neustrukturierung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft der notwendigen gesell- schaftsgeschichtlich-strukturanalytischen Sicht der deutschen Geschichte eine biographisch-proso-

    pographische und zugleich typologische Grundlage geschaffen zu haben..

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 69

    Was abersind die Kriterien für die Aufnahme von Einzelpersonen oder Familien in eine Prosopographie?

    Aus derBeobachtung derAuswahl von mittelalterlichen Personen in Werken, die bei der Diskussion über die Belange einer Mittelalter-Prosopographie wich- tig sind, ergibt sich mithin folgender Eindruck: Es kann die Absicht der Selbst- darstellung von Angehörigen bestimmter Personengemeinschaften, Institutio-

    nen oder Gesellschaften sein, aus dersich die Auswahl von Personen für die Dar-

    stellung erklärt, von solchen Personen nämlich, in denen diese sich selbst oder ihre eigene Geschichte in mehr oder weniger subjektiver Betrachtung erkennen - man denke z. B. an die Herrschergestalten des deutschen Mittelalters' oder an >Die Großen Deutschen', an die >Westfälischen Lebensbilder< oder auch an , Hundert Jahre Kohlhammer, 1866-1966'. Ansonsten sind es wohl nicht Per-

    sonen als solche selbst, sondern geschichtliche Erscheinungen, die den Rahmen bilden, der von Personen gefüllt wird. Zur Verdeutlichung können etwa Arbei-

    ten genannt werden wie >Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichs- fürstenstand' von G. Tellenbach (1943), >Der senatorische Adel im spätantiken Gallien' von K. F. Stroheker (1948), Die Hofkapelle der deutschen Könige< von J. Fleckenstein (1959/66), 'Kirche und Monarchie im staufischen Königreich Si-

    zilien' von N. Kamp (1973ff. ), 'Winchester in the Early Middle Ages< von M. Biddle (Hg. ) (1976) und 'Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms, 1049-1130' von R. Hüls (1977). Bei solchen auf die Erforschung von Personengruppen, sozialen Schichten, Institutionen oder zentralen Orten abzielenden Arbeiten nun spielt bezeichnenderweise nicht nur die Auswahl der Personen, sondern auch die Gliederung derselben eine untergeordnete Rolle. Sie bietet sich meist durch

    chronologische oder regionale Gegebenheiten oder auch durch Gegebenheiten ihrer Stellung bzw. ihrer Laufbahn fast von selbst an. Nicht so in einer Mittelal-

    ter-Prosopographie. im Rahmen der europäischen Geschichte.

    Bei der Verwirklichung eines solchen Werkes stellt sich grundsätzlich nicht nur das Problem der Auswahl, sondern auch das der Gliederung der aufzuneh- menden Personen. Wie sollen diese angeordnet werden? Für ein 'Personenbuch käme gewiß in erster Linie das alphabetische Anordnungsprinzip in Frage. Doch

    wäre es eine Täuschung anzunehmen, das Alphabet könnte für das Zeitalter der Rufnamen, d. h. die Zeit der Einnamigkeit, eine befriedigende Gliederung für

    eine Prosopographie darstellen. Abgesehen davon, daß Personen mit gleichen Rufnamen selbst wiederum gegliedert werden müßten, was insbesondere dann

    zu Schwierigkeiten führt, wenn Personen mit gleichen Rufnamen häufiger vor- kommen, wie dies etwa bei den Namen Konrad, Werner, Friedrich oder Rudolf der Fall ist, wird eine alphabetische Anordnung mittelalterlicher Personen durch die große Variationsbreite der Personennamen in Lautung und Schreibung er- schwert. Nimmt man zur Kenntnis, " daß es allein im Reichenauer Verbrüde-

    rungsbuch 240 Belege des Namens Adalbert bei 31 Varianten und 159 Belege des

  • 70 KARL SCHMID

    Namens Odalrich bei 46 Varianten gibt, ohne daß gesagt werden könnte, auf wieviele Personen sie sich beziehena3, so wird deutlich, daß sich auch das Pro- blem der Gliederung von Personen durch ihre alphabetische Anordnung in einer Prosopographie auf die einzelnen Namen selbst konzentriert, d. h. lediglich ver- lagert. Es stellt sich dadurch aber nicht weniger dringlich. Wie etwa sollen die Personen namens Adalbert, deren Anzahl in einer umfangreichen mittelalterli- chen Prosopographie gewiß leicht in die Tausende gehen könnte, prosopogra- phisch angeordnet werden? Sollten sie durchgezählt oder etwa nach der Art von gleichnamigen Amtsinhabern oder Herrschern mit Ordnungszahlen (I., II., etc. ) versehen werden? Sollten sie nach Familienzugehörigkeiten, nach Ämtern

    oder Amtsbereichen, nach beruflichen oder regionalen Gesichtspunkten geglie- dert werden°4? Sollten dazu noch ihre Namen, die nach Lautung und Schrei-

