Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland: Müssen Arme früher sterben? Uwe Helmert...

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Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland: Müssen Arme früher sterben? Uwe Helmert Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen

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Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland:

Müssen Arme früher sterben?

Uwe Helmert

Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und

Versorgungsforschung

Zentrum für Sozialpolitik

Universität Bremen

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Gliederung

Zwei wichtige Fragestellungen

Forschungsstand in Deutschland 1994

Forschungsstand in Deutschland 2007

Ökologische Studien

Längschnittstudien Lebenserwartungssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) 1984-1998 Routinedaten der Gmünder Ersatzkasse seit 1990 Augsburger MONICA-Studie seit 1984

Schlussbemerkungen

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Zwei wichtige Fragestellungen

1. Sozialer Gradient bei der Gesundheit oder überwiegend arme Bevölkerung von schlechter Gesundheit betroffen?

2. Armut schlechte Gesundheit oder schlechte Gesundheit Armut?

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arm reich

arm reich

Gesundheit

Sozialer Gradient

Armutseffekt

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Buchtipp

Michael Marmot (2005)Status Syndrom – How your social standing directly affects your health.London: Bloomsbury, 312 Seiten

„In diesem inspirierenden Buch liefert der renommierte britische Epidemiologe Michael Marmot Antworten auf die Frage, warum das soziale Standing einen so umfassenden Einfluss auf die Gesundheit und die Langlebigkeit ausübt.

Basierend auf mehr als 30 Jahren internationaler sozial-epidemiologischer Forschungsexpertise zum Zusammenwirken sozialer Faktoren und der gesundheitlichen Entwicklung umreißt Marmot auch erfolgsversprechende Stategien, um das Problem der sozialen Ungleichheit der Gesundheit anzugehen.“

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Armut

Hinnahme

krankmachender

BedingungenKrankheit

Behinderung

Die Armuts – Krankheits - Spirale

vorzeitiger Tod

vorzeitiger Tod

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Soziale Ungleichheit: Unterschiede in Wissen, Macht, Geld und Prestige

Unterschiede in gesundheitlichen

Belastungen

Unterschiede in Bewältigungs-

ressourcen

Unterschiede in der gesundheitlichen

Versorgung

Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitverhalten

Gesundheitliche Ungleichheit

Unterschiede in Morbidität

und Mortalität

Quelle: Ekeles & Mielck 1997

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Forschungsstand in Deutschland 1994

Andreas Mielck (Hg.) (1994)

Krankheit und soziale UngleichheitSozialepidemiologische Forschung in DeutschlandOpladen: Leske und Budrich456 Seiten

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Heinz Harald Abholz (1994)

Krankheit und soziale Lage

Einige Gedanken zu einem in (West-) Deutschland ausgesparten Thema

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> Weltweit deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Morbidität/Mortalität

> In den Industrienationen beträgt die Differenz der mittleren Lebenserwartung zwischen der höchsten und niedrigsten Sozialschicht ca. 7 Jahre

> In Großbritannien, Skandinavien und den USA existiert eine differenzierte Forschung zu der Thematik. Umfangreiche Daten liegen über einen Zeitraum von etwa 80 Jahren vor.

> In Deutschland gab es nennenswerte Forschungsarbeiten im Zeitraum 1910 bis 1932

Beispiele Funk 1911: Die Sterblichkeit nach sozialen Klassen in der Stadt Bremen Mosse & Tugendreich 1913: Krankheit und soziale Lage

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> Das Thema wurde in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg stark vernachlässigt

Die spärliche Bearbeitung erfolgte dabei nahezu ausschließlich außerhalb der Medizin, vorwiegend von Sozialwissenschaftlern

Nicht so in anderen Ländern

Beispiel Großbritannien: Hier werden seit 1980 viele wichtige und aufschlussreiche

Studien in renommierten medizinischen Journalen (The Lancet, British Medical Journal) publiziert und intensiv diskutiert

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Was sind die Ursachen dafür?

Durch den Faschismus gebrochene Tradition der Sozialmedizin in Deutschland

Exodus vieler jüdischer Sozialmediziner

Tabuisierung des Themas im Rahmen der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West. Dies galt sowohl für West- als Ostdeutschland

Omnipotenzansprüche der west-deutschen Medizin

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Andreas Mielck & Uwe Helmert (1994): Krankheit und soziale Ungleichheit: Empirische Studien in Westdeutschland 1975-1993

Publikationen zur Morbidität: 46 zur Mortalität: 19 zum Gesundheitsverhalten: 26

insgesamt: 91

Pro Jahr: lediglich 3 - 4 Publikationen

Problematisch: insgesamt nur 4 Längsschnittstudien

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Befunde der empirischen Studien 1975 - 1993

Sozialer Gradient für Morbidität / Mortalität eindeutig 61 uneindeutig 9 invers 2

Sozialer Gradient für Gesundheitsverhalten eindeutig 15 uneindeutig 9 invers 2

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Für nahezu alle Erkrankungen konnte die internationale sozialepidemiologische Forschung bis 1995 überzeugend nachweisen, dass die Inzidenz und Prävalenz mit abnehmendem sozialem Status deutlich ansteigt.

Aber es gibt Ausnahmen für zwei quantitativ sehr bedeutsame Erkrankungen!

???

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Forschungsstand in Deutschland 2007

Matthias Richter & Klaus Hurrelmann (Hg.) (2006)

Gesundheitliche UngleichheitGrundlagen, Probleme und PerspektivenWiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften459 Seiten

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1994 – 2006 erschienen basierend auf einer Zählung von Andreas Mielck in Deutschland etwa 600 Publikationen zum Thema „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“

pro Jahr: etwa 45 Publikationen

im Vergleich zu nur 3 – 4 Publikationen pro Jahr im Zeitraum 1975 - 1993

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Ökologische Studien

Sozialer Gradient der Entwicklung der Mortalität und der mittleren Lebenserwartung in Deutschland auf der Ebene der Bundesländer

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Unteres Quartil des Haushaltsnettoeinkommens in % nach Bundesländern

(Mikrozensus 2003, N = 276132, Alter <= 60 Jahre)

Flächenstaaten West Flächenstaaten Ost Stadtstaaten

1. 17.4 Baden-Württemberg 2. 17.6 Bayern 3. 19.1 Rheinland-Pfalz 4. 19.9 Hessen 5. 22.5 Niedersachsen 6. 22.8 Schleswig-Holstein 7. 23.0 Nordrhein-Westfalen 8. 23.9 Saarland

9. 29.2 Brandenburg10. 30.3 Hamburg11. 30.5 Thüringen12. 30.9 Sachsen13. 31.2 Sachsen-Anhalt14. 32.9 Bremen15. 34.1 Mecklenburg-V.16. 36.2 Berlin

Mittel 20.7 31.2 33.1

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Abb. 1: Verlorene Lebensjahre nach Einkommen in den Bundesländern im Jahre 2002 pro 100 000 Personen < 70 Jahre

3.000

3.200

3.400

3.600

3.800

4.000

4.200

4.400

4.600

4.800

5.000

1.000 1.100 1.200 1.300 1.400 1.500 1.600 1.700 1.800

mittleres Haushaltsäquivalenzeinkommen / Monat in Euro

verlo

rene

Leb

ensj

ahre

pro

100

000 MP

SAnBREMEN

Bra

ThüSa Nds

Ber Saar

HH NRWRP SHBay Hes

BW

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Abb. 2: Verlorene Lebensjahre und Einkommen < 70 % in den Bundesländern im Jahr 2002 pro 100 000 Personen < 70 Jahre