    43 Nachweise in: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau. Einleitung, Register, Faksimi- le. Hg. J. AUTENRtETH, D. GEUENICH U. K. SCH]tt0 (Monumenta Germaniae Historica. Libri Memoriales et Necrologia Nova Series 1) Hannover 1979, S. 48 (a 657) und S. 135 f. (0 44); zur Lemmatisierung und Anordnung der Namen ibid. S. XLXI ff.

    44 Während im LMA die Personenartikel durchnumeriert werden (z. B. LMA 1, Sp. 95-103 A(dalbert) 1. -16. ) und, in der Rangordnung abgestuft, zuerst nach Inhabern weltlicher (Kg., Mgf. Gf. ), dann geistlicher Ämter (Ebf., Bf., Abt) und innerhalb derAmtsinhaber wiederum alphabetisch gegliedert werden, wobei z. B. B. A ((\\'ojciech) Jastrzebiec, poln. Bf. und Staatsmann, nicht in die Reihe paßt und am Schluß ohne Numerierung Adalbertus Rankonis und Adalbertus Samaritanus zugefügt werden, behilft sich das BWbDG 1, Sp. 8-13, das nur Geistliche namens Adalbert auf- führt, mit der Zufügung von Bestimmungswörtern zu Adalbert: nämlich Hamburg-Bremen, Mag- deburg, Mainz; zu Albrecht (ibid. Sp. 51-66): Reich, Bayern, Brandenburg, Magdeburg, Mainz, Osterreich, Preußen, Sachsen. Die zum Personen-Stichwort 'Adalbert" hinzukommenden Stich- wörter 'Albert. und, Albrecht. im LMA 1, Sp. 283-290 A. 1-17, und Sp. 311-326 A. 1-28, führen indessen bereitsan die Grenze der Übersichtlichkeit oderüberschreiten diese schon, wozu nicht zu- letzt auch die Unterscheidung und getrennte Aufführungvon Personen mit Namen Adalbert, Albert und Albrecht beiträgt. Wohin die Schwierigkeit bei der Bezeichnung mittelalterlichen Personen führen kann, zeigt ein Beispiel: LMA 1, Sp. 1319: 1. A(zzo) 11. V. Este enthält einen Verweis auf Al- bert Azzo 1.; doch ist LMA 1, Sp. 283f. nicht dieser, sondern nochmals die gleiche Person behan- delt, ein Versehen? Um eine Nominierung der Schreibweise bekannter mittelalterlicher Personen zu erreichen und dadurch den Einsatz der EDV zu erleichtern, ist an der Bayer. Staatsbibl. München

    ein DFG-unterstütztes Projekt in Gang gesetzt worden. Zu den Schwierigkeiten bei derAnordnung

    von Personen vgl. schon K. SCHMID, Zu neuen prosopographischen Arbeitsvorhaben, in: Frühmit-

    telalterliche Studien 4 (1970) S. 198-200. Allen genannten Schwierigkeiten zum Trotz vermag die

    zum Zweck der Ermittlung von Personen gewählte synoptische Darstellung der Fuldaer Memorial- überlieferung anschaulich zu zeigen, in welchem Verhältnis identifizierbare Personen zu solchen stehen, die nur dem Namen nach feststellbar sind. Um diesen Zusammenhang mit der Überlieferung

    zu wahren, d. h. den Weg zu den Personen von der Überlieferung her zu öffnen und nicht von einem Vorverständnis der bekannten und bedeutenden mittelalterlichen Personen und Namen auszuge- hen, das sich im Laufe der Zeit gebildet hat, wurde bewußt darauf verzichtet, die Personenkommen-

    tare ganz aus der Überlieferung herauszulösen und nach irgendeinem Anordnungsprinzip (alphabe-

    tisch oder nach Amtsinhabern geordnet) darzubieten. Dieses Verfahren, das zwar gewiß auf Kosten

    einer bequemen Auffindung von Personen geht, ist gewählt worden, weil es notwendig erschien, auf

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 71

    bung bekanntlich erheblich variierten, etwa normiert oder lemmatisisert wer- den? Sollten also Personen, die mit den Namen Adalpert oder Odalrich in der Überlieferung begegnen, unter den Namen Albert oder Albrecht bzw. Ulrich

    genannt werden? Oder umgekehrt°5? Da insbesondere im Hinblick auf das frühere Mittelalter die Bestimmung und

    Zuordnung von Personen oft unsicher bleiben muß, werden die Schwierigkeiten

    erst recht sichtbar, wenn es konkret darum geht, die Personen der mittelalterli- chen Gesellschaften in einer Prosopographie zu gliedern. Mit einer Zuflucht

    zum alphabetischen Anordnungsprinzip jedenfalls dürften sie nicht zu beheben

    sein. ' Bei diesen Überlegungen über die Probleme der Auswahl und Anordnung der

    Personen in einer Mittelalter-Prosopographie ist wohl deutlich geworden, daß der Weg bis zur Realisierung einer solchen noch weit ist. Bevor die Frage etwa einer räumlichen (nach Staatswesen? ) und zeitlichen (nach Dynastien oder Epo- chen geordneten? ) Aufteilung eines solchen, das abendländische Mittelalter um- fassenden Werkes aufgeworfen wird, kann indessen nicht darauf verzichtet wer- den zu klären, inwieweit und in welcher Weise die einzelnen Gesellschafts- schichten zu berücksichtigen sind. Bekanntlich ist neuerdings viel von Ober-

    das noch der Lösung harrende Problem der Anordnung bzw. Darstellung mittelalterlicher Personen

    mit allem Nachdruck und aller Schärfe zu stoßen. Und dies um so mehr, als in zahlreichen Fällen bei der Identifizierungsdiskussion von Personen mehrere Belege zu berücksichtigen sind, so z. B. (? ) MF 86Ercanbraht (zum Belegfeld PRI/e 16), in: FW 2.1, wieAnm. 25, S. 241 oder G 42, G 43Burg- hart com. (+ 936), Burghart com. (+ 938), ibid. S. 388, so daß eine vom Überlieferungszusammen- hang gelöste Darstellung bzw. Anordnung der Personen von den noch offenen Identifizierungspro- blemen ablenken, d. h. in der Überlieferung sicher bestimmbare und abgrenzbare Personen vortäu- schen würde. In zugehörigen Untersuchungen über die Mönche, Amtsträger, geistlichen und weltli- chen Magnaten und die sonstigen erkennbaren Personen und Personengruppen (vgl. die Beiträge

    von G. ALTHOFF, E. FREISE, F. J. JAKOBI, O. G. OEXLE, M. SANDMANN, K. SCHMID und J. WOL- LASCH in: FW 2.2/3, wie Anm. 25) sollte, basierend auf der synoptischen und kommentierten Dar- stellung der Personenüberlieferung, gezeigt werden, daß Prosopographie als Weg zur Ermittlung und Erkenntnis von Personen, d. h. als Forschungsprozeß, zu verstehen ist, vgl. demnächst K. SCHMID U. G. ALTHOFF, Rückblick auf die Fuldaer Klostergemeinschaft. Zugleich ein Ausblick, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) (im Druck).

    45. Während der Name 'Adalbert< vom 12. Jahrhundert an gewöhnlich in der Form 'Albrecht' begegnet, s. Hinweise Anm. 44, wobei der Verweis LMA 1, Sp. 319: 10. A(lbrecht), Gf. - Habs- burg, unklar bleibt, hat sich für den berühmten heiligen Bischof von Augsburg (+ 973), der in den Quellen unter dem Namen Oudalricus in ca. 20 Varianten vorkommt (s. Die Regesten der Bischöfe und des Domkapitels von Augsburg 1, Hg. F. ZOEPFL U. W. VOLKERT (Veröff. d. Schwäb. For- schungsgem. b. d. Komm. f. Bayer. Landesgesch. Reihe 2b), Augsburg 1955, S. 62 Nr. 102, der Name 'Ulrich. eingebürgert, was seine alphabetische Einordnung in ein Personenbuch gewiß er- schwert, da wie Ulrich selbst auch seine Zeitgenossen unter dem Namen 'Odalrich/Udalrichý be- kannt und einzuordnen sind; s. Das Verbrüderungsbuch derAbtei Reichenau, wie Anm. 43, o 44, S. 135f. und Die Klostergemeinschaft von Fulda 2.1 (wie Anm. 25) PR2/o5, S. 120, dazu Uodalrich com. G 73 (S. 392) und Uodalricus eps. (Ulrich, B. v. Augsburg) B 114 (S. 338):