3.000

3.200

3.400

3.600

3.800

4.000

4.200

4.400

4.600

4.800

5.000

20 30 40 50 60

Anteil Haushalte mit Äquivalenzeinkommen < 70%

verlo

rene

Leb

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pro

100

000

BW

NRW

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BREMEN

Bra

Thü Sa

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Mittlere Lebenserwartung der Männer 2004 und Arbeitslosigkeitsraten 2004

nach Bundesländern

72

73

74

75

76

77

78

5 10 15 20

Arbeitslosigkeitsrate in %

Lebe

nser

war

tung

in J

ahre

n

Korr-Koeff = -0.80

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Mittlere Lebenserwartung der Männer 2004 und Arbeitslosigkeitsraten 2004

nach Bundesländern

72

73

74

75

76

77

78

5 10 15 20

Arbeitslosigkeitsrate in %

Lebe

nser

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n

Korr-Koeff = -0.80

BW

SL

BLNSA

HB

MV

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Längsschnittstudien

Valide Informationen über die Bedeutung von sozialschichtspezifischen Faktoren für die Sterblichkeitsentwicklung beruhen auf der Verknüpfung personenbezogener Daten zu Einkommen, Bildung und beruflischem Status mit der Sterblichkeitsentwicklung

Nur Längsschnittstudien können wissenschaftlich

abgesicherte Ergebnisse liefern!

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Längsschnittstudien aus Deutschland

Lebenserwartungssurvey des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung 1984-1998

Routinedaten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) seit 1990

Augsburger MONICA-Studie seit 1984

Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) seit 1984

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Lebenserwartungssurvey des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung 1984-1998 Mortalitäts-Follow-up 1998

des 1. Nationalen Gesundheitssurveys 1984/86durchgeführt von INFRATEST-Gesundheitsforschung im Auftrag des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung Wiesbaden

Survey 1984/86repräsentative Stichprobe der deutschen Wohnbevölkerung alte Bundesländer31-69 JahreBeteiligungsrate 69 %N = 8474

Vitalstatus im Mortalitäts-Follow-up 1998lebend 6372 75.2 % verstorben 957 11.3 %lost-to-follow-up 1145 13.5 %insgesamt 8474 100.0 %

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Mortalität und soziodemographische Merkmale altersadjustierte relative Risiken

Männer FrauenBerufsausbildung hoch (Ref.) 1.00 1.00 mittel 1.94 *** 1.62 niedrig 2.19 *** 1.52 sehr niedrig 2.44 *** 1.58

Familienstand verheiratet (Ref.) 1.00 1.00 ledig 1.24 1.37 geschieden 1.59 ** 1.67 ** verwitwet 1.70 ** 1.16

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Multivariate Analyse I

Risikofaktoren und soziodemografische Merkmalealtersadjustierte relative Risiken

Männer Frauenstarker Raucher 2.22 *** 2.95 ***starkes Übergewicht 1.15 1.17 Bluthochdruck 1.52 *** 1.87 ***keine sportliche Aktivität 1.54 *** 1.56 ***hoher Alkoholkonsum 1.72 *** 2.65 ***

sehr niedrige Ausbildung 1.86 ** 1.25nicht verheiratet 1.41 * 1.06

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Multivariate Analyse IIAnzahl Risikofaktoren und soziodemografische Merkmale altersadjustierte relative Risiken

Männer Frauenein Risikofaktor 1.88 *** 1.75 ***zwei Risikofaktoren 2.82 *** 2.85 ***drei und mehr Risikofaktoren 4.53 *** 5.07 ***

sehr niedrige Ausbildung 1.86 ** 1.19 ***nicht verheiratet 1.45 *** 1.24 ***

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Routinedaten der Gmünder Ersatzkasse seit 1990

Anzahl der Versicherten in der GEK: 2.1 MillionenBerücksichtigt für die folgende Analyse: Altersgruppe 50-59 Jahren

Männer Frauen

Durchgängig versichert 1990-2003: 26612 83.1% 2120 86.0%Versicherungsende vor 2003 Kassenaustritt (zensiert): 1387 4.3% 199 8.1% verstorben: 4015 12.5% 147 6.0%

Gesamt: 32014 100.0% 2466 100.0%

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0

0,02

0,04

0,06

0,08

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Beobachtungsjahre seit 1990

Freiwillig versicherte Frauen

Freiwillig versicherte MännerPflichtversicherte Frauen

Pflichversicherte Männer

Mortalitätsanalysen: Gmünder Ersatzkasse 1990-2003

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Abbildung 4

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Augsburger MONICA-Studie seit 1994