  • 72 KARL SCHMID

    und Unterschichten in Gesellschaften die Rede und der Eindruck, 'Prosopogra- phie< meine gar die Erfassung oder Darstellung der Führungsschicht einer Ge-

    sellschaft, kommt gewiß nicht von ungefähr46. Doch dürfen bei solchen Erörterungen die rechtlichen Belange der sozialen

    Schichten und Gruppierungen und die ständische Wandlung der Gesellschaften nicht außer acht gelassen werden°7. Dann nur werden sich prosopographische Forschungen, die neuerdings auch in solche Überlieferungsbereiche eindringen, die keineswegs leicht zugänglich und erschließbar sind, als förderlich und fruchtbar erweisen. Sie alle zu nennen und ihre Verdienste zu würdigen, ist nicht Aufgabe dieser Ausführungen48.

    46 Vgl. Anm. 35 - Für die Diskussion wichtig: O. G. OExLE, Die funktionale Dreiteilung der 'Gesellschaft» bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, in: FrühmittelterlicheStudien 12 (1978) S. 1-54, bes. S. 3 ff.; vgl. auch dessen Beitrag in: Prosopographie als Sozialgeschichte? (wie Anm. 56) S. 33-38.

    47 Dazu vgl. neuerdings die von J. Fleckenstein geleiteten Forschungen zur mittelalterlichen Ständegeschichte am Max-Planck-Institut für Geschichte: Herrschaft und Stand. Untersuchungen zurSozialgeschichteim 13. Jahrhundert(Veröff. d. Max-Planck-Instituts für Gesch. 51), Göttingen 1977, und darin insbes. J. FLECKENSTEIN, Die Entstehung des niederen Adels und des Rittertums, S. 17-39. - Zu den Begriffen »Schicht-, . Gruppe., . Stand- vgl. auch Wets, wie Anm. 34, S. 131-133.

    48 . Einige Literaturhinweise. dazu gibt WERNER, wie Anm. 10, S. 83-87. - Erwähnung verdie- nen die in den letzten Jahren veröffentlichten sog.. Prosopographien- für überlieferungsarme früh- mittelalterliche Herrschaftsbereiche. Von L. A. GARCIA MORENO, Prosopografiia del reino visigodo de Toledo (Acta Salmanticensia. Filosofia y Letras 77), Salamanca 1974, werden 487 Bischöfe und 177 sonstige Personen vorgestellt, aas für die Oberlieferungsverhältnisse insbesondere auch unter prosopographischem Aspekt bezeichnend ist (vgl. Bespr. v. D. CLAUDE, in: Francia 5,1977, S. 879-881). H. EBLING, Prosopographie derAmtsträgerdes Merowingerreiches (Beihefte der Francia 2), München 1974, führt demgegenüber unter 316 Personen keine Bischöfe auf, aber Amtsträger von Bischöfen (z. B. Nm. 28,96,144) und solche des Königs, die später Bischöfe geworden sind (z. B. Nrn. 34,89,141), aber auch mehrere Urkundenschreiber, die, sicher oder wahrscheinlich, geistliche Würdenträger oder Mönche gewesen sind (z. B. Nrn. 95,102,135 [nach K. Glöckner möglicherweise später Abt von Weißenburg] 147,153,284,293,302), was die Prosopographie zu einer problematischen macht. Bemerkenswert erscheint, daß die . einzelnen Prosopographien ... aus Gründen der (Jbersichtlichkeit alphabetisch geordnet werden, da Familienzusammenhänge oder Amtskontinuitäten nur in ganz wenigen Fällen sichtbar geworden sind. (S. 9). Dies gilt auch für die »Prosopographie der Träger höherer (weltlicher! ) Ämter im Langobardenreich

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 73

    IV

    Wenn zum Schluß einige Projekte aus der Vielzal der prosopographischen Forschungsansätze herausgegriffen werden, so geschieht dies, um an ihnen so- zusagen stellvertretend zu verdeutlichen, mit welchen Problemen sich die pro- sopographische Forschung im Blick auf das frühe und spätere Mittelalter be-

    schäftigt und auf welchen Wegen Lösungen gesucht werden. Gewiß am umfassendsten ist das Forschungsunternehmen Prosopographia

    Orbis Latini (PROL) angelegt, das vom Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris geleitet wird. Und dies um so mehr, als es einerseits den An-

    schluß sucht an die Prosopographien zum Römischen Imperium und anderer- seits das Hochmittelalter miteinschließt. Karl Ferdinand Werner hat den Ansatz und das Anliegen von PROL 1976 auf dem gemeinsamen Kolloquium der deut-

    schen historischen Auslandsinstitute im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen dargelegt`. Nichts Geringeres ist in Angriff genommen als die Schaf- fung einer monumentalen Mittelalter-Prosopographie: die Sammlung nämlich und Verzeichnung aller mittelalterlichen Personenbelege in einer Personenna-

    menkartei, aus der im Laufe der Zeit auf Grund von begleitenden prosopogra- phischen Forschungen »die eigentliche Prosopographie« der »Personen der la-

    teinischen Welt in den Quellen des 3. -12. Jahrhunderts«50 herauswachsen soll. Es charakterisiert dieses Unternehmen in besonderer Weise, daß es in seiner zen- tralen Organisation den mittelalterlichen Verhältnissen ebenso wie den moder- nen Forschungsbedingungen Rechnung zu tragen sucht. Verlangt doch der Ak- tionsradius der etwa im Großfrankenreich oder im staufischen Imperium wir- kenden Personen und Familien, der sich in zahlreichen Fällen tatsächlich auf den

    49 Wie Anm. 10, und schon K. F. WERNER, Die wissenschaftlichen Pläne des Deutschen Histori-

    schen Instituts in Paris, in: Frühmittelalterliche Studien 4 (1970) S. 416-421 und die jährlichen Be-

    richte in Francia 1 ff., 1973 ff.; dazu K. SCHMID, Zu neuen prosopographischen Arbeitsvorhaben,

    wie Anm. 44. - Hingewiesen sei hier auf den angekündigten Beitrag von K. F. WERNER, Personen- forschung: Aufgabe und Möglichkeiten, in der 90. Vortragsfolge der RIAS-Funkuniversität Berlin

    . Probleme der Mittelalterforschung. 50 Wie Anm. 10, S. 79:. SektionI: DasFränkischeReich, 5. -10. Jahrhundert(Veröffentlichung

    im Loseblattverfahren)". Im Hinblick auf das sich stellende Problem der Personenunterscheidung

    und Personenbezeichnung sind die Bemerkungen ibid. S. 76 wichtig: . Erst in einem völlig getrenn- ten Arbeitsgang (nach der Erstellung einer Namenkartei) werden auf den Karten Identifizierungs-

    vermerke angebracht, die z. B. aus allen Belegen zum Namen Konrad die einwandfrei König Konrad 1. betreffenden Nennungen durch den Vermerk Chuonradus 918 kennzeichnen, d. h. es wird das Todesjahr der identifizierten Person (wenn nicht bekannt, die letzte bekannte Nennung) eingesetzt. (Ein im gleichen Jahr verstorbener Homonym wird mit Chuonradus918 A, 918 B etc. gekennzeich- net, der Todestag wird, wenn bekannt, hinzugefügt). Diese Klassifizierung ist jeder willkürlich ge- wählten überlegen, da sie zugleich die Zeitstellung der identifizierten Person zum Ausdruck bringt

    und auch später für Homonyme benutzt werden kann..

  • 74 KARL SCHMID

    ganzen Orbis Latinus erstreckte, nicht weniger nach einer ordnenden Zentral-

    stelle als der Einsatz moderner technischer Hilfsmittel für die Erstellung eines solchen Apparates. Die Errichtung einer zentralen Datenbank erfordert den Einsatz der EDV, der vorgesehen ist, um alle Möglichkeiten optimal zu nutzen, die in der Speicherung, beliebigen Abrufbarkeit und Kompatibilität von Daten liegen.