Sven Schneider (2002): Lebensstil und Mortalität. Welche Faktoren bedingen ein langes Leben? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag

Mortalitäts-Follow-up aus der Region AugsburgFollow-up Zeitraum: 1984-1998

Anzahl Studienteilnehmer: 8802 Männer und Frauen 25-74 J. alt Anzahl Verstorbener: 686 7.8%

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Zusammenfassung der Ergebnisse (Schneider, 2002, S. 222/223)

Soziologische Dimension

Lebensbedingungen Vertikal strukturierende Variablen Einkommen - Bildung - Berufliche Stellung - Horizontal strukturierende Variablen Alter + weiblich - verheiratet - evangelisch - Lebenstil BMI o Sport - Rauchen + Alkohol u-förmig Netzwerkdichte -

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Medizinische Dimension

Medizinische Risikofaktoren Gesamtcholesterin + HDL-Cholesterin o Diabetes mellitus + Hypertonie o Pulsfrequenz +

Gesundheitszustand subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes - Psychische Ausgeglichenheit -

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Die Untersuchung von Sven Schneider bestätigt das von Heinz Harald Abholz 1994 formulierte Resumé:

„Medizin ist nicht die wesentliche Einflussgröße für Krankheit und Gesundheit. Unsere Lebensbedingungen, einschließlich der sozialen, sind hier entscheidender.“

„Die deutsche Medizin hat bis heute einen unübersehbaren Omnipotenzanspruch gegenüber anderen Berufsgruppen.“

„Eine eher selbstkritische Medizin dagegen – wie in England und Skandinavien – toleriert die Benennung von anderen Bereichen – so dem sozialen – mit deutlichem Einfluss auf Gesundheit und Tod.“

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Aufgrund der theoretischen und methodischen Kompetenz der Gesundheitssoziologie und der Sozialepidemiologie sowie der absehbaren zunehmenden Brisanz der Sterblichkeitsentwicklung für unsere Gesellschaft resultiert eine wissenschaftliche Bringschuld, die eine gewichtige Chance für die Gesundheitssoziologie und die Sozialepidemiologie impliziert.

Warum sollen soziale Ungleichheiten der Gesundheit (SUG) verringert werden?

> weil SUG den Werten der Fairness und Gerechtigkeit widersprechen

> weil die Reduzierung der SUG zu einer allgemeinen Verbesserung der Gesundheit der Allgemeinbevölkerung führen kann

siehe dazu ausführlicher Mielck (2006)

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Strategische Optionen zur Reduzierung der SUG

• Reduzierung von Ungleichheiten hinsichtlich Macht, Prestige, Einkommen und beruflichen Positionen

• Reduzierung der negativen Konsequenzen von schlechter Gesundheit für die soziale und wirtschaftliche Lage

• Reduzierung der gesundheitsabträglichen Effekte von niedrigen sozialen Positionen durch zielgruppenspezifische Gesundheitsförderungsprogramme

• Reduzierung der negativen gesundheitlichen Effekte, die durch eine niedrige soziale Position bedingt werden, durch zielgruppenspezifische Verbesserung der Gesundheitsversorgung

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Übergreifende Interventionsstrategien

> ‚Upstream’, ‚midstream’ or ‚downstream’ Strategien

> Universalistische versus spezifische Startegien

Reduzierung des sozialen Gradienten der SUG oder Fokussierung primär auf niedrige soziale Schichten

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Allgemeine Empfehlungen für Strategien zur Reduzierung der SUG

> vorab Erstellung einer Bedürfnisanalyse (need assessment), um sicherzustellen, dass kulturelle Werte adäquat berücksichtigt werden> Einbeziehung von Akteuren aus der Zielgruppe in die Planung und Durchführung> Verwendung von intensiven, vielfältigen und interdisziplinären Strategien> Berücksichtigung von face-to-face Interventionen mit Individuen und Kleingruppen aus spezifischen Settings (z.B. Schule, Arbeitsplatz)> Zugang schaffen zu Fähigkeiten, materiellen und sozialen Unterstützungen sowie Information und Beratung