    In Anbetracht der entschlossenen Ankündigung, eine >Prosopographia Orbis Latini< bis zum 12. Jahrhundert zu erstellen, wird schon deutlich, daß die auf das Spätmittelalter bezogenen prosopographischen Arbeiten vergleichsweise unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen vonstatten gehen. Dies läßt sich vielleicht am besten an den inzwischen publizierten Vorträgen erkennen, die in der Sektion Personenforschung im Spätmittelalter< auf dem deutschen Hi- storikertag 1974 in Braunschweig gehalten worden sind". Jürgen Petersohn, der sie mit grundsätzlichen Erwägungen einleitete, wies auf den ungleichmäßi- gen Stand der Quellenerschließung, auf das Fehlen prosopographischer Cor- pora und den damit gegebenen größeren Zwang zur Wertung und Sichtung be- reits bei der Materialsammlung wie auf die dadurch bedingte Wechselwirkung zwischen methodischer Reflexion und sachlicher Thematik bei der Arbeit hin"Peter

    Moraw hob in seinem Beitrag 'Personenforschung und deutsches König- tum< insbesondere darauf ab, daß bestimmte im Umkreis des Königtums hervor- tretende Personenverbände einen wesentlichen Teil der Verfassungswirklichkeit im späten Mittelalter darstellten`, während Klaus Wriedt bei seiner Betrach- tung über >Personengeschichtliche Probleme universitärer Magisterkollegien< bemerkte, wie sehr der Universitätsmagister im Beziehungsfeld verschiedener Personengruppen stand und um wie viel besser er in seinem jeweiligen Umkreis zu erkennen ist53. Schließlich wies Wolfgang von Stromer in seinen Ausführun-

    gen über Wirtschaftsgeschichte und Personengeschichte< auf Großfamilien als Kerne und Träger von Unternehmungen hin, die vor dem Industriezeitalter zu Fernhandel, politischer Finanz und kapitalintensiver Innovation fähig gewesen sind54. Die ganz verschiedene Bereiche des Spätmittelalters, die Königsherr- schaft, das Bildungswesen oder die Wirtschaft betreffenden prosopographi- schen Forschungen zeigen bemerkenswerterweise darin Parallelen, daß im Zen- trum wie im Umkreis sowohl herrschaftlicher Institutionen als auch genossen- schaftlicher Zusammenschlüssel" oder auch des Fernhandel treibenden Unter-

    51 Die Vorträge der Sektion . Personenforschung im Spitmittelalter" wurden abgedruckt in: Zeitschrift für Historische Forschung 2 (1975) S. 1-42; die Leitung der Sektion hatte J. Petersohn, vgl. dessen Einleitungsreferat: Zu Forschungsgeschichte und Methode, ibid. S. 1-5.

    52 Ibid. S. 7-18. 53 Ibid. S. 19-30. 54 Ibid. S. 31-42. 55 Universitärer Korporationen etwa.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 75

    nehmertums bei näherem Zusehen stets Personengruppen sich abzeichnen und ausmachen lassen. Ihre historische Relevanz dürfte kaum zu überschätzen sein, - gleichviel, ob es sich etwa um soziale Gebilde des Großbürgertums (Moraw) oder um als Personenverbände, als Großfamilien nämlich, strukturierte Han- delshäuser (v. Stromer) handelt.

    Ganz bewußt von der mittelalterlichen Überlieferung her sucht eine vom sog. 'Freiburger Arbeitskreis' ausgehende Arbeitsgruppe des Sonderforschungsbe- reichs 7 die Personenforschung auf neue Weise in Gang zu setzen56. Unter die-

    sem Aspekt tritt neben der historiographischen Überlieferung die sog. Memo- rialüberlieferung in den Bereich des Interesses. Während die 'Vitae' bekanntlich

    weitgehend überkommenem literarischem Formengutverpflichtet sind und Per- sonenbeschreibungen wie Personendarstellungen typisierende Züge aufwei- sen57, können die in den Verbrüderungs- und Totenbüchern, in sog. >Libri vitae' zum Zwecke des Gebetsgedenkens aufgezeichneten, die Hunderttausende viel- fach übersteigenden Namen von Personen als Quellen bisher noch nicht zurei- chend eingeschätzt und ausgewertet werden. Um die sog. >Gedenküberliefe- rung' zum Sprechen zu bringen, ist die Entwicklung neuer Methoden zu ihrer Erschließung notwendig, was nur in fächerübergreifendem Zusammenwirken

    von Vertretern der Namenforschung, Codicologie-Paläographie, Liturgiewis= senschaft und Personenforschung gelingt. Da die Namen in den Gedenkbü-

    chern selten einzeln, sondern zumeist in Gruppen, eingeteilt entweder in'Ordi- nes

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    verwehren. Und in den Totenbüchern, die nach dem Kalenderprinzip angelegt wurden, können gleichfalls Eintragsschichten abgehoben und mit verfeinerten Methoden die Angehörigen von Personengemeinschaften erkannt werden. Auch die Necrologien lassen sich auf diese Weise entschlüsseln. Sie werden da- mit auf ihre Art zu Zeugnissen der ins Gedächtnis aufgenommenen Menschen.

    Dabei fallen zwei wesentliche Gesichtspunkte besonders ins Gewicht: Einmal kommen beim Vollzug des Gedenkens für Lebende und Verstorbene, in der >Memoria< also, zumal in der für das Mittelalter charakteristischen Ausprägung des Gedenkwesens58, der Verbrüderung, stets gegenseitige Beziehungen zum Ausdruck. Mit anderen Worten: die das Gedenken praktizierenden Personen oder Gemeinschaften beteten und leisteten im Gebet das Gedenken fürPersonen und Mitglieder anderer Gemeinschaften, die in Verbindung mit ihnen standen, so daß im Gebetsgedenken Bindungen zwischen Personen und Gruppen sicht- bar werden. Gebetsbünde werden faßbar, die sich als religiöse Bewegungen zu erkennen geben und in ihrer integrierenden Funktion und auch in ihrer politi- schen Wirkkraft nicht unterschätzt werden sollten". Neben der Interdepen- denz des Gedenkens, die zur Aufdeckung von vielfältigen und teilweise weitrei- chenden Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen zu führen vermag und sich als Dimension des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit von Menschen und Menschengruppen erweist, was besonders beachtet sein will, ist es die mit dem Gebetsgedenken verbundene sozial-caritative Leistung60, die von erheblichem Interesse ist. Daß Schenkungen und Stiftungen >pro remedio ani- mae< nicht nur für den Unterhalt der Kirche, sondern auch für die Armensorge gemacht wurden, so daß Opfergaben als wirtschaftliche Grundlage für die Cari- tas und den Lebensunterhalt der Priester zu betrachten sind - Geistliche wie Arme lebten sozusagen vom Altar, wie formuliert worden ist61 - und daß die durch den Tod des Bruders einer Mönchsgemeinschaft freigewordene Essensra- tion am Todestag an einen Armen zum Gedenken an den Verstorbenen weiter- gegeben wurde: Solche Formen gemeinsamen Lebens wollen zur Kenntnis ge-

    58 Darüber veranstaltet das Projekt B Personen und Gemeinschaften. im Sonderforschungsbe- reich 7 (Mittelalter-Forschung) im Mai 1980 in Münster ein Colloquium mit dem Thema: 'Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter.. Die Veröffentlichung der Vorträge wird in den Münsterschen Mittelalterschriften erfolgen. -Vg. O. G. OEXLE, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) S. 70-95; K. SCHMID, Das liturgische Gebetsgedenken in seiner historischen Relevanz, in: Freiburger Diözesan-Archiv 99,3. F. 31(1979) S. 20-44.

    59 Darüber demnächst K. SCHMID, Die Erschließung neuer Quellen zur mittelalterlichen Ge- schichte, in: Probleme der Mittelalterforschung. 90. Vortragsfolge der RIAS-Funkuniversität Ber- lin.

    60 Darüber J. WOLLASCH, Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 268-286.

    61 TH. KLAUSER, Kleine abendländische Liturgiegeschichte, Bonn 1965, S. 110 f.

  • Prosopographische Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 77

    nommen und verstanden sein. Sie rücken außerdem diejenigen, die als Stifter von Gaben, Wohltaten und kirchlichen Einrichtungen in Erscheinung getreten sind, auf einen Platz, dessen historische Relevanz es zu bedenken gilt.

    \Vie sich schon jetzt absehen läßt, führen die Forschungen, die von der Me- morial-oder Gedenküberlieferung her die personengeschichtlichen Daten zu er- fassen, zu ordnen und darzustellen suchen, zunächst dazu, die Menschen in ih-

    ren Bindungen sehen zu lernen: in ihren sozialen und politischen Bindungen. In den von ihnen gebildeten natürlichen und geistlichen Gemeinschaften treten die Personen indessen in sehr verschiedener Profilierung hervor: manche kaum, nur dem Namen nach, ' andere als Amts-oder Funktionsträger in einer Institution oder einer Korporation, wenige nur als profilierte Persönlichkeiten, deren Handlungsweisen, Leistungen oder gar individuelle Eigentümlichkeiten so klar

    erkenn- und abschätzbar sind, daß von ihnen bei aller Eingebundenheit in die Gruppe ein Persönlichkeitsbild zu gewinnen ist. Die mittelalterliche Personen- forschung erweist sich als Erforschung der Personengruppen, wobei der Gegen- satz >Individuum-Kollektiv' seine dichotome Zuspitzung verliert oder doch so entschärft wird, daß die Einzelpersönlichkeit in ihrem sozialen Umfeld ge- sucht, gesehen und in manchen Fällen erheblich besser zu erkennen ist als im

    trennenden Zugriff. Mit anderen Worten läßt sich sagen: Wer einen bestimmten König einen