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Bielefelder Memorandum zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten (2006)• Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen seit langem die enge Kopplung

von sozialen Lebensbedingungen und individuellem Gesundheitszustand. Die Wahrscheinlichkeit zu erkranken oder frühzeitig zu sterben ist in den unteren Sozialschichten überdurchschnittlich hoch. Gesellschaftliche Hierarchisierung schlägt sich darin nieder, dass gesundheitliche Risiken zu Ungunsten der Bevölkerungsgruppen verteilt sind, die über wenig eigene Ressourcen verfügen. Soziale Marginalisierung und Armut haben nach allen vorliegenden Befunden den stärksten negativen Einfluss auf eine gesunde Entwicklung. Ungleichheiten in der Lebenserwartung zeigen noch immer, dass sich auch in modernen westlichen Gesellschaften die Lebensdauer von Angehörigen der Ober- und Unterschicht um bis zu 10 Jahre unterscheidet.

• Die gesellschaftlichen Folgen gesundheitlicher Chancenungleichheit zeigen sich heute unumwunden: Durch gesundheitliche Ungleichheiten werden die Gesundheitssysteme übermäßig belastet. Chronische Erkrankungen und eine Vielzahl vermeidbarer gesundheitlicher Belastungen, von denen gerade sozial benachteiligte Gruppen betroffen sind, verursachen das Gros der Behandlungskosten. Noch bedeutsamer aber ist, dass der ungleiche Zugang zum Gut Gesundheit eine Verletzung von Gerechtigkeitsnormen darstellt. Damit ist sowohl die Stabilität als auch die Legitimität demokratischer Gesellschaftsentwürfe bedroht.

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• Mit dem BIELEFELDER MEMORANDUM ZUR VERRINGERUNG GESUNDHEIT-LICHER UNGLEICHHEITEN wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen die voranschreitende soziale Polarisierung im deutschen Gesundheitssystem kritisch Stellung beziehen. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner treten dafür ein, die Verhinderung zunehmender sozialer Spaltung zum obersten Ziel auf der Agenda einer kommenden Gesundheitsreform zu machen.

• Gesundheit gehört zu einem vorrangigen vitalen Bedürfnis aller Menschen. Gesundheitserhaltende und gesundheitsfördernde Lebensbedingungen können daher heute nur als das wertvollste individuelle Gut verstanden werden, von dem der Anspruch auf eine gerechte Verteilung ausgehen muss. Das gilt im weltweiten Maßstab für die so genannten Entwicklungsländer genauso wie für die soziale und gesundheitliche Spaltung in den westlichen, technisch hoch entwickelten Gesellschaften.

• Nationale wie internationale Gesundheitspolitiken müssen künftig auf Aktionsplänen basieren, die die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten als Bestandteil einer umfassenden Gesellschafts- und Sozialpolitik definieren. Der auch in Deutschland verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf einen freien und gleichen Zugang zu Gütern der gesundheitlichen Versorgung muss vor seiner weiteren Aushöhlung bewahrt bleiben. Allen Bevölkerungsgruppen muss der Zugang zur Gesundheitsversorgung offen stehen, ohne dass herkunftsbezogene, finanzielle und/oder bildungsmäßige Barrieren gleiche Zugangschancen vermindern.

• Reformen, die dieses offenkundige Ziel verfehlen, sind keine Reformen. Sie sind dann lediglich ein Instrument, das zur Aufrechterhaltung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten beiträgt. Sie sind Bestandteil einer Politik der gesellschaftlichen Polarisierung, die mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Gesundheitliche Chancengleichheit zu schaffen, wird darum von den Unterzeicherinnen und Unterzeichnern des BIELEFELDER MEMORANDUMS als Messlatte einer anstehenden Gesundheitsreform angesehen.