    Grafen, einen Bischof, einen Priester oder einen Mönch oder auch einen Höri- gen kennenzulernen beabsichtigt, der tut gut daran, diesen König auch und ge- rade angesichts seiner außergewöhnlichen Stellung als Angehörigen und Vertre-

    ter des königlichen Geschlechtes zu sehen und ebenso den Grafen in seiner Fa-

    milie und Sippe, den Bischof inmitten seiner klerikalen und laikalen Umgebung, den Priester im Umkreis seiner Gemeinde und den Laien als Angehörigen von geistlichen und weltlichen Genossenschaften zu betrachten wie den Mönch als Glied der Brüdergemeinschaft und den Hörigen inmitten seiner Schicksalsge-

    nossen. Dann nämlich scheint zumindest die Chance zu wachsen, die Einmalig- keit und die Geschichtlichkeit einer Person in Erfahrung zu bringen. Und nicht nur dies: auch die Einmaligkeit und Geschichtlichkeit der Personengruppe, aus der ein Einzelner herauswuchs und doch zu ihr gehörte.

    Dabei ist der im hohen und späten Mittelalter immer deutlicher hervortre-

    tende Vorgang einer stärkeren Differenzierung und Emanzipation der Perso-

    nengruppen wie der Personen nicht zu verkennen. Ausdruck dieses Vorgangs ist das wachsende Selbstverständnis von Gruppen und Einzelnen. So tritt etwa bei Personengemeinschaften an die Stelle summarischen (kollektiven) Toten-

    gedenkens mehr und mehr das individuelle Gedenken". Das Grabbild kommt

    62 Vgl. K. SCHMID u. J. WOLLASCH, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) S. 365-405, hier S. 389.

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    auf63. Und die Familien und Geschlechter suchen und finden ihre je eigenen Traditionen und werden durch sie eigens bezeichnende Namen unterschie- den64. In gesellschaftlicher Hinsicht kann man von einem Prozeß der Indivi- dualisierung sprechen, der sichtlich im Fortschreiten begriffen ist6S

    Die personengeschichtlichen Forschungen der von Joachim Wollasch und mir geleiteten Arbeitsgruppe, die zur Kennzeichnung ihrer Bemühungen den Quell- len das zusammengehörige Begriffspaar societas et fraternias entnahm66, führen

    endlich dazu, nach den Gründen der Überlieferung personengeschichtlicher Zeugnisse aus dem Mittelalter zu fragen. Dabei zeigt sich - was zum Schluß nur noch angedeutet werden kann-, daß die Sorge für das Seelenheil eine wesentliche Rolle spielte. Daher kann die Bedeutung des liturgischen Gebetsgedenkens in der Verbindung mit Opfergaben, mit guten Werken durch Almosenspenden, Wohltaten und Stiftungen aller Art für den mittelalterlichen Menschen - gleich- viel, ob er Spender oder Empfänger war - wohl kaum überschätzt werden. In- dessen haben Gebetsgedenken und Gaben geistlicher, geistiger und materieller Güter nicht nur Anlaß zur Überlieferung personengeschichtlicher Zeugnisse im Mittelalter gegeben. Der Beweggrund, der das Stiften und Gedenken< verur- sachte, will vielmehr bedacht sein: die redemptio, das remedium animae seu animarum.

    63 Dazu K. BAUCH. Das mittelalterliche Grabbild, Berlin - New York 1976. 64 Vgl. K. SCHMID, Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, in: Jahrbuch f. fränk.

    Landesforsch. 19 (1959) S. 1-23, bes. S. 22f. 65 Dazu neuerdings H. BAYER, Zur Soziologie des mittelalterlichen Individualisierungsprozes-

    ses, in: Archiv f. Kulturgesch. 58 (1976) S. 115-153. 66 Wie Anm. 56, S. 2f. mit Anm. 4.